Andreas Hepp · Rainer Winter (Hrsg.) Kultur – Medien – Macht
Medien – Kultur – Kommunikation Herausgegeben von Andrea...
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Andreas Hepp · Rainer Winter (Hrsg.) Kultur – Medien – Macht
Medien – Kultur – Kommunikation Herausgegeben von Andreas Hepp, Friedrich Krotz und Waldemar Vogelgesang
Kulturen sind heute nicht mehr jenseits von Medien vorstellbar: Ob wir an unsere eigene Kultur oder ,fremde’ Kulturen denken, diese sind umfassend mit Prozessen der Medienkommunikation durchdrungen. Doch welchem Wandel sind Kulturen damit ausgesetzt? In welcher Beziehung stehen verschiedene Medien wie Film, Fernsehen, das Internet oder die Mobilkommunikation zu unterschiedlichen kulturellen Formen? Wie verändert sich Alltag unter dem Einfluss einer zunehmend globalisierten Medienkommunikation? Welche Medienkompetenzen sind notwendig, um sich in Gesellschaften zurecht zu finden, die von Medien durchdrungen sind? Es sind solche auf medialen und kulturellen Wandel und damit verbundene Herausforderungen und Konflikte bezogene Fragen, mit denen sich die Bände der Reihe „Medien – Kultur – Kommunikation“ auseinander setzen. Dieses Themenfeld überschreitet dabei die Grenzen verschiedener sozial- und kulturwissenschaftlicher Disziplinen wie der Kommunikations- und Medienwissenschaft, der Soziologie, der Politikwissenschaft, der Anthropologie und der Sprach- und Literaturwissenschaften. Die verschiedenen Bände der Reihe zielen darauf, ausgehend von unterschiedlichen theoretischen und empirischen Zugängen, das komplexe Interdependenzverhältnis von Medien, Kultur und Kommunikation in einer breiten sozialwissenschaftlichen Perspektive zu fassen. Dabei soll die Reihe sowohl aktuelle Forschungen als auch Überblicksdarstellungen in diesem Bereich zugänglich machen.
Andreas Hepp · Rainer Winter (Hrsg.)
Kultur – Medien – Macht Cultural Studies und Medienanalyse 4. Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Auflage 1997 2., überarbeitete und erweiterte Auflage August 1999 3., überarbeitete und erweiterte Auflage Januar 2006 4. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Barbara Emig-Roller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: MercedesDruck, Berlin Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16277-5
Inhalt
Andreas Hepp & Rainer Winter Cultural Studies in der Gegenwart
1.
9
Theorien, Begriffe und Perspektiven der Cultural Studies
Lawrence Grossberg Der Cross Road Blues der Cultural Studies
23
John Fiske Populäre Texte, Sprache und Alltagskultur
41
Ien Ang Radikaler Kontextualismus und Ethnografie in der Rezeptionsforschung
61
Rainer Winter Reflexivität, Interpretation und Ethnografie: Zur kritischen Methodologie von Cultural Studies
81
Udo Göttlich Kultureller Materialismus und Cultural Studies: Aspekte der Kultur- und Medientheorie von Raymond Williams
93
Karl H. Hörning & Julia Reuter Doing Material Culture: Soziale Praxis als Ausgangspunkt einer „realistischen“ Kulturanalyse
109
Friedrich Krotz Gesellschaftliches Subjekt und kommunikative Identität: Zum Menschenbild von Cultural Studies und Symbolischem Interaktionismus
125
Brigitte Hipfl Inszenierungen des Begehrens: Zur Rolle der Fantasien im Umgang mit Medien
139
6
Inhalt
Andreas Hepp Konnektiviät, Netzwerk und Fluss: Perspektiven einer an den Cultural Studies orientierten Medien- und Kommunikationsforschung
2.
155
Zur Rezeption der Cultural Studies im deutschsprachigen Raum
Lothar Mikos Cultural Studies im deutschsprachigen Raum
177
Eggo Müller & Hans J. Wulff Aktiv ist gut, interaktiv noch besser: Anmerkungen zu einigen offenen Fragen der Cultural Studies
193
Elisabeth Klaus Verschränkungen: Zum Verhältnis von Cultural Studies und Gender Studies
201
Andreas Dörner Medienkultur und politische Öffentlichkeit: Perspektiven und Probleme der Cultural Studies aus politikwissenschaftlicher Sicht
219
Jannis Androutsopoulos Cultural Studies und Sprachwissenschaft
237
Ralf Hinz Cultural Studies und avancierter Musikjournalismus in Deutschland
255
3.
Analysen der heutigen Medienkultur
Rudi Renger Populärer Journalismus
269
Ursula Ganz-Blättler Die (Fernseh-)Fiktion als Gemeinschaftswerk(en) und kulturelle Teilhabe 285 Matthias Marschik Verdoppelte Identitäten: Medien- und Werbebotschaften als Konstrukteure von Authentizität
299
Inhalt
7
Mark Terkessidis Globale Kultur in Deutschland: Der lange Abschied von der Fremdheit
311
Siegfried Jäger Zwischen den Kulturen: Diskursanalytische Grenzgänge
327
Johanna Dorer Das Internet und die Genealogie des Kommunikationsdispositivs: Ein medientheoretischer Ansatz nach Foucault
353
Frank Wittmann Globalisierung, Gewalt und Identität im Diskurs der westafrikanischen Weltmusik
367
Klaus Neumann-Braun & Axel Schmidt Ethnografie von Jugendszenen am Beispiel einer Studie zur Welt der Gothics
383
Caroline Düvel Kommunikative Mobilität – mobile Lebensstile? Die Bedeutung der Handyaneignung von Jugendlichen für die Artikulation ihrer Lebensstile
399
Ute Bechdolf Verhandlungssache Geschlecht: Eine Fallstudie zur kulturellen Herstellung von Differenz bei der Rezeption von Musikvideos 425 Waldemar Vogelgesang Kulturelle und mediale Praxisformen Jugendlicher
439
Über die Autorinnen und Autoren
455
Index
461
Cultural Studies in der Gegenwart Andreas Hepp & Rainer Winter
1 Cultural Studies als transdisziplinäres Projekt kritischer Kulturanalyse Beim ersten Deutschen Soziologentag im Jahre 1910 forderte Max Weber am Beispiel der Presse, die Auswirkungen ‚objektiver‘ sozialer Formen auf die moderne Lebensführung und die subjektive Individualität zu untersuchen. Er begriff das Zeitungswesen als ein relevantes Forschungsthema, dessen Kulturbedeutung für das individuelle Leben zu erforschen sei. In seiner kulturwissenschaftlichen Konzeptualisierung machte Weber deutlich, dass Medienforschung als Kulturanalyse betrieben werden sollte, die sowohl Fragen des Kulturwandels als auch Fragen gesellschaftlicehr Machtverhältnisse zu berücksichtigen habe. Allerdings dauerte es einige Jahrzehnte, bis diese Einsicht wieder ins Zentrum wissenschaftlicher Forschung rückte. Seit den 1970er Jahren knüpfen die Cultural Studies an Max Webers Vorstellung an, die ‚subjektive‘ Bedeutung medialer Formen im Hinblick auf weitergehende kulturelle Zusammenhänge und Machtfragen zu untersuchen. Nach der Entwicklung des Encoding/Decoding-Modells durch Stuart Hall, dem damaligen Direktor des Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) der University of Birmingham, entstanden eine Fülle empirischer Untersuchungen, in denen mittels ethnografischer Methoden die Rezeption und Aneignung von Medien – in erster Linie des Fernsehens – in alltäglichen Kontexten erforscht wurde. Dabei wurde die teilnehmende Beobachtung mit Interviews, Gruppendiskussionen und der textuellen bzw. semiotischen Analyse von Medien sowie einer kritischen Machtanalytik verbunden. Seit diesen Anfängen haben die Cultural Studies einen internationalen „Boom“ (Morris 1990/2003) erlebt, in derem Zusammenhang auch das zunehmend breite Aufgreifen im deutschsprachigen Raum steht. Cultural Studies lassen sich sicherlich nicht (mehr) als ‚Ansatz der Birmingham School‘ definieren, auch wenn der CCCS bis heute als eine der wichtigen Gründungsinstitutionen der Cultural Studies gelten muss.1 Die so genannten „British Cultural Studies“ (Fiske 1987; Turner 1996) wurden mehr und mehr zu einem Diskurs der internationalen Cultural Studies (vgl. bspw. García Canclini 2001). Vor diesem Hintergrund muss man sich die Frage stellen, wie die Cultural Studies gegenwärtig zu fassen sind. Sicherlich ist diese Frage nicht leicht zu klären, wie auch anhand von verschiedenen Beträgen in dem vorlie-
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Andreas Hepp & Rainer Winter
genden Band deutlich wird – an dieser Stelle sei nur auf den Artikel von Lawrence Grossberg hingewiesen. Dennoch erscheint gerade im Hinblick auf das Betreiben von Cultural Studies im deutschsprachigen Raum eine solche Klärung hilfreich. Ausgehend von an anderer Stelle publizierten Überlegungen (vgl. Winter 2001; Hepp 2004a) möchten wir vorschlagen, die Cultural Studies nicht einfach mit der deutschsprachigen Kulturwissenschaft gleichzusetzen, die immer wieder darum bemüht ist, sich als ‚(Quasi)Disziplin‘ zu etablieren. Vielmehr erscheint es uns nach wie vor zielführend, Cultural Studies als ein transdisziplinäres Projekt der kritischen Kulturanalyse zu begreifen: Um die Cultural Studies zu erfassen ist es notwendig, sich einerseits deren transdisziplinären Projektcharakter zu vergegenwärtigen, andererseits deren kritischen Fokus auf Kulturanalyse. Beides ist gewissermaßen die Klammer der Auseinandersetzung mit Fragen von Kultur, Medien und Macht im Rahmen der Cultural Studies. Kennzeichnend für die Cultural Studies ist wie gesagt deren Transdisziplinarität. Wie Stuart Hall heraus gestrichen hat, haben die Cultural Studies aus seinem Blickwinkel „keinen simplen Ursprung“ (Hall 2000: 35), sondern sind ‚multipel‘ angelegt. Wie Stuart Hall in seinen Überlegungen zum „Vermächtnis der Cultural Studies“ fortfährt: „Cultural Studies haben vielfältige Diskurse; sie haben eine Reihe unterschiedlicher Geschichten. Sie sind eine ganze Reihe von Bewegungen; sie haben ihre verschiedenen Konjunkturen und wichtigen Momente in der Vergangenheit. Sie beinhalten verschiedene Arbeiten […].“ (Hall 2000: 35)
Die Cultural Studies sind demnach als eine „diskursive Formation“ oder „Projekt“ (ebd.) zu fassen, das sich nicht auf ein bestimmtes Set an Theorien oder Methoden festlegen lässt. Hieraus kann aber nicht – wie Hall ebenfalls heraus streicht – gefolgert werden, dass die Cultural Studies „alles sind, was die Leute machen, die es so nennen“ (Hall 2000: 36). Das Spezifikum von Cultural Studies seiner Argumentation nach ist, dass sie ein auf im weitesten Sinne zu verstehende ‚politische Fragen‘ orientiertes Projekt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung sind. Kulturelle Fragen sind immer politische Fragen. Im Bereich der Kultur werden Machtverhältnisse etabliert, legitimiert, aber auch in Frage gestellt. Ganz in diesem Sinne hat auch Chris Barker betont, dass man die „Cultural Studies als einen theoretischen Zusammenhang betrachten kann, dessen Vertreter die Produktion theoretischer Erkenntnis als politische Praxis begreifen“ (Barker 2003: 181). Erkenntnis ist in diesem Sinne für die Cultural Studies nie neutral, sondern positionsbestimmt und damit eingebettet in Fragen von Macht und gesellschaftlicher Auseinandersetzung. Ausgehend von diesem Bezugspunkt bleiben die Cultural Studies „kaleidoskopisch“ (ebd.), d.h. sie lassen sich nicht auf eine Disziplin festschreiben, sondern konkretisieren sich in verschiedenen wissenschaftlichen Kontexten auf unterschiedliche Weise (siehe dazu exemplarisch die Beiträge in Gilroy et al. 2000). Genau dieser Zusammenhang charakterisiert auch die Entwicklung von Cultural Studies im deutschsprachigen Raum: Sie sind hier gerade nicht Teil der sich entwickelnden deutschsprachigen Kulturwissenschaft geworden, die sich ausgehend von philologisch-literaturwissenschaftlichen Traditionen zunehmend als Universitäts-
Cultural Studies in der Gegenwart
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disziplin generiert (vgl. bspw. Böhme et al. 2000). Vielmehr konkretisiert sich das ‚Projekt‘ der Cultural Studies in verschiedenen disziplinären Zusammenhängen – von der Kommunikations- und Medienwissenschaft über die Soziologie und andere Sozialwissenschaften bis hin zur den Sprach- und Literaturwissenschaften (vgl. dazu auch die Beiträge in Göttlich et al. 2001 und in diesem Band). Dass Cultural Studies auch trotz aller Pluralität durch eine ‚Identität schaffende‘ Spezifik gekennzeichnet sind, verweist auf den zweiten angeführten Punkt, nämlich den ihrer kritischen Kulturanalyse. Cultural Studies verstehen sich als der Versuch des Betreibens einer kritisch fokussierten Kulturanalyse. Dies kann aber nicht damit gleichgesetzt werden, Arbeiten der Cultural Studies gingen in Bezug auf Medienkommunikation davon aus, Menschen würden generell durch Medien ‚manipuliert‘, seien von den Ideologien einer ‚Bewusstseinsindustrie‘ gefangen. Das vielfach zitierte Encoding/Decoding-Modell von Stuart Hall und an dieses anschließende, eingangs bereits erwähnte Rezeptions- und Aneignungsstudien versuchen innerhalb der Cultural Studies in Abgrenzung zu solchen einfachen Manipulationsthesen zu zeigen, dass die gerade in der deutschsprachigen Kritischen Theorie in Anschluss an die Kulturindustrietheorie von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer vorschnell kritisierten ‚populären Medien‘ auch Potenzial für eine produktive Lebensgestaltung bieten und damit Orte der Auseinandersetzung um Wirklichkeitsdefinitionen sind. Deswegen – und nicht wegen eines uni-direktionalen Manipulationsgehalts – sind ‚populäre Medien‘ ein relevanter Untersuchungsgegenstand für Cultural Studies. ‚Kritik‘ wird an dieser Stelle damit nicht als eine von einer direkten Wirkung ausgehende ‚Manipulationskritik‘ greifbar, sondern ist vielmehr als eine ‚multiperspektivische Kritik‘ zu charakterisieren. Um zu konkretisieren, was wir an dieser Stelle meinen, bietet es sich an, Überlegungen von Douglas Kellner (1995: 57f.) aufzugreifen. Kellner problematisiert an dem Ansatz der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule, dass diese ein monolithisches Konzept von Ideologie hat, das letztlich davon ausgeht, Ideologien seien in sich widerspruchsfrei und begünstigten die ökonomischen Interessen der herrschenden Macht. Verschiedenste Studien haben aber gezeigt, dass eine solche ökonomistische Kritik zu kurz greift, da sich ‚Macht‘ in Bezug auf Medien auch in ganz anderen Zusammenhängen wie Gender, kulturelle Identität, Alter usw. artikuliert, ohne dass man diese mit den (ökonomischen) ‚Interessen‘ einer bestimmten Klasse gleich setzen könnte. Im Gegensatz dazu fordert Kellner eine multikulturelle Form von Kritik, die solchen verschiedensten Konkretisierungen von Machtverhältnissen gerecht zu werden versucht. Diesbezüglich schreibt er: „Such ideology critique is multicultural, discerning a range of forms of oppression of people of different races, ethnicities, gender, and sexual preference and tracing the ways that ideological cultural forms and discourses perpetuate oppression.“ (Kellner 1995: 58)
Wenn wir von ‚multiperspektivischer Kritik‘ sprechen, dann haben wir diesen Zusammenhang im Blick, um den es auch Douglas Kellner hier geht: Eine kritische Auseinandersetzung mit Fragen von Kultur, Medien und Macht greift sicherlich zu kurz, wenn sie in Bezug auf Medien nur ökonomische (Besitz)Verhältnisse fokussiert bzw. ausgehend davon eine Kritik von in den Medien kommunizierten Ideolo-
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Andreas Hepp & Rainer Winter
gien betreibt. Kritik ist aus unserer Perspektive immer dann zu üben, wenn Medienkommunikation dazu beiträgt, die Einflussmöglichkeiten und Handlungsfähigkeiten („agency“) von Menschen auf eine Weise zu gestalten, die andere Handlungsfähigkeiten beschneidet. Dies kann Fragen von Rassismus betreffen, Ausgrenzungen im Bereich von Gender, ökonomische Fragen, aber auch vielfältige weitere Machtverhältnisse. Multiperspektivisch meint hier also, solche unterschiedlichen Perspektiven auf Handlungsfähigkeit in den Blick zu rücken (vgl. Hepp 2004b: 424). Dabei muss man sich bewusst sein, dass ‚Handlungsfähigkeit‘ nicht einfach ‚individuelles Interesse‘ einzelner Personen oder Personengruppen heißt. Wie Lawrence Grossberg heraus gestrichen hat, ist Handlungsfähigkeit keine Angelegenheit der Handlungsmacht des Individuums oder der Gruppe, sondern dreht sich um den Zugang zu bestimmten Orten, „Orte, an denen man die verschiedenen ‚Kräfte‘ und Vektoren, die die Welt formen, unterbrechen und beeinflussen kann“ (Grossberg 2000: 305). Entsprechend besteht nicht eine ‚lebensweltliche Handlungsfähigkeit‘ von Menschen, die (möglicherweise) durch Medien bzw. mediale Diskurse beschränkt wird. Vielmehr sind Medien selbst Ressourcen der Schaffung von Handlungsfähigkeit in verschiedenen Lebenswelten, indem sie kommunikativ ‚Landkarten‘ oder ‚Geometrien‘ schaffen, die machtgeprägt bestimmte Räume von Handlungsfähigkeit postulieren: „[…] die Medien arbeiten als Karthografen. Eine gelebte Geografie […] ist eine Karte der Investitionen und Zugehörigkeiten, der Identifikationen und Distanzen, der Identitäten und Differenzen, der Plätze und der Vektoren, die sie miteinander verbinden (Räume). Solche Karten konstruieren ein verstreutes Set an Plätzen als temporäre Momente von Stabilität, Orte, an denen Menschen möglicherweise haltmachen und ihr ‚Selbst‘ in Praktiken installieren […]. Während die Karte oder gelebte Geografie nicht garantieren kann, wie irgendeine (kulturelle) Praxis in einem bestimmten Platz umgesetzt wird, […] konstruiert sie doch die Linien, die die Möglichkeiten der Menschen zu einem gegebenen Zeitpunkt strukturieren und begrenzen, die Überschneidungen, die die ambigen Möglichkeiten definieren, Richtungen und Geschwindigkeiten zu ändern, und die Adressen, an denen die Menschen sich nach ihrer Wahl für verschiedene Aktivitäten niederlassen können.“ (Grossberg 2000: 305f.)
Eine politische Kulturanalyse im Rahmen von Cultural Studies setzt damit (globale) Medien nicht gegen eine (lokale) Lebenswelt, sondern untersucht, welchen Status die fortschreitende Mediatisierung kultureller Praktiken für die Auseinandersetzungen um gegenwärtige Handlungsfähigkeiten hat. Hierbei müssen Medien umfassend in den Blick rücken, sowohl in Bezug auf Prozesse der Produktion, Repräsentation als auch der Aneignung. In solcher Form eine kritische Kulturanalyse zu betreiben, hierin besteht unseres Erachtens die Aufgabe der Weiterentwicklung von Cultural Studies im deutschsprachigen Raum. Dass sich die verschiedenen Studien, die in diesem in der Tradition der Cultural Studies realisiert wurden, auf dem Weg dahin befinden – dies zeigen hoffentlich die Beiträge der dritten Auflage von „Kultur – Medien – Macht“.
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2 Über diesen Band Wie bereits hervor gehoben, hat dieser nun in der dritten Auflage erscheinende Band eine fast zehnjährige Geschichte: Die Idee für dieses Buch geht zurück auf einen interdisziplinären Arbeitskreis auf der Jahrestagung 1996 der Gesellschaft für Angewandte Linguistik in Erfurt. Die Beiträge dieses Arbeitskreises wurden bereits für die Erstauflage ergänzt durch eine Reihe von weiteren einschlägigen Veröffentlichungen, die einerseits in Übersetzungen englischsprachiger Autorinnen und Autoren eine Annäherung an das Projekt der Cultural Studies aus der Innenperspektive ermöglichen, andererseits als charakteristisch für das Betreiben von Cultural Studies im deutschsprachigen Raum gelten können. Für die 1999 veröffentlichte Zweitauflage von „Kultur – Medien – Macht“ wurde gerade dieser zweite Bereich von Beiträgen weiter ausgebaut, um eine Darstellung der ‚deutschsprachigen Cultural Studies‘ zu ermöglichen. Für die nun vorliegende dritte Auflage haben wir uns entschlossen, bis auf die drei Übersetzungen der grundlegenden und den Band einleitenden Aufsätze von Ien Ang, John Fiske und Lawrence Grossberg alle weiteren Beiträge zu aktualisieren bzw. durch Neubeiträge zu ersetzen, die das entsprechende Thema auf eine dem heutigen Diskussionsstand angemessene Art und Weise verhandeln. Insofern haben sich manche Aufsatztitel und Namen von Autorinnen bzw. Autoren geändert. Die Gliederung des Buchs ist aber dieselbe geblieben: Ein erster Teil überschrieben mit „Theorien, Begriffe und Perspektiven der Cultural Studies“ zielt darauf ab, das Grundverständnis des Projekts der Cultural Studies greifbar zu machen. Der erhebliche erweiterte zweite Teil „Zur Rezeption der Cultural Studies im deutschsprachigen Raum“ geht in verschiedenen Beiträgen darauf ein, auf welche Art und Weise und über welche Disziplinen hinweg die Cultural Studies im deutschsprachigen Raum aufgegriffen worden sind. Der dritte Teil „Analysen der heutigen Medienkultur“ schließlich stellt verschiedene Studien vor, die sich in Perspektive der Cultural Studies mit der heutigen Medienkultur, ihren Herausforderungen, Widersprüchlichkeiten und Konflikten auseinander setzen. Der erste Teil „Theorien, Begriffe und Perspektiven der Cultural Studies“ wird eröffnet durch einen Beitrag von Lawrence Grossberg, der bereits in der ersten Auflage enthalten war. Unter dem Titel „Der Cross Road Blues der Cultural Studies“ diskutiert Lawrence Grossberg die Grundlagen, die Besonderheiten und die politische Bedeutung der Cultural Studies in ihrer Gesamtheit, die weit über die Medienforschung hinausreichen. Herausforderungen der Gegenwart wie Globalisierung und Ökonomisierung verweisen für ihn nicht nur auf die Relevanz der Cultural Studies als interdisziplinärem Projekt, sondern sind auch die Folie, vor der die Begriffe von Kultur und Kulturanalyse gesehen werden müssen. Ebenfalls aus der ersten Auflage übernommen wurde der Beitrag „Populäre Texte, Sprache und Alltagskultur“ von John Fiske. Fiske geht in seinem Artikel der
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Frage nach, warum bestimmte Medienprodukte Teil der Populärkultur werden und mit welchen Merkmalen dies zusammenhängt. Medienprodukte werden dabei als populäre Texte begriffen, die durch eine zwischen Oralität und Literalität stehende „Produzierbarkeit“ gekennzeichnet sind. Als solche „produzierbaren Texte“ kann es kulturindustriellen Produkten gelingen, Teil der Alltagskultur der „Leute“ zu werden. Der letzte direkt aus der Erstauflage entstammende Artikel wurde von Ien Ang verfasst und diskutiert die für die Cultural Studies wichtige Vorstellung des Kontextualismus und deren Bedeutung für die ethnografische Rezeptionsforschung. Dabei setzt sich Ang mit der Problematik auseinander, dass die Radikalität von Kontextualismus in der Rezeptionsforschung nicht dazu führen darf, unhinterfragt immer weitere Lebensbereiche in diese einzubeziehen. Vielmehr verweist radikale Kontextualität auf eine Positionsbestimmung kritischer ethnografischer Medienforschung, durch die sich diese deutlich von nicht-kritischen Forschungstraditionen wie der der Marktforschung abgrenzt. Ausgehend von einem in diesen drei Beiträgen umrissenen Grundverständnis von Cultural Studies stellt Rainer Winter in seinem Artikel anhand der Ethnografie die kritische Methodologie der Cultural Studies vor. Fragen, die er dabei diskutiert, betreffen die Differenz der ethnografischen Forschung in den Cultural Studies im Vergleich zu anderen Verfahren qualitativer Sozialforschung ebenso wie die Frage, auf welche Weise die Perspektive des bzw. der Anderen in einer solchen Forschung berücksichtigt werden kann. Dieses methodologische Vorgehen wird anhand verschiedener Beispiele greifbar gemacht. Udo Göttlich arbeitet die Relevanz des kulturellen Materialismus von Raymond Williams, der bereits mit seinen früheren Arbeiten wesentlich an der Herausbildung der Cultural Studies in Großbritannien beteiligt war, für die Medienanalyse der Cultural Studies heraus. Hierbei fokussiert er insbesondere die Frage, welche Anknüpfungspunkte der kulturelle Materialismus für eine gegenwärtige kommunikationsund medienwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Medien- und Populärkultur bietet und welche perspektivischen Entwicklungsmöglichkeiten hier bestehen. In dem Beitrag „Doing Material Culture“ konkretisieren Karl H. Hörning und Julia Reuter die Praxis einer u.a. an den Cultural Studies angelehnten Kulturanalyse, die darauf abzielt, ‚Kultur‘ in ihrer alltäglichen Konkretisierung zu untersuchen. Sie machen greifbar, dass ein solches Unterfangen nicht bei der Beschreibung abstrakter Bedeutungssysteme ‚gesellschaftlicher Integration‘ ansetzen kann, sondern das alltägliche „doing“ fokussieren muss. Dies beinhaltet auch eine Auseinandersetzung mit materialen Aspekten von Kultur. In dem Beitrag von Friedrich Krotz rückt das Verhältnis von Cultural Studies und Symbolischem Interaktionismus anhand des jeweiligen impliziten Menschenbilds in den Fokus. Friedrich Krotz zeigt dabei auf, dass es im Verständnis von Kultur und Kommunikation erhebliche Bezüge zwischen beiden wissenschaftlichen Traditionen gibt – umgekehrt sich beide aber auch produktiv ergänzen. Dies trifft seiner Argumentation nach insbesondere für eine auch perspektivische Verortung der Medienforschung der Cultural Studies im deutschsprachigen Raum zu.
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Brigitte Hipfl hebt mit Rückgriff auf die Psychoanalyse von Lacan die Rolle von Fantasien beim Gebrauch von Medien hervor. Sie weist dabei darauf hin, dass es für eine perspektivische Entwicklung der Cultural Studies wichtig ist, dass diese auch nicht bewusste Prozesse in ihren Medienanalysen berücksichtigen – und gerade hier bieten sich psychoanalytische Ansätze in der Tradition von Lacan an. Diese gestatten es, Nicht-Bewusstes in der Medienrezeption auf differenzierte Weise zu erfassen. Abgeschlossen wird der erste Teil des Bands mit einem Beitrag von Andreas Hepp, in dem es ihm um Perspektiven einer an den Cultural Studies orientierten Medien- und Kommunikationsforschung geht. Hierbei argumentiert er, dass die fortschreitende Globalisierung und Digitalisierung der Medienkommunikation ein Überdenken des Begriffsapparats von Cultural Studies notwendig macht. Als angemessene begriffliche Konzepte für Cultural Studies der Medien in diesen Kontexten werden das der Konnektivität, des Netzwerks und des Flusses diskutiert. Insgesamt geht es damit in den verschiedenen Aufsätzen des ersten Teils des vorliegenden Buchs nicht nur darum, verschiedene Theorien und Begriffe von Cultural Studies vorzustellen und zu diskutieren. Insbesondere unternehmen die Autorinnen und Autoren den Versuch, diese Diskussion perspektivisch zu führen – d.h. sich die Frage zu stellen, welche Konzepte für ein zukünftiges Betreiben von Medienanalysen im Rahmen von Cultural Studies zentral erscheinen. Gemeinsam ist den Beiträgen dabei, dass Theoriediskussion nicht als ein losgelöstes Theoretisieren begriffen wird, sondern sets in Bezug auf einzelne untersuchte Phänomene im Gegenstandsfeld von Kultur, Medien und Macht geschieht. Im Fokus des sich daran anschließenden zweiten Teils steht eine Auseinandersetzung mit der Rezeption der Cultural Studies im deutschsprachigen Raum. Eröffnet wird dieser Abschnitt durch einen Artikel von Lothar Mikos, in dem dieser überblickend die Hauptentwicklungen der Rezeption der Cultural Studies vor allem innerhalb der deutschsprachigen Medien- und Kommunikationsforschung umreißt. Hierbei skizziert er ein Aufgreifen von Cultural Studies über vier unterschiedliche Phasen hinweg, wobei im deutschsprachigen Raum zunehmend ein eigenständiges Betreiben von Cultural Studies an die Stelle einer wissenschaftsgeschichtlichen Rezeption tritt. In dem Artikel „Aktiv ist gut, interaktiv noch besser“ befassen sich Eggo Müller und Hans J. Wulff ausgehend von deren Überlegungen in anderen Auflagen dieses Buchs mit in der deutschsprachigen Rezeption der Cultural Studies nach wie vor bestehenden offenen Fragen. Diese betreffen ihrer Argumentation nach den Status von ‚Rezipientenaktivitäten‘ beziehungsweise das Konzept des ‚Diskurses‘ im Gesamtrahmen der Theorieentwicklung der Cultural Studies. Ihre Argumente eröffnen Anstöße für eine Weiterentwicklung von Cultural Studies und Medienanalyse auch im deutschsprachigen Raum. Verschiedene Überlegungen von Lothar Mikos und Friedrich Krotz aufgreifend setzt sich Elisabeth Klaus mit dem Verhältnis von Cultural Studies und Gender Studies in der Medienforschung auseinander. Hierbei zeigt sie einerseits, dass beide ‚Projekte‘ sich gerade im deutschsprachigen Raum erheblich und auf produktive
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Andreas Hepp & Rainer Winter
Weise wechselseitig beeinflusst haben. Gleichzeitig weist Elisabeth Klaus kritisch darauf hin, dass zumindest in Teilen der deutschsprachigen Cultural Studies die Tradition der Gender Studies auf nicht angemessene Weise marginalisiert wurde. Andreas Dörner setzt sich mit der deutschsprachigen Rezeption der Cultural Studies aus politikwissenschaftlicher Perspektive auseinander. Hier rücken Fragen der politischen Öffentlichkeit in den Mittelpunkt bzw. Forschungen der Cultural Studies, die hierfür relevant erscheinen. Andreas Dörner diskutiert disbezüglich insbesondere die Arbeiten von Douglas Kellner, die zwischen Frankfurter Schule und der britischen bzw. amerikanischen Tradition der Cultural Studies eine vermittelnde Position einnehmen und selbst Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung von Cultural Studies aus politikwissenschaftlicher Perspektive sein können. Einen sprachwissenschaftlichen Fokus hat Jannis Androutsopoulos. Er weist für die Rezeption von Cultural Studies im deutschsprachigen Raum auf verschiedene Schnittstellen insbesondere zur Medienlinguistik hin. Neben methodischen Bezügen sind dies vor allem Bezüge der Theorieentwicklung und empirischen Forschung, die sich dadurch ergeben, dass es im deutschsprachigen Raum eine breite Tradition einer sozialwissenschaftlich orientierten, kritischen Sprachwissenschaft gibt. Ein gänzlich anderer Fokus der deutschsprachigen Rezeption von Cultural Studies steht im Mittelpunkt des Artikels von Ralf Hinz. Dieser greift die Auseinandersetzung mit den Cultural Studies im avancierten Musikjournalismus auf. Er kann aufzeigen, dass journalistische Pop-Theorie und Cultural Studies zum Teil erhebliche Bezüge haben, für beide Seiten produktive Differenzen letztlich aber bestehen bleiben. Diese ergeben sich vor allem aus dem akademischen Charakter von Cultural Studies auch im deutschsprachigen Raum. Zusammenfassend kann man sagen, dass die verschiedenen Beiträge im zweiten Teil dieses Bandes deutlich machen, in welcher Breite das Projekt der Cultural Studies gegenwärtig im deutschsprachigen Raum aufgegriffen und fortgeführt wird. Arbeiten, die sich in dieser Tradition sehen, sind nicht mehr nur in der (Medien- und Kultur-)Soziologie bzw. Kommunikations- und Medienwissenschaft zu finden, sondern zunehmend auch in anderen Disziplinen und Zusammenhängen: Sprach- und Literaturwissenschaften, (Medien-)Pädagogik, Psychologie, Politikwissenschaft, Genderforschung und Musikjournalismus sind Beispiele dafür. Dieses Aufgreifen hat sich mehr und mehr zu einer eigenständigen, produktiven Aneignung entwickelt, in deren Rahmen Cultural Studies in spezifischen Formen und Weisen weiter entwickelt werden. Diese Tendenz dokumentieren auch die Beiträge im dritten Teil von „Kultur – Medien – Macht“. Gemeinsam haben diese verschiedenen Artikel, dass sie in Ergebnis und Methodik durchaus vielfältige Analysen der gegenwärtigen Medienkulturen darstellen. Eröffnet wird dieser Teil durch einen Beitrag von Rudi Renger, in dem dieser einen an den Cultural Studies orientierten Ansatz der Analyse des gegenwärtigen populären Journalismus vorlegt. In diesem Rahmen wird greifbar, dass eine angemessene Auseinandersetzung mit Journalismus nur unter Einbezug auch der Aneignungsperspektive geschehen kann und umfassend die Bedeutungproduktion im Jour-
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nalismus kritisch fokussiert. Hierdurch wird boulevardorientierter Journalismus als ein zentraler Aspekt gegenwärtiger Medienkulturen greifbar. In dem Beitrag von Ursula Ganz-Blättler rückt das fiktionale Fernsehen in den Fokus der Auseinandersetzung. ‚Fiktion‘ im Fernsehen wird auf verschiedenen Ebenen greifbar, als soziale Praxis, rituelle Kommunikation, kommunikatives Genre und kulturelle Teilhabe. Insgesamt zeigt der Beitrag, welchen zentralen Stellenwert populäre fiktionale Inhalte für gegenwärtige Medienkulturen haben, was eine differenzierte theoretische und empirische Annäherung an das Phänomen erfordert. Mit Fragen der Identität und der Relevanz von Werbung für deren Artikulation setzt sich Matthias Marschik auseinander. Er argumentiert, dass es in heutiger Werbung weniger darum ginge, Konsumentinnen und Konsumenten zum Kauf bestimmter Produkte anzuregen. Viel stärker steht im Vordergrund, dass bestimmte Lebensstile und Rituale angeboten werden, deren unhintergehbarer Teil einzelne Produkte sind, die jedoch in dieser Gesamtheit übernommen werden sollen. Mit diesem Verständnis entwickelt Matthias Marschik einen kritischen Ansatz der Auseinandersetzung mit Werbung als Teil gegenwärtiger Medienkulturen. Aus anderer Perspektive befasst sich Mark Terkessidis mit Fragen von Identität: Es geht ihm um das Bild des ‚Fremden‘ im Hinblick auf die Artikulation von kultureller Identität. Mark Terkessidis zeigt auf, inwieweit eine an den Cultural Studies orientierte Auseinandersetzung mit kultureller Differenz und Hybridität hilfreich ist, kulturelle Identitäten als Aspekt gegenwärtiger Medienkulturen zu fassen. Im Beitrag von Siegfried Jäger rückt das Konzept der ‚Multikulturalität‘ in Bezug auf gegenwärtige Mediendiskurse ins Zentrum der Betrachtung. Die Bedeutung dieses Konzeptes wird greifbar, wenn man die ‚diskursiven Kämpfe‘ in den Medien um Kultur und Rassismus fokussiert – nicht als ein selbst harmonisierendes Konzept, sondern als eine Annäherung an Kulturen, die versucht, der Widersprüchlichkeit von Kulturkontakten gerecht zu werden. In diesem Sinne sind heutige Medienkulturen selbst als multikulturell zu fassen. Johanna Dorer greift in ihrem Artikel das an Foucault angelehnte Konzept des Kommunikationsdispositivs auf und macht es nutztbar für eine Auseinandersetzung mit dem Internet bzw. Netzkommunikation als einem Aspekt heutiger Medienkulturen. Hierdurch wird das Internet im Wandel verschiedener Kommunikationsdispositive verort- und entsprechend aus historischer Perspektive fassbar. Es wird deutlich, dass das Internet weit davon entfernt ist, eine grenzenlose Kommunikation jenseits hierarchischer Strukturen zu ermöglichen. Die westafrikanische Weltmusik ist Gegenstand der Untersuchung von Frank Wittmann. Zum einen wird ‚Weltmusik‘ als eine Form populärer Musik in gegenwärtigen Medienkulturen gefasst. Zum anderen geht es darum, die Spezifik ‚westafrikanischer Weltmusik‘ im Spannungsverhältnis zwischen Demokratisierung, kriegerischen Konflikten und Rassismus zu verorten. Damit wird deutlich, dass eine an den Cultural Studies orientierte Auseinandersetzung mit Musik nicht bei (westlicher) Popmusik stehen bleiben kann, sondern sich gerade in Zeiten von Globalisierung auch anderen Phänomenen öffnen muss.
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Einen gänzlich anderen Aspekt von Medienkultur fokussiert Caroline Düvel. Die von ihr vorgestellte Studie setzt sich mit dem Status von Mobiltelefonie für den in unterschiedlichem Maße mobilen Lebensstil von Jugendlichen und jungen Erwachsenen auseinander. Hierbei kann sie zeigen, dass Mobiltelefonie nicht per se ‚mehr Mobilität‘ gestattet, sondern unterschiedliche Aneignungsweisen und -kontexte verschiedene Handlungsfähigkeiten bis hin zur Kontrolle in Beziehungen eröffnet. Die Studie macht die Widersprüchlichkeit von Mobilkommunikation deutlich. Die Untersuchung von Klaus Neumann-Braun und Axel Schmidt ist der erste von drei Beiträgen am Ende diesen Bandes, die sich im weitesten Sinne mit Fragen von Jugendkultur und Szenen auseinander setzen. Im Fokus ihrer Studie steht die Jugendszene der Gothics, der sie sich mit (medien)ethnografischen Methoden annähern. Hierbei wird deutlich, wie es in dieser Jugendszene gerade auch durch die Aneignung medial vermittelter Ressourcen möglich ist, in gegenwärtigen säkularisierten Medienkulturen ‚magische Spielräume‘ zu schaffen. Die von Ute Bechdolf vorgestellte Fallstudie „Verhandlungssache Geschlecht“ setzt sich mit der kulturellen Herstellung von (Gender-)Differenz bei der Rezeption von Musikvideos auseinander. Die Perspektive von Cultural Studies und Gender Studies aufgreifend wird gezeigt, wie in der Musikvideoaneignung ‚Geschlecht‘ als Kategorie, Differenz und Machtverhältnis in einem fortwährenden Prozess der Reund Dekonstruktion wirksam wird. Gender bleibt auch in heutigen Medienkulturen ein zentraler Aspekt. Der dritte Beitrag, der sich mit Jugendkulturen und Szenen auseinander setzt, ist der von Waldemar Vogelgesang. Jugendkulturen und Szenen werden hier als ‚Wahlnachbarschaften‘ im Prozess fortschreitender kultureller Differenzierung greifbar, als Ort von Produktivität aber auch vielfältiger Auseinandersetzungen. Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit ‚Jugend‘ bedarf entsprechend eines differenzierten, multiperspektivischen Zugangs, der die verschiedenen Aneignungsweisen und Szene-Semantiken kritisch in den Fokus rückt. Insgesamt machen auch die Beiträge des dritten Teils von „Kultur – Medien – Macht“ deutlich, welches Potenzial die Cultural Studies für eine kritische Analyse mit gegenwärtigen Medienkulturen bieten. Fokus dabei sind auch im deutschsprachigen Raum nicht mehr nur Film und Fernsehenprodukte und deren Rezeption, sondern ebenso Fragen medialer Produktion (bspw. im Journalismus), digitale Medien, Mobilkommunikation oder Jugendkulturen. Deutschsprachige Analysen in der Perspektive der Cultural Studies haben durchaus ihre eigene Tradition entwickelt, wenn neben Diskussionen, Theorien und empirischen Ergebnissen der internationalen Cultural Studies Arbeiten von Kommunikations- und Medienwissenschaft, Soziologie, Politikwissenschaft, Pädagogik, Psychologie oder Sprach- und Literaturwissenschaften im deutschsprachigen Raum aufgegriffen und in spezifische ‚Cultural Studies‘ gegenwärtiger Medienkulturen integriert werden. Gerade dies macht den Reiz des Projekts der Cultural Studies aus, das sich in verschiedenen Kontexten auf unterschiedliche Weise artikuliert.
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Diese nun vorliegende dritte Auflage von „Kultur – Medien – Macht“ wäre nicht ohne die Unterstützung einer Vielzahl von Personen möglich gewesen, von denen wir einigen abschließend danken möchten. Danken möchten wir zuerst einmal der deutschen Gesellschaft für Angewandte Linguistik (GAL), die es uns ermöglichte, einen interdisziplinären Arbeitskreis zum Thema des Bandes auf ihrer Jahrestagung 1996 in Erfurt durchzuführen, aus dem dessen Erstauflage hervor ging. Wir danken den verschiedenen Lektoren des ehemals Westdeutschen Verlags nun Verlags für Sozialwissenschaften, die das Buchprojekt betreuten, in allen Phasen umfassend unterstützten und mitunter geduldig warteten – Bernd Schäbler, Alexandra Schichtel und Barbara Emig-Roller. Beate Köhler danken wir für die Gestaltung des Titelbildes aller drei Auflagen. Für Übersetzungen der verschiedenen ausländischen Beiträge danken wir Henning Dekant, Beatrix Johnen, Susanne Hennenkemper und Silke Wölk. Die Edition der dritten Auflage unterstützten Matthias Berg, Mareike Mika und Heide Pawlik, denen wir ebenfalls danken möchten. Daneben wäre diese dritte Auflage nicht möglich gewesen ohne die Vielzahl von Personen, die in verschiedenen wissenschaftlichen Kontexten im deutschsprachigen Raum Cultural Studies betreiben und ein nachhaltiges Interesse an der Thematik haben. Auch ihnen sei gedankt.
Anmerkungen 1
Dies wird gegenwärtig an den aktuellen Ausgaben der Zeitschrift „Cultural Studies“ greifbar, in der in unterschiedlichen Beiträgen der Hintergrund der Einstellung eines entsprechenden Programms an der University of Birmingham, Großbritannien, diskutiert wird. Die Breite, in der diese Debatte erfolgt, ist nur vor dem Hintergrund der Zentralität des CCCS für die Etablierung der Cultural Studies verständlich.
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Grossberg, L. (2000): What‘s Going On? Cultural Studies und Popularkultur. Wien. Hall, S. (2000): Das theoretische Vermächtnis der Cultural Studies. In: Hall, S. (2000.): Cultural Studies. Ein politisches Theorieprojekt. Ausgewählte Schriften 3. Hamburg, 34-51. Hepp, A. (2004a): Cultural Studies und Medienanalyse. Eine Einführung. Zweite Auflage. Wiesbaden. Hepp, A. (2004b): Netzwerke der Medien. Medienkulturen und Globalisierung. [Reihe „Medien - Kultur - Kommunikation“]. Wiesbaden. Kellner, D. (1995): Media Culture. Cultural Studies, Identity and Politics between the Modern and the Postmodern. London/New York. Morris, M. (1990): Banality in Cultural Studies. In: Mellencamp, P. (Hrsg.): Logics of Television. Essays in Cultural Criticism. Bloomington, 14-43. Morris, M. (2003): Das Banale in den Cultural Studies. In: Hepp, A./Winter, C. (Hrsg.): Die Cultural Studies Kontroverse. Lüneburg, 51-83. Turner, G. (1996): British Cultural Studies. An Introduction. Second Edition. London/New York. Winter, R. (2001): Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht. Weilerswist.
Teil 1: Theorien, Begriffe und Perspektiven der Cultural Studies
Der Cross Road Blues der Cultural Studies Lawrence Grossberg
1 Scheidewege der Cultural Studies – Cultural Studies am Scheideweg* Ich kann nicht an eine wichtige Entscheidung denken (und nun stehe ich vor einer), ohne dass mir der „Cross Road Blues“ und die Legende des Musikers Robert Johnson in den Sinn kommt, der seine Seele an den Teufel verkaufte, um der größte Bluesmusiker aller Zeiten zu werden. Allerdings gelang es ihm nicht, sehr lange zu spielen. Man sollte die besondere ökonomische Logik beachten, die hier am Werk ist: Robert Johnson musste seine Seele bewahren, solange er lebte. Denn ohne Seele kann man den Blues nicht singen. Ich habe das Gefühl, dass diejenigen von uns, die sich den Cultural Studies verpflichtet fühlen, insbesondere in den Vereinigten Staaten, einen Pakt mit dem Teufel (der neuen kapitalistischen Hochschule?) schließen, um eine neue Position einzunehmen und mit ihr, so die Hoffnung, eine gewisse Legitimität und Macht zu erwerben. Aber ich fürchte, dass wir unsere Seele verlieren, bevor es uns gelingt, in dieser Position überhaupt etwas zu erreichen. In allzu vielen Bereichen werden Cultural Studies in einer Weise institutionalisiert, die lediglich die Struktur der Einzelfächer bzw. der sprach- und kommunikationswissenschaftlichen Abteilungen reproduziert, in denen so viele von uns ausgebildet wurden und zu Hause sind. Eine Folge davon ist, dass ‚Interdisziplinarität‘ oft als rhetorische Waffe gegen die Disziplinen benutzt wird, anstatt sie als produktive Herausforderung zu begreifen, um neue Beziehungen herzustellen und unsere eigenen Forschungspraktiken zu verändern. Eine zweite Folge ist, dass allzuoft das ‚Wissen‘, das wir hervorbringen, anscheinend nur das bestätigt, was wir bereits wissen, und in unsere pädagogische Praxis wieder einbringt, was wir bereits tun. Zweifellos gibt es historische Ursachen, die erklären, warum progressive politische Intellektuelle (einschließlich vieler Cultural Studies-Wissenschaftler) auf diese Weise auf den fundamentalen Wandel reagiert haben, der sich gegenwärtig im Klassenzimmer, an der Universität, in der Medien- und Konsumkultur, in der Nation und in der Welt vollzieht. Hier ist der Zusammenbruch der Popular Front und der verschiedenen übrigen Formationen, die an sie anknüpften, anzuführen, und wie dies zum speziellen (und irgendwie eigentümlichen) Zustand der Neuen Linken in den Vereinigten Staaten führte. Ebenso ist der Einfluss der – im Grunde genommen –
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Selbstdestruktion der Neuen Linken zu erörtern, und was er für die Generationen – insbesondere der Intellektuellen – in den 1970er und 1980er Jahren bedeutete. Tatsächlich glaube ich, dass eine Folge davon die Vorstellung war (die sowohl Teil der Neuen Linken war, als auch von ihr in Frage gestellt wurde), dass Radikalismus und Reformismus Gegensätze wären. Dies brachte einen allgemeinen (allerdings nicht gänzlichen) Rückzug von der Praxis der Politik (im weitesten Sinne) und der öffentlichen Debatte und damit eine Zuflucht in die Politik der Theorie und die Theorie der Politik hervor. Ich beabsichtige sicherlich nicht, die Theorie ‚auseinander zu nehmen‘ oder ihr vorzuhalten, dass sie oft (notwendigerweise) nicht auf die gegenwärtige Situation angewandt werden kann. Im Gegenteil, ich bin der Auffassung, dass Theorie absolut notwendig ist (und dass wir eher das Problem haben, dass wir keine adäquaten Theorien für diese Aufgabe haben). Allerdings möchte ich einige Aspekte der Praxis einzelner zeitgenössischer Theoriebildung kritisieren. Demgegenüber möchte ich eine andere Praxis der Theoriebildung verteidigen, eine andere Weise der Politisierung der Theorie und der Theoretisierung der Politik1, die meinem Verständnis von Cultural Studies entspricht. Zunächst möchte ich verdeutlichen, was ich unter Cultural Studies verstehe, weil es immer schwieriger wird, sie zu definieren. Denn der Begriff wird auf alles Mögliche angewandt: auf die wissenschaftliche Untersuchung der Kultur bzw. auf die progressive Kulturanalyse bzw. auf die progressive, theoretisch verankerte Kulturanalyse bzw. auf die auf Gemeinschaft sich gründende (interventionistische), progressive sowie theoretisch verankerte Kulturanalyse. Schließlich sinkt er zum Namen eines besonderen theoretischen Paradigmas oder einer Forschungspraxis herab. Natürlich verstehe ich die Gründe, warum der Begriff ‚Cultural Studies‘ in einem so weiten Sinne gebraucht wird, aber ich möchte an dem festhalten, was die Cultural Studies zu einem einzigartigen Unternehmen macht.2 Ich möchte hier nicht Definitionen festlegen (und ich denke, dass ich hierfür weder die Macht noch die rhetorischen Fähigkeiten habe), aber ich möchte darstellen, was ich aus eigener Erfahrung am Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham weiß (und warum ich denke, dass Birmingham eine zentrale, aber nicht eine Gründungsrolle in der Geschichte der Cultural Studies gespielt hat und weiterhin einnimmt). Außerdem möchte ich die Bedeutung der allerbesten Beispiele für Cultural Studies aufzeigen, von denen viele keine offensichtlichen Verbindungen zu Birmingham haben, und wie ich Raymond Williams (1989) Unterscheidung zwischen dem Projekt und den Formationen der Cultural Studies verstehe bzw. das, was Paul Gilroy (1993) das „sich verändernde Gleiche“ der Cultural Studies nennen könnte. Als eine Forschungspraxis führen Cultural Studies uns dazu, darüber nachzudenken, woher unsere Forschungsfragen kommen und es abzulehnen, sowohl unsere Theorie als auch unsere Politik für unveränderbar zu halten, als ob sie im voraus festgelegt werden könnten. Cultural Studies sind ein Versuch, die grundlegende Frage zu beantworten: ‚Was geht vor sich?‘ und die Theorie ist ihr Werkzeug, um in dieser Aufgabe etwas weiter zu kommen. Cultural Studies sind der Schauplatz eines unaufhörlichen Kampfes zwischen theoretischen Ressourcen und politischen Realitäten. Es geht nicht darum, Texte oder Menschen zu interpretieren oder zu beurtei-
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len, sondern zu erfassen, wie das Alltagsleben von Menschen durch und mittels der Kultur artikuliert wird, wie sie durch die besonderen Strukturen und Kräfte, die ihr Leben immer in widerspruchsvoller Weise organisieren, zur Handlung befähigt oder unfähig werden, und wie ihr Alltagsleben selbst mit den und durch die Strukturen der ökonomischen und politischen Macht artikuliert wird. Es geht sowohl um die historischen Möglichkeiten, das Leben von Menschen und die Machtverhältnisse zu verändern, als auch um den absolut entscheidenden Beitrag intellektueller Arbeit für die Vorstellung und die Verwirklichung solcher Möglichkeiten. In diesem Sinne möchte ich Cultural Studies als eine akademische, Wissen produzierende Aktivität verteidigen. Cultural Studies sind der Auffassung, dass intellektuelle Arbeit wichtig ist, auch wenn ihre Wirkungen nicht unmittelbar ersichtlich sind oder wahrgenommen werden können. Um dies zu verwirklichen, müssen die Cultural Studies ‚diszipliniert‘ genug sein, um die besten und rigorosten theoretischen Ressourcen, die dafür verfügbar sind, einsetzen zu können und gleichzeitig gewillt sein, das Risiko der Interdisziplinarität einzugehen. Aber ihre Interdisziplinarität ist immer praktisch und strategisch orientiert, hervorgegangen aus dem Umstand, dass die Cultural Studies der Auffassung sind, dass die Untersuchung der Kultur es erfordert, die Beziehungen zwischen der Kultur und dem, was nicht Kultur ist, zu erforschen. Deshalb sind die Cultural Studies nicht einfach die Ausweitung des Begriff Texts und auch nicht die textueller Methoden.3 Wie Meaghan Morris schreibt: „Eine durch literarische Analysekriterien geprägte Lesart einer ‚shopping mall‘, die sich nicht ernsthaft mit deren historischen, soziologischen und ökonomischen Aspekten auseinandersetzt, bleibt – wie produktiv sie auch immer ‚den‘ Kanons des Englischen transformieren mag – eine literarische Lesart und nicht Cultural Studies“. (Morris 1997: 42)
Noch stärker formuliert, Cultural Studies müssten bekämpfen, was Conquergood (1995) die „beinahe totale Herrschaft des Textualismus in der Akademie“ genannt hat, und wie Said (1981) die „textuelle Verhaltensweise“ zurückweisen, welche die schematische Autorität des Textes in den Vordergrund stellt. „Diese Autoren [Voltaire in Candide bzw. Cervantes in Don Quichote] zeigen, dass es unmöglich ist, den dunklen, problematischen Zustand, in welchem Menschen leben, auf der Basis dessen zu verstehen, was Büchertexte sagen.“ (Said 1981: 108)
Gilroy (1993) hat auf den Ethnozentrismus in der Vorstellung hingewiesen, dass Text und Textualität als Kommunikationsweisen ein Modell für alle anderen Formen des Austausches und der Interaktion liefern könnten. Ich möchte jedoch ergänzen, dass die Cultural Studies nicht einfach (weder immer noch ausschließlich) mit der Analyse der Beziehungen zwischen Texten und Publika, zwischen Publika und Alltagsleben oder mit der Anwendung ethnografischer Methoden auf die Kultur gleichzusetzen sind. Denn Cultural Studies zu betreiben, bedeutet, sie ständig neu als Antwort auf die sich verändernden geografischen sowie historischen Bedingungen und politischen Erfordernisse zu bestimmen. Es ist wichtig, sie in spezifischen Fächern zu verankern, auch wenn sie die Legitimität der disziplinären Ausrichtung intellektueller
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Arbeit in Frage stellen. Aber auf welche Weise Cultural Studies in jedem besonderen Projekt definiert und verortet werden, kann nur bestimmt werden, indem die Arbeit der Cultural Studies praktiziert wird, die Beziehungen zwischen Diskursen, Alltagsleben und den Maschinerien der Macht kartografiert bzw. rekonstruiert werden. Dies ist die eigentümliche Logik der Cultural Studies: Sie beginnen mit einem Kontext, in dem bereits eine Frage angelegt ist; dennoch definiert die Frage selbst den Kontext. Daher müssen die Cultural Studies immer mit der Zuwendung zu Diskursen beginnen, weil sie sowohl ihr produktiver Eintritt in den Kontext als auch eine produktive Dimension dieses Kontextes sind. Letztlich sind Cultural Studies nicht am Diskurs per se interessiert, sondern an den Artikulationen zwischen dem Alltagsleben und den Formationen der Macht. Infolgedessen enden sie mit einem anderen Verständnis des Kontextes als dem, das sie zu Beginn hatten, weil sie die Vermittlungen sowohl der Kultur (Diskurs) als auch der Theorie durchschritten haben. Cultural Studies sind daher eine kontextspezifische Theorie und Analyse, die sich damit beschäftigen, wie Kontexte als Strukturen von Macht und Herrschaft hergestellt, aufgelöst und neu gestaltet werden . So würde ich, obwohl die Cultural Studies theoretische Arbeit fordern, behaupten, dass Theorie ‚billig‘ ist, während Politik (die nicht gleichzusetzen mit Ethik oder Moral ist) kostenaufwändig ist, weil die Politik jeder besonderen Studie erst nach der Analysearbeit verfügbar und zugänglich wird. Cultural Studies versuchen strategisch Theorie zu entwickeln, um das notwendige Wissen zu gewinnen, einen Kontext neu zu konstituieren in einer Weise, die vielleicht die Artikulation neuer oder besserer politischer Strategien erlaubt. Während sie das Wissen in den Dienst der Politik stellen, versuchen sie auch die Politik zu veranlassen, auf die Autorität des Wissens zu hören (und daher sind sie nicht relativistisch). Ich glaube nicht, dass diese ‚Definition‘ eine neue Mythologie schafft, welche die Cultural Studies als die neue Rettung für die Geisteswissenschaften, die Universität oder die Welt vorschlägt; eher ist sie als ein bescheidenes Plädoyer für eine flexible und radikal kontextualisierte intellektuelle und politische Praxis zu verstehen, die die Verbindungen zwischen der Politik der Kultur und dem, was Meaghan Morris (1988) die Politik der Politik genannt hat, herzustellen versucht. Aber dies verortet bereits ein Paradox im Kern der Cultural Studies: Zum einen sind sie immer ein Versuch, auf die Fragen von Macht und Herrschaft zu antworten, die dem bzw. der Intellektuellen durch den ‚realen‘ materiellen und diskursiven Kontext, in welchem er oder sie arbeitet, gestellt werden. Und insofern der Erfolg jedes Projektes daran gemessen wird, ob es im Stande ist, jenen Kontext neu zu gestalten, indem es neue Formen, Orte und Beziehungen selbstbestimmt zu handeln eröffnet und sogar ermöglicht, sind die Cultural Studies der Intervention und sogar, sowohl im weiteren als auch engeren Sinn, der Politik verpflichtet. Auf der anderen Seite weigern sich die Cultural Studies, sich auf das weit verbreitete Bemühen einzulassen, jede intellektuelle Arbeit auf eine einzige Logik der Produktivität und Effizienz (gewöhnlich eine funktionalistische) zu reduzieren, als ob jede geistige Arbeit sich innerhalb derselben Zeitlichkeit vollziehen würde. Im Gegenteil, Cultural Studies glauben nicht nur an die notwendige Intervention der Theorie, sie glauben
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ebenso an die beinahe (aber nicht ganz) unvermeidliche Verlagerung der Wirkungen jeder kulturellen Praxis, einschließlich der eigenen. Während die Cultural Studies die Wirkungen kultureller Praktiken zu verstehen versuchen, nehmen sie also auch an, dass jene Wirkungen nie an dem gegebenen Ort und Zeitpunkt zu finden sind, dass sie immer irgendwo anders sind und sich zu einem anderen Zeitpunkt ereignen. Dies gilt sicher für ihre eigenen Praktiken. Obwohl es schön wäre, wenn die Wirkungen intellektueller Arbeit (und Interventionen) immer so unmittelbar und offensichtlich wären wie die einiger anderer Formen politischer Interventionen, ist dies unglücklicherweise gewöhnlich nicht der Fall. Während die Cultural Studies also versuchen, den Kontext ihrer eigenen Arbeit zu ändern, ist es ihnen selten vergönnt, auf einen kurzfristigen Nutzen ihrer eigenen Arbeit verweisen zu können.
2 Die Herausforderung der Gegenwart Ein Nachdenken über Cultural Studies muss also mit einer Untersuchung des gegenwärtigen Kontextes beginnen. Ich kann an dieser Stelle nur kurz skizzieren, dass wir den gegenwärtigen Kontext als die Artikulation folgender historischer Entwicklungen (und theoretischer Herausforderungen) begreifen sollten: •
Die Globalisierung der Kultur, die nicht zu der Ansicht verleiten darf, die gegenwärtigen Formen der Globalisierung seien nur intensivere Formen bereits bestehender räumlicher Beziehungen. Cultural Studies müssen sich mit der Globalisierung der Kultur auseinander setzen, nicht nur, was die Verbreitung und Mobilität von Texten und Publika betrifft, sondern auch mit kulturellen Bewegungen jenseits der Räume jeder (spezifischen) Sprache. Folglich können die Analytiker nicht länger selbstzufrieden annehmen, sie würden verstehen, wie kulturelle Praktiken funktionieren. Die neue globale Ökonomie der Kultur hat eine Deterritorialisierung der Kultur und ihre nachfolgende Reterritorialisierung zur Folge, welche die Gleichsetzung einer Kultur mit einer spezifischen Verortung, einem Ort oder einem Lokalen in Frage stellt. Cultural Studies müssen nicht nur die Beziehung zwischen dem Lokalen und dem Globalen neu konzipieren, sie müssen auch neue Weisen finden, über Kultur als eine weltumspannende Struktur nachzudenken, die der des Kapitals ziemlich ähnlich ist.4
•
Die Ökonomisierung (Kapitalisierung) von allem erfordert nicht nur, dass die Cultural Studies zu ökonomischen Fragestellungen zurück kehren, die sie oft nur am Rand behandelt haben, sondern dass sie ihren eigenen Ansatz für die politische Ökonomie finden, der nicht zwangsläufig die Ökonomie zum fünften Rad am Wagen macht. Ebenso darf die politische Ökonomie der Kultur nicht auf Gesichtspunkte der Verdinglichung und der Industrialisierung reduziert werden (vgl. Grossberg 1995).
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Die wachsende Macht einer Politik, die um die Begriffe der Identität sowie Theorien der Differenz5 organisiert ist und die auf einer Identifikation von Subjektivität und Handlungsfähigkeit basiert, die Beteiligung an ihr und ihre zunehmend unverkennbaren Grenzen. Wir müssen die geohistorischen Mechanismen analysieren, durch welche Beziehungen auf der Basis von Differenzen gestaltet worden sind und die Politik auf der von Identitäten organisiert worden ist. Entscheidend ist dabei, welche Art von Differenzen wirksam ist und wo Differenzen relevant sind. Die aktuellen Theorien sind vielleicht unfähig, solche Fragen zu beantworten. Deshalb muss die Kategorie der Identität dekonstruiert werden, aber nicht notwendigerweise so, wie es Postmodernisten, Postkolonialisten und Poststrukturalisten vorschwebt. Solch eine Zielsetzung müsste über die Mechanismen und Modalitäten der Zugehörigkeit, der Verbindung und der Identifikation nachdenken, um die Orte zu definieren, zu denen Menschen gehören und an denen sie sich zurechtfinden können. Identität wird mehr zu einer politischen Kategorie, einer Weise der Zugehörigkeit, die mobilisiert und auf die Anspruch erhoben werden kann. Sie impliziert an einem Ort zu sein und folglich mit jemandem zu sein. Wenn wir die Kultur nicht mehr unter der Betrachtungsweise von Identität als Differenz konzipieren und verorten, ermöglicht uns das vielleicht, über die Möglichkeiten einer Politik nachzudenken, die die Positivität und Singularität des Anderen anerkennt und darauf aufgebaut ist.
•
Die anwachsende Bedeutung, sowohl theoretisch als auch politisch, des NichtBedeutenden, ob es nun als das Materielle, der Körper oder der Affekt verstanden wird. Hier könnten wir einfach dadurch beginnen, dass wir anerkennen, wie wenig diese Bereiche der Existenz bisher theoretisch behandelt wurden. Wenn sie thematisiert werden, werden sie entweder sofort im Bereich der Repräsentation neu bestimmt und eingeordnet, oder sie werden als das Konkrete, das Besondere und das Nicht-Theoretische behandelt. Gleichzeitig hat die ‚nordatlantische Modernität‘ deutlich gemacht, dass die menschliche Existenz nicht in der Erkenntnistheorie aufgeht, aber sie hat den Überschuss schnell dem Bereich des Irrationalen, des Unstrukturierten und des nicht Darstellbaren zugeschrieben (zum Beispiel wie das Begehren oder die Kreativität). Interessanterweise scheint ein Großteil der gegenwärtigen Kulturtheorie und -kritik von einer binären Opposition auszugehen, dem Affekt/dem Körper/der Materialität und dem Konkreten auf der einen Seite und der Ideologie, der Subjektivität, dem Bewusstsein und der Theorie auf der anderen Seite.
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Die Neukonstitution einer komplexen, widersprüchlichen, hoch selbstreflexiven und strategisch konservativen Bewegung und Ideologie, die bereits signifikante Wirkungen gehabt hat, nicht nur auf die Politik, die Kultur und das Alltagsleben in den USA, sondern überall in der Welt (vgl. Grossberg 1992).
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Der Zusammenbruch von jeglichem gemeinsamen Verständnis von der Art, den Effektivitäten und den Modalitäten der Handlungsmächtigkeit (oder, in Begriffen der Cultural Studies, der ‚Artikulation‘).
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Das Infragestellen der Periodisierung: Die Debatte zwischen den Postmodernisten und denjenigen, die die Gegenwart als Spätmoderne begreifen, macht deutlich, dass wir ein theoretisches Vokabular benötigen, das es uns ermöglicht zu entscheiden, was und ob überhaupt irgendetwas ‚neu‘ an den gegenwärtigen Mechanismen der Kultur und der Macht ist. Aber tiefgehender – und mehr verbunden mit der vorher gehenden Frage – wäre es, wenn wir vielleicht neu nachdenken würden über „die tatsächliche Grundlage des modernen Verständnisses von dem, was den Wandel konstituiert“ (Morris 1994).
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Die immer mehr bewusst werdende Notwendigkeit, den politischen Kampf mit ethischen Diskursen, die sowohl akzeptabel als auch effektiv sind, zu verbinden.
3 Über den Sieg der Kultur Es liegt auf der Hand, dass all diese Themen bedeutsame empirische Forschungen verlangen. Aber noch wichtiger ist meines Erachtens, dass sie nicht nur theoretische, sondern auch philosophische Arbeit erfordern. Ich verstehe Philosophie nicht als einen Zug weg vom Realen (als ob das Begriffliche weniger real als das Besondere wäre), sondern als einen Weg zum Realen, als eine aktive Intervention. Cultural Studies müssen anfangen, ihre eigenen kulturellen Kategorien zu untersuchen und wie diese in die modernen Strukturen und Technologien der Macht verwickelt sind. In welchem Ausmaß sind wir, als Kulturforscher, eingeschlossen in genau die Machtsysteme, die wir zu ändern versuchen. Ich schlage nun nicht vor, dass wir, bevor wir unsere Arbeit fortsetzen, die Ergebnisse eines vollständigen Überdenkens der philosophischen Grundlagen der Cultural Studies abwarten, sondern dass die Cultural Studies fortsetzen sollten, was sie immer getan haben, nämlich voranzuschreiten, Schritt für Schritt, auf der Grundlage von Politik, Analyse und Theorie – zusammen, wenn auch nicht im Gleichklang, in verschiedenen Räumen und mit verschiedenen Geschwindigkeiten. Vor allem plädiere ich auch dafür, dass ein Teil dieser Arbeit, unseren ererbten philosophischen Common Sense in Frage stellen muss. Ich glaube, dass Cultural Studies auf drei philosophischen Logiken beruhen: einer Logik der Identität und Differenz (als einer Weise, die Zugehörigkeit und Exteriorität oder das Anderssein zu konzeptualisieren) (vgl. Grossberg 1996a), einer Logik der Zeitlichkeit (Grossberg 1996b) und einer Logik der Vermittlung.6 Im Folgenden möchte ich nur die letzte dieser Logiken betrachten. Ich glaube, dass ein Teil der Herausforderung, der die Cultural Studies gegenüberstehen, gerade in ihrer Konstitution als Kulturanalyse liegt, und in der besonderen Weise, in der Kultur innerhalb der Cultural Studies verstanden worden ist. Dieses Verständnis geht auf die europäische moderne Philosophie (insbesondere den Deutschen Idealismus) im Allgemeinen und auf die Kantianische Philosophie im Besonderen zurück.7 Raymond Williams (1958) argumentierte, dass die eigentliche Macht des Kulturbegriffes, als er sich in Europa entwickelte, von seiner Mehrdeutig-
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keit abhing – z.B. Kultur als ein Produkt (Kunst), ein Zustand (eine gebildete Person) und ein Prozess (Kreativität). Während es für Worte nicht ungewöhnlich ist, dass sie vielfältige und sogar widersprüchliche Bedeutungen haben, ist es eher untypisch, dass die Mehrdeutigkeit und sogar der Widerspruch die Quelle ihrer Produktivität sind und daher für Jahrhunderte unangefochten aufrechterhalten werden.8 Die Mehrdeutigkeit findet ihren deutlichsten Ausdruck in der Distanz zwischen der anthropologischen Konzeption von Kultur als einer „ganzen Lebensweise der Leute“ („whole way of life of a people“) und einem ästhetisch textuellen Konzept von Kultur. Der Begriff „Gefühlsstruktur“ („structure of feeling“) kann als Williams‘ Bemühung verstanden werden, diese Mehrdeutigkeit zu vermitteln, aber sie ist unvermeidlich (und die Mehrdeutigkeit wird in der Beziehung zwischen der Gefühlsstruktur und der Gemeinschaft des Prozesses — „community of process“— reproduziert.) Sowohl die anthropologischen als auch die ästhetischen Vorstellungen von Kultur sind kürzlich ernsthafter Kritik ausgesetzt worden. Vorstellungen einer „ganzen Lebensweise“, insbesondere insofern sie verräumlicht sowie ethnisch konzipiert sind und so eine singuläre Kultur in einem begrenzten Raum konstruieren, werden immer mehr (insbesondere innerhalb der „critical race theory“ und der postkolonialen Theorie) als das Produkt der kolonisierenden und imperialistischen Projekte des modernen Europas betrachtet. Ästhetische Vorstellungen von Kultur sind sozusagen ‚dekonstruiert‘ worden von Bourdieu und seinen Anhängern, von Feministinnen und anderen, die der Auffassung sind, dass solche Klassifizierungen weniger eine selbstständige Gruppe von Praktiken mit inherentem Wert bezeichnen, als Unterscheidungen von Wert und Macht produzieren und verkörpern. Dies untergräbt unser Vermögen sowohl von der Existenz qualitativer Unterscheidungen innerhalb des Bereichs der Kultur (zwischen Hochkultur und niederer Kultur) als auch von der Existenz einer auf sich selbst beschränkten Kategorie kreativer, textueller und ästhetischer Praktiken – wie der Literatur oder der Kunst – auszugehen, die außerhalb ihrer institutioneller Regelungen und Gesetze bestehen. Die mehrdeutige Gestalt der Kultur ist aber vielmehr als die Summe ihrer Teile, denn nach Williams (1958; dt. 1972) schließt der Kulturbegriff, der für einen Großteil der „Kultur und Gesellschaft-Tradition“, wie er sie nennt, den Anstoß gab, eine doppelte Artikulation mit ein: auf der einen Seite der Entwurf einer Position, die durch die zeitliche Ablösung von einigen anderen Begriffen (z.B. der Tradition) konstituiert wird, durch die Wandel verstanden werden kann; andererseits die Gleichsetzung einer solchen Position mit einem Urteilsmaßstab, der eine „totale qualitative Bewertung“ solcher Veränderungen ermöglicht: „Die Kulturidee ist eine allgemeine Reaktion auf eine umfassende und große Veränderung unserer Lebensverhältnisse“ (Williams 1972: 353). Dies bedeutet, dass bereits die Hervorbringung des Kulturbegriffs die Konstruktion eines Ortes mit einschließt, der es erlaubt, die Veränderungen im Alltagsleben zu beschreiben und zu beurteilen. Er erfordert allermindestens, eine „Berufungsinstanz humanitärer Interessen“ („court of human appeal“), irgendeinen festgesetzen ‚höheren‘ Maßstab, über den Prozessen des praktischen sozialen Wandels anzusiedeln.
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Eine Teillösung kann vielleicht in Williams Weigerung gefunden werden, sich innerhalb der „Kultur und Gesellschaft-Tradition“ zu verorten. Er argumentierte, dass der Kulturbegriff zur Hervorhebung „einer praktischen Unterscheidung bestimmter moralischer und intellektueller Aktivitäten von der treibenden Kraft einer neuartigen Gesellschaft“ (vgl. Williams 1972: 19) erfunden wurde. Zum Beispiel wird die Moderne zum Teil durch die Trennung von Kultur und Gesellschaft konstituiert. Diejenigen Autoren, die Williams in der „Kultur und Gesellschaft-Tradition“ verortet, setzen die Trennung als selbstverständlich voraus. Kultur wird einfach angeeignet und so in eine Position verwandelt, von der aus die Trennung selbst beschrieben und beurteilt werden kann. Williams aber wies eine solche Trennung von Kultur und Gesellschaft zurück. Die Cultural Studies müssen Kultur wieder im praktischen Alltagsleben der Menschen verankern, in der Totalität einer ganzen Lebensweise. Dennoch war Williams tatsächlich nie fähig, dieser Trennung zu entkommen – sowohl in seiner Bevorzugung bestimmter Formen von Kultur (Literatur) als auch in seinem Verlangen, Kultur mit einer Art ethischem Urteilsmaßstab (der in der „Gefühlsstruktur“ verankert ist) gleichzusetzen. Wie konnte Williams dann diesen Widerspruch vermeiden? Dies gelang ihm dadurch, dass er einen dritten Begriff postulierte – nämlich jenen der Kultur als Prozess („die Gemeinschaft des Prozesses“), der menschlichste aller Prozesse, der Prozess der Kommunikation. Dieser ist gleichzeitig sowohl der Prozess der Sinnproduktion als auch der Vermittlungsprozess (im Sinne von Kant). Diese dialektische Mehrdeutigkeit ist nach meiner Ansicht grundlegend für die Geschichte der Cultural Studies und heute ein Hindernis für ihren fortdauernden intellektuellen Einfluss. Anders gesagt, wie in anderen intellektuellen Strömungen des 19. und 20. Jahrhunderts – z.B. in verschiedenen Theorien der Soziologie und der Anthropologie –, wurde der Kulturbegriff benutzt, um die Besonderheit der Moderne zu definieren. Im Gegensatz zu vielen Theorien der Entstehung der Moderne (einschließlich der „Kultur und Gesellschaft-Tradition“) wird die Dialektik der Kultur in den Cultural Studies weniger durch das Bild einer vollständigen und qualitativen Transformation der Gesellschaft bestimmt (zum Beispiel durch den Übergang von der Tradition zur Moderne oder von der Gemeinschaft zur Massengesellschaft; den Cultural Studies ging es nie um die Destruktion der Gemeinschaft), sondern eher von einem Interesse für die Folgen der neuen Formen und Stufen von Mobilität. Oder um es anders zu formulieren: Zentral war immer die Frage nach dem sich verändernden Charakter des universalen menschlichen Prozesses. Aber diesem Kulturbegriff war immer eine besondere und eigentümliche Logik inne. Denn der Kulturbegriff als eine Dialektik (die anthropologischen und ästhetischen Vorstellungen werden expressiv oder kommunikativ vermittelt) reproduziert die dialektische Rolle der Kultur, nach welcher, wie Bill Readings (1996) gezeigt hat, Kultur als individuelle Entwicklung zwischen individuellen Beziehungen und ethnischer Nationalität bzw. zwischen Identität und dem modernen Staat vermittelt. Eine Reihe von Kritikern wie Tony Bennett (1993) und Ian Hunter (1988), die sich auf Foucault stützen, haben die Verbindung dieser Logik mit den Disziplinierungs- und Regierungsstrategien des modernen europäischen Nationalstaates
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deutlich gemacht. Die Entfaltung der Kulturidee unter ethischen Gesichtspunkten macht die Kultur und die Kulturkritik zum Teil einer umfassenderen Technologie der Macht. Dabei bringt das bloße Bild der Kultur eine Gestalt unerreichbarer Perfektion hervor (und schließt die Cultural Studies in sie ein). Diese dialektische Struktur ermöglicht auch, dass der Kulturbegriff eine magische Lösung für das Problem des besonderen Charakters der menschlichen Existenz wird, weil jeder Ausdruck als Vermittlung definiert und anschließend die Kategorie der Vermittlung verabsolutiert wird. Indem die Kultur in eine Logik von Mangel und Vermittlung eingebunden wird, ist sie dem Bewusstsein als mittlerem Raum zwischen Erfahrung und menschlicher Existenz nahe, wenn sie nicht sogar mit ihm identifiziert wird. Nach Rosaldo (1989) entwickelt das moderne Denken den Begriff der Kultur innerhalb der „völlig manichäischen Wahl zwischen Ordnung und Chaos“; Kultur ist das Medium der Information – das Supplement –, welches einen Mangel ausgleicht (z.B. im genetischen Kode oder im Zugang zur Realität). Kultur ist die Vermittlungsinstanz, durch welche das Chaos der Realität in den geordneten Sinn der menschlichen Realität verwandelt wird. Ohne Kultur wäre die Realität einfach nicht zugänglich, sie wäre nicht mehr als ein dröhnendes und brummendes Durcheinander im Sinne von William James. Innerhalb der Kultur ist die Realität immer bereits begreifbar. Sowohl Rosaldo als auch Zygmunt Bauman (1987) haben darauf hingewiesen, dass die Erfindung und der Erfolg des Kulturbegriffs, seine besondere interne Logik und seine Macht, im Kontext der wachsenden Macht Europas, der Modernität und der neuen Mittelklasse-Intellektuellen (mit Readings der modernen Universität) verortet werden müssen. Der Sieg der Kultur baut des Weiteren auf dem Sieg der Philosophie Kants und ihrer Unterscheidung zwischen dem Phänomenon und dem Noumenon auf. Kant postulierte den Bereich der Erfahrung zwischen dem Subjekt und dem Realen. Dadurch löschte er wirksam jeden möglichen Bezug auf das Reale aus, es sei denn als regulatives Ideal. Ich bin außerdem der Ansicht, dass eine philosophische Erbschaft der Kantianischen Philosophie die allseits akzeptierte Annahme der Vermittlung ist, die in einer Vielzahl von Positionen, die von der gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit ausgehen, zu finden ist.9 Der soziale Konstruktivismus behauptet, dass jede Erfahrung der Welt (und daher jede mögliche Beziehung zur Realität) folgende Eigenschaften aufweist: •
Sie ist vermittelt (d.h. sie beinhaltet immer drei Glieder)
•
durch „menschliche“ (vielleicht subjektive) Strukturen
•
die räumlich und zeitlich bestimmt
•
und im weitesten Sinne expressiv (oder sinnhaft) sind
•
und welche im engen Sinne bedeuten (sie vermitteln kognitive Bedeutung, Repräsentation, semantische Referentialität, ideologische, semiotische oder narrative Bedeutungen).
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Natürlich stimmen die verschiedenen Richtungen des sozialen Konstruktivismus diesen Annahmen auf verschiedene Weise und in verschiedenen Kombinationen zu und interpretieren sie unterschiedlich. Die Gesamtheit dieser Annahmen, die am weitesten verbreitete Version des sozialen Konstruktivismus im zeitgenössischen Denken, begreift Kultur nicht nur als das ‚Wesen‘ der menschlichen Existenz, sie setzt Kultur sogar mit Kommunikation gleich.10 Daher beseitigt die Dialektik der Kultur nicht nur das Reale, sondern sie legt jede Möglichkeit einer Produktion (Artikulation) als einer besonderen Art einer – semantischen – sozialen Konstruktion im Voraus fest. Durch die Gleichsetzung von Vermittlung mit Kommunikation beinhalten alle kulturellen Praktiken notwendigerweise die Produktion von Bedeutungen, Repräsentationen, Subjektivitäten und Identitäten (die die Form der Ideologie oder den Inhalt des Common Sense kaum verlässt). Diese Vorstellung von Kultur als einer Ebene kognitiver Bedeutungen macht aus jeder Praktik eine Instanz der kommunikativen Beziehung zwischen Text und Publikum und verwandelt jede kritische Analyse in eine Frage individualisierter (obwohl oft durch soziale Identitäten definierter) und psychologischer Interpretationen sowie Geschmäcker. Indem sie sich der letzten Annahme entgegenstellen, sollten die Cultural Studies an einer kontextuelleren Idee diskursiver Praktiken und Wirkungen festhalten. Sowohl Texte als auch Publika sollten innerhalb umfassenderer Kontexte, die die Identität und die Wirkungen jeder Praxis artikulieren, betrachtet werden. Ein so verstandener Kontextualismus stellt, ohne zu leugnen, dass kulturelle Praktiken uns ermöglichen, die Welt zu verstehen (oder wenigstens uns in einer sinnlich wahrnehmbaren Welt zu lokalisieren), die Reduktion der Sinnstiftung auf die kognitive Bedeutung und Interpretation in Frage sowie das Modell von Kultur, das Kultur als irgendwie getrennt von anderen Ebenen – und zwischen anderen Ebenen –, die es interpretiert, auffasst. Statt dessen operieren kulturelle Praktiken immer auf vielfältigen Ebenen und produzieren vielfältige Wirkungen, die nicht umfassend durch irgendeine Theorie der Kommunikation, der Ideologie, des Bewusstseins oder der Semiotik begriffen werden können. Wenn Kultur aber mehr als eine Angelegenheit von Sinn und Kommunikation ist, dann ist der Kampf um die ‚Kultur‘ nicht nur ein Kampf um interpretative und kognitive Landkarten, die den verschiedenen und unterschiedlich untergeordneten Fraktionen verfügbar sind (welche in der heutigen Welt die große Mehrheit der Bevölkerung darstellen). Wir sollten Rosaldos Ablehnung der interpretativen Bewegung ernst nehmen: „Mein Bemühen, die Intensität (force) einer schlichten, wörtlich genommenen Aussage zu demonstrieren, verstößt gegen die klassischen Normen der Anthropologie, Kultur als allmähliche Verdichtung symbolischer Bedeutungsnetze zu erklären […] [Ich stelle in Frage] die übliche Annahme der Anthropologie, dass das was den Menschen am wichtigsten ist, sich stets dort befindet, wo der Wald von Symbolen am dichtesten ist. […] Beschreiben die Leute wirklich immer das am dichtesten, was sie am meisten berührt?“ (Rosaldo 1993: 2)
Statt dessen sollte sich die Kulturanalyse durch umfassendere Untersuchungen damit beschäftigen, wie diskursive Praktiken die vernetzten Zusammenhänge, die ein solches Verhalten (einschließlich der Art und Weise der Verbindung, der Zugehörigkeit,
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der Handlungsfähigkeit und der Mobilität) produzieren und kontrollieren, gestalten und Teil von ihnen sind. Anstatt uns mit dem ‚Gesagten‘ zu beschäftigen oder zu versuchen, von diesem das Sagen abzuleiten, müssen wir die Kultur ‚in Bewegung setzen‘ (Rosaldo). Anstatt zu untersuchen, was Texte bedeuten oder was Menschen mit Texten machen, sollten sich die Cultural Studies mit der Rolle diskursiver Praktiken auseinander setzen. Wie Meaghan Morris formuliert: „Ich bin weniger an Musik oder am Fernsehen interessiert, als daran, wie diese verschiedene Zeit/Räume durchschneiden und organisieren, in welchen sich die Arbeit ebenso wie das Vergnügen des Alltagsleben vollziehen“ (persönliche Mitteilung). Diskurse sind in dieser Sichtweise mehr als Darstellungen, sie sind aktiv wirkende Kräfte in der materiellen Welt der Macht. Wenn dies selbstverständlich ein philosophisches Argument ist, so nicht in erster Linie, denn es ist vor allem ein Versuch, auf die Erfordernisse des gegenwärtigen Kontextes zum Teil zu reagieren. Daher haben zum Beispiel Frow und Morris (1993) argumentiert, dass sozialkonstruktivistische Kulturvorstellungen einfach inadäquate Beschreibungen der Artikulation und Entfaltung von ‚Kultur‘ in der gegenwärtigen Politik seien. Sie sind der Auffassung, dass ‚die Kultur verändern‘ eine „kurzfristige, aber umfassende Weise, die Lebensführung von anderen in Frage zu stellen“, geworden ist. Es handelt sich um Verhaltenskontrolle, für Ethik oder Ästhetik ist kein Platz, es sei denn als eine Disziplinierungsstrategie. Kultur erscheint „als ein formbares Medium, das von politisch machtvollen, gesellschaftlichen Eliten nach Belieben neu geformt und gestaltet werden kann.“ In diesem Zusammenhang wird z.B. die ‚Kultur‘ zur bevorzugten Erklärung für das Scheitern einzelner nationaler Ökonomien. Samuel Huntington (1996) ist sogar der Ansicht, dass zukünftige Weltkonflikte weniger durch staatliche Interessen oder gar Ideologien als durch die Kultur bestimmt werden. Wenn die Erfordernisse der Gegenwart uns eine Abwendung vom sozialen Konstruktivismus nahe legen, ist es auch notwendig, einige Gegentheorien in ihrer Zustimmung oder Ablehnung zur weiter oben aufgelisteten Reihe von Annahmen hervorzuheben. Zum Beispiel zeigt Bruno Latours Netzwerktheorie (Latour 1995) die Grenzen der Vorstellung der Vermittlung auf, indem sie zum Teil nicht nur die fünfte, sondern ebenso die zweite Annahme zurückweist. Obwohl dieses theoretische Projekt eine post-anthropologische (Gilroy 1993) und post-ästhetische Kulturtheorie zu entwickeln beginnt, glaube ich nicht, dass es der modernistischen Logik der Vermittlung entkommen ist. Natürlich müssen wir andererseits auch vermeiden, Kultur auf ein biologisches Projekt zu reduzieren, welches den produktiven Charakter der Expression ausblendet. In meiner eigenen Arbeit habe ich mich dem philosophischen Werk von Gilles Deleuze und Felix Guattari (1974; 1992) zugewandt, in dem sowohl der soziale Konstruktivismus als auch die Vermittlung abgelehnt werden (eine Zurückweisung der ersten, zweiten und fünften Annahme). Sie sind der Auffassung, dass die Realität selbst expressiv auf den verschiedenen Ebenen ihrer Artikulation in produktiver oder bedeutungsvoller Weise ist. Eine solche Expressivität ist daher weder ausgeprägt menschlich noch vermittelnd. Die Welt selbst existiert nicht außerhalb ihrer Expressionen.11
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Die Möglichkeit einer Kulturtheorie, die nicht auf Vermittlung beruht, kann vielleicht realisiert werden, indem wir noch eine andere Mehrdeutigkeit bzw. einen Widerspruch in der gegenwärtigen Kulturtheorie betrachten: nämlich die Mehrdeutigkeit des Affektbegriffes. Freud folgend ist der Affekt der Bereich der Besetzung (der mehr als nur die libidinösen Formen einschließt); nach Nietzsche ist der Affekt der Bereich der Effektivität (die Fähigkeit zu bewirken und zum Objekt einer Wirkung zu werden).12 Wo liegt die Verbindung zwischen diesen beiden Verständnissen des Affekts?13 Meiner Ansicht nach besteht sie darin, dass beide auf quantitativen Vorstellungen von Energie-Intensitäten beruhen. Sowie Ereignisse als Intensitätslinien existieren (als Werden), so werden qualitativ verschiedene Ebenen von Effekten als Organisationen von Intensität konstituiert. Verschiedene Formen kultureller Affekte oder Expressionen (z.B. Stimmungen, Gemütszustände, Emotionen, das Begehren, die Vielfalt der Lüste) unterscheiden sich durch die verschiedenen Weisen ihrer Organisation, welche alternierend die verschiedenen Manifestationen ihrer virtuellen Effekte bestimmen.14 Tatsächlich können die Signifikation (als kognitive Bedeutung etc.) und die Ideologie selbst als affektive Zustände begriffen werden, als Organisationen von Intensität, die besondere Effekte haben und Subjektivität, Bewusstsein und Intentionalität hervorbringen. Daher beinhaltet nach meiner Ansicht die Kulturfrage einen Kampf um die Kontrolle der virtuellen Affekte, die einzelne Diskurse unter bestimmten Bedingungen vielleicht produzieren. Anders gesagt, es ist eine Frage der Kontrolle der Wirkungen einzelner Praktiken, indem sie in spezifisch affektiven Organisationen artikuliert werden und so die virtuelle Qualität ihrer Effekte bestimmt wird. Auf diese Weise kann die menschliche Realität als Kontinuum und in Nachbarschaft zur nichtmenschlichen Realität begriffen werden. Ironischerweise glaube ich, dass dies uns zu früheren, wenn auch irgendwie unklar bleibenden Versuchen im Werk von Richard Hoggart und Raymond Williams zurückführt, Cultural Studies zu definieren. Obwohl sich beide sicherlich innerhalb der Logik des sozialen Konstruktivismus bewegten, kann ihr Werk auch verstanden werden als Erschließung oder mindestens als Hinweis auf eine materialistischere oder kontextualistischere Idee von Cultural Studies als die Untersuchung „aller Beziehungen zwischen allen Elementen“. Ich fürchte, dass die Aufgabe zu beschreiben, wie eine solche Praxis der Cultural Studies aussehen könnte, an anderer Stelle erfolgen muss.
4 Die Rückkehr des Politischen Meine Beschreibung des Kontextes, in welchem die Cultural Studies sich verwirklichen müssen, ist zu leidenschaftslos gewesen, denn ich bin kaum auf die äußerst realen Einsätze in diesem Kampf eingegangen. Die Vertreter der Cultural Studies müssen beginnen, sich ernsthaft den dystopischen Entwicklungslinien entgegenzustellen, die uns alle zusammen, wie auch immer unsere Politik, Identität oder unser Status sein mögen, ins 21. Jahrtausend führen. Zudem müssen wir versuchen zu verstehen,
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wie diese verschiedenen Entwicklungslinien und ihre verschiedenen Erfolge gestaltet werden. Wir müssen die Mechanismen und Kontexte der gegenwärtigen Transformationen und ihre Artikulationen mit spezifischen Machtbeziehungen verstehen. Während wir uns ständig daran erinnern sollten, dass Menschen aktiv sind und kämpfen, sollten wir auch nicht vergessen, dass sie leiden. Wir müssen die spezifischen Formen verstehen, in welchen die Herrschaft organisiert wird, wie sie gelebt, mobilisiert und ausgeführt wird, ohne anzunehmen, dass die Herrschaft (oder sogar die Hegemonie) immer und überall dieselbe ist. Wir können nicht für selbstverständlich halten, dass die politischen Wirkungen einzelner kultureller Praktiken im Voraus feststehen, oder sogar für verschiedene Kontexte garantiert werden können. Wir müssen untersuchen, wie Formen, die Menschen an einem Ort zur Handlung ermächtigen oder als Werkzeuge für Widerstand dienen, an einem anderen Ort Menschen entmächtigen und umgekehrt. Betrachten wir zum Beispiel die wachsende Macht des populären Konservativismus in den USA. Auf vielerlei Art stellt die Herausforderung dieses neuen Konservativismus nur die Frage neu, die politische Analytiker schon so lange beschäftigt: Warum stimmen Menschen ihrer eigenen Unterordnung zu? Oder vielleicht weniger urteilend: Was machen Menschen, wenn sie sich bestimmten Strukturen der Macht und der Ungleichheit unterwerfen? Welche Rolle spielt die Populärkultur nicht nur in den gegenwärtigen politischen Kämpfen, sondern auch in der Konstruktion der Krise selbst, die nun jene Kämpfe vorantreibt? Was trägt die Populärkultur zu den sich wandelnden und entstehenden Formen von Führerschaft und Autorität bei? Wie können wir die komplexen Formen beschreiben, in welchen eine neue Struktur der Macht organisiert wird, die auf widersprüchlichen politischen, ideologischen, ökonomischen und kulturellen Bindungen aufgebaut ist? Wie wird politische Macht auf eine solche Weise neu strukturiert, dass ideologische und ökonomische Unterordnung mit bestimmten Formen kultureller Ermächtigung artikuliert wird? Wie wird Kultur zu einem Ort des Kampfes ebenso wie zu seiner Waffe und zu seinem Einsatz? Wo betreiben gegenwärtige Formen kultureller Praktik den Kampf um hegemoniale Führung? Obgleich progressive politische Bewegungen und Organisationen weiterhin als Institutionen existieren, sind sie oft zu lokal, zu fragmentiert und zu zeitlich begrenzt. Daher müssen wir auch beginnen, uns wieder darüber Gedanken machen, wie eine breitere politische Bewegung aussehen könnte. Dies erfordert, dass wir sowohl den Fetischismus des Lokalen als auch die Feier des Mikropolitischen vermeiden müssen. Muss solch eine breitere Bewegung auf geteilten Bindungen aufbauen, oder kann sie eher eine artikulierte Reihe sich überlappender Netzwerke sein, oder sogar das, was Giorgio Agamben (1993) „die kommende Gemeinschaft“ (eine Singularität gewissermaßen) genannt hat? Wir müssen auch berücksichtigen, dass die Möglichkeiten für progressiven politischen Kampf, insbesondere für einen, der die Mikropolitik des Alltagslebens überschreitet, aktiv für bestimmte Fraktionen der großen Mehrheit auf (mindestens) drei Ebenen dekonstruiert werden:
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•
die Unmöglichkeit, in das Politische zu investieren (d.h. in den Glauben an die Regierung oder an ‚das Volk‘ bzw. ‚die Leute‘ — ‚the people‘— als Kräfte des Wandels oder an irgendein utopisches Feld politischer und ethischer Werte);
•
die aktive Entmutigung jeder Vorstellung von der Möglichkeit einer politischen Gemeinschaft (d.h. die Beziehung des Individuums zur Gruppe neu, ebenso wie das Verhältnis von Identität und Kampf neu zu denken).
•
die Unmöglichkeit, eine Theorie und Praxis der Handlungsfähigkeit zu artikulieren (neu zu betrachten, wie Menschen Geschichte machen, aber unter Bedingungen, die sie nicht selbst geschaffen haben).
Dies sind in erster Linie Probleme des Alltagslebens, die in Kämpfen im Populären und um das Populäre geformt werden. Es sind auch Probleme an der Schnittfläche des Alltagslebens und umfassenderer, langfristiger ‚tendenzieller‘ Kräfte, die darum ringen, es zu bestimmen. Aber sie stellen auch Herausforderungen für den Intellektuellen dar und ich denke, wir sind zum Scheitern verurteilt, wenn wir nicht Wege finden, sie außerhalb der Grenzen unserer eigenen theoretischen und politischen Positionen anzugehen, wenn wir uns als Intellektuelle nicht mittels des Populären artikulieren können, um Alltagsleben und Kultur mit den äußerst wirklichen Kämpfen gegen ökonomische und politische Ungerechtigkeit zu verbinden. Tatsächlich haben zu oft die wirklichen Schlachten, in denen wir zu kämpfen gewählt haben, und wie wir gewählt haben zu kämpfen, zu einer Schwächung gerade der Institutionen beigetragen, für die wir angeblich kämpfen. Ich hoffe, der Leser wird mir meine rhetorischen Exzesse an dieser Stelle verzeihen, aber ich denke, es ist an der Zeit, dass wir zugeben, dass vieles von dem, was wir (als progressive Akademiker und Intellektuelle) machen, nicht funktioniert. Und es ist an der Zeit, dass wir fragen: Warum funktioniert es nicht?
Anmerkungen *
1
Übersetzung von Rainer Winter. Frühere Versionen dieses Beitrags wurden auf dem Kongress „Crossroads in Cultural Studies“ in Tampere (Finnland) 1996 und auf Einladung bei der „At the Helm“-Tagung der Speech Communication Association in San Diego 1996 präsentiert. Ich danke den Organisatoren dieser beiden Ereignisse für ihre Einladung und Unterstützung. Der Beitrag stützt sich in Teilen auf Grossberg (1997a). Cultural Studies betrachten Theorie weniger als einen Kanon, sondern mehr als strategische Ressource (obwohl dies nicht die Existenz einer Gruppe von Ressourcen, aus denen man auswählen kann, in Frage stellt). Nach dem Verständnis der Cultural Studies ist Theorie weniger therapeutisch, Wahrheit oder Subjekte herstellend, als dass sie Handlungsfähigkeit und Handeln ermöglicht. Daher mussten die Cultural Studies sich, und sie müssen es auch weiterhin, mit den theoretischen (und politischen) Agendas des Marxismus, des Feminismus, der „critical race theory“, der „queer theory“, etc. auseinander setzen, ohne dass sie sich dabei selbst mit der Gesamtheit dieser Gruppe von Arbeiten identifizieren.
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Das Unbehagen, das Versuche, Cultural Studies zu definieren, oft begleitet, lässt sich leicht verstehen, denn das, was Cultural Studies auszeichnet, ist gerade ihre Offenheit. Damit ist nicht eine anarchistische Offenheit im Sinne eines ‚alles ist erlaubt‘ gemeint, sondern die strategische Offenheit von ‚keine Garantien‘. 3 Cultural Studies behandeln einen Text nicht, als ob er Bedeutung auf einer einzigen Ebene enthält oder das Wesen einer Epoche verkörpert. Sie bieten keine zusammenfassende Einsicht an und eröffnen keine Möglichkeit, eine soziale Totalität durch das Ereignis eines Textes zu entziffern. Ein Text ist kein exemplarisches oder charakteristisches menschliches Ereignis (vgl. Frow/Morris 1993). 4 Die Vorstellung einer weltumfassenden Struktur beschreibt einen materiellen Körper, der fähig ist, Grenzen zu überschreiten (vgl. Deleuze/Guattari 1974). 5 Differenz ist nach Weir (1996) eine Logik, in der die Stärkung des Selbst die Assimilation/Exklusion des Objektes/des Anderen nach sich zieht. Die individuelle und kollektive Identität sind immer und notwendigerweise auf einer ‚das Selbe und das Andere‘-Dialektik gegründet und werden durch eine Logik der Exklusion oder des Opfers erzeugt. 6 Offenkundig überschneiden sich diese drei Logiken im Begriff der Kultur. Ein Beispiel hierfür sind die komplexen Aneignungen und Debatten des ‚Multikulturalismus‘. 7 Zumindest, was das folgende Argument anbelangt. 8 Man muss nur den Spielraum betrachten, in dem der Kulturbegriff durch und gegen konkurrierende politische Positionen in den gegenwärtigen Kämpfen angeeignet und entfaltet wird. 9 Es war Kants Vorhaben zu beweisen, dass „der Mensch“ (sic!) selbst Gesetze erlässt und deshalb nicht Objekt wissenschaftlichen Wissens werden konnte. Hierzu legte er die Bedingungen der Möglichkeit (und daher die Grenzen) allen Wissens und aller Erfahrung dar. Offensichtlich scheiterte dieses Projekt gerade insofern, weil es nicht nur für die philosophische Anthropologie, sondern auch für die Wissenschaften vom Menschen den Boden bereitete. Wie Foucault (1971) gezeigt hat, ist in der Erkenntnistheorie der Moderne der Mensch sowohl Subjekt als auch Objekt des Wissens. Ich möchte drei wichtige Einwände vorbringen. Erstens dient Kant hier nur als eine Figur eines viel größeren diskursiven Wandels, der in vielen diskursiven Bereichen und Regimes zu finden ist. Kant war allerdings eine besonders wichtige Kristallisierung dieser Veränderungen; zum Teil vielleicht deshalb, weil er wusste, dass die Logiken, die er aufstellte, zwangsläufig zu Antinomien führen würden, die, wie Ian Hunter (1988) dargelegt hat, eine bestimmte Art von Person hervorbringen. Zweitens erhebe ich nicht den Anspruch, eine bessere Philosophie per se zu suchen, ich versuche auch nicht, den Modernismus über Bord zu werfen. Tatsächlich, habe ich nicht den Anspruch, dass sich meine Arbeit auf irgendetwas auswirkt außer auf die kontextuelle Praxis der Cultural Studies, d.h. auf das Bemühen, den Kontext in seinem Verhältnis zur Diskursivität zu verstehen. Und schließlich, um es noch einmal zu sagen, bin ich nicht der Auffassung, dass wir Cultural Studies nicht betreiben sollten oder können, bis solch eine philosophische Arbeit vollendet ist. Im Gegenteil, wie ich bereits gezeigt habe, werden Cultural Studies immer mit den besten verfügbaren Ressourcen durchgeführt. Zudem zweifle ich nicht daran, dass weiterhin wertvolle Arbeit in den Cultural Studies verrichtet wird, auch wenn eine solche philosophische Arbeit nie unternommen wird. 10 Man muss zur Kenntnis nehmen, dass keine von ihnen die Existenz der Welt (das wäre eine Version des subjektiven Idealismus) und auch nicht die fortdauernde Funktion jener Realität als regulatives Prinzip oder transzendentalen Begriff leugnet. 11 Auf ähnliche Weise ist auch Peirces Begriff der „reinen Erstheit“ nicht ganz außerhalb der Vermittlung. Peirce schlug aber auch vor, indem er die Vorstellung der Vermittlung für die „Drittheit“ reservierte, dass es eine andere Form der Expressivität gibt, die „Zweitheit“, die sich nicht in die Logik der Vermittlung einfügt. 12 Wir müssen zwischen zeitgenössischen Theoretikern unterscheiden, die Nietzsche mit Kant lesen, wodurch verschiedene poststrukturalistische Versionen des sozialen Konstruktivismus entstehen, und denjenigen, die Nietzsche mit Spinoza lesen und Vermittlung tout court ablehnen.
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13 In meiner eigenen Arbeit (Grossberg 1992) benutze ich den Begriff ‚Affekt‘ als eine strukturierte Ebene von Effekten (Anlage), die alleine Handlungsfähigkeit (oder willentliches Handeln) ermöglicht. Das heißt, der Affekt ist die Ebene, auf welcher jedes Einzelne (Personen oder Praktiken sind die deutlichsten Formen der Individuierung) ermächtigt wird, auf besondere Weise an bestimmten Orten zu handeln. Der Affekt beschreibt die beobachtbaren Differenzen, was Praktiken betrifft, oder wie sie von verschiedenen Konfigurationen populärer Diskurse und Praktiken – verschiedenen Allianzen (die nicht nur Publika sind) – aufgenommen werden. Aber vielleicht lässt dies den Affekt als zu geistig erscheinen, denn der Affekt ist sowohl psychisch als auch materiell. Er verlangt, dass wir sowohl den Körper als auch die diskursiven Praktiken in ihrer Materialität betrachten. 14 Das Virtuelle ist real, aber nicht aktual (vgl. Deleuze/Guattari 1992).
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Populäre Texte, Sprache und Alltagskultur John Fiske
1 Vorbemerkungen* Manche Texte werden von den „Leuten“ (the people)** dazu auserwählt, ein Teil der Populärkultur zu werden, während andere abgewiesen werden. In diesem Artikel möchte ich eine Anzahl von Merkmalen der Texte skizzieren, die populär geworden sind. Daneben werde ich einige der Hauptkriterien untersuchen, die den Auswahlprozess bestimmen, durch die ein Text zu einem Teil der Populärkultur wird.
2 Der produzierbare Text Ein populärer Text sollte produzierbar („producerly“) sein. Um diesen Ausdruck zu verstehen, muss man auf die Merkmale Bezug nehmen, die von Roland Barthes (1987) bei seiner Unterscheidung von lesbaren und schreibbaren Tendenzen in Texten und den Lektürepraktiken, zu denen diese einladen, diskutiert werden. In Kürze: Ein lesbarer Text richtet sich an einen im Wesentlichen passiven, aufnahmebereiten und disziplinierten Leser, der dazu tendiert, dessen Bedeutungen als schon gegeben anzunehmen. Es handelt sich um einen relativ geschlossenen Text, der einfach zu lesen ist und keine großen Anforderungen an den Leser stellt. Im Gegensatz dazu erfordert ein schreibbarer Text vom Leser, dass dieser ihn ständig ‚neu‘ schreibt, damit er für ihn einen Sinn haben kann. Er rückt sich in seiner eigenen Konstruiertheit in den Vordergrund und lädt den Leser dazu ein, an der Konstitution von Bedeutung aktiv teilzuhaben. Beim Herausarbeiten dieser beiden Tendenzen, durch die sich Texte auszeichnen können, konzentriert sich Roland Barthes Interesse in erster Linie auf literarische Texte. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass der lesbare Text der eher zugängliche und populäre ist, der schreibbare Text hingegen der schwerer zu erfassende, avantgardistische, der folglich nur eine Minderheit anspricht. Die Kategorie ‚produzierbar‘ ist notwendig, um den populären, schreibbaren Text zu beschreiben – ein Text, der trotz seiner schreibbaren Tendenz nicht notwendigerweise schwer zu lesen ist, der den Leser nicht herausfordert, aktiv Bedeutung
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zu konstituieren, der den Leser nicht durch seine gravierende Differenz sowohl zu anderen Texten als auch zu dem gewohnten Alltag in Verlegenheit bringt. Er zwingt dem Leser nicht seine eigenen Konstruktionsgesetze auf, die dechiffriert werden müssen, um den Text Stück für Stück nach dessen Bedingungen anstatt der eigenen zu erfassen. Der produzierbare Text hat die Zugänglichkeit eines schreibbaren Textes und kann prinzipiell auf vergleichbar einfache Weise von denjenigen Lesern rezipiert werden, die sich mit der dominanten Ideologie arrangiert haben (für den Fall, dass solche Leser wirklich existieren: Schauen Ölbarone Dallas?), jedoch verfügt er gleichzeitig über die Offenheit des schreibbaren Textes. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass er weder die schreibende Aktivität des Leser erfordert, noch die Regeln festsetzt, die diese kontrolliert. Vielmehr bietet er sich selbst einer populären Bedeutungskonstitution an. Er überlässt sich, wie widerwillig auch immer, den Verwundbarkeiten, Grenzen und Schwächen seiner bevorzugten Lesart. Er beinhaltet – während er versucht, diese zu unterdrücken – Stimmen, die denjenigen, die er favorisiert, widersprechen. Er hat lose Enden, die sich seiner Kontrolle entziehen, sein Bedeutungspotenzial übertrifft seine eigene Fähigkeit, dieses zu disziplinieren, seine Lücken sind groß genug, um ganze neue Texte in diesen entstehen zu lassen – er befindet sich, im ureigensten Sinne des Wortes, jenseits seiner eigenen Kontrolle. Die von der Kulturindustrie produzierten und verbreiteten Erzeugnisse, die zu einem Teil der Populärkultur werden, sind diejenigen, die ‚außer Kontrolle‘ geraten, die nicht zu disziplinieren sind. Aber sie vermitteln nicht, wie der schreibbare Text, ein ‚Gefühl der Fremdheit‘, ihre Disziplinlosigkeit ist die Disziplinlosigkeit des Alltagslebens, die vertraut wirkt, da sie ist ein unvermeidliches Element der populären Erfahrung innerhalb einer hierarchischen, durch Machtverhältnisse strukturierten Gesellschaft darstellt. Sie benötigen demnach diese Schreibbarkeit nicht, denn sie zu benötigen bedeutet, zu disziplinieren (der schreibende Leser eines avantgardistischen Textes ist diszipliniert). Hingegen erlauben produzierbare Texte das Schreibbare; sie sind unfähig, es zu verhindern. Die soziale Erfahrung, die die Relevanz bestimmt, die das Textuelle mit dem Sozialen verbindet und die die populäre Produktivität antreibt, liegt jenseits der Kontrolle des Textes und zwar auf eine Art und Weise, die sich von der eher festlegenden Textkompetenz und der Erfahrung des schreibenden Lesers eines avantgardistischen Textes unterscheidet. Man kann hier auf die Metapher Michel de Certeaus Bezug nehmen (vgl. de Certeau 1988; Fiske 1989a: 32-43), der das Bild der kolonisierenden Armee aufgreift, die die Kontrolle über ein schwer zugängliches, bergiges Gebiet aufrecht erhalten möchte und sich der Gefahr von Guerilla-Angriffen aussetzen muss – sie kann sich selbst nur schützen, indem sie sich in ihre Zitadellen zurück zieht. Die Populärkultur ist stets für diejenigen ein schwer zugängliches, bergiges Gebiet, die sie kontrollieren möchten (unabhängig davon, ob aus ökonomischen, ideologischen oder disziplinarischen Gründen), und ihre Guerilla-haften Lektüren sind eine strukturelle Notwendigkeit des Systems. Dem ökonomischen Bedarf der Industrie kann nur dann entsprochen werden, wenn die „Leute“ deren Produkte als adäquate Ressourcen für ihre eigene Populärkultur verwenden. Es ist nur dann möglich, hegemoniale Kräfte auszuüben, wenn die „Leute“ die Texte, die diese Kräfte verkörpern,
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zur Lektüre auswählen und sie werden nur diejenigen Texte wählen, die auch die Möglichkeit zum Widerstehen, Ausweichen und Empören anbieten. Strategische Macht von oben kann nur in Momenten des Widerstands funktionsfähig sein, in denen sie auf die taktische Macht von unten trifft. Die Populärkultur ist durchsetzt mit Widersprüchen, und die ‚gegenläufigen‘ Elemente ihrer ‚Ausdrucksweise‘ lassen sich auf die produzierenden Leser ihrer (unfreiwillig) produzierbaren Texte zurückführen. Um populäre Texte zu analysieren, benötigt man also eine zweifache Blickrichtung. Auf der einen Seite muss man die Tiefenstruktur der Texte beachten und erforschen und dies, indem man auf jene Methoden zurückgreift, die durch ideologische, psychoanalytische und strukturalistische bzw. semiotische Analysen so effektiv und einschneidend in der jüngsten Forschung erprobt wurden. Diese Ansätze offenbaren genau, wie beharrlich und heimtückisch die ideologisch dominierenden Kräfte in allen Produkten des patriarchalen Konsumkapitalismus am Werke sind. Verbunden mit den Arbeiten der politischen Ökonomie und der kritischen Theorie der Frankfurter Schule, enthüllen sie mit erschreckender Klarheit die Art und Weise, in der die ökonomischen und ideologischen Erfordernisse des Systems das Alltagsleben bestimmen und von nahezu jedem Aspekt desselben begünstigt werden. Konzentrieren wir uns aber nur hierauf, so führt das nicht nur dazu, dass wir einen ähnlich wichtigen Aspekt der Kultur kapitalistischer Gesellschaften außen vor lassen, sondern auch zu einer Selbstbeschränkung, die in ihrem Pessimismus letztlich schädlich ist. Eine solche Position mag durch unsere aufrichtige Abneigung gegenüber dem System gerechtfertigt sein, aber sie eröffnet nur wenig Hoffnung auf Fortschritt – und nur die utopische Vorstellung von einer radikalen Revolution als letzte Möglichkeit, es zu verändern. Entsprechend muss man auf der anderen Seite auch seinen Blick darauf richten, wie die „Leute“ mit dem System klar kommen, wie sie seine Texte lesen, wie sie ausgehend von dessen Ressourcen Populärkultur konstituieren. Diese Blickrichtung fordert uns auf Texte zu analysieren, um ihre Widersprüche, ihre Bedeutungspotenziale, die sich der Kontrolle entziehen, und ihre Einladungen zur Produktion aufzudecken. Zu fragen ist, was in den Texten steckt, das eine populäre Billigung anzieht. Traditionelle akademische Analysen und berufsmäßige Kritik haben sich nur selten auf diese Weise mit populären Texten befasst. Kritiker, unabhängig davon, ob akademisch oder berufsmäßig, neigen dazu, wie disziplinierende Ordnungshüter zu handeln, da ihre traditionelle Rolle durch populäre Produktivität und populäres Urteilsvermögen bedroht ist. Ein Ausgangspunkt für den Analytiker von Populärkultur ist folglich, das zu erforschen, was traditionelle Kritiker in populären Texten ignorieren oder anschwärzen, und sich auf solche Texte zu konzentrieren, die entweder der gesamten kritischen Aufmerksamkeit entgangen sind oder nur zur Kenntnis genommen wurden, um diffamiert zu werden. Das gemeinsame Auftreten eines weit verbreiteten Konsums mit einer ebenso weit verbreiteten kritischen Mißbilligung ist ein ziemlich sicheres Anzeichen dafür, dass eine Kulturware oder Praktik populär ist. Des Weiteren möchte ich einen Blick auf einige der Gründe werfen, die dazu führen, dass dieser Populärkultur abgelehnt, verspottet oder angegriffen wird und dabei
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danach fragen, ob hinter diesen ‚Vulgaritäten‘ einige positive Aspekte zu finden sind.
3 Sprache Die Populärkultur wird häufig wegen ihres Ge- bzw. Mißbrauchs von Sprache angegriffen. Die Frage, die hier zur Disposition steht, ist, ob die Massenmedien und die Populärkultur unsere Sprache verschlechtern oder sie neu beleben. Verbunden damit müssen wir fragen, warum der populäre Gebrauch (oder ‚Missbrauch‘) von Sprache bei so vielen eine solche Verärgerung und Besorgnis verursacht.1 Auf einen skandalösen, undisziplinierten Gebrauch der Sprache will ich mich im Weiteren konzentrieren – auf den des Wortspiels. Beginnen möchte ich mit einem charakteristischen Beispiel. Ein Artikel in der New York Post vom 5. Februar 1988 beginnt mit dem Satz: „Der erregte SenatsGOP-Vorsitzende Robert Dole stellte gestern persönlich einen $500-Scheck für die Nicaraguanischen Contras aus, angesichts des ‚schweren Fehlers‘ des Repräsentantenhauses, ein $36 Millionen Hilfspaket abzulehnen.“ Die Überschrift lautet DOLE ERKAUFT SICH NEUE CONTRAVER$E.*** Die Sensationspresse reproduziert keinen Umgangsjargon – dies wäre unmöglich, da solche Sprachmuster in hohem Maße durch Klassen-, Rassen-, Alters-, Geschlechts- und Regionsunterschiede variieren. Aber die Sensationspresse hat eine Form der Sprache entwickelt, die es einer Vielzahl von oralen Kulturen ermöglicht, Anklänge der eigenen Sprachmuster in ihr zu finden, ebenso wie das Vergnügen, die eigene Sprache und die der Presse in eine Beziehung zu setzen. Dies wird hauptsächlich erreicht, indem sie sich von der offiziellen, korrekten Sprache abwendet. So zieht sich durch den hier betrachteten Artikel ein respektloser Ton, der sicherstellt, dass Doles persönlicher Scheck an die Contras wahrscheinlich nur mit Mühe als ein bewundernswerter, heroischer Akt gelesen werden kann. Ein Teil dieser Respektlosigkeit wird durch das Wortspiel „erkauft sich“ („to buy into“) übertragen, bei dem der umgangssprachliche, metaphorische Gebrauch (der überraschenderweise nur schwer festgehalten werden kann) mit einem spezifischen, wörtlichen Gebrauch kollidiert. Der Unterschied zwischen den vielfachen, umgangssprachlichen Verwendungsweisen und diesem einen wörtlichen Gebrauch ist die Differenz zwischen umgangssprachlichen, oralen, populären Kulturen und der schriftsprachlichen, offiziellen, disziplinierten Kultur. Das Wortspiel bereitet ein zweifaches Vergnügen. Da gibt es das Vergnügen, mit den unterschiedlichen Gebräuchen der Sprache, die auf der Mikroebene das ständige Spiel von Klasse und sozialen Unterschieden darstellen, zu spielen: Das Wortspiel eröffnet eine Vielfalt von auf der Straße verbreiteten, umgangssprachlichen Bedeutungen von „Scheck“ („check“), die sich von der Bedeutung, die Dole diesem Ausdruck zuschreibt, in solchem Maße unterscheidet, wie die soziale Position von Dole und den Post-Lesern; und das Wortspiel erlaubt es, die ‚vulgäre‘ Bedeutung als
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‚wahrer‘ und demzufolge machtvoller anzusehen als die offizielle. Das Vergnügen des Wortspiels liegt also nicht nur in seiner sprachlichen Miniaturisierung der sozialen Beziehungen, sondern in seiner Umkehrung der Kräfte, die diese gewöhnlicherweise strukturieren. Die zweite Form von Vergnügen ist die der Produktivität: Wortspiele laden zu produzierendem Lesen ein, es besteht ein Vergnügen im Herausfinden und Lösen des Wortspiels, das in das noch größere Vergnügen mündet, sich seine eigene, zweckmäßige Bedeutung aus den in ihm kollidierenden Diskursen zu ziehen. Wortspiele können nicht die Beziehung zwischen den gegenläufigen Diskursen, die sich in ihm treffen, kontrollieren, sie verbinden diese einfach und überlassen dem Leser den Rest.2 Das ‚Wort‘ „CONTRAVER$E“ arbeitet anders. Die lexikalische Assoziation der Contras mit Kontroverse mag auf einer Ebene der Trivialisierung dienen und auf diese Weise die Respektlosigkeit gegenüber den politischen Kämpfen zeigen, die bezüglich dieses Thema ausgefochten wurden – und diese Trivialisierung kann ein Zeichen der Distanz dieses Themas und seiner Irrelevanz für das Alltagsleben der Leser sein. Das Wortspiel $ anstatt S funktioniert möglicherweise auf dieselbe Weise; es steht als ein Zeichen dafür, dass das große Geld weg ist (ebenso wie Doles Scheck) und wird gesprochen mit dem Ton eines Gossen-Skeptizismus. Aber wiederum eröffnet das ‚Wortspielen‘ mehr als eine linguistische ‚Wieder-Erfahrung‘ einer sozialen Differenz (oder eines Unterschieds, einer Entfremdung): Es mißbraucht auch ‚ihre‘ Sprache. Das Wortspiel ist eine Weigerung, sich einer sprachlichen Ordnung zu unterwerfen, eine momentane Taktik, durch die das sprachliche System geplündert und auf respektlose, listige Weise ausgenutzt wird. In diesem Zusammenhang ist de Certeaus Unterscheidung zwischen Lesen und Entziffern relevant. Entziffern heißt zu lernen, wie man die Sprache eines anderen zu dessen Bedingungen zu lesen hat. Lesen hingegen ist ein Vorgang, bei dem die eigene, orale, umgangssprachliche Kultur an den geschriebenen Text herangetragen wird. Entziffern benötigt Übung und Erziehung, die durch die gleichen sozialen Kräfte organisiert werden, die das sprachliche System kontrollieren. Es ist Teil desselben strategischen Machtzusammenhangs. Seine Funktion ist es, den Leser der Autorität des autorisierten Textes zu unterwerfen, und auf diese Weise wird der belehrende Sprachkritiker zu einem strategischen Agenten, der von der Macht, an der er teilhat, profitiert. Lesen jedoch erfordert eine orale Kultur, die dem Geschriebenen (dem Skripturalen) vorangeht, die sich jenseits der ‚offiziellen Sprache‘ oder gegen sie entwickelt hat und entsprechend gegen deren Disziplin gerichtet ist. Das Entziffern unterstützt, dass der Text vom Leser als ein Beispiel von ‚langue‘ aufgefasst wird, als eine Verkörperung des universellen Sprachsystems, dem man sich nicht widersetzen kann, sondern das man lediglich gebrauchen kann – und dieser Gebrauch formt auch die Nutzer. Das Entziffern schult den Leser, vom System benutzt zu werden. Das Lesen hingegen rückt die ‚parole‘ gegenüber der ‚langue‘ stärker in den Vordergrund, die Praktik gegenüber der Struktur. Es hat mit dem alltäglichen Gebrauch von Sprache zu tun, nicht mit deren System oder deren Richtigkeit. Das Lesen betont Kontextualität, das einzigartige Verhältnis eines bestimmten sprachlichen Gebrauchs zu einem bestimmten, situierten Kontext. Es ist dem zu
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Folge mit dem Unbeständigen und Vergänglichen verbunden, denn Relevanz muss vergänglich sein, da sich soziale Formationen ändern und in unterschiedlichen Momenten und zu unterschiedlichen Zwecken anders gestaltet werden. Das Vergnügen, das das Wortspiel „CONTRAVER$E“ bereitet, besteht darin, dass der Ausdruck zuvor noch nie gebraucht wurde und auch nicht mehr gebraucht werden wird.3 Die Einzigartigkeit, die Kontextualität, liegt in dem Bereich des Populären, sie ist Teil der Alltagstagskultur, und als solche der Allgemeinheit entgegen gesetzt, der Normalisierung und somit auch zur Disziplin. Ebenso ist sie Teil des sprachlichen Systems, in welches ‚Korrektheit‘ eingeschrieben ist, und dessen Regeln nicht nur deshalb wichtig sind, weil sie die Art und Weise kontrollieren, wie Sprache gebraucht werden soll, sondern auch, weil die Akzeptanz dieser Regeln eine andere Form dessen ist, wie Menschen sich selbst regieren. Wortspiele sind umgangssprachlich, ein Teil der oralen Kultur: Schriftlichkeit bevorzugt den seriösen, disziplinierten Gebrauch der Sprache, den Wortspiele unterbrechen.4 Geschriebene Sprache ist linear, ihre Beziehungen sind logisch und verbunden durch die Gesetze von Ursache und Wirkung. Wortspiele sind assoziativ, sie entkommen diesen Gesetzen, denn assoziative Beziehungen sind wesentlich freier als logische. Wortspiele heben den linearen Fluss der Gedanken auf, durch den der Leser bei der Hand genommen und von einem Gedanken zum nächsten geführt wird. Sie beziehen hingegen parallele Prozesse ein, die Fähigkeit, simultan verschiedene Informationsflüsse zu verarbeiten. Natürlich sind Wortspiele auch für einige schreibbare literarische Texte kennzeichnend: James Joyces Werk zum Beispiel ist voll von Wortspielen. In avantgardistischen Texten haben Wortspiele eine vergleichbar offensive Funktion wie in produzierbaren Texten, jedoch sind sie für eine andere Leserschaft bestimmt und haben eine andere Beziehung zum Alltag. Der Leser eines avantgardistischen Textes gehört einer Minderheit an, einer artistischen Elite, deren Aufgabe es ist, Kunst von ihren tradierten Konventionen zu befreien und sie für neue, zukünftige Darstellungsformen zu öffnen. Solche schreibbaren Werke müssen ihren Lesern die Kodes und Lektürepraktiken beibringen, durch die man sie verstehen kann. Sie sind ihren Lesern voraus, ihre Originalität und Schwierigkeit bilden die beiden Seiten ein und derselben Medaille. Produzierende Wortspiele jedoch reproduzieren auf der Ebene des Textes die Widersprüche, die schon die soziale Erfahrung ihrer Leser sind. Sie haben folglich keine ‚erzieherische‘ Funktion, sie sind ihren Lesern nicht voraus. Es ist das Textmuster, das es den Lesern erlaubt, ihre soziale Erfahrung durch sie auszudrücken. Wortspiele versuchen also nicht, die eigene Erfahrung als fremd erscheinen zu lassen, nur um ihren Widersprüchen einen Moment der Wahrnehmung zu gestatten. Wir müssen uns aber darüber im Klaren sein, dass der Unterschied zwischen schreibbaren und produzierbaren Wortspielen eher in den Lektürepraktiken als in essenziellen Unterschieden zwischen den Wortspielen selbst liegt. „CONTRAVER$E“ ist tatsächlich ein Wort, das durchaus von Joyce hätte stammen können. Greenfield (1987) weist darauf hin, dass einige der Gründe, warum viele Erwachsene (vor allem gutbürgerlich erzogene) bei Videospielen versagen – und
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ihnen dementsprechend auch kritisch gegenüber stehen –, darin liegen, dass die Fähigkeit, diese zu spielen, paralleles Verarbeiten mehrerer Geschehnisse einschließt, die Fähigkeit, mehrere Muster von Erfahrungen gleichzeitig aufzunehmen und die strukturierten Beziehungen zwischen diesen Mustern eher zu erfassen als zu analysieren. Die mentalen Prozesse sind weitgehend andere als die linearen, die in der literarischen Elite so gut geschult werden. Die Werbung für ein Haarpflegemittel, die den Kopf und die nackten Schultern einer jungen Frau zeigt und mit der Schlagzeile „Use your head, give your hair body“ versehen ist, steckt voll paralleler Gedankengänge. „Use your head“ heißt gleichzeitig ‚denk klar‘ und ‚mach deine Attraktivität zu einem Reiz für die Männer‘. Dem Haar Form und Körper geben („give your hair a body“), ist das, was das Produkt macht, genauso wie es das ist, was der Leser in seiner Fantasie tut, indem er dazu aufgefordert wird, sich den (nackten) Körper unterhalb der Schultern vorzustellen – und damit auch den impliziten Körper des auf sie blickenden Mannes produziert. Drei Körper sind hier gegeben und bringen sich gegenseitig hervor – die Form des Haares, der Körper der Frau und der implizierte Körper des Mannes. Diese Werbeanzeige lesen zu können, ist keine literarische Fähigkeit, da sie lediglich das parallele (nicht sequenzielle) Verarbeiten von Wörtern und Bildern, von Spielen mit Wörtern und von Spielen zwischen Wörtern und Bildern erfordert. Das Raststättenschild ESS HIER TANK AUF erlaubt keine Satzzeichen, Präpositionen oder Konjunktionen (die alle Beziehungen strukturieren und entsprechend die Bedeutungspotenziale der geschriebenen Sprache einschränken), die die möglichen Assoziationen zwischen diesen beiden Aktivitäten kontrollieren. Sie können sich abwechseln, gleichzeitig bzw. aufeinander folgen oder in keiner Beziehung zueinander stehen; und die umgangssprachliche, offensive, wortspielerische Bedeutung ist nur deshalb zugänglich, weil solche assoziativen Freiheiten bestehen. Diese Freiheiten konstituieren den Raum, der es ermöglicht, dass das, was von Bakhtin (1987) als Sprache der Unterschicht bezeichnet wird, die offizielle, korrekte Bedeutung umgeht. Die Spannung zwischen den Bedeutungen ist, wie alle semiotischen Spannungen, sowohl sozial als auch semantisch. In Texten von Pop Songs werden typischerweise Wortspiele gebraucht (vgl. Fiske 1989b: 95-115). Häufig sind diese sexuell konnotiert, wobei die offizielle, geschätzte Bedeutung unterhöhlt wird durch die weniger geschätzte sexuelle. Das unerlaubte Vergnügen am Sexuellen wird verstärkt durch die Gegenwart eines kontrollierenden Diskurses: Die gegenläufige Beziehung zwischen beiden Diskursen bereitet ein größeres Vergnügen, als wenn die sexuelle Bedeutung frei für sich zirkulieren würde. Bedeutungen, die ‚außer Kontrolle‘ geraten, müssen Spuren der Kontrolle, der sie entkommen möchten, enthalten, um populär zu werden. In Thriller reizt Michael Jackson das Wortspiel des Titels bis zu seinen äußersten Grenzen aus. Als er und seine Freundin einen Horrorfilm anschauen, singt der Chor:
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John Fiske This is the Thriller, Thriller night Cause I could thrill you more than any ghost would dare to try Girl this is thriller So let me hold you tight and share a killer, thriller night.
Das Hauptwortspiel setzt den emporkribbelnden Thrill eines Horrorfilms mit dem explodierenden Thrill eines Orgasmus in Beziehung – ein Killer im doppelten Sinn des Wortes. Daneben ist der ‚Junge‘ aus dem Liedtext gleichzeitig der Star Jackson und der ‚gewöhnliche‘ Freund, den er in dem Video spielt, ebenso ist das Mädchen gleichzeitig die ‚gewöhnliche‘ Freundin und der Fan des Stars. Die Wortspiele funktionieren auf zwei Ebenen, nämlich auf der Ebene der Beziehung zwischen dem Jungen und dem Mädchen und auf der parallelen Beziehungsebene zwischen Star und Fan. Letztere eröffnet den Fans den ‚Thrill‘ einer Michael Jackson-Darbietung, eine ‚jouissance‘, ein Lesen mit dem Körper, das die eigentliche Wirkung auf die Fans darstellt. Dieser Thrill, den Roland Barthes als Erotisierung des Textes (oder in diesem Fall der Darbietung) bezeichnen würde, ist sowohl sexuell als auch horrorhaft konnotiert: Text, Orgasmus und Entsetzen klingen in dem Wort ‚thrill‘ mit. Im Video verwandelt sich Jacksons Person parallel zu den Bedeutungen des Wortes – er oszilliert zwischen Jackson als gewöhnlichem Freund, Jackson als Star und Jackson als Werwolf oder Zombie. Hinter der bekannten Bedeutung von ‚Ins-Kino-gehen‘ oder ‚Ein-Michael-Jackson-Fan-sein‘ liegen dunkle sexuelle und horrorhafte Erfahrungen, die in ihrer Flucht vor Kontrolle sowohl bedrohlich als auch befreiend wirken. „DOLE ERKAUFT SICH NEUE CONTRAVER$E“ ist das Spiel von Disziplin und Undisziplin im Kleinen, ein Spiel von Kontrolle und Kreativität, von sprachlichem System und kontextuellem Gebrauch. Diejenigen von uns, die bei solchen Wortspielen seufzen oder Grimassen schneiden, sich aber trotzdem ein Vergnügen nicht verkneifen können, sind gleichzeitig auf beide Ansatzpunkte dieser Spannung ausgerichtet. Unser Vergnügen lässt sich auf die Kreativität der Befreiung von der sprachlichen Disziplin zurückführen, unser Missfallen auf unsere Einbindung in das soziale System, über das sich für einen Moment empört wird. Genau aus diesen Gründen sind Wortspiele (‚schlechte‘ Wortspiele) in der kommerziellen Kultur – Werbung, Überschriften, Pop Songs, Slogans – weit verbreitet. Sie komprimieren eine Vielfalt von Bedeutungen auf kleinem Raum, diese Bedeutungen schwappen über und geraten außer Kontrolle. Sie erfordern produktives Lesen, sie sind keine Konfektionsware. Solange Wortspiele als wertloser, trivialer Gebrauch von Sprache aufgefasst werden, verkörpern sie die Spannung zwischen dem Richtigen und dem Spielerischen, und das Spielerische hat immer das Potenzial, undiszipliniert, skandalös und offensiv zu sein. Die Pizzeria, die sich selbst „Der schiefe Turm von Pizza“ nennt und ihre Fassade mit einem Stuck-Pastiche des Originalturms dekoriert, bietet eine Reihe populärer Vergnügen, die über jene an ihren Produkten hinausgehen und sie überdauern.
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Wortspiele sind hauptsächlich oral: Man muss sie laut aussprechen, um nicht nur den Gegensatz zwischen den Diskursen zu erfassen, die sie verkörpern, sondern auch den Gegensatz zwischen dem Oralen und dem Schriftlichen. Sie verstoßen gegen die Schriftlichkeit, indem sie sie ‚oralisieren‘, sie verschieben die Sprechweise von der Disziplin des Schriftlichen zu dem weniger kontrollierten, eher kontextbestimmten Gebrauch einer oralen Kultur. Sie sind Teil der gewöhnlichen geschriebenen Sprache, die weder rein oral noch rein schriftlich ist, sondern eine Zwischenform darstellt, eine geschriebene Sprache, die sich dem Oralen annähert und gegen das Schriftsprachliche verstößt. Man könnte sie ein oralisiertes Schreiben nennen. Die Disziplin des Schriftlichen manifestiert sich in seinen Normen der Korrektheit, insbesondere in denen der Syntax und der Rechtschreibung. Ein oralisiertes Schreiben benötigt keine normierte Rechtschreibung oder Syntax, seine Kennzeichen der Oralisierung sind seine Fehler, seine Abweichungen (bewusst oder unwissend) von der Disziplin des Schriftsprachlichen. Oralisierungen wie Wirsing (badisch ‚Auf Wiedersehen‘), ‚Bar-B-Q‘ und ‚Stop ‚n‘ Go‘ sind so verbreitet, dass sie ihre Offensivität nahezu verloren haben. Sie sind absichtsvoll und nahezu akzeptiert. Anstoßerregender sind für manche „Leute“ ‚Missbräuche‘, die gegen die geforderte Genauigkeit verstoßen, beispielsweise das im Englischen übliche Ignorieren der Norm, dass das Apostroph der Unterscheidung von Plural- und Possesivformen bzw. Elisionen dient. In der gesprochenen Sprache genügt der Kontext um its und it‘s zu unterscheiden und nur Schreib-Pedanten stört es, wenn der ansässige Lebensmittelhändler die Frische seiner „tomato‘s“ anpreist. Die gesprochene Sprache interessiert es nicht, ob Granny Smiths mit einem Apostroph versehen werden sollte, und wenn dem so ist, ob das Apostroph vor oder nach dem s steht. Der entscheidende Punkt ist nicht nur, dass die orale Sprache nicht mit Buchstaben geschrieben werden muss, wie es beim oralisierten Schreiben der Fall ist, sondern dass die orale Sprache stärker kontext- und funktionsorientiert und nicht normorientiert ist. Wenn man verstanden wird, ist das genug. Wie Bourdieu (1987) herausstreicht, benötigt die Arbeiterklasse eine Kunst, die funktional ist. Das oralisierte Schreiben ist funktional, es ist zweckgebunden. Ein Teil seines Zwecks ist es, sich nicht anzupassen, sondern die Arbitrarität sprachlicher Normen bloßzustellen und zu zeigen, dass sie nicht eine solche sozial distinguierende und disziplinierende Funktion haben: Die Normen zu brechen, macht selten die Bedeutung einer Aussage zunichte, sagt aber viel über die soziale Klasse aus, der man angehört. Die orale Sprache hat sich zum Funktionalen hin entwickelt – ‚Bar-B-Q‘ ist kürzer, und selbst in diesem minimalen Sinn funktionaler als die korrekte Schreibweise. Diese Art von ‚Bastardisierung‘ ist eine völlig andere, als das Pentagonese, der in hohem Maße schriftsprachliche Jargon des Pentagons. Dieser löst einzelne Worte aus ihrem unmittelbaren Kontext bzw. von ihrem Sprecher, schreibt sie orthografisch und grammatikalisch richtig. Er ist eine Sprache, die in solch ausschließlichem Maße von ihren systematischen Normen abhängt, dass sie sich selbst vollständig dekontextualisiert: Sie verweigert sich gegenüber jeder konkreten Spezifizierung, unabhängig ob durch Sprecher, Kontext oder Referenz.
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Die Abweichung von der Norm ist nicht an sich ein Kennzeichen der populären Sprache, obwohl es häufig ein Zeichen für den Versuch ist, populär zu werden. Das Schaufenster, das durch den Spruch „Chocolate Kreations Easter Speshals“ geziert wird, zieht nicht die Aufmerksamkeit auf sich und dient so keinen kaufmännischen Zwecken. Sein populäres Potenzial scheint stark beschränkt zu sein, obwohl für manche Leser-Käufer der Spruch eine Vergnügen bereitende Differenz zwischen alltäglichem und feiertäglichem Einkaufen signalisieren kann. Abgesehen von einer solchen möglichen Lesart, würde der Schaufensterspruch weder besonders Vergnügen bereitend noch funktional erscheinen. In diesem Punkt unterscheidet er sich von einer anscheinend vergleichbaren Form der Abweichung, nämlich „Fer-Rückt Golf“ – geschrieben in auffallend kritzeligen Buchstaben. Hier ist es der Kontext, die Besonderheit des Gebrauchs, der das populäre Potenzial vergrößert. Die Entbindung von sprachlichen Normen, die diese Schreibweise manifestiert, entspricht einer Entbindung von den Regeln des konventionellen Golfs, die wiederum der Entbindung vom sozial Normalen entspricht, die in den Ferien realisiert werden kann („FerRückt Golf“ ist natürlich ein Ferienvergnügen). Der Kontext eröffnet also mehr Möglichkeiten für offensive Vergnügen als „Easter Speshals“, deren Unterschied zu jedem anderen Sonderangebot keine Möglichkeit für karnevaleske Sprachspiele erlaubt. Die orale Sprache ist kontextgebunden, und der Kontext ist nicht nur physisch, sondern auch temporal und sozial. Die Ferien-Bedeutungen von „Fer-Rückt Golf“ funktionieren nur, wenn man zur Ferienzeit körperlich an einem Ferienort anwesend ist und deshalb in einem angemessenen Umfeld sozialer Beziehungen steht. In solch einem Kontext wird das oralisierte Schreiben wahrscheinlicher in die Populärkultur übernommen (während es seine Basis im Kommerziellen bewahrt). Oralisiertes Schreiben ist sowohl der kommerzielle Versuch, sich dem Populären anzunähern, als auch die populäre Aneignung dieses Versuchs.
4 Exzess und das Offensichtliche Die Populärkultur neigt dazu exzessiv zu sein; ihre Pinselstriche sind grob, ihre Farben leuchtend. Diese Exzessivität lädt diejenigen, die sie ablehnen, dazu ein, sie als ‚vulgär‘ anzugreifen, als ‚melodramatisch‘, ‚durchsichtig‘, ‚oberflächlich‘, ‚sensationssüchtig‘ und so weiter. Intellektuelle Kritik ist häufig bei ihren Analysen sehr sorgfältig, irrt jedoch bei ihrer Bewertung. So kann man recht überzeugt dem zustimmen, dass populäre Texte exzessiv und offensichtlich sind, während man die negative Bewertung dieser Eigenschaften ablehnt oder sogar zu einer umgekehrten Einschätzung gelangt. Exzessivität und Offensichtlichkeit sind zentrale Merkmale des produzierbaren Textes. Sie stellen ein ergiebiges Rohmaterial zur Konstitution von Populärkultur zur Verfügung. Unter Exzessivität fallen Bedeutungen, die außer Kontrolle geraten sind, Bedeutungen, die die Normen der ideologischen Kontrolle oder die Grenzen
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eines bestimmten Textes überschreiten. Exzess ist überflutende Semiosis, das exzessive Zeichen geht zwar von der dominanten Ideologie aus und reproduziert sie dann aber überschreitet und überflutet es sie so, indem es exzessive Bedeutungen entstehen lässt, die sich der ideologischen Kontrolle entziehen und dazu verwendet werden können, ihr zu widerstehen oder auszuweichen. Beispielsweise übersteigt die exzessive Aufopferung der Heldin eines Liebesromans, ihr übertriebenes Leiden an der Hand des Helden, das ‚normale‘ Aufopfern und Leiden von Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft. Normen, die auf solche Weise übersteigert werden, verlieren ihre Unsichtbarkeit, verlieren ihren Status als gegebener Common Sense und werden öffentlich zur Diskussion gestellt. Exzess beinhaltet Elemente von Parodie, welche es ermöglicht, sich über das Konventionelle lustig zu machen, sich seiner ideologischen Hiebe zu entziehen, um deren Normen gegen sie selbst zu wenden. Abbildung:
Titelblatt Weekly World News v. 15. März 1988
Das Titelblatt von Weekly World News (15. März 1988) ist exzessiv, sensationell und offensichtlich (vgl. Abbildung 1). Nichts ist dabei hintergründig oder feinsinnig, aber ein typisches Muster ist vorzufinden, eine Anziehungskraft, ein Merkmal populärkultureller Vergnügen. Das Titelblatt spricht, wie viele andere, die die Stände entlang von Supermarktkassen beleben, die Unzufriedenen an. Der große amerikanische Traum ist eine bit-
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tere Illusion für die Millionen Menschen, die an seinem versprochenen Wohlstand nicht teilhaben können, die ihr eigenes Leben nicht frei gestalten können und die Befriedigung, erfolgreiche und machtvolle Individuen zu sein, nicht erfahren. Jede Überschrift der Seite ist ein herausragendes Beispiel für die Unfähigkeit des ‚Durchschnittsbürgers‘ (und entsprechend auch für die Ideologie, die diesen hervorbringt), sich die spezifischen Instanzen des Alltagslebens zu erklären und mit ihnen fertig zu werden. Die Welt, die dem Leser durch sie angeboten wird, ist eine Welt des Bizarren, des Ungewöhnlichen. Sie erforscht die Grenzen des Common Sense mit dem Ziel, seine Beschränkungen zu enthüllen. Und der Common Sense ist natürlich die dominante Ideologie in Aktion. Die Titelseite ist also keine eskapistische Fantasie, die einige ungewöhnliche Stimuli in das Grau des Alltagslebens bringt. Eine solche ablehnende ‚Erklärung‘ der Sensationslust führt schließlich zu dem Glauben, dass diejenigen, denen die Titelseite Vergnügen bereitet, im Grunde genommen anspruchslos sind und über eine solch abgestumpfte Sensibilität verfügen, dass nur die krasseste, übertriebenste Sensationssucht überhaupt zu ihnen durchdringt – eine Sichtweise, die möglicherweise viel für das Ego derjenigen tut, die sie haben, dabei aber die Popularität solcher Zeitschriften im gegenwärtigen Amerika nur unzureichend erklärt. Solche sensationellen Enthüllungen der Unangemessenheit von Normen bereiten an sich Vergnügen, ganz besonders denjenigen, deren materielle soziale Erfahrung ‚abnormal‘ ist, also denjenigen, die – wenn sie die dominierenden bürgerlichen Werte annehmen würden – ihr eigenes Leben als Versagen einstufen müssten. Entsprechend bereiten die Geschichten von einem Top-Model, das einen Leprakranken heiratet, oder von einer 77-jährigen Frau, die mit ihrem 90-jährigen ‚Freund‘ durchbrennt, deshalb Vergnügen, weil sie es denjenigen, deren sexuelle Beziehungen von der romantischen Ideologie des ‚normalen‘ Paares abweichen, ermöglichen, die Normen anstatt der eigenen Erfahrung in Frage zu stellen. Ebenso bedeutet das Vergnügen an den Misserfolgen oder Unzulänglichkeiten der Wissenschaft (der Laserstrahl, der den Patienten eines Gehirnchirurgen in Flammen setzt, oder die Unfähigkeit der Wissenschaftler, die Existenz einer fremdartigen Mumie zu erklären) ein Vergnügen daran, die dominanten, kontrollierenden Welterklärungen zusammenbrechen zu sehen. Dies alles sind Vergnügen, die besonders für diejenigen typisch sind, die sich von der Teilnahme an den kontrollierenden Diskursen jeder Art – ob wissenschaftlich oder nicht – ausgegrenzt fühlen. Das Sensationelle ist das exzessive Versagen des Normalen, in dem die Normen an die Grenzen ihrer Angemessenheit stoßen, wodurch sie in Frage gestellt werden. Ein ‚normaler‘, gutaussehender junger Arbeiter, der einen exzessiv abnormalen, mumifizierten Außerirdischen in der Hand hält, ist die Illustration einer bestimmten Alltagserfahrung, die von der gewöhnlichen Erfahrung nur in Graden und nicht grundlegend abweicht. Es handelt sich hier um einen Augenblick, in dem die Unangemessenheit der ideologischen Normen in einer abnormalen, extremen Form erfahren werden kann. Die Abnormalität ist lediglich eine graduelle. Die Normalität ist dabei der Misserfolg der dominanten sozialen Werte, der Alltagserfahrung von Millionen benachteiligter Menschen gerecht zu werden.
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Eine solche Sensationslust drückt natürlich nicht die eigentliche Erfahrung der Unzufriedenen und Benachteiligten aus, da die Art und Weise, in der unterschiedliche soziale Gruppen vom Erreichen dieser ideologischen Normen abgehalten werden, mannigfaltig ist und von zahlreichen sozialen Positionen abhängt, die als ‚benachteiligt‘ beschrieben werden können. Was all diesen Gruppen gemeinsam ist, ist die Erfahrung der Unterordnung und des Ausgeschlossen-Seins. Entsprechend sind die dargestellten Misserfolge so beschaffen, dass sie den Text für verschiedene Leser öffnen, um ihn auf unterschiedliche Weise Bedeutung im eigenen Leben zu verleihen. Wenn ‚das Andere‘ als negativ beschrieben wird, eröffnet dies die Möglichkeit, eine Fülle von positiven Vergnügen zu konstituieren. Die Popularität solcher sensationslüsterner Publikationen ist ein Zeichen des Ausmaßes von Unzufriedenheit innerhalb einer Gesellschaft, insbesondere unter solchen Menschen, die der eigenen Situation machtlos gegenüber stehen. Die Tatsache, dass es beispielsweise in den USA mehrere solcher „Leute“ gibt und deren Situation offenkundiger ist als beispielsweise in Australien oder Großbritannien, sagt möglicherweise etwas über die Exklusivität der amerikanischen Ideologie aus und über die Schärfe, mit der diejenigen behandelt werden, die sie ausschließt; dass der Kapitalismus in Australien und Großbritannien (trotz des Thatcherismus) mehr sozialistische Momente integriert, kann vielleicht erklären, warum es in diesen Ländern eine geringere Zahl solcher Publikationen gibt. Sensationell, offensichtlich, exzessiv, klischeehaft – die Eigenschaften populärer Texte sind nahezu nicht voneinander zu unterscheiden. Im Folgenden möchte ich darlegen, dass sich das Offensichtliche einer ‚tiefliegenden‘ Wahrheit gegenüber, die letztendlich einen kontrollierenden Diskurs darstellt, verweigert. Das Offensichtliche bietet keine verständnisvolle Erklärung an und bleibt selbst offen. Aber Offensichtlichkeit ist nicht nur eine Eigenschaft von demjenigen, mit dem man umgeht, es betrifft ebenso die Art und Weise des Umgangs selbst – das Offensichtliche und das Klischeehafte sind zwei Seiten derselben Medaille. In der Zeit des Letternsatzes verstand man unter Klischee ein Wort oder eine Phrase, die die Drucker als Ganzes gesetzt ließen – daher die Bedeutung des französischen Wortes cliché –, weil sie wussten, dass solche Wörter oder Phrasen sehr häufig benutzt werden. Es ist folglich nicht ausreichend, Klischees als Zeichen eines faulen Denkens oder eines Fehlens von sprachlicher Kreativität abzuqualifizieren. Eher sollte man fragen, warum diese Worte oder Phrasen so häufig von bestimmten „Leuten“ zu bestimmten Zeitpunkten verwendet werden. Was haben sie an sich, das sie so populär macht? Klischees verkörpern den Common Sense, die Alltags-Artikulationen der dominanten Ideologie. Dementsprechend ist die Metapher, die in Phrasen wie „Zeit ist Geld“, „Zeit spenden“ (oder verschwenden) und „Zeit investieren“ zum Ausdruck kommt, in solchem Maße ein Klischee, dass wir ihre Metaphorik vergessen haben. Dies ist der Fall, weil die betreffende Metapher die Vorstellung von Zeit perfekt in Übereinstimmung mit der protestantischen Ethik bringt – sie konstituiert eine kapitalistische Bedeutung von Zeit, indem sie diese als etwas fasst, das besessen, gespart und investiert werden kann. Zeit wird zu etwas, von dem manche Menschen mehr
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als andere besitzen können, etwas, das die Tüchtigen belohnt und die Faulen bestraft. Die Metapher ist vollkommen hegemonial, sie ist Common Sense bei der Arbeit, verstanden als ideologische Praxis. Ähnlich wie in obigem Beispiel spricht auch Ron Perlman, der Vincent aus der Fernsehserie Die Schöne und das Biest, in Klischees, wenn er sagt: „Ich denke, Frauen sind romantisch und wollen umworben werden. Sie möchten auf eine besondere Weise behandelt werden. Sie möchten, dass man ihnen Gedichte vorliest, anstatt einen Typen im Unterhemd neben sich sitzen zu haben, der Fußball schaut.“ (Star, 8. März 1988: 25)
Die Klischees von Frauen als feinfühlige, romantische und häusliche Wesen und von Männern als schleimige, selbstsüchtige Draufgänger, sind auf der einen Ebene als der Common Sense des patriarchalen Kapitalismus zu verstehen. Hinter ihnen steht der ‚Common Sense‘, dass sich der Mann zu Hause nur deshalb so verhält, weil seine zielorientierte Einstellung und sein dementsprechendes Verhalten rein auf die Arbeit bezogen sind und er sich das Recht verdient hat, sich zu Hause zu entspannen. Ebenso steht dahinter die Vorstellung, dass die romantische Natur von Frauen darauf verweist, dass sie ihr wahres Glück nur in der Liebe eines Mannes finden können, und nicht in der Karriere oder in anderen Befriedigungen.5 Liebesromane und Romantik können als Training der Frauen für die Ehe begriffen werden (vgl. Fiske 1989b: 115-132). Hier fällt natürlich eine schwere und relativ offensichtliche Ironie auf und die besteht darin, dass der Preis, den Frauen bezahlen müssen, um ihre tatsächlichen Ehen zu führen, das Auslöschen derjenigen romantischen Gefühle ist, die die patriarchale Ideologie der Ehe an erster Stelle als unentbehrliche Elemente des Femininen hervorgebracht hat. Klischees stützen ideologische Normen, und deswegen sind sie so machtvolle Konstrukteure des Common Sense und halten ihn am Zirkulieren. Aber dies erklärt nicht allein alle kulturellen Formen ihres Gebrauchs: Sie können ebenso dazu dienen, die Kluft zwischen dieser Ideologie und der Alltagserfahrung bloß zu legen. Die Widersprüche zwischen der poetischen Frau und dem Sport besessenen Mann dienen nicht nur dazu, ein Klischee des Preises zu konstituieren, den Frauen zahlen müssen, sondern auch dazu, diesen Preis sichtbar und erklärlich zu machen. So schreibt ein weiblicher Fan an Perlman: „Bitte haltet Die Schöne und das Biest auf Sendung. Ich brauchte die Illusion, mir vorzumachen, dass Vincent wirklich lebt. Ich wünschte, er wäre am Leben, aber dann würde ich vielleicht meinen Mann und meine Kinder verlassen und wegrennen und mit ihm leben. Und was würde dann meine Mutter denken?“ (Star, 8. März 1988: 25)
Hier ist eine Reihe komplexer, aber typischer Aushandlungsprozesse am Werk. Zunächst gibt es ein Erkennen der Kluft zwischen der unerreichbaren Norm und der Alltagsrealität, die bei dem Erkennen der Differenz zwischen der medialen Repräsentation und der Wirklichkeit reproduziert wird. Dieses Erkennen gibt der Zuschauerin das Recht (und die Fähigkeit), diese Differenz zu leugnen und die Repräsentation so zu behandeln, als ob sie Realität wäre, um das Vergnügen an dem Text zu steigern. Diese Fähigkeit, sich in den Text hinein und wieder aus ihm heraus zu bewegen, gleichzeitig seine Textualität zu bejahen und zu leugnen, bereitet Ver-
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gnügen, da die Zuschauerin die Bewegung kontrolliert. Sie wird durch den Text nicht getäuscht, ist aber verantwortlich für ihren eigenen Leseprozess. Diesen populären Text zu lesen, ist kein einfacher Eskapismus, innerhalb dessen man den Alltag für einen Moment hinter sich lässt. Der weibliche Fan weiß ganz genau, dass sie – selbst wenn Vincent ‚wirklich‘ leben würde –, nicht mit ihm weglaufen würde. Ihre scherzhafte Referenz auf die Mutter ist einerseits eine verzerrte Anerkennung der internalisierten Disziplin, durch die Menschen sich selbst zügeln, andererseits der Tatsache, dass diese Disziplin das Vergnügen einschränkt und zerstört. Die Klischees werden als Klischees erfahren – das heißt als ein ideologischer, durch andere produzierter Common Sense –, aber sie wurden internalisiert, so dass sie gleichzeitig unsere und die der anderen sind. Die Diskrepanz zwischen dem internalisierten Anderen des Klischees und dem Einzigartigen unseres eigenen Alltagslebens ist zweifelnd, demystifizierend.6 Klischees verneinen die Einzigartigkeit eines Textes, und deshalb werden sie in hohem Maße durch kritische Werte, die Priorität auf die Einzigartigkeit von Texten und die Kreativität des Autoren setzen, verschmäht. Sie lassen es zu, dass eine bedeutungsvolle Zugehörigkeit zwischen den Besonderheiten des Alltagslebens und den ideologischen Normen, die sie verkörpern, konstituiert wird. Das Schreiben in Klischees ist ein normenorientiertes Schreiben, Schreiben als nackte ideologische Praxis. Das Klischee wird gelesen, so wie sich seine Normen mit den Praktiken und Erfahrungen des Alltagslebens kreuzen. Weit davon entfernt ein hegemoniales Werkzeug mit einer Wirksamkeit zu sein, die der einer Gehirnwäsche gleich kommt, enthüllt das Klischee häufig die ‚Andersartigkeit‘ der dominanten Ideologie und weckt ein Gefühl der Befremdung gegenüber dem Ausmaß von Kompromissen, die gemacht werden müssen, um sich dem Alltagsleben anzupassen.
5 Textuelle Defizite und Intertextualität Hinter der Kritik des defizitären Charakters populärer Texte liegt die unhinterfragte Annahme, dass ein Text mit großer Kunstfertigkeit geschrieben und vollkommen sein sollte, ein sich selbst genügendes Objekt, gegenüber dem man Respekt aufbringen muss und das es verdient, erhalten zu werden. Universitäten, Museen und Kunstgalerien sind allesamt Kuratoren solcher Texte. Aber in der Populärkultur sind Texte als Objekte nur Gebrauchsgegenstände und als solche (um die Produktionskosten niedrig zu halten) häufig kaum kunstfertig gestaltet, unvollständig und defizitär, bis sie in das Alltagsleben der Menschen einverleibt werden. Sie sind Ressourcen, die respektlos benutzt werden, keine Objekte, die man bewundert und verehrt. In der gegenwärtigen Kulturtheorie wird in weiten Bereichen argumentiert, dass alle Texte unvollständig sind und nur in ihrem jeweiligen intertextuellen Bezugsrahmen und im Hinblick auf ihre Rezeptionsform betrachtet werden können. Jedoch gewähren die sozialen und akademischen Praktiken der Textanalyse, Konservierung und Ausstellung nach wie vor dem ‚ästhetischen‘ Text ein Maß an Vollendung,
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Selbstgenügsamkeit und Respekt, was für populäre Texte unangemessen ist. Populäre Texte sind dazu da, gebraucht, konsumiert und weggeworfen zu werden, denn sie funktionieren nur als Mittel bei der sozialen Zirkulation von Bedeutung und Vergnügen. Als Objekte sind sie verkümmert. Eine Jeans, die in einem Museum für Mode hängt, ist nicht vollkommen sinnlos – abhängig von ihrer Beziehung zu anderen Kleidungsstücken in der Ausstellung kann sie eine Reihe von allgemeingültigen Vorstellungen über das Amerika des 20. Jahrhunderts vermitteln –, jedoch bleibt sie ein verkümmerter Text. Ihre Bedeutungen können nur intertextuell realisiert werden, indem die Art und Weise, wie sie kommerziell verbreitet und gebraucht wird, wie ihre Nutzer über sie sprechen/denken und welche Bedeutungen die Presse und andere soziale Kommentatoren ihr zuschreiben, mit einbezogen werden. Mit anderen Worten ist die Erforschung der Populärkultur die Erforschung der Zirkulation von Bedeutungen – einen Text als privilegiertes Objekt zu behandeln heißt, diese Zirkulation an einem bestimmten (möglicherweise vorteilhaften) Punkt einzugefrieren, überbetont aber die Rolle des Textes bei dieser Zirkulation. Der populäre Text ist ein Mittler und eine Ressource, kein Objekt. So ist Madonna (vgl. Fiske 1989b: 95-132) unter einigen Feministinnen ein Symbol für die Wiedereinschreibung patriarchaler Werte, unter einigen Männern ein Objekt des voyeuristischen Vergnügens und unter vielen jungen weiblichen Fans ein Repräsentant von Vitalität und Kraft. Madonna bleibt als Text – oder sogar als eine Serie von Texten – solange unvollständig, bis sie im Kontext der sozialen Zirkulation von Bedeutung betrachtet wird. Ihre Gender-Politik liegt nicht in ihrer Textualität, sondern in ihrer Funktionalität. Sie stellt einen exemplarischen populären Text dar, weil sie so voll von Widersprüchen ist – sie verkörpert gleichzeitig die patriarchale Vorstellung weiblicher Sexualität und eine dem widerstrebende Vorstellung, dass ihre Sexualität ihr selbst gehört und sie diese benutzt, wie es ihr gefällt, ohne dazu männliche Billigung zu benötigen. Ihre Textualität eröffnet sowohl patriarchale Vorstellungen als auch Möglichkeiten, diesen in einer begierigen, schwankenden Spannung zu widerstehen. Sie ist exzessiv und offensichtlich. Madonna überschreitet alle Normen des weiblichen Körpers und enthüllt deren Offensichtlichkeit zusammen mit ihrer Taille. Die Sexualisierung ihres Bauchnabels ist eine Parodie der patriarchalen Erotisierung weiblicher Körperteile – Madonna ist ein patriarchaler Text, durchsetzt mit Skeptizismus. Weit davon entfernt, ein sich selbst genügsamer Text zu sein, ist Madonna ein Provokateur von Bedeutungen, deren kulturelle Folgen nur in ihren mannigfaltigen und oftmals widersprüchlichen Zirkulationen studiert werden können. Die Populärkultur zirkuliert intertextuell, zwischen dem, was ich primäre Texte genannt habe (die ursprünglichen Kulturwaren – Madonna selbst oder ein Paar Jeans), den sekundären Texten, die direkt auf diese Bezug nehmen (Werbung, Zeitungsartikel, Kritiken), und den tertiären Texten, die im stetigen Fluss des Alltagslebens verhaftet sind (Unterhaltungen, die Art und Weise, wie man eine Jeans trägt oder sein Apartment bewohnt, das Bummeln durch die Stadt oder das Aufgreifen von Madonnas Bewegungen im Tanz einer Oberstufenklasse) (vgl. Fiske 1987a, 1987b). All diese Texte
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von Madonna – primäre, sekundäre und tertiäre – sind für sich genommen unzureichend und unvollständig. Madonna ist einzig in der intertextuellen Zirkulation ihrer Bedeutungen und Vergnügen zu fassen. Sie ist weder ein Text noch eine Person, sondern ein Set von sich im Fluss befindenden Bedeutungen. Obwohl sie nur anhand ihrer Texte und deren Beziehungen untereinander untersucht werden kann – da dies die Momente sind, in denen der Fluss von Bedeutungen am sichtbarsten wird –, sind die Texte für sich genommen nicht die signifikanten Objekte, sondern Mittler, Instanzen und Ressourcen der Populärkultur. Als der Film The Shining zum ersten Mal in Großbritannien gezeigt wurde, zirkulierten durch die Presse in verschiedenen sozialen Klassen unterschiedliche Verständnisse von ihm. Zeitungen, die auf eine gehobene Leserschaft abzielten, priesen ihn als einen Stanley-Kubrick-Film an. Sie strichen als Hauptcharakteristika solche heraus, die seine Handschrift trugen (zum Beispiel lange, schaurige Kamerafahrten durch Gänge), und sie gliederten die intertextuellen Beziehungen des Films um seinen Autor-Urheber. Die Regenbogenpresse auf der anderen Seite bezeichnet ihn als einen Genre-Film. Sie setzte ihn nicht mit diversen Kubrick-Filmen in Beziehung, sondern mit anderen Horrorfilmen, erklärte seine erschreckendsten Szenen zu den entscheidenden und bewertete den Film mit Hilfe von auf das Genre – und nicht den Autor – bezogenen Vergleichen. In Spare Rib, einer Zeitschrift mit feministischer Leserschaft, wurde der Film als eine weitere Repräsentation des Opferungsmythos von Frauen gesehen, und dem zu Folge intertextuell mit dem patriarchalen Kino im allgemeinen (und der patriarchalen Kultur) in Beziehung gesetzt – die am weitesten gehende und am offensichtlichsten politische Bedeutung von Intertextualität überhaupt. Intertextualität ist vermutlich nicht einzigartig für die Populärkultur. Sie ist auch für die ‚hochkulturellen‘ Lesarten von The Shining zentral, jedoch funktioniert sie hier anders. Hochkulturelle intertextuelle Beziehungen, die um den Autoren-Künstler strukturiert sind, schränken in stärkerem Maße ein als diejenigen, die um Genres oder Gender-Politik strukturiert sind. Ebenso gut harmonisieren sie mit dem Status des Textes als einem künstlerischen Objekt. In der Tat ist die Verehrung des Autoren-Künstlers ein notwendiges Korrelativ zu der Verehrung des Textes. In der Populärkultur ist das Objekt der Verehrung aber weniger der Text oder der Künstler, sondern eher der Darsteller – und dieser Darsteller, wie beispielsweise Madonna, existiert nur intertextuell. Nicht ein Konzert, Album, Video, Poster oder Cover kann als angemessener ‚Text von Madonna‘ verstanden werden. Intertextuelle Kompetenz ist unabdingbar für die populäre Produktivität, aus Texten Bedeutungen zu konstituieren. Der defizitäre Charakter des einzelnen populärkulturellen Textes hängt nicht nur mit seinen intertextuellen Lektürepraktiken zusammen, sondern auch mit seiner Kurzlebigkeit und seinem repetitiven Charakter. Denn es sind nicht nur die Bedürfnisse der Industrie, die eine ununterbrochene Reproduktion der Kulturwaren erfordern, sondern auch die Kräfte der Populärkultur. Das Defizit des einzelnen Textes und die Betonung der ununterbrochenen Zirkulation von Bedeutungen heißt, dass die Populärkultur sich durch Repetition und Serialität auszeichnet, die es ihr u.a. ermöglicht, sich auf einfache Weise in die Routinen des Alltagslebens einzupassen.
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Zeitschriften erscheinen wöchentlich oder monatlich, Schallplatten spielen ununterbrochen, das Fernsehen ist strukturiert in Serien und Reihen, Kleidung wird getragen und dann abgelegt, Videospiele werden immer wieder gespielt und Sportmannschaften wird Spiel für Spiel zugesehen. Die Populärkultur basiert auf Repetitionen, denn kein Text ist sich selbst genug, kein Text ist ein vollständiges Objekt. Die Kultur besteht einzig aus Bedeutungen und Vergnügen, die in konstantem Fluss sind. Auf Grund ihrer eigenen Unabgeschlossenheit haben alle populären Texte offene Grenzen. Sie fließen ineinander über, fließen ins Alltagsleben. Unterscheidungen zwischen Texten sind ebenso untauglich wie die Unterscheidung zwischen Text und Leben. Die Populärkultur kann nur intertextuell erforscht werden, denn sie existiert nur in der beschriebenen intertextuellen Zirkulation. Die Beziehungen zwischen primären und sekundären Texten überschreiten alle Grenzen zwischen ihnen; ebenso überschreiten jene Beziehungen zwischen tertiären und anderen Texten die Grenzen zwischen Text und Leben. Wie Bourdieu (1987) argumentiert, ist eines der wichtigsten Unterscheidungsmerkmale von Populär- und Hochkultur die nachhaltige Verweigerung der Populärkultur gegenüber jeder Distanz zwischen Ästhetik und dem Alltag (vgl. Fiske 1989a: 129-158). Nur der vollständige, verehrte Text, der von Angehörigen der bürgerlichen Schicht heiß geliebt wird, ist es, der von dieser ästhetischen Distanz profitiert. Texte der Populärkultur sind also voller Lücken, Widersprüche und Unzulänglichkeiten. Durch diese von der ästhetischen Kritik als ‚Schwächen‘ bezeichneten Merkmale ermöglicht der populäre Text produzierende Lesarten. Sie erlauben es, in unterschiedlichen Kontexten und unterschiedlichen Momenten des Lesens unterschiedlich zu ‚sprechen‘, jedoch kämpft diese Freiheit immer gegen textuelle (und soziale) Kräfte, die versuchen, sie zu begrenzen. Der populäre Text ist ein Text der Auseinandersetzung zwischen Kräften der Öffnung und der Schließung, zwischen dem Lesbaren und Produzierbaren, zwischen der Homogenität der favorisierten Bedeutung und der Heterogenität seiner Lesarten. Er reproduziert und belebt die Auseinandersetzungen zwischen der disziplinierenden Macht der sozialen Ordnung und den vielschichtigen Widerständen gegen diese Macht, die vielschichtigen Kräfte von unten, die die eher singuläre Macht von oben mannigfach anfechten. Populäre Texte müssen populäre Bedeutungen und Vergnügen anbieten. Populäre Bedeutungen werden konstituiert aus den Bezügen zwischen dem Text und dem Alltagsleben, und populäre Vergnügen leiten sich aus der Konstitution dieser Bedeutungen durch die Menschen her, aus der Macht sie zu produzieren. Es liegt wenig Vergnügen darin, feststehende Bedeutungen zu akzeptieren, egal wie sachgemäß sie sind. Das Vergnügen leitet sich sowohl aus der Macht und dem Prozess her, ihren Ressourcen bestimmte Bedeutungen zuzuschreiben, als auch aus der Ansicht, dass diese konstituierten Bedeutungen die unseren sind und im Gegensatz zu ihren stehen. Populäre Vergnügen sind diejenigen der Unterdrückten, sie beinhalten Elemente des Oppositionellen, Ausweichenden, Skandalhaften, Offensiven, Vulgären und Widerständigen. Die Vergnügen, die die ideologische Konformität zu bieten hat, sind gedämpft und hegemonial. Sie sind keine populären Vergnügen und stehen in Opposition zu diesen.
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Anmerkungen *
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Übersetzung von Andreas Hepp, Silke Wölk und Henning Dekant. Eine Fassung des Beitrags erschien in: Fiske, John (1989b): Understandig Popular Culture. Boston, London, Sydney, Wellington: Unwin Hyman (jetzt Routledge), 103-127 (Kap. 5 „Popular Texts“). Der Ausdruck „the people“ kann kaum angemessen ins Deutsche übertragen werden, da sich dahinter ein ausdifferenziertes Konzept der Cultural Studies verbirgt, mit dem John Fiske in Anlehnung an Stuart Hall versucht, die alltägliche Bedeutungsproduktion der Konsumenten analytisch zu fassen. Vgl. dazu die ausführliche Darstellung von Eggo Müller (Müller, Eggo (1993): „Pleasure and Resistance“. John Fiskes Beitrag zur Populärkultur. Montage/av, 2.1, 52-66). A.d.Ü. Wenig verwunderlich dabei ist, dass diese dem Bildungsbürgertum angehören und ein entsprechendes Interesse daran haben, ihre Kontrolle über die Erziehung und den ‚richtigen‘ Gebrauch von Sprache – den sie unterrichten – zu bewahren. Im Original lautet das Beispiel von John Fiske: „DOLE BUYS INTO NEW CONTRAVER$Y. An emotional Senate GOP leader Robert Dole yesterday wrote a $500 personal check to the Nigaraguan Contras in the wake of the House‘s ‚grievious mistake‘ in voting down a $36 million aid package.“ Die deutsche Übersetzung kann die Mehrdeutigkeit der Formulierungen nur unzureichend wiedergeben. So bedeutet „buy into“ im buchstäblichen Sinne ‚investieren in‘, daneben aber auch ‚eine zweifelhafte Behauptung glauben‘, was Dole in diesem Fall gemacht zu haben scheint. A.d.Ü. Es mag ebenso ein weniger auffälliges, aber entdeckbares Vergnügen in der Ironie eines republikanischen Senators bestehen, dessen Name als Wort – Dole bedeutet auf Deutsch ‚milde Spende‘ – für gewöhnlich im Alltag mit Armut und sozialer Wohlfahrt assoziiert wird. Das Entdecken und Entschlüsseln von Ironie bietet einem Wortspiel vergleichbares Vergnügen. Das muss nicht unbedingt eine Tatsache sein, ausschlaggebend ist aber, dass sich das ‚Wort‘ selbst als einzigartig präsentiert, als spezifisch für den augenblicklichen Kontext erfunden. Welche Schule lehrt schon ihre Schüler, wie man ein Wortspiel macht? Allein die Vorstellung ist beinahe undenkbar. Die Tatsache, dass die meisten Männer daran scheitern, im Einklang mit den Bedürfnissen von Frauen zu leben, kann solche Bedürfnisse jedoch nicht widerlegen und damit die Frage nach der Ideologie, die sie produziert, aus der Welt schaffen. Die Schreibende ist sich der Allgemeinheit der mangelnden Befriedigung durch Ehemann und Kinder bewusst – sie sieht keine Notwendigkeit, diese zu rechtfertigen oder darzulegen, sondern kann darauf bauen, dass andere Frauen das Gefühl im Allgemeinen nachvollziehen können, wenn auch ihre Erfahrung desselben – die Form, die es bei ihrem Ehemann und ihren Kindern annimmt –, allein die ihre ist oder gefühlsmäßig zumindest so erscheint.
Literatur Bakhtin, M.M. (1987): Rabelais und seine Welt. Volkskultur und Gegenkultur. Frankfurt a.M. Barthes, R. (1974): Die Lust am Text. Frankfurt a.M. Barthes, R. (1987): S/Z. Frankfurt a.M.
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Bourdieu, P. (1987): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M. de Certeau, M. (1988): Kunst des Handelns. Berlin. Fiske, J. (1987a): British Cultural Studies and Television. In: Allen, R. C. (Hrsg.) (1987): Channels of Discourse, Reassembled. Television and Contemporary Criticism. London/New York, 284-326. Fiske, J. (1987b): Television Culture. London/New York. Fiske, J. (1989a): Reading the Popular. Boston u.a. Fiske, J. (1989b): Understandig Popular Culture. Boston u.a. Greenfield, P. (1987): Kinder und neue Medien. München/Weinheim.
Radikaler Kontextualismus und Ethnografie in der Rezeptionsforschung Ien Ang
1 Auf dem Weg zu einer holistischen Rezeptionstheorie?* In unserem Wunsch, Näheres über die Zuschauer zu erfahren, sind wir niemals ganz unvoreingenommen. Bestimmte Interessen und Einstellungen, materieller wie intellektueller Art, prägen gewöhnlich die Herangehensweise an die Definition unseres Studienobjektes. Ebenso bestimmen sie die Art der angestrebten Erkenntnisse, sowohl in Form und Inhalt, als auch in Umfang und Wesen. Momentan ist in der Medienrezeptionsforschung deutlich der Ansatz einer Krise auszumachen: der zweideutige Titel einer größeren Konferenz, die dem Thema „Auf dem Weg zu einer holistischen Rezeptionstheorie?“ gewidmet war, weist auf das Vorhandensein eines Bewusstseins hin, dass es gerade an einer solchen ‚umfassenden Theorie‘ mangelt.1 Die Krise ist jedoch weder rein theoretischer, noch rein methodologischer Natur (wie die Gegenüberstellung quantitativer und qualitativer Methoden irreführenderweise nahelegt); sie ist vielmehr stark erkenntnistheoretisch und zutiefst politisch begründet. Die gegenwärtige Popularität von Ansätzen der Cultural Studies in der Rezeptionsforschung hat nicht nur beträchtliche erkenntnistheoretische Verwirrung gestiftet, was den Status des Konzepts vom ‚Publikum‘ als Analyseobjekt betrifft. Sie hat auch dazu geführt, dass die beharrliche kritische Auseinandersetzung mit der politischen Bedeutung der akademischen Gelehrtheit wiederbelebt wurde: Was bedeutet es, ‚Rezeptionsforschung‘ zu betreiben und vor allem, warum wird sie überhaupt betrieben? In den letzten zehn Jahren wurde die Rezipienten-Frage insbesondere in der Fernsehforschung verstärkt diskutiert. Dies beruht nicht allein auf der Tatsache, dass seit den 1950er Jahren den Fernseh-Zuschauern das zweifelhafte Privileg zuteil wurde, im Zentrum des industriellen und wirtschaftlichen Forschungsinteresses zu stehen. Es ist vielmehr prototypisch dafür, dass das ‚Rezipienten-Problem‘ im Lichte praktischer und theoretischer Überlegungen über den Nexus der Modernität, d.h. die Medienindustrie und die Massenkultur, an Bedeutung gewonnen hat. Entscheidend ist allerdings die Tatsache, wie schon eingangs angedeutet, dass die veränderte Rolle, die das Fernsehen mit dem späten 20. Jahrhundert eingenommen hat, unser konventionelles Verständnis des Fernsehpublikums gehörig unter
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Druck gesetzt hat. An dieser Stelle scheint es mir wichtig, den Wandel zu betonen: Wir leben in einer Zeit von dramatischer Umgestaltung der wirtschaftlichen, institutionellen, technologischen und textuellen Ordnung des Fernsehens. Der Niedergang des nationalen Systems der öffentlichen Rund- und Fernsehanstalten in Westeuropa sowie der weltweit wachsende Einfluss der vielfältigen internationalen und kommerziellen Satellitenkanäle, die starke Ausbreitung lokaler und regionaler Programme und nicht zuletzt auch die im Überfluss vorhandene Verfügbarkeit von Videorekordern und anderen Fernsehtechnologien, haben offensichtlich traditionelle Modelle der Fernsehrezeption und des Fernsehkonsums gehörig durcheinander gebracht. Verschlimmert wird dieser Tatbestand noch durch die wachsende und immer zentraler werdende Bedeutung, die das Fernsehen bei der Darstellung weltweiter politischer Geschehnisse einnimmt (wie wir am Beispiel des Golfkrieges sehen konnten; vgl. Wark 1994). Dazu kommt unser steigendes Bewusstsein der Spezifität des Fernsehens als populärer kultureller Form – mit seinen eklektischen, aber repetitiven Berichten, seinen sozial heterogenen, aber textuell auferlegten Adressierungsformen und nicht zu vergessen mit seiner sturen Allgegenwärtigkeit; ein Kulturgut, das die Gültigkeit des traditionellen, literarischen Rezipienten-Konzepts, in dem die einzelne Text-Leser-Beziehung die elementare Analyseeinheit darstellt, anzweifelt (Fernsehen ist heutzutage wohl eher mit dem Schmökern in einem Buch als mit dem eigentlichen Lesen des Buches zu vergleichen). Es erscheint mir, als sollten wir die Krise der Rezeptionsforschung im Kontext dieses postmodernen Wandels begreifen. Es wird oft behauptet, und dies nicht ohne eine gewisse moderne Nostalgie, dass sich das Fernsehpublikum immer mehr fragmentiert, individualisiert und vereinzelt, so dass es nicht länger als Masse oder als ein einheitlicher Markt ansprechbar und nicht länger als soziale Einheit zu verstehen ist, die kollektiv am gemeinsamen, wohl definierten Akt des Fernsehens beteiligt ist. Die Ausbreitung des Fernsehens hat uns schmerzlich verdeutlicht, dass es in der Tat wenig Sinn macht, vom Fernseh-Publikum als einem sauber abgegrenzten Forschungsobjekt zu sprechen. Meiner Ansicht nach sollten wir diese historische Erkenntnis als eine Möglichkeit betrachten, um endlich das produktive Ende der Suche nach einer „holistischen Theorie der Rezeptionsforschung“ einzuläuten, die nur allzu oft das implizite Motiv unterschiedlicher Paradigmen in der Rezeptionsforschung innerhalb der Kommunikationswissenschaft war. Wenn wir dem Umstand Rechnung tragen, dass unser Theoretisieren und unsere Forschung unweigerlich nur partieller** Natur sind, so wäre dies eine vertretbare Position, die es ermöglichen könnte, die dynamische Komplexität und komplexe Dynamik der Praxis des Medienkonsums in den Griff zu bekommen. Durch die Anerkennung einer gewissen unerbittlichen, erkenntnistheoretischen Voreingenommenheit bei der Wissenskonstruktion wird zusätzlich die politische Bedeutung von ‚partial‘ als parteiisch in den Vordergrund gerückt; nämlich die soziale und politische Relevanz von Verpflichtung und Engagement in der Entwicklung unseres Verständnisses. Ich werde auf diese beiden genannten Aspekte der Rezeptionsforschung später noch genauer eingehen.
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Neuere Ansätze der Cultural Studies, die sich der Rezipienten-Frage nähern, stoßen unmittelbar an die Grenzen des epistemologischen Ideals von Vollständigkeit. Gemeint ist mit solchen Ansätzen eine empirische und interpretative Herangehensweise, die von der Erkennis ausgeht, dass der Medienkonsum eine fortwährende Reihe kultureller Praktiken sei, die ihre Bedeutsamkeit und Wirksamkeit erst auf „komplexem und widersprüchlichem Terrain und im multidimensionalen Kontext, in dem Personen ihr alltägliches Leben verbringen, entfalten kann“ (Grossberg 1988: 25). Aber wie kann man nun diese Erkennis, dieses abstrakte Gebilde, in konkreteres Wissen und ein greifbareres Verständnis umsetzen? Die Meisten von uns würden darin übereinstimmen, dass es dafür einer radikaleren Kontextualisierung der Medien als bisher bedarf: Wir sollten solche Konzepte wie die des Fernsehens, des Radios, der Presse etc. nicht länger als eine isolierte Reihe unabhängiger Variablen, die mit anderen abhängigen Variablen des Rezipienten in mehr oder weniger eindeutigen Wechselwirkungen stehen, betrachten. Die Konsequenzen, die diese Notwendigkeit einer Kontextualisierung für das Fernsehen hat, sind in dem Forschungsprojekt von David Morley und Roger Silverstone entschieden problematisiert worden, das während ihrer Zugehörigkeit zum Centre for Research into Innovation, Culture and Technology (CRICT) der Brunel University, London realisiert wurde. Es entspricht hier nicht meiner Absicht, dieses Projekt ausführlich zu diskutieren. Ich möchte es lediglich als Ausgangspunkt nehmen für eine nähere Untersuchung sowohl der erkenntnistheoretischen und politischen Verheißungen und Dilemmata dieses sogenannten „radikalen Kontextualismus“ in der kulturtheoretischen Rezeptionsforschung, als auch der Bedeutsamkeit der Ethnografie in dieser Hinsicht. In ihrer umfassenden, nahezu holistischen Vision stellen Morley und Silverstone die Behauptung auf, dass das Fernsehen als eingebettet in eine technische und konsumentenorientierte Kultur zu betrachten ist, die sowohl häuslich als auch national (und international), sowohl privat als auch öffentlich ist. Als Ausgangspunkt dieser Betrachtung konzentrieren sich Morley und Silverstone zunächst auf zwei kontextuelle Aspekte: Auf der einen Seite auf die Bedeutung des Fernsehens im häuslichen Kontext und auf der anderen Seite auf den Status des Fernsehens als Technologie. Treibt man diese Aspekte jedoch zu ihrem logischen Extrem, so führt dies unweigerlich zur fundamentalen Untergrabung jeder Möglichkeit, das Fernsehpublikum als stabile und bedeutungsvolle psychologische oder soziologische Kategorie anzusehen. Vor allem erfordert die allgemeine Tatsache, dass der Fernsehkonsum meist zu Hause stattfindet (und nicht im Labor oder im Klassenzimmer), die keinesfalls neue, aber immer noch vernünftige Feststellung, dass „die Nutzung des Fernsehens nicht getrennt gesehen werden kann von allen anderen Geschehnissen, die drumherum ablaufen“ (Morley/Silverstone 1990: 35), d.h. dass die Tätigkeit, die so oft vereinfacht als „Fernsehen“ beschrieben wird, erst innerhalb des breiter gesteckten kontextuellen Horizonts eines heterogenen und variablen Bereiches häuslicher Handlungsweisen Gestalt annimmt. Als Folge davon erliegt der Begriff des „Fernsehens“ an sich allmählich einer Zersplitterung: Die Art der Tätigkeit mitsamt ihrer Folgen
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und ihrer Bedeutung kann nicht mehr im Voraus bestimmt werden, sondern ist vielmehr abhängig vom Einfluss einer Vielzahl von interagierenden Zusammenhängen. ‚Fernsehen‘ ist nicht mehr als ein Kürzel für eine umfassende Mannigfaltigkeit multidimensionaler Verhaltensweisen und Erfahrungen, die in Verbindung zum Fernsehkonsum stehen. Damit wird es schwierig werden, gegeneinander abzugrenzen, wann wir Mitglied des Fernsehpublikums sind und wann nicht. In gewissem Sinne gehören wir als Bürger einer fernsehgesättigten modernen Gesellschaft jederzeit unweigerlich dieser Kategorie an, auch wenn wir selbst persönlich vielleicht gar nicht mal so oft Fernsehen. Auch wenn wir vielleicht niemals Dallas oder Murphy Brown gesehen haben oder auch Saddam Husseins Fernsehauftritt verpasst haben, so können wir doch kaum vermeiden, dass wir an derartigen Fernsehereignissen alleine schon aufgrund ihrer allgemeinen Verbreitung in den verwobenen Netzwerken des alltäglichen sozialen Diskurses teilhaben. Wird Fernsehen als Technologie verstanden – anstatt lediglich als Ansammlung verschiedener Botschaften oder Texte – verstärkt dies nur die Zersplitterung innerhalb des Fernsehpublikums als kohärenter Kategorie. Die Betonung auf Fernsehen als Technologie vergrößert den Umfang dessen, was allgemein als Voraussetzung für eine ‚aktive‘ Rezeption bekannt ist. Als Kommunikationstechnologie ist Fernsehen nach Morley und Silverstone doppelt artikuliert: da es sowohl gegenständlich existiert (z.B. in Form des Fernsehapparats in Verbindung mit technischen Geräten wie dem Videorekorder, der Videokamera, dem Computer, der Fernbedienung, der Satellitenschüssel, dem Telefon usw.), wie auch als Mittler für symbolisches Material fungiert, schafft das Fernsehen einen weiten Raum für Möglichkeiten, es in den Haushaltsalltag zu integrieren. Dies führt zu einer recht schwindelerregenden Vergrößerung der Kapazität der Rezipienten, Bedeutungen zur produzieren. Silverstone formuliert es folgendermaßen: „Fernsehen ist potenziell bedeutungsvoll und daher offen für die konstruktive Arbeit des konsumierenden Zuschauers, sowohl dahingehend, wie es im Haushalt benutzt oder platziert wird, d.h. in welchen Räumen und wo dort, zusammen mit welchen Möbeln oder Geräten, um so als Unterhaltungsgegenstand mit unterschiedlichen Gesprächsthemen inner- und außerhalb des Hauses zu dienen, als auch in der Hinsicht, wie die durch den Programminhalt vermittelten Botschaften im Gegenzug von den rezipierenden Individuen und Haushaltsgruppen verarbeitet werden.“ (Silverstone 1990: 179)
Die Reichweite der Rezeptionstheorie (welche die Unbestimmtheit von Textbedeutung außerhalb der konkreten Interpretation durch den Zuschauer postuliert) wird hier vergrößert, indem die Metapher der Textualität ebenso auf den technischen Bereich angewendet wird: auch Technik, Hardware und gegenständliche Objekte können nur durch ‚Interpretationen‘ und Nutzung seitens der Konsumenten Bedeutung gewinnen. Fernsehkonsum ist, in Kürze, eine Bedeutung produzierende kulturelle Praktik auf zwei voneinander abhängigen Ebenen. Untersucht man Fernsehen als häusliche Technik, so impliziert dies für Morley und Silverstone die Betrachtung des Fernsehrezipienten als „in vielerlei Hinsicht eingebettet in eine Konsumenten-
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kultur, in der Technik und Botschaften nebeneinandergestellt sind, beide einbezogen in die Schaffung von Bedeutung und in die kreativen Möglichkeiten des Alltagslebens“ (1990: 51). Eben dieser Gedanke der grundsätzlichen Einbettung des Fernsehkonsums (und des Medienkonsums im Allgemeinen) in das Alltagsleben, und damit seiner nicht zu vermindernden Heterogenität und dynamischen Komplexität, ist ein Hauptaspekt in der kulturtheoretisch orientierten Rezeptionsforschung, auch wenn die epistemologischen Auswirkungen dieser Schwerpunktsetzung, die auf eine Art von radikalem Kontextualismus hinauslaufen, in ihrer Bedeutung nicht immer ganz erfasst werden. Natürlich stimmt es, dass das Erkennen der Vielfalt von Rezipientenaktivitäten ein wesentlicher Aspekt in der sozialwissenschaftlichen Rezeptionsforschung ist, die sich vom „uses-and-gratifications-approach“ über die Rezeptionsanalyse bis hin zu Beobachtungsstudien des sozialen Gebrauchs innerhalb der Familie erstreckt. Ausgangspunkt vieler dieser Studien scheint aber immer noch ein Konzept vom Fernsehen als gegebenem Phänomen mit festgelegten Merkmalen und intrinsischen Potenzialen zu sein, das dann von verschiedenen Rezipientengruppen auf unterschiedliche Art genutzt und interpretiert werden kann. Aus Sicht des radikalen Kontextualismus jedoch kann die Bedeutung des Fernsehens für die Rezipienten – textuell, technisch, psychologisch und sozial – außerhalb der multidimensionalen, intersubjektiven Netzwerke, in die das Objekt integriert und in konkreten kontextuellen Settings mit Bedeutung versehen wird, nicht bestimmt werden. Viele Forschungsprojekte sind z.B. auf der Basis der bislang nicht hinterfragten, allgemeinen Annahme entstanden, dass Fernsehen ein Unterhaltungsmedium sei, mit der Implikation, dass ‚Unterhaltung‘ nicht nur eine institutionalisierte oder textuelle Kategorie, sondern auch ein psychologisches Bedürfnis oder eine psychologische Präferenz sei und dass beide mehr oder weniger in irgendeiner funktionellen Weise miteinander verbunden seien. Wenn wir jedoch die Position des radikalen Kontextualismus einnehmen, müssen wir von einer solch ahistorischen Annahme vorgegebener Fixiertheit dessen, was Fernsehen ist, Abstand nehmen – in Anerkennung der Tatsache, dass die Bedeutungen von Fernsehen im häuslichen Reich nur innerhalb kontextualisierter Rezipientengewohnheiten zum Vorschein kommen. Das heißt, dass die genaue ‚Unterhaltungsfunktion‘ von Fernsehen nur post facto bestimmt werden kann: Außerhalb bestimmter Ausdrucksformen der TV-RezipientenBeziehungen können wir nicht sinnvoll über den ‚Unterhaltungswert‘ von Fernsehen entscheiden. Letztlich kann der Terminus ‚Unterhaltung‘ eine ganze Reihe unterschiedlicher und wechselnder idiosynkratischer Bedeutungen umfassen, abhängig von den kulturell spezifischen Arten, in der soziale Wesen ‚Unterhaltung‘ in jeglicher Situation oder Umgebung erleben. Was für Einige Unterhaltung ist (z.B. Horrorfilme), mag für Andere ganz und gar nicht unterhaltend sein. Und was wir unter bestimmten Umständen unterhaltsam finden (z.B. eine Folge einer Sitcom nach einem harten Arbeitstag), mag uns zu anderer Zeit nicht unterhalten. Allgemeiner gesagt sind sowohl ‚Fernsehen‘ als auch ‚Publikum‘ grundsätzlich unbestimmte Kategorien: Es ist unmöglich, a priori eine Liste aufzustellen, welche möglichen Bedeutungen und Charakteristika jede Kategorie in irgendeiner speziellen Situation
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annimmt, in der man sich dem Fernsehkonsum hingibt. Als Ergebnis dieser Bedeutungskontingenz vervielfacht sich die Bandbreite des potenziellen Spektrums von Rezipientengewohnheiten und -erfahrungen exponentiell in unbegrenzter, wenn nicht sogar unendlicher Weise. Welche Bedeutungen allerdings konkret aktualisiert werden, bleibt im Unklaren, bis wir die gesamte, multikontextuell bestimmte Situation erfasst haben, in der Fernsehkonsum potenziell stattfinden kann. Aus dieser Perspektive heraus muss der Rezeptionsforscher ‚Beute machen‘. Dieser epistemologische Schritt hin zum radikalen Kontextualismus wird von einem wachsenden Interesse an der Ethnografie als einer Form der empirischen Untersuchung begleitet. Ethnografisch orientierte Forschung ist wohl die geeignetste, um die Details von Unterschied und Variation zu entwirren, die sich in konkreten, alltäglichen Beispielen von Medienkonsum manifestieren. Was ethnografische Arbeit mit sich bringt, ist eine Art von ‚methodologischem Situationalismus‘, der die von Grund auf situierte, immer kontextgebundene Art und Weise unterstreicht, in der Menschen im Alltag dem Fernsehen und anderen Medien begegnen, in der sie es nutzen, interpretieren, genießen und in der sie darüber nachdenken und reden. Das Verständnis, das sich aus dieser Form von Untersuchung ergibt, bevorzugt interpretative Spezifizierung gegenüber erklärender Verallgemeinerung, historische und lokale Konkretheit gegenüber formaler Abstraktion, ‚dichte‘ Beschreibung von Details gegenüber extensiven, aber ‚dünnen‘ Erhebungen. Aber dieses ethnografische Interesse an der Rezeptionsforschung ist weder unverfänglich noch unproblematisch. Es besteht keine Notwendigkeit, hier auf die Details der Kontroverse um die Ethnografie einzugehen – viele andere haben dies schon getan. Es genügt, an dieser Stelle anzumerken, dass das Problem der Ethnografie nicht nur im angeblichen Fehlen von Systematik und Generalisierbarkeit liegt (was die konventionelle Kritik ist, die gegen sie erhoben wird), sondern auch in ihrer potenziellen politischen und theoretischen Relevanz als Wissensform. Kurz gesagt: Was ist der eigentliche Punkt der ethnografischen Beschäftigung mit dem Medien-Publikum? Was ist ihre Politik?
2 Die mehrdeutige Politik der Ethnografie Die Tendenz zum ‚Ethnografischen‘ ist nicht nur ein akademisches Randphänomen, sondern auch in der Höhle des Löwen selbst nachweisbar, d.h. in den kommerziellen Kultur- und Medienindustrien. Als Beispiel dafür dient die Krise der Einschaltquotenforschung, die innerhalb der Fernsehindustrie den wichtigsten und etabliertesten Zweig der Rezeptionsforschung ausmacht. Diese Krise kam Ende der 1980er Jahre so richtig in Fahrt. Lässt man einmal die wirtschaftlichen und institutionellen Aspekte dieser Krise außer Acht, so konzentriert sich die Kontroverse hauptsächlich auf den angeblichen Präzisionsmangel, der solchen Einschaltquotenanalysen, wie sie von Mediengruppen wie z.B. A.C. Nielsen durchgeführt werden, vorgeworfen wird. Die Folge sind erhebliche Unzufriedenheit und Widerstreit unter den Werbefachleu-
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ten sowie im gesamten System. Die Lösung wird nun darin gesucht, noch perfektere Messinstrumente zu entwickeln. So experimentiert z.B. die Nielsen-Gruppe z.Zt. mit dem sogenannten „passive people meter“. Dabei handelt es sich um eine Technik, an Hand derer sich die Gesichter aller im Wohnzimmer anwesenden Personen mittels eines elektronischen Bild-Erkennungssystems (in dem die Gesichter aller Haushaltsmitglieder gespeichert sind), identifizieren lassen. Durch Ausnutzung von Techniken der Spurenanalyse und künstlicher Intelligenz kann das Messinstrument die Bewegungen der Personen im Raum verfolgen und Pausen ausfüllen, wenn sich Personen vorübergehend aus dem Erfassungsfeld herausbegeben. Der Behauptung des Präsidenten der Nielsen-Medienforschungsgruppe John Dimling zu Folge lassen sich mit diesem System Rezipientenberichte der Art „John begann in dieser Minute und Sekunde und endete in jener Minute und Sekunde mit dem Fernsehen“ (1994: 23) erzeugen. Mit dieser Methode rückt sicherlich der utopische Traum der perfekten Überwachung ein Stück näher, indem ein Instrument zur scheinbar unauffälligen und natürlichen Beobachtung aller Vorgänge im Wohnzimmer geschaffen wird, so dass letztendlich kein Zweifel mehr darüber besteht, wer zu welcher Tageszeit welchen Kanal, welches Programm und welche Werbesendungen ansieht (vgl. Ang 1991 für eine ausführliche Darstellung dieser Entwicklungen). Diese kollektive Initiative erhält sicherlich einen ethnografischen Beigeschmack durch den Anspruch, vermehrt empirisch-mikroskopisch zu arbeiten, um so eine mögliche Verbesserung der Messgenauigkeit zu erzielen. Allgemeiner gesprochen ist in der Marketing- und Werbeforschung ein steigendes Interesse an qualitativen und interpretativen Methoden zur Messung von Konsumentenverhalten auszumachen. Dahinter steht die Überzeugung, dass ausführlichere und lokalspezifische Kenntnisse benötigt werden, um Konsumenten effektiver anzusprechen, zu gewinnen und zu verführen. Mit anderen Worten: Auch innerhalb der Marktforschung werden die Grundsätze des radikalen Kontextualismus immer häufiger vernehmbar. Ein solches Liebäugeln der Industrie mit qualitativen und sich auf ausführliche Einzelheiten konzentrierenden Analysen, die charakteristisch für das ethnografische Element der kulturtheoretischen Rezeptionsforschung sind, ist jedoch an sich schon widersprüchlich. Trotz des steigenden Interesses an detaillierteren Informationen über Konsumenten und Rezipienten muss die Marktforschung sich stets davor hüten, die theoretischen Konsequenzen eines konsequenten, radikalen Kontextualismus vollständig zu erfassen, welcher die kulturelle Wende innerhalb wissenschaftlicher Kommunikationstheorie und -forschung unterstreicht. Wie ich bereits herausgearbeitet habe, tendiert eine solche radikal kontextualistische Perspektive dazu, den Begriff des ‚Publikums‘ unaufhaltsam zu zersplittern, bis es schließlich sinnlos an sich erscheint, dieses schlechthin Messprozeduren zu unterwerfen (auch wenn eine solche Messung eine unerlässliche Aufgabe für ein Unternehmen darstellt, dessen Funktionieren in starkem Maße von der Bestimmung des Wertes der ‚Ware Publikum‘ abhängt). Betrachten wir z.B. einmal den Umstand, dass es sich beim Fernsehkonsum und -gebrauch um eine multikontextuell artikulierte, einerseits unbestimmte, aber andererseits auch überbestimmte Menge von gleichzeitig ablaufenden, kon-
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kurrierenden und sich gegenseitig beeinträchtigenden Tätigkeiten handelt. Die Gleichsetzung von ‚Zuschauen‘ und ‚das Gesicht auf den Bildschirm richten‘ wird somit zu einer unsinnigen und absurden Operationalisierung – von dem praktisch sehr gewagten Unterfangen, den zur freien Bewegung verfügbaren Raum zu definieren, mal ganz abgesehen. Es ist schwer zu begreifen, wie die Aktivitätsquantität überhaupt bestimmt werden kann, wenn nicht auf willkürliche, d.h. diskursiv konstruierte Weise, was durch die jeweils zur Anwendung kommende Methode definiert wird. Die ‚Bedeutung‘ der ‚Zuschauerschaft‘ ist eher eine diskursive Konstruktion denn eine objektive Tatsache. Sie wird dadurch zu Stande gebracht, dass die irreduzible Differenz und Variation eher unterdrückt als berücksichtigt wird (vgl. Sepstrup 1986). Da von der Marktforschung erwartet wird, aufschlussreiche Ergebnisse zu liefern, die allgemeine symbolische Gültigkeit für Verhandlungen und Entscheidungsfindungen innerhalb der Industrie besitzen können, so wäre eine zu große Ähnlichkeit in den Ergebnissen mit der radikal kontextualistischen Art und Weise, wie Menschen Medien konsumieren und gebrauchen, eher kontraproduktiv. Die Anforderungen an Prognose und Kontrolle, die an die Forschung innerhalb der Industrie gestellt werden, könnten so nicht erfüllt werden. Anders ausgedrückt: Auch wenn die Marktforschung zwar selektiv bestimmte Methoden und Techniken aus der Ethnografie ableitet, so impliziert dies noch nicht die Übernahme einer ethnografischen Weise des Verstehens, i.S. eines Strebens nach Klärung der Frage, was es denn nun bedeutet, in einer mediengesättigten Welt zu leben. Wir sollten uns meiner Ansicht nach in die zuletzt angesprochene Richtung bewegen, wenn wir davon ausgehen, dass die Annahmen des radikalen Kontextualismus einen entscheidenden Unterschied machen in der Art und Weise, wie wir die unklare Position der Medienrezipienten in der heutigen Gesellschaft begreifen und beurteilen. Diese Feststellung kompliziert nun unsere Aufgabe als Forscher gewaltig. Da die Prämisse eines radikalen Kontextualismus an sich schon die Unmöglichkeit beinhaltet, jedwede soziale oder textuelle Bedeutung jenseits der komplexen Situation, in der sie entsteht, zu bestimmen, ist es äußerst schwierig zu sagen, wo man nun mit seiner Analyse beginnen und wo man aufhören soll. Zunächst einmal ist theoretisch jede Situation in einzigartiger Weise durch eine unbegrenzte Vielfalt von Kontexten charakterisiert, die im Voraus gar nicht alle bekannt sein können. Dazu kommt, dass Kontexte sich nicht gegenseitig ausschließen, sondern ineinander greifen und miteinander interagieren, ineinander geschachtelt und letztlich auch in Zeit und Raum unbegrenzt sind. Ein Vorhaben, das bestrebt ist, den gesamten kontextuellen Horizont zu berücksichtigen, in welchem heterogene Fälle des Medienkonsums besondere Formen, Bedeutung und Wirksamkeiten hervorbringen, wäre in der Tat ziemlich schwer durchführbar und ermüdend, wenn in seinem übertriebenen Ehrgeiz nicht gar größenwahnsinnig. Dies mag ein Grund dafür sein, warum es anscheinend leichter ist, über Ethnografie nur zu reden, anstatt wirkliche ethnografische Studien mit Rezipienten durchzuführen. Und schließlich ist es auch ein Grund dafür, warum die CRICT-Projekte trotz aller Probleme und Dilemmata so bedeutungsvoll sind. Ich möchte im Folgenden die meiner Ansicht nach bestehenden Kernpunkte kurz skiz-
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zieren. Wie wir sahen, haben Morley und Silverstone zwei kontextuelle Bezugsrahmen für den Fernsehkonsum ausgewählt, nämlich den häuslichen und den technologischen. Zur gleichen Zeit stellen sie jedoch (sehr richtig) fest, dass man diese Bezugsrahmen nicht von dem „viel weit reichenderen Kontext der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Wirklichkeit trennen kann“ (Morley/Silverstone 1990: 32). Daraus ergibt sich die verwirrende Konsequenz, dass die beiden Forscher sich in gewisser Weise unklar darüber sind, wie denn nun die große Fülle von weiteren theoretisch vorstellbaren Kontexten artikuliert werden soll. Explizit genannt werden etwa Nationalität und Geschlecht; aber es wäre ein Leichtes, sich eine im Grunde endlose und mannigfaltige Menge von weiteren Kontexten vorzustellen, die für das Projekt zudem relevant sind: Rasse, soziale Klasse, ethnische Zugehörigkeit, regionale Lage, Generation, Religion, wirtschaftliche Umstände, politisches Klima, Familiengeschichte, Wetter etc. Wenn dies nicht irgendwie im Zaum gehalten wird, so kann das Bewusstsein der interkontextuellen Unendlichkeit leicht zu einem außer Kontrolle geratenem Kontextualismus führen! Um es noch einmal anders auszudrücken: sich einen radikalen, d.h. sich endlos ausweitenden Kontextualismus einzelner, durch den Medienkonsum erschaffener Bedeutungen vorzustellen, würde beinhalten, als Forscher eine geradezu unmögliche Position einzunehmen, nämlich die des stets ‚überall‘2 Gegenwärtigen, der unaufhörlich damit beschäftigt ist, das sich beständig ausbreitende Gebiet von kontextuellen, überdeterminierten, einzelnen Wirklichkeiten zu erfassen. Auch wenn eine solche Position epistemologisch vielleicht logisch erscheint, ist sie letztendlich ontologisch betrachtet doch unhaltbar und kann nur pragmatisch bleiben. Keine wissenschaftliche Exkursion in die Wirklichkeit, egal wie ethnografisch sie auch sei, vermag es, ein solches umfassendes Wissen jemals vollständig zusammen zu tragen. Wie Jonathan Culler feststellt: „Kontext ist grenzenlos, folglich können Erklärungen durch den Kontext niemals ganz die Bedeutung festlegen. Zu jeder Reihe von Formulierungen sind weitere Kontextmöglichkeiten denkbar, eingeschlossen die Erweiterung des Kontextes durch die Wiedereinschreibung seiner eigenen Beschreibung in den Kontext.“ (Culler 1983: 128)
Wie gelangt man nun aus dieser Sackgasse hinaus? Wie können wir mit der inhärent widersprüchlichen Natur der Forderung des radikalen Kontextualismus zurecht kommen, ohne dem zu erliegen, was Clifford Geertz die „epistemologische Hypochondrie“ genannt hat (Geertz 1988: 7)? Die Antwort, so würde ich in Anlehnung an Geertz vorschlagen, sollte nicht in dem Bemühen gesucht werden, erkenntnistheoretisch perfekt zu sein, sondern in den unsicheren Wegen der Politik von Erzählen und Erzählung, von Geschichte und Gespräch. Das heißt, mit dem Eingeständnis, dass der Ethnograf nicht ‚überall‘ sein kann, aber immer von ‚irgendwo‘ sprechen und schreiben muss, können wir zugunsten narrativer Arten von Argumentation und Darstellung – in denen nicht nur die Zusammenhänge des Medienkonsums, sondern auch die der ethnografischen Erzeugung von Kenntnissen selbst berücksichtigt werden (vgl. z.B. Richardson 1990) – die Überreste logisch-wissenschaftlichen Denkens (wie es in der Epistemologie des radikalen Kontextualismus verkörpert ist) als das belassen, was sie sind.
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In dieser Hinsicht mag es erhellend sein, sich kurz einiger (meta-) anthropologischer Literatur zuzuwenden, in der der Status der Ethnografie in jüngster Zeit ausführlicher diskutiert worden ist (vgl. z.B. Clifford/Marcus 1986; Marcus/Fischer 1986; Fox 1991). In der Praxis tendieren ethnografische Studien zum Medienkonsum dazu, Rezipientengemeinschaften – wie z.B. die Rezipienten innerhalb einer Familie, spezieller Subkulturen oder Fangruppen – als empirischen Ausgangspunkt zu nehmen. Dabei behandeln sie diese als Sinn stiftende kulturelle Formationen, ganz wie die Anthropologen jahrzehntelang die Aufgabe übernommen haben, andere Kulturen als bedeutungsvolle Einheiten zu beschreiben und zu interpretieren. Eben dieses Projekt der Dokumentation einer ‚Kultur‘ wird in der gegenwärtigen kulturellen Anthropologie jedoch zunehmend problematisiert. ‚Kultur‘ als solche kann nicht länger, wenn sie es denn jemals konnte, als ein transparentes Objekt empirischer Untersuchung verstanden werden, als fertige Einheit, die vom Ethnografen als solche entdeckt und dokumentiert werden kann. Im Gegenteil: Die Dokumentation einer ‚Kultur‘ ist eine Frage von diskursiver Konstruktion, die notwendigerweise den immer partiellen wie parteiischen Blickpunkt des Forschers impliziert, unabhängig davon, wie akkurat oder sorgfältig sie bzw. er bei der Datensammlung und dem Ziehen von Schlussfolgerungen vor sich geht. James Clifford bemerkte diesbezüglich: „‚Kulturen halten für ihre Portraits nicht still. Versuche, sie dazu zu bringen, beinhalten immer Vereinfachung und Ausschluss, die Auswahl eines Zeitpunkts, die Konstruktion einer Beziehung zwischen Eigenem und Fremdem und das Auferlegen oder die Aushandlung einer Machtbeziehung.“ (1986: 10)
Wir müssen uns dem weit reichenden, aber ziemlich behindernden poststrukturalistischen Postulat der sich aus dieser Einsicht ergebenden Unmöglichkeit einer Beschreibung (worauf Culler hingewiesen hatte) nicht beugen, und dennoch die Behauptung akzeptieren, dass alle Beschreibungen, die wir abgeben, laut Definition konstitutiv und nicht nur ein Evozieren des Objekts selbst sind, das wir beschreiben (vgl. Tyler 1987). Eine ‚Kultur‘ zu porträtieren impliziert das diskursive Improvisieren eines einheitlichen Bildes aus Stückchen und Teilchen sorgfältig ausgewählter und zusammengestellter Beobachtungen, eines Bildes, das Sinn macht innerhalb eines Rahmens einer Reihe vorgefasster Problematiken und sinngebender Konzepte, die der Forscher für seine bzw. ihre Beschreibungen als kognitive und sprachliche Werkzeuge benutzt. Es mag nicht zu schwer gewesen sein, ein solches Bild für eine umfassende und komplette Wiedergabe einer selbst genügsamen Realität romantisch aufrecht zu erhalten, wenn die betroffene Kultur offensichtlich eine klar begrenzte, endliche andere Kultur ist – wie im klassischen Fall der abgelegenen, primitiven, kleinen und exotischen Insel der Anthropologie inmitten des weiten Ozeans, bewohnt von Menschen, deren tägliche Aufgaben relativ unberührt und unbeeinflusst von den unerbittlich umgestaltenden Kräften der kapitalistischen Modernität waren. In dem heutigen modernen Weltsystem jedoch ist es ziemlich unmöglich geworden, sich ein vollständiges und umfassendes Portrait irgendeiner solchen kulturellen Formation auch nur vorzustellen.3 Die gegenwärtige Kultur ist ein enorm komplexes und gründlich ver-
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wickeltes Wirrwarr untereinander verknüpfter und voneinander abhängiger sozialer und kultureller Praktiken geworden, die sich mit der Zeit unaufhörlich vermehren und einen Platz im globalen Raum einnehmen. Mit anderen Worten: es gibt einfach keine unberührten, isolierten, ganzheitlichen ‚Kulturen‘ mehr, die aus ihrer Umwelt herausgelöst werden können, um für sich selbst betrachtet zu werden (vgl. Marcus/Fischer 1986, Kap. 4; Hannerz 1992). Heute sind alle Kulturen in mehr oder weniger großen Ausmaß miteinander verbunden, und mobile Menschen sind, sich ständig in einem multidimensionalen, transnationalen Raum bewegend, in viele kulturelle Praktiken gleichzeitig eingebunden. In Geertz‘ Worten: „Die Welt hat noch ihre Abteile, aber die Übergänge zwischen ihnen sind viel zahlreicher und viel weniger gut gesichert“ (Geertz 1988: 132). Diese heutige kulturelle Bedingung – postkolonial, postindustriell, postmodern, postkommunistisch – formt den historischen Hintergrund für die Dringlichkeit, die Bedeutung der Ethnografie zu überdenken, fort von ihrem Status als realistisches Wissen hin in die Richtung ihrer Qualität als einer Form des Geschichtenerzählens, der Erzählung. Dies bedeutet nicht, dass Beschreibungen aufhören mehr oder weniger wahr zu sein; Kriterien wie akkurates Datensammeln und sorgfältiges Ziehen von Schlussfolgerungen bleiben anwendbar, sogar dann, wenn ihre Bedeutung und Wichtigkeit sowohl relativer als auch komplizierter werden mögen, dies nicht nur als Frage der Technik, sondern vielleicht auch als eine der Ethik. Dies bedeutet, dass unsere partielle wie parteiische Position als Geschichtenerzähler – im doppelten Sinne ‚partial‘, wie an früherer Stelle ausgeführt – mehr denn je ernsthaft mit ihren Konsequenzen konfrontiert und durchdacht werden sollte. Jedwede kulturelle Beschreibung ist nicht nur konstruktiv (oder, wie manche es nennen mögen, ‚fiktiv‘), sondern auch von provisorischer Natur, schafft eine diskursive ‚Objektivierung‘ und Sedimentation von ‚Kultur‘ durch das Aussondern und Hervorheben einer Reihe diskontinuierlicher Ereignisse aus einem fortlaufenden, niemals endenden Fluss, und greift daher schon durch die Definition immer bereits zu kurz, fällt immer zurück. Der Punkt ist nicht, dies als einen bedauernswerten Mangel aufzufassen, der weitestmöglich beseitigt werden muss, sondern als einen unvermeidlichen Sachverhalt, der das Eingebundensein und die Verantwortung des Forschers/Schreibers als Produzent von Beschreibungen wiedergibt – von Beschreibungen, die beim Betreten des ungleichen, machtgeladenen Feldes des sozialen Diskurses ihre politischen Rollen als bestimmte Sicht- und Organisationsweisen einer stets schwer faßbaren Realität spielen. Es ist das, was Geertz das ‚Diskurs-Problem‘ in der Anthropologie genannt hat (1988: 83). Für Geertz ist dies letztlich ein Problem der Autorschaft, die mit dem Erzählen von Geschichten darüber verknüpft ist, wie andere Menschen leben: „Das Grundproblem ist weder die moralische Unsicherheit, die das Erzählen über das Leben anderer Leute impliziert, noch die erkenntnistheoretische, solche Geschichten in wissenschaftliche Genres einzuordnen […]. Das Problem ist, dass nun, da solche Angelegenheiten Gegenstand offener Diskussionen werden, anstatt mit einer Mystik des Faches verdeckt zu sein, die Last der Autorschaft plötzlich schwerer scheint.“ (Geertz 1988: 138)
Die Last der Autorschaft ist – so meine ich – um so schwerer, sobald wir sie nicht als individuelle missliche Lage auffassen, sondern als zutiefst soziale und politische.
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Dies impliziert Zweierlei: Erstens ist es wichtig, den Anthropologen als Autor nicht auf eine literarische Figur zu reduzieren, der das Schreiben von ethnografischen Texten als selbst befriedigende, rein ästhetische Praktik betreibt. Wenn Ethnografie keine Wissenschaft ist, ist sie auch keine Literatur.4 Der ethnografische Diskurs sollte seine vorrangig hermeneutische Ambition beibehalten, um Bilder zur Verfügung zu stellen, die es uns erlauben, das Leben anderer Leute wie auch das Unsrige besser zu verstehen. Die Wahl dieses oder jenes Schreibstils, dieser oder jenen Form des Erzählens, sollte, obschon es sich dabei um essenzielle Überlegungen handelt, explizit auf diese Ambition bezogen sein. Lassen Sie uns zweitens nicht vergessen, dass die Last der Autorschaft nicht nur ein Problem des Schreibers in sich birgt, sondern auch eine des Lesers; es ist nicht nur eine Frage der Produktion von Texten, sondern ebenso eine von deren Rezeption. Kurz gesagt ist der soziale Kontext, in dem Ethnografien geschrieben, publiziert, gelesen und genutzt werden, zu berücksichtigen. Welche Geschichten sollen erzählt werden, in welcher Form, wem, wo, wann und mit welcher Intention – dies sind Fragen, die sich Akademiker nicht gewohnt sind zu stellen, die aber ein zentraler Punkt der Politik wissenschaftlicher Arbeiten sind. In dieser Hinsicht stimme ich mit Talal Asads Argument überein, dass eine ‚Politik der Poetik‘ nicht auf Kosten einer ‚Politik der Politik‘ verfolgt weden sollte: „Das entscheidende Thema für die anthropologische Praxis ist nicht, ob Ethnografien Fiktion oder Wirklichkeit sind – oder inwieweit realistische Formen kultureller Darstellung durch andere ersetzt werden können. Was wichtiger ist, sind die Arten von politischen Projekten, in die kulturelle Schriften eingebettet sind. Nicht Experimente der ethnografischen Repräsentation um ihrer selbst willen, sondern Modalitäten der politischen Intervention sollten der vorrangige Zweck unserer Überlegung sein.“ (Asad 1990: 260)
3 Die Konstruktion standpunktbezogener Wahrheiten Welchen Nutzen kann die kulturtheoretisch orientierte Rezeptionsforschung nun aus diesem selbstreflexiven Überdenken der Ethnografie innerhalb der zeitgenössischen Anthropologie ziehen? Zuerst einmal sollten wir festhalten, dass Repräsentationen der ‚Zuschauer‘ in ähnlicher Weise eine Intervention der Rezeptionsforscher sind wie Repräsentationen von ‚Kultur‘ eine Intervention der Anthropologen sind (vgl. Wagner 1981), und zwar in dem Sinne, dass bestimmte Profile bestimmter Zuschauer lediglich auf Grund von Beschreibungen in den Abhandlungen der Forscher geformt werden und Gestalt annehmen – Profile, die nicht außerhalb oder jenseits solcher Beschreibungen existieren, sondern erst durch sie konstituiert werden. In dieser Hinsicht unterscheiden sich akademische Rezeptionsforscher nicht von Marktforschern: Sie betreiben beide das Geschäft der Konstitution von Zuschauerprofilen. Allerdings unterscheiden sie sich in ihrer Politik und damit auch in ihren rhetorischen Strategien und erkenntnistheoretischen Legitimationen – kurzum: in ihren Geschichten, die sie erzählen –,
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was nicht zuletzt auch in ihren völlig verschiedenen institutionellen Bedingungen, unter denen sie zu arbeiten haben, begründet liegt. Nochmals, dies bedeutet nicht, dass in alltäglichen Situationen die Anteilnahme von Personen an den Medien als Zuschauer nicht real oder gar nicht existent wäre. Es bedeutet lediglich, dass unsere Repräsentation solcher Anteilnahme und ihrer Wechselwirkungen i.S. von ‚Nutzung‘, ‚Gratifikation‘, ‚Dekodierungsprozessen‘, ‚Lesarten‘, ‚Wirkungen‘, ‚Aushandlungsprozessen‘, ‚Interpretationsgemeinschaften‘ und ‚symbolischem Widerstand‘ – um nur einige der gebräuchlichsten Konzepte der Rezeptionsforschung zu nennen – als sehr zahlreiche diskursive Mittel betrachtet werden sollten, um eine gewisse Ordnung und Kohärenz in die ansonsten sehr chaotische empirische Landschaft von dispersen und heterogenen Erfahrungen und Praktiken der Zuschauer zu bringen. Die Frage, die sich dann stellt, ist, welche repräsentationale Ordnung wir nun in unserern Erzählungen über Medienkonsum etablieren wollen. Meiner Ansicht nach dürfte sich insbesondere die kulturtheoretische Rezeptionsforschung in der hervorragenden Position befinden, solche Geschichten zu verfassen, in denen Objektivierungen des ‚Publikums‘ vermieden werden können, während Marktforscher in ihren Bemühungen zwangsläufig bestrebt sind, das Medienchaos für die Kulturindustrie handhabbar zu machen. Dieser zuletzt genannte Punkt wird z.B. deutlich in der ständigen Suche nach neuen Strategien zur ‚Segmentierung der Zuschauer‘ innerhalb der Marktforschung. Und gleichzeitig wird durch die Schwierigkeit, zufrieden stellende Wege zur Einteilung der Zuschauer in klar abgrenzbare und distinkte Kategorien zu finden, deutlich gemacht, dass sich auch die Marktforscher mit der immensen Eigensinnigkeit des Zuschauerchaos konfrontiert sehen (vgl. z.B. Diamond 1993). In gewisser Hinsicht ist der radikale Kontextualismus aus dem sich langsam entwickelnden Bewusstsein von diesem Chaos entstanden und somit ein willkommener Versuch, ihm in unseren Repräsentationen der Handlungen und Erfahrungen von Rezipienten gerechter zu werden. Mit den Worten von Janice Radway gesprochen, stellt dies einen Weg dar, sich mit der „fortwährenden Wandlung und der stetigen Neuentfaltung des Kaleidoskops unseres täglichen Lebens und der Art und Weise, wie die Medien in den Alltag integriert und einbezogen werden, auseinanderzusetzen“ (Radway 1988: 366). Aber wie ich es bereits angedeutet habe, kann der bloße Wunsch nach erkenntnistheoretischer ‚Eroberung‘, der in dem Bedürfnis, der endlosen Kontextualisierung gerecht zu werden, enthalten ist, auch leicht zu einer Art Ohnmacht führen und damit zu dem Diktum: ‚Praktiziere nicht Ethnografie, sondern denke darüber nach.‘ Das gegensätzliche Extrem ‚Denke nicht über Ethnografie nach, sondern praktiziere sie einfach‘, ist sicherlich genauso kurzsichtig (vgl. Geertz 1988: 139). Der Mittelweg könnte darin bestehen, einerseits den radikalen Kontextualismus im Hinterkopf zu behalten und andererseits gleichzeitig unsere Grenzen, d.h. unser Unvermögen, überall zur selben Zeit zu sein, als Chance zu betrachten, verantwortliche und bewusst politische Entscheidungen darüber zu treffen, welche Position wir nun einnehmen wollen und welchen kontextuellen Bezugsrahmen wir für unseren Ausflug in die Welt der Medienrezipienten wählen wollen. Erkenntnistheoretische Überlegungen allein sind als Leitprinzipien für derartige Entschei-
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dungen zwangsläufig unzureichend, wenn nicht sogar kontraproduktiv, wie anhand des Projekts von Morley und Silverstone deutlich wurde. Aus der erkenntnistheoretischen Perspektive heraus stehen nämlich sämtliche Kontexte miteinander in Beziehung, auch wenn man vielleicht theoretisch argumentieren mag, dass nicht alle Kontexte ähnlich und gleichermaßen wichtig seien. Genau hier erhalten die „Modalitäten politischer Interventionen“, um eine Formulierung Asads zu gebrauchen, ihre pragmatische Relevanz. Genau innerhalb des Bezugsrahmens einer besonderen kulturellen Politik können wir bedeutungsvolle Entscheidungen darüber treffen, welche Kontexte wir als jeweils relevante in den Vordergrund stellen wollen und welche anderen unter den gegebenen politischen Umständen vielleicht vorerst unberücksichtigt bleiben können. Der radikale Kontextualismus kann dann eine Stellung einnehmen, die weniger von dem Wunsch geleitet wird, eine noch ‚holistischere Theorie des Publikums‘ zu entwickeln, was per definitionem eine unerfüllbare Aufgabe wäre, sondern vielmehr von der anspruchsvollen Verpflichtung, die letztendlichen Erzählungen über den Medienkonsum so überzeugend und bestechend wie möglich zu verfassen im Rahmen der spezifischen Problemstellungen, die aus den einzelnen Zweigen der kulturellen Politik erwachsen. Stuart Hall bezieht sich in seiner Argumentation genau auf diesen Aspekt, wenn er formuliert: „Potenziell ist jeder Diskurs endlos: die unbegrenzte Semiosis der Bedeutung. Aber um überhaupt etwas mitzuteilen, müssen wir erst aufhören zu reden. […] Die Politik der unendlichen Zerstreuung ist die Politik gar keiner Handlung“ (Hall 1987: 45).
Deshalb ist es entscheidend, in unserer Tätigkeit als Geschichtenerzähler ‚abiträre Schließungen‘, wie Hall es nennt, zu konstruieren (i.S. von erkenntnistheoretisch willkürlich), auch wenn jeglicher Einhalt zunächst einstweilig ist (ebd.). Die Anthropologin Marilyn Strathern hat es prägnant so ausgedrückt: „Ich muss wissen, in wessen Auftrag und mit welcher Absicht ich schreibe“ (1987: 269). Das bedeutet, dass unsere Geschichten nicht nur ‚Teilwahrheiten‘ darlegen können, sondern stets – ob bewusst oder unbewusst – ‚standpunktbezogene Wahrheiten‘ (vgl. Abu-Lughold 1991: 142). In dieser Hinsicht weist Strathern auf den Erfolg gegenwärtiger feministischer Wissenschaft hin, ein Erfolg, der ihrer Ansicht nach „in der Beziehung zwischen Wissenschaft (Genre) und Frauenbewegung (Leben) begründet liegt“ (Strathern 1987: 268). Und in der Tat übersteigt die Last der Urheberschaft in vielen feministischen Studien die Grundsätze eines liberalen Individualismus, von dem die konventionelle Wissenschaftskultur erfüllt ist: „Absichten mögen unterschiedlich wahrgenommen werden; dennoch wird die Wissenschaft letztendlich durch eine aus dem Rahmen fallende Reihe von spezifischen sozialen Interessen verkörpert. Feministinnen mögen – in ihren unterschiedlichen Stimmen – miteinander diskutieren, da sie sich auch als Interessengemeinschaft verstehen. Über diesen Zusammenhang herrscht Gewissheit.“ (Strathern 1987: 268)
Dies ist aber nicht der Ort, um über Stratherns kühne Behauptung zu debattieren, der Feminismus verschaffe eine Gewissheit über politische Zusammenhänge für die wissenschaftliche Arbeit; schließlich wird der Feminismus selber hinsichtlich seines Status als allgemeiner politischer Rahmen für die Interessen der Frauen in Frage
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gestellt (vgl. zu diesem Thema Ang 1996: 85-129). Nichtsdestotrotz, worauf es hier ankommt, ist das Selbstkonzept des Feminismus als vorgestellte Gemeinschaft, das es bewerkstelligt, einen Interessenverbund zu konstruieren, welcher es feministischen Wissenschaftlerinnen ermöglicht, eine gewisse Allgemeinheit weltweiter Interessen zu entwickeln und zu unterhalten. Für die wissenschaftliche und professionelle Gemeinschaft der Rezeptionsforscher ist es sicherlich weitaus schwieriger, den politischen Kontext ihrer Arbeit zu definieren, da sie keine eigene Interessengemeinschaft bilden und dies möglicherweise auch gar nicht möglich wäre. Sie bilden in keinster Weise eine vorgestellte Gemeinschaft, die durch eine vereinende Reihe von außer-akademischen, sozialen oder politischen Zielen und Absichten zusammengehalten wird. Und das ist genau der Grund, warum es gerade umso wichtiger für uns wird, derartige Ziele und Absichten erst zu konstruieren und die Modalitäten politischer Interventionen, welche unser Interesse an dem Wissen über die Zuschauer beleben können, zu definieren und des Weiteren ‚arbiträre Schließungen‘ aktiv zu erzeugen, da diese der Rezeptionsforschung eine gewisse Richtung und Relevanz in einer wachsend ungewissen und komplizierten Welt verleihen können. Was hier mit anderen Worten sehr vereinfacht gesagt wird, ist schlechthin, dass wir wie nie zuvor dringend eine neue Agenda für die Rezeptionsforschung benötigen, und zwar eine, die aufgrund von Überlegungen über die weltweiten Ziele unserer Wissenschaft entworfen wird. Dies bringt mich schließlich zurück zu der Konjunktur des Wandels in unserer gegenwärtigen Medienlandschaft, die wohl den dringendsten globalen Kontext für die Rezeptionsforschung in den folgenden Jahren darstellt. Es ist offensichtlich, dass die Initiativen der transnationalen Medienindustrien zu signifikanten und verwirrenden Änderungen in den multikontextuellen Bedingungen von Zuschauerpraktiken und -erfahrungen führen. Gleichzeitig haben diese weitreichenden strukturellen Entwicklungen die schwierige Lage der postmodernen Rezipientenschaft noch komplexer, unklarer und schwerer einschätzbar gemacht, nicht zuletzt auf Grund der Allgegenwärtigkeit dieser Entwicklungen. Es gibt keine Position mehr außerhalb des Ganzen, wie sie einmal bestand, von der wir einen allumfassenden, überragenden Überblick über das gesamte Geschehen haben können. Unsere minimale Aufgabe in einer solchen Welt ist es, jene Welt zu erklären, ihr einen Sinn zu geben, indem wir unsere wissenschaftlichen Fähigkeiten dazu nutzen, Geschichten über die sozialen und kulturellen Implikationen zu erzählen, die mit dem Leben in einer solchen Welt verbunden sind. Solche Geschichten können nicht umfassend sein, aber durch sie können wir zumindest einige der Eigenheiten jener Welt verstehen; sie sollten, in der Aufzählung von Geertz, „analysieren, erklären, aus der Fassung bringen, feiern, erbauen, entschuldigen, erstaunen, zum Umsturz anstacheln“ (Geertz 1988: 143f.). Sicherlich sind dies sehr liberale Ziele, aber sie bilden die Basis für Abu-Lugholds (1991) radikalere Behauptung, dass unser Schreiben entweder die Struktur der gewaltigen diskursiven und ökonomischen Kräfte der in diesem Falle weltweiten Mediengesellschaften stärken oder dagegen anschreiben kann. Wie können wir solchen Behauptungen durch die Mobilisierung des radikalen
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Kontextualismus der Ethnografie Substanz verleihen? Ich kann nur eine partielle und parteiische Antwort auf diese Frage geben – in der Form von einigen Vorschlägen, die meine Anliegen und Interessen widerspiegeln. Eine politische Problematik, die in der Rezeptionsforschung kaum erwähnt wird, bezieht sich auf das Problem der öffentlichen Politik in einer Zeit der sogenannten Konsumentensouveränität. In ihrer Suche nach anwendbaren Gegenmitteln gegen die hegemoniale Logik der Kommerzialisierung haben Medienpolitik-Macher – und ich denke hier speziell an die europäische Tradition der öffentlichen Sendeanstalten – häufig, zum Guten oder Schlechten, zu einem Diskurs über ‚Qualität‘ und ‚Minderheiten-Programme‘ Zuflucht genommen. Damit haben es die öffentlichen Sender aber trotzdem nicht immer geschafft, paternalistische oder elitäre Einstellungen gegenüber dem Fernsehzuschauern, die die klassische Ideologie öffentlicher Sendeanstalten durchziehen, zu überwinden. Meiner Ansicht nach ist dies das Resultat der realen und symbolischen Distanz der Sender zu ihrem Publikum, einer Distanz, die dazu neigt, durch den jetzt üblichen Gebrauch quantitativer Marktforschungsumfragen in diesen Kreisen intensiviert anstatt verringert zu werden. In diesem politischen Kontext kann ein ethnografisches Verständnis extrem nützlich sein; z.B. könnte es das Programm für ethnische Minderheiten, das derzeit oft an einem mangelnden Einblick in die verschiedenen und widersprüchlichen sozialen Erfahrungen seiner ‚Zielgruppen‘ leidet, potenziell verbessern. Mit anderen Worten: Nur mit einem Verständnis davon, wie es sich als nicht-europäischer Migrant in Europa lebt, können professionelle Sender hoffen, Medieninhalte zu entwickeln, die diese Menschen wirklich relevant finden. Dies soll nicht heißen, dass Ethnografie öffentliche Sendeanstalten als Institution retten kann; was ich jedoch vorschlagen möchte ist, dass die ethnografische Sensibilität hinsichtlich kontextualisierter Rezipientenpraktiken und -erfahrungen die Praktiken der Medienproduktion verbessern kann, deren Ziel mehr ist als das einseitige Streben nach Profit (vgl. Ang 1991: 99-152). Natürlich muss die Konstruktion solch ‚standpunktbezogener Wahrheiten‘ (oder der Politik der Politik) in der Rezeptionsforschung nicht immer solch direkt praktische Auswirkungen haben. Rezipienten zu verstehen ist heute gewissermaßen von universeller Bedeutung, da die ganze Weltbevölkerung in zunehmendem Maße Zugang zu allen möglichen Arten von Massenmedien hat, sowohl lokal als auch global. Das Medienpublikum ist ein wesentlicher Teil unserer alltäglichen Realität geworden. Aber obwohl wir tatsächlich zunehmend dieselbe durch Medien dominierte Welt bewohnen, bleiben uns ganze Welten konkreter Praxis und Erfahrung fremd, eben weil wir nicht ‚überall‘ sein können, weder im wörtlichen noch symbolischen Sinn. Mit dem Ignorieren dieser Tatsache würden wir riskieren, uns mitreißenden Verallgemeinerungen zu beugen, die den Umfang von noch existierenden Unterschieden und Variationen nur verringern könnten. Die Medien sind in zunehmendem Maße überall, aber nicht überall auf die gleiche Weise. Ich beziehe mich hier natürlich auf das fortgesetzte Interesse an Themen des kulturellen Imperialismus und der Globalisierung, Themen die in den folgenden Jahrzehnten vermutlich eher mehr als weniger in den Vordergrund rücken werden. Ethnografie kann uns
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dabei helfen, das „abgestufte Spektrum durcheinandergemischter Unterschiede“ (Geertz 1988: 148) ausfindig zu machen und zu verstehen, welches mit der fortschreitenden Transnationalisierung des Medienpublikums einher geht: Was wir dann untersuchen ist die Artikulation des Weltkapitalismus‘ in Situationen von Menschen, die in einzelnen Gemeinschaften leben. Wie Abu-Lughold bemerkt, „manifestieren sich die Auswirkungen außerörtlicher und langfristiger Prozesse nur lokal und spezifisch, umgesetzt in den Handlungen von Individuen, die einzelne Leben leben, eingeschrieben in ihre Körper und ihre Worte“ (Abu-Lughold 1991: 150). Der radikale Kontextualismus der Ethnografie kann in dieser Hinsicht nützlich sein im Kampf gegen die verallgemeinernden Aussagen eines Großteils der Forschung über die Wirkungen der Medien-Transnationalisierung, die entweder durch unangebrachte Romantik hinsichtlich der Konsumentenfreiheiten oder durch eine paranoide Angst vor globaler Kontrolle motiviert sind. Um detailliertere Darstellungen zu ermöglichen, müssten als wesentlicher kontextueller Faktor meines Erachtens die ‚Zentrum – Peripherie‘ Beziehungen beleuchtet werden, welche besonders für Nordamerikaner und Westeuropäer von Bedeutung sind, die in relativem Komfort in den Zentren dessen arbeiten, was Ulf Hannerz (1989) die „globale Ökumene“ nennt. Hannerz hat Recht in dem Punkt, dass aus der Sicht des Zentrums die Peripherie häufig der Kreativität, Aktivität und Eigenheit zu entbehren scheint (vgl. Ang 1996: 133-180). Durch das Erzählen von Geschichten über „eine Vielfalt, die sich in Bewegung befindet, und zwar einer der Koexistenz wie auch der kreativen Interaktion zwischen den Transnationalen und den Einheimischen“ (Hannerz 1989: 72) kann Ethnografie, in Geertz‘ Worten, „die Möglichkeit eines intelligiblen Diskurses zwischen Menschen vergrößern, die in Interessen, Ansichten, Reichtum und Macht recht große Unterschiede aufweisen und die doch Teil einer Welt sind, in der es zunehmend schwierig ist, dem anderen aus dem Weg zu gehen, da die Menschen in unbegrenzte Beziehungen zueinander verwickelt sind“ (Geertz 1988: 147).
Anmerkungen *
Übersetzung von Beatrix Johnen, Susanne Hennenkemper, Rainer Winter und Andreas Hepp. Eine Fassung des Beitrags erschien in: Ang, Ien (1996): Living Room Wars. Rethinking Media Audiences for a Postmodern World. London, New York (Routledge), 66-81. 1 Diese internationale Konferenz fand im September 1990 an der Universität Illinois, Urbana-Champaign, statt, wo eine frühere Version dieses Artikels präsentiert wurde, die in dem von James Hay, Lawrence Grossberg und Ellen Wartella 1996 herausgegebenen Sammelband „The Audience and its Landscape“ (Boulder: Westview Press, 247-262) erschien. ** Das englische ‚partial‘ kann zum einen als ‚partiell‘, i.S. von ‚unvollständig‘, ‚vorläufig‘, ins Deutsche übersetzt werden, zum anderen als ‚parteiisch‘, i.S. politischer Voreingenommenheit. Diese Doppeldeutigkeit ist beabsichtigt, wie im weiteren Verlauf des Textes deutlich wird. A.d.Ü.
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Ien Ang Ich übernehme diese räumliche Charaktisierung der epistemologischen Suche des radikalen Kontextualismus von Susan Bordo (1990). In dieser Hinsicht ist es nützlich, den provokativen Vorschlag der Anthropologin Lila Abu-Lughold (1991) zu zitieren, wonach das Problem genau im Begriff von ‚Kultur‘ selbst liegt, der ihrer Ansicht nach fast unvermeidlich auf die Privilegierung organischer Metaphern von Ganzheit und Kohärenz und holistische Methodologien verweist. Um dem zu begegnen, schlägt sie vor, dass wir Wege des ‚Schreibens gegen Kulturen‘ entwickeln. Dieser Aspekt macht einige jüngere Diskussionen über das ethnografische Schreiben problematisch. John van Maanen (1988) z.B. scheint durch die Verlockung des literarischen Effekts zu seinen bevorzugt ‚impressionistischen Erzählungen‘ verführt worden zu sein. Als Folge dessen neigt er dazu, die Wichtigkeit theoretischer Kategorien und politischer Perspektiven in der Konstruktion bedeutungsvollen Verstehens im ethnografischen Diskurs zu ignorieren.
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Reflexivität, Interpretation und Ethnografie: Zur kritischen Methodologie von Cultural Studies Rainer Winter
1 Einleitung Epistemologisch betrachtet, vertreten Cultural Studies wie der Pragmatismus oder der soziale Konstruktionismus eine anti-objektivistische Sicht des Wissens. Sie haben sich in kritischer Auseinandersetzung mit der Vorstellung entwickelt, die „Logik der Forschung“ sei in den Sozialwissenschaften dieselbe wie in den Naturwissenschaften, die nach Gesetzmäßigkeiten sucht. Dagegen sind Cultural Studies immer an partikularen lokal und historisch geprägten Kontexten orientiert (Winter 2001a). Ihre Wissensobjekte existieren nicht unabhängig von der Forschung, sondern werden durch sie (mit)erzeugt und als kontingente theoretische Objektkonstruktionen betrachtet. Das Eingeständnis der „partiality“ im Sinne von Donna Haraway (1997), die damit sowohl die Beschränkungen der Forschung durch zeitliche, räumliche und soziale Faktoren bezeichnet, als auch die Motivation durch Ideologien, Interessen und Begehren sowie die Verankerung in Machtstrukturen, zeichnet diesen Ansatz aus, der nicht „Objektivität“ im klassischen Sinne, sondern Dialog, Reflexivität und Selbstreflexivität anstrebt. Ziel ist „eine Vielfalt partialen, verortbaren, kritischen Wissens, das die Möglichkeit von Netzwerken aufrechterhält, die in der Politik Solidarität und in der Epistemologie Diskussionszusammenhänge genannt werden“ (Haraway 1995: 84). So wurden seit den Anfängen von Cultural Studies in der Erwachsenenbildung in Großbritannien Studierende dazu angeregt, über ihre eigene Lebenssituation, ihre Herkunft und ihren Werdegang, nachzudenken und diese Reflexionen in die Forschung einzubringen, um auf diese Weise die eigene soziale Position und das Verhältnis zum Untersuchungsobjekt zu klären (Winter 2004). Das Eingeständnis der Positionalität des Zugangs, der Situierung und Lokalisierung des Wissens bedeutet nun aber nicht, dass Cultural Studies reduktionistisch vorgehen und Ansprüche auf ein umfassendes rationales Wissen aufgeben. Im Gegenteil: Je nach Fragestellung werden theoretische Zugänge und Methoden unterschiedlicher Disziplinen in Form einer Bricolage kombiniert, um facettenreich und differenziert das Forschungsobjekt zu konstruieren (vgl. Göttlich et. al. 2001). Im Idealfall werden kulturelle Praktiken und Repräsentationen dann multiperspektivisch
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im Dialog unterschiedlicher Zugänge und Methoden analysiert (Kellner 1995), was die notwendige Begrenztheit einzelner methodischer Zugänge sichtbar machen und umgehen soll. Cultural Studies fordern, dass im Untersuchungsdesign und in der Darstellung der Forschungsergebnisse mitreflektiert wird, dass andere Methoden bzw. ihre Kombination, aber auch Transgressionen möglich sind, um zu neuen Perspektiven zu gelangen (vgl. Johnson et. al. 2004: 42). So ist im Forschungsprozess die Realisierung von Reflexivität unerlässlich. Auf diese Weise kann zum Beispiel deutlich werden, wie die räumliche und zeitliche Lokalisierung des Forschers seine Untersuchung mitbestimmt. Auch der Dialog mit Anderen intensiviert die gewünschte Reflexivität. Vor diesem Hintergrund wurde in den Vereinigten Staaten eine neue Form von Ethnografie entwickelt, die bewusst auf die Selbstthematisierung des Forschers setzt. Die Welten der Anderen sollen mittels Autoethnografie, Dialog und Herausstellen der Polyvokalität im Feld erschlossen werden. Auf diese Weise sollen die disziplinär visuellen Strukturen der „cinematic society“ (Denzin 1995) unterlaufen und die Textur gelebter Erfahrung angemessen erfasst werden. Hierzu ist ein hohes Maß an Reflexivität erforderlich. An den Bespielen des reflexiven Interviews und der qualitativen Untersuchung der Medienaneignung von Horrorfans werde ich im Folgenden erörtern, wie wichtig Selbstthematisierung und Dialog in der qualitativen Medienforschung sein können.
2 Auf dem Weg zu einer ‚neuen‘ Ethnografie Die interpretative oder auch ‚neue‘ Ethnografie ist ein relativ junger Ansatz in der qualitativen Sozialforschung. Ihr zentrales Merkmal ist, dass der Forscher bzw. die Forscherin nicht nur die Erfahrungen, Praktiken und Lebensweisen von Anderen beschreibt und darstellt, sondern dass er bzw. sie sich selbst dabei thematisiert. Die Selbstthematisierung bleibt kein Appendix, sondern wird ein wesentliches Element der Forschung und vor allem der Darstellung der Ergebnisse. Im Forschen und im Schreiben entstehen die Welten, in denen wir leben und in denen wir zurechtkommen müssen. In der ‚Aufführung‘ der Forschungsergebnisse wird diesem konstruktiven Prozess Rechnung getragen, indem er sichtbar gemacht wird und seine Möglichkeiten ausgeschöpft werden. In ethnografischen Performance-Texten wird nicht über oder für Informanten gesprochen, sondern es wird mit ihnen und dem Publikum interagiert (Conquergood 2003). Daher mündet für Norman Denzin (1999, 2003), dem wichtigsten Vertreter dieses Ansatzes, die interpretative Ethnografie in eine performative Soziologie, deren Konturen sich abzeichnen, die aber noch näher bestimmt und entwickelt werden müssen. Qualitative Forschung ist im Kontext von Cultural Studies keine Ware, die gekauft oder verkauft werden kann, sondern eingebunden in die moralische Gemeinschaft von Forschern und Informanten, zwischen denen dialogische Beziehungen hergestellt werden sollen.
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In der qualitativen Medienforschung kommt der interpretativen Ethnografie eine wichtige Bedeutung zu (Winter 2001b). Zum einen fordern dialogische Beziehungen den Forscher dazu auf, über seine eigenen medialen Erfahrungen und Praktiken, seine Vorlieben und Abneigungen nachzudenken und sie kritisch zu hinterfragen. Zum anderen werden die Informanten, die z.B. über Formen problematischen Medienkonsums berichten, als Subjekte, die eine eigene Sicht entwickelt haben, ernst genommen. Zudem werden sie aufgefordert, diese zur Darstellung zu bringen. Der Forscher nimmt nicht die Rolle des unabhängigen Beobachters ein. Er ist eher ein unterstützender Mitspieler. Seine Subjektivität wird wie die der Untersuchten durch die medialen Praktiken der heutigen Gesellschaften, insbesondere durch die Populärkultur, geprägt, worüber er sich im Forschungsprozess klar werden sollte: „Popular culture matters […] precisely because its meanings, effects, consequences, and ideologies can‘t be nailed down. As consumers and as critics, we struggle with this profileration of meanings as we make sense of our own social lives and cultural identities.“ (Jenkins et. al. 2002: 11)
Als Teil des Ganzen sind auch seine Forschungsinteressen und -ergebnisse nicht unabhängig. Damit problematisiert die interpretative Ethnografie die ideologischen Annahmen der traditionellen Ethnografie, die einen realistischen Anspruch hat und den „native point of view“ zur Darstellung bringen möchte. Durch direkte Beobachtungen können, so die Auffassung, ‚wahre‘ Aussagen über die Welt gemacht werden. Um ein möglichst differenziertes Verstehen des Anderen geht es auch der interpretativen Ethnografie, die jedoch den medialen Bedingungen des 21. Jahrhunderts Rechnung zu tragen versucht.
3 Ethnografie in der „Cinematic Society“ In der amerikanischen Tradition der qualitativen Sozialforschung nimmt die Diskussion um die Postmoderne und die mediale Durchdringung des Alltags eine wichtige Rolle ein (Dickens/Fontana 1994). So schreibt Denzin: „The postmodern is a visual, cinematic age; it knows itself in part through the reflections that flow from the camera‘s eye. The voyeur is the iconic, postmodern self. Adrift in a sea of symbols, we find ourselves, voyeurs all, products of the cinematic gaze“. (Denzin 1995: 1)
In der Tradition von Michel Foucault (1976) versucht er in seiner Geschichte von Kino und Gesellschaft in den USA zu zeigen, dass die von diesem beschriebene Überwachungsgesellschaft im 20. Jahrhundert durch das Kino und sein visuelles Dispositiv verdichtet wurde. Die disziplinäre Struktur der „Cinematic Society“, in deren Zentrum der Blick der Kamera als mobiles panoptisches Auge und die durch ihn konstruierte Wirklichkeit stehen, bringt Subjekte hervor, die als Voyeure ihre Mitmenschen beobachten und belauschen, jedoch jederzeit selbst zum Objekt eines
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disziplinären Blicks werden können. Als neuer sozialer Typus begegnet der Voyeur uns als Sozialwissenschaftler, Ethnograf, Psychoanalytiker, Gerichtsreporter, Detektiv oder als sexuell Perverser. Angesichts der steigenden Zahl von Überwachungskameras auf öffentlichen Plätzen, die in der Regel ohne Protest akzeptiert werden, und der teilweisen Aufhebung der Privatsphäre aus (nationalen) Sicherheitsgründen leuchtet Denzins Diagnose einer Veralltäglichung visueller Kontrolle und der Dominanz eines voyeuristischen Blicks, die sich auf eine systematische Analyse von Hollywoodfilmen stützt, unmittelbar ein. Eine Folge der Durchdringung der Gesellschaft durch den Blick der Kamera ist auch, dass die in der Soziologie beschriebene dramaturgische Gesellschaft eine interaktionelle Wirklichkeit geworden ist. Alltägliche Wirklichkeiten werden wie Medienevents inszeniert, die sich wiederum an früheren orientieren, so dass es eigentlich kein Original gibt, sondern nur Modulationen, die nur Kraft von als überzeugend wahrgenommenen Darstellungsleistungen als ‚real‘ interpretiert werden (Goffman 1977). Dabei hängt deren Überzeugungskraft davon ab, wie sie im Vergleich zu früheren Darstellungen wirken. Dieser soziologischen Einsicht in die dramaturgische und prozesshafte Konstruktion der Wirklichkeit im Alltag steht die Auffassung des Realismus in der Geschichte des Kinos und der Tradition der qualitativen Sozialforschung entgegen, dass wir einer stabilen sozialen Welt gegenüberstehen, die mittels des Films angemessen wieder gegeben werden kann. Journalistische Reportagen und die naturalistischen Studien der Chicago School stützten den Mythos, dass es grundlegende Sinnstrukturen gibt, die durch sorgfältige Beobachtung und Analyse aufgedeckt werden können. Der modernistische ethnografische Text kann daher als eine Fotografie gelesen werden. „It offers up fixed representations of things that have happened in a stable, external world“ (Denzin 1997: 44). Angesichts dessen, dass alltägliche Begebenheiten an medialen Praktiken gemessen und im Sinne Baudrillards (1982) das Simulakrum, die endlose mediale Reproduktion des Realen, die ‚eigentliche Wahrheit‘ darstellt, wird in der interpretativen Ethnografie der ethnografische Realismus dekonstruiert und damit auch die Konzeption von Wahrheit, die Aussagen daran misst, dass sie Ereignisse in der realen Welt angemessen wiedergibt. Diese erweist sich als Konstruktion bzw. historische Fiktion, wie die feministische Kritikerin und Filmemacherin Trinh hervorhebt: „The belief that there can exist such a thing as an outside foreign to the inside, an objective, unmediated reality about which one can have knowledge once and for all, has been repeatedly challenged by feminist critics […] realism as one form of representation defined by a specific attitude towards reality is widely validated to perpetuate the illusion of a stable world.“ (Trinh 1991: 164)
Eine hier anschließende Kritik lautet, dass der ethnografische Realismus von vornherein durch die Darstellungsformen und narrativen Strategien der Massenmedien geprägt sei und den soziologischen Diskurs in der Figur des Geschichtenerzählers mit einem notwendigen empirischen Gerüst versorge:
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„Indeed, realism is a fantasmatic or unconscious construction of ‚empirical reality‘, thereby producing relays between the opposed registers of factual and fictional discourses while nonetheless maintaining their apparent opposition“ (Clough 1992: 6).
In der zeitgenössischen Medienkultur ist jedoch eine Dekonstruktion der diskursiven Opposition von Fakten- und Fiktion erforderlich, was Erving Goffman (1977) in seinen ethnografischen Studien der eigenen Kultur bereits vorführte. Hierzu muss vor allem die Funktion von Erzählungen im Alltag und im soziologischen Diskurs bestimmt werden. Wie Charles Lemert (1997) pointiert und provokativ feststellt, besteht die Soziologie – und ähnliches gilt für die qualitative Sozialforschung – im Wesentlichen aus Geschichten von Menschen, die sie über ihre Erfahrungen und Erlebnisse im sozialen Leben erzählen. Die interpretative Ethnografie entlarvt den realistischen Ethnografen als Voyeur, der in den Dispositiven der Überwachungsgesellschaft vorgeben kann, ‚authentische‘ Darstellungen gelebter Erfahrungen wiederzugeben (Denzin 1995). Des Weiteren erkennt sie die narrativen Strukturen in Alltag und Wissenschaft an, arbeitet sie heraus und experimentiert mit ihnen. Ereignisse, Erfahrungen und Erlebnisse existieren nicht unabhängig von ihren Repräsentationen, sondern können in ihnen Gestalt, Geschlossenheit und Kohärenz gewinnen. Deshalb kann, so die Auffassung der neueren qualitativen Forschung, gelebte Erfahrung nicht direkt wiedergegeben werden, sondern im Untersuchungsprozess und im Text, den der Wissenschaftler schreibt, wird sie in gewisser Weise erst geschaffen. Eine qualitative Medienforschung, die sich der interpretativen Ethnografie, bedient, wird deshalb die narrativen Prozesse in Medien und Alltag ins Zentrum rücken, um der Perspektive der Informanten möglichst gerecht zu werden.
4 Die Perspektive des Anderen Die narrative Wende, die von der interpretativen Ethnografie vollzogen wird, schützt sie vor der Kritik der Theorielastigkeit, die gegen einige berühmte ethnografische Studien erhoben wurde. Innerhalb von Cultural Studies wurden vor allem die Widerstandsstudien dahingehend kritisiert, dass Erfahrungen und Praktiken im Feld zur Unterstützung der theoretischen und politischen Auffassung des Forschers funktionalisiert würden. Der Untersuchungsrahmen gäbe vor, was entdeckt und was übersehen werde. Freilich lässt sich diese Kritik noch mehr an jeder Form traditioneller Sozialforschung üben, die vorgibt, ‚objektiv‘ zu sein, aber immer eine Wirklichkeit gemäß ihrer theoretischen (Vor-)Annahmen und Methoden schafft, die sie dann als die Wirklichkeit ausgibt. Die neuen Formen von Ethnografie möchten aber nicht vorher konzipierte Theorien bestätigen oder widerlegen, sondern den Erfahrungen und Praktiken der Untersuchten so gerecht wie möglich werden. Im Rahmen von Cultural Studies bzw. der neueren Ansätze qualitativer Sozialforschung (Denzin/Lincoln 2000) bedeutet dieser methodologische Zugang aber nicht, dass teilnehmende Beobachtung oder
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Feldforschung im ethnologischen Sinne im Mittelpunkt stehen müssen. Narrative Interviews, Gruppendiskussionen, biografische Interviews oder Feldnotizen können je nach Fragestellung verwendet oder miteinander kombiniert werden (vgl. Winter 1995). Entscheidend ist, dass eine Perspektive, die von ‚außen‘ kommt, den Untersuchten zum Objekt eines voyeuristischen Blicks macht, vermieden wird. Denn in der neuen Ethnografie geht es darum, den Erfahrungen und gelebten Wirklichkeiten möglichst nahe zu kommen und sie auch entsprechend darzustellen. Hierzu muss sich der Ethnograf auf die Erfahrungswelt des Anderen einlassen. Deshalb spielt die Phänomenologie eine wichtige Rolle (Maso 2001). Sie erschließt die Erfahrungen von Anderen in Bezug auf die Ähnlichkeiten und Differenzen zu unserer eigenen Erfahrung. Dabei gilt jedoch: „To do […] phenomenology is to attempt to accomplish the impossible: to construct a full interpretive description of some aspect of the life-world, and yet to remain aware that life is always more complex that any explication of meaning can reveal“ (Van Maanen 1990: 18).
In einer dialogischen Auseinandersetzung zwischen dem Selbst des Forschers und der Perspektive des Anderen werden die Grenzen des eigenen Verständnisses zum Thema, mit dem Ziel, die eigene Sensibilität für fremde Welten zu steigern (Saukko 2003: 57). Im Zuge der narrativen Wende sollen Forscher hierbei auf die persönlichen Geschichten achten, die Menschen über die wichtigen Ereignisse in ihrem Leben erzählen (Denzin 1989). Diese sind mögliche Anknüpfungspunkte für einen Dialog, der auch biografische Erlebnisse des Forschers mit einbeziehen kann und ihm hilft, die Schlüssellochperspektive des Voyeurs zu verlassen: „As lived textualities, these personal experience narratives and ‚mystories‘ recover the dialogical context of meaning, placing the observer on both sides of the ‚keyhole‘“ (Denzin 1997: 47). In diesen Prozess werden vermehrt emotionale und verkörperte Formen des Wissens berücksichtigt, die zu persönlichen und literarischen Formen des Schreibens führen können (Richardson 2000). Darüber hinaus wird in Gestalt der Performance-Ethnografie der ethnografische Textualismus in Frage gestellt, der in distanzierter Weise die Kultur als offenes Buch liest. Hier wird nun die Teilnahme, der Dialog, die Kontingenz, die kontextspezifische Artikulation von Praktiken und Texten gefordert (Conquergood 2003). Texte, Kontexte und kulturelle Praktiken lassen sich in einer Performance nicht trennen, die zu einer tief gehenden emotionalen Begegnung mit anderen Menschen und Kulturen führen kann. Die emphatische Versenkung in intensive Erfahrungen birgt allerdings die Gefahr, dass deren soziale Prägung aus dem Blick gerät. Gelebte Erfahrungen sind durch soziale, institutionelle und mediale Diskurse vermittelt. Deshalb sollten im Forschungsprozess die erlebten Wirklichkeiten auch sozial und medial kontextualisiert werden. Nur auf diese Weise kann die Textur gelebter Wirklichkeiten in der „cinematic society“ die Perspektive der Untersuchten freigeben. Ein weiterer hiermit zusammenhängender Aspekt der interpretativen Ethnografie ist ihre Selbstreflexivität. Da davon ausgegangen wird, dass es keine unvoreingenommene Forschung geben kann, kommt der Reflexivität die Funktion zu, für eigene Vorannahmen zu sensibilisieren, sich der eigenen sozialen Verankerung bewusst zu werden und offen
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für andere Perspektiven auf die untersuchten Welten zu sein. Das Selbst des Forschers, seine sozialen und moralischen Verpflichtungen, seine Auffassungen werden kritisch reflektiert, um der Perspektive des Anderen gerecht zu werden. Dabei impliziert Selbstreflexivität aber nicht, dass ein ‚wahreres‘ Wissen der Welt möglich ist (Haraway 1997: 16). Eher zeigt sie die Begrenzungen unserer Weltsicht auf und dass verschiedene Interpretationen unserer eigenen und der Welt der Anderen möglich sind. In den Formen kritischer Autoethnografie führt die Selbstreflexivität dazu, dass der Forscher untersucht, welche Erlebnisse und sozialen Diskurse seine Erfahrung bestimmt haben. Ergänzend wird in der interpretativen Ethnografie auf Polyvokalität Wert gelegt. Gelebte Erfahrungen sollen von verschiedenen Stimmen wiedergegeben werden, um zu vermeiden, dass eine Stimme für die ‚Wahrheit‘ einer Erfahrung steht, und um die Spezifität einzelner Erfahrungen angemessen zu erfassen (Saukko 2003: 64-67). Auch in den Darstellungen der Forschungsergebnisse kommt es zu einer Interaktion zwischen den Stimmen der Anderen und der Stimme des Forschers. Hierzu gehört freilich auch eine Analyse des sozialen Kontextes und seiner Formen sozialer Ungleichheit unter globalen Bedingungen. Dann kann deutlich werden, dass diese je nach Perspektive durchaus unterschiedlich erfahren werden können. Im Folgenden möchte ich zeigen, welche Rolle die interpretative Ethnografie in der qualitativen Medienforschung der Cultural Studies spielen kann. Wie die bisherige Diskussion gezeigt hat, ist dies ein relativ neuer Ansatz, der eine Kritik an bisherigen Ansätzen formuliert hat und ein ambitioniertes Programm vorlegt. Vieles befindet sich aber noch in der Diskussion, der Ansatz selbst in einer experimentellen Phase. Für unseren Zusammenhang kommt ihm aber auch deshalb große Bedeutung zu, weil er die Methodendiskussion im Kontext der „cinematic society“ führt, sich also fragt, welche Methoden in einer Mediengesellschaft sinnvoll sind. Daher werde ich zunächst die Methode des reflexiven Interviews diskutieren, die Denzin (2003: 57-76) für die „cinematic society“ empfiehlt. In einem zweiten Schritt werde ich am Beispiel eigener Arbeiten zur Ethnografie der Medienrezeption und –aneignung die Relevanz der interpretativen Ethnografie aufzeigen.
5 Beispiele 5.1
Das reflexive Interview
Denzin (2003: 57-76) stellt zunächst fest, dass wir in einer ‚Second-Hand-Welt‘ von Bedeutungen leben, die durch die Medien der postmodernen Gesellschaft vermittelt werden. Die Kultur ist eine visuell dominierte Medienkultur, in der dramaturgische Inszenierungen und Stoffe die Oberhand gewonnen haben. Das reflexive Interview soll nun eine Möglichkeit sein, dem Zustand Rechnung zu tragen, dass Subjektivität immer mehr durch Geschichten vermittelt wird, die durch Interviews produziert worden sind:
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„The reflexive interview is simultaneously a site for conversation, a discursive method, and a communicative format that produces knowledge about the self and its place in the cinematic society – the society that knows itself through the reflective gaze of the cinematic apparatus.“ (Denzin 2003: 58).
Das Interview ist eine Bekenntnispraktik, die zu einer öffentlichen Form der Unterhaltung geworden ist. Das Fragenstellen, die Aufforderung, eine Geschichte zu erzählen, bringt situierte Erzählungen des Selbst hervor. Im Anschluss an Holstein und Gubrium (2000) unterscheidet Denzin dann zwischen verschiedenen Formen des Interviews, die dem Interviewer unterschiedliche Positionen zuweisen. Im ‚objektiv neutralen‘ Format benutzt er einen strukturierten oder semi-strukturierten Leitfaden, um zu Informationen zu gelangen. Die Geschichte, die erzählt wird, wird von ihm, so seine Auffassung, nicht beeinflusst. Im Entertainment- bzw. investigierenden Format versucht der Interviewer, mit unterschiedlichen Methoden an eine Geschichte zu kommen, die er Gewinn bringend verkaufen kann. Im auf Mitarbeit angelegten, aktiven Format treten die Identitäten von Interviewer und Interviewten in den Hintergrund. Eine Konversation entsteht, und eine Geschichte wird gemeinsam erzählt. Das von Denzin präferierte Format ist das reflexive Interview, das von einer dialogischen Beziehung getragen wird: „In this relationship, a tiny drama is played out. Each person becomes a party to the utterances of the other. Together, the two speakers create a small dialogic world of unique meaning and experience. In this interaction, each speaker struggles to understand the thought of the other, reading and paying attention to such matters as intonation, facial gestures, and word selection.“ (Denzin 2003: 67).
Am Beispiel von Filmen veranschaulicht er dann die unterschiedlichen Interviewformate. Dabei kommt Trinhs Film Surname Viet Given Name Nam (1989) eine Schlüsselrolle zu, weil er den Gebrauch von ‚objektiv neutralen‘ Interviews in Dokumentarfilmen, die nicht dialogisch angelegt sind, kritisch vorführt. In Dokumentarfilmen ist der Filmemacher/Interviewer ein Beobachter, der über seine Erfahrungen und Erlebnisse mit Menschen in einer realen Welt berichtet. Die ästhetischen Strategien des dokumentarischen Interviews, das auch wesentliches Element von Fernsehnachrichten und -reportagen ist, vermitteln dem Zuschauer den Eindruck, dass er unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit hat (Trinh 1991: 40). Trinhs Film dagegen ist dialogisch angelegt, die Grenzen zwischen Tatsache und Fiktion verwischen. Ebenso entpuppen sich Bedeutungen als (politische) Konstruktionen. Die Regisseurin spielt mit der Rahmenstruktur von Filmen und ihren Konstruktionen von Wirklichkeiten, um vielfältige Erfahrungen zu ermöglichen. Im Anschluss an Trinh fordert Denzin deshalb eine Intensivierung von Reflexivität: „I want to cultivate a method of patient listening, a reflexive method of looking, hearing, and asking that is dialogic and respectful. This method will take account of my place as a constructor of meaning in this dialogic relationship […] I will use the reflexive interview as a tool for intervention […] I will use it as a method for uncovering structures of oppression in the life worlds of the persons I am interviewing.“ (Denzin 2003: 75)
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Das Forschen in der „cinematic society“ erfordert neue Methoden, um deren Ideologien und Mythen zu dekonstruieren, eine gemeinsame Konstruktion von Bedeutungen zu erlauben und eine Politik des Möglichen zu schaffen.
5.2
Ethnografie der Medienaneignung
Wie wichtig die interpretative Ethnografie im Rahmen von Cultural Studies sein kann, möchte ich abschließend an einer eigenen Studie veranschaulichen. In „Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozess“ (1995) untersuche ich die Rezeption und Aneignung von Horrorfilmen. Die Studie war ethnografisch angelegt. Verschiedene Methoden (u.a. teilnehmende Beobachtung, problemzentrierte und biografische Interviews, Gruppendiskussionen, Filmanalysen, Feldnotizen und -tagebücher) wurden miteinander kombiniert. Ziel war es, die differentiellen Prozesse der Rezeption und Aneignung zu untersuchen und herauszufinden, welche Bedeutung die Zuschauer selbst ihren Praktiken zuschreiben. Auf diese Weise sollten die Rezipienten, vor allem die Fans, von Horrorfilmen, als Subjekte ernst genommen, ihre gelebten Wirklichkeiten so ‚authentisch‘ wie möglich beschrieben werden. Angesichts der gewöhnlich negativen Darstellung von Horrorfans im journalistischen oder wissenschaftlichen Diskurs, die als obsessive Einzelgänger, psychisch gestört oder gefährdet betrachtet werden, ging es darum, die kulturellen Praktiken der Fans aus ihrer Perspektive zu beschreiben. Sehr schnell wurde mir klar, dass es hierzu erforderlich war, sich auf die Horrorfilme, insbesondere auf das Splattergenre, intensiv einzulassen, was in der bisherigen Forschung weitgehend unterblieben war. Über diese für mich zunächst verstörenden und negativen Erfahrungen habe ich Tagebuch geführt. Es gelang mir, fast alle wichtigen Filme dieses Genres anzuschauen, was für mich kein Vergnügen war. Erst auf der Basis dieser subjektiven Erfahrung war es mir aber möglich, die Praktiken der Fans überhaupt verstehen zu können. Die erste Phase der problemzentrierten Interviews und Gruppendiskussionen enttäuschte mich, weil mir klar wurde, dass die Fans sich als Objekt einer wissenschaftlichen Untersuchung betrachteten und so über intime und tabuisierte Erfahrungen nicht sprachen. Zudem befürchteten sie, dass sie keinen Einblick in die Ergebnisse der Studie haben und diese – wie andere Studien – gegen sie verwendet würden. Es war mühsam, ihr Vertrauen zu gewinnen und ein dialogisches Verhältnis mit ihnen aufzubauen. Erst als ich anfing, über meine eigenen Erfahrungen mit Horrorfilmen zu sprechen, und meine Einstellung zu ihnen mit den Fans diskutierte, öffneten sich diese. Als dies aber gelang, entwickelten sich mit einigen Fans im Laufe der Zeit persönliche, sogar freundschaftliche Beziehungen. Nun konnte ich ihre kulturellen Praktiken im Kontext ihrer persönlichen Situation und ihrer Biografie verstehen. Ohne eine reflexive Einstellung, die es mir erlaubte, meine Voranahmen und Auffassungen, immer wieder kritisch zu hinterfragen, und offen zu sein für neue Erfahrungen, wäre mir ein tieferes Verständnis ihrer gelebten Wirklichkeiten nicht
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möglich gewesen. Auch die Forschungsergebnisse diskutierte ich eingehend mit ihnen. Sie konnten ihre Perspektive in meiner Studie erkennen und bedankten sich dafür, dass ich sie nicht ausgenutzt hatte. Was mir bei dieser ethnografischen Forschung klar wurde, war, dass Autoethnografie ein wesentlicher Bestandteil empirischer Forschung ist. Eine Auseinandersetzung mit den eigenen lebensgeschichtlich geprägten Erfahrungen kann die Basis für ein Verständnis differenter Erfahrungen und Praktiken sein. Erst die Bereitschaft, einen Dialog zu führen, kann einen Zugang zur Perspektive des Anderen eröffnen. Qualitative Forschung hat es mit Subjekten zu tun und beinhaltet deshalb auch moralische Verpflichtungen. Vor allem muss man der Textur gelebter Wirklichkeiten vom Gesichtspunkt der Untersuchten her gerecht werden.
6 Schluss Die ‚neue‘ Ethnografie im Rahmen von Cultural Studies begreift sich nicht nur als wissenschaftlicher, sondern auch als moralischer Diskurs. Ihre Praktiken sollen möglichst authentisch gelebte Erfahrungen in der „cinematic society“ wiedergeben. Dabei ist die Wirklichkeit immer schon durch symbolische Repräsentationen, durch mediale Strukturen und durch narrative Texte vermittelt. Selbstthematisierung, neue Formen des Schreibens und die Aufführung von Forschungsergebnissen sind die Grundelemente einer performativen qualitativen Forschung, die die realistische Agenda des Positivismus subvertiert und nach neuen Wegen für eine kritische Theorie und Praxis in interventionistischer Absicht sucht: „This social science inserts itself into the world in an empowering way. It uses the words and stories that individuals tell to fashion performance texts that imagine new worlds, worlds where humans can become who they wish to be, free of prejudice, repression, and discrimination“ (Denzin 2003: 105).
Cultural Studies werden durch eine Ethnografie, die sich der Performance und der Interpretation verpflichtet fühlt, bereichert. Auf diese Weise wird der Untersuchte vom Objekt zum Subjekt, dessen mediale Praktiken vom Forscher vor dem Hintergrund seiner eigenen Praktiken verstanden werden.
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Kultureller Materialismus und Cultural Studies: Aspekte der Kultur- und Medientheorie von Raymond Williams Udo Göttlich
Das fortbestehende Interesse am Cultural Studies Approach im deutschsprachigen Raum wird neben der Neuorientierung in der Populärkultur- und Medienanalyse auch von der intellektuellen Erfolgsgeschichte getragen, die dieser Ansatz in den anglo-amerikanischen Ländern zu verzeichnen hat.1 Die Hinwendung zum Cultural Studies Approach innerhalb kultur- und mediensoziologischer Forschung führt dabei zum Kontakt mit theoretischen und methodischen Konzepten, die in der Tradition kultursoziologischer – aber auch kulturwissenschaftlicher – Forschung in dieser Kombination bislang nicht anzutreffen waren, wobei manche Grundfragestellungen durchaus Parallelen aufweisen. Gegenstand der Cultural Studies seit den 1950er Jahren stellen mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung jugendliche Subkulturen, die Arbeiterklasse, das Erziehungs- und Schulbildungssystem, die staatliche Macht, die populären Medien und in einem immer stärkeren Maße die Medienkultur dar. Die mit diesen Gegenständen verbundene Hinwendung zur Funktion und Rolle der (Populär-)Kultur in der Gegenwartskultur wirft nicht nur Fragen nach Wechselwirkungen mit der kulturwissenschaftlichen Forschung, sondern auch nach den einzelnen Entwicklungspunkten innerhalb des Cultural Studies Approach selber auf, die die Besonderheit des Ansatzes in der Behandlung der Populär- und Medienkultur erklären helfen (vgl. Couldry 2000). Die Besonderheiten der Cultural-Studies-Perspektive erklären sich zu einem Teil aus der Situation der 1950er Jahre, in der eine Reihe noch junger Kultur- und Literaturwissenschaftler eine Reorientierung in der Kulturanalyse unternahmen. Die britischen Cultural Studies haben ihren Ursprung, wie Andrew Milner zusammenfassend herausstellt „[…] in a very specific theoretical ‚conjuncture‘, that of the 1950s, in which cultural debate had appeared deadlocked between the cruder economic determinisms of much Communist Marxism and the seemingly endemic political conservatism and cultural elitism of the Lea-
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visites. The kind of cultural theory which emerged from that deadlock would eventually be represented in post-structuralist retrospect as ‚culturalism‘, but is more acurately described as ‚left culturalism‘“ (Milner 1994: 45).
Die weitere Entwicklung der Cultural Studies seit diesem Zeitraum lässt sich im Schnittpunkt von kulturalistischen und strukturalistischen Theorien verorten. Dabei ist es nicht unwesentlich, dass das kulturalistische Standbein der Cultural Studies bis in die Frühzeit der 1950er und 1960er Jahre des letzten Jahrhunderts zurückreicht, während die Aufnahme des strukturalistischen Paradigmas wesentlich erst in den siebziger Jahren erfolgte. Bestimmen diese beiden Theoriestränge doch auch die unter der Leitung Stuart Halls im Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham (CCCS) entwickelte Kulturtheorie, von der die zentralen Impulse in der Alltags- und auch Populärkulturforschung seit Mitte der 1970er Jahre ausgingen. Die Bedeutung des kulturalistischen Standbeins besteht vor allem darin, der für die Cultural Studies typischen Perspektive auf die Alltags- und Populärkultur mit einem neuen, erweiterten Kulturbegriff („culture as a whole way of life“) den Weg geebnet zu haben, während das strukturalistische Paradigma seinen Anteil an der Auffassung von der gesellschaftlichen bzw. kulturellen Wirklichkeitskonstruktion hat. Beide Positionen weisen dabei in ihrer Entstehung einen deutlichen Bezug zum westlichen Marxismus auf, der in den Folgejahren dann mit den Bezeichungen Kulturalismus und Strukturalismus vor allem für nachfolgende Generationen in den Hintergrund getreten ist. Einen nicht unerheblichen Anteil daran trägt nach Milner (2002) gerade Halls (1981) entscheidender Aufsatz über die soeben in ihren Grundlinien bereits angesprochenen beiden grundlegenden Cultural-Studies-Paradigmen. Für die Entwicklung der kulturalistischen Perspektive lassen sich nach der von Hall in diesem Text frühzeitig bereits herausgearbeiteten Unterscheidung zwei Phasen unterscheiden. Neben einer als „left-culturalism“ bezeichneten Phase der 1950er und 1960er Jahre, in denen Personen wie Richard Hoggart, E.P. Thompson und Raymond Williams eine zentrale Rolle spielen, sind die 1970er und 1980er Jahre durch den auf Raymond Williams zurück gehenden Ansatz des „kulturellen Materialismus“ bestimmt. Das Produkt dieser Phase bildet den Schwerpunkt der nachfolgenden Betrachtung, das hier einleitend in seiner Genese wie in seinen wesentlichen Grenzziehungen diskutiert wird. Bei der Aufnahme der strukturalistischen Perspektive ist eine vergleichbare Phaseneinteilung nicht so einfach, da zumindest in England eine Reihe von Querverbindungen bzw. Überschneidungen mit der kulturalistischen bzw. marxistischen Position bestehen, wie sie sich u.a. in der Rezeption Althussers und Gramscis zeigt. Trotz der unterschiedlichen Entwicklungslinien in den 1970er und 1980er Jahren kommt den kulturalistischen und strukturalistischen Strängen nach Hall bei der Herausbildung der Cultural Studies dennoch eine gleich gewichtige Bedeutung bei. Beide Stränge weisen auch für ihn eine Reihe von Überschneidungen auf, die sich im Wesentlichen auf die Integration sprachtheoretischer Elemente in die Kulturtheorie beziehen, wobei die Theoriebildung in beiden Strängen marxistisch orientiert blieb, nicht ohne – und das ist eine weitere entscheidende Gemeinsamkeit – mit dem Basis-Überbaumodell zu brechen. Maßgeblicher als diese Gemeinsamkeiten waren
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in den 1970er Jahren aber die Hauptunterscheidungspunkte beider Theoriekonzepte. Während die kulturalistischen Ansätze die Erfahrungskategorie und kulturelle Praxen in den Vordergrund stellten, stand in der strukturalistischen Perspektive die Herausarbeitung der die Erfahrung leitenden bzw. determinierenden Strukturen im Vordergrund, die erlauben, die Erfahrungskategorie u.a. von ideologiekritischer Seite zu differenzieren. Ein Hauptunterschied zwischen dem strukturalistischen und dem kulturalistischen Paradigma lässt sich exemplarisch an der Gramsci-Rezeption und der Einbindung des Hegemoniekonzepts verdeutlichen. Im strukturalistischen Paradigma erscheint Hegemonie vornehmlich als ideologisches oder diskurstheoretisches Problemfeld. Im kulturalistischen Ansatz – etwa bei Williams – ist Hegemonie materiell, d.h. als Prozess unterschiedlicher und in Beziehung miteinander stehender kultureller Praxen konzipiert. Milner fasst den daraus resultierenden Unterschied für die Analyse kultureller Prozesse folgendermaßen zusammen: „Hegemony as culture is a matter of material production, reproduction and consumption, hegemony as structure is a matter for textual decoding“ (Milner 1993: 81). Die aus den Unterschieden und Gemeinsamkeiten ableitbaren Stärken und Schwächen, die Hall in seinem Aufsatz aus den beiden Theoriesträngen herausarbeitet, dienen ihm zur Begründung einer theoretischen Konzeption, die in einer Zusammenführung bzw. wechselseitigen Ergänzung beider Perspektiven mündet. Die Forschungsperspektive, die Hall entwickelt hat, hat u.a. den Anstoß für die Erforschung der Bedeutungskonstruktion von Rezipienten im Umgang mit Medienangeboten gegeben, wobei die Beziehung mit der Produktionsseite mit im Mittelpunkt des Interesses stand. Halls Stellungnahme zum kulturalistischen und strukturalistischen Paradigma lässt sich auch als vorausschauende Kritik an der amerikanischen Cultural Studies Entwicklung der späten 1980er und frühen 1990er Jahre sehen, in der diese unter vorwiegend (post)strukturalistischen Vorzeichen erfolgte, was Hall als zu einseitig erachtet, denn „[…] neither ‚culturalism‘ nor ‚structuralism‘ is, in its present manifestation, adequate to the task of constructing the study of culture as a conceptually clarified and theoretically informed domain of study“ (Hall 1981: 30). Vor dem Hintergrund dieser theoretischen Entwicklungslinien des Cultural Studies Approach möchte ich nachfolgend der Frage nachgehen, welche Rolle das kulturalistische Paradigma, so wie es im Konzept des kulturellen Materialismus von Williams weiterentwickelt wurde, in den Cultural Studies spielen kann. Die Frage nach der Bedeutung des kulturalistischen Paradigmas ist besonders nach Williams Tod 1988 in zahlreichen Publikationen diskutiert worden. Andrew Milner hat zu diesem Thema zwei umfassende Monografien vorgelegt (vgl. Milner 1993 u. 2002), die den bis hier im Überblick dargestellten Verbindungspunkten und Wechselwirkungen detailliert nachgehen und die Stellung von Williams Konzept des kulturellen Materialismus für die weitere Theoriebildung in den Cultural Studies heraus arbeiten2. Der Rolle dieses Konzepts werde ich in diesem Beitrag allein an Hand der medientheoretischen Implikationen nachgehen. Wegen der Fülle an Beziehungspunkten können bei weitem nicht alle berücksichtigt werden. Für weiter führende
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kulturtheoretische Aspekte des kulturellen Materialismus haben meine Ausführungen daher nur einführenden Charakter in die Grundlinien von Williams‘ Konzept des kulturellen Materialismus (vgl. ausführlicher Göttlich 1996 und mit Blick auf die medientheoretischen Bezüge ebenfalls Göttlich 1997 u. 2003). Im Mittelpunkt dieses Beitrags stehen also Verknüpfungsmöglichkeiten des kulturellen Materialismus mit medientheoretischen Grundfragen. Die dieser Auseinandersetzung zugrundeliegende These lautet: In dem vielschichtigen Beziehungsgefüge strukturalistischer und kulturalistischer Paradigmen erlaubt der Ansatz des kulturellen Materialismus die Überwindung einiger begrifflicher und theoretischer Verkürzungen, die in den letzten Jahren wegen der beinahe ausschließlichen Konzentration auf strukturalistische Konzepte innerhalb der Cultural Studies aufgetreten sind und die schließlich in dem Vorwurf des „kulturellen Populismus“ gipfelten. Der von Jim McGuigan (1992) geäußerte Vorwurf des „kulturellen Populismus“ wendete sich dagegen, dass die auf pluralistische und individuelle Einstellungen sowie Rezeptionsweisen zielenden Untersuchungen in den „audience studies“ die Analyse ökonomischer, soziokultureller wie technologischer Faktoren gesellschaftlicher Entwicklung so gut wie ausgeblendet bzw. an die Seite gedrängt hatten. Es handelt sich um jene Beziehungen, die in Halls Modell noch selbstverständlich mitgedacht waren, dann aber in Folge theoretischer Vereinseitigungen nicht mehr ausreichend Behandlung fanden. Innerhalb der medienwissenschaftlichen Orientierung der Cultural Studies richtet sich diese Kritik vor allem gegen die Arbeiten John Fiskes (vgl. u.a. Fiske 1989a u. 1989b), dem die Ausblendung der Produktionsseite des Medienangebots und damit auch der Fragen, wie das Publikum produziert wird, vorwiegend angelastet wird. Generell bezieht sich die Kritik auf die Problemstellung, wie das Beziehungsgefüge kultureller Praxen theoretisch zu konzeptualisieren ist, so dass die Gegebenheiten materieller kultureller Produktion, Konsumtion und Reproduktion zentraler Gegenstand der Cultural Studies sind, ohne dass die notwendige Konzentration auf Dekodierungs- und damit Rezeptionsfragen diese anspruchsvolle theoretische Konzeption zu unterlaufen drohen, wie es in den Augen mancher Kritiker bereits geschehen ist (vgl. Göttlich 2003). Mit dieser Kritik war nicht ausgesagt, dass die in den Cultural Studies erfolgte Hinwendung zum Publikum in den „Audience Studies“ eine Fehlentwicklung darstellt. Das Gegenteil ist der Fall. Die Kritik galt aber zu Recht der Tendenz, dass mit den vorwiegend (post)strukturalistischen Konzepten Gesellschaft analytisch in eine Reihe unvermittelter Ebenen oder Bereiche aufgelöst wird (vgl. Curran 1996: 259). Der Vorwurf des „kulturellen Populismus“ richtete sich besonders gegen die damit verbundenen „entpolitisierenden“ Konsequenzen der Theoriebildung, die nach Ansicht der Kritiker in eine bloße Verdopplung individualistischer Reaktionsformen mündet, ohne weiterführende kultur- und gesellschaftstheoretische Fragen zu stellen (vgl. hierzu erneut Couldry 2000: 44ff). Vor diesem theoriegeschichtlichen Hintergrund versteht sich Williams‘ Konzept des „kulturellen Materialismus“ als eine Theorie der Besonderheiten kultureller Produktion und Reproduktion, in deren Mittelpunkt die vernachlässigten Fragen nach
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dem Zusammenhang des Kulturprozesses stehen, die u.a. auf Formen materieller gesellschaftlicher sowie kultureller Symbol- oder Zeichenpraxis ruhen bzw. von diesen Prozessen ihren Ausgang nehmen. Ähnlich wie im Strukturalismus und Poststrukturalismus ist auch bei Williams die Sprache Ausgangs- und Bezugspunkt der kulturwissenschaftlichen Reflexion und dient einer Veranschaulichung des Verhältnisses bzw. der Relationen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereiche. Kulturanalyse wird von Williams als die Analyse von „Beziehungsmustern“ („patterns of relationship“) eines prozessualen Zusammenhangs konzipiert, der auf unterschiedlichen Formen gesellschaftlicher, kultureller und damit materieller „Symboloder Zeichenpraxis“ („signifying practice“) ruht. Gegenüber strukturalistischen Positionen wird Kultur konsequent als materialistischer Prozess verstanden, wobei Sprache als praktisches Bewusstsein gilt, wozu die unterschiedlichen technischen und materiellen Gegebenheiten von „Aufschreibesystemen“ hinzukommen, in denen sich Sprache sozusagen in unterschiedlichen Formen materialisiert (vgl. dazu Williams 1980: 243). Im Zentrum der Aufmerksamkeit steht somit der in Institutionen, Organisationen und kulturellen Formationen ablaufende Gesellschaftsprozess, der zur Herausbildung unterschiedlicher Formen gesellschaftlicher und kultureller „Symbol- oder Zeichenpraxis“ („signifying practice“) führt, wobei Kultur nun ganz allgemein als „signifying system“ – also Bedeutungssystem – verstanden wird. Diese Kulturauffassung ist das Ergebnis einer Reformulierung der die Cultural Studies-Entwicklung mitbegründenden Kulturbegrifflichkeit. Als entscheidendes Ergebnis der kulturalistischen Perspektive aus den 1950er Jahren – die zentral mit Williams‘ Arbeiten „Culture and Society“ (1958) und „The Long Revolution“ (1961) verbunden ist – gilt, dass ‚Kultur‘ nicht als „abstraktes Ideal“ oder als „Korpus geistiger und imaginativer Werke“ begriffen wird, sondern vielmehr als „whole way of life“ – der durchaus klassenbedingt ist – verstanden wurde. Kultur steht damit nicht, wie in der romantischen oder konservativen Kulturauffassung der Gesellschaft oder der Industrie als separate Sphäre – oder wie im traditionellen Marxismus, als über Produktionsweisen ausgegrenzte Sphäre – gegenüber. Sucht man in der Behandlung dieser Frage nach Gemeinsamkeiten in der Genese von Cultural Studies und Kultursoziologie, dann können sie darin gesehen werden, dass beide „Traditionen“ in den exemplarischen Personen von Herder und Coleridge eine literaturkritisch begründete Annäherung an das Verhältnis von Kultur und Gesellschaft auszeichnet, bei der die Kultur antithetisch den Kräften der Industrialisierung und der materiellen Zivilisation gegenüber gestellt wird. Während diese Denktradition in Deutschland über Tönnies und Weber in die Soziologie mündete und in Konzepten wie Gemeinschaft und Gesellschaft oder Wertrationalität und Zweckrationalität fortentwickelt und differenziert wurde, blieb sie in England bis in die fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts hinein der akademischen Tradition der English Studies, also der Literaturwissenschaft, verbunden. Die für die Cultural Studies-Genese wichtige Umorientierung der 1950er Jahre geschah durch eine Kritik der kulturkonservativen Position von F.R. Leavis, der die
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„literarische“ Tradition mit ihrem kulturkonservativen Konzept u.a. mit der Zeitschrift Scrutiny vertrat, und in einer Kritik der vulgärmarxistischen Vorstellung, die in ökonomischen Determinismus am Nachhaltigsten zum Ausdruck kam. Vor diesem theoriegeschichtlichen Hintergrund zielt Williams mit seiner am Ausgangspunkt der Cultural Studies Entwicklung stehenden Perspektive auf eine, wie er selber definiert: „[…] gesellschaftliche Bestimmung der Kultur, in der diese als Beschreibung einer bestimmten Lebensweise erscheint, deren Werte sich nicht nur in Kunst und Erziehung ausdrücken, sondern auch in Institutionen und im ganz gewöhnlichen Verhalten. Demnach hätte eine Analyse von Kultur eine Klärung der Bedeutungen und Werte zu besorgen, die von einer bestimmten Lebensweise, einer bestimmten Kultur implizit oder explizit verkörpert werden.“ (Williams 1977b: 45)
Der in den 1970er Jahren von Williams formulierte Ansatz des kulturellen Materialismus, baut auf das Erreichte dieser Frühphase auf, geht aber an entscheidenden theoretischen Stellen über den damaligen Lösungsansatz zur Bestimmung des Zusammenhangs gesellschaftlicher und kultureller Strukturen hinaus und beschreitet damit auch einen von den Cultural Studies des mittlerweile geschlossenen Birminghamer Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS) unterscheidbaren Weg; neben einer Reihe fortbestehender Gemeinsamkeiten (vgl. bes. Williams 1977a u. 1981). Insbesondere findet in Williams Ansatz die marxsche Basis-Überbaukonzeption eine eigenständige theoretische Überwindung bzw. Reformulierung, ohne dass er dazu auf strukturalistische Konzeptionen eingeht, wie sie die meisten Cultural Studies-Vertreter u.a. im CCCS verfolgt haben. Im gewissen Sinne zielte der kulturelle Materialismus zunächst auf das, was seit den 1970er Jahren auch in anderen Reformulierungsversuchen der materialistischen Theoriebildung mit Blick auf die Kultur- und Gesellschaftsanalyse versucht wurde: die „Konstruktion einer angemessenen Theorie des sozialen Raums“ (Bourdieu 1985: 9). Und diese erzwang geradezu eine Überwindung des nicht umsonst schon lange in der Kritik stehenden marxistischen Basis/Überbaumodells, dass kulturelle Phänomene zu einer abgeleiteten bzw. determinierten Größe machte. Die für die zahlreichen Reformulierungsversuche der materialistischen Theoriebildung entscheidenden Ausgangspunkte zu einer solchen Theorie lassen sich an Hand von Bourdieus zu Beginn der 1980er Jahre erhobenen Forderungen an die materialistische Theoriebildung im Überblick erfassen. Nach Bourdieu geht es um vier Brüche, die die unterschiedlichen, mit der Reformulierung der marxschen Theorie befassten Ansätze bei der „Konstruktion einer angemessenen Theorie des sozialen Raums“ (ebd.) auf ihre Art mehr oder weniger umfassend verfolgt und umgesetzt haben. Es handelte sich zunächst um einen Bruch „[…] mit der tendenziellen Privilegierung der Substanzen – im vorliegenden Fall die realen Gruppen, deren Stärke, Mitglieder, Grenzen man zu bestimmen sucht – auf Kosten der Relationen; Bruch aber auch mit der intellektualistischen Illusion, als bilde die vom Wissenschaftler entworfene theoretische Klasse eine reale Klasse oder tatsächlich mobilisierte Gruppe; Bruch sodann mit dem Ökonomismus, der das Feld des Sozialen, einen mehrdimensionalen Raum, auf das Feld des Ökonomischen verkürzt, auf ökonomische Produktionsverhältnisse, die damit zu den Koordinaten der sozialen Position werden; Bruch schließlich mit dem Objekti-
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vismus, der, parallel zum Intellektualismus, die symbolischen Auseinandersetzungen und Kämpfe unterschlägt, die innerhalb der verschiedenen Felder ausgetragen werden und in denen es neben der Repräsentation der sozialen Welt um die Rangfolge innerhalb jedes einzelnen Feldes wie deren Gesamtheit geht.“ (Bourdieu 1985: 9, Herv. i.O.)
Zur Begründung einer solchen anspruchsvollen kulturtheoretischen Konzeption geht Williams von der Rolle der Sprache im gesellschaftlichen und kulturellen Prozess aus. Der erweiterte Kulturbegriff, mit dem Kultur als „whole way of life“ verstanden wurde, verändert sich damit – wie dargelegt – zu einer Kulturauffassung, in der Kultur schließlich als „signifying system“ – als Bedeutungssystem – aufgefasst wird. Zu diesem Schritt heißt es bei Williams: „Thus the distinction of culture, in the broadest or in the narrowest sense, as a realized signifying system, is meant not only to make room for study of manifestly signifying institutions, practices and works, but by this emphasis to activate study of the relations between these and other institutions, practices and work“ (Williams 198: 208f.).
Dabei erscheint es nur konsequent, wenn Williams zur Begründung dieses Schritts zu Beginn der siebziger Jahre an den damals verstärkt in der Diskussion stehenden Ansatz von Voloinov anschließt. Williams verfolgt mit seiner Anlehnung an Voloinov eine bereits von Marx getroffene Feststellung, dass Sprache „das praktische, auch für andre [sic!] Menschen existierende, also auch für mich selbst existierende wirkliche Bewusstsein […]“ ist (MEW 3: 30). Ausgehend von dieser Bestimmung gilt Sprache für Williams als ein konstitutives Element der menschlichen, sprich materiellen (sozialen) Produktion und Reproduktion und tritt damit gleichrangig neben die ökonomischen Faktoren gesellschaftlicher Reproduktion. Zusammenfassend heißt es dazu bei Williams: „Signification, the social creation of meanings through the use of formal signs, is then a practical material activity; it is indeed, literally, a means of production. It is a specific form of that practical consciousness which is inseparable from all social material activity. […] It is, on the contrary, at once a distinctive material process – the making of signs – and, in the central quality of its distinctiveness as practical consciousness, is involved from the beginning in all other human social and material activity.“ (Williams 1977a: 38, Hervorh. i.O.)
In dieser Formulierung treffen wir zugleich auch auf die nachhaltige Begründung zur Überwindung des Basis/Überbaukonzepts. In Williams‘ Konzeption sind kulturelle Praxen – und zu diesen gehören danach auch Zeichensysteme – entscheidende Elemente der gesellschaftlichen Ordnung und nicht in irgendeiner Form von der ökonomischen Basis determinierte oder abgeleitete Erscheinungen. Zu dieser Konzeption führt er genauer aus: „ […] ‚cultural practice‘ and ‚cultural production‘ […] are not simply derived from an otherwise constituted social order but are themselves major elements in its constitution […] it sees culture as the signifying system through which necessarily […] a social order is communicated, reproduced, experienced and explored.“ (Williams 1981: 12-13, Hervorh. i.O.)
Die Annahme einer Materialität von Zeichen bedeutet demnach, dass Zeichen als Teil dieser gesellschaftlich vermittelten psychischen und materiellen Welt verstanden werden können, womit diese nicht voraussetzungslos als Teil dieser Realität vorliegen. Ein gesellschaftlich und kulturell ablaufender aktiver Bedeutungsprozess
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macht sie erst zu einem entscheidenden Faktor gesellschaftlicher Produktion und Reproduktion. Dazu heißt es bei Williams: „It is precisely the sense of language as an indissoluble element of human self-creation that gives any acceptable meaning to its description as ‚constitutive‘. To make it precede all other connected activities is to claim something quite different. The idea of language as constitutive is always in danger of this kind of reduction.“ (Williams 1977a: 29)
Voloinovs Stärke liegt für Williams zu der Zeit besonders darin, dass er das Sprachproblem in einer marxistischen Orientierung durchdacht hat und nicht darin, dass er marxsche Konzepte zur Lösung sprachphilosophischer Probleme angewandt hat. Die mit dieser Konzeption erfolgte Grenzziehung bzw. beabsichtigte Überwindung Saussures bzw. des „abstrakten Objektivismus“ kann ich an dieser Stelle leider nicht vertiefend ausführen. Wichtig für die medientheoretischen Leistung des kulturellen Materialismus ist, dass Sprache als konstitutives Element materieller sozialer Praxis gefasst werden kann, womit die für die Theoriebildung grundlegende Auffassung von der Materialität kultureller Produktion gestützt wird (vgl. auch Milner 1994: 58f.). Medien- und kulturtheoretisch zentral an diesem Schritt ist, dass über die Sprache die soziale und kulturelle Praxis oder „Verständigungspraxis“ in den Mittelpunkt der u.a. auf Institutionen und die Rolle der Medien(technik) bezogenen Überlegungen gestellt werden kann. Die Möglichkeit dazu ergibt sich über die im Konzept des kulturellen Materialismus angelegte Konzentration auf die Trias von Technik, sozialen Institutionen und Sprache resp. Kommunikation als materielle Organisationsform spezifischer Zeichensysteme. Von dieser Feststellung ausgehend ergeben sich dann auch die weiter führenden medientheoretisch relevanten Schritte des kulturellen Materialismus. Denn die Wahrnehmung der Kultur – im weiteren als auch im engeren Sinne – als Bedeutungssystem (oder Zeichensystem) bereitet nicht nur Platz für das Studium bereits bestehender Bedeutungsinstitutionen, Praktiken und Arbeiten, sondern soll auch das Studium der Beziehung zwischen diesen und anderen Institutionen, Praxen und Arbeiten sowie Formen und Genres ermöglichen (vgl. Williams 1981: 208). Die an Hand von Voloinov nachvollzogene Ableitung der Materialität der Sprache setzt Williams in der Reformulierung seines Kulturbegriffs gezielt zur theoretischen Profilierung der medientheoretisch relevanten Bestimmung der Sprache als Produktionsmittel ein. Damit sind wir bei dem Ausgangspunkt seiner Theoriebildung angekommen, von dem ausgehend er schließlich auch die Kommunikationsmittel als Produktionsmittel auffasst. Die grundsätzliche kultur- und medientheoretische Fragestellung, auf die der kulturelle Materialismus eine Antwort versucht, lässt sich folgendermaßen umschreiben: Es geht um die Erforschung von spezifischen Informations- und Bedeutungsprozessen und deren Entwicklung zu institutionalisierten Informations- oder Kommunikationssystemen (z.B. der Werbung), die aus Veränderungen in der Gesellschaft und der Ökonomie erklärt werden soll, wozu besonders die Analyse der inhaltlichen Seite gehört, deren Veränderung und Entwicklung aus unterschiedlichen organisatorischen Anforderungen sowie wechselnden Interessenlagen verstanden werden
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kann. Ausdrücklich ist das eine historische, wie eine auf die Erfassung gegenwärtiger kultureller wie gesellschaftlicher Prozesse gerichtete Aufgabe. Die Frage der gesellschaftlichen Reproduktion wird durch diesen Schritt jedoch überwiegend auf die symbolvermittelte Ebene der Kultur und der an ihrer Entstehung beteiligten materiellen Aspekte verlagert. Das Schwergewicht der Untersuchung wird vorwiegend auf jene Prozesse gelenkt, in denen Medien neue Beziehungen zwischen unterschiedlichen Sozial- und Kulturbereichen stiften und neue Handlungsformen und Interaktionsweisen von Individuen begründen helfen. Ein Nachteil dieser Art der Theoriebildung besteht darin, dass die im Bereich der gesellschaftlichen Arbeit angesiedelten Produktivkräfte und Produktionsmittel nicht weiter in ihrer Rolle für die gesellschaftliche Reproduktion erfasst werden. Das muss für einen kulturtheoretischen Zugang zunächst keine Einschränkung bedeuten. Wenn aber Kommunikationstechniken und Sprache gleichermaßen als produktive Faktoren verstanden werden sollen, bedarf es doch einer deutlicheren Unterscheidung der an der gesellschaftlichen Reproduktion beteiligten Produktivkräfte. Williams umgeht diese Problemstellung, indem er die von ihm berührten Elemente gesellschaftlicher und kultureller Reproduktion – wie gesagt – auf ihrer Beziehungsebene thematisiert und nicht die Frage gesellschaftlicher Reproduktion von der Rolle der Produktivkraftentwicklung aus verfolgt. Diese Stufe wird vielmehr sogar als gegeben vorausgesetzt. Die gesellschaftlichen und kulturellen Veränderungen, die auf einen Wandel der Produktionsverhältnisse zurück geführt werden können, thematisiert und verfolgt Williams daher auch nur auf der Beziehungsebene. Eine solche Konzeption hat entscheidende Konsequenzen für den Medienbegriff und die Formulierung einer kritischen Medientheorie, die im kulturellen Materialismus mit angelegt ist. Zur Annäherung an die Problemstellung sollte man sich folgende Entwicklung der Massenkommunikation vor Augen führen. Schon jetzt hat sich die Massenkommunikation als Folge der Kanal- und Sendervermehrung derart verändert, dass das Hantieren mit fiktionalen Konstruktionen im Vordergrund des medientheoretischen Interesses steht. Traditionelle wirkungstheoretische Annahmen stoßen damit bereits dort an ihre Grenzen, wo – wie nicht zuletzt das Konzept der Polysemie aufzeigt – nicht mehr der Text oder die Botschaft, sondern der Kontext über Bedeutungen entscheidet, in der der Rezipient seine Bedeutungszuschreibungen vornimmt. Massenkommunikation verändert sich darüber hinaus mit der schrittweisen Herausbildung „entgrenzter Medien“ (vgl. Schulze 1995: 364), womit sich eigene „Medienrealitäten“ bilden, die in der Alltagskultur gegenüber Bereichen unmediatisierter Erfahrung immer bedeutender werden. Mit dem Übergang zu „entgrenzten Medien“ deutet sich am offensichtlichsten die Auflösung dessen an, was wir unter Kanal verstehen. Mit der gleichzeitigen Hinwendung zum aktiven Zuschauer kommt verstärkt die kulturelle Alltagspraxis der Medienaneignung und Bedeutungskonstruktion in den Blickpunkt. Das für das Verständnis der ‚Medienkultur‘ notwendige Wechselverhältnis zwischen kultureller Formiertheit der Medien und deren Rolle in der gesellschaftlichen Kommunikation wird in den bekannten Medienbegriffen auf Grund begrifflicher Schwächen dabei nur unzureichend thematisiert, selbst da, wo es
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als existent angenommen wird und sogar im Blickfeld der Theorie steht. Dabei ist es gerade dieses Verhältnis, was sich im aktuellen Medienwandel qualitativ ändert. Williams‘ von der Sprache als anthropologischer wie gesellschaftlicher Voraussetzung ausgehende kultur- und medientheoretische Ansatz erlaubt es nun, ein zur genaueren Beschreibung dieser Entwicklung neues Medienverständnis zu formulieren, in dem ‚Medien‘ als Ausdruck und Durchgangspunkt des sich wandelnden praktischen Bewusstseins gelten. Diesen Schluss hat Williams in seinen Arbeiten begrifflich zwar nicht gezogen, folgern lässt er sich aber aus seinem Ansatz. Verdeutlichen lässt sich das vor allem an den Stellen, an denen der aktive Prozess der Beziehungsstiftung zwischen unterschiedlichen Sozial- und Kulturbereichen im Mittelpunkt des Interesses steht und der Aspekt bzw. Prozess der Herausbildung neuer Handlungs- und Informationsweisen besondere Aufmerksamkeit erfährt. Folgende Textstelle, die Williams auf die Rolle der Sprache bezieht, deren Gehalt sich aber von der Betrachtung der Sprache abheben und auf Medien übertragen lässt, bringt diese Vorstellung besonders deutlich zum Ausdruck: „A new technique has often been seen, realistically, as a new relationship, or as depending on a new relationship. Thus what had been isolated as a medium, in many ways rightly as a way of emphasising the material production which any art must be, came to be seen, inevitably, as social practice; or, in the crisis of modern cultural production, as a crisis of social practice. […] For it is at once a material practice and a process in which many complex activities, of a less manifestly material kind – from information to interaction, from representation to imagination and from abstract thought to immediate emotion – are specifically realized.“ (Williams 1977a: 163f.)
Medien sind damit keine bloßen Kanäle mit der Aufgabe, Funktion oder Rolle gesellschaftlicher Reproduktion, sondern Praxiszusammenhänge, in und über die die soziale Reproduktion durch Kommunikation und kulturelle Bedeutungsprozesse „vermittelt“ ist. Medien sind im weiteren damit auch keine Objekte oder Artefakte, an denen und mit denen sich soziale Praxis vollzieht. Medien sind vielmehr selbst Ausdruck praktischen Bewusstseins und formieren als Durchgangspunkte und damit eben nicht als Kreuzungspunkte sozialer und kultureller Praxen und deren Vermittlung. Medien sind damit mehr „[…] than new technologies, in the limited sense. They are means of production, developed in direct if complex relations with profoundly changing and extending social and cultural relationships: changes elsewhere recognizable as deep political and economic transformations“ (Williams 1977a: 54). Für die Analyse gegenwärtiger Entwicklungen ergibt sich aus dieser Konzeption unter anderem folgende historische Aufgabenstellung: „The complex relationship […] needs specifically historical exploration, for it is in the movement from the production of language by human physical resource alone, through the material history of the production of other resources and of the problems of both technology and notation then involved in them, to the active social history of the complex of communicative systems which are now so important a part of the material productive process itself, that the dynamics of social language – its development of new means of production within a basic means of production – must be found.“ (Williams 1977a: 41)
Verglichen mit strukturalistischen Konzeptionen, von denen sich der kulturelle Materialismus abhebt, sind es keine Diskurse, die Williams in seiner Theoriebildung
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interessieren, sondern Formationen, in denen u.a. Diskurse (ent)stehen, aber nicht Formationen, die durch Diskurse entstehen. Diese Trennung oder Unterscheidung zu poststrukturalistischen Konzeptionen scheint mir nicht unwesentlich, weil sie weiterhin von der Materialität des gesellschaftlichen und kulturellen Prozesses auszugehen erlaubt und den Kultur- mit dem Strukturblick auf eigenständige Art verbindet (vgl. Bauer 2003). Es geht Williams um Materialität, die – wie man gegenüber dem Poststrukturalismus argumentieren muss –, vordiskursiv besteht und Bestand hat und von der auch Diskurse nicht unabhängig sind, da sie an Strukturen gesellschaftlicher Reproduktion zurück gebunden sind, auch wenn diese nur auf der Beziehungsebene und nicht mehr im engeren marxistischen Sinne von der Seite der Produktivkraftentwicklung verfolgt werden. In der Herausarbeitung und Betonung der Beziehungsebene und von (kontextgebundenen) Relationen – angefangen bei der Rolle und Stellung der Medientechnik über die Ökonomie und die Institutionen und Organisatioen – sehe ich die zentrale Bedeutung des kulturellen Materialismus für die medienwissenschaftliche Orientierung innerhalb der Cultural Studies. U. a. wird es so möglich, die Perspektiven, die beinahe ausschließlich nur noch das Text/Leser Verhältnis beachten, auf spezifische Art in die kultur- und medientheoretische Reflexion zurück zu binden, in der sie auf Teile eines komplizierten Beziehungsgefüges eingehen, das auf die materialistische Ebene zu beziehen ist, um medientheoretische Ansprüche umfassend einlösen zu können. So wäre z.B. nachhaltiger als bislang in den Cultural Studies geschehen zu klären, wie Texte im kulturellen Produktionszusammenhang entstehen und wie sich das Publikum durch die Institutionen gesellschaftlicher Kommunikation formiert bzw. produziert wird und welchem Wandel Publikumsgruppen zu unterschiedlichen Zeiten unterliegen. Die Cultural Studies müssen eine Möglichkeit findet, die ‚Enkodierungsfrage‘ wieder stärker in das Blickfeld zu bekommen und diese dann auf neue Art mit der ‚Decodierungsfrage‘ zu verknüpfen. In Halls grundlegendem Aufsatz „Encoding/Decoding“ (Hall 1980) sind beide Seite noch gleich gewichtig genannt. Die Entwicklung der Cultural Studies hat sich seitdem aber stärker auf das „Decoding-Problem“ konzentriert. Diese von mir in Anschluss an Williams‘ Überlegungen vorgeschlagene kulturwissenschaftliche Ausrichtung des Medienbegriffs bedeutet nun nicht, das der Medienbegriff aufgelöst wird und nur noch die kulturellen Praxen oder Zeichensysteme in ihrer Verbindung mit Techniken im Vordergrund stehen. Vielmehr geht es darum, deutlicher als bislang in den Cultural Studies herausarbeiten zu können, dass die spezifischen „Eigenschaften“ der unterschiedlichen Medien und ihre Technologie im Zusammenhang zu sehen sind mit den besonderen historischen und kulturellen Umständen und Absichten und Interessen, die in Institutionen und Formationen gestützt und ausgebildet werden (vgl. Göttlich 2003). Was dieser Medienbegriff oder besser dieses Verständnis von Medien als Durchgangspunkte sozialer Praxis für die Formulierung einer kritischen Medientheorie bedeutet, kann ich an dieser Stelle nicht im einzelnen ausführen (vgl. dazu Göttlich 1996, 2004). Statt dessen kann ich nur einen ersten Überblick über die
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mit dieser Konzeption möglich gewordenen Orientierung bieten: Die Quintessenz dieses Ansatzes besteht vereinfacht gesprochen darin, gesellschaftliche Kommunikation, den Einsatz der Kommunikationstechnologien und die Zeichensysteme deutlicher als in Ansätzen, die etwa dem strukturalistischen Paradigma folgen, als soziale und kulturelle Praxen auffassen zu können, die in spezifischer, d.h. gesellschaftlicher, ökonomischer, generell in materieller Relation miteinander stehen. Damit gilt es die Praxismomente, die dieses Verhältnis regeln, selbst schon als bedeutungsformierend zu erfassen. Der ‚Kanal‘ selber ist schon kulturell geprägt und diese kulturelle bzw. materielle Prägung wirkt in die Kommunikation zurück, bzw. ist ebenfalls diskursformierend. Aber Diskurse formieren an dieser Stelle keineswegs die Materialität der Medien, die dem hier erarbeiteten Verständnis nach keineswegs nur technisch ist. Als vorrangiges Aufgabenfeld einer – folgt man Williams – so verstandenen „Medienforschung“ ergibt sich, dass diese „[…] [is] necessarily concerned, in historical and materialist ways, with the specific technologies which are now their dominant forms, but with these technologies as systems of signs and not an abstracted technical level. Moreover, since at this level the technologies are necessarily seen as new and advanced forms of social organisation, there is a basis for reworking not only the analysis of content (which is always a content of relationships) but also the analysis of institutions and formations (which are never independent […].“ (Williams 1976a: 505)
Für eine kritische Medientheorie stellt sich im Forschungsprozess dann u.a. folgender Zusammenhang dar, den es analytisch in seinen einzelnen Beziehungsebenen zu erfassen gilt: Das institutionell geregelte und vermittelte alltagskulturelle Handlungsfeld, die „popular culture of everyday life“ ist einer der Orte, an dem die Bedingungen des Medieneinsatzes neben den institutionellen Orten der Produktion ausgehandelt und gestiftet werden. Mit Blick auf dieses Wechselverhältnis ergibt sich die Möglichkeit zur institutionellen Kritik, die auf eine Rückgewinnung entfremdeter Praxis- und Handlungsfelder im Sinne eines emanzipativen Medieneinsatzes zielt. Ausgangspunkt dafür wäre eine Analyse des fortschreitenden Rationalisierungsprozesses der neuen ‚Technokultur‘, wobei sich der Blick auf die unterschiedlichen Integrationsweisen und Entwicklungsformen der Medientechnik in das institutionelle Gefüge der Gesellschaft und in die Alltagskultur zu richten hat. Allgemein gesprochen verweist diese Perspektive darauf, dass der Kultur- und Mediensektor im Spannungsfeld von gesellschaftlichen Rationalisierungszwängen gegenüber Prozessen kultureller Differenzierung und Pluralisierung zu verorten ist. Der aktuell im Mittelpunkt der Diskussionen stehende Medienkulturbegriff wäre um diese Einsicht zu erweitern, damit er in der notwendigen Behandlung der Veränderung von Wirklichkeitsmodellen auch den Hintergrund gesellschaftlicher Machtund Herrschaftsverhältnisse, die praxisrelevant sind, mit in den Blick bekommt bzw. im Blickfeld hält. Dies wäre eine Voraussetzung zur Erfassung der auf Grund des Medienwandels veränderte Verbindung zwischen Kultur und Kommunikation, die der Medienkulturbegriff als Hauptziel verfolgt, die aber erst ein am Medienbegriff des kulturellen Materialismus orientiertes Medienverständnis einzulösen erlaubt. Zu vermitteln wäre der Medienkulturbegriff dazu mit aktuellen Fragen und Problemen
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Kritischer Theorie, die im Begriff „reflexiver Modernisierung“ von Beck oder in der Theorie von Giddens ihren Ausdruck finden, aber in der Medientheorie noch nicht weiter verfolgt oder gar nutzbar gemacht wurden. Ein Stichwort dazu: Medien als Momente und Instanzen der Selbstkritik moderner Gesellschaften. Ich denke, eine solche Perspektive oder Kritik braucht ein neues Medienverständnis, das handlungs- wie strukturtheoretische Fragen bündeln und aufeinander beziehen kann und gleichermaßen im Blick hat. Die Auffassung von Medien als Durchgangspunkte bzw. dieser Durchgänge als „Beziehungsebenen“ sozialer und kultureller Praxis, in denen sich Struktur und Handlung treffen, kommt dieser Forderung entgegen. Abschließend sollen noch einmal kurz einige Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede mit den strukturalistischen und poststrukturalistischen Theorien beleuchtet werden. Ausgehend von der weiter oben geschilderten sprachtheoretischen Schwerpunktsetzung lässt sich Williams‘ Ansatz durchaus auch als ein spezifischer Vermittlungsversuch des kulturalistischen mit dem strukturalistischen in Sonderheit semiologischen Paradigmas erkennen. Entscheidend ist aber, dass es zu einer spezifisch materialistisch orientierten Verbindung der beiden Paradigmen kommt. Williams Abwendung von und seine Kritik des marxistischen Strukturalismus macht deutlich, dass der Marxismus für ihn mit der Grundfrage des Zusammenhangs von sozialem Sein und Bewusstsein verknüpft ist. Konkret geht es um die Erforschung gesellschaftlicher Bedeutungs- und Kommunikationsprozesse, die mit Blick auf die ihre Form prägenden sozialen und kulturellen Relationen erklärt werden sollen. Williams kultureller Materialismus erlaubt es damit eher, die Materialität bzw. die materiellen Voraussetzungen des kulturellen Lebens herauszuarbeiten, als es die poststrukturalistischen Diskurstheorien erlauben würden, die nur untergründig von der Materialität kultureller Zeichenprozesse und von Diskursen ausgehen. Der Hauptunterscheidungspunkt zwischen Williams und (post)strukturalistischen Ansätzen kann in der Verteidigung des humanistischen Standortes gesehen werden. Gegenüber Aspekten und Konzepten der Mikropolitik hat Williams mit seinem Ansatz dezidiert die Problemstellung gesellschaftlicher und kultureller Totalität in den Mittelpunkt seiner Anstrengungen gestellt. Ein Hauptunterschied zwischen Williams und dem Poststrukturalismus kommt nicht von ungefähr bereits in einem seiner Buchtitel zum Ausdruck, der sein theoretisches Programm nach außen trägt: „The Long Revolution“. Dieses implizit demokratietheoretisch begründete Konzept betont mit Blick auf die gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen der letzten 150 Jahre die Möglichkeit zur Makropolitik gegenüber den poststrukturalistischen Konzepten der Differenz und der Mikropolitik. Letzteren Konzepten verschließt sich Williams Ansatz dabei noch nicht einmal; er bindet sie theoretisch aber anders ein. Wie man sieht, gibt es an zahlreichen Stellen trotz unterschiedlicher theoretischer Ausgangspunkte spezifische Überschneidungen, die sich für eine zukünftige theoretische Orientierung nutzbar machen lassen sollte. In diesem Text konnte ich dabei nur eine auf kultur- und medientheoretische Grundfragen gerichtete Betrach-
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tung vorlegen, die auf eine praxistheoretische Wende in der Medien- und Kommunikationsforschung zielen.
Anmerkungen 1 2
Der Text wurde für diese dritte Auflage durchgesehen und mit Verweisen auf aktuelle Publikationen zum kulturellen Materialismus ergänzt. Eine frühe Auseinandersetzung mit dem Konzept des kulturellen Materialismus findet sich bei Neale (1984). Was die Aufnahem des kulturellen Materialismus in Deutschland angeht, so ist auf zwei Beiträgen von Klaus (1983 u. 1993) zu verweisen. Unterschiedlichen Fragen des kulturellen Materialismus gehen die in dem Sammelband von Prendergast (1995) vorgelegten Beiträge nach.
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Doing Material Culture. Soziale Praxis als Ausgangspunkt einer ‚realistischen‘ Kulturanalyse Karl H. Hörning & Julia Reuter
1 Vorbemerkung Kulturanalysen werden immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, sich zu sehr mit Sinn, Deutung und Symbolik zu beschäftigen und dabei die ‚Realien‘ des Lebens zu vergessen. Diese Kontroverse wollen wir im Folgenden aufnehmen und sie mit Hilfe eines Begriffs der sozialen Praxis in eine Richtung lenken, die die Verkürzungen und Ausblendungen praxisblinder Kulturanalysen zu vermeiden hilft.
2 Kultur und soziale Praxis In den Sozialwissenschaften richten sich Kulturtheorien im Allgemeinen auf die Erschließung der sinnhaften Dimension des Sozialen. Der Begriff der ‚Kultur‘ dient dabei sowohl zur Bezeichnung von Ensembles gemeinsamer Deutungen und Interpretationen, die ihren Ausdruck in typischen Symbolen, Semantiken und Deutungsmustern finden, als auch zur Bezeichnung sinnhafter Praktiken, die in einer gegebenen sozialen Welt anzutreffen sind. Häufig unklar bleibt das Verhältnis von Sinn und Praxis. Dann erscheint die soziale Welt allzu leicht als ‚Text‘, als Muster von Zeichen und Regeln oder als symbolisch strukturierte Kommunikations- und Diskurssysteme, in der die sozialen Praktiken der Gesellschaftsmitglieder kulturell vorbestimmt und gerade nicht als kreative Hervorbringungsweisen eben dieser kulturellen Sinn- und Bedeutungsmuster in den Blick kommen. Dieses Problem lässt sich besonders klar am Beispiel der bis in die späten 1980er Jahre weithin vorherrschenden und unangefochtenen Kulturtheorie, der „Symbolischen Anthropologie“ von Clifford Geertz verdeutlichen, deren zentrales Interesse auf Fragen der Bedeutung, der Symbolik und der Interpretation gerichtet ist. ‚Kultur‘ ist für sie ein Komplex von Bedeutungen, in symbolischen (Ausdrucks-, Darstellungs- und Objekt-)Formen verkörpert, mit deren Hilfe die Menschen miteinander kommunizieren und ihre Erfahrungen, Vorstellungen und Überzeugungen teilen. Geertz selbst spricht von ‚Kultur‘ als ein von Menschen geschaffenes „Gewe-
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be“ (Geertz 1983: 9) von Deutungen und Bedeutungen, in das diese permanent verwickelt sind. Allerdings erscheint das Deutungsvermögen der Akteure eher passiv und determiniert, da es immer schon ein zeichenhaftes und symbolisch vorstrukturiertes Deuten ist; es kann sich nur innerhalb eines klar umgrenzten symbolischen Gewebes bewegen, ohne das Gewebe selbst in Bewegung zu setzen. Beeinflusst von Ernst Cassirer (1953) und vor allem dessen Schülerin Susanne Langer (1965) sind Symbole für Geertz Vehikel, Modelle, öffentliche Texte, die die kollektive Bedeutung fixieren und aufbewahren. Unterschiedliche, widersprüchliche oder unentschiedene Lesarten sind hier nicht vorgesehen. Geertz interessiert das Gewebe, nicht das Weben; der Text, nicht der Prozess des Aufschreibens und Lesens; die Struktur, nicht die Geschichte. Dann erscheint Kultur allzu leicht als ein selbstreferenzielles System, das Handeln lediglich über sinnhafte Wissensordnungen und kulturelle Kodes steuert oder regelt, und nicht umgekehrt als Formation, die als sinnhafte Ordnung zunächst einmal interaktiv hervor gebracht werden muss. Geertz ist zu sehr um ein integriertes, einheitliches, kohärentes Bild der jeweils untersuchten Kultur bemüht. Dabei sind auch Symbole keine Zeichen für auf Dauer gestellte eindeutige Sinn- und Bedeutungszusammenhänge. Sie evozieren immer auch „multivocality, complexity of associations, ambiguity (and ) open-endedness“ (Turner 1975: 155). Geertz sieht zwar, dass erst „durch den Fluss des Handelns, durch ihren Einsatz im sozialen Leben […] kulturelle Formen ihren Ausdruck“ (Geertz 1983: 25) finden, doch seine ‚kulturellen Texte‘ legen die Bedeutungen zu fest; dann wird der bedeutungshervorbringenden und -erschließenden Qualität des praktischen Handelns zu wenig Platz eingeräumt. Die Mitte der 1980er Jahre eingeläutete Diskussion um die „Krise der Repräsentation“ hat dies für die ethnologische Kulturanalyse in besonderer Weise erkannt, denn sie sah in der semiotischen Vorstellung von Kultur als Text eine doppelte Problematik: einerseits das naive Bild geschlossener Kulturen, das nicht erst durch moderne grenzüberschreitende Reise-, Handels- und Kommunikationspraktiken permanent unterlaufen wird; andererseits die Möglichkeit ihrer ebenso vollständigen wie geschlossenen Darstellung in Ethnografien, die spätestens durch die (post)koloniale Literarizität und Autorenschaft ethnografischer Texte in Frage gestellt wurde.1 Aus poststrukturalistischer Sicht gehört es heute zu einem ‚Allgemeinplatz‘, nach den Prozessen des Hervorbringens, des Definierens zu fragen, während die gesamte Symbolische Anthropologie an den Bedeutungsstrukturen, nicht an den Verwicklungen, den Mystifikationen, den Vermittlungen, Reinterpretationen und Kontingenzen interessiert ist (vgl. Barth 1989; Biersack 1989). Zwar stand das Geertzsche Programm einer „dichten Beschreibung“ für eine praktische Rekonstruktion der Bedeutungsmuster, schließlich wurde aus einer empirischen Perspektive der Kulturträger und ihrer beobachtbaren Handlungsweisen argumentiert. Im Vordergrund standen aber längst nicht alle, sondern vor allem jene symbolischen Schlüsselpraktiken, die in eindeutiger Weise auf dahinterliegende übersubjektive Bedeutungsstrukturen rückbezogen wurden. So standen auch beim ‚berühmten‘ balinesischen
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Hahnenkampf nicht die unterschiedlichen Praktiken des Züchtens und Abrichtens von Kampfhähnen, nicht die unterschiedlichen Formen des Gestaltens oder Geheimhaltens der Kampfplätze, des geschickten oder weniger geschickten Diskutierens mit dem Preisrichter im Vordergrund. Der balinesische Hahnenkampf war für Geertz vielmehr ein eindeutiges und universales Symbol dafür, was ein Balinese „wirklich ist“ (Geertz 1983: 208). Er wurde damit selbst zur sozialen Tatsache, die alles erklärt: „Gerichtsverhandlungen, Kriege, politischer Wettstreit, Erbschaftsstreitigkeiten und Streitereien auf der Straße“ (ebd.: 210). Eine so gefasste Kulturanalyse ist zu statisch. Soziale Praxis ist dann immer schon im Kanon von Symbolen und Bedeutungen eingeschlossen. Geertz räumt zwar ein, dass die Hahnenkämpfe ihre Form erst aus ihrem Anlass erhalten, „aus dem Boden, auf den sie gestellt sind“ (ebd.: 219), gleichzeitig bezieht er aber genau diesen „Boden“, der ja schon aus Gründen der Geheimhaltung permanent wechselt, in seiner Analyse nicht mit ein. Ansätze, die Kultur als Text oder Zeichensystem betrachten, können schlecht mit Kontingenzen umgehen und verschieben sie allzu leicht in Residuale. Doch Kontingenzen entstehen laufend innerhalb der Kontexte des kulturellen und sozialen Lebens.2 Schließlich sind kulturelle Phänomene nicht nur sinngeladene Konstrukte in symbolischer Form, sondern auch alltäglich vollzogene soziale Praxis. Und auch die symbolische Formen sind selbst eingebettet in „historisch spezifische und sozial strukturierte Kontexte und Prozesse, innerhalb und mittels derer diese symbolischen Formen hervorgebracht, übermittelt und rezipiert werden“ (Thompson 1990: 135). Semiotische Kulturanalysen laufen in die ‚kulturalistische Falle‘, wenn sie die Sinn- und Symbolkomponenten von Kultur zu Lasten kultureller und sozialer Handlungsformen überbetonen, die keinesfalls in Einklang mit den symbolischen Strukturen stehen müssen. Ein Kulturalismus übersieht gerade auch in seiner semiotischen Fassung die pragmatische Dimension des Umgangs, des Gebrauchs, des ständigen Neu-Hervorbringens. Dann lebt der Mensch in einem von ihm geschaffenen symbolischen Universum, und alle Wirklichkeit ist ein System von Bedeutungen und Bezeichnungen, und jegliche Wahrnehmung von ‚Wirklichkeit‘ bezieht sich ausschließlich auf das kulturelle System, dem er angehört. Um zu verstehen, warum Menschen das tun, was sie tun, reicht es nicht aus, die vorherrschenden kulturellen Konstrukte einer Gesellschaft und ihre Symbolisierung in Riten, Artefakten oder Gegenständen zu erkennen. Es ist genauso wichtig, die Wege und Weisen zu analysieren, wie diese Konstrukte in die sozialen Praktiken der Menschen Eingang finden, gerade wegen des polyphonen Charakters kultureller Realitäten. Durch die soziale Einbettung erst gewinnen Kultur und Kulturobjekte Relevanz fürs Leben; hier verwirklichen sie sich. Dabei ist das Verhältnis doppelseitig: Einmal können Kulturen durch Uneindeutigkeiten, polyphone Sinnstrukturen oder widersprüchliche Symbolik viel Unruhe in die soziale Praxis bringen – genauso wie die Macht der Kultur darin bestehen kann, durch ihr eindeutig-normatives Wirken den Deutungsspielraum so einzuschränken, dass vieles ‚normal‘ erscheint, so als sei nichts zu ändern und sich Gleich-Gültigkeit einstellt. Zum anderen trägt soziale Praxis wesentlich zur Relevanz von Kultur bei, wenn in offenen Situationen neue
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Handlungsstrategien gesucht und normative Vorannahmen ‚hinterfragt‘ und umgedeutet werden. Dann können die kulturellen Symbole, Rituale und Leitbilder erhebliche Relevanz für die soziale Praxis gewinnen, indem sie die Optionen der Praxis vielfältiger auszuleuchten, alternativ das ‚Andere‘ ins Blickfeld zu rücken und so zur Konstruktion neuer Handlungsstrategien beizutragen vermögen (vgl. Swidler 1986).
3 Kultur als soziale Praxis Diese Wechselwirkungen zwischen kulturellem Sinn und sozialer Praxis können nicht angemessen durch die Vorstellung von Kultur als (fraglos gegebenem) Text erfasst werden. Hierzu bedarf es einer Perspektive, die nicht von ‚ganzen Kulturen‘, sondern eher von ‚kulturellen Formen‘ und ‚Lebensweisen‘ ausgeht und den Schwerpunkt auf das Prozessieren und Verwirklichen dieser Formen und Lebensweisen in den alltäglichen Gebrauchsweisen legt. Unter Einfluss praxisbetonender Ansätze aus Philosophie, Soziologie, Geschichts- und Kulturwissenschaften hat sich hierfür in den letzten Jahren die Rede von Kultur als Praxis durchgesetzt (vgl. auch Hörning 2004). Kultur als Praxis interessiert sich für das Praktizieren von Kultur, für die konkrete Handhabung kultureller Wissensbestände in unterschiedlichen Kontexten; aber auch für die Genese, Verfestigung und Reproduktion von Praktiken und praktischen Wissensbeständen. Diese auch als „Doing Culture“ (Hörning/Reuter 2004) bezeichnete Perspektive sieht Kultur in ihrem praktischen Einsatz. Dabei geht es ihr um das interaktive Verwirklichen, nicht um die kulturelle Wirklichkeit, um die unabgeschlossene (Re)Produktion, nicht um fertige Kulturprodukte, um die aktiven Gebrauchsweisen, nicht um ein bloßes Reproduzieren kulturellen Sinns. Theoretisch steht doing culture in der Tradition praxiszentrierter Ansätze, die sich in der Soziologie vor allem unter dem Einfluss von Bourdieus Theorie der Praxis (1976), Goffmans Studien zur Ordnung der Interaktion (1983) und Garfinkels Ethnomethodologie (1967) herausgebildet haben, neuerdings aber auch Strömungen aus Cultural Studies und Science Studies aufgreifen. Gemäß der Vorstellung, dass das Soziale weder das Produkt individueller interessengeleiteter Akte ist noch dem Konsens von Sollens-Regeln entspringt, wird auch Kultur in diesen Ansätzen weder als subjektive Interpretation noch als übersubjektiver ‚Integrationskitt‘ der Gesellschaft betrachtet. Sie ist vielmehr in den sozialen Praktiken angesiedelt, mit denen die Welt als sinnhafte und geordnete Welt hervorgebracht wird. Dabei fungiert der Praxisbegriff gewissermaßen als ‚Scharnier‘ zwischen den Institutionen, kulturellen Traditionen und Regeln auf der einen Seite und den handelnden Subjekten, ihren Intentionen und Vorstellungen auf der anderen Seite. Entgegen solcher Kulturtheorien, die Kultur als geistiges, ideelles Phänomen etwa in Form kognitiv-geistiger Schemata (Schütz) oder aber als ein System von Ideen und Weltbildern betrachten (Weber), verorten Praxistheorien die Kultur in einem praktischen Wissen und Können, einem „knowing how“, in einem Konglo-
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merat an Alltagstechniken, einem praktischen Verstehen im Sinne eines „Sich auf etwas verstehen“ (vgl. Reckwitz 2003: 289). Dabei geht es Praxistheorien nicht um die subjektiven Erfahrungen oder Einstellungen der einzelnen Akteure, auch wenn die Kritik an universalistischen Strukturen und die Hinwendung zu den handelnden Subjekten dies nahelegt. Sie interessieren sich für das Hervorbringen des Denkens im gemeinsamen Handeln: Das Denken und Wissen einzelner Akteure bleibt immer ein in kollektive Zusammenhänge eingebettetes praktisches Denken und Wissen. Seine ‚Logik‘ kann nicht allein aus dem Mikrokosmos einzelner Interaktionen heraus verstanden werden, sondern offenbart sich erst in ihrer gesellschaftlichen Kontextualisierung und Einbettung. In Praxistheorien gewinnt die Person erst durch den ununterbrochenen Handlungsfluss ein Verständnis von der Welt, nicht durch die bewusste und intentionale Bewegung durch Räume und Zeiten. Damit grenzen sich praxistheoretische Kulturanalysen von zweckorientierten wie normorientierten Handlungstheorien gleichermaßen ab (vgl. ebd.: 287). Praxistheorien zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie die Praktiken nicht auf Einzelakteure und deren Handlungsurheberschaft zurück führen. Akteure sind eher die Träger sozialer Praktiken, aber nicht ihre alleinigen Urheber. Was aber genau sind dann soziale Praktiken? Soziale Praktiken bezeichnen jene tagtäglichen Interaktionen, die eine bestimmte vertraute Handlungsnormalität im Alltag begründen. Soziale Praktiken umfassen reguläre, geordnete und sich wiederholende Handlungsweisen, mit denen die Gesellschaftsmitglieder ihre Alltagswirklichkeit organisieren und Sinn erzeugen.3 Soziale Wirklichkeit ist aus Sicht von Praxistheorien immer eine Vollzugswirklichkeit. Obwohl soziale Praktiken dabei häufig die Gestalt von ‚Gewohnheiten‘ und ‚Routinen‘ annehmen, sind sie nicht auf eine von den vorherrschenden gesellschaftlichen bzw. politisch-ökonomischen Strukturvorgaben bestimmte Verhaltensform einzuschränken. Soziale Praktiken müssen immer auch produktiv gedacht werden: als ein stets neu in Gang zu bringendes Tun, als kreative Fortsetzung, als neuartige Hervorbringung von Vertrautem. Jedes Handeln steht zwar in der Geschichte vergangenen Handelns, aber die Re-Produktion von Sinn und Bedeutung ist nicht einfach nur eine Imitation, sondern eine Wieder-Erzeugung Desselben an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit, mit anderen Mitteln. Pierre Bourdieu hat die in der Praxis liegende Geschichte mit dem Begriff des Habitus bezeichnet, einem System dauerhafter einverleibter Dispositionen, die das Denken, Wahrnehmen und Handeln strukturieren und organisieren. Im Habitus als „praktischem Sinn“ sedimentiert sich für ihn die Praxis der Vergangenheit, die die gegenwärtige und zukünftige Praxis „ohne Willen und Bewusstsein“ anleitet (Bourdieu 1987: 105). Diese treffen auf eine ganz bestimmte soziale Umwelt, das soziale Feld bzw. Habitat. Es ist das Ergebnis der eingenommenen Position im „sozialen Raum“, ein Ensemble objektiver historischer Beziehungen zwischen den Positionen, die auf bestimmten Formen von Macht (bzw. Kapital) beruhen (vgl. Bourdieu/Wacquant 1996: 37). Damit treten neben Fragen nach der praktischen Hereinnahme und des konkreten Vollzugs vor allem auch Fragen nach der ungleichen Verteilung und Reproduktion in den Vordergrund. Kultur als Praxis verbindet das Kulturelle mit dem Sozia-
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len. Schließlich ist soziale Praxis immer schon mit Bewertungen, Interpretationen, Selbst- und Fremddeutungen verknüpft. Bourdieu hat dies anhand der alltäglichen Konsum-, Wohn- oder Kleidungspraktiken der französischen Gesellschaft der 1970er Jahre eindrucksvoll gezeigt. Macht wirkt vor allem in den selbstverständlichen und oftmals unreflektierten Alltagspraktiken. Diese Einsicht teilt er mit Foucaults Konzept einer „Mikrophysik der Macht“, in der sich die Macht eher in den kapillaren, weit verstreuten Mechanismen und Techniken des Alltags als in totalisierenden Herrschaftsverhältnissen zu erkennen gibt (vgl. Foucault 1995). Allerdings sind hier zwei Einwände zu formulieren. •
Das Verhältnis zwischen Habitus und Habitat wird von Bourdieu als zu ‚geschlossen‘ gedacht: Alles ist in ein System zirkulärer, reproduktiver Kausalitäten eingespannt.4 Dadurch macht Bourdieu die soziale Praxis zu starr. Sie erscheint als tendenziell veränderungsresistent; auch die soziale Wirklichkeit wirkt durch das einheitsstiftende Prinzip ihrer Erzeugung – dem Habitus – seltsam statisch. Dabei ist es ein zentrales Kennzeichen unserer Zeit, dass Habitus und Habitat nicht koinzidieren. Treibt doch gerade die Habitualisierung des Handelns problematische Konsequenzen und unbeabsichtigte Nebenfolgen hervor, die nicht selten Problemreflexionen herbeiführen, die Entstandardisierungen und Umdeutungen der habitualisierten Problemstellungen einläuten. Aber nicht nur der Habitus ändert sich etwa durch biografische Brüche und Individualisierungsschübe oder durch veränderte Zeit- und Raumsensibilisierungen, sondern auch das Habitat verliert an Eindeutigkeit: Die soziale Differenzierung treibt Kontingenzen heraus, kollektive Zeiten und Räume zerfallen, strukturelle Paradoxien entstehen, Entstandardisierungen schreiten im großen Umfang voran.
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Soziale Praxis ist nicht gleichbedeutend mit Machtpraxis. Zwar ist Macht in Praktiken eingelassen, doch soziale Praktiken müssen von Machtpraktiken unterschieden werden, denn ansonsten wird allzu leicht jegliche Praktik als ‚Komplize‘ strategischer Machtverhältnisse gesehen. Foucaults Blick auf die Praxiswelt können wir daher nur bedingt folgen, da er sich zu sehr auf die Aufdeckung disziplinierender Praktiken beschränkt, andere Praktiken, wie Konsumund Gebrauchspraktiken hingegen vernachlässigt. Wir sind aber mit Michel de Certeau der Meinung, dass es unmöglich ist, das Funktionieren einer Gesellschaft lediglich auf einen Haupttypus von Praktiken zu reduzieren (vgl. de Certeau 1988: 109), der zudem eine zu starke Kohärenz der Praktiken voraussetzt. Trotz ihres kapillaren und heterogenen Charakters ordnet Foucault das amorphe Geflecht der Praxis letztlich eindeutigen Diskursen zu, etwa dem der Normalisierung. Dabei ist doch die Kohärenz keine Eigentümlichkeit der Praktiken, sondern ein methodisches Prinzip Foucaults: das der retrospektiven Geschichtsschreibung.
Unserer Ansicht nach kann sich eine Sozial- und Kulturanalyse der Gegenwart nicht darauf beschränken, die Nähe von Prädispositionen und Struktur, die Kohärenz von
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Techniken und Diskursen aufzuweisen. Sie muss auch die vielfältigen, konfliktreichen Interaktionsformen beider Geschichten in der Gegenwart untersuchen. Kulturanalysen, die die symbolischen (Meta-) Struktur zu Lasten ihrer lebenspraktischen (Mikro)Logiken betonen, laufen nicht nur Gefahr, die Einbettung kultureller Symbole, Semantiken und Diskurse in historisch spezifischen und sozial strukturierten (Gebrauchs-)Kontexten aus dem Auge zu verlieren. Sie müssen sich auch grundsätzlich den Vorwurf einer Verselbstständigung konstruktiver Prozesse gefallen lassen, in denen nur noch die Interpretationen, Diskurse, Narrationen und Repräsentationen die kulturelle Wirklichkeit formen, die Organisationsleistung der sozialen Praxis aber aus dem Blick gerät. Doing culture setzt sich daher von der langen Tradition kulturwissenschaftlicher Forschung ab, eine situations-, macht- und zeitunabhängige Definition von Kultur vorzunehmen. Sie sieht Kultur als einen andauernden Prozess, der nicht nur durch den strukturellen Wandel der Gesellschaft, sondern geradewegs durch das Handeln der Akteure ‚am Laufen‘ gehalten wird.
4 Praktizierte Kultur als materialisierte Kultur Kulturanalysen, die Kultur als Praxis fassen, sind prinzipiell an den wechselseitig orientierten Praktiken, nicht an den einzelnen Praktikerinnen und Praktikern interessiert. Soziale Praktiken lassen den Akteur zwar als Teilnehmer am Sozialen, nicht aber zwangsläufig als Urheber erscheinen. Seine Aktivitäten werden weder auf ein zielgerichtetes Handeln noch auf ein schematisch-reproduzierendes Verhalten verkürzt – es ist eher ein Mithandeln mit Anderen. Dabei sind ‚die Anderen‘ keineswegs nur Menschen. Vielmehr betonen praxiszentrierte Kulturanalysen, dass praktizierte Kultur immer auch materialisierte Kultur ist. Sie gehen davon aus, dass die ‚geistige Welt‘ des Statusdenkens, Expertenwissens, der Heimatvorstellungen oder des religiösen Glaubens nicht von der ‚Sachwelt‘ der Rangabzeichen und Statusobjekte, Computer und Labore, Landschaften und Behausungen, Kirchenbänke und Devotionalien zu trennen ist. Beides wirkt ständig aufeinander ein.5 Stefan Hirschauer (2004) spricht davon, dass eine Kehrseite der praxistheoretischen Abwendung vom intentionalen Subjekt die Öffnung zu anderen Entitäten bereithält, die an sozialen Prozessen als Partizipanden teilnehmen können und in ihre Dynamik verwickelt sind – Tiere und andere Lebewesen, Körper und Textdokumente, Artefakte und Settings: „[Es] sind nicht Akteure, sondern Partizipanden sozialer Prozesse. Dieser Begriffsvorschlag bezeichnet hier […] alle Entitäten, die auf eine für sie spezifische Weise in den Vollzug von Praktiken involviert sind“ (Hirschauer 2004: 75).
In einer solchen Praxisperspektive liegt die soziale Ordnung nicht nur in den jeweiligen Praktiken der Individuen. Sie existiert vielmehr in einem Netzwerk von Individuen und Artefakten, von Individuen und Objekten. Dabei übernehmen Artefakte und Objekte häufig die Rolle von ‚Härtern‘ sozialer Ordnung, da sie soziale Regelungen oder kulturelle Bedeutungen in einen mehr oder weniger dauerhaften Zu-
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stand überführen. So fungieren etwa Möbelstücke wie Stühle als Stabilisatoren sozialer Ordnung: Sie weisen dem Einzelnen einen ziemlich festen Platz im Raum und im Verhältnis zu anderen, von Menschen besetzten und unbesetzten Plätzen zu und beeinflussen damit über kulturspezifische Distanzmaße nicht nur die Praktiken des Sitzens oder Wohnens, sondern auch die Praktiken des Kommunizierens oder Vergemeinschaftens (vgl. hierzu auch Seitter 2001). Dabei spielt es natürlich eine Rolle, ob der Stuhl in der Küche oder im Schlafzimmer, im Wartezimmer einer Arztpraxis oder auf dem Gehsteig in der Nähe einer Mülltonne steht. Auch wenn sich die Kulturanalyse deutlich vom Objektivismus distanziert, kann sie doch nicht die Sachwelt ignorieren, denn die Welt, die wir formen, formt auch uns. Dinge und Körper sind notwendige Bestandteile des Sozialen, ohne dass wir zwangsläufig die Unterscheidung zwischen Menschen und Dingen aufgeben müssen, wie es Latour (1995) in seiner „symmetrischen Anthropologie“ einfordert. Schließlich kommt nur durch die Menschen Leben in die Dinge, und dies befindet sich nicht wirklich im Gegenstand selbst, sondern in der Beziehung zu ihm. Dennoch betrachten praxistheoretische Ansätze Körper und Artefakte als wichtige Teilelemente oder Träger sozialer Praktiken, da sie durch das in ihnen gelagerte inkorporierte Wissen eine Gleichmäßigkeit und Repetitivität der Praktiken über Zeit und Raum hinweg erst möglich machen. Gerade Alltagsgegenstände fungieren als ein soziales Gedächtnis, als Anhaltspunkte für die gewohnten Handlungsabläufe, Wege und Rhythmen. Dabei wird in der Praxis aber immer nur ein bestimmter Teil dieses Gedächtnisses reaktiviert, das meist eng mit den Notwendigkeiten des aktuellen Handelns verknüpft ist. Schließlich ist für das Auslöffeln der Suppe nicht die Erinnerung an die Lehrzeit der Kindheit notwendig, die aus Jahren des praktischen Übens und kulturellen Einprägens des Richtigen-Löffel-Haltens bestand (vgl. Kaufmann 1999: 44f.). Genau diese materiellen Implikationen sozialer und kultureller Wirklichkeit muss eine ‚realistische‘ Kulturanalyse zur Kenntnis nehmen, gerade in Zeiten einer allgegenwärtigen Technisierung und Mediatisierung privater und öffentlicher Lebensbereiche. Die Welt existiert nicht nur aus symbolischen Formen, Bedeutungsstrukturen, Texten und Diskursen. Sicherlich führen der schnelle Wandel, die Instabilitäten, die Flexibilisierung der materiell-technischen Bedingungen unseres Lebens zu einer verstärkten ‚Semiotisierung‘ spätmoderner Gesellschaften (vgl. Lash/Urry 1994), doch gleichzeitig verwickeln sie den Einzelnen stärker als je zuvor in eine materiell-technische Welt. Die Häuser, die Landschaften und Städte, die wir bewohnen, die Instrumente und Maschinen, die wir benutzen, die materiell-technischen Infrastrukturen, die Verkehrs- und Energiesysteme, in die wir eingebunden sind, beeinflussen unsere Erfahrungsweisen und deren symbolische Verarbeitung. Vor allem beeinflussen sie unsere Praktiken. Sie tragen zu neuen Handlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten bei, öffnen Optionen und mischen bei den Grenzziehungen mit, tragen bei zu neuen Beziehungen und Balancen zwischen Materialität und Sozialität. Körper und Dinge können dann nicht in einseitiger Form als Objekte der Deutung, der Interpretation, der Konstruktion erfasst werden. Sie stoßen auch Deutungs-
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und Interpretationsprozesse an. Der Computer samt Maus und Tastatur, aber auch das Bild, das Bett, die Blumen, der Fön, das Auto, die bewirken, dass wir auf eine bestimmte Art und Weise denken und handeln, wenn wir sie betrachten oder berühren. Der Objektbegriff, der dabei zu Grunde gelegt wird, steht in Kontrast zu den Konzeptionen von ‚Arbeit‘ oder ‚instrumentellem Handeln‘, die Objekte lediglich als Ware, Instrumente oder Gegenstände betrachten. Er ähnelt vielmehr dem, was Knorr Cetina unter ‚Objektualisierung‘ versteht: Körper und Artefakte werden zunehmend vergesellschaftet, d.h. sie treten als Anhaltspunkte, Einbettungsumwelten oder gar ‚Beziehungspartner‘ zunehmend an die Seite von Menschen, sie vermitteln menschliche Beziehungen oder machen sie von Objektbeziehungen abhängig (vgl. Knorr Cetina 1998: 113ff.). So wird die Verwicklung mit der materiell-technischen Welt ein wesentliches Element unseres Denkens und Handelns in der Welt. Eine in diesem Sinne ‚realistische‘ Kulturanalyse akzeptiert also, dass wir nur insoweit über die Realität der Welt wissen und sprechen und sie deuten können, insoweit wir uns an ihr beteiligen und sie in unsere Praktiken mit hinein nehmen. Die materielle Welt ist nicht bloß ‚passive‘ Ressource für soziales Handeln, sondern mischt in den sozialen und kulturellen Prozessen der Wirklichkeitskonstruktion mit. Dabei ist sie aber keineswegs stets Gegenstand von Reflexion bzw. expliziter Sinnzuschreibung, sondern wirkt eher durch Einübung und Gewöhnung. Gerade im Alltagsleben tragen Gebäude, Räume, Geräte und Automaten zur Routinisierung und Standardisierung bei und erklären uns, warum wir so vieles für selbstverständlich halten.
5 Soziale Praktiken und der Umbruch kommunikativer Verhältnisse Insbesondere kulturtheoretische Arbeiten innerhalb der Techniksoziologie haben früh auf die kulturelle Formung der (technischen) Dinge in der Herstellungs- und Gebrauchspraxis verwiesen. Entgegen der bis in die 1990er Jahre vorherrschenden Annahme, Technik als Instrument in einem funktionalen Zweck-Mittel-Zusammenhang anzusiedeln, sprachen sie von Technik als Träger von Bedeutungen, die als Ausdrucks- und Darstellungsmittel individueller und gruppenspezifischer Relevanzen oder Lebensstile in Erscheinung treten: Materiell-technische Objekte geben ihre funktionale wie kulturelle Bedeutung nicht vor, sondern gewinnen diese erst in vielfältigen Prozessen der Aneignung. So entstanden rund um Anrufbeantworter, Videorecorder oder Computer zahlreiche Studien, die die kulturelle Prägung der Technik in spezifischen Arbeits-, Lebensstil- oder auch Fangruppen in den Mittelpunkt rückten (vgl. Hörning/Ahrens/Gerhardt 1997; Wetzstein et al. 1995). Grundlegend für diese Studien war die Definition von Technik als kulturellem Artefakt, das durch die alltäglichen, kommunikativ vermittelten Bearbeitungs- und Interpretationspraktiken immer wieder neu ‚in Form‘ gebracht wird (vgl. hierzu auch Hörning 2001: 95ff.). Allerdings beschränkten sich viele dieser Arbeiten auf die einseitige Bearbeitung der Technik durch die Akteure und berücksichtigten umgekehrt nicht
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die Formung ihrer Praktiken durch die Sachwelt. Zudem wurde auch hier oftmals von Technik als Symbol gesprochen, womit die Materialität der technischen Dinge erneut aus dem Blick zu geraten drohte. Vor allem die allgegenwärtige Computertechnik hat massive Spuren in unseren alltäglichen sozialen Praktiken hinterlassen: Wir kommunizieren, so scheint es jedenfalls, ohne zu sehen oder gesehen zu werden, ohne zu hören oder gehört zu werden, ohne raum-zeitliche Bindung an Körper und Ort. Dabei ist doch die Computerkommunikation längst keine vollkommen körperlose Kommunikation. Die Praxis des Email-Schreibens, Chattens oder Programmierens verlangt eine andere technischen Konditionierung des Körpers durch das Artefakt Computer als die lokal situierte Face-to-Face-Kommunikation: Eine bestimmte Beweglichkeit der Finger, eine bestimmte Sequenzierung und Fokussierungsleistung des Blicks, eine mitunter stundenlange Unbeweglichkeit des Körpers, oder auch nur eine bestimmte Absentierungsleistung der Ohren, schließlich will man auch im überfüllten Großraumbüro noch aufmerksam einen Text lesen können. Hier verschmelzen ‚Sachtechnik‘ und ‚Körpertechnik‘ in der Praxis der computervermittelten Kommunikation. Neben diesen neuen, recht elementaren Wahrnehmungs- oder Umgangspraktiken konstituieren Artefakte mitunter auch neue Interaktionsmuster. Im Falle des Computers sind dies etwa neue Arbeits- und Organisationspraktiken, prominent das Beispiel der individualisierten Telearbeit oder vernetzten Gruppenarbeit. Aber auch weniger offensichtliche Praktiken sind denkbar, wie bspw. neue Zeitpraktiken, die von der strategischen Zeitplanung bis zum ereignisorientierten Zeiterleben reichen, neue Geldpraktiken, die vom gemeinsamen Spekulieren bis zum geschickten Auktionieren reichen, oder auch neue Partnerschafts- und Flirtpraktiken, die die Gestalt von anonymen Rollenspielen oder themenspezifischen Kontaktbörsen annehmen. All diese Praktiken erscheinen zunehmend entkoppelt vom unmittelbaren, lokalen Kontext der Intersubjektivität. Ja, sie erscheinen stellenweise sogar entkoppelt von Personen als Kommunikationspartnern. Hier treten abstrakte Expertensysteme und Programmartefakte hinzu und mischen die alten Praxisverhältnisse auf. Die Frage ist dann, wie sich Einstellungen des Vertrauens in derartige abstrakte Systeme und Regularien ausbilden. Oft werden sie tatsächlich unter „Modernitätsbedingungen […] routinemäßig in den kontinuierlichen Ablauf der Alltagstätigkeiten eingebaut und durch die inneren Gegebenheiten des täglichen Lebens in hohem Maße erzwungen“ (Giddens 1995: 115). Neue Regeln ruhen dann wesentlich in den etablierten gemeinsamen Handlungsformen und Praktiken und finden auch dort ihre kontinuierliche Interpretation und Reinterpretation. Regeln sind dann letztlich das, was die Praktiken daraus machen – denn ohne Belebung bleiben sie tote Briefe: „Wenn allerdings die Expertensysteme […] chronisch dazwischentreten und ‚präventiv‘ und allumfassend intervenieren, dann werden die Praktiken, gemeinsamen Bedeutungen, Gemeinschaft zunehmend an den Rand gedrängt und immer weniger möglich“ (Lash 1994: 151).
Dann müssen wir unsere Vorstellungen neu rahmen, dann müssen wir umfassend und explizit formulieren, wie unsere Welt aussehen sollte, welchen Platz wir in ihr einnehmen wollen und was wir dafür tun müssen.
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Ein schönes Beispiel für bildet die mobile Kommunikation via Handy (vgl. Burkart 2000). Einerseits baut die Handykommunikation auf einem langen (inkorporierten) technischen Wissen und Handeln beim Telefonieren auf und kann sich nahtlos in den normalen Alltagsablauf einfügen, etwa wenn das schnurlose Mobiltelefon lediglich das Telefon im eigenen Haushalt ersetzt. Reicht die neue räumliche Mobilität des Telefonierens über die ‚eigenen vier Wände‘ aber hinaus, dann kann es zur Kollision zwischen lokal gebundenen kommunikativen Situationen der körperlichen Kopräsenz und Situationen der Telekommunikation kommen, in denen Intimitätsregeln, territoriale Regeln oder die soziale Funktion von Situationen verletzt werden. Beispiele dafür sind das Privatgespräch im Zugabteil, das unangemessene laute Reden am Nachbartisch im Restaurant oder das Klingeln in der Schulstunde. Hier werden – je nach Rahmung, zeitlich-räumlicher sowie kommunikativer Struktur sozialer Situationen Neuregulierungen der Kommunikation im öffentlichen Raum und damit auch neue kulturelle Rahmungen des Handys notwendig. Dies kann sowohl auf der Ebene der Praxis – etwa durch situative Sanktionsversuche, Territorialkämpfe oder aber Höflichkeitsrituale – als auch auf der Ebene der Diskurse stattfinden – etwa durch legitimatorische Notfalldiskurse des „Störers“ oder umgekehrt durch Gefahrendiskurse (Elektrosmog) der „Gestörten“ (vgl. ebd.: 223f.). Ähnliches lässt sich auch anhand der computervermittelten Kommunikation verdeutlichen. Praktiken des Emailens oder Chattens beruhen im Wesentlichen auf den Kommunikationsformen Brief und Klatsch und folgen in den meisten Fällen ganz gewöhnlichen Standards von Authentizität und gegenseitiger Bekanntschaft, d.h. entweder persönlicher Vertrautheit oder Kenntnis über Position und Herkunft des Kommunikationspartners (vgl. Schultz 2001: 96). Kollidieren sie aber mit anonymen Kommunikationsformen, etwa Formen des Bietens in virtuellen Auktionshäusern oder Formen des Rollenspiels in „Identity Workshops“ (Turkle 1998), müssen neue kulturelle Konventionen geschaffen und neue Formen des angemessenen Umgangs miteinander gefunden werden, die sich nicht unmittelbar aus der eigenen Lebenswelt erschließen lassen. Vertrauensbildende Maßnahmen, wie virtuelle Zertifizierungs- und Bewertungsverfahren oder ‚Netiquette-Regeln‘, um ‚Cyberschurken‘ aus dem Weg zu gehen, bilden erste Versuche. Inwieweit sie erfolgreich sind, hängt aber nicht nur von der ‚technischen Finesse‘ der Programmartefakte, sondern weithin von der praktischen Belebung durch ihre Nutzer ab. Moderne Medien vervielfältigen die Ebenen, auf denen wir uns bewegen, in denen wir Beziehungen zu Personen und Sachen herstellen, in denen wir interagieren und Wertmaßstäbe anwenden. Sie schaffen neue Spannungsfelder von Distanz und Nähe, von Anwesenheit und Abwesenheit, von Persönlichem und Abstraktem, von Sichtbarem und Verborgenem, von Vertrautem und Unvertrautem. Neue Abmachungen müssen getroffen werden, neue Grenzen gezogen werden, die alten vertrauten Praktiken werden mit neuen, öffentlich vorgetragenen Ansprüchen und Regularien konfrontiert. Auf jeden Fall intensiviert die elektronische Vernetzung die explizite Auseinandersetzung mit Prozeduren und Verfahrensweisen. Regelverletzungen werden sichtbar und damit erklärungsbedürftig. Damit rücken Formen und Legitimität von eingeschliffenen Praktiken ins Zentrum des Handelns.
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6 Folgerungen Zwei Folgerungen sind aus dem Vorangegangenen zu ziehen: Zum einen geht es um die materiellen Implikationen sozialer Wirklichkeit, zum anderen um die kulturelle Verknüpfung der sozialen Praxis. Zum Ersten: Auch wenn das moderne Denken die Dinge aus der gesellschaftlichen Konstruktion sozialer Wirklichkeit verbannt hat, leben wir doch immer schon in Gesellschaft der Dinge, die es als Teilnehmer sozialer Praktiken mit zu berücksichtigen gilt. Gerade die technischen Dinge, allen voran der Computer, zeigen dies in dramatischer Weise, denn trotz oder gerade wegen der zunehmenden ‚Virtualisierung‘ der Kommunikation im Zeitalter der Globalisierung lässt sich keineswegs von einer ‚Ent-Materialisierung‘ der Kommunikation sprechen. Im Gegenteil: Die ‚Hardware‘ medienvermittelter Kommunikation ist omnipräsent: In fast allen privaten wie öffentlichen Räumen stehen Computer, ob im Schlafzimmer, in der Bibliothek oder auf dem Bahnsteig. Hier breiten sich neben elektronischen auch materielle Netzwerke von Objekten und Dingen aus, seien es Computerprogramme oder -tische, Disketten und CDs, oder einfach nur Steckdosen und Kabel. Auch sie sind Teil der neuen Praktiken einer technisch vermittelten Kommunikation, bei der nicht nur öffentliche Plätze zu individuellen Kommunikationsräumen und umgekehrt mutieren oder Geräte wie das Laptop oder Handy als neue Statussymbole in Erscheinung treten können, sondern auch ‚Naturräume‘, wie Strand, Berg oder Garten zu technisch vermittelten Kulturräumen transformieren (vgl. Burkart 2000: 216). Das Konzept der sozialen Praktiken macht klar, dass die Objektwelt immer schon an der Formung der Sozialwelt Teil hat. Naive Kulturansätze übersehen das; sie machen die Sachwelt in einseitiger Weise zu bloßen Objekten der Deutung, der Symbolisierung, der sozialen Konstruktion, ohne das ‚Mitspielen‘ der Dinge an Situationen und Praktiken in den Blick zu nehmen. Doch gerade für die Rhetorik raum-zeitlich entgrenzter oder auch delokalisierter Kommunikationsverhältnisse gilt es, die Gesellschaft der Dinge mitzuberücksichtigen: Erst durch die Vermittlung der Dinge sind menschliche Interaktionen de-lokalisiert; erst durch das Mitwirken der Dinge sind Interaktionen über Räume und Zeiten hinweg möglich: „Jedes Mal, wenn eine Interaktion in der Zeit andauert und sich im Raum ausweitet, dann heißt das, dass man sie mit einem nicht-menschlichen Akteur geteilt hat“ (Latour 2001: 248).
Wir können nicht das Subjektive und Intersubjektive als quasi-natürlichen Endpunkt unserer soziologischen Analyse nehmen, sondern müssen sie um das Konzept der „Interobjektivität“ ergänzen. Ansonsten deklarieren wir Kommunikation via Email oder SMS vorschnell als Abweichung, Verzerrung oder gar Niedergang der ‚wahren‘, ‚reinen‘ intersubjektiven Face-to-Face-Kommunikation, ohne uns klar zu machen, dass auch die Face-to-Face-Kommunikation objekt-vermittelt ist: durch Position und Aussehen der Körper, durch Raum-, Licht- und Lärmverhältnisse,
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durch Kleidung, Brillen oder Hörgeräte oder einfach nur durch die Möbel, Bilder und Wände.6 Auch das heute Intersubjektive ist eine bestimmte historische Hervorbringung sozialer und kultureller Praxis inmitten der Dinge, die allenfalls durch ihre Inkorporierung und Routinisierung vergessen wurden. Zum Zweiten: Wenn sich viel von uns und unserer Welt in oft nicht artikulierten sozialen Praktiken ‚auslebt‘, dann muss auch vieles von unseren Vorstellungen von der Welt als implizit in unserem Alltagshandeln ausgedrückt gesehen werden. Etliches von unserem Weltverständnis ruht in unseren Praktiken, nicht in Texten, in einem impliziten Handlungswissen, nicht in expliziten Fakten- und Lösungswissen, in informellen accomplishments, nicht in formalen Vorgaben und Regeln. Kultur und kulturelles Wissen erscheinen dann als sozialer Prozess, in dessen Verlauf sich immer häufiger unterschiedliche, auch widersprüchliche Wissensregister und Sinnmuster im gleichen Akteur kreuzen. Gerade im Zuge weltweiter Vernetzung und großer Migrationsbewegungen von Waren, Menschen und Bedeutungen gewinnen kulturelle Überlagerungen und Überschneidungen zunehmend Normalität. Lange Zeit kompatible kulturelle Wissensbestände zersplittern und mischen sich neu, indem sie von den Akteuren mit zunehmender Routine in die alltäglichen Praktiken eingebracht und dem gemeinsamen Handeln unterlegt werden. Hier sind solche ‚Experten des Alltags‘ gefragt, die neue Kompetenzen entwickeln: Ein Gespür für Differenz, was den Einfluss bisher gültiger Konventionen und Normen auf gegenwärtige und zukünftige Handlungen angeht, aber auch die Fähigkeit, mit Ambiguität, Unbeständigkeit, Kurzfristigkeit und Vorläufigkeit zu ‚leben‘, sie für sich zu nutzen. Wer diese kompetenten ‚Experten des Alltags‘ sind und ob es ihnen auf Dauer gelingt, die Gleichzeitigkeit von Anpassung und Autonomie, die bestimmte Unentscheidbarkeiten aushalten kann, zu praktizieren, ist eine empirisch offene Frage.
Anmerkungen 1 2 3
4
Vgl. hierzu klassisch Marcus/Clifford (1986). Für die Schwierigkeiten der Soziologie mit dem Phänomen der Kontingenz vgl. u.a. Hörning (1989). Richtungsweisend sind in diesem Zusammenhag Harold Garfinkels ethnomethodologische Arbeiten zur Aufwertung des impliziten Alltagshandelns (1967). Alltagshandeln untergliedert sich für ihn in eine Vielzahl tagtäglicher Handlungsprozeduren, Vorgehensweisen und Techniken, derer sich die Mitglieder einer Gesellschaft bedienen, um die Geordnetheit, Rationalität und Darstellbarkeit des Alltagslebens herzustellen bzw. erkennbar zu machen. In allen Definitionsversuchen liegt daher der Schwerpunkt auf der Tatsache, dass die praktischen Handlungen als Hervorbringung sozialer Wirklichkeit (accomplishment) angesehen werden. Bourdieu selbst spricht von einer Art „ontologischer Komplizenschaft“ zwischen Habitus und der ihn determinierenden Welt, die die Welt und die Geschichte in gewisser Weise mit sich selbst kommunizieren lässt, indem nur solche Akteure ständig die objektivierte Geschichte aktivieren, die durch die in ihnen einverleibte Geschichte dafür prädisponiert sind.
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So beeinflussen vorhandene Bauwerke die Planung derjenigen, die das nächste Haus bauen. Aber auch die vorhandenen Bauwerke früherer Praktiken erfahren durch den aktuellen Rückgriff fast immer eine Umdeutung. Sie werden – je nachdem – zu ‚Musterobjekten‘ oder ‚abschreckenden Beispielen‘. Ulla Johansen hat dies in ihrer viel diskutierten Kritik an der einseitigen Auseinandersetzung der Ethnologie mit der Materialität der Kultur am Beispiel des Kölner Doms illustriert: „Gegen Ende des Mittelalters wurde er zum Lobe Gottes und sicher auch, um die Attraktion der Stadt für Pilger an den Dreikönigsschrein zu steigern, begonnen, am Ende des vorigen Jahrhunderts im Auftrag eines Kaisers aus Preußen als Zeichen nationaler Größe vollendet und bildet heute auch für Atheisten und Gegner jeden Nationalismus in Köln ein wesentliches, wenn nicht das wichtigste Symbol ihrer Ortsbezogenheit“ (Johansen 1992: 9). Hier kann derselbe Kommunikationsinhalt, etwa die Frage nach der sozialen Herkunft, an der Theke als ‚Flirt‘, in der Kantine als ‚Affront‘ und am Schreibtisch als ‚Vorstellungsgespräch‘ gelten.
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1 ‚Kultur‘ als umkämpfter Begriff und die Cultural Studies Seit dem ersten Erscheinen des vorliegenden Textes 1997 haben sich die Cultural Studies in Deutschland zwar nicht etabliert, aber sie nehmen doch einen festen Platz in der Wissenslandschaft und in der Vorstellung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein. Die Reihe der damals schon vorliegenden einführenden Texte (Angerer/Dorer 1994; Krotz 1992b, 1995) hat sich vermehrt (z.B. Hepp 1998, 2004a), es liegen auch mittlerweile über den Aufsatz von Morley (1996) hinaus zahlreiche weitere übersetzte Originaltexte vor, die den Diskurs der Cultural Studies aufzeigen und zum Teil auch anbieten, in die Diskussion mit einzusteigen (Bromley et al. 2003; Hepp/Winter 2003). Dazu hat sicher auch der vorliegende Band beigetragen. Gleichwohl sind die Cultural Studies – Mitte der 1990er Jahre sprach man noch vom „Cultural Studies Approach“ – in der deutschen Wissenschaftslandschaft kaum etabliert: Sie verfügen nur über wenig institutionellen Rückhalt in den Universitäten und wissenschaftlichen Vereinigungen, und auch auf Verbandstagungen oder in wissenschaftlichen Journalen sind explizit ihnen erkennbar zuzurechnende Aufsätze eher selten zu finden. Dafür gibt es viele Ursachen, nicht zuletzt auch Streitigkeiten und Abgrenzungen innerhalb der Gruppe derer, die sich den Cultural Studies zurechnen. Das liegt aber vor allem daran, dass die Cultural Studies unter einen allgemeinen Begriff der Kulturwissenschaft operieren – und damit beanspruchen sie einen Platz in einem umkämpften Feld. Als Akteure lassen sich auf diesem Feld die klassische deutsche Kultursoziologie, die Kritische Theorie, die literatur- und sprachwissenschaftlich fundierte Medien- und Kulturwissenschaft sowie Teile der sozialwissenschaftlichen Kommunikationswissenschaft identifizieren. Die klassische deutsche Kultursoziologie, die beispielsweise an Simmel und dem später von der nationalsozialistischen Soziologie verdrehten Ferdinand Tönnies, an Karl Mannheim und anderen anknüpfen kann und anknüpft, ist nach dem Zweiten Weltkrieg eher randständig geblieben; sie hätte auf viele Fragen eine gute
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Antwort, die aber selten auf die heutigen Fragestellungen hin zugespitzt zu sein scheint.1 Die Attraktivität der Cultural Studies als einem interessanten Newcomer in der Wissenschaftslandschaft bietet sich da an, diesen Ansatz einzugemeinden – was aber angesichts der Komplexität der Cultural Studies nicht einfach ist und nur dann möglich wäre, wenn die klassische Kultursoziologie sich wirklich öffnete. Eine kreative Kooperation könnte beiden nützen. Die Kulturindustrietheorie von Adorno und Horkheimer (1971) hat viele Berührungspunkte mit den Cultural Studies – beispielsweise zählen beide Marx und Freud zu ihren Orientierungspunkten, wenn auch in unterschiedlicher Form: Georg Lukács als undogmatischer Theoretiker des realen Sozialismus auf der einen Seite, Antonio Gramsci als undogmatischer Theoretiker des Klassenkampfes im Kapitalismus, der auch auf kultureller Ebene stattfindet, auf der anderen; eher orthodoxe Schüler Freuds auf der einen Seite, die meist audiovisuelle Filme mit den Instrumenten der Traumdeutung analysieren, Lacan und seine Anhänger auf der anderen Seite, die in der Tradition der französischen Psychoanalyse eine viel direktere Beziehung zwischen Medien, Kommunikation und Mensch unterstellen und viel übergreifendere Schlussfolgerungen ziehen (Schirato/Yell 2000). Auch die dialektische Methode bei der Analyse Adornos und Horkheimers ist ebenso ein Verbindungsglied wie das Konzept der Kulturindustrie generell, das sich in den Cultural Studies – zum Beispiel – darin wieder findet, dass hier der Umgang mit Medien als Konsum und damit wesentlich breiter als bloß als Rezeption oder gar als Nutzung gefasst wird. Als Hauptunterschied wird meist die Differenz zwischen Adornos Wertschätzung der Hochkultur und der Betonung Populärkultur im Rahmen der Cultural Studies herausgestellt. Dazu ist aber zu sagen, dass sich weder Adorno nur mit Hochkultur noch die Cultural Studies ausschließlich mit Populärkultur beschäftigt haben. Letzteres sieht man leicht, wenn man die Schriften von Williams und insbesondere auch von E.P. Thompson und Richard Hoggart ansieht. Obendrein besteht auch hier eine wesentliche Gemeinsamkeit, nämlich die, dass die jeweilige Betonung auf der Ausschnitt von Kultur liegt, dessen aktivierende Funktion gegen den Kapitalismus betont werden soll. Also wäre auch an dieser Stelle eine gegenseitige Befruchtung möglich, die sich auf verschiedene Anknüpfungspunkte beziehen könnte, wobei für die Cultural Studies die Arbeiten in Anlehnung an Habermas, für die Kulturindustrietheorie die Auseinandersetzung mit Fiske und anderen und den darauf gründenden empirischen Ergebnissen fruchtbar wären. Die literaturwissenschaftlich fundierte Medienwissenschaft in Deutschland betont ihre Affinität zu den Cultural Studies dadurch, dass sie darauf verweist, dass sie sich mit dem Gleichen beschäftigt wie die Cultural Studies, allerdings ohne einen derart griffigen Titel verwendet zu haben. Dieses Argument hat eine gewisse Berechtigung darin, dass die Cultural Studies erst relativ spät zur empirisch fundierten Sozialwissenschaft wurden, wie die oben zitierten Darstellungen der Cultural Studies und ihrer Entstehung deutlich machen, und dies immer auch nur zum Teil ist. Daraus lässt sich aber natürlich nicht schließen, dass der Begriff der Kultur im Zusammenhang mit Kommunikation nur von einem medienwissenschaftlichen Standpunkt aus verwendet werden darf – Kultur, Medien, Kommunikation sind zu-
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gleich geistes- und sozialwissenschaftlich zu theoretisierendes Phänomene, deren Verstehen ohne diese Dualität immer einseitig bleibt. Es ist ein grundsätzliches und in allen Disziplinen zu findendes Missverständnis, die Cultural Studies durch Exklusion der Anderen zu definieren – ihr besonderer Charakter und ihre Attraktivität liegen gerade in der theoretisch basierten Inklusion. Hier könnten sich kommunikations-/sozialwissenschaftliche und medien-/literatur-/sprachwissenschaftliche Ansätze auch in Deutschland mit Aussicht auf reichlich Synergien begegnen. Wenn sie denn wollten. Die sozialwissenschaftlich orientierte Kommunikationswissenschaft schließlich hat sich in den letzten Jahrzehnten viel zu sehr auf einen zu engen Kommunikationsbegriff konzentriert und diskutiert immer noch über die Frage, ob es außer dem Kernbereich der öffentlichen Kommunikation und seiner Bedeutung für die Formen des menschlichen Zusammenlebens tatsächlich noch andere, gleichwertige Fragen für sie geben kann. Dass die These von der Informations-, Wissens- oder Mediengesellschaft, in der wir heute leben, viel weitergehende Ansprüche an die Kommunikationswissenschaft stellt, wird dabei ignoriert. Die meisten derer, die hier für eine Öffnung argumentieren, gehen von einem engen Zusammenhang zwischen Kultur und Kommunikation aus und verweisen auf den Erfolg der Cultural Studies im angelsächsischen Raum (vgl. hierzu auch Karmasin/Winter 2003). Dieser Erfolg ist nicht nur ein konjunktureller, sondern besteht auch darin, dass ein hochkomplexer, integrativer und kulturell adaptionsfähiger Theorieentwurf im Entstehen ist, der helfen kann, die Komplexität der sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Entwicklungen der Gegenwart in ihrem Kontext zu begreifen. Das ist auch der Ausgangspunkt des vorliegenden Textes, der von daher für eine breit angelegte Theorieentwicklung argumentiert. In diesem Feld also versuchen sich die Cultural Studies in Deutschland zu institionalisieren. Wie es ihnen darin weiter ergeht, darauf kann man gespannt sein. Notwendig wäre es für ihre Protagonisten, offen für die bereits vorhandenen Player zu sein und in der Kooperation mit ihnen das eigene und besondere der Cultural Studies, nämlich ihre kritische Integrationsfähigkeit herauszuarbeiten. Wichtig dafür wäre es, wenn die Cultural Studies ihre eigene Theorie ernst nähmen, nämlich dass Gesellschaft, Kultur und Entwicklung konfliktbasiert und damit weder exkludierend noch dogmatisch stattfinden – mit einer darauf bezogenen Analyse der eigenen Möglichkeiten käme man vielleicht zu einer vernünftigen Strategie, auch im deutschen Sprachraum. Während sie sich im angelsächsischen mittlerweile zu einem Sammelbecken qualitativer, ethnografischer, phänomenologischer, symbolisch-interaktionistischer und sonstiger nicht dem sozialwissenschaftlichen Mainstream zuzurechnender Ansätze entwickelt haben, in dem sie fast schon in ihrer Besonderheit zu verschwinden drohen, bleiben sie hier zu Lande eher klein und für sich. Hier wäre anzusetzen und in den Dialog mit verwandten Ansätzen einzutreten, die sich eigentlich gerade auch in den deutschen geistes- und sozialwissenschaftlichen Traditionen finden. Zu einer derartigen Auseinandersetzung will auch der hier vorliegende Text beitragen, indem er sich mit dem Menschenbild der Cultural Studies beschäftigt und es
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mit dem Menschenbild des Symbolischen Interaktionismus kontrastiert. Jede sozialwissenschaftliche Theorie hat explizit oder implizit ein Verständnis davon, was Menschen sind und was für eine Rolle sie für das spielen, was also Thema dieser Theorie ist. Das Konzept ‚Menschenbild‘ eignet sich folglich gut dazu, unterschiedliche Theorien miteinander zu vergleichen, insofern es Unterschiede auf den Punkt bringt und damit Möglichkeiten eines weiterführenden Diskurses eröffnet. Dabei ist im vorliegenden Fall selbstverständlich klar, dass sich beide Ansätze voneinander deutlich unterscheiden: während der Symbolische Interaktionismus eine konstruktivistisch orientierte Handlungstheorie ist, müssen die Cultural Studies als kontextorientierte, kulturell dependente, aber hoch komplexe und integrationsfähige Strukturtheorie verstanden werden. Da sie aber auf einem gemeinsamen Grund beruhen, ist eine gegenseitige Befruchtung möglich. Im Folgenden wird dazu zunächst für beide Ansätze gemeinsam der Zusammenhang zwischen Kommunikation und Kultur aufgezeigt, um damit deutlich zu machen, dass Cultural Studies und Symbolischer Interaktionismus nahe beieinander liegende Theorien sind. Dann wird zunächst das Menschenbild der Cultural Studies, danach das des Symbolischen Interaktionismus herausgearbeitet. In einem abschließenden Teilkapitel werden Schlussfolgerungen aus der Gegenüberstellung gezogen.
2 Kommunikation und Kultur Ausgangspunkt ist in dieser Hinsicht die These, dass die Welt des Menschen symbolisch vermittelt bzw. der Mensch Bewohner einer rein symbolischen Welt ist. Im Gegensatz zur Vorstellung vom Menschen als Maschine und zum Pawlowschen Hund, dessen Speichelproduktion durch das Klingeln seines Betreuers unmittelbar und automatisch angeregt wird, handeln Menschen im Normalfall nicht automatisch oder reaktiv im Hinblick auf beobachtbares Geschehen, auf Reize oder genormte Zeichen, sondern auf Grund der Bedeutungen, die ein Objekt, ein Geschehen, ein Reiz oder allgemein, ein Zeichen für sie hat. Und dies ist eine Differenz, die für das Verhältnis zwischen Mensch und Tier fundamental und charakteristisch ist. Der Mensch ist folglich Mensch nur dadurch, dass er über Kommunikation, symbolisch vermittelte Interaktion und über Sprache verfügt. Deshalb sind Menschen symbolische Wesen oder Wesen, die auf den Umgang mit Symbolen fundamental angewiesen sind. Durch die Möglichkeit und die Wirklichkeit des Hantierens mit Zeichen und Symbolen auf der Basis von aktiv und kommunikativ konstituierten Bedeutungen und insbesondere durch die Sprache unterscheiden sie sich vom Tier. Ohne dieses ontologisch differenzierende Vermögen wäre der Mensch nicht lebensfähig, weil er biologisch bei der Geburt als unfertiges und für die direkte Bewältigung der Umwelt unfähiges Wesen angesehen werden muss, das von sozialen, symbolisch vermittelten Beziehungen existenziell abhängt und sich nur darüber selbst als Teil der Gesellschaft erschaffen kann. Mit seiner Geburt steht er folglich vor der Notwendigkeit, Kommunikation zu lernen, und dafür ist er biologisch gerüstet. Und er
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konstituiert seine Welt durch sein gesellschaftlich bezogenes Handeln in Bezug auf Symbole (Berger/Luckmann 1980). Norbert Elias hat diesen Bezug zu Symbolen als Charakteristikum der Menschen besonders betont: „As one may see, human beings do not live in a four-dimensional, but in a five-dimensional world. They locate objects of communication in accordance not only with their position in space and time, but also with their position in the speakers‘ own world as indicated symbolically by the sound-pattern which represents them in the speakers‘ language“ (Elias 1989: 514f., Hervorhebung im Original, vgl. auch ebenda: 200).
Er spricht in diesem Zusammenhang auch von dem doppelten Charakter unserer Erfahrungswelt, „as a world independent of, but including, ourselves and as a world mediated for our understanding by a web of human-made symbolic representations predeterminded by their natural constitution, which materializes only with the help of processes of social learning“ (Elias 1989: 518).
In dieser Perspektive lassen sich jede Art von Kommunikation, ganz gleich ob mediatisiert oder nicht, ob mit anderen Menschen, intelligenten Maschinen und Softwareprogrammen (wie etwa Computerspielen) oder mit standardisierten Produkten wie beim Lesen von Zeitungen oder dem Hören von Radio als Menge von kulturell geprägten Praktiken, Konventionen und Formen begreifen, wie man hört und sieht, spricht, denkt und träumt, wie man interagiert und auf andere gerichtete Interaktion erlebt.2 Kommunikation ist also nicht nur Austausch von Informationen, sondern basaler und komplexer symbolischer Prozess, durch den Realität erzeugt, aufrechterhalten, korrigiert und weiterentwickelt wird (Carey 1989: 23). Die für die Kommunikation verwendeten Symbole haben danach einen Doppelcharakter: Sie sind ‚of reality‘, indem sie Realität begrifflich bezeichnen – hier ist die Informationstransporteigenschaft angesiedelt, auf die sich die Mainstream-Kommunikationswissenschaft bezieht (Maletzke 1978; Noelle-Neumann und andere 1994) –, und zugleich ‚for reality‘, indem sie sie damit auch generieren, weil sie erst durch einen Begriff erfahrbar werden. Damit erweisen sich Kultur und Kommunikation als untrennbar miteinander verbunden. Denn einerseits ist Kultur das „geordnete System von Bedeutungen und Symbolen […], vermittels dessen gesellschaftliche Interaktion stattfindet“ (Geertz 1991: 99), Kommunikation bedient sich also kulturell eingebetteter Symbole. Andererseits entsteht und entwickelt sich die Bedeutung der Dinge bzw. der auf sie verweisenden Symbole aus der sozialen Interaktion, die die Menschen mit ihren Mitmenschen betreiben, in den interpretativen Prozessen, in denen sie sich mit ihrer immer symbolisch konstruierten Umwelt auseinandersetzen (Carey 1989; Hall 1980; Blumer 1973). Ohne Rückgriff auf kulturelles Wissen wäre Kommunikation nicht möglich, und ohne Kommunikation könnte Kultur weder existieren noch sich entwickeln. Ohne Sprache als Struktur gäbe es kein Sprechen und Denken als Handlung und ohne Sprechen und Denken als Praxis gäbe es keine Sprache. Deshalb muss ein kulturwissenschaftliches Konzept von (Medien-)Kommunikation mindestens drei Bedingungen erfüllen: Es muss einmal darstellen können, wie Kommunikation zwischen Menschen bzw. zwischen Menschen und Medien funktioniert. Es muss zum zweiten über eine adäquate Sozialisationstheorie verfügen, um
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Genese sowie gesellschaftliche und historische Bedingungen von Interpretationskontexten und Bedeutungszuweisungen erkennbar zu machen, sodass der Mensch zu allererst als kommunikatives Wesen kenntlich wird. Und es muss schließlich zum dritten eine Sichtweise auf die Gesellschaft als ‚fassbare Form der permanenten Interaktionsprozesse, als das Interaktionssystem selbst‘, wie Geertz (1989: 99) soziale Struktur von Kultur abzugrenzen versucht hat, entwickeln. Diese Bedingungen kann m.E. derzeit keine der existierenden Theorien allein erfüllen. Erst in einer Kombination kann hier eine Basistheorie entstehen, die der Bedeutung von Kommunikation für das Zusammenleben der Menschen und ihren Bezug zur Kultur als Netz von Bedeutungen gerecht wird.
3 Cultural Studies: Hegemonie, Gesellschaftsstruktur und der kommunizierende Mensch Die Cultural Studies verstehen Kommunikation als Bezugnahme und Einordnung und damit Rekonstruktion von strukturellen gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen durch das gesellschaftlich positionierte Subjekt. Diese Ausrichtung auf Strukturen ergibt sich schlüssig aus der Orientierung der Cultural Studies an der Semiotik bzw. Sprachwissenschaft und aus ihrer von Beginn an gestellten Frage danach, wie denn ein Text, eine Medienbotschaft gemeint ist. Dabei gilt Struktur in zweierlei Hinsicht als prioritär. Zum einen grundsätzlich im Sinne der Sapir-Whorf-Hypothese (Whorf 1969), nach der jedes Denken und Handeln sprachlich vermittelt ist. Jedes Sprechen und Denken verweist damit auf eine vorgegebene Kultur und eine strukturierte Gesellschaft. Es ist ohne diesen Verweis nicht zu verstehen. Zum anderen als Prämisse einer kritischen Gesellschaftstheorie, die darauf besteht, dass die je praktizierten Lebens- und Umgangsformen immer auch gesellschaftlich vermittelt und dementprechend von den gesellschaftlichen Machtbedingungen durchsetzt sind: Rezeption und Interpretation verweisen deshalb auf kulturell und gesellschaftlich vorgegebene Diskurse, sie sind – in Abwandlung eines Worts von Habermas – systematisch verwirrt. In der Sichtweise der Cultural Studies produzieren Medien kodierte Botschaften in Form eines bedeutungsvollen Diskurses. Basis für den Kodierungsprozess sind die Wissensbestände auf der Produktionsseite, die sozialen und ökonomischen Beziehungen der Produktion und ihre technische Bedingungen, insgesamt also die dadurch konturierten „meaning structures“ (Hall 1980). Diesem Kodierungsprozess ist damit auch eine spezifische Leseweise mitgegeben, ein Verweis, wie und in Bezug auf welche gesellschaftlichen Diskurse ein ‚idealer Leser‘ die Botschaft zu lesen hat. Beispielsweise weiß jeder mehr oder weniger genau, wie man einen Hollywood-Film oder wie man Nachrichten rezipieren soll, – nicht nur im normativen Sinn und in Abhängigkeit von den jeweiligen Inhalten, sondern auch ganz allgemein nach der Anlage des Genres, das als eine Art kommunikative Gattung spezifische Haltungen und Umgangsweisen nahe legt. Dieses von Seiten der Kommunikatoren
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mitgelieferte „preferred reading“ ist als eine Art im Text angelegte Empfehlungsstruktur, als eine Folge von Verweisen, die eine Interpretationsweise fördern und andere erschweren (Fiske 1987: 65), zu begreifen. Die psychoanalytische Filmtheorie (Metz 1994; Zeul 1994) und die frühen Rezeptionsvorstellungen der Cultural Studies haben sich auf diese Vorgabe konzentriert (Moores 1993; Morley 1992) und versucht, diesen idealen Leser zu beschreiben und die im Text angelegte Leseweise als eine Art Normalrezeption zu begreifen. Aber mit der Textvorgabe allein kann der Rezeptionsprozess nicht verstanden werden, wie es vor allem das Encoding/Decoding-Modell Halls (1980) postuliert. Texte stehen nicht für sich, es geht auch nicht vorrangig um ihre manifesten, in Inhaltsanalysen erhebbaren Inhalte, denen auf der Seite der Rezipienten Konsumtions- oder Geschmacksprozesse gegenüberstehen. Vielmehr sind sie, ebenso wie beispielsweise Kunstwerke, nichts als Notationen, die von den Rezipienten aktiv interpretiert, also kontextbestimmt dekodiert werden müssen und die erst in dieser Interpretation zu untersuchbaren Kommunikaten werden. Mediale Texte sind folglich dadurch bestimmt, wie die Menschen mit ihnen umgehen: Jeder Text verweist auf spezifische gesellschaftliche Praktiken, die mit anderen Praktiken und Praxisbereichen der Menschen in Verbindung stehen. Die Frage nach dem Umgang der Menschen mit den Medien kann sich demnach nicht an einem Modell der nutzbringenden Verwendung einer als objektiviert gedachten Mitteilung orientieren, wie es etwa der Uses-and-Gratifications-Ansatz (Rosengren et al. 1985) annimmt, sondern muss die Konstruktion des Textes als soziale Tatsache durch den Leser, also die aktive Interpretation als gesellschaftliche Praxis in den Vordergrund stellen. Texte appellieren also in der Perspektive der Cultural Studies einerseits an relativ stabile, spezifische kulturell geformte Subjektivitätsebenen des Rezipienten, insofern sie bestimmte Lesarten nahelegen. Denen stehen andererseits ebenfalls zeitlich und gesellschaftlich stabile Interpretationsweisen des rezipierenden Subjekts gegenüber, das zur Interpretation in (für es) relevanten Kontexten entstandenes und erfahrenes Wissen und seine Denkweisen heranzieht. Im Spannungsverhältnis dieser beiden deutungsprägenden Ebenen entsteht der subjektiv konstruierte Text, der als interpretierter in den Wissensvorrat des Subjekts integriert und so zur sozialen Tatsache wird. So lässt sich also das damit entworfene Konzept der Cultural Studies gegen die analytische Trennung von medialem Angebot und Rezeption mit dem prägnanten Satz „texts are made by their readers“ auf den Punkt bringen (vgl. auch Wren-Louis 1983). Die mögliche Vielfalt, wie ein Text interpretiert werden kann, darf dabei nicht als pluralistisch verstanden werden. Denn nicht alle Bezugsrahmen, in die der Text eingeordnet werden kann, sind gesellschaftlich gleichwertig – hier wird der Bezug auf das Gramscische Hegemoniekonzept (Gramsci 1991; Williams 1983a) sichtbar. Nach Gramsci meint Hegemonie, dass eine dominierende Klasse ihre Interessen so zur Geltung bringt, dass auch subalterne Klassen die ihren in gewissem Ausmaß darin wiederfinden. Dies wird nicht als Zustand gesehen, sondern als ein kontinuierlicher Prozess der Reproduktion der Gesellschaft, auf den dementsprechend auch Einfluss genommen werden kann:
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„Vielmehr handelt es sich dabei um einen ganzen Korpus von Praktiken und Erwartungen, um all das, worauf wir unsere Energie verwenden, um unser Verständnis von Welt und Mensch. Es handelt sich um ein Bündel von Bedeutungen und Werten, die, da sie als Praktiken erfahren werden, sich gegenseitig zu bestätigen scheinen. Und dies konstituiert für die meisten Menschen der Gesellschaft einen Sinn von Realität, von absoluter, da erfahrener Realität, über den sie in ihrem normalen Lebensbereich nur schwer hinausgehen können.“ (Williams 1983b: 190f.)3.
Das Individuum wird von den Cultural Studies folglich als kulturell vermitteltes und gesellschaftlich situiertes verstanden, das freilich durch seine Formung unter dem Einfluss unterschiedlicher gesellschaftlicher Agenturen gebrochen und widersprüchlich ist, und dessen Handeln und Interpretieren vor allem diskurs- und perspektivenabhängig ist. Die gesellschaftliche Positionierung des Individuums erscheint dadurch als zentraler und prägender Kontext jeder Medienrezeption. Der Rezipient interpretiert vor allem im Hinblick auf seine materielle Lebensbasis und seine weiteren wesentlichen Lebensbedingungen wie Generation und Geschlecht, sein soziales Beziehungsgefüge und seine Interessen, indem er die dadurch geprägten Sichtund Deutungsweisen an das Kommunikat heranträgt.4 Anders ausgedrückt heißt dies, dass medienbezogene Kommunikation in der Sicht der Cultural Studies ihren Bezug immer in spezifischen gesellschaftlichen Diskursen findet, verstanden als „socially located and politically interested way of making and circulating a particular sense of social experience“ (Fiske 1994: 471). Leser und Leserin beziehen sich auf gesellschaftliche Diskurse (denen sie möglicherweise fragmentiert gegenüberstehen), und ihre Rezeption findet durch das ‚Zitieren‘ dieser Diskurse als Interpretationsfolie statt. Die Cultural Studies, so lässt sich daraus folgern, tendieren zu einem kulturellen Determinismus, der die kommunikativen Aktivitäten der Individuen recht rigide auf die kulturelle Wirklichkeit eines strukturierten gesellschaftlichen Lebens bezieht. Diese Sichtweise verweist dann wieder auf die enge Beziehung dieses Ansatzes zu einer strukturell angelegten Semiotik. In diesem Sinn haben die Cultural Studies ein sehr spezifisches und insgesamt einseitiges Menschenbild: Über eine Vorstellung, wie der konkrete Kommunikationsprozess in konkreten Situationen zwar als gesellschaftlich präformiertes und entscheidend bestimmtes Geschehen, aber zugleich doch auch als individuelles kreatives Handeln verläuft, die zur Korrektur dieses Menschenbildes beitragen könnte, verfügen die Cultural Studies nicht. Die Besonderheiten individuellen Handels und individueller Kommunikation auf der Basis individueller Biografiekonstruktion und Identität geraten ihnen so nur als Randbedingungen in den Blick.
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4 Symbolischer Interaktionismus: Kommunikation als konkretes und situatives Handeln und Erleben Komplementär zu den Einsichten der Cultural Studies hat sich der ebenfalls als kultursoziologisch zu apostrophierende Symbolische Interaktionismus (Krotz 1992a, 1996a, 1996b, 2001a, 2001b) nun gerade mit dem beschäftigt, was als Leerstellen der Cultural Studies bezeichnet werden muss. Der symbolische Interaktionismus begreift Kommunikation als kreative Leistung des methodisch und regelgeleitet handelnden Individuums und konzentriert sich auf die situationalen und personalen Kontexte von Kommunikation. Soziales Handeln und jede Form der Kommunikation haben danach ihren Ursprung in als prozessual gedachten, konstruierten Vis-àVis-Situationen, in denen die beteiligten Individuen in Rollen miteinander interagieren. Dabei werden im Prozess des Aushandelns dessen, was die Situation ist, Bedeutungszuweisungen und Interpretationsregeln angewandt, überdies werden sie dabei auch immer wieder neu erzeugt. Situation5 darf dabei nicht als das in externer Perspektive Beobachtbare, als das objektiv hier und jetzt Vorhandene missverstanden werden. Vielmehr muss sie in der Perspektive des Akteurs als ein konstruiertes, strukturiertes Ganzes begriffen werden, dessen Horizont genau das einschließt, was für den Akteur von Bedeutung ist (Halas 1985: 160) bzw. was ihm von anderen Beteiligten als bedeutsam nahe gelegt wird. Situation als Entität in der Perspektive der Akteure beinhaltet insbesondere auch eine spezifische Interpretation der individuellen Geschichte und der gewachsenen Identität des jeweiligen Akteurs. Und natürlich wird sie im Hinblick auf kulturelle und gesellschaftliche Regeln, Normen und Werte definiert, wie zum Beispiel die mikroanalytischen Untersuchungen Goffmans (1973, 1977, 1982) deutlich machen. Die Definition der Situation, die jeweiligen Rollen, in denen die Beteiligten auftreten, ihre aktuellen Interessen und Absichten und ihre spezifische Identität, all dies beruht auf strukturellen, beispielsweise über Sozialisation zur Geltung kommenden Einflüssen wie etwa der sozialen Definition des Geschlechts und der gesellschaftlichen Position. Diese strukturieren die Interpretationen und die Konstruktion von Wirklichkeit, aber sie determinieren sie nicht, weil dafür auch personal bestimmte, mehr oder weniger individuelle, situative Bedeutungszuweisungen und Gefühlslagen relevant sind. Welche Rolle etwa die vom Individuum vorgängig gemachten und verarbeiteten Erfahrungen und die darauf konstituierte Identität dabei spielen, beschreiben Miebach (1991) sowie Burkitt (1991) im Rahmen der Darstellung und Bedeutung des Sozialisationskonzepts des Symbolischen Interaktionismus. Dem ist hier nur noch kurz anzufügen, dass der Symbolische Interaktionismus auf der Basis der Arbeiten Meads (1969, 1973) ein eigenständiges handlungstheoretisch orientiertes Kommunikationskonzept beinhaltet. Es unterstellt auf der einen Seite die Produktion von Symbolen, die aber nur dadurch verstanden werden kann, weil und insofern der Rezipient in der aktuellen Situation imaginativ die Rolle des
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Anzeigenden übernimmt und darin auf der Basis seiner eigenen Erfahrungen in der gleichen Gesellschaft, also letztlich traditionell gestützt, einen Entwurf machen kann, was das Symbol wohl bedeuten soll. Die Kraft der Meadschen Theorie liegt darüber hinaus darin, dass sich dort auch Hinweise darauf finden, wie durch die menschlichen Interaktionen und ihre Bedingungen typisch menschliche Entitäten wie Bewusstsein und Selbstbewusstsein entstehen, ohne die das Besondere des vergemeinschafteten Menschen nicht bestimmbar wäre (vgl. hierzu auch Krotz 2001a).
5 Einige Schlussfolgerungen Symbolischer Interaktionismus und Cultural Studies berühren sich – wenn auch nicht explizit – im Begriff der Bedeutung und im Begriff der Kultur als lebenspraktisches Netz von Bedeutungen als zentrales Konzept dafür, was für das Individuum handlungsleitend ist. Dabei ist unter ‚Bedeutung‘ nicht ein Zusatz, eine Art von außen hinzugefügtes surplus etwa eines Objekts zu verstehen, sondern eine Wahrnehmungsweise, in der sich dieses Objekt überhaupt erst als eigenständiges Phänomen, als ‚Faktum‘ konstituiert. Bedeutungen legen also Handlungs-, Denk- und Sprechweisen hinsichtlich eines Objekts fest, durch sie entsteht das Objekt als Gegenstand menschlichen Handelns und Erlebens (Lindesmith/Strauss 1983). Die Cultural Studies fassen dies in ihrem Begriff der Kontexte, über die Bedeutung und Verstehen von Kommunikation vermittelt ist. Menschen leben dementsprechend in beiden Theorieansätzen in einer Welt aus gedeuteten Symbolen, die sie aber in der einen Theorie als Gesellschaftswesen, aber anderen im Hinblick auf die ihnen eigentümliche und nur ihnen eigene Identität in ihren Interaktionen konstruieren. Weil soziales Geschehen und soziale Strukturen aus dem sozialen Handeln der Menschen und damit aus ihren Interaktionen entstehen, wird damit das Bild einer durch und durch sozialen Welt unterstellt. Eine am Konzept der Bedeutung und nicht am Modell vom Informationstransport ansetzende Kommunikations- und Medientheorie muss deswegen von einer „Soziologie der sozialen Objekte“ (McCarthy 1989) in der Perspektive der Individuen ausgehen und an diesem – individuellen wie überindividuellen – Prozess der Bedeutungskonstruktion und Interpretation anknüpfen: Wissen entsteht nicht als Abbildung der Wirklichkeit, sondern in der Anwendung der Sprache und in der Praxis sozialen Handelns unter realen Bedingungen und innerhalb von Beziehungen in sozialen Situationen: „Things are the signs of words“ (Carey 1989: 25). Dinge sind dementsprechend nicht nur sich selbst erklärende (materiale) Objekte, sondern immer auch sprachlich und kulturell vom Individuum in der Gesellschaft gedeutete Gegenstände, der Mensch wird hier als aktiv und kreativ handelndes Kulturwesen kenntlich (vgl. hierzu auch Krotz 1996b, 1998). Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Symbolischer Interaktionismus und Cultural Studies (Medien-)Kommunikationstheorien entwerfen, die sich einerseits auf die gleichen Grundlagen, nämlich die Bedeutungskonstruktion durch die Men-
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schen, beziehen und die sich andererseits ergänzen, insofern sie je Sprechen und Sprache, situatives Handeln und Aktualisierung von Struktur, individuelle Kreativität und gesellschaftlich geprägten Diskurs betonen. Die beiden kulturwissenschaftlichen Ansätze gehen im Grunde zusammenhängenden Fragen nach, nehmen dabei aber unterschiedliche, oft komplementäre Sichtweisen ein. Wo ihre Inkompatibilitäten liegen, wäre vertiefend zu klären (vgl. auch Krotz 2001). Aus ihnen gemeinsam kann aber eine kultursoziologische Medienkommunikationstheorie entstehen, die offen und wohl auch kompatibel mit Theorien wie denen ist, wie sie Bourdieu oder Elias entworfen und belegt haben. Im Hinblick auf eine adäquate Empirie lässt sich ergänzend sagen, dass menschliches Handeln und die dadurch erzeugte soziale Welt prinzipiell immer rekonstruktiv und sinnverstehend untersucht werden müssen; quantitative Verfahren, die Handeln als Verhalten von außen betrachten, eignen sich nur zur Beschreibung von Rahmenbedingungen. Hinzu käme, dass eine solche Zusammenschau eine prozessorientierten Perspektive auf das ermöglicht, was Kommunikation und was soziale und kulturelle Entwicklung ist. Statt Kommunikation und Interaktion zu verdinglichen, wie es im Modell vom Informationstransport am Auffälligsten ist, und statt die sich rapide verändernde Gesellschaft und allgemeiner, die Formen menschlichen Zusammenlebens als einen Endzustand, als eine irgendwie zu erreichende Gesellschaft zu beschreiben, ist es in einem solchen Ansatz möglich, Kommunikation handlungstheoretisch als Prozess und Gesellschaft als sich weiter entwickelndes Produkt von Metaprozessen zu behandeln – der Symbolische Interaktionismus stellt hier die handlungstheoretische Perspektive bereit, die Cultural Studies verfügen mit ihrem Konfliktkonzept dazu über eine theoretische Sichtweise, die das Zustandekommen und die Interaktion von Metaprozessen theoretisierbar machen könnte (vgl. hierzu auch Krotz 1993). Eine derartige vereinigte kultursoziologische Perspektive wäre m.E. in der Lage, die derzeitigen gesellschaftlichen und medialen Entwicklungen adäquat zu erfassen, die unter Etiketten wie Digitalisierung, Individualisierung, Globalisierung oder Mediatisierung bisher für sich untersucht werden. Insofern sich Biografie, Selbstbild, Alltag und Handlungsbedingungen der Individuen verändern, verändern sich nicht nur die transportierten Informationen, sondern auch die Umgangsweisen der Menschen damit. Und durch die neuartigen Möglichkeiten einer interaktiven Kommunikation, die gewissermaßen zwischen zwischenmenschlicher Interaktion und medienbezoger Rezeption angesiedelt ist, entstehen neue Interaktionsbedingungen und verändert sich das kommunikative Handeln der Menschen. Hier läge ein wichtiger Schwerpunkt einer kommunikationssoziologischen Forschung, die auf ein Verständnis der sich immer stärker auch durch Medien verändernden Welt ausgerichtet ist.
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Um diese Behauptung nicht so offen stehen zu lassen: Viele der theoretischen Ansätze der Soziologie wie zum Beispiel die Individualisierungsthese oder die Globalisierungsdiskussion wären mit einer kultursoziologischen Reformulierung (wie sie Beck ja auch angemahnt hat), besser und gesellschaftlich relevanter zu diskutieren. Vgl. zum Folgenden insgesamt auch Krotz 1998 sowie Krotz 2001. In diesem Bezug auf Hegemonie als Bündel von Bedeutungen und Werten und ihrer Bestätigung als erfahrene Praxis ist ein weiterer wichtiger Gedanke enthalten. Nämlich der, dass das Individuum keineswegs frei ist, sich seinen Standpunkt willkürlich zu wählen. Denn das hegemonial bestimmte Denken ist mit dem Alltag untrennbar verwoben. Die gerne von Intellektuellen vertretene These, dass beispielsweise Game- oder sogenannte Kuppelshows im Fernsehen ganz generell auf ironische Weise rezipiert werden, geht deswegen an der gesellschaftlichen Wirklichkeit vorbei, ist vielleicht auch Teil der gesellschaftlichen Ideologie. Eine etwa reflexive Distanz zu dem, was normal und üblich ist, ist per Entschluss allein nicht zu gewinnen. Das Individuum, das als Teil des Publikums in der traditionellen Nutzungsforschung mehr oder weniger als abgegrenzte Einheit behandelt wird, wird dadurch in unterschiedliche gesellschaftliche ‚Komponenten‘ aufgelöst, die durch einen spezifischen medialen Text angesprochen werden können bzw. von denen her rezipiert werden kann. Vgl. auch das sog. Thomas-Theorem: Wenn Individuen eine Situation als real für sich definieren, dann ist diese Situation für sie auch real (Thomas/Thomas 1973).
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Inszenierungen des Begehrens: Zur Rolle der Fantasien im Umgang mit Medien Brigitte Hipfl
1 Vorbemerkungen Wenn ich in meinen Lehrveranstaltungen den Bereich der Medienrezeption bearbeite, bekunden die Studierenden immer wieder ihr Interesse an den unbewussten Prozessen, die bei Medienerlebnissen involviert sind. Mehr noch, sie gehen davon aus, dass diese eigentlich eine zentrale Rolle in der Erklärung von Medienrezeption einnehmen müssten. Wenn sie sich dann den verschiedenen theoretischen Ansätzen zuwenden, die gegenwärtig den mehrheitlich akzeptierten Kanon der Medienrezeptionsforschung bilden, finden sie darauf keine zufrieden stellenden Antworten. Entweder wird dort die Kontextabhängigkeit der Bedeutungskonstruktionen betont und der Fokus auf bewusste Prozesse gerichtet, eventuell ergänzt um den Hinweis, dass bei den ‘aktiven Rezipientinnen und Rezipienten‘ auch unbewusste Elemente zum Tragen kommen, ohne diese jedoch genauer zu beschreiben. Oder es kommt, wie etwa in den psychoanalytischen Filmtheorien, zu einer Fixierung auf die Subjektpositionen, die in den Medienangeboten vorliegen, wobei die Menschen, die sich den Filmen zuwenden, vernachlässigt werden. Auch die Cultural Studies werden häufig – und das ist wohl noch eine Auswirkung der heftigen Kontroversen zwischen der psychoanalytisch fundierten „Screen Theory“ und den Cultural Studies in den 1970er Jahren in Großbritannien – in Gegenposition zu den psychoanalytischen Filmtheorien gesetzt (vgl. etwa Stacey 1994). Gleichzeitig wird aber immer wieder ein Anliegen geäußert (vgl. Donald 1991; Stacey 1994; Camera Obscura 1989), das auch mich (aus einer Position innerhalb der Cultural Studies) schon länger beschäftigt (vgl. auch Hipfl 2001): Wie kann ein fruchtbarer Dialog von Cultural Studies und Psychoanalyse eingeleitet werden, der dazu führt, dass in der Auseinandersetzung mit kulturellen Phänomenen und kulturellen Praktiken auch die so wichtige Rolle unbewusster Prozesse ernst genommen wird? In den Cultural Studies ist das Hauptaugenmerk auf die in einer Gesellschaft existierenden Denkmuster, Lebensformen und kulturellen Produktionen sowie auf die sozialen Unterschiede, ökonomischen Bedingungen und Machtbeziehungen, die darin wirksam werden, gerichtet. Die zentralen Grundannahmen lassen sich schlag-
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wortartig folgendermaßen zusammenfassen: Unsere Kultur ist gekennzeichnet durch die Zirkulation von Bedeutungen. Diese Bedeutungsangebote, die vor allem über die diversen Medien in Umlauf gebracht werden, sind Ausdruck bestimmter Diskurse und damit verbundener Interessen und Machtverhältnisse. Die verschiedenen Bedeutungen sind insofern ‚umkämpft‘, als es darum geht, möglichst viele Menschen dazu zu bringen, die jeweilige Sicht und Denkweise und/oder bestimmte kulturelle Praktiken zu übernehmen und diese damit zu reproduzieren. Uns Menschen kommt hier ein aktiver Part zu, als es an uns liegt, dieses Angebot – aus unserem je spezifischen soziokulturellen Kontext heraus – zu interpretieren und bedeutungsvoll zu machen. Das Wissen um die Wirkweise kultureller Prozesse wird mit dem politischen Anspruch von „Empowerment“ und Handlungsfähigkeit verknüpft (vgl. z.B. Editorial der Zeitschrift „Cultural Studies“; die Klassiker der Cultural Studies wie Turner 1990; Nelson/Treichler/Grossberg 1992; Kellner 1995, aber auch die Texte, mit denen die Cultural Studies im deutschen Sprachraum eingeführt wurden wie z.B. Engelmann 1999; Hepp 1999/2004; Hall 2000; Lutter und Reisenleitner 2001; Winter 2001). Bei den Arbeiten zur Medienrezeption, die in den Cultural Studies ethnografisch ausgerichtet sind, besteht eine Tendenz, die Ergebnisse in erster Linie als Beispiele für die aktive Bedeutungskonstruktion der Mediennutzerinnen und -nutzer zu interpretieren und mit Widerständigkeit gegenüber den nahe gelegten Bedeutungen gleich zu setzen. Hört die Analyse an dem Punkt auf, wird damit die Chance vertan, sich näher mit den Prozessen zu befassen, die die Menschen dazu veranlassen, bestimmte Subjektpositionen einzunehmen. Wollen wir dem politischen Anspruch der Cultural Studies gerecht werden, sollten wir unser Interesse aber gerade auf diese Prozesse richten, weil sie uns deutlich machen, wie wir uns in bestimmte Ideologien einarbeiten. Hier liegt es meiner Meinung nach nahe, auf die Psychoanalyse als theoretischen Diskurs zurückzugreifen, „[…] mit dessen Hilfe Erkenntnisse (vor allem über die Struktur des Subjekts) zu erlangen sind, welche in anderen Diskursen nicht auftauchen“ (Sturm 1996: 286). Ich versuche in diesem Beitrag die Fruchtbarkeit eines Dialogs von Cultural Studies und Psychoanalyse am Beispiel der Fantasien, die eine wichtige Rolle bei der Rezeption von Medien spielen, aufzuzeigen. Dazu werde ich mit der Konzeption des Subjekts, wie sie vor allem in der Psychoanalyse von Jacques Lacan entwickelt wurde, beginnen, um die zentrale Rolle der Imaginationen für die Subjektbildung verständlich zu machen. In den Ausführungen zu den Fantasien kommt dem Modell von Ducrot – einer Verbindung von Sprechakttheorie und Lacanscher Psychoanalyse – eine prominente Rolle zu. Wie insbesondere aus den Arbeiten von Slavoj iek (1996, 1997) und Renata Salecl (1994a, 1994b) deutlich wird, eröffnet sich damit auch ein anderer Zugang zur Frage ideologischer Wirkungen. Abschließend wird die Bedeutung der Fantasien anhand von Medienrezeptionsbeispielen illustriert.
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2 Das Subjekt in der Psychoanalyse Die Psychoanalyse konzentriert sich auf das Spannungsfeld von Sozialem und Psychischem bzw. auf die Rolle der Kultur als Kontrollinstanz der menschlichen Triebimpulse, die in gesellschaftlich akzeptierte Muster übergeführt werden. Es wird vor allem die Bedeutung unbewusster Prozesse für Identität, Sexualität und für die Strukturen unseres Begehrens aufgezeigt und damit das (moderne) Selbstverständnis des vernünftigen, selbstbewussten Subjekts mit einer einheitlichen, stabilen Identität gehörig ins Wanken gebracht (vgl. Hall 1994: 194 f.). Gerade die Weiterentwicklungen der Freudschen Konzeptionen durch Lacan ergänzen die poststrukturalistische Rede vom dezentrierten und performativ konstitutierten Subjekt (vgl. Butler 1991, 1995), die uns leicht zur Vorstellung beliebig auswechselbarer Identitätsinszenierungen verleiten kann, um die „viel dunklere, verdrängte und unbewusste Seite von Identität“ (jagodzinski 2004b: 340), die pardoxerweise das konstante Element von Subjektivität darstellt (vgl. Fink 1995). Mit der zusammenfassenden Darstellung der wichtigsten psychoanalytischen Konzepte zur Subjektentwicklung bei Lacan möchte ich die zentrale Rolle der Vorstellungen und Bilder verdeutlichen, die im Laufe dieses Prozesses (bestimmt vom jeweiligen soziokulturellen Kontext) entwickelt werden, und dazu führen, dass wir uns als einheitliche und selbstbestimmte Subjekte imaginieren.1 Für Lacan ist die Entwicklung des Subjekts der schwierige Prozess eines Kleinkindes, über die Beziehung zu anderen eine Position in der Symbolischen Ordnung, die sprachlich strukturiert ist, zu finden. Dieser Prozess geht einher mit Trennungs- und Verlusterfahrungen, mit denen gleichzeitig das Begehren grundgelegt wird. Die erste Erfahrung dieser Art bezieht sich auf die schrittweise Beendigung von Ganzheit und Einheit, die das Kind im Mutterleib, aber auch noch nach der Geburt erlebt. Ein Neugeborenes nimmt anfangs keine Grenzen zwischen sich und anderem wahr und unterscheidet z.B. nicht zwischen sich und der für Ernährung und Wohlgefühl sorgenden Mutter. Freud spricht in dem Zusammenhang vom „ozeanischen Selbst“ des Kleinkindes. Auf Grund der spezifischen Pflege des Babys werden bestimmte Körperpartien, und zwar die Körperöffnungen, zu den Orten, über die die Libido kanalisiert wird. Das Kind versucht, sich die Dinge, die ihm Genuss verleihen, und die mit dem Gefühl von Ganzheit, Sattheit und Befriedigung verbunden sind, einzuverleiben. Das erste Objekt dieser Art ist üblicherweise die mütterliche Brust. Die Brust wird zum Objekt, das, wenn es nicht vorhanden ist, vom Baby begehrt wird. Dabei geht es aber nicht um die Brust an sich, sondern um die Befriedigung, die das Saugen an der Brust verschafft. Die Brust wird also zum Zeichen für das verlorene Objekt – die Befriedigung (vgl. Cowie 1990: 158). Bereits hier werden erstmals Fantasien entwickelt, indem ein Zusammenhang hergestellt wird zwischen der Brust und dem, was dem Kind fehlt, damit es sich vollständig und ganz fühlt. Dieselbe Funktion wie die Brust nehmen beim Baby auch Stimme und Blick eines
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anderen Menschen (etwa der Mutter), im weiteren Leben dann viele andere Objekte ein. Lacan bezeichnet diese Objekte als „Objekte klein a“, deren besonderer Wert für das Subjekt gerade darin besteht, dass sie für etwas stehen, das dem Subjekt für sein Gefühl von Ganzheit fehlt. Die Bilder, die in dieser frühen Phase entstehen, sind Bilder der Einheit und Ganzheit, die dem Bereich des Imaginären zugeordnet sind. Lacan unterscheidet diesen Bereich der Bilder und Vorstellungen, Gefühle und Verlockungen, die vor allem auf den Körper bezogen sind, von den zwei anderen psychischen Registern – dem Symbolischen und dem Realen. Das klassische Beispiel, mit dem die Rolle des Imaginären beschrieben wird, ist das sogenannte Spiegelstadium, an dem ersichtlich wird, dass sich die Identität eines Kindes nicht aus seinem Inneren heraus, sondern außerhalb von sich, durch die Identifikation mit dem eigenen Körperbild, ergibt. Als Spiegelstadium bezeichnet Lacan ein Entwicklungsstadium zwischen dem sechsten und achtzehnten Lebensmonat, in dem das Kind noch abhängig ist von der Pflege anderer Menschen und seine motorische Kontrolle noch sehr eingeschränkt ist. Trotzdem kann sich das Kind als ganzes und für sich selbst stehendes Wesen erkennen. Dies wird am Beispiel eines Spiegelbilds verdeutlicht, kann sich aber auch auf das Abbild im Blick der Mutter oder auf die Spiegelung in verschiedenen Abbildungen, von denen das Kind umgeben ist, beziehen (vgl. Silverman 1983: 160). Das Kleinkind erkennt sein eigenes Bild im Spiegel, das es im Gegensatz zur eigenen Körpererfahrung als ganzheitliche Gestalt wahrnimmt. Das Kind bejubelt dies, weil es damit einen Zustand körperlicher Koordination antizipiert, den es noch nicht erreicht hat. Das Kind identifiziert sich hier mit einem „Ideal-Ich“, das eine zukünftige Einheit und Vollkommenheit verspricht. Dieses Bild vom Ich ist im Imaginären angesiedelt. Der Prozess des (V)Erkennens auf der Basis eines von sich selbst getrennten Bildes ist mit ambivalenten Gefühlen verbunden. Einerseits liebt das Kind diese kohärente Identität, die das Spiegelbild liefert, andererseits hasst es das Bild, weil es von ihm getrennt ist. Die mit dem Spiegelstadium beschriebene narzisstische Dimension ist nicht nur auf diese spezifische Entwicklungsstufe beschränkt, sondern steht für die Struktur der Beziehung zum eigenen Körperbild, die im Imaginären besteht. Das Oszillieren zwischen so gegensätzlichen Emotionen wie Liebe und Hass, das im Spiegelstadium auftritt, ist auch für das Imaginäre bestimmend (vgl. Silverman 1988: 158). Jeder Mensch wird in eine bereits existierende Symbolische Ordnung hinein geboren. Selbst vor seiner Geburt ist er darin eingebunden, indem „er besprochen, benannt, mit Fantasien besetzt und häufig auch schon mit einem Namen in die existierende sprachliche Ordnung eingeschrieben“ (Sturm 1996: 83) wird. Wird ein Baby geboren, befindet es sich „bereits in einem in gewisser Weise strukturierten symbolischen Raum mit einem darin für es vorbereiteten Ort“ (Leiser 1996: 34). Mit Symbolischer Ordnung bezeichnet Lacan unter Rückgriff auf Claude LéviStrauss die Gesetze und Regeln, die das Zusammenleben der Menschen, die soziale Welt, strukturieren. Dabei spielt die Sprache eine ganz zentrale Rolle, und zwar, so Paul Verhaeghe (1998: 55), weniger als „ein Kommunikationsmittel als ein Mittel
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der Identifizierung“ (Betonung durch den Autor). Das heißt, dass jedem bzw. jeder Einzelnen mittels Sprache ein Platz in der Symbolischen Ordnung (mit den damit verknüpften Regeln und Erwartungen) zugewiesen wird – du bist die Mutter von […], Studentin, Richter, Polizist etc. Lacans Interesse ist (in Weiterentwicklung der Zeichentheorie von de Saussure) vor allem auf diese Signifikanten gerichtet. Bedeutung ist gewissermaßen der „Effekt“ der sich differenziell konstituierenden Signifikanten. Das heißt, es besteht z.B. keine direkte Beziehung zwischen dem Wort „Vater“ und der physischen Existenz eines bestimmten Vaters, vielmehr entsteht die Bedeutung „Vater“ innerhalb eines Netzwerkes von Signifikanten aus den Differenzen zu anderen Signifikanten (wie etwa Mutter) sowie der Stützung durch bestimmte Signifikanten (wie etwa Phallus, Gesetz). Der Sprache kommt damit eine realitätskonstituierende Funktion zu, indem sie die soziale Welt, die wir mit anderen teilen, herstellt. Gleichzeitig steht die Sprache für eine weitere Entfremdung des Subjekts von seinem eigentlichen ‚Sein‘, seiner Körperlichkeit und seinen libidonösen Bedürfnissen. Lacan unterscheidet Realität vom Realen, wobei das Reale sowohl das ‚Sein‘ des Subjekts als auch die Außenwelt umfasst und für das ‚Unsagbare‘, ‚Unfassbare‘, wie etwa auch für den Tod steht. Für die Beschreibung des Eintritts des Kindes in die Sprache greift Lacan auf das von Freud an seinem Enkelsohn beobachtete „Fort-Da-Spiel“ zurück. In dem Spiel wirft das Kind eine mit einem Faden umwickelte Holzspule weg, sodass sie verschwindet. Dies wird von einem lang gezogenen o-o-o-o begleitet, dann zieht es die Spule an dem Faden wieder zu sich und sagt bei ihrem Auftauchen freudig „Da“. Das Kind inszeniert in diesem Spiel das Drama von Anwesenheit und Abwesenheit. Es ist hier noch dem Imaginären verhaftet, das Spielzeug wird zu einem Objekt klein a, das das Kind als etwas wahrnimmt, das ihm zu seiner eigenen Vollständigkeit fehlt. Die besondere Bedeutung des Spiels liegt darin, dass das Kind mit „fort“ und „da“ seine erste Signifikantenkette entwickelt. Das o-o-o- (das für „Fort“ steht) ist für sich genommen bedeutungslos, es erhält seine Bedeutung erst mit dem Auftreten seines Gegenparts „Da“. Die beiden Worte stehen hier nun als Ersatz für die Anbzw. Abwesenheit des „verlorenen Objektes“ (die Holzspule, die Mutter etc.), gleichzeitig entsteht im Imaginären der Wunsch nach diesem Objekt, um den Mangel zu beheben. Im „Fort-Da-Spiel“ zeigt sich bereits, dass in der Symbolisierung ständig dieser Mangel reproduziert wird, da er nicht aufgehoben werden kann. Aus diesem Mangel entwächst das Begehren, unser unbewusstes Wünschen, das nach Lacan das Motivationsprinzip unseres Lebens darstellt. Für Lacan ist das Begehren gewissermaßen ‚unmöglich‘, da seine Energie aus den Trieben stammt (die nie befriedigt werden können), und seine Ziele ausgerichtet sind auf Idealvorstellungen aus dem symbolischen Bereich, die wir nie erreichen können. (Ein erstes Beispiel dafür ist die Identifikation mit dem eigenen Spiegelbild, später sind es die verschiedenen kulturellen Repräsentationen). Das Begehren ist damit im symbolischen Bereich, dem Bereich des Anderen, grundgelegt und wird deshalb von Lacan auch als das „Begehren des Anderen“ bezeichnet. Das Begehren realisiert sich aber nicht – und das zeigt sich schon im „Fort-Da-Spiel“ – in seiner Erfüllung oder Befriedigung, sondern darin, dass es ständig reproduziert wird.
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Mit dem Eintritt in die Sprache ist nach Lacan notwendigerweise ein Entfremdungseffekt verbunden, indem wir die Realität nur über Worte erfassen können, uns aber gerade dadurch der direkte Zugang zum Realen, zum ‚Sein‘ versperrt wird. Der Eintritt des Subjekts in die Symbolische Ordnung, auch als Feld des Anderen bezeichnet, positioniert das Subjekt als einen Signifikanten in diesem Feld. Damit wird seine soziokulturelle Existenz bestimmt, gleichzeitig wird sein ‚Sein‘, seine Triebe ausgeschlossen. Hier kommt es zur Bildung des Unbewussten, das in diesem Sinne bei Lacan ‚sprachlich strukturiert‘ ist. Die Entwicklung des Subjekts zu einem sozialen Wesen, das in seiner geschlechtlichen Identität einen Platz in der Symbolischen Ordnung findet, wird in der Psychoanalyse anhand der Ödipusphase beschrieben. Diese bezieht sich auf die Spannungen, die sich daraus ergeben, dass zur dualen Beziehung zwischen Mutter und Kind jetzt der Vater dazukommt. Das erste Liebesobjekt des Kindes ist die Mutter, doch das Kind erkennt bald, dass auch die Mutter durch einen Mangel gekennzeichnet ist, da sie nicht jede Forderung des Kindes erfüllen kann. Das Kind möchte das Objekt des mütterlichen Begehrens sein, muss aber jetzt seinen eigenen Mangel realisieren, da es das Begehren der Mutter nicht erfüllen kann. Dieses imaginäre Objekt des Begehrens, das immer mit dem Gefühl von Befriedigung und Ganzheit verbunden ist, wird von Lacan als Phallus bezeichnet.2 Das Kind sieht jetzt den Vater als Rivalen um das Begehren der Mutter. Indem der Vater gegenüber dem Kind zum Ausdruck bringt, dass er über den Phallus verfügt, lernt das Kind, dass es chancenlos ist in der Konkurrenz mit dem Vater und gibt diese Konkurrenz auf. Dies führt dazu, dass in einer erfolgreichen ‚normalen‘ Ödipalisierung, in deren Verlauf dem Kind seine sexuelle Identität von den Eltern versichert wird, der Junge sich nun mit dem Vater identifiziert, das Mädchen – über den Umweg der Identifikation mit dem Objekt des väterlichen Begehrens –, mit der Mutter (Queer-Theorien kritisieren an Lacans Modell, dass damit nur die heterosexuelle Entwicklung beschrieben wird). Die Bilder, die in dieser Phase – zusätzlich zu den bereits bestehenden Bildern – entwickelt werden, sind Vorbilder und Idealbilder, die sich darauf beziehen, wie das Kind sein bzw. werden möchte. Diese Bilder werden auch als Ich-Ideal bezeichnet. Sie sind Verinnerlichungen der Symbolischen Ordnung und bilden die Orientierungsgrundlage für die Position des Subjekts in der Symbolischen Ordnung.
3 Zur Rolle der Fantasien in der Psychoanalyse Aus den bisherigen Ausführungen wird deutlich, dass Fantasien ein grundlegender Bestandteil unserer Subjektivität und unserer Beziehung zur Welt sind. Fantasien bilden den Kern der so genannten ‚psychischen Realität‘, die schon von Freud als genauso wichtig eingeschätzt wurde wie die materielle, physische Realität. In der Psychoanalyse geht es demnach überhaupt nicht um die Frage ‚realer‘ Grundlagen dieser Fantasien (die im alltäglichen Sprachgebrauch übliche Gegenüberstellung
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Realität – Fantasie erweist sich in diesem Zusammenhang als irreführend), sondern um die Rolle der Fantasien im psychischen Haushalt des Subjekts. Laplanche und Pontalis (1986) sehen in Freuds Konzept der Urfantasie die Basis für die Struktur der Fantasien als Szenarium, mit dem eine Geschichte zur Verfügung gestellt wird, um bestimmte grundlegende Fragen zu beantworten bzw. Inkonsistenzen und den laut Psychoanalyse für uns Menschen konstitutiven Mangel zu verdecken. Als die drei zentralen Fragen, mit denen sich ein Kind auseinandersetzt, gelten die Frage nach dem Ursprung des Selbst, die mit der Fantasie des Familienromans beantwortet wird, die Frage nach dem Ursprung sexueller Begierde, für die die Fantasie der Verführung entwickelt wird, sowie die Frage nach dem Geschlechtsunterschied, dessen Erklärung in der Fantasie der Kastration gesucht wird. Fantasien kommen auch ins Spiel, wenn versucht wird, dem Nicht-Symbolisierbaren eine Gestalt zu geben. Was wir als Realität erfahren, ist nicht die Realität selbst, sondern ihre symbolische Konstruktion, die uns eine Orientierung in dieser Welt ermöglicht. Doch diese Symbolisierungen können niemals alles vollständig abdecken, es besteht eine unüberbrückbare Kluft zum Realen. Das heißt, es ist nicht möglich, das Reale zu kontrollieren, es ist gerade dieser Spalt, in dem es immer wieder einbricht. Fantasien sind nicht bloß Vorstellungen oder Erzählungen, in denen es darum geht, bestimmte Wünsche zu befriedigen. Vielmehr können sie als eine Art „Privattheater“ (Lippert 1995: 112) angesehen werden, in dem das Begehren des Subjekts in Szene gesetzt wird. Fantasien fungieren somit als Schauplatz und Rahmen für das Begehren. Das ist der Ort, wo Bewusstes und Unbewusstes, Selbst und Anderes zusammenkommen. Unsere Faszination und unser Vergnügen an solchen Fantasien als mis-en-scène des Begehrens liegen vor allem in der Inszenierung des Rätsels bzw. Mangels und wie dies gelöst bzw. überwunden wird. Wir wollen zwar ein happy ending, aber gleichzeitig soll die Geschichte nicht wirklich zu Ende sein, da sich damit auch wieder der Mangel auftut (vgl. dazu auch Lühmann 1996). Das Subjekt kann in diesen Fantasien mehrere und unterschiedliche Positionen einnehmen, auch solche entsubjektivierter Art, wenn es sich z.B. mit der Szene selbst oder einem bestimmten Gefühl identifiziert. Obgleich Fantasien als etwas Individuelles, wenn nicht sogar Intimes gelten, sind sie durch ihren intersubjektiven Charakter bestimmt. Denn das Begehren, das in den Fantasien in Szene gesetzt wird, ist immer auf die Anderen bezogen. Konkret geht es um die Frage, was die Anderen von mir wollen, was sie in mir sehen, wie sie mich sehen, kurz – was ich für die Anderen bin. iek (1996: 25) verdeutlicht dies am Beispiel eines Kleinkindes, das in das komplexe Beziehungsgeflecht der Personen, von denen es umgeben ist, eingebunden ist, wobei teilweise Konflikte und Kämpfe über das Kind ausgetragen werden und dieses zum Objekt des Begehrens der Anderen wird. Obwohl das Kind sehr wohl realisiert, dass ihm hier eine bestimmte Rolle zukommt, kann es diese nicht genau verstehen. Hier sind es die Fantasien, die ihm darauf eine Antwort liefern, indem sie seine Bedeutung für die Anderen verdeutlichen und damit die Frage beantworten: Was möchtest du von mir?
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iek (1996: 24) weist auch auf die radikale Ambiguität der Fantasien hin. Einerseits sind da die stabilisierenden Aspekte der Fantasien – die Vorstellungen eines glückseligen Zustands ohne Störungen etwa in harmonischen Beziehungen, politischer Stabilität etc. Andererseits gibt es die destabilisierende Dimension, die sich auf all das, was mich am Anderen ‚irritiert‘, bezieht, oder – wie etwa am Beispiel der Eifersucht – auf die Vorstellungen davon, was er bzw. sie alleine oder mit jemand anderem macht. Für iek ist die glückselige Seite der Fantasien immer befleckt von der anderen, paranoiden Seite. In radikaler Form zeigt sich dies am Beispiel der harmonischen ‚Volksgemeinschaft‘ im Nationalsozialismus und seiner Kehrseite, der Judenvernichtung. In unserer Kultur sind es insbesondere die Medien, die uns eine Vielzahl an Fantasieszenarien zur Verfügung stellen. Die Geschichten, die uns dort angeboten werden, sind nach Laplanche/Pontalis unendliche Variationen, in denen mit Material aus dem Alltagsleben die thematisch begrenzten Primärfantasien durchgearbeitet werden. Es sind immer wieder dieselben Geschichten, die zirkulieren – Geschichten über Identität, die Beziehung zu anderen, das Verhältnis zu Regeln und Gesetz, deren Inszenierung es möglich macht, dass wir mit unseren Wünschen darin Platz finden. Linda Williams (1991) sieht in Horrorfilmen, pornografischen Filmen und im Melodram Beispiele für Genres von Geschlechtsrollenfantasien mit je spezifischen Szenarien. Ähnliches könnte für jedes Genre entwickelt werden bzw. könnte auch die Frage untersucht werden, welche Angebote auf gerade dominierende Fragen die medialen Fantasien bereit stellen, wie dies etwa jan jagodzinski (2004a) am Beispiel von Populärkultur und Jugendlichen versucht hat. Den Fantasien kommt auch eine ideologische Funktion zu, verleihen sie doch unserer Realität erst ihre Konsistenz. Damit sind sie in den Worten von iek auf der Seite der Realität und strukturieren und stützen die Realität. Fantasien sind nicht irgendwelche verrückten Ideen über die Realität, sondern ihre psychofantasmatischen Voraussetzungen (vgl. iek 1997). Besonders deutlich wird die ideologische Dimension der Fantasien, wenn wir uns der Frage zuwenden, wie es überhaupt dazu kommt, dass Menschen bestimmte Subjektpositionen einnehmen, die ihnen in der Symbolischen Ordnung angeboten werden. Diese Frage konnte auch Althusser mit seinen Überlegungen zur Interpellation (1977) nicht ausreichend beantworten. Als anregend und weiterführend erweist sich hier das Modell von Oswald Ducrot (in Salecl 1994a: 43 f. und 1994b: 32 f.), das Lacansche Psychoanalyse und Sprechakttheorie zu verbinden sucht. Für unseren Zweck sind Ducrots Ausführungen zu den Adressaten von Äußerungen (und Medienangeboten) von Interesse. Er betont, dass eine Äußerung immer auf einen Adressaten als diskursiver Figur abzielt. Dieser Adressat ist eine bestimmte diskursive Position, die durch die jeweilige Äußerung konstruiert wird. Eine empirische Person wird nur dann zum Adressaten, wenn sie sich als solcher erkennt, das heißt, wenn sie die Verpflichtung, die ihr durch diese Äußerung aufgezwängt wird, übernimmt. So kreiert z.B. die Anweisung ‚Gib mir mein Geld zurück‘ einen bestimmten intersubjektiven Raum, in dem der Adressat bzw. die Adressatin in die Position des Schuldners gebracht wird. Nun hängt es von der Person in Fleisch und Blut ab, sich entweder in dieser Position zu erkennen –
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und der Anweisung zu gehorchen, Widerstand dagegen zu leisten, Ausreden zu erfinden oder ähnliches – oder die Anweisung einfach zu ignorieren und sich so zu verhalten, als ob er bzw. sie nicht Adressat dieser Anweisung wäre. Das heißt, es hängt von der konkreten Person ab, ob sie sich als die Figur, die vom Diskurs kreiert wurde, erkennt und sich dadurch damit identifiziert. Zur Erklärung, wie es dazu kommt, bietet Ducrot zwei zusätzliche Begriffe an: den „späteren Diskurs“ und die „Vermutung“ (das Nicht-Gesagte des Sprechaktes). Der „spätere Diskurs“ konstruiert den Ort für die Identifikation des Subjekts, die „Vermutung“ fungiert als Platz für die Fantasien. Konkret heißt dies, dass nach Ducrot ein bestimmtes Bedeutungsangebot immer in Bezug auf seine ideale Fortsetzung beschrieben werden soll (so wird z.B. ein idealer Raum für eine mögliche Fortsetzung konstruiert, die ihm rückwirkend Bedeutung verleiht). Die elementarste Form dieses „späteren Diskurses“ ist eine Frage, mit der Adressaten verpflichtet werden, in gewisser Weise zu antworten. Die Frage skizziert im Voraus den idealen, fiktiven Platz der Antwort, die kommen wird. Erfolgreich ist ein Diskurs dann, wenn er einen symbolischen Raum schafft, der mit Bildern davon, wie wir uns gerne selbst sehen würden, mit Bildern unseres Ideal-Ichs, gefüllt werden kann. Hier werden nun auch wieder die Fantasien wirksam. Ein Diskurs braucht die Stütze durch einen fantasmatischen Rahmen, der nicht direkt angesprochen wird, dessen entscheidende Rolle aber darin besteht, verschiedene Fantasien bei den einzelnen mobilisieren zu können. Dieser fantasmatische Rahmen fungiert wie eine Art Leinwand, auf die das Begehren projiziert werden kann. Der Platz für diese Fantasien wird von den „Vermutungen“ konstruiert, dem Ort, an dem sich der Adressat bzw. die Adressatin in die Äußerung einschreibt. Die Vermutung entsteht als Antwort auf die Frage, die sich der Adressat bzw. die Adressatin notwendigerweise stellt: Warum hat der Sprecher bzw. die Sprecherin auf diese Art gesprochen? Warum hat er bzw. sie das gesagt? Die Vermutung bezieht sich auf die Art und Weise, in der die Adressaten die Bedeutung dessen, was gesagt wurde, entschlüsseln, und das geht über die Fantasien. Ducrots Modell verdeutlicht, dass ein Diskurs, um erfolgreich zu sein, das Imaginäre ansprechen muss. Diskurse bieten Positionen in der Symbolischen Ordnung an (die dem Ich-Ideal entsprechen), die aber nur eingenommen werden, wenn sie einen fantasmatischen Rahmen bieten, in den Bilder aus dem Ideal-Ich projiziert werden können. iek (1996) liefert mit seiner Lesart des Schicksals von Kapitän Bligh auf der Bounty ein Beispiel für die Folgen, die auftreten können, wenn dieser Zusammenhang nicht gesehen wird. Bligh, ein ausgezeichneter Seemann, der sich in besonderer Weise um die Sicherheit und Gesundheit seiner Matrosen kümmerte, hat nicht erkannt, dass die zum Teil sehr grausamen Rituale unter den Matrosen, in denen die älteren die jüngeren demütigten und ausbeuteten, den fantasmatischen Rahmen für die offizielle (und damit seine) Macht bildeten. Er sah nur die unmenschliche Seite dieser Rituale, nicht aber die Befriedigung, die auch damit verbunden war. Indem Bligh diese Rituale unterband, entzog er sich selbst die Grundlagen seiner Macht.
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4 Fantasien in der Medienrezeption von Frauen Den besonderen Wert der psychoanalytischen Fantasietheorien sieht Penley (1992) darin, dass sich daraus für die Frage der Identifikationen von Frauen mit populären Medieninhalten ein wesentlich größeres Spektrum ergibt als dies etwa beim ObjektBeziehungs-Modell von Nancy Chodorow der Fall ist, auf das gerne bei der Erklärung weiblicher Medienrezeption zurückgegriffen wird (etwa bei Radway 1984 oder Modleski 1982). Weibliche Identifikationen werden dort mit der Regression in prä-ödipale Fantasien des Umsorgt-Werdens bzw. mit der besonderen Nähe zur Mutter erklärt. Bei einem psychoanalytischen Verständnis der Fantasien dagegen wird davon ausgegangen, dass das Subjekt an einem Szenarium teilhat und es wiedererstehen lässt, und sich dabei mit verschiedenen Positionen identifizieren kann. Hier wird keine direkte Verbindung zwischen ‚männlichen‘ bzw. ‚weiblichen‘ Positionen und der Geschlechtsidentität der Personen, die diese Positionen einnehmen, unterstellt. Der Grund dafür liegt in der Tatsache, dass das Unbewusste zwar den Geschlechtsunterschied strukturiert, aber selbst nicht geschlechtlich strukturiert ist. Anhand der Fantasien wird deutlich, wie sehr das Imaginäre und die Symbolische Ordnung ineinander verwoben sind. Das Begehren, das in den Fantasien in Szene gesetzt wird, ist auf Ziele ausgerichtet, die dem symbolischen Bereich entstammen. Es sind die Bilder und kulturellen Repräsentationen, aus denen das Subjekt lernt, was es zu begehren hat. Die Ausrichtung der unbewussten Wünsche der Subjekte wird für diese vorfabriziert (vgl. Silverman 1983: 178). Ein klassisches (Medien)Beispiel dafür ist Emma in Madame Bovary. Sie definiert sich und ihre Wünsche ausschließlich auf der Basis der Liebesromane, die sie ständig liest. Auch an unserem Projekt zu Filmerfahrungen von Frauen, in dem wir verschriftlichte Medienerfahrungen mit der Methode der Erinnerungsarbeit analysiert haben (vgl. Haug/Hipfl 1995), kann die Bedeutung der Fantasien als Inszenierungen des Begehrens im Umgang mit Medien veranschaulicht werden. Dies zeigt sich schon an den Fragestellungen, die den Ausgangspunkt des Projekts bildeten (Als mich ein Film berührte, den ich schlecht fand; Weibliches Vergnügen an Büchern und Filmen, in denen ausschließlich oder wesentlich Männer vorkommen; Heute lass ich mir ein Gefühl machen; Wunsch nach traditionellen Frauen- und Männerbildern im Film), und die wir später zur Thematik „sich ein Gefühl machen zu lassen“ zusammengefasst haben. Die Analysen der Filmerfahrungen zu Schlaflos in Seattle (vgl. Haug 1995: 18 f.) lesen sich wie eine Beschreibung des In-Szene-Setzens des Begehrens: „Der Gang ins Kino ist […] eine Entscheidung für das ‚Ausleben von Gefühlen‘“ ; „Ein Filmbesuch bedeutet […] die Möglichkeit, sich dem Gefühl ganz hinzugeben“; die Autorinnen „gehen in einen Film hinein“; „Überall, wo das gesuchte Gefühl gefunden werden kann, wird ein Leben im Film möglich.“ Für das Gefühl, um das es dabei geht – „Verlorensein und gefunden werden, suchen und zusammengehören, geliebt sein und also zu Hause“ – bietet das Szenarium des
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Films verschiedene Anknüpfungspunkte für seine Re-Inszenierung. Deutlich wird hier auch, dass beim Schreiben über die von den Filmseherinnen als sehr intim erlebten Gefühle Zensurmechanismen am Werk sind, die sie an die Symbolische Ordnung anpassen. In den Erfahrungen mehrerer Frauen mit dem Film Pretty Woman nimmt das happy ending und damit das Fantasma der romantischen Liebe, das das Verhältnis der Geschlechter in unserem westlichen Denken so stark strukturiert, einen ganz besonderen Stellenwert ein. Mit dem Fantasma der romantischen Liebe ist die Art und Weise gemeint, in der in unserer Kultur über Liebe gesprochen wird (die Diskurse, die dazu in Erzählungen, Filmen etc. zirkulieren) und die von spezifischen Fantasien gekennzeichnet sind. Es sind dies Fantasien von Glück und sexueller Erfüllung, die Vorstellung, dass zwei Menschen zusammen ein harmonisches Ganzes bilden, dass in der Liebe Einsamkeit aufgehoben und die Trennung von Geist und Körper ebenso wie diverse soziale Schranken überwunden werden. Aus den Filmerfahrungen mit Pretty Woman wird nun deutlich, welche ‚Wirkungen‘ dieses Fantasma hat oder anders ausgedrückt, welche Konstruktionen entwickelt werden, um dieses Fantasma aufrechtzuerhalten. Im Fantasma der romantischen Liebe, nach dem auch der Film Pretty Woman strukturiert ist, ist das herrschende Geschlechterverhältnis und damit Dominanz und Unterordnung eingeschrieben. Dies drückt sich in den beschriebenen Filmerlebnissen und den darin vorgenommenen Bedeutungskonstruktionen vor allem darin aus, in welchem Ausmaß die Frau in Beziehung zum Mann ‚aktiv‘ sein kann. Hier werden uns verschiedene Varianten vorgeführt: Einmal die Konstruktion einer völlig passiven Frau, die auf den Mann als Helfer und Retter wartet, um ihre Lebenssituation, mit der sie nicht zufrieden ist, von ihm ändern zu lassen. Oder die mit dem Kontakt mit dem Mann verbundene Wandlung einer anfangs kompetenten und selbst bestimmten Frau zu einer, die einem konventionellen (Ideal)Bild der Frau entspricht – hübsch, natürlich und einfühlsam. In einem weiteren Beispiel nimmt es die Frau für Gemeinsamkeit und eine Beziehung mit einem Mann, in Kauf, diesem – obwohl sie es gar nicht nötig hat – die Position ihres Retters einzuräumen. Diese Beispiele veranschaulichen, was es für Frauen vor dem Hintergrund der nach wie vor dominanten soziokulturellen Definition von Weiblichkeit bedeuten kann, die Symbolische Ordnung mit dem Fantasma der romantischen Liebe in Einklang bringen zu wollen. Dass die traditionelle Formel der romantischen Liebe auch umgeschrieben werden kann zu einer Liebesbeziehung, die auf radikaler Gleichheit beruht, beschreibt Constance Penley (1992) anhand der Fanzines, die von Frauen zur Fernsehserie Star Trek gemacht werden. Vor allem sind es die dort entwickelten Geschichten und Illustrationen über eine homosexuelle Beziehung zwischen Kirk und Spock, mit denen sie sich näher beschäftigt und sich die Frage stellt, wie es denn dazu kommt, dass Frauen Liebesgeschichten über zwei Männer schreiben. Auch die beiden männlichen Charaktere haben Probleme und Schwierigkeiten zu überwinden, bis sie zusammenkommen. Aber wenn sie dann zusammen sind, dann sind sie dies als ein Paar, das Liebe und Arbeit teilt. Da wir nach wie vor in einer patriarchalen Kultur leben, fällt es immer noch schwer, sich zwei Frauen in leidenschaftlicher Liebe vorzustellen,
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die gleichzeitig einmal pro Woche die Galaxie retten. Die Geschichten von Kirk und Spock stellen nach Penley für die Frauen einen Raum bereit, in dem sie ihre erotischen Fantasien ausdrücken könne, und dies gleichzeitig auch noch in sehr witziger Form machen. In diesen Fantasien wird das Begehren in-Szene-gesetzt, außerdem wird versucht, einen grundlegenden Mangel zu übertünchen: die Tatsache nämlich, dass es nach Lacan keine sexuelle Beziehung gibt, dass die Geschlechter grundlegend antagonistisch sind. Jede Geschichte und jede Zeichnung versucht zu zeigen, wie es zu einer sexuellen Beziehung kommen könnte. Die strikte Abgrenzung der Fans vom Feminismus weist nach Penley darauf hin, dass diese Frauen in ihren fanzines bessere Möglichkeiten als etwa im Feminismus sehen, ihre Wünsche nach einer sexuell befreiten und gleichwertigen Welt zu artikulieren. Umgangsweisen dieser Art mit Populärkultur werden in jüngster Zeit als „queer readings“ bezeichnet, in denen vor allem die Fantasieszenarien ausgebaut werden, die in den heteronormativen Vorstellungen keinen Platz haben (vgl. etwa Doty 2002). Ein Beispiel, in dem auch deutlich wird, wie sich die Fantasien an Inhalten festmachen können, die auf den ersten Blick gar nichts mit der eigenen Lebenssituation gemein haben, zeigte sich in unserem Projekt in der Bearbeitung des weiblichen Vergnügens an Indianergeschichten (vgl. Ippen 1995). Dort wird eine Erfahrung beim Anschauen eines Winnetoufilms beschrieben, bei der sich die besondere Faszination auf die Freundschaft zwischen Winnetou und Old Shatterhand bezieht. Es ist vor allem die Qualität dieser ruhigen, zurückhaltenden und eigentlich ‚unmännlichen‘ Beziehung, die, ohne sich sprachlicher Mittel bedienen zu müssen, Nähe und Vertrautheit vermittelt. Als besonders interessant wird in jüngster Zeit die Frage der Fantasien im Hinblick auf den Umgang mit den neuen Entwicklungen im Bereich der Informations- und Kommunikationstechnologien angesehen. So ist für Marie-Luise Angerer (1996: 78) „[…] vielleicht das Netz jener fantasmatisch neu besetzbare Bereich geworden, wo sich das Begehren nach einem Raum, innerhalb dessen alle möglichen Begehren ausprobiert werden können […] auf den Weg macht, um seine Bahnen zu ziehen.“ Wesentlich nüchterner fällt die Einschätzung Susanne Lummerdings (2005: 30) aus, die sich kritisch mit den fantasmatischen Vorstellungen in aktuellen Diskursen zum Cyberspace auseinandersetzt und deren Versprechungen von Harmonie, Einheit und der Aufhebung von Antagonismen als etwas beschreibt, das jeder Medienentwicklung inhärent ist. Auch hier werden wir wohl erst aus Studien mit Nutzerinnen und Nutzer des Cyberspace konkretere Einsichten gewinnen.
Anmerkungen 1
Lacan ist vor allem deshalb für den Bereich der Cultural Studies so interessant, weil er sich in seiner Weiterentwicklung von Freud auf die theoretischen Zusammenhänge von Subjekt, Sprache und kultureller Ordnung konzentriert hat. Ich kann im Rahmen dieses Beitrags keine differenzierte Auseinandersetzung mit Lacans Konzepten leisten, sondern versuche nur, eher holzschnittartig einige seiner zentralen Grundannahmen zusammenzu-
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fassen. Aus diesem Grund beziehe ich mich auch nicht auf Lacans eigene Schriften, sondern verweise vor allem auf die zusammenfassenden Darstellungen bei Bruce Fink (1995), Eva S.-Sturm (1996), Kaja Silverman (1983) oder Paul Verhaeghe (1998), die alle versuchen, die Lacanschen Positionen kulturell zu kontextualisieren. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit den verschiedenen Entwicklungen im Anschluss an Lacan findet sich unter anderem bei Marie-Luise Angerer/Henry Krips (2001), Elizabeth Grosz (1990), jan jagodzinski (1996) und Susanne Lummerding (2005). Phallus ist bei Lacan ein problematischer Begriff, weil er auch mit den kulturellen Privilegien gleichgesetz wird, die in einer patriarchalen Gesellschaft mit männlicher Subjektivität verbunden sind. Insbesondere feministische Theoretikerinnen wie etwa Irigaray (1980) haben an Lacan‘s Konzept die sich daraus ergebende eingeschränkte Position der Frau kritisiert und alternative Modelle zu entwickeln versucht. Siehe dazu auch die Ausführungen bei Lummerding (2005: 113-118).
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Konnektivität, Netzwerk und Fluss: Perspektiven einer an den Cultural Studies orientierten Medien- und Kommunikationsforschung Andreas Hepp
1 Cultural Studies nach dem ‚Cultural Studies Paradigma‘ Ende der 1980er Jahre konstatierte Meaghan Morris (2003) für die englischsprachige Wissenschaftslandschaft – allen voran Großbritannien, Australien und die USA – einen „Boom“ der Cultural Studies. In den 1990er Jahren führte dieser „Boom“ dann nicht nur zur Etablierung verschiedenster Studienprogramme in diesen Ländern, sondern vor allem zu einer Intensivierung von Forschung und umfassenden Publikationsaktivitäten. Gleichzeitig setzte eine „Kontroverse“ (Hepp/Winter 2003) um die Cultural Studies ein, einerseits als interne Diskussion, wie sich dieser Ansatz bzw. dieses Projekt im Hinblick auf dessen Erfolge entwickeln kann und soll. Andererseits war dies aber auch eine externe Diskussion seitens der Vertreterinnen und Vertreter ‚traditioneller Fachdisziplinen‘, die die Cultural Studies zum Teil nicht unerheblich kritisierten. Bezogen auf den Bereich der Medien- und Kommunikationswissenschaft war – was diese Kritik betrifft – sicherlich der von Marjorie Ferguson und Peter Golding (1997) herausgegebene Band „Cultural Studies in Question“ in dieser Hinsicht eine Zäsur. Vorwürfe, die in dem Band geäußert wurden, betreffen eine Vernachlässigung (makro)politischer und ökonomischer Fragestellungen, was einerseits zu einer umfassenden Textfixierung geführt habe, andererseits zu einer distanzlosen ethnografischen Publikumsforschung. Bemerkenswert als Reaktion auf die in „Cultural Studies in Question“ und anderen Publikationen formulierte Kritik an der Medienforschung der Cultural Studies ist eine Veröffentlichung von David Morley (2003). Morley führt aus, dass man die Kontroverse um die Cultural Studies zuerst einmal positiv sehen müsse. Der Grund dafür ist, dass sie darauf verweist, dass die Cultural Studies im Bereich der Medienforschung Themen und Fragestellungen in den Blick brachten – wie beispielsweise eine Auseinandersetzung mit alltäglichem Konsum, der Artikulation von Machtverhältnissen durch verschiedene Mediendiskurse, die Beschäftigung mit populären Medienprodukten etc. –, die die ‚klassische‘ Soziologie der Massenkommunikation bzw. politische Ökonomie nicht im Blick hatten bzw. die als Gegenstand von vornherein negativ konnotiert waren. Dies heißt für ihn aber gleichzeitig, dass die Cul-
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tural Studies nicht einfach gegen eine soziologische Auseinandersetzung mit Medienkommunikation gerichtet sind. Vielmehr begreift er die Cultural Studies insofern als zentral für eine sozialwissenschaftliche Medienforschung, weil sie als „Bewahrer einer ‚verloren gegangenen‘ Tradition“ (Morley 2003: 115) fungiert haben, nämlich die einer qualitativen, kritischen Auseinandersetzung mit Medien. Im Hinblick darauf kann er auch nicht eine ‚Krise‘ der Cultural Studies ausmachen, wie Ferguson und Golding dies tun. Problematisch erscheinen ihm aber Versuche, die Cultural Studies als textanalytische Kulturwissenschaft festzuschreiben: „Die Lösung für diese ‚Krise‘, so es sie gibt, besteht […] für mich darin, dass man in Anbetracht der jüngsten ‚Textualisierung‘ der Cultural Studies an ihrem genuin multidisziplinären Charakter festhält – was das bestmögliche Angebot an soziologischen Perspektiven mit einschließt.“ (Morley 2003: 117)
Solche Diskussionen wurden von Jan Baetens (2005) wieder aufgegriffen, der damit eine Forderung nach „Cultural Studies nach dem Cultural Studies Paradigma“ verbindet. Was will Baetens mit dieser paradoxen Formulierung fassen? Zuerst einmal versteht Baetens die nach dem Cultural Studies „Boom“ der 1990er Jahre einsetzende Kritik an den Cultural Studies ebenfalls als Hinweis darauf, dass diese sich in der internationalen akademischen Landschaft etablieren konnten. In ihrer Kritik des „Paradigmas“ der Cultural Studies als ‚politisches‘ und ‚transdisziplinäres‘ Projekt reflektieren die traditionellen Disziplinen gewissermaßen diesen Umstand (vgl. Baetens 2005: 5). Umgekehrt ist es so, dass mit der Etablierung der Cultural Studies sowohl der ‚politische‘ als auch ‚transdisziplinäre‘ Charakter einer Reformulierung bedürfen, ohne deren Grundorientierung aufzugeben. Bezogen auf den ‚politischen‘ oder besser ‚interventionistischen Charakter‘ der Cultural Studies (vgl. Hepp 2004a: 18) verweisen die Argumente Baetens auf die Diskussion, dass es darum geht, den kritischen Ansatz der Cultural Studies mit Bezug auf gegenwärtige Probleme der Zivilgesellschaft bzw. des Alltags weiter zu entwickeln.1 Im Hinblick auf den Aspekt der Reformulierung der Transdisziplinarität der Cultural Studies treffen sich die Argumente von Jan Baetens mit denen von David Morley. So streicht auch Baetens heraus, „interdisciplinarity is a good thing“, setzt aber nochmals einen deutlichen Akzent dahingehend, dass damit nicht die häufig aus ökonomischen Erwägungen betriebene Auflösung von universitären disziplinären Einrichtungen gemeint ist: „interdisciplinarity is a good thing, which deserves to be encouraged, not as a synonym of antidisciplinarity, but as the creative collaboration of well-established disciplinary backgrounds“ (Baetens 2005: 10). Cultural Studies zu betreiben bedeutet in diesem Sinne gerade nicht, sie als eine ‚neue Disziplin‘ zu etablieren, sondern ihre Perspektive als transdisziplinäres Projekt zu wahren, das sich in unterschiedlichen Disziplinen multidimensional konkretisiert. Hiermit verbunden ist auch ein verändertes Verständnis von ‚wissenschaftlichem Fortschritt‘, das jenseits von Vorstellungen disziplinären Paradigmawechsels liegt: „Statt diesen Prozess [des ‚intellektuellen Fortschritts’; A.H.] als lineare Abfolge von Wahrheiten, Paradigmen oder Modellen zu denken, die einander in triumphalem Fortschritt ablö-
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sen, sind wir besser mit einem multidimensionalen Modell bedient, das in einem dialogischen Transformationsprozess, der zwar stellenweise selektiv, aber synergetisch und inklusiv ist, neue Einsichten auf den alten aufbaut.“ (Morley 2003: 135)
Solche Überlegungen lassen sich für die Medienanalysen der Cultural Studies und deren Verhältnis zur Medien- und Kommunikationswissenschaft konkretisieren. Im Rahmen einer an den Cultural Studies orientierten Medien- und Kommunikationsforschung geht es nicht darum, diese gegen die Medien- und Kommunikationswissenschaft zu positionieren. Adäquat erscheint vielmehr den Zugang der Cultural Studies in der Medien- und Kommunikationswissenschaft, verstanden als eine wissenschaftliche Disziplin, zu realisieren. Der Beitrag, den die Cultural Studies für die Medien- und Kommunikationswissenschaft leisten können, besteht darin, dass sie zum einen darauf zielen, gegenwärtige zivilgesellschaftliche Herausforderungen in ihren Medienanalysen zu fokussieren. Zum anderen geschieht dies mit dem Anspruch einer multiperspektivisch-kritischen Auseinandersetzung, oder – um es mit dem Titel dieses Bandes zu formulieren – mit einem Fokus auf das Wechselverhältnis von Kultur, Medien und Macht. Doch wie kann für ein solches Unterfangen ein begrifflicher bzw. analytischer Rahmen aussehen? Welche – auch von Lawrence Grossberg in diesem Band geforderten – neuen Konzepte und Ansatzpunkte erscheinen für eine auf gegenwärtige Herausforderungen fokussierte Medien- und Kommunikationsforschung der Cultural Studies zentral? Der bisher umrissene Gesamtrahmen der Argumentation hat deutlich gemacht, dass es in der Perspektive der Cultural Studies kaum möglich ist, auf diese Frage eine einzig richtige Antwort zu geben. Deswegen müssen die im Weiteren entwickelten Argumente auch als eine mögliche Perspektivierung zukünftiger Medienanalyse im Kontext der Cultural Studies verstanden werden. Mein Ziel auf den folgenden Seiten ist es, anhand von drei miteinander in Beziehung stehenden Konzepten theoretische und analytische Perspektiven einer Medien- und Kommunikationsforschung im Rahmen der Cultural Studies konkret zu machen, die insbesondere Fragen des Medien- und Kommunikationswandels fokussieren. Greifbar wird dies an der Diskussion um die Globalisierung der Medienkommunikation bzw. anhand der Auseinandersetzung mit der fortschreitenden Digitalisierung von Medienkommunikation. In beiden Diskussionssträngen erscheinen mir die die Konzepte ‚Konnektivität‘, ‚Netzwerk‘ und ‚Fluss‘ zentral. In Bezug auf diese ist herauszustreichen, dass sie über verschiedenste Disziplinen hinweg als begriffliche Analyseinstrumente zunehmend Verwendung finden. Dennoch kann man meines Erachtens argumentieren, dass diese Konzepte in den Cultural Studies auf eine ganz spezifische Weise konkretisiert werden, was exakt der Grund ist, weswegen sie Perspektiven für deren Medien- und Kommunikationsforschung im Rahmen von Cultural Studies eröffnen. Dabei sind die drei Konzepte nur vordergründig auf eine Auseinandersetzung mit der Netzkommunikation fokussiert. Sicherlich ist dem zuzustimmen, dass es vor allem die Etablierung des Internets war, durch die diese Konzepte eine erhebliche Verbreitung in der Medien- und Kommunikationswissenschaft erfahren haben. Eine intensivere Auseinandersetzung zeigt aber schnell, dass sie innerhalb der Medienanalysen der Cultural Studies auch über die Netzkommuni-
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kation hinaus an Relevanz gewonnen haben, insbesondere im Rahmen einer Auseinandersetzung mit der Globalisierung der Medienkommunikation (siehe dazu überblickend die Beiträge in Hepp et al. 2005a).
2 Konnektivität Grundlegend kann man zuerst einmal festhalten, dass ein ‚Konnektivitätsdenken‘ in den klassischen Arbeiten der Cultural Studies durchaus zu finden ist, auch wenn der Begriff der ‚Konnektivität‘ erst später eine Verbreitung erfahren hat. Um diese historische Dimension greifbar zu machen, möchte ich auf jüngere Argumente von John Storey verweisen, der Konnektivitätsvorstellungen in der Artikulationstheorie von Stuart Hall fest macht (vgl. Storey 2000: 63). Hall (2000: 65-69) operiert in seiner Artikulationstheorie bekanntermaßen mit der Doppelbedeutung des englischen Ausdrucks „to articulate“, der einerseits so viel meint wie „sich äußern“, andererseits auch ‚eine Verbindung herstellen‘ – etwas ‚konnektieren‘. Eine Artikulation ist demnach eine ‚Konnektivitätsform‘, die unter bestimmten Umständen eine ‚Einheit‘ herstellen kann, in der deren Elemente eine weitergehende Bedeutung erfahren. ‚Äußerungen‘ sind in diesem Sinne eine ‚Artikulation‘, aber auch jedes Kulturprodukt kann als eine ‚Artikulation‘ begriffen werden, indem es als ‚Einheit‘ auf bestehende kulturelle Ressourcen und Diskurse verweist. Apples iPod beispielsweise hat – ähnlich wie der Sony Walkman (vgl. du Gay et al. 1997) – seine Bedeutung nicht ‚inhärent‘, sondern vermittelt durch eine auf das materielle Gerät bezogene Artikulation Elemente aus Diskursen der Medien und Werbung, aber auch lokalen Alltagsdiskursen (vgl. Hepp 2005b). Der Kern der Argumentation von Hall ist, dass solche Artikulationen zuerst einmal immer kontextuell (und damit auch situativ) sind, in diesen Kontexten aber auf verschiedene bestehende Diskurse und Formationen verweisen, die diese Artikulationen vermitteln. Dies macht die Möglichkeit anderer Formen der Re-Artikulation derselben Elemente greifbar, gleichzeitig wird in einer solchen Perspektive deutlich, dass bestehende Artikulationen nicht beliebig sind (siehe zu den sich hieraus ergebenden Bezügen zum Symbolischen Interaktionismus den Beitrag von Friedrich Krotz in diesem Band). Auch über die Artikulationstheorie von Hall hinaus lassen sich andere Überlegungen zu ‚kontextualisierter Konnektivität‘ als einem zentralen Aspekt von Bedeutungsproduktion in den Cultural Studies finden. Beispielsweise beschreibt nicht nur Halls (1980) Encoding/Decoding-Modell eine komplexe Konnektivitätsstruktur, ähnliches gilt auch für die verschiedenen Ansätze zur Beschreibung des „Kreislaufs von Kultur“ (vgl. Johnson 1986; du Gay et al. 1997; Hepp 2004b; Johnson et al. 2004). Oder McKenzie Wark (1994) versucht, im Rahmen einer solchen Begrifflichkeit Medienereignisse zu fassen. ‚Konnektivität‘ fasst damit das Herstellen einer spezifischen kommunikativen Beziehung, die einerseits eine konkrete Artikulation darstellt, andererseits auf übergreifende Diskurse und Formationen verweist. Der Begriff der ‚Konnektivität‘ verweist also – zumindest in seiner Grundstruktur – auf
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weitergehende Diskussionshorizonte innerhalb der Cultural Studies. Gleichzeitig hat ‚Konnektivität‘ auf theoretisch stärker fokussierte Weise zur Beschreibung des Medien- und Kulturwandels in den Cultural Studies an Relevanz gewonnen. Besonders deutlich wird dieser Umstand – wie gesagt – anhand der Globalisierungsdiskussion. Diese Globalisierungsdiskussion möchte ich als erstes Beispiel für eine weitere Kontextualisierung des Begriffs der Konnektivität nehmen, bevor ich als zweites Beispiel die Diskussion um digitale Medien fokussiere. Jüngere Arbeiten sowohl innerhalb der Cultural Studies als auch innerhalb der Soziologie treffen sich in dem Punkt, dass Globalisierung am ehesten verstanden werden kann als ein Metaprozess einer zunehmenden, multidimensionalen weltweiten Konnektivität (vgl. Hepp et al. 2005c). Diese Formulierung versucht zumindest drei unterschiedliche Argumente zu fassen. Wenn man erstens Globalisierung als einen „Metaprozess“ (Krotz 2005) versteht, verweist dies darauf, dass das Konzept der Globalisierung nicht etwas fasst, das man in dem Sinne ‚beobachten‘ könnte, dass es sich dabei um ein einzelnes ‚empirisches Objekt‘ handelt. Eher ist Globalisierung ein metatheoretisches Konzept wie ‚Individualisierung‘ oder ‚Kommerzialisierung‘, das uns hilft, zumindest in Einzelaspekten widersprüchliche und paradoxe Teilprozesse als Ganzes zu verstehen. Zweitens ist dieser Prozess „multidimensional“ (Giddens 1990: 70; Tomlinson 1999: 13). Diese Formulierung fasst, dass Globalisierung auf bzw. in unterschiedlichen ‚Prozessebenen‘ oder ‚Scapes‘ operiert. Auf welche gegenwärtige Konzepte von Globalisierung man sich auch stützt, diese treffen sich in dem Punkt, dass Globalisierung nicht auf eine ‚Hauptdimension‘ reduziert werden kann – z.B. die der Ökonomie –, die die anderen determiniert. Die unterschiedlichen Subprozesse der Globalisierung scheinen eine jeweils ‚eigene Logik‘ zu haben bzw. durch jeweils ‚eigene Kräfte‘ gekennzeichnet zu sein. Nichtsdestotrotz scheint es vielfache Beziehungen zwischen den verschiedenen ‚Prozessebenen‘ zu geben, deren „Disjunktion“ (Appadurai 1996: 27) ist relativ. Dies verweist auf den dritten, im Zusammenhang meiner Argumentation entscheidenen Punkt, der mit dem Ausdruck der ‚Konnektivität‘ verbunden ist. Wie John Tomlinson (1999: 3-10) herausgestrichen hat, weist ‚Konnektivität‘ auf eine vorsichtige Haltung dahingehend hin, welche Folgen mit dem Metaprozess der Globalisierung verbunden werden können. Während frühe Arbeiten hierzu die Tendenz hatten zu argumentieren, dass das Resultat der Globalisierung eine fortschreitende globale Standardisierung, Homogenisierung, „McDonaldisierung“ (Ritzer 1998) oder kurz eine „globale Kultur“ (Featherstone 1990) sei, wissen wir jetzt, dass kulturelle Nähe eine Folge von Globalisierung in bestimmten Kontexten sein kann. Ebenso lassen sich aber mit der Globalisierung auch Prozesse der Zunahme von Konflikten, Missverständnissen und der kulturellen Fragmentierung ausmachen: „globalisation divides as much as it unites; it divides as it unites“ (Bauman 1998: 3). Dies ist vor allem ein wichtiges Argument im Feld der Medien- und Kommunikationsforschung: Eine zunehmende kommunikative Konnektivität bringt Menschen nicht zwangsläufig zusammen – wie es Marshal McLuhan in seinem utopischen Entwurf eines „global village“ umreißt (vgl. McLuhan/Fiore 1968) – und hat nicht eine
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‚weltweite Amerikanisierung‘ zur unhinterfragten Folge. Eher verweist die zunehmende weltweite kommunikative Konnektivität auf quantitativer Ebene auf eine wachsende Zahl grenzüberschreitender Kommunikationsprozesse. Betrachtet man diese allerdings auf qualitativer Ebene, so haben diese Prozesse eine sehr unterschiedliche Spezifik. Entsprechend erscheint es notwendig, im Detail zu analysieren, was die Folgen der Globalisierung der Medienkommunikation sind, indem man sich auf spezifische Artikulationen in spezifischen Kontexten konzentriert. Wie bereits als zweiter Punkt angemerkt, verweist das Konzept der ‚Konnektivität‘ in Bezug auf Fragen des Medien- und Kommunikationswandels aber auch über die Globalisierungsdiskussion hinaus auf eine Auseinandersetzung mit Digitalisierung. Anfangs war hier der Ausdruck der „Interkonnektivität“ („interconnectivity“) eine Kategorie zur Beschreibung von technologischen kommunikativen Vernetzungen. Dies macht exemplarisch Pierre Lévy‘s Begriff des Cyberspace deutlich, den er als „communications space made accessible through the global interconnections of computers and computers memories“ (Levy 2001: 74) definiert2. Während an diesem Zitat die Nähe zur Diskussion um die Globalisierung der Medienkommunikation greifbar wird, ist in anderen Ansätzen der Begriff der Konnektivität generell ein Instrumentarium, um den mit fortschreitender Digitalisierung verbundenen Wandel kultureller Räume und Orte zu fassen. Exemplarisch wird dies greifbar in den Beiträgen des von Nick Couldry und Anna McCarthy (2004) herausgegebenen Bands „Mediaspace“, die sich mit jüngsten digitalen Medien befassen. James Hay und Jeremy Packer (2004) untersuchen in deren Beitrag „Crossing the Media(-n): Auto-Mobility, the Transported Self and Technologies of Freedom“ die Art und Weise, wie gegenwärtige Vorstellungen von Intelligenten Transportsystemen (ITS) konstruiert werden und versuchen, solche Artikulationsprozesse über die Kategorie der Konnektivität zu fassen. Die Besonderheit der gegenwärtigen Repräsentation von ITS in Werbung und Technologieszenarios besteht ihrer Argumentation nach darin, dass sie als doppelte – sowohl infrastrukturelle als auch kommunikative – Konnektivität konstruiert werden. Dies ist einerseits die Konnektivität des „smart car“ zum technischen System der automatisch befahrenen Infrastruktur. Andererseits werden diese „smart cars“ selbst als kommunikativ konnektierte, mobile Orte begriffen, die In-Bewegung die Möglichkeit zum Fernsehen und FilmeSchauen, Telefonieren, Internet-Surfen usw. bieten. Sie verbinden also die Vorstellung von ‚Freiheit‘ durch (in diesem Fall automatisierten!) Individualverkehr mit der von Freiheit umfassender Kommunikationspotenziale: „Its connectivity is imagined as being most important to creating freedom“ (Hay/Packer 2004: 228). Einen anderen Gegenstand fokussiert Fiona Allon (2004), sucht diesen aber wiederum mit dem Konzept der Konnektivität zu fassen. Ihr geht es um Konstruktionen des „smart house“, also um Entwürfe von ‚intelligenten‘, ‚kommunikativ vernetzen‘ Häusern. Wiederum finden wir den Gedanken, dass ein und derselben (technologischen) Konnektivität unterschiedliche Bedeutungen in kulturellen Auseinandersetzungen und Machtverhältnissen zukommt (vgl. Allon 2004: 271). Einerseits eröffnet die digitale Technologie im „smart house“ mit der umfassenden internen und externen Konnektivität verschiedenster Endgeräte weitreichende Gestaltungsräume. Bei-
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spiele hierfür sind durch Mobiltelefone gesteuerte Beleuchtungs- oder Rollladensysteme oder Funknetze in allen Räumen des Hauses. Diese Technologien bieten neue Möglichkeiten der ‚Steuerung‘ des Zuhauses, aber auch neue Räume des kommunikativen Handelns nach ‚Außerhalb‘ für diejenigen, die über diese Technologien verfügen und sie beherrschen. Gleichzeitig bietet die selbe kommunikative Konnektivität aber auch Möglichkeiten der Kontrolle und Überwachung, nicht nur des Hauses als Besitz selbst (bspw. durch Webcams), sondern vor allem derjenigen Menschen, die in diesem Haus Heimarbeit (beispielsweise am heimischen Computer) verrichten. Hier wird die Technologie des „smart houses“ zu Kontrolltechnologie für neue Formen von Ausbeutung. Als dritter Beitrag des Bandes, in dem das Konzept der Konnektivität eine bemerkenswerte Rolle spielt, ist der von Michael Bull zu nennen. Dieser setzt sich auf der Basis von qualitativen Interviews mit der Aneignung von mobilen Endgeräten (Autoradios, Walkmans, Mobiltelefonen etc.) auseinander. Im Fokus steht dabei die Frage, inwieweit diese ‚devices‘ kommunikativ „mobile spaces“ (Bull 2004: 275) in der Stadt eröffnen. Bull kann zeigen, wie durch die Konnektivität mobiler Endgeräte bewegliche individualisierte Kommunikationsräume geschaffen werden. Ein Beispiel hierfür sind die privaten Soundwelten von mobilen Abspielgeräten, die die Illusion von ‚beweglicher Nähe‘ vermitteln (vgl. Bull 2004: 283). Aber auch Mobiltelefone gestatten eine mobile Konnektivität personaler Kommunikation im städtischen Raum (Bull 2004: 286). In der Argumentation von Bull werden gegenwärtige städtische Strukturen personaler Kommunikation als selbst mobile individualisierte Kommunikationsgefüge greifbar (siehe für eine ähnliche Perspektive auch den Beitrag von Caroline Düvel in diesem Band). Vor diesem Hintergrund verwundert es auch nicht, dass John Tomlinson (2005) über seine globalisierungstheoretischen Überlegungen hinaus das Konzept der Konnektivität erweitert, um den Medien- und Kommunikationswandel von Mobilkommunikation zu fassen. Während die Terminals von physischer Konnektivität – hier verstanden als Endorte von Reisenden – in der industriellen Moderne glamourös gestaltete Bahnhofsgebäude waren, wurden in den letzten anderthalb Jahrhunderten Terminals als Endgeräte ‚kommunikativer Konnektivität‘ nicht nur kleiner, vor allem wurden sie mobil. Und auch Tomlinson argumentiert, dass diese mobile kommunikative Konnektivität einerseits kulturell-technologische Ängste schafft, andererseits Möglichkeiten eröffnet, die Grenzen der gelebten Lokalität kommunikativ zu überwinden. Die Technologien mobiler digitaler Endgeräte können in diesem Sinne als „unvollendete Instrumente [betrachtet werden], mit denen die Menschen versuchen – unter den Bedingungen einer weltweiten Deterritorialisierung – etwas von der Sicherheit eines kulturellen Ortes, von Beständigkeit in einer Kultur des Flows zu erhalten“ (Tomlinson 2005). Die bisher skizzierten Aktualisierungen von ‚Konnektivität‘ im Rahmen der Auseinandersetzung mit Digitalisierung machen eine ähnliche Leistung des Konzeptes deutlich, wie im Rahmen der Globalisierungsdiskussion: ‚Konnektivität‘ ermöglicht die Beschreibung und Analyse des Wandels von kommunikativen Beziehungen in einer Art und Weise, die zuerst einmal vor-analytische Bewertungen dieser Kom-
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munikationsbeziehungen im Hinblick auf damit verbundene Machverhältnisse und Folgen vermeidet. Möglicherweise ist exakt dies der Grund, warum sich ‚Konnektivität‘ auf besondere Weise dazu anbietet, Medien- und Kommunikationswandel zu fassen. Auf einer abstrakten Ebene lässt sich jedes Medium als ein Instrument zur ‚Etablierung von kommunikativer Konnektivität‘ begreifen. Sprache beispielsweise ist ein Werkzeug, das Menschen dazu verwenden ‚kommunikativ‘ in Beziehung zu treten. So kann man – wie es Werner Faulstich und Carsten Winter machen (Faulstich 1996; Winter 1996) – Wandermönche als „Menschmedien“ beschreiben, indem diese Reisenden kommunikative Konnektivitäten zwischen Menschen in unterschiedlichen Regionen herstellen. Aber auch elektronische Medien wie Film, Fernsehen, Radio und das Internet können als Werkzeuge der Herstellung von kommunikativer Konnektivität verstanden werden. Ihre Repräsentationen stellen symbolische Beziehungen zwischen unterschiedlichen Menschen und Kulturen her. Abbildung:
Konnektivitätstheoretische Konzepte
Konnektivität Strukturaspekte
• • •
Netzwerk Linie/Faden Knoten Schalter
Prozessaspekte
• • •
Fluss Raum Verdichtung Spezifik
Diese Beispiele illustrieren zwei Aspekte. Erstens ist Konnektivität ein generelles Moment von Kommunikation. Es ist nichts Neues oder Spezifisches für elektronische Medien oder das Internet3. Eher hilft das Konzept uns, die Überlegung zu fassen, dass Kommunikation auf das Herstellen einer bestimmten Art von ‚Beziehung‘ verweist, deren Folge ‚Verstehen‘ sein kann, aber ebenso auch ‚Missverstehen‘ und ‚Konflikt‘. Zweitens hat sich die Spezifik von kommunikativer Konnektivität im Verlauf der Mediengeschichte verändert: Frühe Formen der Etablierung von kommunikativer Konnektivität basierten in hohem Maße auf ‚physischen Aspekten‘, beispielsweise der Person, die reist. Im Gegensatz dazu basieren die Formen von Konnektivität, die in den letzten Jahrzehnten an Relevanz gewonnen haben, in wesentlich geringerem Maße auf ‚physischen Aspekten‘. Selbstverständlich haben beispielsweise Internetverbindungen nach wie vor ihre ‚physische Basis‘ in elektroni-
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schen Kabelnetzwerken. Aber deren Formen der Konnektivität sind mehr und mehr losgelöst von dieser ‚Basis‘: Die Kommunikationsmuster, die in der Netzkommunikation über verschiedene Territorien hinweg zugänglich sind, scheinen kaum mehr auf deren ‚physische Aspekte‘ rückführbar. All diese Verweise auf verschiedene Studien und Theoretisierungen haben damit deutlich gemacht, in welchem Maße ein auf ‚Konnektivität‘ fokussiertes Denken hilfreich erscheint, die in der Globalisierung der Medienkommunikation und Digitalisierung greifbaren Herausforderungen des gegenwärtigen Medien- und Kommunikationswandels zu fassen. Allerdings bedarf meines Erachtens das Konzept der Konnektivität einer weiteren begrifflichen Differenzierung. Wie ich argumentieren möchte, verbinden konnektivitätstheoretische Überlegungen letztlich zwei Perspektiven oder Aspekte in diesem Konzept. Dies ist zum einen der Strukturaspekt, der sich mit dem bereits mehrfach genannten Ausdruck des ‚Netzwerks‘ zur Beschreibung von ‚Konnektivitätsstrukturen‘ verbinden lässt. Zum anderen ist dies die des Prozessaspekts, der mit dem Ausdruck des Flusses („flow“) zur Beschreibung von ‚Konnektivitätsprozessen‘ in Verbindung gebracht werden kann (siehe oben stehende Abbildung). Es erscheint mir wichtig, dass man beide Aspekte im Blick hat, wenn man sich mit Fragen kommunikativer Konnektivität auseinander setzt – ob in Bezug auf die fortschreitende Digitalisierung oder in Bezug auf die Globalisierung der Medienkommunikation.
3 Netzwerk Der Ausdruck ‚Netzwerk‘ bietet einen Ansatzpunkt, die strukturierenden Kräfte von Konnektivität zu fassen4. Um dies verständlich zu machen, bietet es sich an, Manuel Castells Definition von ‚Netzwerk‘ zu zitieren, die sich mit der Definition vieler anderer trifft. Für Castells sind Netzwerke “offene Strukturen und in der Lage, grenzenlos zu expandieren und dabei neue Knoten zu integrieren, solange diese innerhalb des Netzwerks zu kommunizieren vermögen, also solange sie die selben Kommunikationskodes besitzen – etwa Werte oder Leistungsziele.“ (Castells 2001: 528f.)
Dieses Zitat verweist auf einige wichtige Aspekte, die man beim Theoretisieren von ‚Netzwerk‘ berücksichtigen sollte. In einem bestimmten Sinne ist es tautologisch zu argumentieren, Netzwerke bestehen aus Konnektivitäten (‚Verbindungen‘, ‚Fäden‘, ‚Kurven‘ usw.), die miteinander in Knoten verbunden sind. Dies ist bloß eine Beschreibung von Netzwerk im Sinne einer alltagssprachlichen Metaphorik. In der gegenwärtigen Theoriediskussion bekommen diese Ausdrücke jedoch eine spezifische Bedeutung. Es ist zunehmend offensichtlich, dass sich die Konnektivität eines Netzwerks entlang bestimmter Kodes artikuliert. ‚Strukturen‘ sozialer Netzwerke sind nicht einfach da, sondern werden in einem fortlaufenden kontextualisierten Prozess (re)artikuliert. Dies macht es beispielsweise möglich, dass ein und dieselbe Person Teil unterschiedlicher Netzwerke sein kann: Er oder sie kann Teil eines Freund-
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schaftsnetzwerks sein (wo eine bestimmte Art sozialer Beziehung der ‚dominante Kode‘ ist), oder auch Teil des Netzwerks einer sozialen Bewegung (wo bestimmte kulturelle Werte und politische Ziele der ‚dominante Kode‘ sind). Dies scheint der Grund dafür zu sein, warum Netzwerkstrukturen so offen und die Grenzen von Netzwerken so unscharf sind, während Netzwerke nichtsdestotrotz strukturierende Kräfte darstellen: Ein Freundschaftsnetzwerk stellt an uns bestimmte Anforderungen, ebenso wie das politische Engagement in einer sozialen Bewegung andere Möglichkeiten politischen Handelns ausschließt.5 Diese Anmerkungen helfen zu fassen, was man unter dem Ausdruck ‚Knoten‘ verstehen kann. Auf einer neutralen Ebene kann man sagen, ein Knoten ist der Punkt, wo eine Konnektivität (‘Verbindung‘, ‚Faden‘, ‚Kurve‘ usw.) eines Netzwerks sich selbst kreuzt.6 Auf einen ersten Blick mögen solche Formulierungen irritieren. Nichtsdestotrotz helfen sie uns, den wichtigen Punkt zu verstehen, dass Knoten innerhalb von Netzwerkstrukturen vollkommen unterschiedliche Dinge sein können. Wir können personale Kommunikation als einen Prozess der Herstellung einer bestimmten Art von Konnektivität verstehen, in der die sprechenden Personen die zentralen ‚Knoten‘ sind. ‚Knoten‘ können aber ebenso andere soziale Formen haben. Zum Beispiel kann man lokale Gruppen als ‚Knoten‘ in dem Netzwerk einer weitergehenden sozialen Bewegung beschreiben oder man kann Organisationen wie lokale Unternehmungen als ‚Knoten‘ in einem weitergehenden Firmennetzwerk begreifen. ‚Netzwerk-Strukturen‘ können auf vollkommen unterschiedlichen Ebenen ausgemacht werden – und das ist der Grund, warum dieses Konzept eine Chance eröffnet, strukturierende Kräfte über verschiedene Ebenen hinweg zu beschreiben und zu vergleichen. Ein dritter Punkt, der wichtig erscheint, wenn wir die Strukturaspekte von Konnektivität diskutieren, ist der des ‚Schalters‘. Wiederum war es Manuel Castells, der diesen Ausdruck in die wissenschaftliche Diskussion gebracht hat. Für Castells ist ein ‚Schalter‘ ein spezifischer Knoten, der verschiedene Netzwerke miteinander verbindet. Der Ausdruck ‚Schalter‘ bezieht sich auf die Idee, dass dieser Knoten dazu in der Lage sein muss, den Kode eines Netzwerks in den eines anderen zu ‚übersetzen‘. Um dies verständlicher zu machen ist es hilfreich, sich die Knoten näher zu betrachten, die Castells als ‚Schalter‘ beschreibt. Die Beispiele, auf die er sich fokussiert, sind hier die Netzwerke von Kapital, Information und Management (siehe Castells 2001: 529). Deren unterschiedliche Strukturen sind über spezifische ‚Schalter‘ miteinander ‚verbunden‘, die er in so genannten globalen Städten ausmacht. ‚Schalter‘ sind in diesem Sinne die Orte, wo zentrale Momente von Macht innerhalb von Netzwerkstrukturen konzentriert sind, wobei sich diese Machtkonzentration in der ‚Übersetzungsfähigkeit‘ der Kodes von einem Netzwerk zum anderen manifestiert. Genau durch solche ‚Übersetzungsleistungen‘ sind globale (Medien-)Städte gekennzeichnet (vgl. Krätke 2002). Diese Idee eröffnet neue Möglichkeiten, Machtbeziehungen innerhalb von (globalen) Netzwerken zu analysieren: Während Machbeziehungen in der Gesamtheit sozialer Netzwerke fußen – wie Michel Foucault herausgestrichen hat (vgl. Foucault 1996: 43) –, hilft uns das Konzept des ‚Schalters‘ zu verstehen, wo Machbeziehungen innerhalb von Netzwerken
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insbesondere konzentriert sind, nämlich an der Position, wo verschiedene Netzwerke miteinander interagieren. Dieses ‚Netzwerk-Denken‘, wie ich es beschrieben habe, eröffnet meines Erachtens eine Art und Weise, die strukturellen Aspekte von Konnektivität zu beschreiben, die diesem Paradox der gleichzeitigen ‚Offenheit‘ und ‚Geschlossenheit‘ von Netzwerken gerecht wird. Auf der einen Seite sind die Strukturen von Netzwerken in dem Sinne ‚offen‘, dass sie (mehr oder weniger) einfach neue ‚Knoten‘ integrieren und wachsen können, ohne deren ‚Stabilität‘ zu verlieren. Hierauf Bezug nehmend sind Netzwerke ‚offen‘. Auf der anderen Seite sind Netzwerke gleichzeitig geschlossen, indem diese Prozesse der Ausdehnung entlang bestimmter ‚Kodes‘ geschehen, die das Spezifische eine Netzwerks und dessen Macht bestimmen. Aber wiederum besteht eine bestimmte ‚Offenheit‘ von Netzwerken, indem ‚Schalter‘ die Möglichkeit bieten, über ‚Kodegrenzen‘ hinweg zu ‚kommunizieren‘. Dies ist der Punkt, an dem die Netzwerkmetapher produktiver zu sein scheint als die Systemmetapher der gegenwärtigen funktionalistischen Systemtheorie: ‚Systeme‘ werden – wie beispielsweise in den Arbeiten von Niklas Luhmann (1997) – als ‚geschlossene Strukturen‘ gedacht, die sich selbst auf ‚autopoietische Weise‘ reproduzieren. Wegen deren ‚autopoietischer Struktur‘ besteht für Systeme keine Möglichkeit, auf direkte Weise miteinander zu interagieren. Anstatt dessen sind sie miteinander durch ‚strukturelle Kopplung‘ verbunden. Mit solchen Konzepten eröffnet die funktionalistische Systemtheorie sicherlich einen kohärenten Begriffsrahmen. Ihre Schwäche besteht aber in deren Fokus auf eineindeutige Systemgrenzen und Systemintegration. ‚Netzwerk‘ als Konzept eröffnet eine wesentlich offenere Möglichkeit des Denkens, das angemessen erscheint für die Paradoxien gegenwärtiger Medienkulturen (siehe Karmasin 2004 zum Konzept des Paradox in der Medien- und Kommunikationswissenschaft).
4 Fluss Wie ich argumentiert habe, ist der Fokus auf ‚Netzwerke‘ nur eine Möglichkeit, Konnektivität zu betrachten. Ebenso wichtig wie dieser Strukturaspekt ist der Prozessaspekt. Der verbreiteste Ausdruck, um diese Prozesse zu beschreiben, ist der des ‚Flusses‘ im Sinne von Englisch „flow“ oder „fluid“7. Flüsse operieren entlang bestimmter Netzwerkstrukturen. Beispielsweise muss der ‚Nachrichtenfluss‘ auf der Basis unterschiedlicher Mediennetzwerke gefasst werden (vgl. Boyd-Barrett/Thussu 1992; Boyd-Barrett 1997; Boyd-Barrett/Rantanen 1998), während der Fluss von Migranten entlang bestimmter Personennetzwerke erfolgt (vgl. Pries 2001). Insbesondere John Urry hat argumentiert, dass das Konzept des Flusses8 in hohem Maße geeignet erscheint, die sozialen und kulturellen Prozesse der Gegenwart zu fassen, indem dieses die Möglichkeit für eine neue Form von Soziologie eröffnen würde, der es gelingen kann, die zunehmend mobilen kulturellen Formen zu fokussieren. Urry argumentiert, „[the] development of a ‚mobile sociology‘
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demands metaphors that view social and material life as being ‚like the waves of a river‘“ (Urry 2003: 59). Ausgehend von dieser Vorstellung favorisiert Urry das Konzept des ‚globalen Flusses‘ (‚global fluids‘), mit dem er betonen möchte, dass Flüsse unzweifelhaft Netzwerke nötig machen, nichtsdestotrotz die Spezifik dieser globalen Flüsse darin besteht, dass sie Netzwerke überschreiten und zum Teil selbst organisierend sind im Hinblick auf deren Schaffen und Aufrechterhalten von Grenzen (vgl. Urry 2003: 60). Solche Argumente sind aus meiner Perspektive sehr interessant, da sie gleichzeitig hilfreich und problematisch erscheinen. Sie sind hilfreich, indem sie den überschreitenden Charakter von Flüssen betonen: Flüsse wie der Fluss bestimmter Informationen ‚überschreiten‘ unterschiedliche Netzwerke, und dies ist der Grund, warum das Konzept des Flusses und das des Netzwerkes voneinander zu unterscheiden sind. Auf der anderen Seite erscheinen seine Argumente problematisch, indem Urry hieraus – trotz seiner Kritik an der funktionalistischen Tradition – einen selbstorganisierenden Aspekt globaler Flüsse folgert. Wenn wir jedoch solch abstrakte Argumentation auf die Ebene der Alltagserfahrungen herunter brechen, stellen wir fest, dass zumindest die globalen Kommunikationsflüsse nicht ‚autonome‘ Phänomene sind, sondern strukturiert werden durch die Kommunikationsnetzwerke, entlang derer sie ‚reisen‘ – und dass diese strukturierenden Aspekte etwas mit Macht und der Machtkonzentration an bestimmten ‚Schaltern‘ zu tun haben. Was ich hier deutlich machen möchte ist, dass Urry sicherlich recht hat mit seiner Betonung der Komplexität von (globalen) Flüssen. Was problematisch erscheint, ist seine Tendenz aufzugeben danach zu fragen, was die strukturierenden Aspekte globaler Komplexität sind und wie diese mit Machbeziehungen verwoben sind9. Trotz deren provisorischen Charakters erscheinen mir theoretische Konzepte wie das des ‚Schalters‘ als machtgeprägter ‚Überschreitungspunkt‘ unterschiedlicher Netzwerke und entlang dieser verlaufender Flüsse eine geeignetere Art und Weise, über Macht in ‚globaler Komplexität‘ und ‚zunehmender Mobilität‘ nachzudenken als von ‚selbstorganisierenden‘ Aspekten von Flüssen zu sprechen. Es sind exakt diese ‚Schalter‘, die im Alltagsleben sehr manifest sind: Wenn wir Medienflüsse betrachten, müssen wir unseren Blick auf ‚global‘ handelnde Medienkonzerne lenken und gleichzeitig anerkennen, dass diese Teil eines zunehmend globalen Kapitalismus mit entsprechenden Finanznetzwerken und -flüssen sind – ein Kapitalismus, der sich an spezifischen globalen Medienstädten konkretisiert (vgl. Hepp 2004c: 259-274) und eher Unsicherheit und Ambiguität produziert als ein kollektives Verstehen (vgl. Ang 2003). Ausgehend hiervon können wir folgern, dass Flüsse kein momentanes Ereignis sind, sondern langfristige Konglomerate von Prozessen konstituieren. Es gibt unterschiedliche Begriffe, die sich etabliert haben, um diese Konglomerate zu bezeichnen, wie beispielsweise ‚Space‘ in Castells Konzept des Raums der Ströme (siehe Castells 2001: 431) oder ‚scape‘ wie in in Arjun Appadurais (1996: 33) bekannter Unterscheidung von Ethnoscapes, Mediascapes, Technoscapes, Financescapes und Ideoscapes. Theoretische Konzepte wie diese versuchen zu fassen, dass unterschiedliche (globale) Flüsse ‚komplexe Landschaften‘ konstituieren, die in deren eigenen Logik zu beschreiben sind. Die Flüsse bestehender Konnektivitäten existieren nicht
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als isolierte Einzigartigkeiten, sondern konstituieren den Teil eines komplexeren Gefüges. Während man im Allgemeinen zeigen kann, wie zielführend räumliche Konzepte sind, um diese Langzeitkonglomerate von Flüssen greifbar zu machen (siehe für solche Argumente Morley 1996: 327-331), erscheint mir insbesondere ein bestimmtes theoretisches Konzept konkrete empirische Analysen zu ermöglichen, nämlich das der ‚Verdichtung‘ (vgl. Löfgren 2001). Wenn wir unsere Gegenwart begreifen als gekennzeichnet durch eine fortschreitende ‚globale Konnektivität‘ von zunehmend mobilen ‚Netzwerken‘ und ‚Flüssen‘, die ineinander übergehen und unklare Grenzen haben, müssen wir doch die Frage beantworten, wie wir dennoch nach wie vor bestehende kulturelle, ökonomische und andere Gefüge fassen. Wenn wir diese als ‚bedeutungstragende Verdichtungen‘ von Flüssen entlang von und über Netzwerke hinweg beschreiben, betonen wir einerseits die Spezifik solcher Konglomerate wie staatliche Gebilde und Kulturen, gleichzeitig aber andererseits deren unscharfe Grenzen. Es ist damit offenkundig, dass das Konzept der ‚Verdichtung‘ den ‚überschreitenden Charakter‘ von Flüssen greifbar macht und gleichzeitig das Charakteristische des jeweiligen ‚Raums‘ oder ‚Scapes‘ lang anhaltender Konglomerate: Verdichtungen sind gewissermaßen eine fokussierte und bedeutungsvolle Spezifik von Flüssen mit unscharfen Grenzen.
5 Kontextualisierte Netzwerk- und Flussanalysen Man mag meinen bisher entwickelten Argumenten den Vorwurf machen, es handle sich bei ihnen um keine weitergehende Klärung der Konzepte ‚Konnektivität‘, ‚Netzwerk‘ und ‚Fluss‘, die deren Eignung als Ansatzpunkt von Medien- und Kommunikationsforschung im Rahmen der Cultural Studies deutlich machen. Vielmehr verbleiben sie auf einer ähnlich abstrakten und selbstbezogenen Ebene, wie man es beispielsweise der Theoriediskussion der Systemtheorie oder dem (radikalen) Konstruktivismus vorwirft. Sicherlich waren die bisher erfolgten Argumentationen abstrakt und verweisen zumindest zum Teil auf eine partiell geschlossene Globalisierungsdiskussion.10 Dennoch bieten sie meines Erachtens die Basis für eine ganz konkrete Medien- und Kommunikationsforschung im Rahmen der Cultural Studies. Fasst man die bisherigen Argumente nochmals zusammen, so ist dies dahingehend möglich, dass ‚Konnektivität‘ ein spezifisches Konzept zur Fokussierung soziokultureller, insbesondere translokaler kommunikativer Beziehungen ist, das dem gerecht zu werden versucht, dass solche Beziehungen vollkommen unterschiedliche, zum Teil widersprüchliche bzw. paradoxe Qualitäten haben können und dennoch als kontextuelle Artikulationen Bestand haben. Konkret wird eine auf Konnektivität fokussierte Betrachtung, wenn sie einzelne Netzwerke als Strukturaspekte von Konnektivität analysiert oder aber einzelne Flüsse als Prozessaspekte von Konnektivität. Fokus einer Medien- und Kommunikationsforschung in diesem Begriffsrah-
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men kann entsprechend nicht ‚Konnektivität‘ ‚als solche‘ sein, es sind vielmehr konkrete Netzwerke und Flüsse, die es zu untersuchen gilt. Geht man von allgemeinen methodologischen Überlegungen der Cultural Studies aus, so müssen diese Netzwerk- und Flussanalysen kontextualisiert erfolgen. Diese Formulierung verweist auf den radikalen Kontextualismus als einem zentralen Bezugspunkt von Cultural Studies überhaupt (siehe dazu auch Ien Ang und Rainer Winter in diesem Band). Die Argumente von Lawrence Grossberg (1994: 26) aufgreifend, ist unter radikalem Kontextualismus eine grundlegende Orientierung der Cultural Studies zu verstehen, die sich in einem spezifischen Anti-Essenzialismus manifestiert, wonach kein kulturelles Produkt und keine kulturelle Praxis außerhalb des kontextuellen Zusammenhangs fassbar ist, in dem diese stehen. Befassen sich die Cultural Studies also mit der Rolle kultureller Praktiken bei der Konstitution soziokultureller Wirklichkeit, so geschieht dies unter Einbezug der verschiedenen in diesem Zusammenhang relevanten ‚Kräfte‘ und ‚Interessen‘, ohne dass eine von diesen monokausal als die ‚eigentlich relevante‘ apostrophiert wird. In diesem Sinne kann man davon sprechen, Fokus einer ‚Konnektivitätsforschung‘ im Rahmen der Cultural Studies muss eine kontextualisierte Netzwerk- und Flussanalyse sein. Doch wie kann man sich diese vorstellen? Und welche Bezüge sind hier zu einem kritischen, auf Fragen der Macht ausgerichteten Vorgehen zu sehen? Für eine kontextualisierte Netzwerkanalyse ist zuerst einmal herauszustreichen, dass ein netzwerkanalytisches Vorgehen allgemein in der Medien- und Kommunikationsforschung etabliert ist. So lassen sich bereits die Arbeiten von Lazarsfeld et al. zum Zwei-Stufen-Fluss von Kommunikation als frühe netzwerkanalytische Ansätze verstehen, indem hier die ‚indirekte Wirkung‘ von Medien über auf Meinungsführer zentrierte Kommunikationsnetzwerke untersucht wurde (vgl. Schenk 1983). Aber auch in der Folge haben (quantitative) netzwerkanalytische Studien in der Medienund Kommunikationswissenschaft ihre Tradition, insbesondere wenn es um die Untersuchung der Relevanz von Personennetzwerken in Prozessen des Agenda-Setting geht (vgl. überblickend Schenk 1995). Einen weiteren Schub haben Netzwerkanalysen mit einer auf das Internet bezogenen Netzwerkforschung erfahren (vgl. exemplarisch für andere Wellman et al. 1996; Wellman 2000), aber auch in der Journalismusforschung sind sie zunehmend etabliert (vgl. Quandt 2005). Wo wird also eine Netzwerkforschung ‚kontextuell‘ im Sinne der Cultural Studies? Man kann diese Frage dahingehend beantworten, dass es darum geht, Netzwerkstrukturen in deren Konkretisierung in Prozesse der Auseinandersetzung um Wirklichkeitsdefinitionen zu fokussieren. Es geht also gerade nicht um eine abstrakte Medientheorie entlang der Kategorie des Netzwerks11 oder um eine rein deskriptive Beschreibung von Netzwerken. Vielmehr geht es um eine konkrete und materialbasierte Analyse von Netzwerkstrukturen und der in bzw. anhand von ihnen greifbaren Machtverhältnisse, sei dies auf der Ebene von Personennetzwerken, von technologischen Netzwerken wie dem Internet oder komplexen Organisationsnetzwerken beginnend bei sozialen Bewegungen über die Netzwerke deterritorial agierender Medienkonzerne bis hin zu den Finanz- und Handelsnetzwerken globaler Medienstädte.
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Die Spezifik der Cultural Studies ist damit, dass das strukturierende Potenzial solcher Netzwerke in sozialen und kulturellen Auseinandersetzungen in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Machtbeziehungen, die sich in Netzwerken strukturieren, können sowohl bestehende Herrschaftsverhältnisse stabilisieren als auch Möglichkeiten von deren Kritik eröffnen. Ganz konkret wird dies innerhalb des Medienbereichs in Bezug auf das Internet greifbar. Einerseits ist das Internet als Infrastrukturnetzwerk zu begreifen, das zentral für die Etablierung einer globalen Ökonomie in Echtzeit bzw. für die Etablierung von innerhalb dieser agierender deterritorialer Netzwerkunternehmen ist (vgl. Castells 2001: 83-228). Die Technologie des Internets stützt hier eine spezifische Form des ‚globalen Kapitalismus‘. Gleichzeitig ermöglicht das Internet aber auch eine Organisationskommunikation sozialer Bewegungen bzw. gestattet es diesen, ‚alternative Medienangebote‘ zumindest für die Mitglieder solcher Netzwerke zugänglich zu machen (vgl. Atton 2002; Couldry/Curran 2003). Ein konkretes Beispiel hierfür sind das globalisierungskritische Netzwerk Attac bzw. das Angebot von Indymedia (vgl. Hepp/Vogelgesang 2005). Geht man – wie es Chris Barker (2003) im Anschluss an Tony Bennett (1996, 1997) macht – davon aus, dass Cultural Studies nicht einfach ‚Textanalyse‘ betreiben, sondern sich den institutionellen Dimensionen kultureller Macht und Auseinandersetzung zuwenden sollten und gesteht ein, dass beides in heutigen, westlichen Gesellschaften weniger in einem Zentrum fokussiert ist, sondern nur in dezentralen Strukturen greifbar wird, so erscheint eine kontextualisierte Netzwerkanalyse in hohem Maße zielführend. Wie auch für die Netzwerkanalyse lässt sich für eine Flussanalyse festhalten, dass die Kategorie des ‚Flows‘ bzw. des ‚Fluids‘ in den Medienanalysen der letzten Jahre einen Relevanzgewinn erfahren hat und in der Medien- und Kommunikationswissenschaft die damit verbundenen raumanalytischen Konzepte fest etabliert sind. Exemplarisch lässt sich, um dies zu belegen, auf die Arbeiten von Harold Innis verweisen (vgl. Kleinsteuber 1992; Innis 1997). Aber auch in der empirischen Medienforschung hat das Konzept des Kommunikationsraums seinen festen Stellenwert und es gab Ende der 1980er beziehungsweise Anfang der 1990er Jahren auch im deutschen Sprachraum einen regelrechten Boom der Kommunikationsraumforschung (vgl. Jarren 1987; Kleinsteuber and Rossmann 1994). Mit Etablierung des Internets haben raumanalytische Konzepte einen weiteren Relevanzgewinn erfahren (vgl. Beck 2003; Thiedeke 2004). Wo ist also das Spezifische der Cultural Studies zu sehen? Setzt man an dieser Stelle wiederum beim Begriff der kontextualisierten Flussanalyse an, so geht es darum, die Konstitution von (Kommunikations-)Flüssen in deren alltäglichen Kontexten zu untersuchen. Es geht also nicht um eine abstrakte Bestimmung von Kommunikationsräumen, sondern um deren kontextuelle – und damit auch situative und momentane – Artikulation im Alltag. Nähert man sich in einer solchen Perspektive den kulturellen Verdichtungen, die Kommunikationsflüsse konstituieren, so stellt man fest, dass deren Grenzen gegenwärtig weit weniger scharf sind, als von Alltagsprozessen abstrahierende Überlegungen vermuten lassen. Mit fortschreitender globaler und mobiler kommunikativer Konnektivität und ent-
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sprechend vielfältigen Kommunikationsflüssen ist bspw. der Kommunikationsraum von ‚Nationalstaaten‘ vielfach gebrochen durch die deterritorialen kulturellen Verdichtungen von Minderheiten und Diasporagemeinschaften (vgl. Morley 2000: 149-170; Gillespie 2002). Aber auch die Grenzen ‚nationaler Kommunikationsräume‘ werden untereinander unscharf, indem beispielsweise einzelne (Sprach-)Regionen selbst spezifische kommunikative Verdichtungen bilden (vgl. Sinclair et al. 1996). Eine kontextualisierte Untersuchung kommunikativer Flüsse und diesen entsprechende Kommunikationsräume bzw. kulturelle Verdichtunge ermöglicht es, solche Zusammenhänge zu fassen. Insgesamt machen solche Überlegungen deutlich, dass die Konzepte ‚Konnektivität‘, ‚Netzwerk‘ und ‚Fluss‘ nicht spezifisch sind für die Cultural Studies. Sie sind ebenso in anderen Bereichen der Sozial- und Kulturwissenschaften etabliert. Als kennzeichnend für die Cultural Studies kann man aber die Notwendigkeit einer kontextualisierten Netzwerk- und Flussanalyse begreifen, die es gestattet, Beziehungen zwischen Kulturwandel, Medienwandel und dem Wandel von Machtverhältnissen zu untersuchen. Begreift man Cultural Studies – wie am Anfang dieses Beitrags skizziert – als ein transdiziplinäres Projekt, das es auch in der Medien- und Kommunikationswissenschaft zu konkretisieren gilt und sieht hier den gegenwärtigen Medienwandel als eine der zentralen analytischen Herausforderungen an, so müssen sich die Medienanalysen der Cultural Studies darin bewähren, diesen kritisch zu fassen. Genau darin liegen meines Erachtens die Potenziale der Konzepte von ‚Konnektivität‘, ‚Netzwerk‘ und ‚Fluss‘ für eine Medien- und Kommunikationsforschung im Rahmen der Cultural Studies.
Anmerkungen 1 2
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Ich selbst habe in diesem Kontext das Konzept der ‚multiperspektivischen Kritik‘ favorisiert. Siehe dazu Hepp 2004c: 424-427 sowie die Einleitung in diesen Band. Es ist bemerkenswert, dass in diesem Forschungsfeld nach einem Boom von „Cyberculture“-Studien bis Ende der 1990er Jahre (vgl. beispielsweise Levy 2001; Bell/Kennedy 2000; Silver 2000; Bell 2001; Loader et al. 2004) sich seit den letzten vier Jahren eine kritischere bzw. differenziertere Tradition der Auseinandersetzung mit digitalen Medien entwickelt, die entsprechend auch bei anderen begrifflichen Konzepten als dem der ‚CyberKultur‘ ansetzt (siehe hierzu überblickend, wenn auch teilweise mit ‚positivistischem‘ Fokus Gurak 2004, sowie in einer älteren Auflage aber bis heute instruktiv Silver 2000). Dies herauszustreichen erscheint mir wichtig, da gegenwärtige Theorien immer wieder dazu tendieren – wie beispielsweise die erwähnte Netzwerktheorie von Manuel Castells (2001) – solche Zusammenhänge aus dem Blick zu verlieren. Im Gegensatz zu John Urry (Urry 2003: 59), gehe ich nicht davon aus, ein „‘struktureller‘ Zugang“ sei mit einer zunehmenden globalen Konnektivität obsolet. (Globale) Konnektivität scheint mir eine auch strukturierende Kraft zu sein, was es notwendig macht, diesen Aspekt theoretisch zu fassen. Auf der anderen Seite minimiert dies selbstverständlich nicht die Relevanz eines Zugangs, der sich auf „flow“ und „fluid“ fokussiert. Siehe dazu meine weiter unten folgende Argumentation. Selbiges lässt sich auch ausschließlich am Beispiel des Freundschaftsnetzwerks deutlich machen: Während alle diese Netzwerke entlang des ‚Kodes Freundschaft‘ operieren,
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wechselt der ‚Fokus von Freundschaft‘ (‚Freundschaft mit wem‘) über das Netzwerk. Dies ist exakt der Grund, warum es nicht möglich ist, eineindeutige ‚Grenzen‘ von Personennetzwerken zu bestimmen. Auf diese Weise lässt sich auch das „small world theorem“ einordnen (selbst wenn zwei Personen keinen direkten Freund gemeinsam haben, stehen sie doch nur durch eine kurze Kette von Zwischenpersonen miteinander in Kontakt, siehe Watts 2004). 6 Selbstverständlich erscheint es dabei wichtig, zwischen ‚starken‘ und ‚schwachen Verbindungen‘ zu unterschieden. Siehe dazu beispielsweise die klassischen Argumente von M. Granovetter (1983). 7 Im Englischen bestehen durchaus begriffliche Differenzen zwischen beiden Ausdrücken, indem „fluid“ nicht nur ‚Strom‘ bzw. ‚Flüssigkeit‘ impliziert, sondern ebenso ‚Gas‘ und dessen ‚Flüchtigkeit‘. Dies eröffnet sicherlich ein produktives Feld von Metaphern, wie das Buch „Liquid Modernity“ (dt. „Flüchtige Moderne“) von Zygmunt Bauman (2000) deutlich macht. Nichtsdestotrotz verbleibt hier das Risiko, strukturelle Aspekte von Konnektivität aus dem Blick zu verlieren, indem man sich ausschließlich auf die Auflösung traditioneller Institutionen der Moderne fokussiert, anstatt deren Transformation in neue Strukturen ebenso in das Blickfeld zu rücken. 8 Urry gebraucht beide Ausdrücke ‚flow‘ und ‚fluid‘ synonym. Zu deren begrifflichen Nuancen siehe meine vorherige Anmerkung. 9 Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass Urry keine Fragen von Macht diskutieren würde. Siehe dazu Urry 2003: 104-119. 10 Vgl. einführend zu dieser die Beiträge in Hepp et al. 2005b. 11 Vgl. für einen solchen Zugang aus radikalkonstruktivistischer Sicht Weber 2001.
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Teil 2: Zur Rezeption der Cultural Studies im deutschsprachigen Raum
Cultural Studies im deutschsprachigen Raum Lothar Mikos
1 Einleitung Zur Erstauflage dieses Bandes im Jahr 1997 begann dieser Überblick noch mit folgenden Worten: „In der jüngsten Zeit hat der Begriff Cultural Studies in Deutschland eine gewisse Karriere gemacht, nicht als Ansatz, der nun auch im deutschsprachigen Raum reüssiert, sondern als Schlagwort, das in ebenso wechselnden wie beliebigen Zusammenhängen auftaucht“ (Mikos 1997: 159). Der zweite Teil des Satzes besitzt leider immer noch Gültigkeit, denn oft wird das Schlagwort Cultural Studies von Kulturwissenschaftlern, Soziologen, Kommunikationswissenschaftlern und Vertretern weiterer Disziplinen genutzt, um Abgrenzungen zu markieren. Dem liegt jedoch keine intensive Auseinandersetzung mit dem Ansatz der Cultural Studies zu Grunde, sondern holzschnittartige Verkürzungen. Der erste Teil des Satzes muss allerdings revidiert werden, denn Cultural Studies haben sich inzwischen auch im deutschsprachigen Raum als Ansatz etabliert. Das zeigt sich weniger in den bisher kaum vorhandenen akademischen Institutionalisierungsformen, als vielmehr in der enorm gestiegenen Zahl der Publikationen, die diesem Bereich zuzurechnen sind. So sind erste Lehrbücher, die in den Ansatz einführen (vgl. Hepp 1999/2004; Kramer 1997; Lutter/Reisenleitner 1998), Werke, die einen Überblick über den Ansatz, seine Entstehung und Geschichte sowie seine Bedeutung geben (vgl. Horak 2002; Lindner 2000; Winter 2001a), und Sammelbände, die Grundlagentexte in deutscher Übersetzung versammeln sowie einen Überblick über die Diskussion des Ansatzes und seinen Einfluss geben (Bromley/Göttlich/Winter 1999; Engelmann 1999; Göttlich/Mikos/Winter 2001; Hepp/Winter 2003; Hörning/Winter 1999) erschienen. Außerdem liegen Werke einiger wichtiger Vertreter der Cultural Studies aus dem angloamerikanischen Raum inzwischen in deutscher Übersetzung vor, von John Fiske (2000; Winter/Mikos 2001), Lawrence Grossberg (2000); Stuart Hall (1989; 1994; 2000a), Douglas Kellner (Winter 2005) und Meaghan Morris (2004). Diese reiche Publikationstätigkeit ist auch dem Umstand geschuldet, dass in Österreich zwei Verlage (zunächst Turia + Kant und dann Löcker) und ein Verlag in Deutschland (Transcript) eine eigene Cultural Studies-Schriftenreihe herausgebracht haben. Es hat sich also einiges getan. Daher kann man auch nicht weiter von drei Phasen der Rezeption des Cultural Studies Ansatzes ausgehen, sondern muss eine
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vierte Phase hinzufügen. Mit der verstärkten Publikationstätigkeit ist auch die öffentliche Wahrnehmung gestiegen. Zugleich hat das aber auch die Abgrenzungsbemühungen klassischer Disziplinen verstärkt, denen das „Projekt Cultural Studies“ suspekt ist, z.B. der Kulturwissenschaft (vgl. Böhme/Matussek/Müller 2000; Jaeger/Straub 2004), der Kultursoziologe (vgl. Göttlich/Albrecht/Gebhardt 2002), und der Medienwissenschaft (vgl. Faulstich 2002). So stellt Faulstich (2002: 106) nach einer verkürzten Darstellung des Ansatzes lapidar fest: „Sowohl von ihren medienbezogenen Fragestellungen als auch methodologisch bieten die Cultural Studies kaum eine Erweiterung oder Bereicherung der Medienwissenschaft.“ Das wird in anderen Einführungsbüchern jedoch anders gesehen (vgl. Hickethier 2003), und die Kommunikationswissenschaft scheint da offener zu sein (vgl. Jarren/Bonfadelli 2001; Pürer 2003), auch wenn der Ansatz in manchen Einführungen nur am Rande erwähnt wird (vgl. Schmidt/Zurstiege 2000). Dennoch haben die Cultural Studies es schwer, sich in Mitteleuropa durchzusetzen (vgl. auch Horak 1999). Das liegt u.a. einerseits an der Art und Weise, wie die Rezeption des Ansatzes im deutschsprachigen Raum gelaufen ist, andererseits aber auch an der kulturwissenschaftlichen Tradition, die seit dem Zweiten Weltkrieg sehr stark von der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule geprägt wurde. Gerade die Kritische Theorie hat nicht nur die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Medien stark beeinflusst, sondern auch das Alltagswissen von und über Medien. Darin ist m. E. ein Grund zu sehen, warum der Cultural Studies Approach in Deutschland bis in die 1990er Jahre hinein kaum Beachtung fand und sich als wissenschaftliche Richtung nicht durchsetzen konnte. Gerade in der kritischen Auseinandersetzung mit den Medien ist die Kritische Theorie nach wie vor das dominante Paradigma, auch wenn die naive Rezeption, die insbesondere den Verblendungszusammenhang und die Manipulationsleistung der Medien hervorhob, einer differenzierteren Sichtweise gewichen ist (vgl. dazu auch Kausch 1988). Ironischer Weise wird die Kritische Theorie manchmal selbst als eine Variante der Cultural Studies bezeichnet oder es wird versucht, die Berührungspunkte zwischen Kritischer Theorie und Cultural Studies herauszuarbeiten (vgl. Göttlich 1996). Doch ebenso wie es in der Kritischen Theorie mit den Ansätzen von Horkheimer und Adorno, Benjamin und Löwenthal unterschiedlich Richtungen und Ausprägungen gab, kann auch nicht von einem einheitlichen Cultural Studies Approach gesprochen werden. In verschiedenen nationalen Kontexten haben sich unterschiedliche Varianten der Cultural Studies herausgebildet (vgl. Nelson/Treichler/Grossberg 1992: 5). So ist die britische Tradition der Cultural Studies ganz entscheidend von der sozialen, politischen und ökonomischen Situation auf der Insel geprägt. Das Verhältnis der „working class“ zur dominanten Kultur hat bei der Entwicklung des Ansatzes eine große Rolle gespielt. Als Ausgangspunkt der British Cultural Studies gilt das Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham, kurz CCCS genannt. Für die Arbeit des Instituts in den 1970er Jahren waren vor allem die Werke von Richard Hoggart, Edward P. Thompson und Raymond Williams wichtig. Die Rezeption dieser British Cultural Studies in den USA brachte andere Varianten hervor, die nicht so sehr von den Erfahrungen der Klassengegensätze ausgingen als
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vielmehr von den Erfahrungen mit einer vielfältigen populären Kultur in einer vermeintlich klassenlosen Gesellschaft. Die amerikanische Variante der Cultural Studies war denn auch weniger ethnografisch orientiert, sie konzentierte sich mehr auf Textanalysen. Zugleich wurde poststrukturalistisches und feministisches Gedankengut integriert. Diese beiden Besonderheiten der amerikanischen und britischen Varianten der Cultural Studies haben auch zur relativ gebremsten Rezeption im deutschsprachigen Raum beigetragen. Weder die britische Erfahrung von Klassenstrukturen noch die amerikanische Erfahrung der Populärkultur sind für Deutschland typisch. Die Rezeption dessen, was Larry Grossberg das „Projekt Cultural Studies“ genannt hat, hat denn auch zunächst nur in den Bereichen stattgefunden, in denen partiell vergleichbare oder zumindest ähnliche Erfahrungen gemacht werden konnten: in der Jugendsoziologie und in der feministischen Forschung. So ist es der Rezeption der US-Cultural Studies zu verdanken, dass sich auch in Deutschland der Begriff „gender“ durchgesetzt hat. Eine Rolle spielte hierbei die Zeitschrift Argument, die immer wieder Texte von Vertretern der Cultural Studies in deutscher Übersetzung veröffentlichte. Neben Jugendsoziologie und Feminismus gehört aber auch die medienwissenschaftlichen Beschäftigung mit populären Genres und ihrer Rezeption dazu.
2 Anfänge der Rezeption im deutschsprachigen Raum Im Folgenden werde ich mich auf die Rezeption der Cultural Studies in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Medien beschränken. Die generelle Entwicklung einer inzwischen breiten Rezeption macht es jedoch leider nur möglich, an dieser Stelle mit eher kursorischen Anmerkungen aufzuwarten – eine umfassende Darstellung würde den Rahmen, der hier zur Verfügung steht, sprengen. Allerdings möchte ich zunächst kurz auf die Anfänge in den 1970er Jahren eingehen, als der Ansatz in der Soziologie rezipiert wurde (vgl. zur Geschichte der Cultural Studies auch Lindner 2000; Winter 2001 sowie zur Rezeption im deutschsprachigen Raum auch Göttlich/Winter 1999; Horak 1999; Lindner 1994). Begonnen hat alles im Jahr 1976 mit dem Heft 24 der Zeitschrift Ästhetik und Kommunikation. Im Rahmen des Heftschwerpunktes „Freizeit im Arbeiterviertel“ gab es eine Selbstdarstellung des CCCS sowie einen Aufsatz von Charles Critcher über Fußballfans und einen Aufsatz von John Clarke und Tony Jefferson über jugendliche Subkulturen der Arbeiterklasse. Damit war ein Teil der Rezeption, wie sie dann auch später in der Jugendsoziologie erfolgen sollte, vordefiniert. Die Arbeiten des CCCS wurden in einen Zusammenhang mit Studien zu Bewusstsein und Kultur der Arbeiterklasse gestellt, wobei das Augenmerk insbesondere auf eben jenen jugendlichen Subkulturen lag (vgl. dazu auch Winter 1997). Dieser ersten Phase der Rezeption, wie Rolf Lindner sie genannt hat (vgl. Lindner 1994: 53), folgte schnell eine zweite, die den Zuschnitt auf das Thema „jugendliche Subkulturen“ noch stärker hervorhob. In der Syndikat-Autorenund Verlagsgesellschaft wurden mehrere Studien von CCCS-Mitgliedern veröffent-
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licht, die „Learning to Labour“-Studie von Paul Willis unter dem Titel „Spaß am Widerstand“, der Sammelband von John Clarke u.a. über „Jugendkultur als Widerstand“, eine Sammlung von Aufsätzen von Raymond Williams („Innovationen“) und dann 1981 die einflussreiche Studie „Profane Culture“ über Rocker und Hippies von Paul Willis. In der Folge erschienen eine ganze Reihe von Publikationen zum Phänomen der Jugendkulturen, und die Arbeiten des CCCS wurden nicht nur in der Soziologie, sondern auch in der Pädagogik (vgl. dazu Lindner 1994: 54) und in der Sprachwissenschaft (vgl. Maas 1980) rezipiert. Die Shell-Studie „Jugend 1981“ wäre ohne den Einfluss der CCCS-Arbeiten sicher so nicht denkbar gewesen. Zwar spielten in der Auseinandersetzung mit den Lebensformen jugendlicher Subkulturen populärkulturelle Phänomene und Medien immer auch eine Rolle, doch explizit waren sie nur selten Bestandteil von Arbeiten, die sich in der Tradition der Cultural Studies sahen oder von diesen beeinflusst waren. Hervorzuheben sind hier insbesondere die Arbeiten von Rolf Lindner zu Punk als vermarktetem Aufruhr (Lindner 1978) und sein Nachwort in Mike Brakes „Soziologie der jugendlichen Subkulturen“, in dem er über die massenmediale Vermittlung jugendlicher Subkulturen räsonierte (Lindner 1981) sowie ein Aufsatz von Mikos (1982), in dem versucht wurde, die Homologien zwischen Fußball und Fernsehunterhaltung einerseits und der kulturellen Orientierung von Arbeitern herauszuarbeiten. Ansonsten blieb die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Medien merkwürdig unberührt von den Cultural Studies. Studien über jugendlichen Medienkonsum nahmen die Birminghamer Arbeiten kaum zur Kenntnis, eine Ausnahme bildet hier erst die Studie von Niesyto zur „Erfahrungsproduktion mit Medien“, die Ende der 1980er Jahre entstanden ist (vgl. Niesyto 1991). In der Beschäftigung mit den Medien sollte es bis zu den 1990er Jahren dauern, bevor Aspekte des Ansatzes in breiterem Maße rezipiert wurden. Die Rezeption der Cultural Studies in den 1990er Jahren gründete u.a. auch in den wechselnden Themen und dem Entstehen neuer Varianten der Cultural Studies. Wurden in der Soziologie in den ersten beiden Phasen der Rezeption vor allem die British Cultural Studies rezipiert, waren es in den 1990er Jahren vor allem die American Cultural Studies. Gerade in der amerikanischen Rezeption machte der Ansatz eine Wende von einem eher soziologisch und ethnografisch orientierten Projekt zu einem eher geisteswissenschaftlichen und textanalytisch orientierten. Letzteres war für die deutsche intellektuelle und akademische Szene leichter zu konsumieren, auch weil es mit den Arbeiten postmoderner Theoretiker zusammengebracht werden konnte. Das hier aber dann nicht Cultural Studies betrieben wurde, sondern traditionelle Geisteswissenschaft, darauf wird noch zurückzukommen sein.
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3 Vier Phasen der Cultural Studies-Rezeption in der Medien- und Kommunikationswissenschaft In der Auseinandersetzung mit Medien und Populärkultur lassen sich für die Rezeption im deutschsprachigen Raum vier Phasen ausmachen. Die erste Phase kann auf Mitte der 1980er Jahre datiert werden, die zweite auf Ende der 1980er Jahre, die dritte auf die Zeit bis Mitte der 1990er Jahre. Mit dem Erscheinen des vorliegenden Buches in der Erstauflage im Jahr 1997 war ein Wendepunkt markiert, der die vierte Phase einläutete. Zur Jahrtausendwende erschien neben einigen Sammelbänden (Bromley/Göttlich/Winter 1999; Engelmann 1999; Göttlich/Winter/Mikos 2001; Hörning/Winter 1999), in denen einzelne Aufsätze auch auf Medienthemen eingingen, das erste Lehrbuch (Hepp 1999/2004), das explizit eine Verbindung zwischen den Cultural Studies und der Medienanalyse herstellte. Damit war letztlich eine der entscheidenden Grundlagen gelegt, das intellektuelle Projekt der Cultural Studies und deren medienbezogene Ansätze für die Medien- und Kommunikationswissenschaft im deutschsprachigen Raum nutzbar zu machen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts kann daher mit Fug und Recht „von einer ersten vorsichtigen Etablierung der Cultural Studies in Zweigen der deutschsprachigen Medien- und Kommunikationswissenschaft gesprochen werden“ (Jacke 2004: 176). Ein Endpunkt ist noch nicht erreicht. Denn es zeigt sich, dass traditionelle Disziplinen kaum noch einen Zugriff auf medienvermittelte populärkulturelle Phänomene haben und im inter- und transdisziplinären Ansatz der Cultural Studies eine Möglichkeit sehen, ihn mit einigen traditionellen Ansätzen der Medien- und Kommunikationswissenschaft zu verbinden. Die Auseinandersetzung darüber, was denn die Cultural Studies dabei leisten können, steht im deutschsprachigen Raum erst am Anfang und m. E. sind da noch heftige Kämpfe auszufechten. Je mehr sich jedoch die Einsicht durchsetzt, dass Medienphänome nur noch interdisziplinär einigermaßen umfassend analysiert und erklärt werden können, besteht die Hoffnung zu einer stärkeren Integration. Jacke (ebd.) führt die „vorsichtige Etablierung“ denn auch auf eine „zunehmende KoOrientierung von Medien-, Kommunikations- und Kulturwissenschaft“ zurück. Allerdings wird eine Integration so lange erschwert, wie nach einem möglichst einheitlichen Ansatz gesucht wird, den es so nicht gibt und auch nicht geben wird. Das Prinzip der Cultural Studies als, und ich benutze erneut eine Wendung von Larry Grossberg, „intellektuellem Projekt“, ist bisher nur ansatzweise begriffen worden, denn das Gemeinsame der Cultural Studies besteht im Wesentlichen in ihrer intellektuellen Offenheit und dem Versuch, disziplinäre Grenzen zu überwinden. An der Rezeption in den besagten vier Phasen lässt sich aber zeigen, dass das Projekt auch in Deutschland den Regeln seiner Verbreitung und möglichen Institutionalisierung als wissenschaftlicher Disziplin gefolgt ist. In diesem Zusammenhang ist vielleicht bemerkenswert, dass die Entwicklung der Cultural Studies-Ansätze, die sich mit der Fernsehzuschauerforschung befassten, ganz wesentlich von einem deut-
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schen Kulturwissenschaftler beeinflusst wurden, dem damaligen Leiter des Tübinger Instituts für Empirische Kulturwissenschaft, Hermann Bausinger. Sein Aufsatz „Media, Technology, and Daily Life“ aus dem Jahr 1984 wurde zu einem der Referenzpunkte für Publikumsforscher wie Ien Ang und David Morley. Die erste Phase der Rezeption Mitte der 1980er Jahre wurde eingeleitet durch die Beschäftigung mit dem Phänomen der Fernsehserien und Soap Operas. Während sich die traditionelle Publizistik- und Kommunikationswissenschaft oder die eher philologisch orientierte Medienwissenschaft, wie sie vor allem auch durch den Sonderforschungsbereich Bildschirmmedien in Siegen bevorzugt wurde, nicht um solche obskuren Ansätze wie die Cultural Studies kümmerten, waren es Soziologen und Amerikanisten, die sie für Projekte ethnografischer Zuschauerforschung entdeckten. Vor allem das von der Stiftung Volkswagenwerk geförderte Projekt zu Soap Operas im Fernsehen, das von Tübinger Amerikanisten durchgeführt wurde, machte sich um die Rezeption der Cultural Studies verdient. Führende britische und amerikanische Vertreter des Ansatzes, u.a. John Fiske und David Morley, kamen im Februar 1987 nach Blaubeuren, um dort über aktuelle Probleme der Forschung zu diskutieren. Die Papers der Tagung wurden dann auch im amglo-amerikanischen Raum in einem Sammelband publiziert (vgl. Seiter et. al. 1989). In dem Projekt wurde der Cultural Studies Approach durchaus als interdisziplinäres Projekt gesehen, in dem semiotische Ansätze mit kulturwissenschaftlichen, ethnografischen und feministischen zusammengebracht wurden. Das Hauptaugenmerk lag auf der Verbindung von Textanalyse und Ethnografie nicht nur der Zuschauer, sondern auch der Produzenten (vgl. auch Borchers u.a. 1994). Aus dem Projekt ging auch eine textanalytische Arbeit zur Serie Dynasty hervor (vgl. Kreutzner 1991). Neben dem Projekt in Tübingen gab es noch eine mehr ethnografisch orientierte Arbeit zur Rezeption von Familienserien im Fernsehen, bei der in zwei Phasen seit 1984 Zuschauer in narrativen, biografischen Interviews befragt wurden. Dabei wurde versucht, die Tradition der British Cultural Studies mit soziologischer Biografie- bzw. Lebenslaufforschung zusammenzubringen (vgl. Mikos 1994b). In beiden Fällen wurden die Cultural Studies im Rahmen traditioneller Bezugsdisziplinen, Amerikanistik und Soziologie, rezipiert. Das entspricht durchaus den Verbreitungstendenzen der Cultural Studies, die sich als inter- bzw. multidisziplinäre Bastard-Disziplin gern an Wirtszellen in Standarddisziplinen hängt. Larry Grossberg hat das einfühlsamer formuliert, wenn er davon spricht, dass es darum gehen müsse, den Cultural Studies „immer wieder eine Heimstatt im Rahmen einer bestimmten Disziplin zu schaffen“ (Grossberg 1994a: 12). Das setzte sich auch in der zweiten Phase der Rezeption im deutschsprachigen Raum Ende der 1980er Jahre fort, in der die Soziologie zur „Heimstatt“ der Cultural Studies wurde – genau, wie sie es Jahre zuvor bei der Rezeption der Arbeiten zu jugendlichen Subkulturen bereits geworden war. In Trier hatte sich um den Soziologen Roland Eckert eine Forschergruppe gebildet, die sich in mehreren Projekten mit der Rolle der Medien bei der kulturellen Differenzierung (vgl. Winter/Eckert 1990) auseinander setzte und jugendliche Spezialkulturen, die sich um Medientexte gruppierten, wie Horrorfans und Computerfreaks (vgl. Eckert u.a. 1990; 1991; Vogelgesang
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1991; Winter 1995) sowie die Sadomaso-Szene (vgl. Wetzstein u.a. 1993) untersuchte. Von der Arbeit der Trierer Soziologen angeregt entdeckten auch die Sprachwissenschaftler in Trier die Cultural Studies und banden den Ansatz in ihre Arbeiten ein (vgl. exempl. Holly/Püschel 1993). Die Arbeiten in Trier hatten eines gemeinsam – sie sahen Cultural Studies nicht als theoretischen Ansatz, sondern eben als ein interdisziplinäres Feld, das die eigene Arbeit im Rahmen einer Mutterdisziplin befruchten kann. Damit waren die Studien auch Cultural Studies in dem Sinn, den Larry Grossberg formuliert hat, denn sie setzten dort an, wo Menschen sind, und das heißt „bei bereits vorhandenen Artikulationen von Hoffnung und Enttäuschung im täglichen Leben“ anzuknüpfen (Grossberg 1994a: 30). Damit wird Cultural Studies in Verbindung mit ihrer besonderen Form intellektueller Praxis auch zu einem pädagogischen Projekt (vgl. Grossberg 1994b). Das kann man für die dritte Phase der Rezeption der Cultural Studies zu Beginn der 1990er Jahre nicht mehr konstatieren. Zwar gibt es nach wie vor einige Wissenschaftler, die in diesem Sinn arbeiten – dazu zählt u.a. nach wie vor die Trierer Gruppe (vgl. bspw. Vogelgesang in diesem Band) oder in Österreich eine Gruppe von feministischen Wissenschaftlerinnen wie Marie-Luise Angerer, Johanna Dorer und Brigitte Hipfl (vgl. auch den Aufsatz von Angerer 1994 sowie Hipfl 1996). Die Rezeption war wesentlich davon bestimmt, dass Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, die sich mit Medien und Populärkultur befassten, diesen Ansatz entdeckten und die angloamerikanische Literatur aufarbeiteten. Zwei Tendenzen waren dabei zu beobachten: Einerseits konnte in guter deutscher geisteswissenschaftlicher Tradition vor allem die textanalytisch orientierten, mit poststrukturalistischem und feministischem Gedankengut angereicherten US Cultural Studies in den intellektuellen Diskurs innerhalb und außerhalb der Universitäten integriert werden. Der Themenschwerpunkt Cultural Studies in der populären Musikzeitschrift Spex mag dafür als Beleg gelten (siehe dazu den Beitrag von Ralf Hinz in diesem Band). Zwar wurden in den verschiedenen Aufsätzen, die unter dem Thema zusammengefasst waren, auch einige wenige sozialwissenschaftliche Forscher bzw. Arbeiten erwähnt, doch wurde Cultural Studies im Wesentlichen als geisteswissenschaftliches Projekt gesehen. Kulturwissenschaft in Deutschland war eben geisteswissenschaftlich geprägt. Das führte dann u.a. zu solchen Kuriositäten wie die, den germanistischen Medienwissenschaftler Friedrich Kittler als Vertreter der Cultural Studies zu sehen (vgl. Holert 1995: 55), obwohl der damit nun wirklich nichts zu tun hatte und immer noch nicht hat, wie gerade einer seiner jüngsten Publikationen (Kittler 2002) eindrucksvoll belegt, in der zwar nette intellektuell-philosophische Spielchen betrieben werden, die Auseinandersetzung mit dem Thema der optischen Medien vor allem dann an der Geschichte, der Struktur und den Funktionen der Medien vorbeigeht, wenn er neuere Medien vom Film bis zum Computer behandelt. Der Unterschied zu den Cultural Studies liegt vor allem darin, dass Kittler und seine Artgenossen, die sich Medienwissenschaftler nennen, ihre Arbeit nicht als intellektuelles Projekt sehen, das sich interventionistisch als Beitrag zu aktuellen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen versteht, sondern gerade aus dem Rückzug aus aktuellen
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Debatten und der Hinwendung zu teilweise kruden Interpretationen von „Mediengeschichte“ ihre akademische Bestätigung suchen. Daneben kam es in der Medien- und Kommunikationswissenschaft zu einer Rezeption verschiedener Arbeiten der Cultural Studies, die dann in den entsprechenden Publikationsorganen dargestellt wurden. So stellte Friedrich Krotz in der Zeitschrift Rundfunk und Fernsehen (inzwischen Medien und Kommunikationswissenschaft) den Ansatz dar, wobei er allerdings äußerst selektiv vorging – was natürlich auch in der Natur des Ansatzes liegt, der ja eben nicht auf eine einheitliche Richtung festgelegt werden kann (vgl. Krotz 1992 sowie Krotz 1995; vgl. auch Jäckel/Peter 1997). Die Zeitschrift montage/av brachte ein Themenheft „Populärkultur/John Fiske“ heraus, in dem Eggo Müller sich mit Fiskes Beitrag zur Populärkulturtheorie auseinander setzte (vgl. Müller 1993). Außerdem gab es in dem Heft noch ein Interview mit John Fiske sowie einen Aufsatz von ihm, erstmals in deutscher Übersetzung. Was dieser Rezeption in den frühen 1990er Jahre gemeinsam war, ist die Tatsache, dass hier lediglich über Cultural Studies geschrieben wird, nicht aber Cultural Studies gemacht. Das gilt z.B. auch für die Studie von Göttlich (1996), in der er versuchte, den Ansatz Löwenthals mit dem Ansatz von Raymond Williams zusammenzubringen und – vereinfacht gesagt, die Arbeiten von Williams mit Cultural Studies gleichsetzte. Für die Diskussion um die theoretischen Wurzeln einer möglichen deutschen Variante der Cultural Studies ist die Arbeit von Göttlich jedoch unverzichtbar. Adäquat aufgearbeitet und im Sinn des „Projekts Cultural Studies“ gearbeitet wurde offenbar nur in der Trierer Gruppe sowie bei Rainer Winter (vgl. Winter 1995), Lothar Mikos (vgl. Mikos 1994a; 1996) und den bereits erwähnten österreichischen Feministinnen. Daneben wurden die Cultural Studies zunehmend in Mutterdisziplinen wie Soziologie und Psychologie rezipiert, wenn es um die Analyse von medialen Formen oder Phänomenen der Populärkultur ging (vgl. Klinger/Schmiedke-Rindt 1996; Handschuh-Heiß 1996; sowie ansatzweise bei Knoblauch 1996b; Barth/vom Lehn 1996) – interessanterweise aber nicht in den Beiträgen des Bandes „Sinnwelt Film“ (vgl. Hofmann 1996), dessen Autoren die z.T. umfangreiche Literatur aus dem Umfeld der Cultural Studies zu den dort analysierten populären Filmen nicht aufgearbeitet hatten. Die vierte Phase seit dem Jahrtausendwechsel ist wie bereits erwähnt von einer Ko-Orientierung von Kultur-, Medien- und Kommunikationswissenschaft geprägt. Dabei spielen vor allem zwei Theoreme eine Rolle, die dem Ansatz der Cultural Studies zugerechnet werden können: •
das Encoding/Decoding-Modell von Stuart Hall, das inzwischen mehrfach in deutscher Übersetzung publiziert wurde (vgl. Hall 1999, 2002) und als einer der Grundlagentexte der Fernsehwissenschaft gilt (vgl. Adelmann u.a. 2002);
•
die diskursanalytisch orientierten Arbeiten von John Fiske zur Populärkultur und dem Fernsehen, die inzwischen auch teilweise in deutscher Sprache vorliegen (vgl. Fiske 1999a, 1999b, 2000; Winter/Mikos 2001).
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Allerdings muss die Publikation dieser Werke in deutscher Sprache als Ausdruck der bereits erfolgten breiten Rezeption gesehen werden. Kaum eine medien- und kommunikationswissenschaftliche Arbeit, die sich mit dem Fernsehen oder der Populärkultur befasst, kommt noch ohne Hinweise auf die Arbeiten von Hall und Fiske aus. Daneben wurden vor allem Studien aus dem Umfeld der Cultural Studies rezipiert, die dem Bereich der Audience Studies zuzurechnen sind. Gerade deutsche Studien, die sich mit der Verortung der Medien, insbesondere des Fernsehens im Alltag der Subjekte und der Gesellschaft befassen, haben verschiedene Arbeiten von Vertretern der Cultural Studies integriert, sich zugleich aber aus medien- und kommunikationswissenschaftlicher Sicht auch für kultursoziologische Ansätze geöffnet (vgl. Krotz 2001; Mikos 2001; Weiß 2001). Andererseits ist in Disziplinen wie der Soziologie und der Sportwissenschaft eine verstärkte Rezeption der Cultural Studies zu verzeichnen, wenn es um Fragestellungen geht, die mediale Zusammenhänge berühren (vgl. Jacke 2004; Klein 1999; Schweppenhäuser 2004; Schwier 2000). Die Diskussion über die Globalisierung der Medienkommunikation bzw. über transkulturelle Kommunikation kommt ohne Verweis auf Arbeiten der Cultural Studies nicht aus (vgl. exemplarisch Hepp/Löffelholz 2002 und Hepp 2004; sowie in diesem Kontext auch Androutsopoulos 2003). Auch die Auseinandersetzungen mit Theoremen der (Fernseh-)Unterhaltung ist ohne einen Bezug zu den Arbeiten der Cultural Studies nicht mehr denkbar (vgl. Giegler/Wenger 2003; Mikos 2003). Die Anwendung der Diskurstheorie Fiskes in einer Untersuchung zum Diskurs der Fernsehkritik über populäres Fernsehen hat bedeutsame Erkenntnisse gebracht (Goldbeck 2004). Die Aufzählung ließe sich sicher weiter fortführen, würde aber an dieser Stelle zu weit führen. Nicht unerwähnt bleiben muss jedoch die anhaltend breite Rezeption der Cultural Studies in der feministischen Medien-, Kommunikations- und Kulturwissenschaft (vgl. exempl. Hipfl/Klaus/Scheer 2004; Richard 2004). Allein die hier aufgeführten Beispiele zeigen bereits, dass die Ansätze der Cultural Studies inzwischen breit rezipiert wurden, vor allem in der Auseinandersetzung mit der Mediatisierung der Gesellschaft und den medialen, populärkulturellen Phänomenen. Eine dabei zu beobachtende Tendenz erscheint mir besonders bemerkenswert: Es wird versucht, einen eigenen Weg zwischen einer Übernahme von Theoremen der Cultural Studies und einer Verortung der Theoreme mit anderen, in den Disziplinen gewachsenen Theorietraditionen, zu finden. Die Debatte um die Cultural Studies im deutschsprachigen Raum hat zudem den Blick für die widersprüchlichen Aspekte der medialen Kommunikation zwischen Selbstermächtigung und Vereinnahmung geschärft. Dadurch hat sich zumindest die Kommunikations- und Medienwissenschaft mit verdienstvollen Differenzierungen in den Debatten um die Rolle und Funktion der Medien hervorgetan. Das wird auch deutlich, wenn man sich noch einmal die Grundzüge des Projekts Cultural Studies vor Augen führt.
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4 Cultural Studies – Versuch der Beschreibung eines dynamischen Prozesses Zunächst einmal ist Cultural Studies keine Disziplin und keine einheitliche Bewegung, in der sich verschiedene Wissenschaftler wiederfinden. Cultural Studies ist ein interdisziplinäres, transdisziplinäres und manchmal auch gegendisziplinäres Feld, das in der Spannung zwischen den Tendenzen operiert, sowohl eine breite anthropologische als auch eine enge humanistische Konzeption von Kultur zu umfassen (vgl. Nelson/Treicher/Grossberg 1992: 4). Cultural Studies benutzt evaluative und interpretative Verfahren und argumentiert, dass alle Formen der kulturellen Produktion in Beziehung zu anderen kulturellen Praktiken und zu sozialen und historischen Strukturen untersucht werden müssen (ebd.). Kultur wird dabei sowohl als „way of life“, der Ideen, Verhalten, Gewohnheiten, Sprachen, Institutionen und Machtstrukturen umfasst, verstanden als auch als ein weites Feld kultureller Praxis, die sich in künstlerischen Formen, Texten, Architektur usw. zeigt. Aus diesem Grund muss das „Projekt Cultural Studies“ notwendigerweise Textanalyse und Ethnografie integrieren. Denn im Mittelpunkt stehen die Lebensformen, d.h. die beobachtbare soziale Wirklichkeit (McRobbie 1995: 111) und die „lived experiences“ der „people“, wie es Suzanna Danuta Walters (1995: 157) genannt hat. Dazu bedarf es eben der ethnografischen Methoden, denn: „Eine Ethnografie muss sich immer auf die Wirklichkeitserfahrung der zu untersuchenden Subjekte stützen“ (Winter 1995: 123) oder wie Paul Willis, der ausdrücklich für Ethno-CS eintritt, es genannt hat: „Das Leben ist eine Kunst und Cultural Studies zeichnet dieses Leben auf“ (Willis 1996). Cultural Studies muss sich ins Reich der Erfahrung ausdehnen (vgl. McRobbie 1995: 112) – und das hat nichts mit empirischer Verkürzung zu tun. Cultural Studies untersucht ganz im Sinne von Richard Hoggart nicht, was Personen mit einem Text anfangen, sondern welche Beziehungen der komplexe Text zur Vorstellungswelt seiner Leser hat (Hoggart 1969, zitiert bei Grossberg 1994a: 29). Darin zeigt sich die von Larry Grossberg geforderte radikale Kontextualität. Denn sowohl ein Text als auch seine Beziehungen zur Vorstellungswelt seiner Nutzer kann nur verstanden werden, „wenn man ihn in strukturierten kontextuellen Beziehungen verortet“ (ebd.). Im Rahmen der Cultural Studies sind also die sozialen, kulturellen, politischen, ökonomischen und historischen Kontexte bedeutsam, in denen Texte und ihre Nutzer interagieren (vgl. auch Winter 1995: 108 ff.). Im Mittelpunkt der Analyse steht die Verankerung von Texten und kulturellen Praktiken in der sozialen Zirkulation von Bedeutung und Vergnügen (vgl. Fiske 1991: 123). Cultural Studies ist ein Weg, „die spezifische Formation von Dominanz und Macht, Ökonomie und Leiden für spezifische Menschen als Agenten des sozialen und kulturellen Wandels“ zu verstehen (Grossberg 1996). Cultural Studies ist damit weder ein rein theoretisches noch ein rein empirisches Projekt. Allerdings ist die Untersuchung des Kontextes von kulturellen Praktiken und Lebensformen nicht ohne Theorie möglich.
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„Für Cultural Studies ist der Kontext, der erforscht und hergestellt wird, nicht auf einem direkten, empirischen Weg verfügbar. Die Theorie ist zum Verständnis des Kontexts notwendig, denn der Kontext selbst wurde ja bereits teilweise durch die Theorie hergestellt, oder zumindest durch kulturelle Praktiken und Allianzen. Aber das bedeutet nicht, dass der Kontext auf irgendeine Weise auf diese theoretischen und kulturellen Konstruktionen reduzierbar ist. Theorie ist im Verständnis von Cultural Studies immer auf zwei ganz bestimmte Arten kontextspezifisch. Zum ersten ist die Theorie immer eine Antwort auf spezifische Fragen und spezifische Kontexte; sie wird an ihrer Fähigkeit gemessen, ein besseres Verständnis des Kontextes zu vermitteln und neue, zumindest im Geiste vorhandene Möglichkeiten zu schaffen, um diesen Kontext zu verändern. Cultural Studies hält sich nicht an eine im vorhinein definierte Theorie.“ (Grossberg 1994a: 28)
Das heißt, Cultural Studies kann nicht auf Studien reduziert werden, die im Namen einer Theorie kulturelle Praktiken untersuchen (vgl. Grossberg 1994b: 6) – wie es z.B. die naiven Vertreter der Kritischen Theorie tun. Theorie heißt für Cultural Studies immer „begriffliche Verarbeitung des ‚Alltagslebens‘“ (McRobbie 1995: 112), und das bedeutet auch, die Strukturen dieses Alltagslebens auf ihre historische, kulturelle, politische, ökonomische Dynamik hin zu untersuchen. Nur so ist der Anspruch der radikalen Kontextualität zu realisieren. Das heißt, dass das „Projekt Cultural Studies“ notwendigerweise offen sein muss für unerwartete und ungebetene Möglichkeiten (vgl. Nelson/Treichler/Grossberg 1992: 3). Das ist aber nicht mit einem „anything goes“ zu verwechseln, denn es sind die kulturellen Praktiken im Alltagsleben der „people“, die die Theorie leiten. Dieses theoretische Bemühen der Cultural Studies rückt sie teilweise in die Nähe der interpretativen Soziologie. Für die Rezeption des Ansatzes ist auch bedeutsam, dass Cultural Studies nicht allein über die beschriebene Art von Theorie und Empirie oder über Untersuchungsgegenstände definiert ist, sondern Cultural Studies „bedeutet eine Verpflichtung zu einem bestimmten Stil intellektueller Arbeit und deren Bedeutung inner- und außerhalb der akademischen Welt“ (Grossberg 1994a). In diesem Sinn kann dann auch von Cultural Studies als einer „intellektuellen transkulturellen Formation“ (Ang 1996) gesprochen werden. Cultural Studies ist für Larry Grossberg (1994a: 12) ein Weg der Theoretisierung von Politik und der Politisierung von Theorie, es ist ein Weg der Produktion von politisch brauchbarem Wissen. Die Frage dabei ist nicht so sehr, zu wem die Intellektuellen sprechen („audience“) oder für wen sie sprechen („representation“), sondern gegen wen sie sprechen. In Deutschland kann dies nur heißen, dass Cultural Studies zu betreiben heißt, gegen die dominanten Theorien und den Konsens der Scientific Community zu argumentieren und zu arbeiten. In der Auseinandersetzung mit Medien und Populärkultur heißt dies vor allem, gegen die palavernde Aufklärung der „Kritischen Theorie“ zu argumentieren, die dank ihrer naiven Adepten zu einer feuilletonistischen Produktionsstätte von Allgemeinplätzen verkommen ist. Das „Projekt Cultural Studies“ ist in Konkurrenz zur Deutungshoheit der „Kritischen Theorie“ im deutschsprachigen Raum getreten. Das konnte ihm gelingen, weil nicht nur John Fiske, sondern auch zahlreiche andere Vertreter, „Cultural Studies als kritische Theorie, deren Ziel ein gesellschaftlicher Wandel zu mehr Demokratie und Gerechtigkeit ist“ (Winter 2001b: 14), begriffen haben. Das Projekt der Cultural Studies im deutschsprachigen Raum ist „selbst als Element eines
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Modernisierungsprozesses zu begreifen“ (Lindner 2000: 113). Das heißt auch, dass sich die den Cultural Studies verpflichtet fühlenden Wissenschaftler dessen bewusst sind, dass sie Teil eines interventionistischen Projektes sind, dass sie sich selbst mit ihrer Produktion im Feld sozialer Auseinandersetzungen bewegen – das unterscheidet sie von der klassischen Kulturwissenschaft geisteswissenschaftlicher Prägung. Dagegen ist Roman Horak (2002: 82) nur beizupflichten, wenn er neue strategische Allianzen „gegen eine mögliche kulturwissenschaftliche Vereinnahmung“ fordert. Die Medien- und Kommunikationswissenschaft kann dazu ebenso ein Partner sein wie Teile der Kultur- und Mediensoziologe und die Europäische Ethnologie. Letztlich geht es darum, sich dem Alltagsleben der Menschen und ihren sozialen und kulturellen Praktiken zuzuwenden, um dort die Widersprüchlichkeiten ausfindig zu machen, denn dort ist der Ort, an dem die sozialen Auseinandersetzungen ihren Platz haben und an dem sich die Zusammenhänge von Kultur, Medien und Macht zeigen. Denn es geht darum, „Individuen und Gruppen bei ihren Bemühungen zu helfen, ihre alltäglichen Erfahrungen zu artikulieren“ (Winter 2001a: 348). Das ist die Aufgabe des Projekts Cultural Studies, daraus entsteht es: „Gleichgültig in welcher Kultur man operiert, Cultural Studies werden immer traditionelle Rollen in Frage stellen, die traditionellen Grenzen der Sexualität, der Subjektivität, etc. In dieser Hinsicht, in diesen allgemeinen Prozessen des Widerstandes, der Herausforderungen, entsteht so etwas wie eine allgemeine Sprache der Cultural Studies. Obwohl es keine universelle Sprache ist, ist es eine Sprache, in der die Spannungen zwischen Gleichheit und Differenz zwischen Leuten in verschiedenen Positionen ausgehandelt werden können.“ (Hall 2000b: 156)
Nach wie vor besteht das Ziel der Cultural Studies in der „Herstellung von Zusammenhängen zwischen den einzelnen Momenten der Selbstermächtigung und den umfassenden kulturellen und gesellschaftlichen Prozessen“ (Winter 2001a: 317). Diesem Ziel kommt aber nur ein dynamisches Projekt näher, dass sich nicht festlegen lässt, sondern sich ebenso wandelt, wie die Gesellschaft, in der es sich lokalisiert.
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Aktiv ist gut, interaktiv noch besser: Anmerkungen zu einigen offenen Fragen der Cultural Studies Eggo Müller & Hans J. Wulff „Popular culture is not consumption, it is culture – the active process of generation and circulation meanings and pleasures within a social system: culture, however industrialized, can never be adequately described in terms of buying and selling of commodities.“ (Fiske 1989a: 23)
1 Vorbemerkungen So sehr John Fiske mit diesem Argument, das in der deutschen Rezeption der Cultural Studies begierig aufgenommen worden ist, recht hat, so sehr ist sein bekanntes Argument in der deutschsprachigen Rezeption zu einem normativen Statement geworden, das allenfalls polemischen Wert hat. Denn wenn populäre Kultur per definitionem einen „aktiven“ Prozess beschreibt, ist diese Aussage ebenso nichtssagend und inhaltsleer wie alle althergebrachten elitären Urteile über die Kulturindustrie und ihre manipulierende Macht über das Publikum, das per definitionem zu ideologischer Hörigkeit und Passivität verdammt sei. Auch wenn die Dominanz des kulturkritischen Denkens in der Tradition der Frankfurter Schule im deutschsprachigen Raum vielfach produktive Perspektiven auf populäre Kultur verstellt hat, kann daraus keinesfalls auf immer und ewig gefolgert werden, dass die kulturindustriell produzierten „Rezeptionsvorgaben“ keine Rolle für den Prozess der Bedeutungsproduktion und -zirkulation“ spielen. Selbst in den Texten John Fiskes, der 2004 in Deutschland sogar zum „Klassiker der Kulturtheorie“ und Mitgliedes eines erlesenen „Culture Club“ (vgl. Hofmann/Korta/Niekisch 2004) erhoben worden ist, hat selbst zuweilen darauf hingewiesen, dass populäre Kultur als „the art of making do“ verstanden werden muss, als eine Überlebensstrategie von Individuen im Spannungsfeld von materieller und symbolischer gesellschaftlicher Macht, die die strukturellen Voraussetzungen der gesellschaftlichen Reproduktion im alltäglichen Leben produziert. In diesem Sinne ist es fraglich, ob Alltag und Lebenswelt, die selbst gesellschaftlich produziert und medial durchdrungen sind, umstandslos als Rückhalt und Gegenwelten konzipiert werden können, in denen Individuen ihre vielbeschworenen ‚widerspenstigen‘ und ‚subversiven‘ Strategien der Aneignung entfalten
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und so aus kulturindustriell produzierter Ware Populärkultur im eigentlichen Sinne herzustellen. Doch insbesondere empirische Rezeptionsuntersuchungen im Rahmen der Cultural Studies tendieren dazu, allein den Alltag oder die spezifische Subkultur von Rezipienten als Kontext und Determinanten für eine „aktive“ Bedeutungsproduktion in den Blick zu nehmen, ohne dies auf die Rezeptionsgegenstände zu vermitteln und in einem gesellschaftlichen Prozess der medialen Kommunikation zu verorten. Damit wird eine der politischen Grundfragen der British Cultural Studies fallen gelassen und schlicht im Sinne des theoretischen Postulats beantwortet, dass Populärkultur und die Taktiken des Alltags subversiv seien: die Frage nach der sozialen Auseinandersetzung um Macht und Bedeutung, nach der Vermittlung von Macht und Bedeutung in kulturellen Prozessen. Auf dieses Problem ist in der anglo-amerikanischen Diskussion verschiedentlich hingewiesen worden (vgl. Seaman 1992; Gripsrud 1995 und insbes. Morley 1992: 230ff.; 1996: 49). Unsere knappen Thesen greifen diese Kritik auf und konzentrieren sich auf einige Postulate ‚der‘ Cultural Studies, die auf ganz unterschiedlichen Ebenen Probleme, die mit der Vermitteltheit medialer Kommunikationsprozesse zusammenhängen, unberücksichtigt lassen. Wir meinen, dass darüber in der Medien- und Kommunikationswissenschaft Diskussionsbedarf besteht, zumal sich derzeit in der Diskussion über die neue Medien und deren interaktives Potenzial der selbe argumentative Kurzschluss zu wiederholen und zuzuspitzen scheint: „Interaktivität“ ist noch besser und wiederum per definitionen – subversiv, wie es „The Interactive Book“ vermeldet: „Interactivity is inherently subversive“ (Pearce 1997: 244).
2 Textuelle Rahmen der Rezeptionsaktivität Dass Rezeption prinzipiell ein aktiver und produktiver Prozess sei, mag nach wie vor eine sinnvolle polemische Feststellung sein, theoretisch ist sie wertlos, weil sie nicht die geringste Unterscheidungsmöglichkeit produziert. Zu untersuchen wäre vielmehr, welche Formen der Aktivität und Produktivität sich unter welchen spezifischen Bedingungen – textuellen wie kontextuellen – ergeben bzw. ergeben können. So genießt ein Rezipient zwar die Freiheit, einem Text Bedeutungen zuzuweisen und ihn in die Sinnhorizonte einzuspannen, die in seiner Verantwortung stehen. Dennoch ist es nicht beliebig, was ein Rezipient mit einem Text anstellt. Seine Aktivität ist gebunden an die Bedingung der Möglichkeit von vielfältigen Bedeutungen, daran, dass Texte „offen“ und „polysem“ strukturiert sind. Mit diesen beiden Kennzeichnungen wird die Autorität des Textes spezifiziert, aber nicht, wie häufig missverstanden, zurück genommen oder sogar ausgesetzt. Umberto Eco zum Beispiel hat die Offenheit ästhetischer Kodes mit einer kommunikationstheoretischen Begründung fundiert: Die ästhetische Botschaft habe eine leere Form, in die der Rezipient Bedeutungen einfließen lasse. Dem Aspekt der „Freiheit der Interpretation“ auf Seiten der Rezeption stellt er jedoch eine „Treue zum strukturierten Kontext der Bot-
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schaft“ gegenüber, so dass die Offenheit des Rezeptionsprozesses nur in einem dialektischen Spannungsverhältnis zur „Logik der Signifikanten“ bestimmt werden kann. Eine Interpretation ist dem zu Folge keineswegs beliebig, sondern in klar umschreibbaren formalen Rahmen fixiert (vgl. Eco 1972:162ff., bes.:163). Auch die Polysemie der Texte darf nicht als Pluralismus ihrer Bedeutungen missverstanden werden, wie Stuart Hall es einmal ausdrückte. Sinnvollerweise sollte die Rede von der Vieldeutigkeit der Texte auf die Tatsache eingegrenzt werden, dass Texte mehrere, strukturell-systematisch verschiedene Bedeutungen haben können (vgl. Wulff 1992). Alle subjektiven Abschattungen von Verständnissen interessieren nicht (oder nur am Rande), wenn die Rolle textueller Strukturen in medialer Kommunikation untersucht werden soll. „Aktivität“ der Rezeption muss also als eine bedingte und deshalb vermittelte aufgefasst werden, „Passivität“ dürfte dabei das eine (und praktisch nie erreichbare) Extrem auf der Bandbreite der Möglichkeiten abgeben. Zudem ist die Konfrontation von Aktivitäts- und Passivitätspostulaten theoretisch insofern gegenstandslos, als beide Paradigmen gänzlich unterschiedliche Gegenstände konstruieren: Konzepte „starker“ Medien beschäftigen sich mit medialen Strukturen, sei es ihrer institutionellen Verfasstheit, ihrer Ökonomie oder ihrer Programme und Sendungen. Wirkungen auf Zuschauer werden gesetzt, sie selbst sind aber kein Gegenstand der Untersuchung oder werden allenfalls im Sinne einer traditionellen „Wirkungsästhetik“ abgeleitet. Dagegen widmen sich Studien im Sinne des „Active-AudienceApproach‘“ in der Regel tatsächlichen Zuschaueraktivitäten.1
3 Alltagswelt und ihre Mediatisierung Alltag gilt den rezeptionsorientierten Textanalysen im Feld der Cultural Studies als Kontext der Rezeption oder – wollte man es traditionell ausdrücken -- als Interpretationshorizont. Zugleich stellt er im Sinne de Certeaus (1988) den Garanten des abweichenden, widerspenstigen, wenn nicht gar subversiven Gebrauchs von kulturindutriellen Produkten dar. Angesichts einer medialen Durchdringung des Alltag erscheint dieses Postulat nicht nur theoretisch (vgl. Honneth 1994:14), sondern auch empirisch problematisch. So belegt beispielsweise Angela Kepplers (1994) Untersuchung von alltäglichen Tischgesprächen die hervorragende Bedeutung von Medienthemen in der alltäglichen Konversation (vgl. auch Hepp 1998). Oder Mark Andrejevic zeigt in seinen Studien zu interaktiven Formen des Fernsehens und der neuen Medien wie Reality TV oder Webcams und Weblogs, dass gerade dort, wo Aktivität und Produktivität im Prozess der Aneignung von Medien und Medieninhalten am größten zu sein scheint, die Kolonisierung von Rezeptionsaktivitäten durch die Kulturindustrie keine Grenzen gesetzt zu sein scheinen: „The promise of the emerging, interactive, mass-customized economy is that consumers can gain control by submitting to comprehensive monitoring of the rhythms of their daily lives. The more details w divulge about our shopping and viewing habits, ore lifestyle and even our
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movements during the day, the more we can have goods and services crafted to meet our individual needs. The possibility of total surveillance is portrayed as power sharing: by providing information about ourselves, we supply valuable inputs into the production process and thereby help to shape it.“ (Andrejevic 2003: 6)
Das heißt, dass auch in dieser Hinsicht die Vermittlungsproblematik zwischen Medien und Alltagswelt nicht zu umgehen ist – und zwar in doppelter Hinsicht: Zum ersten sind Rezeptionen bezogen auf Gegenstände, sind also selbst vermittelnde und vermittelte Tätigkeiten; zum zweiten ist der alltagsweltliche Reproduktions- und Interpretationshorizont selbst ein medial durchdrungener. Gerade mit Blick auf die fortschreitende Kommerzialisierung interaktiven Medientechnologie muss auf die politische Dimension dieses Problems umso nachdrücklicher hingewiesen werden. John Fiske hat – allerdings ohne weitere Konsequenzen – auf dieses Problem aufmerksam gemacht: „The relation between textual experience and social experiences are perhaps the most methodologically inaccessibles; but theoretically and politically, they are amongst the most important“ (Fiske 1989b: 76). Interessanterweise spricht Fiske hier von Erfahrungen, nicht von Bedeutungen. Diese Verschiebung deutet darauf hin, dass das Verhältnis, das im Verstehen, Interpretieren und Handhaben von Texten zwischen Subjekt, lebensweltlichem Horizont und Bedeutung entsteht, kompliziert ist und sich gegen eine unmittelbare Integration in ein Modell sinnbezogenen Handelns sperrt. Zumindest die folgenden Bezugsgrößen treten in eine Beziehung: •
das Subjekt in seinen besonderen Erfahrungen, gegeben durch Wissen, Wollen und Praxis;
•
das Subjekt als Element des gesellschaftlichen Zusammenhangs und in seinen Orientierungen auf die übergreifenden sozialen Formationen von Sinn und Sein;
•
der Horizont gesellschaftlich vermittelter und konventionalisierter Bedeutungen und Artikulationsweisen, von Symbol- und Wertsystemen;
•
schließlich die besonderen Aneignungs- und Nutzungshandlungen des Subjekts bezogen auf das Subjekt selbst und auf sein soziales Umfeld.
Der eigentlich problematische Punkt konzentriert sich in der Frage, ob die Rezipienten als „atomisierte Menge von Individuen gedacht [werden], losgelöst von ihren Gruppenbezügen und Subkulturen, die doch erst den Rahmen für die Bedeutung ihrer Handlungen liefern“ (Morley 1996: 38). Es hat nur wenige Versuche gegeben, dieses Bezugsfeld als theoretisches Problem anzugehen und sich nicht sofort auf die Untersuchung des „aktiven“ Publikums zu konzentrieren.
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3 „Diskurs“ als metaphorischer Ausweg In seinem vielzitierten Buch „Television Culture“ von 1987 hatte Fiske, noch stärker von semiotischen und strukturalistischen Modellen beeinflusst als von ethnologischen, die Idee einer Diskursanalyse zur Lösung des Vermittlungsproblems vorgeschlagen, wie Textuelles und Soziales miteinander kombiniert oder integriert werden. Der Vorschlag ist wohl mehr Metapher denn Konzept. „Diskurs“ fungiert in der Theorie als das tertium comparationis im Verhältnis von Texten und Rezipienten: „The production of meaning from a text follows much the same process as the construction of subjectivity within society. The reader produces meanings that derive from the intersection of his/her social history with the social forces structured into the text. The moment of reading is when the discourses of the reader meet the discourses of the text. When these discourses bear different interests reading becomes a reconciliation of this conflict.“ (Fiske 1987: 82f.)
Nun ist die Rede vom „Diskurs“ gleich in mehrfacher Weise auf das Vermittlungsproblem bezogen: „Diskursanalyse“ ersetzt die Untersuchung von ideologischen Bewegungen und Brüchen, umfasst oft jene Richtungen der gesellschaftskritischen Untersuchung symbolischer Produktion, die „Ideologiekritik“ genannt wurde. „Diskursanalyse“ ist zugleich in einem eher kognitiv-empirischen Sinne die Untersuchung von Weltwissen und seiner Interaktion mit medialen Produkten und sozialen Praktiken; „Diskursivität“ ist entsprechend eine Eigenschaft von Texten, die sie an die symbolischen Wissenshorizonte der Kultur und deren konsensuelle Grundlagen und konventionellen Bedeutungen zurück bindet. Schließlich ist „Diskursanalyse“ – in dem Sinne, in dem Foucault das Konzept eingeführt hat, die Untersuchung von Institutionalisierungsprozessen, die einen Fluchtpunkt gesellschaftlicher Auseinandersetzung bilden. Abgesehen davon, dass die Vorstellung von „Diskurs“ und von „Diskursivität“ oft unklar ist oder zwischen verschiedenen Auffassungen changiert, entsteht die Frage, ob die Vermittlungsproblematik damit ausreichend scharf erfasst werden kann. Fiske nimmt „Diskursivität“ in einem sowohl sozialen wie individualpsychologischen Sinne – und die Frage, ob Diskursanalyse ein Modell der Historiografie langfristiger gesellschaftlicher Veränderungen ist oder ob sie die hermeneutische Differenz von Text- und Leserhorizont neu fassen soll, ist dabei ganz ungeklärt. In späteren Texten ist Fiske auf den Diskursbegriff zurückgekommen, aber er verwendet ihn weiterhin eher als orientierendes Konzept denn theoretisch ausgearbeitet. In „Power Plays, Power Works“ (1993) bringt er den Begriff in Zusammenhang mit dem des Wissens („knowledge“): „Discourse circulates knowledge and carries its power into specific and particular situations. We can only trace different knowledges through the discourses by which they are put into practice and through which their power is applied. Knowledge and discourse are totally interdependent. Knowledge and discourse, then, inform all cultural systems and should not be understood as being limited to verbal and visual languages. Discourse constantly transgresses, if it doesn't actually destroy, the boundary between material and cultural conditions, because
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discourse, through the specifity of its practices, always has a material dimension.“ (Fiske 1993F: 14)
Die Diskursivität kulturell-symbolischer Gegenstände bindet sie unmittelbar zurück auf die Horizonte von Sinn und Bedeutung, würde die hermeneutische Theorie formulieren und einer ähnlichen Argumentationsfigur Ausdruck geben. Nun ist die theoretische Fassung des Diskurs-Konzepts bei Fiske aber durchaus widersprüchlich. Auf der einen Seite stellt er in einem durchaus empirischen Sinne – dem Diskurs die Größe des Wissens gegenüber: •
Das Diskursive betrifft dann die Zirkulation, die Tätigkeit des Sprechens (oder der Symbolproduktion in einem weiteren Sinne), den lebendigen Verkehr zwischen den Menschen.
•
‚Wissen‘ ist dagegen die Sphäre der Wirklichkeitsannahmen, der Geltungen und Geltungsbedingungen von Aussagen und Meinungen. Die Geltung des Wissens muss sich im kommunikativen Verkehr unter Beweis stellen.
Es ist deutlich, dass Diskurs und Wissen nicht allein empirisch ins Verhältnis zu setzen sind, sondern auch als kategoriale Elemente einer hermeneutischen Kommunikationstheorie dienen müssen. Dabei gilt das Prinzip der wechselseitigen Voraussetzung: Das Wissen ist eine Voraussetzung für die Diskursivierung des Wissens, welches wiederum eine Voraussetzung bildet für die Entstehung und Veränderung von Wissen. Huhn und Ei, die eine und die andere Seite des Blatts Papier, Voraussetzung und Implikation zugleich. Gerade weil der Akzent der Untersuchung diskursiver Strukturen auf die kommunikative Verfasstheit der gesellschaftlichen Verhandlung von „Sinn“ gerichtet ist, ist Diskursivität auf der anderen Seite aber nicht allein als nur kognitives Fundament des Handelns und Verstehens bestimmbar, sondern an soziale Realität und an die Realität des Handelns gebunden, gleich in einem mehrfachen Sinne: •
Zum einen sind alle Institutionalisierungen der Kommunikation und deren Rückbindung an die Sphäre politischer, ökonomischer und sozialer Macht für die Diskursanalyse bedeutsam, weil Diskurse sich nicht allein wildwüchsig verändern, sondern in einem Feld gesellschaftlicher Interessen stehen.
•
Zum zweiten sind Diskurse eng mit der Praxis sozialen Handelns verbunden, bilden deren Sinn- und Legitimierungs-Voraussetzung. Wiederum sind die Institutionalisierungen von besonderem Interesse, weil sie die Geltung und die Realität des Diskursiven par excellence unter Beweis stellen.
Abgesehen davon, dass die theoretische Fundierung dieser Wirkgrößen bislang kaum geleistet wurde, stellt sich auch die Frage nach der Operationalisierung des Diskurskonzepts in exemplarischer Forschung. Völlig zu Recht hat Gripsrud neuerlich seine empirische Zugänglichkeit angezweifelt: „I also hope to show that studies of audiences, their verbal and non-verbal responses and relations to particular texts, can never provide all the answers to the questions of what these texts mean. Text also carry meanings that are of no immediate interest to us as ordinary, everyday
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members of audiences. They work in ways we cannot talk about in interviews and in ways we do not betray in our observable behavior.“ (Gripsrud 1995: 9; Herv. im Original)
Dem ist nichts hinzuzufügen: Auch die Rede vom „Diskurs“ eröffnet ein theoretisches Problem, dessen Lösung eng mit der Frage nach der Validität und der empirischen Handhabbarkeit des Cultural-Studies-Paradigmas zusammenhängt.
Anmerkungen 1
Deutlich ist dies insbesondere bei den Studien in der kommunikationswissenschaftlichen Tradition des „Uses-and-Gratifications-Approach“ (vgl. dazu Jäckel 1996: 94ff.; Morley 1996: 38ff.), so z.B. bei Katz & Liebes 1986, aber auch bei größer angelegten Studien im Feld der Cultural Studies wie z.B. bei Lull 1990 oder Morley 1992.
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Eggo Müller & Hans J. Wulff
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Verschränkungen: Zum Verhältnis von Cultural Studies und Gender Studies Elisabeth Klaus „Kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung versteht sich immer als eine kritische Medienforschung, die Medien, ihre Produktion und Rezeption im Rahmen bestehender Machtverhältnisse und kultureller Bedeutungsproduktionen verortet. Davon ausgehend fragt sie nach den Bedingungen und Folgen sozialen Handelns und sprengt damit individuenzentrierte wie rein strukturell begründete Vorstellungen vom Medienhandeln. Diese Positionierung feministischer Medienforschung zeigt die Passgenauigkeit zwischen ihren Anliegen und den Medientheorien der Cultural Studies.“ (Klaus/Röser/Wischermann 2001a: 15)
1 Einleitung Die Gender Studies in der deutschsprachigen Kommunikationswissenschaft sind seit den 1990er Jahren intensiv mit den Cultural Studies verschränkt, wie unter anderem ein Blick in die Sammelbände „Kommunikationswissenschaft und Gender Studies“ (Klaus/Röser/Wischermann 2001b) und „Feministische Kommunikations- und Medienwissenschaft“ (Dorer/Geiger 2002b) zeigt. In den beiden aus Deutschland bzw. Österreich stammenden Publikationen, die das Feld am Beginn des neuen Jahrtausend abstecken, nehmen jeweils zahlreiche Beiträge auf die Cultural Studies Bezug. Interessant ist dabei, dass die unter Bezug auf Gender Studies wie Cultural Studies behandelten Themen von der Publikumsforschung (Röser 2001) und Filmtheorie (Braidt/Jutz 2002) über die Analyse von Kino (Warth 2002) oder Internet (Dorer 2001) bis zur Journalismus- und KommunikatorInnenforschung (Lünenborg 2001; Keil 2001) reichen. Die immer wieder unterstellte thematische und inhaltliche Schieflage der Cultural Studies, ihre zu enge Fokussierung auf Fernsehgenres und Dekodierungsprozesse, ist in den genderorientierten Forschungsbemühungen jedenfalls nicht erkennbar. Das Themenspektrum geht hier deutlich über eine Beschäftigung mit Fernsehforschung und Publikumsaktivitäten hinaus.
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2 Interventionen im Dreieck ‚Kultur, Medien und Macht‘ Die im Eingangszitat festgestellte Passgenauigkeit zwischen Cultural Studies und Gender Studies fußt zentral auf einem geteilten Interesse an (Alltags-)Kultur, Medien und Macht, jenem Dreigespann, zu dem Rainer Winter in der zweiten Auflage des vorliegenden Bandes im ersten Satz festhält: „Das zentrale Thema der Cultural Studies ist das Verhältnis von Kultur, Medien und Macht.“ (Winter 1999: 49) Dieses steht auch im Mittelpunkt der Gender Studies. Auf Grund der gesellschaftlichen Positionierung von Frauen und der traditionellen Zuordnung von Konsum, Privatleben, Alltag und Familie zur „weiblichen Sphäre“ bildeten Macht und Kultur von Beginn an zentrale Beschäftigungsfelder der kommunikationswissenschaftlichen Frauen- und Geschlechterforschung. Definitionen von Weiblichkeit und Männlichkeit ergeben sich nicht zufällig, sondern trugen, und tragen weiterhin, zu einer Geschlechterpositionierung bei, die Frauen gesellschaftlich benachteiligt. Als ideologische Kategorie liefert ‚Gender‘ wirkungsvolle Normierungsinstrumente für Identitätskonzepte. Im Rahmen feministischer Forschungsanstrengungen sind Macht, Ideologie und Ungleichheit zentrale Themen (zum Begriff der feministischen Medienforschung vgl. Dorer/Geiger 2002a). Die politische Intervention ist Ausgangs- und Haltepunkt der genderorientierten Kommunikations- und Medienwissenschaft. Erst nach und nach entfaltete sich jedoch die ganze Komplexität der vieldimensionalen Kategorie ‚Geschlecht‘, die eine genauere Verortung im Dreieck von Kultur, Medien und Macht erlaubte. So ging Betty Friedan in ihrem 1963 veröffentlichten Initialwerk „The Feminine Mystique“ noch davon aus, dass die Frauenzeitschriften dafür verantwortlich seien, Frauen an ihrem Platz zu halten, sie zu vereinzeln und ihnen die Erkenntnis über die gesellschaftlichen Ursachen ihrer Misere vorzuenthalten. Gaye Tuchman (1980: 17) vermutete wiederum, dass den Soap Operas ein besonders gravierender Anteil an der Annihilierung und Trivialisierung von Frauen in den Medien zukäme. Aber waren die Frauenzeitschriften, immerhin der einzige Medienbereich, in dem Frauen damals in nennenswertem Umfang als Journalistinnen arbeiten konnten, wirklich so schlecht? Warum wurden sie dann so produziert, warum wandten sich die Leserinnen ihnen massenhaft zu? Warum fanden die Soap Operas so viele weibliche Fans? Im Versuch solche Fragen zu beantworten, rückten die vermeintlichen „Frauengenres“ in den Fokus der feministischen Forschung. Die Abwertung der Medien, die Frauen in besonderem Maße als Zielgruppen ansprechen und deren Rezeption vielen Frauen offensichtlich auch Vergnügen bereitet, liefert ein Beispiel dafür, wie gesellschaftliche Hierarchien immer wieder (re-)produziert werden. Zahlreiche Studien entstanden, die zeigen, warum und wie Frauen solche Medienangebote nutzen und wie vielschichtig und kreativ dabei die Medienaneignungsprozesse verlaufen. Vor allem in Bezug auf die Soap Opera sind
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das genau jene Studien, die in den diversen Überblicken als Ausgangspunkt und zentrale Marksteine für die Entwicklung der Medienforschung der Cultural Studies genannt werden. Ein Beispiel dafür liefert Kerstin Goldbeck in ihrem Kapitel „Cultural Studies und populärkulturelle Texte: Zentrale Studien“ (2004: 46-58), in dem sie die Arbeiten von Janice Radway (1987), Ien Ang (1986), Dorothy Hobson (1982), David Morley und Charlotte Brunsdon (1999), Ellen Seiter et al. (1989) und Mary Ellen Brown (1994) vorstellt, allesamt Studien, die die Genderdimension der Fernsehproduktion und Rezeption in den Mittelpunkt stellen. Dem entspricht, dass in den zahlreichen englischsprachigen Cultural-Studies-Readern regelmäßig diese AutorInnen präsent sind (z.B. During 1993, Curran/Morley/Walkerdine 1996). Besonders eindrucksvoll dokumentiert Terry Lovells zweibändige, mehr als 1.200 Seiten umfassende Edition „Feminist Cultural Studies“ (1995b und 1995c) den Ertrag der feministischen Cultural Studies. Dass mit der ethnografischen Publikumsforschung zum einen die Gefahr verbunden ist, Medienprodukte, die konservative und stereotype Inhalte verbreiten, aufzuwerten und zum anderen die Medienproduzentinnen und Medienproduzenten aus ihrer Verantwortung zu entlassen, vielfältige und zeitgemäße Angebote zu liefern, ist wiederum im Rahmen der Cultural Studies sowohl in der Revisionismusdebatte (für eine Zusammenfassung vgl. Goldbeck 2004: 118-128) als auch in der Diskussion um das Verhältnis von Text und Rezeption und ihrer jeweiligen Bedeutung intensiv diskutiert worden (vgl. u.a. Corner 1991, Brunsdon 1989). Für die Gender Studies ergab sich in der Rezeption dieser Studien aber eine andere, deren Fundament erschütternde Frage: Setzten diese Projekte nicht voraus, was sie eigentlich demontieren und kritisieren wollten – nämlich die Existenz zweier grundverschiedener Lebenswelten von Männern und Frauen? Stützten sie, in dem sie von männlichen und weiblichen Genres ausgingen und ein spezifisch weibliches Medienverhalten beschrieben, nicht selbst die Aufrechterhaltung des „Symbolischen Systems der Zweigeschlechtlichkeit“ (Hagemann-White 1984)? Diese Kritik führte zu einer intensiven Beschäftigung mit Postmoderne, Poststrukturalimus und Dekonstruktivismus (vgl. dazu McRobbie 1994, 1997) und in der Folge mit Körpertheorien (Angerer 1995), Diskurstheorien, Queer Studies und Identitätsräumen (vgl. Hipfl/Klaus/Scheer 2004). Die Arbeit an den natürlich erscheinenden Grenzen von Geschlecht, Körper, Nation und den mit ihnen verwandten Dualismen wurde so ein zentrales Anliegen der Gender Studies. Grenzhinterfragungen sind auch für die Cultural Studies konstitutiv. Dafür steht die Beschäftigung mit den Dualismen von Hoch- und Populärkultur, von Alltagspolitik und parlamentarischer, ‚großer‘ Politik, von Nation/Heimat und Ausland/Fremde und die wissenschaftsheoretische Grunderkenntnis „[of] working in a world of shifting boundaries“ (McRobbie 1994: 66). Immer wichtiger wurde in den Gender Studies wie in den Cultural Studies die Beschäftigung mit der Macht der durch Medien gestützten Identitätskonstruktionen bzw. der durch Medien geschaffenen Identitätsräume, die durch Gender, Sexualität, Ethnie, Klasse, Nation, etc. markiert werden.
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3 Grenzüberschreibungen „Grenzüberschreibungen: ‚Feminismus‘ und ‚Cultural Studies‘“ heißt ein Sammelband mit zahlreichen literaturwissenschaftlichen Fallstudien (Berressem/Buchwald/Volkening 2001). Neben den thematischen Grenzübertretungen von Feminismus und Cultural Studies, beispielsweise im Kontext der Beschäftigung mit Alltagskultur und Medien, nennt Volkening darin zwei weitere Gemeinsamkeiten der beiden akademischen Gebilde: „‚Cultural Studies‘ und ‚Feminismus‘ sind innerhalb dieser Ordnung der Universität nicht eindeutig zu verorten und sorgen damit für Irritationen“ (Volkening 2001: 9). Beide überschreiten wissenschaftliche Fachgrenzen, melden Geltungsansprüche in unterschiedlichen Fächern an und wollen betont transdisziplinär arbeiten. Mit Bedacht votiert die Autorin dafür, den von Foucault entlehnten Begriff der Grenzüberschreibung dem der Grenzüberschreitung vorzuziehen, da Grenzen nur dort überschritten werden könnten, wo sie offen und deutlich markiert seien. Das ist aber weder bei den durch die Gender Studies noch den durch die Cultural Studies bearbeiteten Themenbereichen der Fall, sind beide Projekte doch selbst kontinuierlich in Bedeutungskonstruktion und -rekonstruktion eingebunden. Sie beschäftigen sich nicht nur mit den „shifting boundaries“ einer globalisierten Gesellschaft, sondern wollen selbst dazu beitragen, scheinbar fest gefügte Grenzen zu verändern: „Anstelle von Überschreitung ließe sich so eher von Überschneidungen, von Überschreibungen sprechen, vom hin- und herschreiben zwischen gar nicht so klar zu trennenden Bereichen. Die Grenze überschreiben wäre eine Operation, die mit einer wenigstens doppelten Geste arbeitet. Überschreiben hieße, mit einer Überschrift versehen, betiteln und auf diese Weise ein Feld, einen Bereich, ein Gebiet eröffnen und bezeichnen. Es hieße aber auch darüberschreiben, auf etwas schreiben, es überschreiben, wobei das Überschriebene palimpsestartig als Anlass, als Ausgangspunkt, gegen den es sich abzugrenzen gilt, sichtbar bliebe.“ (Volkening 2001: 11)
Die Vorstellung von Gender Studies und Cultural Studies als zwei transdisziplinären Projekten, die mit Überschreibungen beschäftigt sind, eröffnet ein Feld neuer Fragestellungen, das sich auch auf ihr Verhältnis zueinander bezieht. „Zu fragen wäre“, schreibt Volkening (2001: 11) „welche Schreibweisen und Themenstellungen in der Verschränkung von ‚Feminismus‘ und ‚Cultural Studies‘ ermöglicht oder verhindert, vorangetrieben oder arretiert werden.“ Dabei gehe es darum, „das Spektrum möglicher Fragen auszuweiten, eine möglichst große Offenheit zu schaffen, die verschiedenste Aus- und Ineinanderfaltungen beider Felder ermöglicht.“ Den Grenzüberschreibungen, dem Hin- und Herschreiben, den Aus- und Ineinanderfaltungen im Verhältnis der kommunikationswissenschaftlichen Gender Studies und Cultural Studies möchte ich im Folgenden nachgehen.
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4 Cultural Studies als Überschreibungen der Gender Studies „Bei den Cultural Studies handelt es sich um ein intellektuelles Projekt, das sich alltäglichen kulturellen Praktiken widmet und sie in ihrer kontextuellen Einbettung mit besonderem Blick auf die kontextspezifischen Machtverhältnisse analysiert. Cultural Studies arbeiten interdisziplinär und wollen politisch Möglichkeiten bereitstellen, die eigenen gesellschaftlichen Kontexte zu verändern.“ (Goldbeck 2004: 28)
In dieser an frühere Ausarbeitungen angelehnten Definition zeigt sich deutlich die „gemeinsame Achse von Cultural Studies und Gender Studies“ (Engelmann 1999: 16 zit. in Babka/Haberl 2002: 168), könnte „Cultural Studies“ doch fast reibungslos durch „Gender Studies“ ersetzt werden. In der Bestimmung der Cultural Studies als intellektuelles wie politisches Projekt, das sich kulturellen Praktiken widmet, sind die Gender Studies mit ihren Anliegen eingeschlossen. Die Definition trifft auch die Herkunft der Gender Studies aus der neuen Frauenbewegung und ihre fortwährende Bindung an den Feminismus als einer radikalen politischen Praxis außerhalb der Universitäten sowie ihrer Beschäftigung mit Kultur als geschlechtergebundener Ort der Aneignung gesellschaftlicher Strukturen und hegemonialer Bedeutungen, als Ort der Ausübung von Macht und der Austragung von Konflikten. Frauen sind im Rahmen des Kulturverständnisses der Cultural Studies aktiv sowohl allgemein als soziale Subjekte, die ihre Gesellschaft miterzeugen, als auch spezifisch in ihren Rollen als Mütter und Lehrerinnen, die im Rahmen des bürgerlichen Familienideals und der damit verbundenen Weiblichkeitsideologie als Sozialisationsagentinnen und Sozialisationsagenten wirken (vgl. Lovell 1995a: xx). Verbannt die Beschäftigung mit Hochkultur Frauen in die Nichtexistenz und schreibt ihnen eine passive, leidende Rolle zu, so öffnet der weite Kulturbegriff der Cultural Studies den Blick auf Alltagspraktiken, in die Frauen aktiv eingebunden sind. In Bezug auf den Streit in der frühen Frauen- und Geschlechterforschung um Gleichheit und Differenz (für eine Zusammenfassung vgl. Klaus 1998: 25-45) ermöglichen die Cultural Studies eine Neupositionierung, in der Aktivität nicht zugleich auch Selbstbestimmtheit oder romantisierende Andersartigkeit heißt, sondern in der die Praktiken der sozialen Subjekte durch Ambivalenz gekennzeichnet sind – zugleich die bestehende Ordnung stützend und immer auch den Keim ihrer Veränderung tragend. Die Ausarbeitung der kulturellen Dimensionen von Macht und Ungleichheit in den Cultural Studies trifft sich mit dem Interesse der Gender Studies an der Neubestimmung von Kultur. Andreas Hepp (1999: 14-19, vgl. auch Goldbeck 2004: 26-27) nennt fünf Schlagworte, die die Anliegen der Cultural Studies näher kennzeichnen: ihre radikale Kontextualität, das besondere Theorieverständnis, den interventionistischen Charakter, Interdisziplinarität und Selbstreflexion. Die sich hinter diesen Schlagworten verbergenden Forschungsprämissen verdeutlichen, warum die Cultural Studies so einflussreiche Wirkungen in den Gender Studies hervorgerufen, diese nachhaltig überschrieben haben. Im Laufe ihrer Ausarbeitung ist den Gender Studies das ein-
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heitliche Subjekt, das am Beginn der feministischen Forschung stand, abhanden gekommen. „Die Frau“ gibt es nicht mehr, sondern nur noch situierte Erfahrungen von bestimmten Frauen und bestimmten Männern. Dieser „Tod des verallgemeinerten Subjekts“ führt zu der Erkenntnis, dass manche sozialen Subjekte manchmal wie Frauen oder Männer handeln (Ang/Hermes 1991). So formuliert, erfordern diese wechselnden Positionierungen in wechselnden Konstellationen nichts anderes als eine radikale Kontextualisierung jeglicher Forschungsanstrengungen. Weil „die Realität“ unter dem Einfluss poststrukturalistischer, postmoderner und psychoanalytischer Ansätze als unumstößliches, jederzeit transparentes Faktum verschwunden ist, bedarf es einer radikal kontextualisierten empirischen Forschung, will man das Ziel der gesellschaftlichen Intervention nicht ganz aufgeben. Dabei ist die Intervention zugleich Ausgangspunkt der wissenschaftlichen Anstrengungen der Cultural Studies wie das Maß ihrer Sinnhaftigkeit, weil sie ihren Ergebnissen letztlich eine Legitimation jenseits des Selbstzweckes und außerhalb der Wissenschaft verleiht. Ein politisches wie auch wissenschaftspolitisches und erkenntnistheoretisches Programm steht auch am Beginn der Formierung der Gender Studies als eigenständiges intellektuelles Projekt. In der Frühphase der Frauen- und Geschlechterforschung forderten deshalb manche Wissenschaftlerinnen, dass Wissenschaft immer zugleich auch eine verändernde gesellschaftliche Praxis beinhalten müsste und Aktionsforschung die einzige legitime wissenschaftliche Methode für Feministinnen sein könne. So lösten etwa die von Maria Mies (1978) formulierten „Methodischen Postulate zur Frauenforschung“ heftige Kontroversen aus. Heute besteht ein weitgehender Konsens in den Gender Studies, dass die ununterscheidbare Verzahnung von intellektuellem und politischem Projekt insgesamt eine Überforderung wissenschaftlicher Anstrengungen und eine Reduzierung ihres akademischen Potenzials bedeutet. In der Bestimmung der Cultural Studies wie der Gender Studies als interventionistisches Anliegen ist demgegenüber ein viel weiter reichender Politikbegriff angesprochen. Das ist schon deshalb nötig, weil jedwedes politische Programm auch immer die begrenzenden Spuren der Zeit trägt, in der es formuliert wird und deshalb auch selbst radikal hinterfragt werden muss. Judith Butler (1991) hat mit ihrer Kritik an der Trennung von biologischem und kulturellem Geschlecht beispielsweise eine wichtige Intervention geleistet, die zunächst wie eine Fundamentalkritik an der Frauenbewegung erschien. Der Übergang von der Frauenforschung zu den Gender Studies und zur dekonstruktivistischen Geschlechterforschung erfordert in jedem Fall jenes Sich-selbst-Hinterfragen, jene Selbstreflexion, wie sie zu den Merkmalen der Cultural Studies zählt. Wie die Cultural Studies basieren die Gender Studies auch in der Medien- und Kommunikationswissenschaft damit weniger auf spezifischen disziplinären Theorien als vielmehr auf Basistheorien aus verschiedenen Disziplinen. Waren bislang dabei vor allem linguistische, semiotische und soziologische Annäherungen dominant, so zeigt beispielsweise die zunehmende Einbindung der „social geographies“ in kritische Diskurs- und Medientheorien (vgl. dazu Hipfl 2004), dass den transdisziplinären Annäherungen kaum Grenzen gesetzt sind. Das besondere Theoriever-
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ständnis der Cultural Studies ist wie in den Gender Studies durch ein strategisches Verhältnis zu Theorien geprägt und prinzipiell eklektisch, problembezogen am Gegenstand und dem jeweiligen Ausgangsort orientiert. Immer geht es um „situated knowledges“, die Perspektivierungen erlauben, die das Wirken der Medien im Rahmen der Durchsetzung hegemonialer Bedeutungen unterlaufen und das Genderregime durchbrechen. In dieser Zusammenschau wird deutlich, warum die Cultural Studies von den Gender Studies vielfältig rezipiert und aufgenommen wurden. Als Vorreiter für die deutschsprachige Kommunikationswissenschaft fungierten österreichische Arbeiten (vgl. Angerer/Dorer 1994; im Weiteren die Beiträge von Angerer 1999; Dorer 1999 und Hipfl in diesem Band), die Impulse aus den Cultural Studies aufnahmen und zur weiteren Diskussion im Rahmen der neueren Gendertheorien bereit stellten. Zur dominanten theoretischen Position innerhalb der kommunikationswissenschaftlichen Geschlechterforschung avancierten die Cultural Studies dann vor allem durch die umfassende Auseinandersetzung mit der angloamerikanischen feministischen Soap Opera Forschung, die durch die USA-Studie der Tübinger Forschungsgruppe um Ellen Seiter et al. (1989) auch in Deutschland einen Anker hatte. Dieses hatte wissenschaftspolitische Folgewirkungen, da die involvierten Wissenschaftlerinnen sich weiterhin zugleich in den Cultural Studies und Gender Studies verorteten (vgl. etwa Bobo/Seiter 1991; Warth 2002; Bechdolf 1999). Angesichts der Bedeutung der feministischen Publikumsforschung für die Entwicklung der deutschsprachigen Gender Studies ist erstaunlich, wie wenig Wirkung sie darüber hinaus erzielen konnte. Noch 1998 galt: „Trotz der Bedeutung für die Weiterentwicklung der Publikumsforschung im angelsächsischen Raum hat die deutsche Kommunikationswissenschaft die feministische Soap-Opera-Diskussion allerdings bisher nur unzureichend zur Kenntnis genommen“ (Klaus 1998: 328). Zu der Zeit lag das vor allem darin begründet, dass die Cultural Studies sich als Forschungsfeld noch nicht etabliert hatten und stattdessen sozialpsychologische Ansätze dominierten (z.B. Charlton/Neumann 1986; Herzog 1986; Schenk/Rössler 1987). Allerdings, darauf sei im Vorgriff hingewiesen, ist auch in den folgenden Jahren an der Richtigkeit der Aussage kaum gerüttelt worden. Zusammenfassend zeigen sich zahlreiche Überlappungen in den Forschungsagenden von Cultural Studies und Gender Studies. Letztere haben wichtige Anstöße durch die Cultural Studies erhalten. Dass die Cultural Studies sich in die Gender Studies eingeschrieben haben, bedeutet zugleich, dass ein Prozess des Hin- und Herschreibens begann, in dem wiederum die Gender Studies viele wichtige Impulse für die Cultural Studies lieferten. Die Ergebnisse der Cultural Gender Studies wurden aber nur lückenhaft im Mainstream der deutschsprachigen Cultural Studies zur Kenntnis genommen.
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5 Gender Studies als Überschreibungen der Cultural Studies Fragt man nach den Erträgen der Gender Studies im Verhältnis zu den Cultural Studies, dann fällt zunächst das intensive Ringen um ein angemessenes Verständnis ihres zentralen Gegenstandes, der Genderkategorie, ins Auge. Die von der Frauenund Geschlechterforschung im Laufe ihrer Entwicklung erarbeitete Vielschichtigkeit von Gender gilt analog für die Auseinandersetzung mit anderen sozialen Strukturkategorien wie Race, Ethnie oder Klasse. Wenn Gender als Klassifikationssystem, als Strukturkategorie und als Ideologie zugleich verstanden wird (vgl. Robinson 1992: 135; Klaus 1998: 49-54), dann liefert das Vorlagen, um andere vieldimensionale soziale Katgeorien zu erforschen. Gender als Klassifikationssystem verweist auf die Zuweisung von hierarchischen Positionen z.B. an die Kommunikatorinnen und Kommunikatoren in den Medienbetrieben oder an die Rezipientinnen und Rezipienten mittels der Bewertung ihrer Rezeptionsinteressen. Gender als Strukturkatgorie meint, dass der binäre Geschlechterkode, die Entgegensetzung von männlich und weiblich, jenseits des Wollens und oft sogar des Bewusstseins der gesellschaftlichen Subjekte wirksam ist. Die Genderkategorie ist in diesem Sinne nicht rollenspezifisch, sondern hat die Gestalt sozialer Verhältnisse angenommen und wirkt nachhaltig im Gendering der sozialen Institutionen. Gender als Strukturkategorie dient dazu, alltägliche und institutionelle Praktiken zu beschreiben, zu definieren und zu bewerten. Das Gendering der Medienbetriebe offenbart sich beispielsweise in der nach wie vor sichtbaren vertikalen und horizontalen Segmentation der Medienberufe oder in den unterschiedlichen Erwartungen an weibliche und männliche Journalistinnen und Journalisten. Es zeigt sich in den Medieninhalten im größeren Prestige der männlich konnotierten Bereiche wie etwa der Nachrichten oder des Sports und der entsprechenden Höherbewertung der damit verbundenen Rezeptionsinteressen. Als Ideologie liegt der Genderkategorie eine Naturalisierung von Unterscheidungen zugrunde, die Unterschiede überhaupt erst ‚machen‘, hervorbringen. In den Gender Studies wird deshalb der Verwobenheit des Genderdualismus mit anderen Diskursen Aufmerksamkeit geschenkt. Viele der Begriffe, die zentral zur Beschreibung gegenwärtiger Medienentwicklungen dienen, weisen eine diskursive Bindung an Männlichkeit und Weiblichkeit und die mit ihnen verbundenen Wertungen auf. Das gilt für die Dualismen von Information und Unterhaltung (Klaus 1996) und von Fakt und Fiktion (Klaus/Lünenborg 2002) ebenso wie für die Klassifizierung von Medieninhalten als ‚soft news‘ oder ‚hard news‘ und die grundsätzliche Entgegensetzung von öffentlich-rechtlichen und privaten Programminhalten. So ist in der Anerkennung für Günther Jauch in der etablierten Fernsehkritik der Geschlechterdiskurs wirksam, wenn der Moderator von Wer wird Millionär? als Terminator und Champion bezeichnet wird (Goldbeck 2004: 305-306). Die Soap Opera Gute Zeiten – schlechte Zeiten gilt gegenüber dem „ursprünglich öffentlich-rechtlichen Format“ (ebd.: 261) als Prototyp eines privaten Programmes, dem angeblich vor allem krei-
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schende, weibliche Teenager etwas abgewinnen können (vgl. Goldbeck 2004: 238). Dabei ergibt ein Vergleich der Genremerkmale von Soap Opera und Fernsehsport bzw. -fußball, dass deren Inszenierungsstrategien große Ähnlichkeiten aufweisen (O‘Connor/Boyle 1993). In der geschlechtlich konnotierten binären Beurteilung von Medienentwicklungen werden Grenzen diskursiv festgelegt, die für die genauere Analyse der gegenwärtigen Kommunikationsverhältnisse eher hinderlich als förderlich sind. In Bezug auf die Repräsentation von Frauen und die Berücksichtigung der Vielfalt ihrer Lebensbezüge zeigt sich jedenfalls das Angebot der privaten Sendeanstalten als nicht grundsätzlich schlechter als das der öffentlich-rechtlichen (vgl. Zoonen 1995). Für das Verständnis der gegenwärtig ablaufenden Medienprozesse und die Bestimmung von Interventionsmöglichkeiten wäre viel gewonnen, wenn genauer geklärt werden könnte, warum das so ist. Die Unterscheidung zwischen den drei Ebenen, auf denen Geschlecht wirkt – als Klassifikationsmerkmal, als Strukturkategorie und als Ideologie – hat neue, teilweise auch überraschende Erkenntnisse geliefert. Es gibt keinen Grund, warum diese Perspektivierungen nicht auch auf die Beschäftigung mit den strukturell verwandten Kategorien von Ethnie/Race und Klasse/Schicht angewendet werden könnten. Skepsis gegenüber Dualismen und Versuche von Grenzverschiebungen und Grenzverwischungen sind für alle emanzipatorischen Projekte geboten, da diese Entgegensetzungen beinhalten, die Differenz essenzialisieren und naturalisieren. Entsprechend hat Ann Gray (2001; vgl auch Marris/Thornham 2000a: 330) Corners Unterteilung der Cultural Studies Forschung in ein „Popular Culture Project“ und ein „Public Knowledge Project“ kritisiert. Aus der Sicht der Gender Studies wird damit eine Hierarchisierung vorgenommen, die eindeutig geschlechtergebundene Konnotationen aufweist und es damit ermöglicht, Feministinnen und ihre Beiträge zur Cultural Studies Forschung zu marginalisieren und zu ignorieren. Erst das Bewusstsein über die soziale, kulturelle Konstruiertheit solcher Entgegensetzungen ermöglicht es, die Schnitt- und Bruchstellen der verschiedenen Positionierungen wie ‚Gender, Race/Ethnie‘, ‚Klasse/Schicht‘ in diesen Diskursen zu behandeln. In den Gender Studies ist kontinuierlich darauf verwiesen worden, dass soziale Kategorien für die Analyse des Medienprozesses auch in Zeiten von Postmoderne und Spätkapitalismus essenziell geblieben sind. So zeigt Jutta Rösers (2001) Studie zur Rezeption von Fernsehgewalt sowohl die Brüchigkeit des Geschlechterdualismus in der Analyse tatsächlicher Rezeptionsäußerungen von Männern und Frauen als auch die Bedeutung einer gesellschaftsbezogenen Medienforschung (ähnlich Bechdolf in diesem Band). Identifikationsprozesse und Aneignungsweisen im Kontext sexualisierter Mediengewaltdarstellungen finden unter Berücksichtigung des sozialen Kontextes, in den die Rezipientinnen und Rezipienten eingebunden sind, eine nahe liegende Erklärung (ebenso Luca 1993). Angela McRobbie hat die an den Cultural Studies orientierte Genderforschung aufgrund ihrer nur unzureichenden Thematisierung der „gelebten Erfahrung“ kritisiert: „The most noticeable gaps and omissions in feminist Cultural Studies have been in the field of ‚lives experience‘. By this I understand a form of investigation where the impact and the significance of empirical changes in culture and in society on living human subjects can be
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observed and analysed and where the same human subjects are invited to reflect on how they live through and make sense of such changes.“ (McRobbie 1997: 170)
McRobbie argumentiert für einen „return to the ‚three Es‘; the empirical, the ethnographic, the experiential, not so much against as with the insight of the ‚anti-Es‘, that is anti-essentialism, post-structuralism, psychoanalysis“ (ebd.). Die thematisch vielfältigen Arbeiten von Bechdolf (1999), Keil (2000), Röser (2001), Götz (2002) oder Luca (2003) zeigen, dass die Erfahrungskategorie für die deutschsprachigen Gender Studies zentral geblieben ist, auch wenn die poststrukturalistischen, postmodernen Ansätze zugleich ihre Problematik hervorgehoben haben und dies in den empirischen Studien Berücksichtigung findet. Dass die Zuschauerinnen und Zuschauer in der Rezeption der Soap Operas und anderer populärkultureller Texte Vergnügen empfinden, war wichtiger Ausgangspunkt einer Forschung, die sich dem Handeln konkreter sozialer Subjekte im Alltag zuwandte. Die dem Vergnügen an spezifischen kulturellen Formen zu Grunde liegenden „structures of feeling“ sind als bloße Manipulationen nicht zu begreifen. Sie beruhen vielmehr auf Positionierungen, die gesellschaftlich vorgegeben sind, aber als Selbstpositionierungen der Subjekte zugleich Keime des Widerstandes in sich tragen (O‘Connor/Klaus 2000). Das Vergnügen von Rezipientinnen und Rezipienten an Soap Operas ist nicht abstrakt, sondern ist konkret gebunden an bestimmte Texte und deren Genrekonventionen, an die Geschichten und die Gefühle, die sie auslösen und an die Kontexte der Rezeption. Fasst man die feministische Publikumsforschung unter diesem Gesichtspunkt zusammen, so gelangt man zu der Unterscheidung von formalem oder genrespezifischem, inhaltlichem, realistischem, kommunikativem und fantasievollem Vergnügen (Klaus 1998: 337-344, für eine neuere Studie vgl. Götz 2002). Über Ideologie, so zeigen die Ergebnisse der Rezeptionsstudien, kann nicht sinnvoll gesprochen werden, ohne über Vergnügen zu sprechen. Ersteres verwirklicht sich unter anderem durch Vergnügen und letzteres ist im Kampf um Bedeutungen eine wichtige Kraft. Hier schlagen die Gender Studies eine Überschreibung der Cultural Studies vor, die an deren zentralen Kategorien Ideologie, Vergnügen, Intervention arbeitet. In Bezug auf das für die Cultural Studies so wichtige Genrekonzept sind dessen Schnittstellen zum Genderkonzept Gegenstand der Erörterung geworden (vgl. Schneider 2001; Braidt/Jutz 2002). Ute Bechdolf (1999) hat Johnsons Kreislauf kultureller Bedeutungsproduktion ihrer Studie der Rezeption von Musikvideos „Puzzling Gender“ (1999) zu Grunde gelegt. Margret Lünenborg und Elisabeth Klaus (2000, ausführlicher Lünenborg 2004) nutzen Johnsons Kreislauf, um die Forderung nach einer kulturorientierten Journalismusforschung auszuarbeiten, die die bisherige Verwendung der Cultural Studies für die Analyse von Boulevardmedien und Boulevardjournalismus (vgl. Renger 2000 bzw. in diesem Band) erweitern würde. Im Rahmen des Paradigma „Kultur“ wird Journalismus verstanden als kultureller Diskurs, der das aktuelle gesellschaftliche Zeitgespräch initiiert und organisiert und zur Selbstverständigung der Gesellschaft beiträgt. Journalismus ist dann ein wesentlicher Bereich gesellschaftlicher Bedeutungsproduktion und -zirkulation. Die damit gegebene Vorstellung von Journalismus verbietet es weiter von „Kommunikatorforschung“ zu
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sprechen und Journalistik unter Ausschluss des Publikums zu betreiben. Die in einer kulturorientierten Annäherung an die Journalistik liegenden Möglichkeiten sind bisher nur ansatzweise ausgearbeitet worden. Ihre Formulierung ist denn auch weniger eine Überschreibung der Cultural Studies durch die Gender Studies, sondern Produkt des Hin- und Herschreibens, des letztlich gemeinsam Schreibens der beiden intellektuellen Projekte. Die deutschsprachigen Gender Studies haben die Cultural Studies auch genutzt, um Fragen nach den „gendered technologies“ aufzuwerfen (Frissen 1994; Dorer 2001; Wischermann 2004). Das Internet stellt sich dann als geschlechtlich vorstrukturierter Raum dar, in dem ein angemessenes „männliches“ und „weibliches“ Agieren mit den entsprechenden Positionierungen (vor-)geschrieben und (vor-)gesehen ist, auf den die in die Produktion oder Rezeption des Internets eingebundenen sozialen Subjekte jedoch ablehnend oder zustimmend Bezug nehmen können. Die im neuen Medium zu beobachtenden Genderingprozesse sind denen nicht so unähnlich, die bei der Einführung des Radios stattgefunden haben (Schmidt/Pater 1997; Klaus/Schmidt/Pater 1997). Morag Shiach meint, dass in der Historizität, die die Beschäftigung mit dem Wandel der Geschlechterkategorie erzwingt, ein wichtiger Beitrag der Gender Studies zu den Cultural Studies liegt, da diese sich auf ein Verständnis der „contemporary cultural phenomena“ (During 1993: 1 zit. in Shiach 1999a: 4) konzentrieren: “Yet it seems important not to reduce the understanding of modernity to an understanding of the contemporary: modernity has a long and important history. It is a strength of much feminist research in the field of cultural studies that it seeks to develop a historical understanding of cultural forms and experiences, often as a means to suggest the possibility of change, to feed the utopian imagination.“ (Shiach 1999a: 4)
An den vorliegenden empirischen Arbeiten der feministischen Cultural Studies fällt die Intensität und Gründlichkeit der Reflexion der gewählten Methode und der eigenen Forschungspraxis auf. So arbeitet Jutta Röser (2000: 105-140) in ihrer Studie zur Fernsehgewalt die Bedeutung von Grupppeninterviews und der Möglichkeiten ihrer Auswertung auf methodisch hohem Niveau heraus. Ute Bechdolf (1999) beschäftigt sich in Form einer Fallstudie mit einem zunächst als nicht gelungen gewerteten Interview (209-219), fügt ihren methodischen Überlegungen „autoethnografische Skizzen“ (74-77) hinzu und reflektiert fortlaufend die eigene Verstrickung in den Forschungsgegenstand. Bechdolf nimmt die Herausforderung an, die poststrukturalistische Theorien stellen, ohne damit auf die Beobachtung der „gelebten Erfahrung“ zu verzichten. Auf die Verständlichkeit von Studien und die Bündigkeit ihrer Aussagen wirkt sich das nicht immer positiv aus. Die frühe feministische Publikumsforschung las sich ja auch deshalb so erfrischend, weil die Erfahrungen und Lebensäußerungen der sozialen Subjekte vermeintlich authentisch, unvermittelt und mit nur wenigen expliziten Interventionen der Forschenden wiedergegeben wurden. Derzeit ist diese Leichtigkeit nicht zu haben, da sie sich als Simplifizierung komplizierter Konstruktionsmechanismen und Aushandlungspraxen darstellt: „Feminist research is not only that done by women, with women, for women, but a methodology, a mode of research, which has developed through a politics and a practice in which the
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political, theoretical and epistemological have been thought together in order to understand, analyse, explain and critique women‘s position in society.“ (Gray 1997: 98)
Die Vielfalt der methodischen Reflexion hängt mit dem Anspruch und dem Gegenstand der Gender Studies zusammen, aber auch mit der vergleichsweise großen Zahl empirischer Studien, die im Rahmen der feministischen Cultural Studies im deutschsprachigen Raum entstanden sind. Einschreibungen sind entlang der von mir gelieferten Stichworte erfolgt: Ringen um den Gegenstand, Skepsis gegenüber Dualismen, Gesellschaftsbezug, Auseinandersetzung mit dem Vergnügen des Publikums, Entwurf einer kulturorientierten Journalistik, ein historischer Blick auf kulturelle Prozesse und schließlich die kontinuierliche und intensive methodische (Selbst-)Reflexion. Deutlich wird in dieser, sicher nicht vollständigen Darlegung, dass diese Einschreibungen nur partiell und lückenhaft außerhalb der Cultural Gender Studies zur Kenntnis genommen wurden und es hier offensichtlich Barrieren gibt, die das fruchtbare Hin- und Herschreiben behindern.
6 Reibungen: Women Take Issue Die Zusammenarbeit zwischen Cultural Studies und Gender Studies hat sich trotz der aufgezeigten Passgenauigkeit keineswegs konfliktfrei entwickelt. Das zeigt sich besonders deutlich in den Anfängen des CCCS, in denen Geschlecht kein Gegenstand der Forschung war und Frauen als Wissenschaftlerinnen marginalisiert wurden (vgl. auch Lutter/Reisenleiter 1998: 108). Brunsdon hat bemerkt: „It was a truth acknowledged by all women studying at the Centre for Contemporary Cultural Studies at Birmingham University in the 1970s that no woman there had ever completed a PhD“ (Brunsdon 1996 zit. in Shiach 1999: 3).
Auch inhaltlich war das Gendering von Alltag und Kultur kein Thema. So waren beispielsweise in Willis’ einflussreicher Studie über Arbeiterjugendliche „Frauen die unsichtbaren Anderen“. „So spricht er [Willis; EK] wiederholt von kids und der jungen Arbeiterkultur als solcher, meint aber nur die Kultur männlicher Jugendlicher“ (Dähnke 2003: 31). Gegen die umfassende Ausgrenzung von Gender aus dem Projekt der Cultural Studies wehrte sich die „Women‘s Study Group“ am CCCS, deren erste kritische Publikation unter dem Titel „Women Take Issue“ (Women‘s Study Group 1978) erschien. Diese wies auf die Leerstellen und Lücken der bisherigen Forschung hin und begann diese zu füllen. Insgesamt hatte der Band nachhaltige Wirkungen und verankerte die Genderforschung in der Mitte der Cultural Studies. Eine Dekade später resümieren die Herausgeberinnen in ihrer Einleitung zum Nachfolgeband „Off Center“: „Since then the impact of feminism on cultural studies has had an increasing significance“ (Franklin/Lury/Stacey 1991a: 6). Neben den zahlreichen Gemeinsamkeiten zwischen Gender Studies und Cultural Studies verweisen die Wissenschaftlerinnen auch auf Inkompatibles und stellen fest: „Many of the reasons why the influence of feminism on cultural studies has been
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limited can be traced back to some of the more general understandings of culture employed within cultural studies“ (ebd.: 8). Das Kulturverständnis der Cultural Studies verhinderte dort, wo es überhaupt näher ausgearbeitet ist, eine integrale Betrachtung der Genderkategorie. Auch Celia Lury argumentiert, dass „current feminist cultural studies are repeatedly held back by the continued dominance of ungendered understandings of culture (Lury 1995: 33 zit. in Gray 1997: 87; Hervorh. dies.). Demgegenüber haben Genderforscherinnen auf der fundamentalen Bedeutung der Kategorie Geschlecht für ein angemessenes Kulturverständnis beharrt (vgl. bspw. Klinger 2000). Auch in weiten Teilen der deutschsprachigen Cultural Studies herrscht ein Kulturverständnis vor, das die Genderdimension ausblendet. Das zeigt sich in vielen Sammelbänden und Beiträgen und soll hier nur exemplarisch demonstriert werden. Wenn Friedrich Krotz (1999 bzw. in diesem Band) „das Menschenbild der Cultural Studies“ vorstellt, dann geschieht das ebenfalls vor dem Hintergrund eines genderfreien Kulturbegriffes und lediglich mit dem abstraktem Hinweis darauf, dass das Menschenbild der Cultural Studies durch die sozialen Praktiken und gesellschaftlichen Diskurse vorstrukturiert ist. ‚Der Mensch‘ ist aber zentral ein vergesellschaftetes Wesen, das durch vielfältige Positionierungen, besonders herausgehoben von Gender, Klasse/Schicht und Race/Ethnie, überhaupt erst sein identifikatorisches Gesicht erhält. Neben den Problemen mit einem nicht geschlechtlich markierten Kulturbegriff ist es vor allem die Blindheit gegenüber den Erträgen der deutschsprachigen Cultural Gender Studies, die ein Teil der Cultural Studies Rezeption kennzeichnet. Wiederum soll dies an einem Beispiel gezeigt werden. Lothar Mikos erwähnt in „Die Rezeption des Cultural Studies Approach im deutschsprachigen Raum“ (1999 bzw. in diesem Band) zwar die Beiträge von „österreichischen Feministinnen“ (Mikos 1999: 166, auch 165) und würdigt diese zurecht als Vorreiterinnen der deutschsprachigen Cultural Studies Rezeption. Darüber hinausgehend findet aber keine einzige der empirischen Arbeiten Erwähnung, die im Kontext der Gender Studies entstanden sind. Diese Auslassungen scheinen weniger die Ausnahme als die Regel zu demonstrieren, wenn es um die Berücksichtigung von und die Auseinandersetzung mit den Arbeiten der feministischen Cultural Studies in der deutschsprachigen Medien- und Kommunikationswissenschaft geht. Solche blinden Flecken schwächen letztlich die Ausstrahlungskraft und Bedeutung der Cultural Studies insgesamt. Zu erklären sind sie in der Anwendung der Cultural Studies wie der Gender Studies vor allem vor dem Hintergrund der Institutionalisierung der Cultural Studies und der Wissenschaftsinstitutionen als umkämpftem Raum. Ann Gray (2001) hält den Cultural Studies einen Spiegel vor, wenn sie die Mechanismen der Marginalisierung der Gender Studies in der anglo-amerikanischen Publikums- und Rezeptionsforschung beschreibt: „Offensichtlich geht es hier um die Definitionsmacht über die Forschungsagenda, und dieser Vorgang muss in einem Kontext gesehen werden, in dem solche Überblicke und kritischen Positionspapiere dazu dienen, eine Geschlechtertrennung des Wissenschaftsfeldes vorzunehmen und zu erhalten.“ (Gray 2001: 74)
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Dagegen schreibt Gray in ihrem Artikel die Geschichte der Rezeptionsforschung neu, um „auf die zentrale Bedeutung feministischer Arbeiten aufmerksam zu machen“ und zu „zeigen, wie sehr feministische und die von ihnen inspirierten Arbeiten das Forschungsfeld verändert haben, indem sie Fragen nach Geschlecht und Sexualität in den Diskurs einbrachten“ (Gray 2001: 88). Ein Cultural StudiesDiskurs, der auf die Beschäftigung mit diesen und anderen von den Cultural Gender Studies aufgeworfenen Fragen verzichtete, bliebe auch im deutschsprachigen Raum weit hinter seinen Möglichkeiten zurück.
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Medienkultur und politische Öffentlichkeit: Perspektiven und Probleme der Cultural Studies aus politikwissenschaftlicher Sicht Andreas Dörner
1 Die Konjunktur der Cultural Studies Cultural Studies haben sich am Ende des 20. Jahrhunderts als Herausforderung disziplinärer Routinen und Selbstverständlichkeiten etabliert. Dies gilt vor allem in den diversen Philologien, zunehmend aber auch in den Kommunikations- und Sozialwissenschaften. Obwohl viele konzeptionelle Grundlagen der Cultural Studies bereits in den 1960er Jahren in England ausgearbeitet wurden, setzte der Boom erst relativ spät ein. Ferguson und Golding (1997: XIV) haben aufgrund von bibliografischen Recherchen zeigen können, dass das einschlägige Schrifttum in den 1990er Jahren geradezu explodiert: Bei nur 100 Titeln im Jahr 1970 und 156 im Jahr 1985 werden schon 1991 nicht weniger als 431 Titel zu Cultural Studies verzeichnet, und ein Ende dieser Hochkonjunktur scheint derzeit nicht in Sicht. Waren neben dem Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham zunächst die akademischen Kulturen der USA und Australiens die wichtigsten Hochburgen der Forschungspraxis, so hat nun seit einigen Jahren auch in Deutschland eine intensivere Rezeption eingesetzt, die allmählich auch in eigene empirische Studien einmündet.1 Der große Erfolg der Cultural Studies hängt vor allem damit zusammen, dass ihre Fokussierung auf Massenmedien und Unterhaltungskultur einem deutlich gestiegenen sozialen Stellenwert dieser Bereiche korrespondiert. In der medialen Gegenwartsgesellschaft unserer Tage finden Prozesse der Deutungsmusterbildung, der Inszenierung von Identitäten und der Vermittlung von sozialem und politischem Sinn weitgehend in der Sphäre medienvermittelter Kommunikation statt. Hier wiederum hat das Unterhaltungssegment in den vergangenen Jahrzehnten eine derartige Dominanz gewonnen, dass auch der Informationsdiskurs ohne die typischen Attribute des Entertainment vom Publikum kaum noch akzeptiert wird.2 Die Cultural Studies scheinen daher mit ihrer Schwerpunktbildung die Zeichen der Zeit verstanden zu haben. Je genauer man sich allerdings mit den Arbeiten auseinandersetzt, um so deutlicher werden zwei nicht unproblematische Charakteristika:
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•
Unter dem einheitlichen Label verbergen sich sehr unterschiedliche Forschungspraktiken, so dass die Rede von „dem“ Cultural-Studies-Ansatz eine hochgradige Abstraktion darstellt, die mitunter gar nicht mehr gerechtfertigt scheint. Angemessener ist in jedem Fall der Plural des englischsprachigen Originals, der den Eindruck einer weitgehenden Homogenität erst gar nicht zu erwecken versucht. Dennoch ist es möglich, vorhandene Gemeinsamkeiten und intellektuelle Schnittmengen der Projekte zu benennen.
•
Vieles von dem, was im Diskurs der Cultural Studies vor allem im Kontext der Literatur- und Kommunikationswissenschaften als großer Reiz bahnbrechender Innovationen erschien, ist aus sozialwissenschaftlicher Perspektive keineswegs neu. Das gilt für die Kultur- und Kommunikationskonzepte ebenso wie für die Methoden. Dennoch ist einzuräumen, dass der Vorstoß zu einer qualitativen Medien- und vor allem Mediennutzungsforschung gegen die über lange Zeit hinweg geradezu hegemonial dominierenden quantitativ-standardisierten Ansätzen deutlich Bewegung ins Feld gebracht hat.3
Im diesem Beitrag soll nun aus politikwissenschaftlicher Sicht eine knappe Bilanz der Möglichkeiten und Grenzen von Cultural Studies erfolgen. Zunächst werden kurz einige Ausführungen zur Genese und zu den wichtigsten Charakteristika gemacht. Vor diesem Hintergrund wird dann ein konkreter Ansatz diskutiert. Die Arbeiten des amerikanischen Philosophen Douglas Kellner, die in den vergangenen Jahren weltweit breite Beachtung gefunden haben, versuchen eine Art Synthese der unterschiedlichen ‚Flügel‘ zu leisten. Kellner steuert einen ‚dritten Weg‘ an zwischen dem politisch-ökonomischen Makroansatz, der sich stärker den marxistischen Wurzeln der Cultural Studies verpflichtet weiß, und dem „populistischen“ Mikroansatz des Kreises um John Fiske, der in radikaler Weise die Freiheitspotenziale bei Konsumenten und Mediennutzern betont. Anhand von Kellners Ansatz können daher die spezifischen Stärken und Schwächen der Cultural Studies besonders gut exemplarisch aufgezeigt werden.
2 Genese und Grundzüge Es ist unübersehbar, dass die Gegenwartsgesellschaften derzeit einen Umbruch erfahren. Das Paradigma der Arbeits- und Industriegesellschaft wird abgelöst durch eine Formation, in der Wissen, Kommunikation, Bildung und kulturelles Kapital die entscheidenden Größen sind. Damit einher geht der Übergang von der klassischen Moderne mit ihren stabilen Strukturen, Orientierungen und Identitätszumutungen zu einer anderen Moderne, die durch mehr Offenheit, aber auch durch mehr Ungewissheit gekennzeichnet ist (vgl. dazu etwa die Beiträge in Beck/Beck-Gernsheim 1994). Daraus resultiert ein erhöhter Bedarf an Orientierung, Sinn- und Identitätskonstruktion, der auf ganz unterschiedlichen Feldern bedient wird – von neuen Formen der
Medienkultur und politische Öffentlichkeit
221
Religiosität bis zur Freizeitindustrie, vom Psycho-Boom bis zu den allgegenwärtigen Medienbildern (vgl. Hettlage/Vogt 2000). Die innerwissenschaftliche Konjunktur des Kulturellen, die sich in fast allen sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen zeigt, ist nun in zweierlei Hinsicht eine Reaktion auf diese Entwicklung. Zum einen gilt es, die neuen Formen kultureller Praxis zu beschreiben, zu analysieren und zu erklären. Zum anderen aber wird dabei immer wieder deutlich, dass die tradierten Instrumentarien und Theorien an vielen Stellen nicht mehr adäquat sind. Neue empirische Realitäten einerseits, eine Unzufriedenheit mit den tradierten wissenschaftlichen Zugängen andererseits haben dazu geführt, dass Cultural Studies derzeit einen ausgesprochenen Boom erleben.4 In Raymond Williams‘ zentralem Text „The Long Revolution“ (1961) wurde eine für die weiteren Arbeiten sehr wichtige, soziale Definition von Kultur formuliert.5 Kultur ist demnach ein „particular way of life, which expresses certain meanings and values not only in art and learning but also in institutions and ordinary behaviour“ (Williams 1961: 57). Nicht hochkulturelle Objektivationen, sondern die Logik der Alltagswelt soll im Mittelpunkt stehen. Kultur erscheint als Teilhabe an einem sozialen und politischen Zusammenhang. Eine wichtige Folgerung aus dieser Bestimmung ist die, dass kulturelle Objekte nicht nur im Hinblick auf ihre Inhalte und textuellen Merkmale, sondern auch im Hinblick auf ihre Beziehung zu den sozialen Strukturen und Institutionen in ihrem Kontext zu betrachten sind (Williams 1961: 63). Ein eigenständiger Cultural Studies-Ansatz der Medienanalyse wird dann in Williams‘ Studie über das Fernsehen vorgelegt (1974). Hier steht weniger die inhaltliche Programmgestaltung als vielmehr die durch ökonomische Interessen geprägte Struktur des Mediums im Mittelpunkt. Als Charakteristikum stellt Williams die eigentümlich endlose Sequenzialität und den „Flow“ der Bilder und Bedeutungen heraus Williams (1974: 90). Das Ineinander von Serien, Trailern und Werbung zielt darauf ab, die Zuschauer möglichst lange beim jeweiligen Sender zu halten, um so Einschaltquoten und Werbeeinnahmen zu sichern. Williams greift dann später hauptsächlich auf Gramscis Theorie der Hegemonie zurück, um die sozialen und politischen Funktionen der Medienkommunikation als Moment von subtiler Klassenherrschaft zu beschreiben (Williams 1977: 108). 6 Dadurch, dass kulturelle Praxis in den alltagsweltlichen Zusammenhang eingebettet wurde, erkannte man bald auch die Notwendigkeit, der Analyse des Produktionszusammenhangs von Kultur und der textuellen Objekte auch den der Rezeption bzw. der Aneignung der Angebote durch konkrete Mediennutzer hinzuzufügen. Das wichtigste, von vielen Forschern rezipierte Modell zur modernen Medienkommunikation, das dieser Erweiterung der Aufmerksamkeit auf die Mediennutzer Rechnung trägt, hat Stuart Hall (1980) formuliert. Verschiedene Momente der theoretischen Tradition wie Semiotik, Marxismus und Poststrukturalismus sind hier zu einem komplexen Ansatz verbunden worden. Hall versucht einerseits die Wirkpotenziale der Medien zu berücksichtigen, dabei jedoch andererseits die Eigenaktivität der Zuschauer in Rechnung zu stellen. Die Medien definieren zwar einen Rahmen zur
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Perzeption und Interpretation der Welt, die Zuschauer sind jedoch keine reinen „Rezeptoren“, sondern sie wählen aus und sie gewichten. Halls Encoding/Decoding-Modell stellt die Klassenzugehörigkeit der Mediennutzer als entscheidende Variable heraus. Gerade dies aber ist dann durch die empirischen Publikumsstudien innerhalb der Cultural Studies weitgehend widerlegt worden. So hat David Morley in seinen Studien zur englischen Sendung „Nationwide“ und ihrem Publikum zeigen können, dass die Variable Klassenzugehörigkeit nur eine von vielen und keineswegs die entscheidende ist (vgl. Brunsdon/Morley 1978; Morley 1980, 1986, 1992).7 Alter, Geschlecht und ethnische Zugehörigkeit erwiesen sich als zumindest genauso wichtig. Die neuen Publikumsstudien begnügten sich nicht mit den abstrakten Zugängen über die Umfrageforschung, wie sie zumindest über lange Zeit hinweg bei der etablierten Medienwirkungsforschung nahezu ausschließlich verwendet wurde und noch heute den Mainstream der empirischen Forschung bildet (vgl. dazu Winter 1995). Statt dessen suchte man mit Hilfe ethnografischer Methoden die Mediennutzungsprozesse in ihrem genuinen alltagsweltlichen Kontext auf, d.h. etwa in der gemeinsam fernsehenden Familie (vgl. Morley 1997). Erst durch diesen methodischen Schritt war der Kulturbegriff von Raymond Williams als „whole way of life“ auch vollständig einzulösen. In der aktuellen Praxis und Theoriediskussion der British Cultural Studies hat sich dann während der späten 1980er und frühen 1990er Jahre ein buntes Nebeneinander von Ansätzen und methodischen Vorgehensweisen herausgebildet. Dabei sind zwei Pole beobachtbar, die unterschiedliche Akzente im Hinblick auf die kulturellen Machtverhältnisse in der modernen Gegenwartsgesellschaft setzen (vgl. Winter 1997: 47ff): •
Der Pol der Medienmacht, der die ideologischen Einflussmöglichkeiten betont. Hier wird der Akzent zum einen auf die politische Ökonomie des Medienbetriebs gesetzt, der sich in der Hand großer Konzerne befindet. Zum anderen wird auf die determinierende Kraft sozialer Strukturen verwiesen, durch welche die Autonomie der Mediennutzer stark eingeschränkt werde.8
•
Auf der anderen Seite wird die Fluidität der Machtverhältnisse in einer Medienkultur betont, in der neue Technologien nicht nur das Werkzeug ideologischer Hegemonien und ökonomischer Ausbeutungsprozesse sind, sondern auch Instrumente des Widerstands (so etwa Fiske mit Hinweis auf die Videotechnik, 1996: 125 ff.). Die Polysemie der Texte und die Vielfalt der Nutzungsmöglichkeiten eröffnet Autonomieerfahrungen und Widerstandspotenziale gegen die ideologische Vereinnahmung.9
An dieser Stelle können nun einige konzeptionelle Gemeinsamkeiten der Cultural Studies benannt werden, die aus politikwissenschaftlicher Sicht besonders interessant sind. Der erste und wichtigste Punkt besteht darin, dass der Kulturbegriff der Cultural Studies grundlegend politisch dimensioniert ist. Wir haben es hier nicht mit einzelnen Berührungspunkten und Verbindungslinien zwischen Kultur und Politik
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und auch nicht mit einem separierten Subsystem „Politische Kultur“ zu tun, sondern mit einer politischen Perspektivierung jeglicher kultureller Praxis. Dies bedeutet im einzelnen: •
Kultur wird nicht als eine homogene Sphäre, sondern als ein Forum des Kampfes und des Konflikts verstanden. In diesem Forum werden Bedeutungen, Werte, Zielsetzungen, Sinnentwürfe und Identitäten gegeneinander gesetzt und miteinander ausgehandelt.10
•
Im Zusammenhang damit wird die kulturelle Praxis immer im Hinblick auf Machtrelationen und Herrschaftsverhältnisse beleuchtet. Den Cultural Studies unterliegt insofern ein Weberscher Politikbegriff. Max Weber (1919: 5) bestimmt die Politik bekanntlich als Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung: „Wer Politik treibt, erstrebt Macht“. Der Politikbegriff ist jedoch semiotisch begründet: Konflikthaftigkeit und Machtdynamik entstehen dadurch, dass politische Bedeutungen nicht etwas Gegebenes sind, sondern das Resultat von interaktiven Prozessen, die jeweils durch die Benennungsmacht und das rhetorische Geschick der Beteiligten beeinflusst sind. Jedes Zeichen, jede symbolische Form ist deutungsoffen und somit Gegenstand von Deutungskämpfen.
•
Kulturelle Praxis ist politisch folgenreich, da sie über Integration oder Desintegration, Konsens oder Konflikt entscheidet. Antonio Gramsci hatte kulturelle Hegemonie als Voraussetzung einer stabilen Herrschaftsordnung herausgearbeitet, und die Cultural Studies knüpfen an diesem Konzept der Herrschaft durch Beherrschung des öffentlichen Zeichenraums an.
•
‚Politisch‘ heißt aber schließlich auch, dass die Wissenschaftler keine wertungsfreie Analyse durchführen. Sie nehmen kritisch Stellung und greifen selber ein in den politisch-kulturellen Prozess, um den Machtlosen mehr Möglichkeiten zu verschaffen. Cultural Studies, so Stuart Hall, sind „Politik mit anderen Mitteln“ (vgl. Hall 1990: 12).
Das Politische und das Kulturelle, so lässt sich dieser erste Punkt zusammenfassen, bedingen sich gegenseitig und sind nicht losgelöst voneinander analysierbar. Der zweite Punkt besteht aus einer Verschiebung der Aufmerksamkeiten von der kanonisierten Hochkultur zur Alltags- und Populärkultur. Diese Verschiebung geht einher mit einer konsequenten Absage an all jene Ressentiments, welche die Untersuchung des vermeintlich Trivialen traditionell geprägt hatten. Populäre Unterhaltungskultur wird als ein zentraler Bestandteil der Gegenwartsgesellschaft ernst genommen, da sich in diesem Bereich zunehmend die Orientierungs-, Sinn- und Identitätsbildungsprozesse unserer Zeit abspielen. Wird das Populäre hauptsächlich durch Massenmedien vermittelt, müssen konsequenterweise die Medien, insbesondere das Fernsehen, in den Mittelpunkt rücken. Den Blick auf die populäre Medienkultur zu richten, heißt jedoch nicht, auch die mit der einschlägigen Forschungstradition verbundenen Einseitigkeiten fortzuschreiben. Besonders in den marxistisch
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inspirierten Ansätzen war der Schwerpunkt einseitig auf den Produktionskontext, auf die Kulturindustrie und ihre Produkte gelegt worden. Viele Arbeiten der Cultural Studies dagegen rücken die Rezipienten und ihre Aneignung der Medienangebote ins Zentrum. Eine Reihe von sorgfältigen Publikumsstudien hat dabei herausarbeiten können, dass es sich bei den Mediennutzern keineswegs um passive Marionetten der kulturellen Drahtzieher handelt, sondern um eigensinnige Akteure, die mediale Vorgaben kreativ verarbeiten. Sie entwickeln eine Vielzahl von Deutungen, die wiederum in den alltäglichen Kampf um Sinnbildung und Anerkennung eingehen. Um diesen Prozessen empirisch valide auf die Spur zu kommen, hat man drittens von Beginn an das Fahrwasser der standardisierten, quantitativen Forschung verlassen. Statt dessen sind zum einen hermeneutische und semiotische Verfahren eingesetzt worden. Zum anderen wurden, um die Medienaneignung im Kontext der Alltagswelt zu erfassen, umfangreiche Ethnografien des Publikums durchgeführt. So konnte etwa gezeigt werden, wie die Briten ein Nachrichtenmagazin nutzen (Morley 1980, 1986), wie Seifenopern in diversen sozialen Kontexten wahrgenommen werden (Ang 1985; Liebes/Katz 1993; Fiske 1999), wie das Fernsehen in der Familie verläuft (Morley 1997), und wie schließlich amerikanische Obdachlose den Actionfilm Die Hard gegen den Strich lesen (Fiske 1993). Die verschiedenen theoretischen Diskussionen und empirischen Projekte haben sich viertens in den 1990er Jahren zu komplexen Theorien von Kultur und Politik in der Mediengesellschaft verdichtet. So hat beispielsweise John Fiske (1996) in seiner letzten Arbeit Medienereignisse als Auslöser politischer Benennungskämpfe untersucht. Medien erscheinen hier als zentrale Schaltstationen. Sie nehmen Diskurse, Wert- und Sinnentwürfe auf, verstärken und verändern sie. Auf diese Weise fungiert die Medienkultur als Faktor politisch-kulturellen Wandels. Medien und Unterhaltungskultur sind daher auch eine höchst relevante Bezugsgröße für politische Akteure, denn die Wählerschaft besteht aus Mediennutzern, und „voting demographies do show patterned similarities to audience demographies“ (Fiske 1996: 11). Medienfiguren wie Murphy Brown, Bill Cosby, Rodney King oder Anita Hill fungieren als hyperreale Größen zwischen Realität und Fiktion, in denen sich Sinnsyndrome anschaulich verdichten. Fiske macht zudem deutlich, dass an die Stelle eines simplen Oben gegen Unten dynamische Machtgeflechte getreten sind, die sich entlang den Achsen Klasse, Ethnizität, Geschlecht, Alter usw. formieren. Diese Geflechte geraten durch Medienereignisse immer wieder in Bewegung. Die Medientechniken sind ambivalent und können, wie im Fall des Rodney-KingVideos, auch gegen die Mächtigen gewendet werden.
3 Populäre Medienkultur zwischen Ideologie und Utopie – der Ansatz von Douglas Kellner Douglas Kellner, Professor für Philosophie an der Universität von Texas (Austin), hat sich insbesondere mit den Möglichkeit einer kritischer Wissen-, Identitäts- und
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Medientheorie im Zeitalter der Postmoderne auseinandergesetzt (vgl. Best/Kellner 1991 sowie Kellner 1989, 1989 a). Im Zentrum seiner Untersuchungen steht die populäre Medienkultur, die in den Gegenwartsgesellschaften zu einem zentralen Feld der sozialen und politischen Auseinandersetzungen geworden ist. Insbesondere Film und Fernsehen stellen mit ihren eindringlichen Bildwelten einen kaum zu überschätzenden Faktor gegenwärtiger Ideologiebildung dar (vgl. Ryan/Kellner 1988; Kellner 1990, 1995 und jetzt 2003). Kellner verbindet bei seinen Analysen spätmarxistische Konzepte einschließlich der Frankfurter Schule sowie einzelne Ansätze der Postmoderne-Diskussion mit den Grundsätzen der British Cultural Studies. Die Einseitigkeiten sowohl des „Kulturindustrie“-Paradigmas als auch des „populistischen“ Flügels der Cultural Studies sollen in einem integralen Konzept überwunden werden, das gleichermaßen affirmative wie oppositionelle Potenziale der Unterhaltungskultur erkennt und erklärt (Kellner 1995: 33 ff.). In expliziter Kritik an den Studien John Fiskes11 wendet sich Kellner gegen einen „Fetischismus des Widerstands“, der den Blick für das komplexe Gewebe kultureller Praxis in gegebenen institutionellen Rahmungen verliert. Die wichtigsten Punkte in Kellners Argumentation sind: •
eine Rehabilitierung und Reformulierung der Ideologiekritik auf einem theoretischen Niveau, das den gesellschaftlichen Veränderungen der letzten Jahrzehnte gerecht wird;
•
eine nachdrückliche Betonung der Relevanz der medialen Texte, die nicht beliebige Kommunikationsanlässe sind, sondern semiotische Gebilde mit weitreichenden Steuerungspotenzialen, die es in genauen Objektanalysen zu entschlüsseln gilt;
•
eine Rekontextualisierung der Texte im sozialen und politischen Makro-Kontext. Die mikrosoziologische Konzentration auf Ethnografien zu kleinen Publikumsgruppen läuft schnell Gefahr, die Einbindungen der Medienpraxis in die großen Debatten und Entwicklungen der Gesellschaft auszublenden;
•
eine Inklusion der politisch-ökonomischen Perspektive, um die Voraussetzungen kultureller Sinn- und Identitätsbildungsprozesse im Rahmen einer Marktökonomie zu klären. Kellner fordert hier einen „Cultural Materialism“ als Komponente der Cultural Studies ein.
Ideologiekritik darf jedoch Kellner zu Folge nicht auf jenen ausgetretenen Pfaden der marxistischen Theorie verbleiben, die gemäß dem Primat der ökonomischen Basis jeden Gedanken und jedes kulturelle Objekt auf die Produktionsverhältnisse und die daraus resultierenden Klassenstrukturen zurückführen will. Ideologiekritik muss eine „multikulturelle“ Optik erarbeiten – in diesem Punkt trifft sich Kellners Analyse mit Fiskes Konzept der Multiaxialität der Macht (Fiske 1993: 8): „Such ideology critique is multicultural, discerning a range of forms of oppression of people of different races, ethnicities, gender, and sexual preference and tracing the ways that ideological cultural forms and discourses perpetuate oppression. Multicultural ideology critique involves taking seriously struggles between men and women, feminists and anti-feminists,
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racists and antiracists, gays and antigays, and many other conflicts as well, which are seen to be as important and worthy of attention as class conflicts by Marxian theory. It assumes that society is a great field of struggle and that the heterogenous struggles are played out on the screens of media culture and are the proper terrain of a critical media cultural studies.“ (Kellner 1995: 58)
Anders als Fiske geht Kellner jedoch davon aus, dass sich die ideologischen Fronten nicht in einem ständigen Fluss befinden, sondern dass sich stabile Formationen institutionalisieren. Ideologie ist für Kellner jeweils ein Syndrom von gruppenspezifischen Annahmen über die soziale und politische Welt (1995: 58). Diese Bestimmung steht jener Konzeptualisierung von politischer Kultur erstaunlich nahe, wie sie von Rohe und mir entworfen wurde.12 Konstitutiver Bestandteil der Ideologien sind demnach Bilder, Symbole, Mythen und Narrationen, die Anschaulichkeit und Evidenz verbürgen. Daher muss Ideologiekritik als „figurative ideology critique“ betrieben werden, die in der Lage ist, die Logik der Bilder zu dekodieren. Besonders wichtig sind daher auch visuelle Repräsentationen von Ideologien, die in der gegenwärtigen Medienkultur weitaus schneller und intensiver Wirkung entfalten können als rein sprachliche Kommunikationen (1995: 60). Insbesondere die Gefühlswelt der Bürger und Mediennutzer ist hier intensiven Appellen ausgesetzt, sich mit den in den Texten angebotenen Rollenmodellen zu identifizieren und die ästhetisch aufbereiteten Bildwelten in einem Modus des „Feel Good“ zu erleben. Diese utopische Dimension von Unterhaltung, wie sie auch Richard Dyer (1981) analysiert hat, verbindet sich mit einer Verführung zur jeweiligen ideologischen Perspektive – etwa der Befürwortung militärischer Gewaltaktionen als Mittel der Außenpolitik, wie es die Perspektive der Rambo-Filme nahelegt, oder des Bildes der militärischen Gemeinschaft als Garant von Erfolg und Anerkennung in der Bildwelt von Top Gun. Methodisch muss Kellner zu Folge eine solche Ideologiekritik zunächst den Weg des „close reading“, der genauen Textanalyse gehen, um dann den Text mit dem sozialen und politischen Kontext in Beziehung zu setzen und schließlich mögliche Auswirkungen der Medientexte auf den öffentlichen Diskurs zu untersuchen. Kellner führt dieses Verfahren am Beispiel von Rambo – First Blood, Part 2 vor (1985, Regie George Pan Cosmatos). Die Erzählung vom erfolgreichen Befreiungsversuch, den ein militärischer Einzelgänger gegen seine Befehle und gegen den Willen der Polit-Bürokratie durchführt, um die Kameraden aus vietnamesischen Lagern zu befreien, bot dem zahlreich ins Kino strömenden Publikum eine symbolische Kompensation für die Niederlage in Vietnam und eine Möglichkeit, das Selbstwertgefühl zu steigern. Vor allem die nach Vietnam gedemütigte maskuline Identität der amerikanischen Männer erhielt Unterstützung, und auch die unterprivilegierte working class bekam im wortkargen Helden John Rambo ein Identifikationsmodell vorgeführt. Kellner liest Rambo als „revolutionären Konservatismus“, der den klassischen Individualismus und die konservativen Feindbilder mit gegenkulturellen Elementen (Rambos Aussehen, naturnaher Lebensstil, die Anti-Washington-Attitüde) zu einer neuen Synthese verbindet. Mit professionellen filmischen Mitteln wird der Zuschauer eingeladen, sich in die Perspektive des mit Gewalt siegreich agierenden
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Helden hineinzuversetzen. Die Filme und ihre Ikonografie waren ökonomisch außerordentlich erfolgreich, haben viele Jugendliche zur direkten Nachahmung angeregt und offensichtlich auch den damaligen Präsidenten Ronald Reagan zu seinen militärischen Abenteuern in Grenada und Libyen ermutigt: „Boy, after seeing Rambo last night, I know what to do next time“, sagte er in einem Interview (Kellner 1995: 70). Zwielichtige Gestalten wie Oliver North wurden mit der Rambo-Schablone zum Helden stilisiert, und die harte außenpolitische Linie der Regierung Reagan erfuhr eine wirkungsvolle visuelle Legitimation (vgl. Ryan/Kellner 1988). Ähnliche Befunde führt Kellner für Top Gun (1986, Regie Tony Scott) vor. Der Film betreibt eine Ästhetisierung und Erotisierung des Krieges an Hand der Erfolgsgeschichte eines US-Marinefliegers, die sogar unmittelbare Wirkung in Form von zahlreichen Freiwilligenmeldungen zu den entsprechenden Navy-Verbänden zeitigte (Kellner 1995: 80). In Verbindung mit einer Reihe anderer Militärfilme ist die Bevölkerung positiv auf die späteren militärische Engagements im Golfkrieg vorbereitet worden. In deutlicher Distanz gegenüber dem radikalen Rezeptions-Konstruktivismus von Fiske beharrt Kellner auf der Relevanz der Texte und ihrer Verführungskünste: „I am aware that this reading of the manipulative effects of an ideology machine like Top Gun goes against the current emphasis on the active audience, constructing their own (oppositional) meanings from cultural texts. But some blockbuster films like Top Gun are carefully constructed ideology machines that celebrate and reproduce hegemonic political positions and attitudes. Top Gun positions the audience in ways to indice spectators to identify or sympathize with ist politics.“ (Kellner 1995: 80)
Ein zentraler Mechanismus der Medienkultur besteht aus der Konstruktion attraktiver Subjektpositionen in den Bildwelten. Die meisten Filme bieten deutlich konturierte, positiv besetzte Heldenfiguren an, in die hinein wir uns imaginieren können. Wir übernehmen ihre Wahrnehmungen, Wertungen und Handlungsstrategien, partizipieren an ihren Ängsten und Erfolgen. Die so durchlebten Subjektpositionen gehen in unsere Identitätsbildung mit ein – nicht so, dass wir alle Elitekämpfer und Marineflieger werden. Aber sie können unsere Sicht der Dinge ändern bzw. in einer bestimmten Richtung verstärken. Daher kommt Kellner zu dem Schluss: „It is media culture that more and more provides materials and resources to constitute identities“ (1995: 259). Allerdings darf, so meine ich, Ideologie in diesem Sinne nicht auf den Bereich absichtlich und bewusst formulierter Botschaften reduziert werden. Auch ganz ‚unschuldig‘ als Unterhaltung intendierte Filme können effektvolle ideologische Subjektpositionen anbieten, indem sie sich aus Gründen des ökonomischen Erfolgs am kulturellen Mainstream orientieren. Kellners Ansatz versteht sich wie die meisten anderen Positionen im Rahmen der Cultural Studies als „kritisch“, indem Dominanz- und Unterdrückungsverhältnisse kritisiert, Emanzipationsversuche dagegen unterstützt werden. Den Hintergrund bildet eine radikaldemokratische Gesellschaftskonzeption (1995: 94). Verschiedene soziale Gruppen sollen möglichst selbst bestimmt und ohne Vorurteile miteinander leben, wobei Kellner nicht jeden Widerstand per se gut heißt (etwa Fis-
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kes Obdachlose, die Pornohefte lesen; 1993: 1-5), sondern nur denjenigen, der sich gegen Ungerechtigkeit und Unfreiheit wendet. Cultural Studies sollen dabei „multiperspektivisch“ vorgehen, d.h. unterschiedliche Methoden und Konzepte wie Marxismus, Feminismus, Strukturalismus parallel und in Kombination verwenden, um ein möglichst genaues Bild der kulturellen Realitäten zu entwickeln. Kellner plädiert für einen differenzierten Weg insoweit, als nicht alle erfolgreichen Medienprodukte pauschal als „ideologisch“ oder als Moment der Kulturindustrie abgewertet werden sollen. In pluralen Gesellschaften gibt es immer auch Gegenprojekte und Gegenkulturen. So wurden die unkritisch-patriotischen Vietnamfilme nach dem Muster von Rambo (1985) und Missing in Action (1984) durch kritische Filme wie Platoon (1986) oder Born on the Fourth of July (1989) beantwortet, und erst aus diesen Konstellationen heraus kann Kultur zu einem „contested terrain“ werden. Kellners Textualismus ist kombiniert mit einem Kontextualismus, der die Medientexte systematisch zu den anderen Texten und Diskursen in Beziehung setzt, die zu einem bestimmten Zeitpunkt Öffentlichkeit konstituieren. Ein Film beispielsweise kann auf politische Debatten, Probleme oder Stimmungslagen reagieren – oder er kann solche auch provozieren. Oliver Stones J.F.K. (1991) hat auf diese Weise die Diskussion nicht nur um die Ermordung des Präsidenten Kennedy, sondern um die gesamte amerikanische Vietnampolitik wiederbelebt. Ähnliche Effekte eines „Agenda Setting“ waren auch im Anschluss an die Ausstrahlung der Miniserien Roots (1977) und Holocaust (1978) zu verzeichnen. Holocaust hat bekanntlich auch in Deutschland umfangreiche Diskussionen über den Nationalsozialismus in Gang gebracht. Diese enge Beziehung zwischen medienkulturellen Objekten, öffentlichen Diskursen und politischer Kultur ermöglicht es, die Texte einer „diagnostischen“ Lektüre zu unterziehen. Sie geben, so Kellner, Aufschluss über Themen, Erwartungen, Hoffnungen und Ängste im Publikum, die durch die Filme bedient werden und aus denen heraus sich überhaupt erst ihre Popularität erklären lässt. Filme sind dann erfolgreich, wenn sie ansprechen, was die Bevölkerung beschäftigt. Dieser Ansatz einer diagnostischen Lektüre ist für die Sozialwissenschaften besonders interessant, können doch hier Objekte der populären Medienkultur systematisch als Quellen der Forschung rekrutiert werden. Kellner umreißt die Möglichkeiten einer in diesem Sinne verstandenen „politischen Lektüre“ von Medientexten am Beispiel des Films genauer: „Reading films politically, therefore, can provide insight not only into the ways that film reproduces existing social struggles within contemporary U.S. society, but can also provide insight into the social and political dynamics of the era. Even highly ideological films like Rambo point to social conflicts and to forces that threaten conservative hegemony, such as the liberal antiwar, antimilitary position which Rambo so violently opposes. Thus, ideology can be analyzed in terms of the forces and tensions to which it responds while projects of ideological domination can be conceptualized in terms of reactionary resistance to popular struggles against traditional conservative or liberal values and institutions.“ (1995: 104)
Setzt man dies dann noch in Beziehung zu sichtbaren öffentlichen Wirkungen eines Films, wie sie etwa in Kritiken, Stellungnahmen, Adaptionen sich äußert, dann kann man ein recht genaues Bild von dem kulturellen Stellenwert des Objekts entwickeln.
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Darüber hinaus ist es möglich, Filme als Ausdruck von aktuellen gesellschaftlichen Spannungslinien und Diskussionen zu lesen. Bei allen Zugeständnissen, die Kellner an die Eigenständigkeit der Mediennutzer in ihrer kulturellen Praxis macht, wird deutlich, dass er die Wirkungs- und Manipulationspotenziale der verführerisch aufbereiteten Unterhaltungsprodukte sehr hoch einschätzt (vgl. Kellner 1995: 108). Auch Kellner konstatiert zwar die Widersprüchlichkeit und Polysemie von Medientexten, diese bewegen sich jedoch meist im Rahmen eines beschreibbaren semantischen Potenzials. Kellner geht es letztlich um eine Reintegration der interpretativen und politischökonomischen Ansätze im Cultural-Studies-Projekt, die vor allem in den letzten Jahren entweder gar keine Notiz voneinander nahmen oder aber nur polemisch aufeinander bezogen blieben. Gerade die postmodernistische Wendung habe bei vielen Arbeiten die ökonomischen Aspekte und den Produktionskontext von Unterhaltungskultur völlig aus dem Blick gleiten lassen. Dagegen versucht Kellner zu verdeutlichen, dass die Textualität der Medienobjekte von ihrem Produktionsrahmen nicht zu trennen ist (Kellner 1997: 104). Ohne dem alten Determinismus vieler marxistisch inspirierter Ansätze nachfolgen zu wollen, ruft Kellner in Erinnerung, dass die Produktion von populärer Kultur zunächst einmal immer den elementaren Marktmechanismen gerecht werden muss. Das Ziel der Gewinnmaximierung hat Auswirkungen auf das Design der Objekte, die zu verkaufen sind. Weiterhin ist die Gestaltung der Rahmenbedingungen durch staatliche Politik zu beachten: Gibt es Auflagen für die Programmgestaltung, gibt es Tabus, gibt es Restriktionen für Fusionen der Medienanbieter etc.? Ohne Berücksichtigung dieses Rahmens ist der Kommunikationsprozess der Medienkultur nicht verstehbar. Schließlich ist auch der gesellschaftliche Kontext von Bedeutung. Die demografische und ökonomische Struktur der Publiken sind hier ebenso wichtig wie Einstellungen und Werte, die sich ebenfalls im Zeitverlauf stark ändern können. Was bedeutet das konkret? Kellner verweist zunächst einmal auf das Beispiel der Fernsehproduktion. Hier gibt es markterprobte Kodes und Genres, auf die aktuelle Projekte zurückgreifen müssen, um erfolgreich zu sein (Kellner 1997: 106). Dazu zählen etwa auch typische Muster der Konfliktdefinition und Lösung. Jede Serie hat manuals und continuity experts, welche die genaue Einhaltung der erfolgversprechenden Vorgaben überwachen. Veränderungen der ökonomischen Lage und damit auch der Stimmungslage in der Gesellschaft führen zu Anpassungen der Serien. So wurden im amerikanischen Prime-Time-Fernsehen im Zuge der ökonomischen Regression der 1980er Jahre Familienkomödien produziert, die VerliererFiguren und deren tägliche Kämpfe in der Alltagswelt humorvoll in den Mittelpunkt stellten: Roseanne, Married with Children und The Simpsons. Aber auch marktimmanente Veränderungen wie die verstärkte Konkurrenz durch Kabelanbieter haben bei den Serien, die durch die großen Networks ausgestrahlt werden, zu Veränderungen geführt (Kellner 1997: 107). Immer jedoch lautet die oberste Maxime, dass Produktionen, die auf breite Popularität zielen, im Rahmen des ideologischen bzw. politisch-kulturellen Mainstream platziert sein müssen. Das bedeutet aber auch, und damit ist der entschei-
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dende Aspekt aus sozialwissenschaftlicher Sicht angesprochen, dass populäre Serien in der Regel die „Normalität“, den Wahrnehmungs- und Werthorizont einer Gesellschaft aufzeigen. Hier lässt sich feststellen, welche Themen, Lebensweisen, Zielund Sinnkonstruktionen und welche politisch-kulturellen Traditionen in einer Gesellschaft konsensfähig sind. Die Prime-Time-Serie wie der Blockbuster-Film geben uns Aufschluss über Normallagen und Entwicklungstendenzen einer Kultur. Das Publikum und seine Rezeptionsweise ‚fällt dabei nicht vom Himmel‘, sondern es hat ausgiebige Prozesse der Mediensozialisation durchlaufen, die wiederum seine Möglichkeiten, einen Film zu sehen oder Musik zu hören, stark prägen. Diese Verortung der Medienkommunikation im Rahmen eines Marktgeschehens plädiert somit keineswegs für einen erneuten Ökonomismus oder institutionellen Reduktionismus, der die Mediennutzer als Marionetten in der Hand von Kulturindustriellen imaginiert. Aber es wird versucht, für den Zusammenhang der verschiedenen, am komplexen Medienprozess beteiligten Ebenen zu sensibilisieren.
4 Kritikpunkte Der Ansatz von Douglas Kellner versucht, eine theoretische Synthese aus politischökonomischen sowie ideologiekritischen Perspektiven einerseits und postmodernen, „populistischen“ Perspektiven andererseits für die Analyse der populären Medienkultur fruchtbar zu machen. Es bietet sich daher an, die Kritik an Kellners Konzept zu verbinden mit einigen Einwänden, die insgesamt gegen den Cultural Studies Approach vorzubringen sind: •
Kellner richtet in teilweiser expliziter Wendung gegen die „populistische“ Fraktion der Cultural Studies sein Augenmerk wieder stärker auf die ideologischen Wirkungen unterhaltungskultureller Objekte. Leider wird jedoch weder in qualitativer noch in quantitativer Methodik ein systematischer Nachweis dazu erbracht. Die einzelnen Belege, die angeführt werden, vermögen zwar durchaus zu plausibilisieren, aber nicht – wie Kellner behauptet – wirklich zu belegen. Entsprechendes gilt auch für Kellners Aussagen zur Identitätsbildung durch Medienkultur. Was primär untersucht wird, sind die medialen Identitätsangebote und Inszenierungen, nicht jedoch die Wirkungen auf den realen Identitätsbildungsprozess bei den Mediennutzern. Nun sind diese Dinge auch ohne Zweifel sehr schwer empirisch fassbar, und das Desiderat einer systematischen, qualitativen wie quantitativen Forschung überfordert in der Regel die Kapazitäten eines Einzelforschers. Hier können nur größere Projektzusammenhänge Abhilfe schaffen. Zunächst einmal kann man jedoch die Folgerung ableiten, dass man sich weitgehend mit plausibilisierten Wirkungs- und Identitätsbildungshypothesen zufrieden geben muss, die durch Textanalysen und Belege für öffentliche Wirkungen in Stellungnahmen, Kritiken und anderen Dokumenten gestützt wer-
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den können. Immer muss dabei jedoch klar sein, dass ein empirischer Nachweis für die entsprechenden Wirkungshypothesen noch aussteht. •
Kellner rückt gegenüber den radikalen Konstruktivisten unter den Rezeptionsforschern die Textanalyse wieder in den Mittelpunkt und verweist zu Recht auf die semiotischen Steuerungspotenziale der professionell gefertigten Medienprodukte. Dennoch fällt auf, dass die konkreten Analysen einen strukturierten, systematischen Zugriff mit einheitlichen Kategorien vermissen lassen. Zu oft werden die Untersuchungen etwa bestimmter Filme ad hoc aus dem Objekt heraus entwickelt und dann mit sehr pauschalen Zuordnungsmustern (konservativ-progressiv, rechts-links) verbunden. Um der Klarheit der Analyse willen wäre es sinnvoller, zunächst ein nachvollziehbares Analyseinstrumentarium zu entwickeln und dieses dann einheitlich auf verschiedene Objekte anzuwenden. Damit erhielten die Lektüren auch einen weniger essayistischen, intersubjektiv besser nachprüfbaren Charakter, der im Bereich der interpretativen Forschung sehr wichtig ist.
•
Den Anspruch „kritischer“, normativ stellungnehmender, eingreifender Forschungspraxis erhebt Kellner ebenso wie fast alle anderen Vertreter des Cultural-Studies-Ansatzes. Zwei Aspekte erscheinen mir daran problematisch. Zum einen bleibt auch bei Kellner der Fokus der Kritik weitgehend auf die Objekte, z.T. auf ihre Aneignung und öffentliche Verwertung etwa durch Politiker wie Ronald Reagan beschränkt. Was fehlt, ist der makropolitische Rahmen etwa der staatlichen Kulturpolitik (vgl. dazu McQuail 1997). Der zweite Kritikpunkt setzt noch grundsätzlicher an. In fast allen Arbeiten der Cultural Studies sind Beschreibung und Wertung, deskriptive und normative Ebene der Argumentation unmittelbar ineinander verwoben. Diagnose und Polemik sind teilweise gar nicht mehr zu trennen. Sinnvoller erscheint mir, im Sinne der Weberschen Methodologie zu verfahren, d.h. konkret: Zunächst einmal ist „sine ira et studio“ eine deskriptive Analyse dessen vorzulegen, was in der Medienkultur der Fall ist. In einem zweiten Schritt kann dann, vor dem wohlbegründeten Hintergrund normativer Theorien der Medienöffentlichkeit, nach den Implikationen dieser Befunde gefragt werden. Dies kann im Modus von Wenn-Dann-Verknüpfungen geschehen, etwa nach dem – hier sehr vereinfacht dargebotenen – Muster: Wenn in der Medienkultur möglichst viel Sachinformation zum politischen System und politischen Prozess einer Gesellschaft vermittelt werden soll, dann ist der Rückgang an Informationssendungen im Verhältnis zu den Unterhaltungssendungen zu kritisieren. Dadurch wird die Kritik transparenter und letztlich auch effektiver.13
•
Einer der schwerwiegendsten Kritikpunkte, die gegenüber Kellner wie den meisten anderen Vertretern der Cultural Studies formuliert werden muss, besagt, dass Interdisziplinarität ungeachtet häufiger Bekenntnisse nicht wirklich praktiziert wird. Dieses Manko rächt sich in der Qualität der Theoriebildung wie bei den konkreten empirischen Befunden. So ist deutlich sichtbar, dass die Cultural
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Andreas Dörner Studies viele Konzepte, die etwa in der Soziologie und Anthropologie entwickelt wurden, gar nicht zur Kenntnis nehmen und folglich teilweise schon längst erfundene Räder wieder neu erfinden und teilweise auch hinter dem Stand der Erkenntnisse in diesen Nachbardisziplinen zurückbleiben (vgl. Ferguson/Golding 1997: XVIIII). Das betrifft beispielsweise die verwendeten Identitätskonzepte oder aber auch die Methoden: Das mitunter sehr unbekümmerte, von Gütekritierien unbelastete ethnografische und inhaltsanalytische Arbeiten würde den Standards in der Soziologie kaum gerecht werden.14
•
Noch wichtiger ist der Aspekt, dass in den konkreten Analysen sozialwissenschaftliches Know-How und sozialwissenschaftliche Debatten nahezu völlig ausgeblendet werden. Das betrifft Arbeiten über die Möglichkeit von Politik in der Gegenwartsgesellschaft, Befunde der politischen Kulturforschung, Theorien zur Öffentlichkeit moderner Gesellschaften, die einschlägigen Debatten über Liberalismus und Kommunitarismus sowie viele andere Bereiche, die außerhalb der Lektüre- und Zitierpraxis der Cultural Studies liegen. Das hat allzu oft zur Folge, dass sehr simplifizierende Bilder vom politischen Prozess, von der Funktionsweise moderner Öffentlichkeit und von den ideologischen Konfliktlinien in der Gegenwartsgesellschaft gezeichnet werden (so gebraucht Kellner in der Regel die der Tagespolitik entnommenen Begriffe „conservative“ und „liberal“, ohne sie genauer vor dem Hintergrund der noch immer virulenten Traditionen zu verorten).
•
Diese Problematik betrifft auch die aus dem marxistischen Erbe bezogene, durch vielerlei semiotische und Gramscianische Verfeinerungen im Kern kaum veränderte Gegenüberstellung von Herrschern und Beherrschten, Hegemonie und oppositionellen Gruppen, Mächtigen und Machtlosen, die in ihrer SchwarzWeiß-Dichotomie den gegebenen Verhältnissen kaum gerecht wird. Diese Kritik muss also mit der Forderung verbunden werden, wirklich interdisziplinär zu arbeiten, d.h. die Sensibilität der Cultural Studies für (populär)kulturelle Prozesse der Bedeutungsbildung, Identitätsinszenierung und Sinnkonstruktion zu verbinden mit sozialwissenschaftlichen Analysen zur Konstitution der sozialen Realität in der Gegenwart sowie mit den Befunden der politischen Kulturforschung und der empirischen Wissenssoziologie.
•
Im direkten Zusammenhang mit der fehlenden Interdisziplinarität steht ein weiteres wichtiges Manko: Die Analysen der Cultural Studies erweisen sich in fast allen Fällen als eigentümlich geschichtslos. Das aber ist bei einer Beschäftigung mit kulturellen Prozessen und Institutionen fatal, da wir es in diesem Bereich in aller Regel mit Realitäten zu tun haben, die sich in der Zeitdimension der „longue durée“ bewegen (vgl. Braudel 1977). Wie will man aktuelle symbolische Formen verstehen, wenn man die Bedeutungsgeschichte mit all ihren spezifischen Anlagerungen und Brüchen ausblendet? Wie will man Partizipationsmuster in der amerikanischen Gegenwartskultur verstehen, wenn man die republikanische Tradition und ihre Verankerung in der amerikanischen politischen Kul-
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tur nicht in Rechnung stellt? Wie will man den spezifischen Feminismus Madonnas verstehen, wenn man ihn nicht zur Tradition des expressiven Individualismus und den damit verknüpften Deutungsmustern und Werten in Beziehung setzt? Oder wie könnte eine Analyse zum Verhältnis von Individualismus und Gemeinschaftsorientierung in der deutschen Gegenwartskultur adäquat sein, ohne dass die Implikationen der etatistischen Gemeinschaftstradition bedacht werden? Diese Leerstellen in den Cultural Studies, die entsprechend auch in einer Unkenntnis der einschlägigen Forschungsliteratur dokumentiert werden (vgl. auch Ostendorf 1995: 719), führen oft zu Fehleinschätzungen aktueller Phänomene. Eine Integration der Perspektiven der Cultural Studies mit neueren sozialwissenschaftlichen erscheint also vor diesem Hintergrund dringend geboten. Cultural Studies haben den Blick zurecht auf die massenmediale Unterhaltungskultur gerichtet, um einen zentralen Bereich der Sinn- und Identitätsgenerierung in der modernen Gegenwartsgesellschaft zu analysieren. Sie haben dabei den normativen Deduktionismus der frühen kritischen Theorie ebenso überwunden wie die dekontextualisierende Engführung vieler strukturalistischer und semiotischer Ansätze. Dennoch, so konnte am Beispiel Kellners gezeigt werden, sind Einwände theoretischer wie methodischer Art zu erheben. Die entscheidenden Schwächen liegen in den oft zu groben Beschreibungskategorien, die meist doch im Prokrustesbett der Dichotomien von herrschend-beherrscht, progressiv-konservativ etc. gefangen bleiben; in einer zum Teil unreflektierten und übersteigerten Normativität; in der weitgehenden Blindheit für interdisziplinäre Zusammenhänge, d.h. vor allem für neuere sozialwissenschaftliche Erkenntnisse; und schließlich in einer Geschichtslosigkeit der Analyse, die gerade im Hinblick auf kulturelle Praxis und symbolische Formen den Wert der Analysen nachhaltig schmälert.
Anmerkungen 1 2
3 4
Neuere Darstellungen zur Entwicklung der Cultural Studies, zum Analysepotenzial und zu den Auswirkungen im kultur- und sozialwissenschaftlichen Diskurs finden sich bei Hall (1999), Hepp (1999/2004) und Winter (2001a). Siehe dazu ausführlich Dörner (2000, 2001), Meyer (2001), Dörner/Vogt (2002) sowie die Beiträge in Schicha/Brosda (2002). Ein typisches Genre für diese Vermischung von Informations- und Unterhaltungselementen ist die noch immer boomende Talkshow (vgl. Tenscher/Schicha 2003). Zur Diskussion der Cultural Studies im Kontext der (kultur-)soziologischen Forschung siehe Winter (2001a: 341ff). Als Symptom für diesen Boom in Deutschland kann man die neuere Veröffentlichungskonjunktur von Sammelwerken und deutschen Übersetzungen von Texten aus dem Cultural-Studies-Kontext betrachten; vgl. etwa Bromley u.a. (1999), Hörning/Winter (1999), Göttlich/Winter (2000) und Winter/Mikos (2001). Ein gelungenes Beispiel für eine Forschungsanwendung von Cultural-Studies-Perspektiven ist Hepp (1998).
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Zur Rolle von Williams bei der Entwicklung einer neuen Kulturtheorie vgl. ausführlich Inglis (1995). Zu Williams‘ Konzeption der kulturellen Praxis als Bestandteil von Herrschaftsprozessen vgl. jetzt umfassend Göttlich (1996). Vgl. auch weitere Publikumsstudien u.a. von Ien Ang (1985, 1991), Richard Dyer (1986), Janice Radway (1987) sowie James Lull (1990). Vgl. dazu vor allem die Beiträge in Ferguson/Golding (1997), Davies (1995) sowie McGuigan (1992). Siehe dazu Winter (1995), Willis (1990), de Certeau (1984), sowie vor allem Fiske (1987, 1989, 1989a, 1993, 1994, 1996, 1999 und seine Texte in Winter/Mikos 2001). Hier stimmt die Perspektive der Cultural Studies mit der Konzeption Pierre Bourdieus überein, vgl. Bourdieu (1982, 1985 und Bourdieu 1998). Vgl. dazu vor allem Fiske (1987, 1989, 1989a, 1994). Zur Auseinandersetzung mit Fiske aus sozialwissenschaftlicher Perspektive siehe Dörner (2000: 112) und Winter (2001a: 163ff). Vgl. dazu Rohe (1987, 1990, 1994) sowie Dörner/Rohe 1991 und Dörner 2003. Zur Weberschen Methodologie vgl. grundlegend den Aufsatz zur „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher Erkenntnis (Weber 1904). Siehe dazu etwa Schröer (1994), Flick (1995) und Hitzler/Honer (1997).
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Cultural Studies und Sprachwissenschaft Jannis Androutsopoulos „[Die Linguistik] hält für die Kulturanalyse wahre Schätze bereit, die allerdings unter Bergen technischer Geheimniskrämerei und universitärem Professionalismus begraben liegen.“ (Johnson 1999: 166)
1 Einleitung Sei es die Rolle der Sprache in der Konstitution eines subkulturellen Kodes (Clarke et al. 1979), der ironische Humor der Hippies (Willis 1981), die sprachlichen Kennzeichen populärer Texte (Fiske in diesem Band) oder die Aneignung von Medien im Zuschauergespräch (Gillespie 1995): Ein Streifzug durch die Klassiker lässt die Allgegenwärtigkeit von Sprache und Interaktion im Forschungsprojekt der Cultural Studies schnell erkennen. Dabei ist das Verhältnis zwischen Cultural Studies und Sprachwissenschaft relativ wenig reflektiert worden. Die Text- und Medienanalysen der Cultural Studies greifen eher auf literaturwissenschaftliche und semiotische, weniger auf linguistische Methoden zu (vgl. aber Keppler 1994). Zwar hat man früh auf das Potenzial linguistischer Methoden für die Kulturanalyse aufmerksam gemacht, genauso auf die Schwierigkeit ihrer Anwendung (Johnson 1999: 165f.). Umgekehrt orientiert sich die Soziolinguistik vor allem an der Soziologie und Anthropologie, viel seltener an den Cultural Studies.1 Ihr Kritikpunkt an die Cultural Studies lautet, dass es ihr an feinkörnigen Analysen des Sprachgebrauchs mangelt. Zwar wird man heute – zumindest seit Fiske (1987), Keppler (1994) und Gillespie (1995) – wohl nicht mehr uneingeschränkt behaupten können, dass „die eigentliche Sprachforschung hier weitgehend ausgeklammert geblieben ist“, wie es Maas (1980: 153) für die CCCS-Arbeiten der 1970er Jahre formuliert hat. Noch in den späten 1990er Jahre gilt aber der Umgang der Cultural Studies mit Diskurs als „impressionistic“ (Rampton 1997: 65; siehe auch Müller/Wulff in diesem Band), da er lieber mit den weiten Kategorien der Ethnografie arbeite und die Details der verbalen Interaktion kaum beachte. Gleichzeitig hebt Rampton hervor, was die Cultural Studies der Soziolinguistik anzubieten haben: neues Licht auf alte Fragen und eine gesellschaftliche Verankerung ihres Gegenstandes.
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Dieser Beitrag – geschrieben aus der Perspektive eines sich an die Cultural Studies annähernden Soziolinguisten – beschäftigt sich weniger mit den Gründen für die mangelnde gegenseitige Rezeption von Cultural Studies und Sprachwissenschaft und mehr mit den Möglichkeiten ihres interdisziplinären Dialogs. Was können Sprachwissenschaft und Cultural Studies füreinander tun? Zunächst wird der potenzielle Ertrag linguistischer Analysemethoden für konstitutive Fragestellungen der Cultural Studies diskutiert. In einem zweiten Schritt wird nachgezeichnet, wie die soziokulturell orientierte empirische Sprachwissenschaft Konzepte der Cultural Studies – Bricolage, Globalisierung, Hybridität, Medienaneignung – aufgreift und was sie darüber zu sagen hat.
2 Methodologische Schnittstellen Wenn hier von Sprachwissenschaft bzw. Linguistik die Rede ist, sind diejenigen Teilgebiete oder „Forschungsparadigmen“ (Dittmar 1997) gemeint, die (im weitesten Sinne) das Verhältnis von Sprache, Kultur und Gesellschaft untersuchen. Soziolinguistik, Kritische Diskursanalyse sowie Aspekte der Textlinguistik und der linguistischen Stilistik sind zentrale, sich teilweise überlappende Puzzleteile in der Landschaft der soziokulturell orientierten empirischen Sprachwissenschaft. Unbeachtet ihrer (theoretischen, methodischen, empirischen) Unterschiede lehnen sie eine autonome Linguistik ab und legen stattdessen den Schwerpunkt auf den situierten Sprachgebrauch in seinem kulturellen und sozialen Kontext. Sie teilen dabei bestimmte Prämissen, die mit Grundpositionen der Cultural Studies übereinstimmen: ein Verständnis von Identität als interaktivem Prozess (vgl. Antaki/Widdicombe 1998), der in kommunikativen Aktivitäten vollzogen wird; die Rolle von Sprache als zentrale symbolische Ressource für die Konstruktion von Identitäten und Machtbeziehungen; und ein dialektisches (oder reflexives) Verhältnis zwischen sprachlichen Handlungen und ihrem Kontext. Aus der methodologischen „Bricolage“ der Cultural Studies2 folgt, dass ganz verschiedene Methoden der empirischen Sprachwissenschaft an kulturanalytische Projekte anschlussfähig sind. Mein Zugang in diesem Beitrag geht von zwei zentralen Fragestellungen der Cultural Studies (Johnson 1999; Winter 2001b) aus und ordnet ihnen potenziell ertragreiche linguistische Methoden zu. Ich argumentiere, dass in der Untersuchung von Lebenswelten und ihrer Medienaneignung die in den Cultural Studies übliche Ethnografie durch die Gesprächsanalyse ergänzt werden kann. Für die Analyse medialer Texte stehen linguistische Methoden der Textsorten-, Gattungs- und Diskursanalyse zur Verfügung. Dabei gehe ich weniger auf die theoretischen Hintergründe dieser Ansätze und mehr auf ihre konkreten methodischen Schritte ein. Selbstverständlich sind diese Methoden an und für sich noch keine Cultural Studies, solange sie nicht von einer Fragestellung gerahmt werden, die das Verhältnis zwischen Kultur, Medien, Macht kritisch anspricht (vgl. Winter 2001b: 45).
Cultural Studies und Sprachwissenschaft
2.1
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Ethnografie und Gesprächsanalyse
Seit der Frühphase der britischen Cultural Studies ist Ethnografie die „bevorzugte Forschungsstrategie“ (Winter 2001b: 45), da sie einen ganzheitlichen, interpretativen Zugang zu den konkreten, privaten Momenten der kulturellen Zirkulation ermöglicht (Johnson 1999: 178f.). Gleichzeitig bildet die Ethnografie eine methodische Parallele zur Sprachwissenschaft. Paradigmatisch für die Soziolinguistik wirkte die von Dell Hymes entwickelte Ethnografie der Kommunikation (vgl. Hymes 1977; Dittmar 1997). Sie zielt auf eine holistische Beschreibung von Kultur, die „den gesamten Lebensweg von Individuen im Verbund mit ihren jeweils verschiedenen Tätigkeiten und Handlungsroutinen“ berücksichtigt (Dittmar 1997: 81). Die ethnografische Analyse nach Hymes folgt einem als „speaking“ bekannten Analyseraster, wobei das Akronym „speaking“ für die acht Komponenten eines Sprechereignisses steht: „setting/scene, participants, ends, act sequence, key, instrumentalities, norms, genres“ (vgl. Dittmar 1997: 82). Auf der Folie einer kommunikativen Ethnografie kann die Gesprächsanalyse als analytische Vertiefung der interaktiven Aspekte eines ethnografischen Gruppenportraits verstanden werden. Die in den 1970er Jahren auf der Ethnomethodologie und Mikrosoziologie begründete Gesprächsanalyse rekonstruiert implizite Regeln für die Herstellung sozialer Ordnung in der verbalen Interaktion, indem sie Gesprächstranskripte auf Details der Gesprächsführung, beispielsweise den Wechsel von Redebeiträgen, untersucht (vgl. Deppermann 1999). Entscheidend für die Anschlussfähigkeit der Gesprächsanalyse an die Cultural Studies ist, wie das Verhältnis zwischen Gesprächsdaten und ihrem Interaktionskontext aufgefasst wird. Die orthodoxe Konversationsanalyse berücksichtigt nur diejenigen Kontextaspekte, die im Gespräch selbst relevant gemacht werden. Allerdings plädiert man zunehmend für eine engere Verbindung von Ethnografie und Gesprächsanalyse (Titscher et al. 1998). Der Einsatz ethnografischen Wissens in die Gesprächsanalyse trägt bei zur Sensibilisierung auf Phänomene, die sonst unbeachtet geblieben wären, zur Schließung von Interpretationslücken und zum Schutz vor Fehlinterpretationen, die durch die Einschränkung auf die Transkripte aufkommen können (Deppermann 2001). Durch die Öffnung hin zur Ethnografie wird der der Gesprächsanalyse vorgeworfene „post-positivistische“ bzw. reduktionistische Charakter (vgl. Winter 2001b: 59) relativiert. Kombinationen aus Ethnografie und Gesprächsanalyse, wie sie in der interaktionalen Soziolinguistik üblich sind (vgl. Androutsopoulos/Georgakopoulou 2003), können für die Untersuchung der kommunikativen Medienaneignung und der Konstruktion von Identität im Diskurs eingesetzt werden. Die Detailanalyse gesprächsanalytischer Transkripte ermöglicht es, Feinheiten der Interaktion – Prosodie, Pausen, Verzögerungssignalen, Überlappungen – systematisch zu untersuchen, die der Beobachtung und den Feldnotizen zwangsläufig entgehen. Bisherige kulturanalytische Arbeiten mit literarisch transkribierten Gesprächen (vgl. Gillespie
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Jannis Androutsopoulos
1995) schenken diesen Phänomenen kaum Beachtung (vgl. aber Keppler 1994, Hepp 1998). Doch gerade wenn der „konkrete Umgang mit den vorstrukturierten Sinnproduktionen verschiedener Medien“ (Keppler 2001: 140) zu begreifen ist, können die mikroskopischen Aspekte der Interaktion eine wichtige Rolle spielen. Die „oft rasch vorübergehenden, aber keineswegs unbedeutenden Momente der Rezeption kultureller Texte“ (Winter 2001b: 45) sind auch an formalen Aspekten des Interaktionsgeschehens festzumachen, beispielsweise an der Sequenzierung der Gesprächsbeiträge, dem Sprecherwechsel, der interaktiven Entwicklung von Gesprächsthemen. Ihre Rekonstruktion kann Positionierungen in der Aneignung medialer Produkte aufdecken, die sich einer rein inhaltlichen Analyse des Gesprächs entziehen. Auch die als „language crossing“ bezeichneten Formen des Sprachkontakts, die auf die Aushandlung ethnischer Beziehungen verweisen, sind oft sehr feine, kaum wahrnehmbare Stilwechsel, die immer wieder zum Vollzug bestimmter Handlungen eingesetzt werden.
2.2
Analyse medialer Textsorten und Gattungen
Die Medienanalysen der Cultural Studies (vgl. im Überblick Hepp 1999/2004; Winter 2001) greifen auf verschiedene Methoden für die Analyse von Gattungen, Genres bzw. Textsorten zu. Das Interesse richtet sich dabei oft nur auf einzelne Instanzen (Realisierungen) eines Genres. Demgegenüber interessieren sich linguistische Textsorten- und Gattungsanalysen für die Muster, die medialen Texten zu Grunde liegen.3 Textsorten und Gattungen werden als Bausteine des „kommunikativen Haushaltes“ (Luckmann 1986) einer Gruppe oder Kultur verstanden. Als historisch gewachsene, gesellschaftlich verfestigte, zum Teil formalisierte Lösungen für kommunikative Probleme (Günthner 1995) bieten sie Richtlinien für die Produktion und Rezeption komplexer kommunikativer Handlungen an und organisieren damit die Weitervermittlung gesellschaftlichen Wissens. Aus der Textlinguistik und der linguistischen Pragmatik hervorgegangene Ansätze der Textsortenanalyse spezialisieren sich auf geschriebene, insbesondere massenmediale Texte (z.B. Pressetextsorten, Klein- und Werbeanzeigen). Das analytische Raster geht von der Dichotomie zwischen einer externen (Textfunktion, Kommunikationssituation) und einer internen (Textstruktur) Dimension aus. Die Analyse der Textfunktion baut auf die Sprechakttheorie auf; die Analyse der Kommunikationssituation operiert mit Kategorien wie Handlungsbereich, Öffentlichkeitsgrad und Rollenbeziehung der Kommunikationspartner. Zur Analyse der Textstruktur gehören die thematische Struktur, die handlungsfunktionale Segmentierung eines Textes in Teiltexte, die Sequenzierung dieser Teiltexte, ihre grammatische Kohärenz und syntaktische Komplexität sowie typische Mittel der lexikalischen Ausgestaltung (Wortarten, Wortfelder, Routineformeln). Die in der Wissenssoziologie entstandene, linguistisch weiter entwickelte Analyse kommunikativer Gattungen legt den Schwerpunkt auf alltägliche und mediale Gespräche (z.B. Radiogespräche, Talkshows).
Cultural Studies und Sprachwissenschaft
241
Auch die Gattungsanalyse unterscheidet zwischen einer Außenstruktur (Beziehung zwischen Gattung und Sozialstruktur) und einer Binnenstruktur (gattungskonstitutive verbale und nonverbale Elemente). Hinzu kommt die Dimension der situativen Realisierung (Organisation des dialogischen Austausches), die auf Techniken der Gesprächsanalyse zugreift.4 Die durch diese Analyseschritte herausgearbeitete Textsorten- bzw. Gattungshaftigkeit von Medientexten ist ein wichtiger Aspekt der „textuellen Organisation kultureller Formen“ (Johnson 1979), sofern sie den Erwartungshorizont der Rezipienten vorstrukturiert und die sprachlichen Gestaltungsoptionen der Produzenten einschränkt. Dies gilt auch für die textuelle Produktivität von Fans (Winter 1995) und die kommunikative Aneignung von Medienangeboten, beispielsweise in Familientischgesprächen (Keppler 1994) oder im Smalltalk vor dem Fernseher (Hepp 1998, Holly et al. 2001). Die Rekonstruktion von Gattungs- bzw. Textmustern eröffnet die Möglichkeit, kanonische von abweichenden, orthodoxe von unkonventionellen Realisierungen in verschiedenen sozio-medialen Kontexten zu unterscheiden. Medienakteure verfügen über einen kreativen Spielraum der individuellen Ausgestaltung, der je nach den institutionellen Rahmenbedingungen der Kommunikation und in Abhängigkeit vom antizipierten Rezeptionskontext ausgelotet wird. Im Zuge einer zunehmend pluralistischen Medienproduktion stellt der unorthodoxe Umgang mit Textsorten bzw. Gattungen eine Ressource symbolischer Distinktion dar. Dies lässt sich sehr gut am Rande des Mediensystems erkennen, wo die Möglichkeiten für Innovation größer sind (vgl. Fiske 2001b: 208). Beispiele hierfür sind Fanzines – unkommerzielle Publikationen von und für Fans einer kulturellen Praxis – und freie Radios. Musik-Fanzines der 1990er Jahre bilden die Oberfläche und teilweise auch die Struktur konventioneller Textsorten auf eine Art und Weise ab, die auf die spezifischen Wissensbestände und Wertvorstellungen der Produzenten-RezipientenGemeinschaft verweist (Androutsopoulos 1999). Im freien Radio werden übliche mediale Gattungen (z.B. Interviews) auf eine Weise realisiert, die auf die Programmatik der freien Radios – „Entzauberung“ des Mediums, Bemächtigung der Hörer, verändertes Macher-Hörer-Verhältnis, Nähe zur Sprache des Alltags – verweist (Pinseler 2001). Das Experimentieren mit alternativen Realisierungen konventioneller Muster ist in beiden Fällen ein zentraler Zug der sozialen Stilbildung. Das latente Bemühen, die mediale Distanzkommunikation als eine private Situation umzudefinieren, wird vom Fehlen marktwirtschaftlicher Zwänge und institutioneller Kontrolle erst ermöglicht und trägt dazu bei, dieses Fehlen immer wieder zu kontextualisieren.
2.3
Vom Text zum Diskurs
In den letzten Jahren hat sich die Kritische Diskursanalyse als Konvergenzpunkt medienanalytischer Forschung auf linguistischer Basis heraus kristallisiert. Die verschiedenen Ansätze der Kritischen Diskursanalyse (CDA) gehen grundsätzlich vom
242
Jannis Androutsopoulos
Diskursbegriff von Michel Foucault aus und teilen ein kritisches, integratives und interdisziplinär ausgerichtetes Forschungsprogramm mit dem Ziel, die diskursive Konstruktion und Reproduktion sozialer Ungleichheit aufzudecken.5 Während Textsorten- und Gattungsanalyse oft auf einer niedrigen Abstraktionsebene arbeiten und sich auf die Analyse der Texturen einschränken, sieht CDA die linguistische Analyse nicht als Selbstzweck, sondern als Zugang zur Untersuchung einer nichtlinguistischen Fragestellung an. Kritische Medienanalysen zeigen, wie sich gesellschaftliche Machtstrukturen und Wandelprozessesse (Rassismus, Nationalismus, Geschlechterbeziehungen, Globalisierung) in Medientexten affirmativ oder negierend niederschlagen.6 Diskursanalytische Methoden teilen grundsätzlich einen holistischen Zugang zur Medienkommunikation. Auch wenn das empirische Hauptinteresse in der Regel dem Medientext gilt, werden seine Produktions- und Rezeptionsbedingungen für die Interpretation stets mit einbezogen. Aus Platzgründen beschränke ich mich auf eine Skizze der methodischen Programmatik von Fairclough (1992). Er schlägt ein DreiEbenen-Modell vor, das Text, Diskurspraxis und soziokulturelle Praxis miteinander verbindet. Die „Sockel“ des Ansatzes ist eine Text- oder Gesprächsanalyse, die mit einer Auswahl aus den oben angeführten Kriterien operiert. Je nach Material werden grammatische Strukturen, Kohäsion (formale Textstruktur), Wortbedeutungen, Formulierungen, Metaphern, Gesprächsstrukturen und Höflichkeit analysiert. Die Analyse der Diskurspraxis untersucht die sozialen Aktivitäten der Textproduktion und Textrezeption, die Beziehung des Textes zu anderen Texten (Intertextualität) und die Spuren verschiedener Diskurse im Text (Interdiskursivität). Die beiden Ebenen verbinden sich zu einer Prozessanalyse, die Textstrukturen vor der Folie ihrer Produktions- und Rezeptionsbedingungen interpretiert. Die Prozessanalyse verbindet sich wiederum auf einer höheren Ebene mit einer sozialtheoretisch ausgerichteten Analyse der soziokulturellen Praxis, die danach fragt, wie sich die untersuchte Diskurspraxis auf zu Grunde liegende Diskursordnungen bezieht und zur Reproduktion bzw. Transformation dieser Diskursordnungen beiträgt. Das Pendeln zwischen dem Text bzw. Gespräch, seinem Diskurskontext und dem größeren ideologischen und sozialen Zusammenhang ist konstitutiv für den Ansatz von Fairclough (1995). Die wichtigste Parallele der linguistischen Diskursanalyse in den Cultural Studies ist die Arbeit von Fiske (vgl. Fiske 1987; Winter/Mikos 2001). Fiske rahmt seine Analysen popkultureller Texte in ein ebenfalls auf Foucault aufbauendes Diskurskonzept ein, das Sprache als zentrale symbolische Ressource des Mediendiskurses hervorhebt. Seine Verständnis von der Äußerung als „Verwirklichung des linguistischen Potenzials in einer historischen sozialen Beziehung“ (Fiske 2001b: 204) ist durchaus vereinbar mit der in der CDA üblichen Kurzdefinition von Diskurs als Sprache in ihrem sozialen Kontext (Fairclough 1995; Titscher et al. 1998; Wodak et al. 1998). Als Pendant zu Faircloughs Interdiskursivität zeigt Fiskes Analyse von Madonna-Videoclips (2001a), wie sie Spuren verschiedener Diskurse enthalten und zur Reproduktion, aber auch zum Wandel dieser Diskurse beitragen.
Cultural Studies und Sprachwissenschaft
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3 Theoretische Impulse und empirische Ergebnisse Maas‘ Hoffnung, dass die Cultural Studies „als Angelpunkt“ dienen könnten, „um Konstitutionsfragen sprachwissenschaftlicher Forschung produktiv zu halten“ (Maas 1980: 118), ist heute zum Teil eingelöst worden. Bereits die Germanistik der 1980er Jahre hat den Bricolage-Begriff auf die Analyse jugendlicher Sprechstile übertragen. Die britische Soziolinguistik der 1990er Jahre greift die Diskussion um kulturelle Globalisierung und neue Ethnizitäten für die Analyse von Sprachkontakt in multiethnischen Gemeinschaften auf. Die Spannung zwischen globaler und lokaler Popkultur wird an sprachlichen Aspekten der Hip-Hop-Kultur untersucht, und die kommunikative Aneignung von Fernsehtexten ist zum Gegenstand der Gesprächsforschung geworden.
3.1
Bricolage und jugendliche Sprechstile
Ursprünglich von der strukturellen Anthropologie von Claude Levi-Strauss übernommen, geht Bricolage in die Begrifflichkeit der britischen Subkulturforschung der 1970er Jahre ein, um Prozesse der Herausbildung eines subkulturellen Stils zu erfassen. Der Bricoleur nimmt Objekte aller Art aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang heraus und integriert sie in einen neuen Kontext, wo sie Homologien zu anderen Objekten bilden und einen neuen Sinn gewinnen (Clarke et al. 1979; Hebdidge 1979). In die germanistische Diskussion über Jugendsprache führt Neuland (1987) Bricolage als Alternative ein, um eindimensionalen Auffassungen von Jugendsprache (z.B. als Liste lexikalischer Besonderheiten) zu entkommen und die Verdichtung verschiedener Ressourcen zu gruppenspezifischen Sprech- bzw. Schreibstilen zu begreifen. War Sprache in den CCCS-Studien nur eines der „Materialien, die der Gruppe zur Konstruktion subkultureller Identitäten zur Verfügung stehen“ (Clarke et al. 1979: 104), wird sie nun als zentrale stilbildende Ressource in den Mittelpunkt gerückt. Neulands Beispiele „für eine schöpferische Sprachstil-Bastelei im Sinne einer Selektion von Sprachelementen [, die] unter Zugewinn von Bedeutungsdimensionen transformiert und rekontextualisiert werden“ (1987: 72) sind jedoch aus dem Zusammenhang losgelöste Wörter und Wendungen. Erst Schlobinski (1989) und Schlobinski/Kohl/Ludewigt (1993) gelingt es zu zeigen, wie die „SprachstilBastelei“ im Gespräch Jugendlicher funktioniert. Dabei werden mediale Ressourcen (Werbeslogans, Songzitate, Sprüche aus Fernsehserien usw.) ausgewählt, teilweise abgewandelt, miteinander kombiniert und in die laufenden Gespräche eingebunden. Die Art ihrer interaktiven Verarbeitung lässt Rückschlüsse auf die kulturelle Identität der Jugendlichen zu. Schlobinski (1989) zeigt dies am Beispiel einer Clique von Punks, die das Handlungsmuster eines Fernsehquiz mit obszönen Inhalten ausfüllt.
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Jannis Androutsopoulos
Durch die ironische Verfremdung der Show grenzt sich die Clique von der kleinbürgerlichen Fernsehkultur ab. Dieser verfremdeten Zitation stellt Schlobinski die mimetische Zitation entgegen, bei der positiv gewertete Ressourcen als Zeichen der Gruppenidentität reproduziert werden – beispielsweise gemeinsam nachgesungene Lieblingssongs. In der sprachlichen Bricolage wird also Gruppenidentität durch die Auswahl der positiv (mimetisch) und negativ (verfremdend) verarbeiteten Medienressourcen indexikalisch konstruiert.
3.2
Neue Ethnizitäten und „language crossing“
In seinen einflussreichen Schriften über kulturelle Identität sieht Stuart Hall (1991a, 1991b, 1994) drei mögliche Konsequenzen der Globalisierung für kulturelle Identitäten: die Erosion nationaler Identitäten, ihre Stärkung als Widerstand gegen die Globalisierung, und die Entstehung neuer Identitäten der Hybridität (1994: 209). Hall zufolge eröffnet die Destabilisierung nationaler Identitäten in der Spätmoderne einen Raum für die Entfaltung neuer Ethnizitäten, die anti-essenzialistisch, pluralistisch, performativ, flüssig und hybrid sind. Wie sich kulturelle Hybridität in der Alltagskommunikation manifestieren kann, hat als erster Hewitt an multiethnischen Gemeinschaften in England aufgezeigt (Hewitt 1986). Dort sind „black speech“ und weitere Aspekte afro-diasporischer Kultur attraktive Ressourcen für Jugendliche aus anderem ethnischen Hintergrund. In der Nachfolge Hewitts hat Rampton Halls Ideen in die soziolinguistische Diskussion um Sprache und Ethnizität eingebracht mit dem Ziel, statische Zuschreibungen ethnischer Zugehörigkeit zu überwinden und in der verbalen Interaktion zu untersuchen, wie „participants might themselves see ethnicity as something produced rather than simply given“ (Rampton 1995b: 487). Hinweise auf die interaktive Produktion hybrider Ethnizitäten bietet die Ausprägung von Sprachkontakt, die Rampton „language crossing“ genannt hat (Rampton 1995a, 1995b, 1997). Er entwickelte das Konzept im Rahmen einer Ethnografie von ethnisch gemischten Jugendgruppen, die sich Fragmente aus den lokal verfügbaren Sprachen (afro-karibischem Kreol, Punjabi und stilisiertem „Asian English“) aneignen. Crossing ist eine fragmentarische, unnormierte und unerwartbare Sprachpraxis, bei der Sprecher in ihnen „fremde“ sprachliche Territorien hineinwandern; das sprachliche Überqueren einer ethnisch-sozialen Grenze ist das zu vermittelnde Bild. Ramptons Methodologie kombiniert Ethnografie und Gesprächsanalyse und geht von vier Dimensionen soziokultureller Organisation aus (Rampton 1995b: 489): •
Sprache als zentrales Element sozialen Handelns,
•
Interaktionsordnung,
•
Institutionelle Organisation von Kommunikation (Aktivitätstypen, soziale Rollen, Normen),
Cultural Studies und Sprachwissenschaft •
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Gesellschaftliches Wissen über ethnische Gruppen und ihre Beziehungen zueinander.
In den von Rampton untersuchten Peergroups ist Crossing ein Teil der lokalen Kommunikationskultur, gehört aber nicht der normalen Umgangssprache an, sondern bildet eine spektakuläre Abweichung vom habituellen, unauffälligen Sprachgebrauch. Crossing setzt nur minimale Kompetenz der fremden Kodes voraus: einzelne Wörter und Wendungen, Ausrufe, Beschimpfungen oder Akzentnachahmungen reichen aus, um (stereotypische) Werte und Eigenschaften der eigentlichen „Inhaber“ dieser Kodes zu vergegenwärtigen. So konnotiert das afro-karibische Kreol Erfahrung in der jugendlichen Straßenkultur und eine rebellische Haltung gegenüber Autoritäten, während das stilisierte „Asian English“ eine eingeschränkte kulturelle Kompetenz oder eine Herrschaftsbeziehung zwischen (dominanten) Weißen und (untergeordneten) Asiaten evozieren kann. Die Jugendlichen vergegenwärtigen diese Assoziationen in Abhängigkeit von Situation und Gesprächspartner. Crossing erscheint typischerweise in Momenten, in denen normale Annahmen und Regeln sozialer Ordnung aufgelockert oder aufgehoben sind – Übergangsphasen ohne klar definierte Rollen, Spiele und Performances, rituelle Beschimpfungen. Allerdings werden die angeeigneten Kodes ihren legitimen Trägern gegenüber nur eingeschränkt verwendet. In den spielerischen mehrsprachigen Interaktionen der ethnisch gemischten Jugendgruppen sieht Rampton ein Emblem für interethnische Annäherungen, die herkömmliche Diskriminierungen spielerisch überschreiten, und letztlich eine Form von Antirassismus darstellen: „Multilingual interaction emerges as an arena in which participants could generate a sense of the historic emergence of new alliances, cross-cutting kinship descent, reworking inherited memberships“ (Rampton 1995b: 487).
Die Diskussion in Anschluss an Rampton hat ähnliche Praktiken in verschiedenen Sprachgemeinschaften aufgedeckt (vgl. Rampton 1999, Androutsopoulos 2003a). Die Rolle der Massenmedien als Ressourcen für Crossing zeigt die Fallstudie eines weißen New Yorker Jugendlichen, der Schallplatten, Videoclips und Filme als Quellen für die Konstruktion seines Hip-Hop-Sprechstils benutzt (Cutler 1999). Dass die sprachliche Konstruktion hybrider Ethnizität nicht nur auf Crossing beschränkt ist, zeigt Harris (2003), der Hybridität in der Sprache von Punjabi-Jugendlichen in London an zwei Merkmalen festmacht: das t-Glottaling7, ein sich verbreitendes urbanes Nonstandardmuster, und die lexikalischen Formen cousin-brother/cousin-sister, wodurch die Jugendlichen versuchen, die in den Sprachen Indiens vorhandene Geschlechtsmarkierung des Ausdrucks für ‚Cousin/Cousine‘ auch im Englischen herzustellen. Harris bezeichnet diese Merkmale mit Rückgriff auf Raymond Williams als „emergent“ bzw. „residual“ und sieht in ihnen zwei mikroskopische Momente der Verbindung des Neuen und des Alten in der Entstehung einer neuen Ethnizität.
246
3.3
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Kulturelle Globalisierung und lokaler Hip-Hop
Die Cultural Studies-Diskussion um kulturelle Globalisierung setzt der „Vorstellung einer vollständigen kulturellen Homogenisierung“ (Winter 2001a: 289) eine „neue Artikulation zwischen dem Lokalen und dem Globalen“ (Hall 1994: 213) entgegen. Zentral für sie ist die Art und Weise, in der global vermittelte populäre Kultur in lokale Lebenswelten angeeignet und dort mit Bedeutung aufgeladen wird. Die Rezeption „importierter“ Popkultur kann ein Vorbild für Eigenproduktionen bilden, in denen Erfahrungen und Probleme der Beteiligten verarbeitet werden (vgl. Winter 2001a: 296f.). Die Rekontextualisierung globaler Kultur – eine „active cultural selection and synthesis drawing from the familiar and the new“ (Lull 1995) – setzt die hegemoniale Stellung der US-amerikanischen Kulturindustrie nicht zwingend außer Kraft. Der Fokus liegt jedoch auf der kreativen und reflektierten Leistung der Beteiligten, die massenmediale Kultur mit lokalen kulturellen Ressourcen kombinieren. Ein Musterfall für die „Spannung zwischen dem Lokalen und dem Globalen“ (Hall 1994: 212) ist die Hip-Hop-Kultur. Praktiken der kulturellen Lokalisierung finden sich auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Zirkulation von Hip-Hop: Rapsongs und Videoclips (Primärtexte), Szenemagazine und -werbung (Sekundärtexte), Gespräche und Eigenproduktionen der Fans (Tertiärtexte).8 So greift der lokalisierte Rap9 den afro-amerikanisch geprägten thematischen Kanon der Gattung auf – Sozialprotest und Erzählung von Alltagserfahrungen, Sex- und Kriminalitätsdiskurse, hyperbolische Selbstdarstellung (boasting) und Erniedrigung eines (fiktiven) Gegners (dissing) – und füllt ihn durch lokale Inhalte aus. Er passt zentrale rhetorische Mittel – Metaphern und bildhafte Vergleiche, Wortspiele und Reimstrukturen – an lokale Wissensbestände und phonotaktische Regeln der jeweiligen Muttersprache an. Er bewahrt die umgangssprachliche Orientierung des Rapsongs, nutzt Regionalsprachen und Dialekte, um die Verortung der Künstler in der nationalen Szene zu kontextualisieren, und fügt Elemente des Black English hinzu, die im Sinne von „language crossing“ als Mittel der Selbststilisierung verstanden werden können. Freilich ist die sprachstilistische Bricolage der Rapper nicht losgelöst von lokalen Marktzwängen (Scholz 2003). Die Feststellung, „wie unterschiedlich das globale Modell der Gattung Rap in verschiedenen lokalen Zielkulturen wirkt“ (Scholz 2003: 160), ist sicherlich ein gutes Argument gegen den Vorwurf einer globalen Homogenisierung von Jugendkultur. Aneignung und Hybridität in der Interaktion von Hip-Hop-Fans beschreiben die Untersuchungen von Bierbach/Birken-Silverman (2002). Anhand von Interviews und Gesprächsaufnahmen mit einer Breakdance-Clique italienischstämmiger Jugendlicher wird herausgearbeitet, wie Hip-Hop mit anderen Aspekten der sozialen Realität der Jugendlichen – Verwurzelung im Mannheimer Stadtteil, ethnische Herkunft aus dem sizilianischen Dorf – kombiniert wird. In der Artikulation ihrer Grup-
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penidentität „schöpfen die Jugendlichen aus Wissensbeständen, die in hohem Maße medienvermittelt sind und in unserem Fall auf spezifische – und kreative – Weise mit Elementen aus der ‚Heimatkultur‘ der Migranten vermischt werden“ (Bierbach/Birken-Silvermann 2002: 192). Die Entwicklung eines gruppenspezifischen „Zwischenraums“ wird programmatisch signalisiert durch die Umbenennung von Personen und Stadtteilen (so wird die Weststadt zur West Coast). Elemente des Gruppenstils sind die Anspielungen auf gemeinsames Hip-Hop-Wissen sowie die kulturtypischen rituellen Handlungen des Boasting und Dissing, die durch Rückgriff auf die Mehrsprachigkeit der Gruppe ausgestaltet werden. Deutsch, Italienisch, Sizilianisch und Englisch tragen dabei sehr unterschiedliche symbolische Werte. Im gegenwärtig wichtigsten Medium der Fan-Produktivität, dem Internet, reichen die Praktiken der Hip-Hopper von der Teilnahme an dezidierten Chats und Foren über die Erstellung einer privaten Band-, Künstler- oder Fan-Homepage bis zum Mitwirken an den Online-Magazinen und Portalen der Szene (Androutsopoulos 2003b). Wie „globale“ Stilmittel in die Schriftlichkeit der Fans einfließen, zeigt exemplarisch der Einsatz von Black English auf der Homepage einer 15-jährigen Schülerin (Androutsopoulos 2003c). Sie eignet sich Hip-Hop typische Wörter und Wendungen (fresh, mix up that shit, Artikelformen tha und da, Endung -z wie in newz, Buchstabenersetzungen wie in $h!T für ‚shit‘) und rekontextualisiert sie an emblematischen Stellen ihrer (ansonsten auf Deutsch gehaltenen) Homepage: Navigationsrubriken (Tha Mix), Seitentitel (Welcome 2 tha World of A s p A), Überschriften im Text (Geetingz goes 2…). In diesen und anderen Online-Texten auftauchende Schreibformen wie Pennerz oder Brudah, die umgangssprachlichen Wortschatz durch eine für Hip-Hop typische Schreibweise verfremden, sind symptomatisch für den hybriden Duktus des Hip-Hop-Diskurses in Deutschland. Der Einwand, dass dadurch die Hegemonie der US-amerikanischen Kulturindustrie reproduziert werde, ist für diese Autorin kaum relevant, da sie ihre Ressourcen aus ‚exklusiven‘ jugendkulturellen Quellen bezieht (etwa Platten von Wu-Tang Clan) und durch die Rekontextualisierung auf die Kenntnis eben dieser Quellen verweist.
3.4
Medienaneignung im Gespräch
Das Interesse der Cultural Studies für Medienaneignung eröffnet aus sprachwissenschaftlicher Sicht die Frage nach der interaktiven Verarbeitung von Medientexten in der Lebenswelt der Rezipienten. Zuschauerkommunikation wird seit Holly/Püschel (1993) und Keppler (1994) gesprächsanalytisch untersucht. Zentral ist dabei die Unterscheidung zwischen primären (rezeptionsbegleitenden) und sekundären (nachträglichen) Medienthematisierungen. In der Analyse von primären Thematisierungen hat sich eine Unterscheidung zwischen formalen und funktionalen Aspekten des Zuschauergesprächs etabliert.10 Das Fernseh begleitende Sprechen umfasst u.a. organisierende, wahrnehmungsbezogene, expressive, informationsbezogene, bewertende und interpretierende Sprech-
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handlungen. Als „empraktisches“, d.h. in eine andere Aktivität eingebundenes Sprechen weist es typische formale Merkmale wie starke Fragmentierung („Häppchenkommunikation“), Kontextabhängigkeit (durch ständige Verweise auf den Fernsehtext) und die Bildung von „Gesprächsinseln“ zwischen längeren Pausen auf. Typische Funktionen des Zuschauergesprächs sind die Verständnissicherung und Interpretation des Fernsehtextes, die Vermittlung von Fernseh- und Alltagswelt sowie die Vergemeinschaftung der Zuschauer (Hepp 1997, Holly et al. 2001, Klemm 2000). Die Handlungen und kommunikativen Funktionen des Fernseh-begleitenden Sprechens unterscheiden sich nach der rezipierten Gattung sowie nach Zuschauermilieus. Verschiedene Zuschauergruppen entwickeln typische Rezeptionsstile (z.B. im Hinblick auf die situative Rahmung des Fernsehens und den Grad ihrer Aufmerksamkeit auf das Programm) und typische Gesprächsstile (z.B. im Hinblick auf die Sprechhandlungen und die Länge der Gesprächsinseln). Bei der sekundären Medienthematisierung umfasst die Begegnung von Rezipient und Medientext nicht nur Gespräche über Medieninhalte (Keppler 1994), sondern auch die Aneignung sprachlicher Elemente aus den Medientexten. In ihrer Ethnografie der Fernsehrezeption zeigt Gillespie (1995: 178), wie Punjabi-Jugendliche in London Sprachmittel aus Fernsehserien und Werbespots in ihre Alltagssprache übernehmen. Nach Branner (2002) bilden solche Medienzitate eine eigene Kategorie der sekundären Medienthematisierung. Im Gegensatz zu Medienverweisen (Keppler 1994) sind Medienzitate nicht immer thematisch in das laufende Gespräch eingebunden, und sie werden nicht immer von einem einzigen Sprecher geäußert, sondern oft in der Gruppe gemeinsam konstruiert. Branner (2002) arbeitet die Form und Funktion von Werbezitaten in einer Mädchengruppe anhand von mehreren Analysekriterien heraus. Der Stimulus (das kontextuell auslösende Moment für das Werbezitat) kann sowohl gesprächsextern (z.B. am Werbeplakat vorbeifahren) als auch gesprächsintern (z.B. Werbeslogan als Wortspiel zum aktuellen Thema) sein. Beim Verhältnis von Originaltext und Zitat sind verschiedene Formen der Abwandlung zu verzeichnen, vor allem lexikalischer und prosodischer Art. Durch lexikalische Substitution bei gleich bleibender syntaktischer Struktur (z.B. fett together nach come together) entstehen kreative Sprüche, welche die augenblickliche Tätigkeit der Mädchen oder Aspekte des Gruppenwissens aufgreifen und letztlich Beziehungskommunikation unter den Freundinnen leisten (Branner 2002: 348). Werbezitate können von einer Sprecherin angeführt oder gemeinsam konstruiert. Auf der Gesprächsebene sind sie beliebte Pausenfüller und Mittel der Gesprächsorganisation, auf der sozialen Beziehungsebene eine Ressource für die Steigerung des Gruppenzusammenhalts. Die Medienaneignungspraxis dieser Mädchengruppe ist kreativ, aber nicht kritisch oder subversiv. Weder das Zitieren von Werbeslogans noch der Inhalt der Zitate werden negativ bewertet (Branner 2002: 354). Dies unterscheidet sie von anderen untersuchten Jugendgruppen, deren Aneignung von Medienzitaten starke Parodiezüge aufweist (z.B. Schlobinski 1989). Gillespie (1995) dokumentiert, wie der Name einer Seifenopern-Figur im alltäglichen Sprachgebrauch der jugendlichen Zuschauer als Metapher für eine negativ bewertete soziale Kategorie angeeignet
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wird. Einen ganz ähnlichen Fall beschreibt Spreckels (2004), die auf ethnografischgesprächsanalytischer Basis das soziale Kategoriensystem einer Mädchengruppe untersucht. Die Gruppe benutzt den Eigennamen Britney (gemeint ist der Popstar Britney Spears) als Bezeichnung für einen bestimmten Mädchentypus der lokalen Lebenswelt. Die teils äußerlichen und teils verhaltensbezogenen kategoriengebundenen Eigenschaften der Britneys vermischen Züge des Popstars und der lokalen Lebenswelt. Den „lokalen“ Britneys wird Coolness und Individualität aberkannt, dementsprechend werden sie oft im Plural bzw. mit Quantoren referiert (die Britneys; alle Britneys; die ganzen Britneys; bei den nächsten Britneys usw.). Dies ist jedoch nicht als „Widerstand“ gegen die kommerzielle Popkultur schlechthin zu verstehen. Die globale Popfigur bietet im lokalen Kontext eine Abgrenzungskategorie an, wodurch die Mädchen letztlich an ihrer eigenen Gruppenidentität arbeiten.
4 Schlussbemerkung Weitgehend unbemerkt von der kulturanalytischen Diskussion haben die Ideen der Cultural Studies ihren Weg in die Soziolinguistik gefunden und dort Schule gemacht. Besonders die gegenwärtige Diskussion um „language crossing“ und um Medienaneignung im Gespräch lassen das Potenzial der Cultural Studies erkennen, sich neben der Soziologie bzw. Kommunikations- und Medienwissenschaft als primäre Bezugsdisziplin der sozial orientierten Sprachwissenschaft zu etablieren. Unvermeidlich scheint dabei eine gewisse Fokusverschiebung von der Kritik des Verhältnisses von Kultur, Medien und Macht hin zu den sprachlichen und interaktiven Details des Diskurses in bzw. um Medien. Im interdisziplinären Austausch liegt die Stärke der Sprachwissenschaft nicht darin, gesellschaftliche Wandelprozesse theoretisch zu verorten, sondern vielmehr darin, den Niederschlag dieser Wandelprozesse in den Texturen unseres kommunikativen Alltags und unserer Medienlandschaft herauszuarbeiten.11 Andererseits sind es eben diese Details, die einen Erkenntnisgewinn für die kulturanalytische Theoriebildung darstellen können, indem sie Hybridisierung, Bricolage, Medienaneignung und kulturelle Lokalisierung als sprachliche Prozesse aufzeigen, was wiederum erst auf Grund einer spezialisierten Text- und gesprächsanalytischen Methodologie ermöglicht wird. Ob und wie das sprachwissenschaftliche Potenzial in die methodologische Bricolage der Cultural Studies eingebracht wird, hängt jedoch letztlich vom wissenschaftlichen Hintergrund der Kulturanalytiker ab, die – hier zu Lande wie im englischsprachigen Raum – nur selten eine sprachwissenschaftliche Ausbildung hinter sich haben.
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Anmerkungen 1
So kommt die Einleitung zu einem aktuellen Sammelband über die Konsequenzen von Hybridität und Migration für die Sprachwissenschaft ohne Bezug auf die Cultural Studies aus (Erfurt 2003). Eine frühe Ausnahme ist Maas (1980), der die britischen Cultural Studies der sprachwissenschaftlichen Fachwelt vorstellt, ohne jedoch konkrete Anschlussmöglichkeiten nachzuzeichnen. 2 „Für ein spezifisches Forschungsprojekt werden aus verschiedenen wissenschaftlichen Feldern Theorien und Methoden nach pragmatischen und strategischen Gesichtspunkten ausgewählt, kombiniert und angewendet“ (Winter 2001b: 47). 3 „Da sich die Gattungsanalyse auf verfestigte Muster konzentriert, hebt sie vor allem jene Merkmale hervor, die rekurrent auftauchen und damit das Gerüst eines Musters bilden, für das wir den Begriff der Struktur verwenden. Struktur in diesem Sinne bedeutet also […] lediglich eine von den Analytikern gebildete Kategorie, um diejenigen Elemente zu bezeichnen, die von den Handelnden typischerweise produziert und reproduziert werden“ (Knoblauch/Raab 2003: 142). 4 Zur Textsortenanalyse vgl. Adamzik 2000; Brinker et al. 2000; Klein/Fix/Habscheid 2001; zur Gattungsanalyse vgl. Günthner 1995; Knoblauch/Luckmann 2004; Knoblauch/Raab 2003. 5 Einführende Übersichten bieten Titscher et al. 1998 und Wodak/Meyer 2001. Zum Verhältnis von Diskursanalyse und Cultural Studies vgl. Barker/Galasinski 2001; Hornscheidt 2003; Threadgold 2003. 6 Vgl. van Dijk 1991; Fairclough 1995; Jäger 1999; Machin/Thornborrow 2003; Wodak et al. 1998. 7 Ersetzung von /t/ durch einen „glottal stop“ (Glottisschlag, Knacklaut) in Wörtern wie butter und water. 8 Vgl. Androutsopoulos 2003c in Anlehnung an Fiske 1987. 9 Zur Lokalisierung von Rap vgl. Androutsopoulos/Scholz 2002; Scholz 2003 ;und die Beiträge in Androutsopoulos 2003 und Kimminich 2003. 10 Vgl. im Folgenden Hepp 1997; Holly/Püschel 1993; Holly/Püschel/Bergmann 2001; Klemm 2000. 11 Rampton sieht den Ertrag der Soziolinguistik in der Erkundung der „detailed contingencies that shape and constrain contact, mixing and hybridisation as situated processes“ (1997: 75).
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Cultural Studies und avancierter Musikjournalismus in Deutschland Ralf Hinz
1 Einleitung Wer populäre Kultur anbietet, möchte möglichst gut über die Vorlieben der Nachfragenden informiert sein, die man durch geeignete Produkte, Programme und Ereignisse zu bedienen versucht. Es sind natürlich dennoch nicht die Konsumenten, die das Angebot bestimmen, aber die Anbieter dürften sehr daran interessiert sein, möglichst umfassende Erkenntnisse über das unbekannte Wesen ‚Konsument‘ zu sammeln, um dann dieses Wissen bei der Vermarktung ihrer Ware zu instrumentalisieren. Vorreiter einer solchen unumwunden an den kommerziellen Interessen der Anbieter orientierten Erforschung des Publikumsgeschmacks waren bekanntlich einschlägige Meinungsforschungsinstitute in den USA. Dort hat man sich allerdings auch schon recht früh unabhängig von kommerziellen Interessen und ohne die in Europa dominanten bildungsbürgerlichen Vorbehalte dem Phänomen ‚populäre Kultur‘ zugewandt. So verweist David Riesman bereits 1950 darauf, dass von einem vereinheitlichten Publikum der populären Kultur keine Rede sein könne, vielmehr davon auszugehen sei, dass das Publikum in eine Vielzahl von Untergruppen mit unterschiedlichen Interessen und Vorlieben zerfalle.1 An diese Einsicht knüpfen dann bekanntlich die Cultural Studies an, die in den USA seit Ende der 1980er Jahre einen rasanten Aufschwung nehmen. Demgegenüber fristet ein ernsthaftes, wissenschaftliches und nicht unmittelbar kommerziell ausgerichtetes Interesse an populärer Kultur in Deutschland, das sich nicht gleich als jugend- oder kultursoziologisches auszuweisen bemüht, immer noch ein Schattendasein. Zwar hat der erfolgreiche Aufstieg der Cultural Studies in den USA mittlerweile hier zu Lande größere Aufmerksamkeit im akademischen Feld gefunden,2 doch bislang hat sich wenig an der Situation geändert, dass nur eingeschränkte Möglichkeiten bestehen, sich an bundesdeutschen Universitäten und Hochschulen dem Studium populärer Musik, populärer Fernsehserien und anderer medialer Erzeugnisse zu widmen. Allerdings machen in den Geisteswissenschaften seit einigen Jahren vermehrt Bestrebungen auf sich aufmerksam, die auf eine kulturwissenschaftliche Erneuerung der philologischen Disziplinen abzielen, und auch eine breitere Rezeption der Cultural Studies scheint in Gang zu kommen. Während sich also for-
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schungspraktische Konsequenzen, die eine kontinuierliche Beschäftigung mit populärer Kultur in Aussicht stellen, in den letzten Jahren bestenfalls zaghaft andeuten, lässt sich hingegen in der Musikzeitschrift Spex. Das Magazin für Popkultur3 schon seit den frühen 1990er Jahren ein starkes, wenn auch diskontinuierliches Interesse an den anglo-amerikanischen Cultural Studies feststellen: Wichtige Publikationen der Cultural Studies und zentrale theoretische Versatzstücke, die in diesem akademischen Feld immer wieder bemüht werden, sind dort schon deutlich vor dem einsetzenden akademischen Interesse am Thema diskutiert und auf aktuelle musik- und pop-journalistische Gegenstände appliziert worden.4 Im folgenden Beitrag wird es darum gehen, einige Überlegungen zum hiesigen Verhältnis zwischen avanciertem Musikjournalismus5 und Cultural Studies anzustellen. Dazu scheint es zunächst sinnvoll zu sein, die spezifische Betrachtungsweise von Popkultur, die die Zeitschrift Spex auszeichnet, genauer zu untersuchen. Dann gilt es, einige Stationen der Rezeption der Cultural Studies in Spex exemplarisch zu vergegenwärtigen. Abschließend sollen sowohl Berührungspunkte als auch Differenzen in der Wahrnehmung und Bewertung populärer Kultur, wie sie in den Cultural Studies und in einem journalistischen Medium wie Spex zu beobachten sind, diskutiert werden.6
2 Grundzüge des Pop-Diskurses in Spex Im Mittelpunkt des Interesses von Spex als Musikzeitschrift steht natürlich das Geschehen in der Popmusik; man richtet sich mit mehr oder weniger intensiver und kontinuierlicher Aufmerksamkeit auf die vielfältigen musikalischen Stilrichtungen, die sich in den letzten zwanzig Jahren seit dem Einschnitt durch Punk und die Folgen herausgebildet haben. Das journalistische Rückgrat der Zeitschrift ist eine personell fluktuierende Gruppe von jungen Autorinnen und Autoren, zu deren Gemeinsamkeiten eine intensive popkulturelle Sozialisation, ästhetische und intellektuelle Schulung an Kunstakademien und Universitäten und ein wie auch immer diffuses linksradikales politisches Kredo gehören. Das primäre sinnliche Vergnügen an der jeweiligen Musik ist Ausgangspunkt der journalistischen Arbeit in Spex. Doch erst die wenig gelehrte, eher handstreichartige Aneignung avancierten theoretischen Instrumentariums und die idiosynkratischen Formen der Selbsterschaffung, welche sinnliche Affizierung mit gewagten Abgrenzungen, apodiktischen Setzungen und/oder mit rätselhaften, seltsamen, voraussetzungsvollen, raffiniert witzigen Anspielungen kombinieren,7 machen den spezifischen Duktus dieser Zeitschrift aus, deren Auseinandersetzung mit den vielfältigen Produkten populärer Kultur zudem den freilich prekären Vorteil einer schnellen Reaktion auf die oftmals flüchtigen Konjunkturen der Popkultur für sich reklamieren kann.8 Die für die Produktion von Textbedeutungen stets konstitutive Bildung von Kontexten wird in Spex exzessiv betrieben, so dass sich etwa das scheinbar schlichte Geschäft einer Plattenbesprechung zu einem Geflecht aus Referenzen und Abgren-
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zungen auswächst, die auf so verschiedene Lebenspraxen wie Politik, Theorie/Wissenschaft, Medien rekurrieren. Das Bestreben richtet sich darauf, die jeweils verhandelte Musik als wie auch immer aufschlussreiches Statement in einer spezifischen Situation, als sinnliches Korrelat einer Haltung kenntlich zu machen. Anders als in der philologischen Wissenschaft, deren Geschäft darin besteht, mehr oder weniger kanonisierte, meist als bedeutungsvoll bereits vorausgesetzte Texte in Kontexte zu überführen, auf dass sich weitere Bedeutungsschichten ergeben, wobei die Unabschließbarkeit dieses Prozesses gern mitreflektiert wird, betreibt man Kontextualisierung im Feld des avancierten Pop-Journalismus. Zu aussagekräftigen, verbindlichen Urteilen über popkulturelle Gegenstände möchte man dort nicht erst im Zuge zäher Forschungsarbeit gelangen; vielmehr gilt es, eine ausschweifende rhetorische und ästhetische Einbildungskraft zu mobilisieren, die sich dem Zeitdruck des schnellen Wechsels der Pop-Ereignisse zugleich ausgesetzt sieht und ihn im präsentistischen Bewusstsein der Pop-Avantgarde gern annimmt.9 Zwar ist die Publikumsresonanz, die der Zeitschrift zuteil wurde, in den letzten Jahren eher konstant geblieben,10 doch seit den späten 1980er Jahren rückte Spex zu einem Organ auf, dem der journalistische Diskurs über Popmusik seine, wenn auch oft mit polemischer Spitze vorgetragene Reverenz erweist. Im Spiegel wird es in den Artikeln über aktuelle Pop-Acts notorisch als „Fachblatt“ apostrophiert, und ebenso in der popkulturell mittlerweile etwas aufgeschlosseneren FAZ interessiert man sich dafür, was in jüngster Zeit „dem führenden Organ für subkulturelle Geschmacksbildung die Sprache […] verschlagen“ habe.11 In eher der Fanzine-Welt zurechenbaren Publikationen stößt man sich immer wieder am Ehrgeiz des Magazins, eine überlegene diskursive Position im Feld konkurrierender Interpretation und Bewertung von Popmusik einnehmen zu wollen.
3 Zur Rezeption der Cultural Studies in Spex Die Wahrnehmung der Cultural Studies in Spex vollzieht sich zunächst – wie sollte es bei einem akademischen Gegenstand anders sein – über die Rezension von Buchpublikationen aus diesem Feld. Bücher von S.Frith/A. Goodwin und S. Redhead, die sich mit avancierten theoretischen Mitteln der Analyse von Pop- und Subkulturen widmen, werden begeistert („hervorragendes neues Buch“) (Spex 9/90: 71f.) bzw. wohlwollend (bessere „Bibliografien“ als „Diskografien“) (Spex 3/91: 71) aufgenommen. Bei der Besprechung von „On Record“ (Frith/Goodwin 1990) wird bereits deutlich, dass neben der Freude über eine sachkundig zusammengestellte Sammlung von Aufsätzen über Popmusik, die sich mit großer Ernsthaftigkeit dem Gegenstand widmen, besondere Aufmerksamkeit jenen Beiträgen gilt, die mit Mitteln poststrukturalistischer Theorie die Geschlechterverhältnisse in der Popmusik zu analysieren versuchen. So wird in der sehr knappen geratenen Kritik aus einer „lacanistische(n) Analyse zum Thema ‚Girlism‘“ (Spex 9/90: 72) wörtlich zitiert.
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Unter dem Titel „Counter-Culture in the original language“ wird eine ganze Reihe einschlägiger Veröffentlichungen zum Thema vorgestellt: Darunter finden sich zwei für die Cultural Studies-Diskussion der 1990er Jahre wichtige Bücher von E. Ann Kaplan (1987) und Andrew Ross (1989). Klage führt man über das mangelnde Interesse hier zu Lande an diesen und ähnlichen Publikationen: „Die besten Bücher über Pop-, Underground- und Gegenkultur erscheinen natürlich immer noch im Westen und werden nie übersetzt.“12. Im weiteren Verlauf der 1990er Jahre finden sich in Spex immer wieder Referenzen auf den Cultural Studies-Komplex. So wird subkulturelle Fernsehaneignung thematisiert (Spex 10/93: 6), man betreibt „Studies in TV“ (Spex 5/94: 30-37), räumt dem Stichwort „Cultural Studies“ Platz im Rückblick auf das Jahr 1994 ein (Spex 1/95: 34), weist regelmäßig auf Veranstaltungen hin, in denen typische Cultural Studies-Themen verhandelt werden und widmet sich dem Thema schließlich ausführlich in Sonderteilen in zwei Heften aus dem Sommer 1995 (Spex 7/95: 48-55; 8/95: 46-51) und in einem Update aus dem Jahre 1997 (Spex 6/97: 58-62). Nimmt man noch den Artikel über Ross hinzu (Spex 11/96: 48-50), dann lässt sich ein zentraler Aspekt der Cultural Studies-Rezeption in Spex so resümieren: Mit Dick Hebdige, Simon Frith und eben Andrew Ross stellt man wichtige Exponenten der Cultural Studies vor, die mit ihren Publikationen Maßstäbe in der Behandlung von Pop- und Subkulturen geleistet haben (vgl. Hinz 1998: Kap. 4); dabei wird besonders im Gespräch mit Hebdige der biografische und institutionelle Hintergrund akademischer Arbeit im Feld der Cultural Studies deutlich. Freilich kann man im Rahmen einer Musikzeitschrift keine eingehende Auseinandersetzung mit der genauen Argumentation der genannten Autoren in ihren wichtigsten Publikationen erwarten. Die erwähnten Artikel sind vielmehr bestrebt, auf ansprechende Weise die Aufmerksamkeit des Lesepublikums auf einen Modus der Beschäftigung mit populärer Kultur zu lenken, der hier zu Lande immer noch mit dem Makel des Illegitimen, Unseriösen, Unwissenschaftlichen behaftet ist. Der Artikel „Kulturwissenschaften zu Cultural Studies“ (Holert 1995b) beschäftigt sich mit den Möglichkeiten, Cultural Studies an bundesdeutschen Hochschulen als Studienfach zu belegen. Es wird deutlich, dass trotz des Vorhandenseins verschiedener kulturwissenschaftlich orientierter Studiengänge im deutschsprachigen Raum oft nur eine vage Ähnlichkeit zu dem zu erkennen ist, was in den anglo-amerikanischen Ländern zum Kernbereich der ‚Cultural Studies‘ zählt: nämlich „eine Erörterung von Unterhaltungstechnologien oder Populärkultur in Hinsicht auf Chancen der Resistenz oder Sichtbarmachung von Minderheiteninteressen“. In dieser Situation kommt es für die an den genannten Themen interessierten Studierenden nicht nur darauf an, ob sich ein geeignetes Lehrpersonal an den entsprechenden Fakultäten geistes- und sozialwissenschaftlicher Provenienz befindet, wie Holert (1995b: 50) zu Recht vermerkt. Viel hängt auch davon ab, auf welche Vorkenntnisse die Studierenden in den entsprechenden Veranstaltungen bereits zurückgreifen können und welche wissenschaftlichen und politischen Interessen sie an den jeweiligen
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Hochschulen und in den einzelnen Fakultäten zu artikulieren fähig sind. Dass solche Voraussetzungen auf möglichst breiter Basis gegeben sind, dazu kann vielleicht auch die in Spex geleistete Rezeption der Cultural Studies ein wenig beitragen. Da von einer genuinen Theoriebildung innerhalb der Cultural Studies bislang keine Rede sein kann, greifen die in diesem Feld tätigen Intellektuellen auf verschiedene Theorieangebote zurück, die im akademischen Raum zirkulieren und über ein gewisses Prestige verfügen. Bekanntlich ist Durchsetzung neuer wissenschaftlicher Themen vielfach an das Auftreten von Theorien geknüpft, die den Gegenstandsbereich wissenschaftlicher Forschung auf neue, andere Weise zu betrachten lehren. So haben semiotische, später poststrukturalistische Argumentationsfiguren daran mitgewirkt, traditionelle Kultur- und Lektüremodelle zu erschüttern, während sich Vertreter ideologiekritischer Verfahrensweisen dem Verdikt der prominentesten Vertreter dieses Ansatzes gegen eine ernsthafte Beschäftigung mit Gegenständen populärer Kultur anschlossen. Auch in Spex konnte man sich der Faszination poststrukturalistischer Theorie nicht entziehen: Mit deren Hilfe wollte man vor allem darlegen, welche Mechanismen in machtgestützten Diskursen dazu dienen, den Status geschlechtlich, sexuell und ethnisch benachteiligter und diskriminierter Gruppen zu perpetuieren, aber auch Möglichkeiten aufzeigen, welche symbolischen Strategien geeignet sind, den skizzierten Prozess zu konterkarieren. Von dem zu Beginn der 1990er Jahre omnipräsenten Ziek über Hall, Deleuze, Guattari bis hin zu Vertretern des Postkolonialismus wie Gilroy reicht das Spektrum der in Spex gefeierten poststrukturalistischen Intellektuellen. Mikos (1999) vermerkt mit Blick auf Spex, dass „vor allem die textanalytisch orientierten, mit poststrukturalistischem und feministischem Gedankengut angereicherten US-Cultural Studies in den intellektuellen Diskurs […] integriert werden (konnten).“ Dem Autor ist allerdings zu widersprechen, wenn er Holert (1995a) vorwirft, dass dieser sich der Verwischung eines hinlänglich scharfen Begriffs dessen, was zu den Cultural Studies zu rechnen sei, schuldig gemacht habe. Dieser verweist dort nur auf den prekären Status der Cultural Studies zwischen Wissenschaft und Kunst. Er schreibt, dass „Wissenschaftsprosa auch Dichtung/Fiktion sein kann bzw. (einen Schritt weiter gedacht) unweigerlich Dichtung/Fiktion ist.“ Neben anderen wird dann F. Kittler als Beispiel für jene Autoren angeführt, die sich sowohl durch „Themenwahl“ als auch „durch Form und Stil auf einer Grenze“ bewegen. Im folgenden Heft gibt gerade Holert (1995b) zu bedenken, dass Vorsicht bei wissenschaftlichen Etikettierungen geboten sei. So betreibe der an einem Institut für Kulturwissenschaften tätige Kittler „dekonstruktivistische Kriegshistoriografie- und Technikgeschichte“. Mikos macht es sich im Übrigen zu leicht, wenn er das sozialwissenschaftliche Erbe der Cultural Studies gegen ihre aktuelle, stärker geisteswissenschaftlich orientierte Rezeption auszuspielen versucht13. Fraglich ist allerdings, ob es des immensen Theorieaufwands bedarf, der sowohl in den Texten prominenter Vertreter der Cultural Studies als auch in den davon inspirierten Kritiken, Artikeln und Essays von Autoren aus dem Feld des avancierten Musikjournalismus zu beobachten ist, um z.B. zu Einsichten darüber zu gelangen, welche sexistischen und rassistischen Sprachregelungen und Präsentationsformen in
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medialen Diskursen anzutreffen sind und wie diese symbolisch funktionieren. Darüber hinaus scheint mit der Dominanz des wenig lesefreundlichen postmodernen Jargons und seiner penetranten Rede von Identitäten, Einschreibungen, Differenzen und Repräsentation das Sensorium für wichtige feinere und gröbere Unterschiede zu schwinden. Auch ohne Rückgriff auf diffuse, globalisierende Begriffe wie Kontrollgesellschaft14 scheint es möglich zu sein, sich in kritischer Lektüre zentraler Texte von Karl Marx und Pierre Bourdieu jene theoretischen Werkzeuge anzueignen, die zur Analyse und Kritik der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse taugen. Damit ist nicht gesagt, dass die genannten Theoretiker in Spex verabschiedet worden sind; eine postmoderne Generallinie in Theoriefragen existiert dort nicht,15 und Widersprüche, die weder durch Synthetisierung konkurrierender theoretischer Traditionen noch durch Entscheidung zwischen ihnen auszuräumen sind, werden offen eingestanden. So träumte Diederichsen (1991: 77) zwar Ende 1991 von „marxistische(n) Lacanianer(n) […] und Dekonstruktivisten“, räumte jedoch noch im gleichen Satz ein: „[…] wozu sollte man auch verschmelzen, was nicht zusammengehört, solange es dafür keinen Grund in der Logik eines spezifischen Aktivismus gibt, wie in den USA, wo man den ‚linken‘ Gebrauch der ‚Franzosen‘ seit Jahren beobachten kann […].“ (Diederichsen 1991: 77)
Von dem „völlig undifferenzierte(n) Gefühl, von französischem Poststrukturalismus die Schnauze voll zu haben“, berichtet Terkessidis (1994: 9) in umgangssprachlicher Direktheit, wie sie eine Musikzeitschrift zulässt, drei Jahre später im Rückblick auf das Ende des Jahres 1992. Weiter heißt es dort: „Ich fühlte nur noch blinden Hass gegen doofe Künstler, die in der Kneipe über Lacan ablaberten und im gleichen Atemzug betonten, Freud nicht zu kennen. Ich hatte schon lange nicht mehr soviel Wut verspürt, wie beim Lesen von Bolz, Kamper, Flusser und dergleichen Medienunsinn mehr. Ich fand plötzlich die methodische Berechtigung fragwürdig, so zu arbeiten wie Deleuze und Guattari (die in meinem persönlichen Kosmos einen bedeutenden Platz einnehmen). Das Anschreiben gegen eine unterdrückerische Rationalität taugte nicht mehr als Legitimation und ohne diesen Grund, so dachte ich, ermöglichte ihre Schreibweise jede Beliebigkeit.“ (Terkessidis 1994: 9)
Doch mittlerweile ist der Autor wieder mit seinen Helden versöhnt. Dazu habe deren Buch „Tausend Plateaus“ und Deleuzes Geständnis, dass „Guattari und ich Marxisten geblieben sind“, wesentlich beigetragen.
4 Cultural Studies und journalistische Pop-Theorie – Übereinstimmungen und Differenzen Das Interesse der Zeitschrift Spex an den Cultural Studies speist sich sicherlich zunächst einmal zu einem Gutteil aus dem Gefühl der Anerkennung, die deren erfolgreiche Bemühungen den eigenen Anstrengungen auf journalistischem Terrain verschaffen. Legitimieren die Cultural Studies doch auf dem prestigereichen Feld
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der Wissenschaft die jahrelange Arbeit des Magazins, Popkultur zu einem sowohl ästhetisch aufregenden als auch politisch folgenreichen Gegenstand zu erheben, popkulturelle Gegenstände nicht kurzerhand schlichten soziologischen und ökonomischen Erklärungen zu überantworten, die Verabsolutierung der Maßstäbe legitimer Kultur aufzubrechen, mit der das Privileg einhergeht, nur solchen Werken eine ästhetische Betrachtung zuzubilligen, die in ihrem eigenen Feld sanktioniert sind. Hier wie dort hofft man darauf, die analytische Durchdringung der Popkultur mit politischen Interventionen in symbolisch-kulturelle Auseinandersetzungen zu verbinden. Auch die Biografien wichtiger Cultural Studies-Vertreter, die vielfach als PopJournalisten begonnen haben oder noch als Professoren Pop-Kolumnen für Zeitschriften schreiben, legen nahe, Cultural Studies und journalistische Arbeit im Felde der Popkultur als bruchloses Kontinuum aufzufassen.16 Dass in beiden Feldern sich das Interesse darauf richtet, abweichende ästhetische Praxen der Produzenten und Konsumenten populärer Kultur aufzuspüren, um diese als „empowerment“ zu begrüßen (Cultural Studies) oder als zeitgemäße subversive Haltung zu propagieren (avancierter Musikjournalismus), deutet bei aller vordergründigen Übereinstimmung bereits auf grundlegende Differenzen bezüglich des Ortes und des Stils der Beobachtung popkulturellen Treibens. Adressat der Texte von Cultural StudiesIntellektuellen, die durch eine langjährige universitäre Sozialisation geprägt worden sind, eine mehr oder weniger gesicherte Stellung innehaben, ein bereits relativ fortgeschrittenes Lebensalter im Vergleich zu den Protagonisten subkultureller Szenen aufweisen, sind – bei aller Bemühung um Breitenwirkung – vor allem Intellektuelle im eigenen Forschungsfeld und diese dürften sich dann doch zunächst einmal – bei aller Aufgeschlossenheit für Arbeiten, die sich eingehend mit populärer Kultur beschäftigen – für das benutzte theoretische Instrumentarium, für die Schreibweise, also für den Grad der Erfüllung jener Standards, die in der eigenen Sektion der scientific community jeweils maßgeblich sind, interessieren. Das zu diesen im Feld der Cultural Studies auch der offen deklarierte oder eher unterschwellig artikulierte politische Gehalt des behandelten Gegenstandes zählt, ist ein bemerkenswerter Umstand, der sicherlich zur Attraktivität der Cultural Studies beim akademischen Nachwuchs beiträgt, jedoch überzogene Vorstellungen über die politische Wirksamkeit wissenschaftlicher Arbeit genährt hat, für deren absehbares Scheitern Tendenzen der Institutionalisierung der neuen Disziplin sowohl von Cultural Studies-Intellektuellen selbst als auch in der politisch engagierten journalistischen Kommentierung verantwortlich gemacht werden.17 Die in Spex geäußerte polemische Befürchtung, dass die Cultural Studies zu einem „Beratungsbüro der Kulturindustrie“ (Spex 8/95: 46) verkommen könnten, zeugt von ökonomischer Naivität und mangelndem Bewusstsein, was die materiellen Grundlagen der eigenen Schreibtätigkeit anbelangt. Es sind ja gerade die Cultural Studies, in denen aus einer im Vergleich zum journalistischen Tagesgeschäft größeren zeitlichen Distanz Phänomene der Popkultur analysiert werden, was dann seinen Niederschlag in der Veröffentlichung von Monografien oder Aufsätzen findet, mithin Resultate, die für Marketing-Experten zugleich wenig lesbar, schlecht
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zugänglich und vor allem wenig pragmatisch verwertbar sein dürften.18 Ihrem Beitrag zur Beschleunigung und effektiveren Gestaltung des kulturindustriellen Verwertungsprozesses verdankt hingegen eine Zeitschrift wie Spex ihre Existenz. Allmonatlich präsentiert die Zeitschrift Musiker und Gruppen in einem zeitlichen Rhythmus, der auf deren Marketing-Strategie abgestimmt ist (Plattenveröffentlichung, Tournee etc.), bespricht eine große Menge Platten, eine Vielzahl neuer Filme, befasst sich mit diversen anderen popkulturellen Konsumartikeln. Der hyperbolische Grundton in der Kommentierung jener Entwicklungen in der Popkultur, die sich in Spex-Kreisen wie auch immer kurzfristiger besonderer Wertschätzung erfreuen, funktioniert trotz oder – im Hinblick auf das spezifische Publikum der Zeitschrift – gerade wegen der typischen (selbst-)reflexiven Verklausulierung vieler Texte als effektive Verkaufsförderung, versorgt die Marketing-Strategen der Musikindustrie darüber hinaus mit Ideen und Hinweisen, die u.a. bei der Selektion aufstrebender neuer Bands und Musiker hilfreich sein könnten. Daraus einen moralischen Vorwurf gegen Spex zu machen, wie es linke Kritiker der Zeitschrift immer wieder tun, verkennt die Gewalt ökonomischer Zwänge, denen man sich nur um den Preis des Rückzugs in subsistenzwirtschaftlich funktionierende Enklaven entziehen kann, was Spex als Pop-Zeitschrift, die kommerziellen Erfolg gerade nicht perhorresziert, sondern in geeigneten Situationen sogar eine Strategie der Affirmation für geboten hält, jedoch von Anfang an zu vermeiden suchte. Zu den Leseerwartungen im Hinblick auf Cultural Studies-Publikationen ist bereits einiges gesagt worden; man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass diejenigen des Spex-Publikums einen ganz anderen Zuschnitt aufweisen. Man erhofft sich Informationen, Einschätzungen zu Entwicklungen, Ereignissen und Produkten der Popkultur, die die Selektion des eigenen Konsums erleichtern, die bislang unbekannte Reizquellen erschließen, die selbst gehegte Vorlieben bekräftigen, die Abgrenzung zu jenen sehr unterschiedlichen Gruppen, Musikern oder kompletten Stilrichtungen samt ihrer jeweiligen Fangemeinschaften ideologisch unterstützen, die man bereits in der eigenen alltagsästhetischen Sozialisation auf Distanz zu halten versucht oder nur noch Ekel auslösen. Dass diese Erwartungen immer wieder enttäuscht werden, zeigt sich für eine Zeitschrift wie Spex an sinkenden Verkaufszahlen oder an Leserbriefen – wobei die dazu notwendige Schreibarbeit ihrer Verfasser noch vage Hoffnung auf zukünftige Erfüllung der bislang versagten Wünsche bekundet19 –, in denen z.B. notorisch im Brustton gerechter Empörung Klage über die Unverständlichkeit der Artikel und Kritiken geführt wird. Davon bleiben Cultural Studies-Intellektuelle in ihrer scientific community wohl weitgehend unbehelligt, doch in der Lehre an Universitäten, in deren Veranstaltungen sich ja das Publikum für wissenschaftliche und journalistische Betrachtungsweisen der Popkultur überschneidet, werden auch sie mit deutlichen oder versteckten Signalen konfrontiert, die teilweises oder gänzliches Unverständnis bekunden. Dennoch bleibt die Differenz festzuhalten, dass wie auch immer intellektuell avancierte Pop-Zeitschriften darauf verwiesen sind, den Erwartungen der werbetreibenden Wirtschaft und ihres Lesepublikum zumindest soweit zu entsprechen, dass die Existenz der Zeitschrift gesichert bleibt. Demgegenüber sieht sich wie auch immer institutionell
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deklarierte wissenschaftliche Beschäftigung mit Popkultur, soweit sie in den Genuss staatlicher oder vergleichbarer, d.h. nicht unmittelbar an Verwertungsinteressen gebundener privater Förderung kommt, ausschließlich den habituellen, symbolischen Zwängen des Wissenschaftsbetriebes ausgesetzt, von denen sich zudem unter dem Einfluss postmoderner Strömungen einzelne Gelehrte erfolgreich dispensieren konnten (vgl. Holert 1995a). Ob in solchen und anderen Tendenzen der Ästhetisierung intellektueller Diskurse, die dann nur noch eine vage Verwandtschaft mit einem eher traditionellen Verständnis von Wissenschaft aufweisen, Chancen für einen entfesselten, von institutionellen und ökonomischen Schranken befreiten Diskurs über Popkultur liegen, ist sehr zweifelhaft. T. Holerts (1995a: 55) Annahme, dass „gerade ‚The Aesthetics of Cultural Studies‘ die beste Propaganda für ihre politischen Anliegen“ seien, überschätzt das Potenzial einer Entdifferenzierung von Kunst, Kritik und Wissenschaft, solange grundlegende politische und ökonomische Herrschafts- und Machtverhältnisse kapitalistischer Gesellschaften nicht überwunden sind. Bis dahin erscheint es vielversprechender, die Spannung zwischen betont nüchterner wissenschaftlicher Arbeit einerseits und einer avantgardistischen ästhetisch-literarischen Schreibpraxis andererseits – die in etwa seit Beginn des 20. Jahrhunderts im kunst-, film-, literaturund musikkritischen Diskurs beobachtet werden kann, der seinerseits Elemente und Versatzstücke heterogener Diskurse vermischt – aufrechtzuerhalten. Begründete Aussagen und Meinungen über ästhetische Strukturen, über die Wirkungsweise und über soziokulturell differente Rezeptionsmuster populärer Kultur lassen sich in den beiden Feldern vor allem dann erzielen, wenn das jeweilige Tun in Wissenschaft und Kritik zunächst konsequent den eigenen Maßstäben verpflichtet bleibt. Sicher kann es nicht schaden, die andere diskursive Praxis möglichst genau zur Kenntnis zu nehmen. Im besten Falle springt dabei für die betroffenen Intellektuellen eine wechselseitige Relativierung wissenschaftlichen und journalistischen Tuns heraus und dem Lesepublikum bleiben Texte erspart, die sich in länglichen, bereits wiederholt geleisteten Theoriereferaten ergehen oder das Sampling von Theoriebruchstücken als wirkliche Einsicht in ästhetische und politische Zusammenhänge auszugeben sich bemühen.
Anmerkungen 1 2
Vergleiche David Riesman (1950), zum Stellenwert der Einsichten Riesmans im Diskurs über populäre Kultur siehe Thomas Hecken (2004). Der vorliegende Band und eine Vielzahl neuerer Veröffentlichungen dokumentieren, auf freilich sehr unterschiedliche Weise, das kontinuierlich wachsende Interesse jüngerer akademischer Kräfte an jener Variante kulturwissenschaftlicher Forschung, die unter dem Signum Cultural Studies an anglo-amerikanischen Universitäten und Akademien betrieben wird. Vergleiche exemplarisch Hinz (1998: Kap. 4), dort weitere Literaturangaben. Zur bundesdeutschen Rezeption der Cultural Studies vergleiche L. Mikos‘ Beitrag im vorliegenden Band.
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Die Zeitschrift Spex erscheint erstmals im November 1980 und trägt den Untertitel „Musik zur Zeit“, der dann 1989 gestrichen wird. Ab Frühjahr 1997 lautet der Untertitel von Spex „Das Magazin für Popkultur“. Die ursprünglich von einem Herausgeberkreis geführte Zeitschrift, der zugleich auch als deren Gesellschafter fungiert, wird im Jahre 2000 an die piranha media GmbH verkauft. Auf die Diskussion über diesen Eigentümerwechsel soll hier nicht näher eingegangen werden, da im Weiteren die Zeit vor diesem Einschnitt im Vordergrund stehen wird. Vergleiche jedoch hierzu einige Hinweise von Richard Gebhardt (2001: 180, 190f. u. 194, Anm. 6). 4 Vergleiche dazu Gebhardt (2001), der zeigen will, dass in Spex „eine vom Cultural Studies-Diskurs beeinflusste Schreibweise des Popjournalismus“ (ebd.: 175) zu beobachten sei. Generell ist zu beobachten, dass die akademische Rezeption popkultureller Phänomene sich nicht konsequent auf jene Medien richtet, die in der jeweiligen Szene oder Subkultur maßgeblich sind (seit Punk und New Wave vor allem Fanzines und Zeitschriften), sondern weiter auf das Buchmedium fixiert bleibt. Aus diesem Mangel an Aufmerksamkeit für die weniger prestigereichen und oftmals nur über einen kurzen Zeitraum erscheinenden Periodika können sich dann Fehleinschätzungen ergeben. So haben z.B. aktuelle Rezensionen zur Neuauflage der von Peter Glaser zuerst im Jahre 1984 herausgegebenen Anthologie „Rawums“ diesen Band vielfach als einflussreiche und bahnbrechende Publikation gewürdigt. Ein Blick in die Zeitschrift Spex aus jener Zeit hätte schnell darüber belehrt, dass der Band sowohl beim Leserpublikum auf wenig Gegenliebe stieß, als auch den daran beteiligten Autorinnen und Autoren der Zeitschrift eher peinlich war. 5 Darunter soll hier jene journalistischen Texte über Rock- und Popmusik, aber auch über sonstige popkulturelle Phänomene verstanden werden, die sich an Schreibweisen des gehobenen Feuilletons anlehnen, mit intellektuellem, gelegentlich auch zeitdiagnostischem Anspruch auftreten und sich durch idiosynkratische Subjektivismen sowie durch polemische Abgrenzungen auszeichnen. Vergleiche dazu Hinz (2003: 297 und 309, Anm. 1; ausführlicher 1998: Kap. 6 u. 7). 6 Dass bereits in Hinz (1998: 136ff.; 1997: 194ff.) sowohl Unterschiede als auch Ähnlichkeiten zwischen den Cultural Studies und einer Zeitschrift wie Spex entfaltet wurden, scheint der Lektüre des Rezensenten in Spex (1/99: 61) entgangen zu sein. Man geht wohl nicht zu weit, wenn man in dieser (Nach-)Lässigkeit einen symptomatischen Zug der Zeitschrift erkennt. 7 In Hinz (1998: Kap. 7.8 und 7.11) werden Texte von Clara Drechsler und Diedrich Diederichsen, die als wichtigste Exponenten einer stärker idiosynkratisch gefärbten bzw. einer dem Duktus von Manifesten verpflichteten Schreibweise anzusehen sind, ausführlich vorgestellt und analysiert. Zu Drechslers Schreibpraxis in Spex, nachdem die Autorin ihre Schreibtätigkeit für das Magazin eingestellt hatte, vergleiche auch ihr Gespräch mit Diederichsen in Spex, 10/95: 56-59. 8 T. Hecken (1998: 236) sieht in der Zeitschrift Spex ein ungewöhnliches Nebeneinander von anarchoider Wendung „gegen eine bestehende Arbeits- und Sexualmoral aus gegenkulturellen Gründen“ und einen liberalen Hang zu „dekadenter Stilisierung“ am Werk. Es werden dort gleichermaßen „offen abweichende wie konsumistisch perfektionierte Stilformen“ Gegenstand zustimmender, ja euphorischer Bewertung. Vergleiche dazu die ausführlichen Einlassungen in Hinz (1998: Kap. 7, vor allem 219-223 u. 235f.). 9 Für eine typologische Skizze dreier signifikanter Schreibweisen und Haltungen im avancierten Musikjournalismus siehe Hinz (2003: 307f.). 10 Im 2. Quartal des Jahres 2004 kommt Spex auf eine verkaufte Auflage von 16.060 Stück. (http://www.media-daten.com; Abfrage vom 11.8.2004) Im Jahre 1992 hat die verkaufte Auflage etwa bei 20.000 Stück gelegen. Zwischenzeitlich - vor dem oben erwähnten Eigentümerwechsel - soll die Auflage deutlich unter 15.000 Stück gelegen haben. 11 Vgl. Siemons (1999: 50). Dem Autor gelingen einige treffende Bestimmungen der Arbeitsweise von Spex und der Schwierigkeiten, die sich das Magazin mit seiner „mitunter etwas verwickelten Avantgarde-Anstrengung in Permanenz“ (ebd.) einhandelt. 12 Spex 11/90, 71. Diederichsen (1994: 26) weist darauf hin, dass in Deutschland „die akademischen Institutionen unfähig“ seien, „Popkultur als ein Fach zu definieren, das weder 3
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ganz der Soziologie noch ganz der Musikwissenschaft zugeordnet wäre.“ Doch es gebe hier zu Lande „ja nicht einmal ein kulturwissenschaftliches Äquivalent zu den anglo-amerikanischen ‚Cultural Studies‘, wo zur Zeit die wichtigste wissenschaftliche Arbeit in Sachen Popkultur geleistet“ werde. Zu den geisteswissenschaftlichen Anfängen der Cultural Studies vergleiche Hinz (1998: 74-76). Vergleiche Holert/Terkessidis (1996); kritisch dazu Hinz (1998: 137f.; 2003: 306). So rezensiert C. Storms (1995: 46f.) zustimmend A. Goodwins Buch „Dancing in the Distraction Factory“ (1992), das „eine neo-marxistische Herangehensweise“ in den Cultural Studies repräsentiere. A. McRobbie (1989) vertritt die These einer Konvergenz von Cultural Studies und Musikjournalismus in der literarischen Gattung des Essays. Vergleiche Fish (1995); erläuternd dazu Hinz (1998: 134f.). Sowohl schöngeistige Literatur als auch Wissenschaft haben die Popkultur lange Zeit ignoriert. H. Kureishi (1995: XiX) nennt die Schreibpraxis, auf die sich Pop gestützt hat: „Pop‘s literary attendant was journalism, which to this day remains its acolyte and accomplice.“ Übrigens wären Leserbriefe und ihre redaktionelle Kommentierung ein vielversprechendes Forschungsthema für bundesdeutsche Cultural Studies-Arbeiten.
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Teil 3: Analysen der heutigen Medienkulturen
Populärer Journalismus Rudi Renger
1 Vorbemerkung ‚Popular journalism‘ wurde als analytischer Begriff im anglo-amerikanischen Raum geprägt und von Peter Dahlgren und Colin Sparks (1996) in die medien- und kommunikationswissenschaftliche Diskussion eingeführt. Journalismus – und in erster Linie jener, der mit minimalen journalistischen Mitteln massenhafte Auflagen, große Reichweiten und damit maximalen unternehmerischen Profit erreicht – wird in diesem Zusammenhang kulturanalytisch auf der Basis des Cultural Studies-Ansatzes betrachtet. Diese Perspektive wurde seit Ende der 1990er Jahre auch für die deutschsprachige Journalistik aufbereitet (vgl. Renger 1997, 1999a+b, 2000a-c, 2001, 2002a+b, 2004; Renger/Neissl 2001, 2002; vgl. auch Lünenborg 2002). Der Begriff ‚Populärer Journalismus‘ ist in diesem Zusammenhang vielschichtig zu betrachten: Er impliziert den Zusammenhang zwischen Journalismus und Populärkultur, er thematisiert die Verstehensweise von Journalismus als Populärkultur und umfasst die Entwicklung, die Funktion und den Stellenwert von Journalismus in der Populärkultur. Im deutschsprachigen Raum ist es bis vor wenigen Jahren kaum üblich gewesen, Journalismus und Populärkultur in einen direkten Zusammenhang zu bringen. Aber gerade auch für den Bereich des Journalismus gilt, dass Kommunikationsprozesse in soziokulturelle Kontexte eingebunden sind – ganz im Sinne von Fiskes (1990: 4) „art of making do“.1
2 Journalistische Kulturen im Wandel Das hier vertretene Verständnis von Journalismus deutet weniger in eine kommunikator- oder medienorganisationsorientierte Richtung, sondern vielmehr auf Zusammenhänge mit Kultur, Alltag und den Lebenswelten des Medienpublikums. Journalismus als kulturellen Diskurs zu definieren, erscheint gerade für den Gegenstand des Populären Journalismus eine nützliche Formel zu sein, wonach Journalismus nicht nur als Informations- und Orientierungsangebot professioneller Selekteure (vgl. Weischenberg 1998: 11), sondern auch als ein spezifisches Muster von sozialer
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und institutioneller Praxis, d.h. im Sinne von Alltagshandlungen, gesehen wird (vgl. Dijk 1988: vii, 139, 179). Die semantische Kontextualisierung des Begriffspaares Populärer Journalismus lässt sich in diesem Zusammenhang auf zwei Arten interpretieren: Zum einen kann Journalismus als eine Form von Populärkultur gesehen werden, zum anderen als ein textuelles System, innerhalb dessen populärkulturelle Themen verarbeitet werden (vgl. Dahlgren 1996: 3f.). Determinierend wirkt in jedem Fall der Akt der Rezeption, denn erst durch die subjektive Bearbeitung von journalistischen Inhalten, also durch die Umstrukturierung von Bedeutungen innerhalb des öffentlichen Diskurses, entsteht Populärkultur, wobei bestehende Sinngehalte mit neuen Bedeutungsformen besetzt und wiederum zu Präferenzmustern – zu sogenannten „preferred readings“ (Fiskes 1994) – verallgemeinert werden können. Eine ‚kultur(wissenschaftlich) orientierte Journalistik‘ wurde von Langenbucher (1985) bereits vor 20 Jahren eingefordert. Die Frage, ob wir etwa im Jahr 2000 überhaupt noch Journalismus brauchen würden, sei nur dann sinnvoll, „wenn man bestimmte der von den Medien […] vermittelten journalistischen Produkte als eigenständige kulturelle Leistungen interpretiert, ähnlich wie Kunst, Musik und Literatur“ (Langenbucher 1985: 203). Letztere Ausdrucksformen vermitteln jedoch nicht nur ästhetische Botschaften, sondern bringen dem Publikum auch Unterhaltung und Zeitvertreib. So auch journalistische Nachrichten: In der Informationsgesellschaft nimmt die Relevanz der Information ab, während die von Unterhaltung steigt. Journalistische Informationen finden heute in der Unterhaltung gleichsam Unterschlupf, sie bleiben nur dann für die Rezipienten interessant, soweit sie unterhaltsam sind. Nicht umsonst gilt das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhundert auch als InfotainmentDekade. Mittlerweile existiert eine Reihe von Neologismen, die dem Kunstwort ‚Infotainment‘ nachgebildet wurden: Emotainment, Servotainment, Confrotainment, Edutainmant und neuerdings auch Politainment. Nicht nur die Jahrtausendwende hat sinnsuchende Auseinandersetzungen provoziert: „Der Journalismus befindet sich am Scheideweg“, orakelten beispielsweise Scholl und Weischenberg (1998: 261) und wiesen auf eine „ständige Entwicklung weg von der Information hin zur fiktionalen Unterhaltung“ hin. Aber schon seit längerem dienen journalistische Nachrichten nicht nur einem „orientation value“, sondern auch einem „entertainment value“ (McManus 1994: 122). Zerfransungen an den traditionellen Grenzen des Journalismus sind jedoch nicht nur hinsichtlich seiner Unterhaltungsfunktionen feststellbar, sondern auch in Bezug auf Aktualität, Objektivität versus Subjektivität, Realität versus Fiktion, dem Wandel von Verbreitungstechnik von Print bis Online, männliche und weibliche Berufsrollen sowie in der Produktorientierung in Bezug auf eine Vielzahl von Teilöffentlichkeiten und Märkten. Die Entdifferenzierung einer Pluralität funktional unterschiedlicher Journalismen wie etwa einen informations- und nachrichtenorientierten Qualitätsjournalismus, Meinungsjournalismus, Marketing- oder PR-Journalismus, Konsumentenjournalismus, Werbeumfeldjournalismus, Fach- und Nutzwertjournalismus, Unterhaltungsjournalismus oder Boulevardjournalismus führt nicht zuletzt auch zur Veränderung der Journalismusforschung selbst, deren Aufgabe nun nicht mehr ausschließlich in der „Analyse von Prozessen der Aussagenentstehung“ (Weischenberg 1995:
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106) und der Informationsleistung bestehen kann, sondern ein differenzierteres Herangehen verlangt, das genau diesen Wandel des journalistischen Systems bzw. der journalistischen Kultur zu berücksichtigen imstande ist. Unter Einbezug des ‚Cultural Studies Approach‘ soll im Weiteren ein Beitrag zum Abbau eines Forschungsdefizites geleistet werden, das van Zoonen (1998: 139) so beschreibt: „We know comparatively little“, schrieb sie damals im ersten Heft des European Journal of Cultural Studies, „about audience-oriented journalism either aimed at the women‘s or men‘s market.“ Insgesamt dürfte eine kulturorientierte Betrachtung massenmedialer oder journalistischer Phänomene stets als Weg abseits des kommunikationswissenschaftlichen Mainstreams interpretiert worden sein. Mit ein Grund dafür ist wohl auch der interdisziplinäre Zugang. „Das Konzept der Medienkulturforschung“, schreiben etwa Fabris und Luger (1988: 10), „beinhaltet daher neben der Untersuchung der verschiedenen Medienprodukte auch die unterschiedlichen Formen ihrer Verbreitung und Rezeption sowie die komplexen Wechselbeziehungen zu Politik, Wirtschaft und Alltagsleben.“
3 Zum Antagonismus zwischen Qualitäts- und populärem Journalismus Eben diesen erkenntnistheoretischen „Shift“ hat auch Hartley (1996: 26ff.) vor Augen, wenn er zur Überwindung der in der Medien- und Journalismusforschung weit verbreiteten Polarisierung zwischen Qualitäts- und Populären Journalismus aufruft. Die zynische Vermutung von Langenbucher und Mahle (1975: 12), dass sich die Kommunikationswissenschaft in ihrer Favorisierung der Elitekultur jahrzehntelang auf den Forschungsgegenstand der „schönen Tiere“ (sie gehen von einem Vergleich mit der Zoologie aus) beschränkt habe, hat offenbar seit jeher auch die Agnosie gegenüber populärkulturellen Medienformen begründet. Trotzdem – oder gerade deshalb – ist es mehr als reizvoll, die Funktions- und Wirkungsweise jenes Journalismus auszuleuchten, der von der millionenfachen Mehrheit des Medienpublikums rezipiert und in der Medienforschung und Kommunikationswissenschaft üblicherweise als Boulevard- oder Unterhaltungsjournalismus bezeichnet wird. Es geht also bei Populärem Journalismus um jene journalistischen Spielarten, die in den Boulevardzeitungen, den bunten Illustrierten, den Lifestyle- und Special Interest-Magazinen oder im sogenannten Tabloid-TV bzw. (privatrechtlichen) Boulevardfernsehen den Großteil der Bevölkerung mit Orientierungswissen, Serviceinformationen und vergnüglichen Geschichten versorgen. Zugleich wird auf diese Weise auch eine dramatisierte, sensationalisierte und fiktionalisierte Weltsicht vermittelt, die – in das Gewand der scheinbar objektiven Berichterstattung gekleidet – entweder für wahr gehalten oder aus Entspannungs- und Unterhaltungsgründen konsumiert wird. Nicht zu übersehen ist heute in der journalistischen Produktion eine gewisse Tendenz zum Drama sowie der Vorzug von Skandalisierung und medial konstruierter Faszination gegenüber qualitätsjournalistischer Orientierung.
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Die seit Jahren wirksamen Strategien zur Ökonomisierung, Popularisierung und Kommerzialisierung der Medieninhalte tragen ihrerseits dazu bei, dass inzwischen selbst angesehene Newsformate mehr und mehr die Darstellungsweisen von Unterhaltungs- und Sensationsgenres übernehmen: Nachrichtenmagazine im Fernsehen greifen zu Techniken, die einst den Tabloids vorbehalten waren (wie etwa Nachrichtendramatisierung, intertextuelle Genresprünge sowie der Einsatz von Hintergrundmusik), Printprodukte imitieren die fragmentierte Informationsästhetik der Television. In gewisser Weise befindet sich heute aber auch der traditionelle Boulevardjournalismus in einer Art von Endzeitstimmung, denn viele seiner bisherigen Funktionen werden mittlerweile (noch dazu besser) von privaten Fernsehkanälen und auch WebAngeboten erfüllt. „Nur mit Sensationen, Emotionen, mit Manipulation und Erektion“, so Zimmer (1999: 61), „lässt sich keine Zeitung der Zukunft machen. Information als Aufklärung, Unterhaltung als positives lebensbejahendes Element und Service – ‚News to use‘ – sind die Bestandteile jeder guten Zeitung.“ Die Dynamik in der allgemeinen journalistischen Entwicklung auf der einen Seite und die Fokussierung von populärkulturellen Bezügen und Funktionen des Journalismus auf der anderen verlangt nach einer spezifischen theoretischen Positionierung des Journalismus als Gesamtphänomen. Einen brauchbaren Entwurf in dieser Richtung hat Hartley (1996: 122f.) geliefert, wenn er Journalismus neben Literatur, Schauspiel und Film als das weltweit wichtigste bedeutungsproduzierende Textsystem positioniert (vgl. Hartley 1996: 122f.). Dieser Gedanke erscheint auch mit Langenbuchers Perspektive einer „spezifischen Kulturleistung“ kompatibel zu sein, wenngleich hier weitere Textsysteme wie das Theater insgesamt, Kunst, Philosophie und die Wissenschaften zu nennen wären. Als Form kultureller Produktion erzeugt Journalismus aber nicht nur Bedeutungen, sondern auch seine konsumierenden Subjekte, d.h. die populäre Öffentlichkeit selbst. Journalismus in der Populärkultur kann in Hinblick auf seine Rezeptionsweisen unterschiedliche Wirkungen haben: •
positive Effekte in Form von Wissensvermittlung und -erweiterung,
•
negative durch die Implikation ideologischer Gehalte,
•
progressive im Sinne einer ‚Vierten Macht‘ in den Demokratien oder
•
reaktionäre in Form von von sozialer Kontrolle, Inaktivierung und Kommerzialisierung des Publikums (vgl. Hartley 1996: 35).
4 Bausteine einer kultur(wissenschaftlich) orientierten Journalistik Eine kultur- bzw. kulturwissenschaftlich orientierte Journalistik betrachtet Journalismus als sinnstiftendes Element einer breit gefassten Populärkultur. ‚Kultur‘ wird in diesem Zusammenhang in einer breiteren Sichtweise sowohl als Lebensweise (vgl. Williams 1977: 50ff.), die Ideen, Verhalten, Gewohnheiten, Sprachen, Institutionen und Machtstrukturen umfasst, verstanden, als auch als spezifische kulturelle Praxis,
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die sich in künstlerischer Gestaltung, Texten, Architektur etc. ausdrückt. Dementsprechend wäre Journalismus weniger als Aufgabe einer funktionalen Informationsleistung (im Sinne des Transmissionsmodells) zu identifizieren, sondern vielmehr als Leistung von textueller Bedeutungsproduktion sowie als öffentliche Orientierung und soziale Konstruktion von Wirklichkeit (im Sinne des „ritual view of communication“; dazu Carey 1975; Zoonen 1996: 36ff.). Die theoretische Grundlage für eine solche Herangehensweise an das Phänomen des Populären Journalismus findet sich – wie erwähnt – beim Cultural Studies-Ansatz.
4.1
Journalistik mit Rezipientenorientierung
Auf den ersten Blick ist Populärer Journalismus relativ einfach zu erklären: Er möchte auf der Basis von sensationeller Berichterstattung zwischen Fakten und Fiktionen zu maximalem unternehmerischen Profit gelangen und vermarktet Schicksale und Gefühle mit dem Suggestionsmittel der journalistischen Glaubwürdigkeit – eine „Firma der [seichten] Volksbildung nur um des Geldes willen“, die seit dem frühen 19. Jahrhundert aktiv ist (Bausinger 1994: 25). Ganz so simpel ist es aber bei näherer Betrachtung dann doch nicht, denn Populärer Journalismus lässt sich nicht monokausal definieren. Er stellt ein stark differenziertes Phänomen dar, das an keinen spezifischen Medientypus fixiert zu sein scheint, sondern bestimmte Formate präferiert (vgl. Bruck/Stocker 1996: 11ff.). Das scheint auch zu erklären, warum es bis vor wenigen Jahren keine genrespezifische zusammenhängende Darstellung dazu gab – weder medienhistorisch noch metaanalytisch (vgl. als erste Synopse Renger 2000a). Journalismus in auf Populärität ausgerichteten Massenmedien wurde lange Zeit entweder vom theoretischen Standpunkt des traditionellen Informationsjournalismus her untersucht und nicht selten offen oder unterschwellig als Devianz bewertet. Dieser Vergleich ergab denn auch so manches schiefes Bild, das sich auch in einem umfassenden Register von terminologischen Vorschlägen für das Phänomen des Populären Journalismus wider spiegelt: Die Rede ist von farbloser und Geschäftspresse, von Yellow Journalism, Skandal- und Revolverpresse, Regenbogenund Sorayapresse, Boulevard-, Unterhaltungs- und Publikumsjournalismus bis hin zum Trash-, Fast-food- oder McJournalism unter dem Banner der „McDonaldisierung“ (Ritzer 1995) der gegenwärtigen Konsumgesellschaft. Colin Sparks (1996: 31) definiert Populären Journalismus sehr allgemein als jene Form journalistischen „Schreibens“, die aus dem Schnittpunkt zwischen den verschiedenen und zueinander in Widerspruch stehenden Diskursen resultiere, die das gesellschaftliche Leben – und hier in erster Linie den Bereich der so genannten Massenkultur – kreuzen. Die Boulevardisierung der Nachrichtenproduktion deute aber auch auf eine massive Krise der Demokratie, denn die Themen und Art der journalistischen Berichterstattung würden sich überwiegend nach der individuellen Erfahrung der Konsumenten richten und bewusst Bereiche wie Politik und Wirtschaft vernachlässigen (vgl. Sparks 1998: 6f.). Sparks zielt hier auf die soziale Pro-
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duktion von Bedeutungen, die von den Journalisten und vom Publikum gleichermaßen geleistet wird – und steht natürlich damit eindeutig in der Tradition der Cultural Studies. Der Kern einer kultur- bzw. kulturwissenschaftlich orientierten Journalismusforschung ist in der Analyse der Beziehung zwischen den Bedeutungen und den journalistischen ‚Texten‘ zu sehen – wobei ich hier auf dem sehr breiten Textbegriff von Fiske aufbauen möchte. Jeder populärjournalistische Text wäre danach ein Vermittler von spezifischen Bedeutungskonstruktionen sowie eine alltägliche Ressource für Information, Orientierung, Service und Unterhaltung. Nach Fiske (in diesem Band) zirkuliert die populäre Wirklichkeit zwischen drei textuellen Positionen. Journalismus ist demnach nicht nur in der Konkretisierung seiner jeweiligen Botschaften (als sekundärer Text) zu erfassen, sondern erfordert auch die Untersuchung seiner Berichtsinhalte (als primärer Text) sowie der von Journalisten und Rezipienten kodierten und dekodierten Bedeutungen (als tertiärer Text). Folglich gilt für Journalismus in der Populärkultur, dass er in erster Linie intertextuell untersucht werden sollte – er existiert eben nur in den genannten „intertextuellen Zirkulationen“. In unterschiedlichen sozialen und institutionellen Kontexten wird er zum einen mit Vorzugsbedeutungen – den „preferred meanings“ (Hall 1990: 134) – ausgestattet und zum anderen in unterschiedlichen Lesarten rezipiert, wobei die Vorzugsbedeutungen übernommen oder aber auch zugunsten von Präferenzbedeutungen – den „preferred readings“ (Fiske 1994: 64ff.) – verhandelt oder verworfen werden. Das Ergebnis dieses Dekodierungsprozesses ist möglichweise nicht mit der von der Produzentenseite intendierten Botschaft deckungsgleich, sondern führt zu Widersprüchen, das zu Grunde liegende Bezugs- und Kommunikationssystem bleibt aber in den meisten Fällen der Journalismus.
4.2
Cultural Studies und Journalistik
Das Interesse einer Cultural Studies-orientierten Medienforschung zielt im Bereich Journalismus auf die Untersuchung der Signifikanz des Trivialen, der „Bedeutung des Nicht-Bedeutenden“ (Grossberg in diesem Band) bzw. auf jene „geringfügigen Botschaften“ (Eco 1992a: 34) des Populären Journalismus, die unseren gesellschaftlichen und sozialen Alltag begleiten. Journalismus wird an der Schnittfläche zwischen einer allumfassenden Kultur-, Medien- und Bewusstseinsindustrie und dem Alltagsleben interpretiert und somit als Teil bzw. Objekt der Populärkultur definiert. Je nach seiner Position in ökonomischen Strukturen (z.B. öffentlich-rechtliche oder private Medien), den spezifischen Genres (z.B. Nachrichten oder News-Shows) sowie dem Publikum kann Journalismus als zentraler Ort für diskursive Auseinandersetzungen zwischen Produzenten und Rezipienten gesehen werden. Das Konzept der „diskursiven Verhandlung“ (Zoonen 1996: 9; vgl. auch Gledhill 1988) gilt generell für alle Fälle von Massenkommunikation und lässt sich durch Halls Leitmodell (1990) des „encoding/decoding“ darstellen. Einzeln ergeben die Elemente der Pro-
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duktion, der Texte und der Reproduktion scheinbar nur teilweise Sinn, sie sind in vielfältiger Weise an den Prozess der Bedeutungsproduktion geknüpft. Journalismus erarbeitet demnach im Schulterschluss mit dem massenmedialen System eine symbolische Kartografie der Welt, deren Wirkung in der Definitionsmacht der jeweiligen Bedeutungsrahmen zu sehen ist, die zur Orientierung im alltäglichen Leben angewendet werden. Da Medientexte multiple Bedeutungen transportieren, eröffnen sie dem Publikum einen großen Interpretationsspielraum; sie sind also (implizit) polysemisch (vgl. Barthes 1988: 181ff.). Die von Medienmachern und Journalisten kodierten Bedeutungsstrukturen werden erst durch die Praktiken des Publikums in einem ähnlich widersprüchlichen, jedoch umgekehrten Dekodierungsprozess wieder bewusst gemacht. Einer Cultural Studies-orientierten Journalismusforschung geht es somit um die relationale Betrachtung von Journalismus in einem Netzwerk von Bezugspunkten, wobei der Untersuchungsschwerpunkt bei der Bedeutungs(re)konstruktion des Publikums und dessen „preferred readings“ im Kontext seiner jeweiligen sozialen Beziehungen liegt. Die rituelle Perspektive von gesellschaftlicher Kommunikation (vgl. Carey 1975), die Cultural Studies gegenüber dem Transmissionsmodell vorziehen, zeigt, dass Journalismus als kulturelle Ausdrucksform immer textuell ‚gelesen‘ und auf der Basis der Rekonstruktion der sozialen Struktur des Publikums analysiert werden muss. Journalismus stellt somit eine Art von Dreiecksbeziehung zwischen Textproduzenten, Medien und Lesern dar, wobei es für eine Cultural Studies-orientierte Journalistik um die Darstellung des „sozialen Lebens der subjektiven Formen“ dieser Beziehung gehen muss (Hartley 1996: 5). Journalismus- und Nachrichtenforschung wird auf diese Weise zur Bedeutungsinterpretation, die fokussiert, „how viewers actively produce meaning from the transmissions within the context of their own everyday lives“ (Dahlgren 1988: 289f.). Die Wirklichkeit – so ein Kernargument der Cultural Studies – setzt sich aus Bedeutungsinterpretationen und Interpretationsregeln, mit Hilfe derer sich die Menschen im Alltagsleben orientieren, zusammen. Aus diesem Blickwinkel existiert Realität für die Menschen ausschließlich durch Bedeutungen, denn die Welt präsentiert sich uns nicht, wie sie ist, sondern stets durch den Kontext – durch die Beziehungen, die wir zu dieser Welt haben (vgl. Alasuutari 1996: 26ff.). Mit einer produktions- und textorientierten Analyse der britischen Tageszeitungen Daily Mirror und Express war Hall (1975: 18ff.) vor drei Jahrzehnten einer der ersten Kulturforscher, der sich mit Journalismus wissenschaftlich auseinandergesetzt hat. In dieser Studie hat er nicht zuletzt auch grundlegende Thesen zum Populären Journalismus aufgestellt: •
Die journalistischen Darstellungsformen vermitteln sedimentierte Interpretationsschemata – spezifische Signifikationskodes, mit deren Hilfe das Publikum an einer kollektiven Welt von kulturellen Bedeutungen teilnehmen kann;
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•
die populäre Presse entwickelt eine spezielle Rhetorik, indem komplexe „soziale Register“ – d. h. semantische Sub-Welten wie ‚Sport = Unterhaltung‘ – transportiert werden, die bestimmte Assoziationsfelder beim Publikum generieren;
•
erst durch die Arbeitsweisen des Journalismus werden Nachrichten bedeutungsvoll gemacht. Um diesen Bedeutung zu verleihen, wendet der Journalismus eine komplexe Struktur von verbalen, rhetorischen, visuellen und repräsentativen Kodes an. Die Leser sind in diesem Prozess selbst das Produkt einer diskursiven sozialen Transaktion zwischen der Sender- und Empfängerseite. Die Produkte des Populären Journalismus sind zugleich aber auch Teil dessen, was letztlich die jeweiligen Subjektivitäten des (in diesem Zusammenhang als inaktiv interpretierten) Publikums ausmacht.
Nicht zuletzt den Arbeiten von Colin Sparks ist es zu verdanken, dass einerseits der Begriff des „popular journalism“ in die fachwissenschaftliche Diskussion – zumindest im anglo-amerikanischen Raum – Eingang fand und andererseits relevante Entwürfe der Cultural Studies für eine Analyse des Boulevard- und Unterhaltungsjournalismus aufbereitet wurden. So folgen Curran und Sparks (1991) ganz deutlich einer Rezipienten-orientierten Betrachtungsweise und sehen somit das Publikum als Erzeuger von Bedeutungen. Die Konzeption von aktiven Rezipienten, welche auf den Entwürfen Fiskes aufbaut, legt denn auch die Vorstellung von Mehrdeutigkeit in der Rezeption nahe. Unter Einbezug von Halls Kodierungs- und Dekodierungsgedanken postulieren Curran und Sparks (1991: 222) schließlich, dass •
verschiedene Rezipienten ein und denselben Kommunikationsinhalt unterschiedlich rezipieren,
•
einige Rezipienten den von den Herausgebern, Journalisten etc. beabsichtigten Bedeutungen folgen, andere diesen aber opponieren, und
•
die Konstruktion von Bedeutungen stets durch die jeweilige Kommunikationssituation bzw. -umwelt bedingt sei.
In seinem Buch „Reading the Popular“, in deutscher Übersetzung „Lesarten des Populären“, hat sich auch John Fiske (2000) mit journalistischen Nachrichten im Zusammenhang mit Populärkultur beschäftigt. An Beispielen aus der Fernsehnachrichtenwelt kritisiert er die unter anderem durch die Programmstruktur implizierte und den Zusehern aufgedrängte Dualisierung zwischen „gutem, genauem, verantwortungsbewusstem Fernsehen, das unpopulär sein mag, und schlechtem, kompromisslerischem, verantwortungslosem Fernsehen […], das die Leute tatsächlich sehen wollen“ (Fiske 2000: 204). Grund dafür sei die althergebrachte Alternative zwischen objektiver, wahrer, lehrreicher und wichtiger Information und subjektiver, fiktionaler, eskapistischer, trivialer und schädlicher Unterhaltung. Fiske plädiert dafür, solche „verkleidete Autoritäten“ (Fiske 2000: 213) zu überwinden und Journalismus weniger nach Kriterien der Informationsleistung, sondern nach solchen der „populären Attraktivität“ (Fiske 2000: 204) zu beurteilen. Besonders bei Fernseh-
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nachrichten würde nämlich auf Seiten des Publikums der Grad an Relevanz bzw. „lustvoller Produktivität“ (Fiske 2000: 204) davon abhängen, inwieweit es möglich sei, Nachrichten in die Oralität des Alltagslebens inkorporieren zu können, also Anschlussmöglichkeiten an Alltagserfahrungen anzubieten: „Die Hauptfunktion der Rundfunknachrichten sollte also nicht darin bestehen, Information zu verbreiten, die für sozial notwendig erachtet wird, sondern eher darin, solche Informationen populär zu machen – was heißt, sie wichtig zu machen, sie dazu anzuregen, in den Kulturen der Mikroebene aufgegriffen zu werden.“ (Fiske 2000: 212)
Für die populäre Zirkulation von nationaler und Welt-Information reicht eben die Vermittlung reinen Faktenwissens nicht aus, sondern „unsere Kriterien für ihre Evaluation [müssen] auch jene der Unterhaltung umfassen“ (Fiske 2000: 212). Beide – journalistische Nachrichten wie fiktionale Unterhaltung – sind für Fiske diskursive Strategien, um Bedeutungen aus sozialen Verhältnissen herzustellen. Und im besten Fall sollten journalistische Nachrichten darauf abzielen, die Zuschauer „in die Erzeugung von Sinn aus der Welt um sie herum einzubinden, sie sollten sie ermutigen, Teilhaber am Prozess zu sein, nicht Rezipienten seiner Produkte“ (Fiske 2000: 213). Die Rezipienten von journalistischer Information müssten sich in Folge von „Entzifferern“ zu „Lesern“ wandeln, die die journalistisch und medial vermittelte „letztgültige Wahrheit“, die „letztlich unhinterfragbar“ (Fiske 2000: 194) bleibe, nicht aus funktionalistischen, demokratiepolitischen Gründen akzeptieren, sondern diese diskutieren bzw. dieser widersprechen sollten. Dass dem nicht so sei, dafür macht Fiske eine gewisse professionelle Ideologie verantwortlich, die im Wesentlichen schriftlich, homogenisierend und textuell autoritär sei und verhindere, dass die in Nachrichten potenziell eingebauten „Elemente der Popularität“ wirksam würden (vgl. Fiske 2000: 213): „Nachrichten scheinen von der Realität der Ereignisse und den politischen Erfordernissen einer Demokratie bestimmt zu sein. In jedem Fall aber scheinen bei ihnen die von oben nach unten wirkenden Kräfte stärker zu sein als die von unten nach oben wirkende Produktivität, die für die Populärkultur charakteristisch ist.“ (Fiske 2000: 166)
Diese „doppelte Macht des Nachrichtendiskurses“ erfordert es, das Hauptaugenmerk darauf zu legen, wie Journalismus und seine Leser mit den Themen, die sie behandeln, umgehen (vgl. Fiske 2000: 167f.). Für Fiske sind Fernsehnachrichten gar „nicht populär genug“, denn gerade der Populäre Journalismus mit seiner Tendenz zur Informationsfragmentarisierung erfülle die Relevanzkriterien von „undisziplinierten“, populären Lesern, die jeweils nur kurz in Nachrichten eintauchen wollten, um nach für das alltägliche Leben brauchbaren bzw. diesem ähnlichen Textstrukturen zu suchen (vgl. Fiske 2000: 215; 217). Dabei seien Nachrichtentexte mit der gleichen Freiheit und Respektlosigkeit zu behandeln wie fiktionale Texte: Die Zuseher sollten von den Texten ermutigt werden, mit ihnen zu verhandeln, und die Texte sollten ihre diskursiven Ressourcen dazu verwenden, das Publikum zu provozieren und zu stimulieren, ihren Sinn aus den sozialen Erfahrungen, die sie beschreiben, zu erzeugen und ihren Standpunkt dazu einzunehmen (vgl. Fiske 2000: 194).
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Diesen Relativismus hinsichtlich einer von Fiske postulierten Mehrdeutigkeit von populären Texten schränken Curran und Sparks (1991) jedoch explizit ein: Zum einen sei die textuelle Polysemie nicht bis ins Unendliche ausdehnbar, sondern beruhe auf identifizierbaren Aspekten der sozialen Welt des Publikums, zum anderen sei die thematische Struktur der journalistischen Inhalte ohnehin durch die marktspezifische Logik der Medienunternehmen bedingt und nicht von einer unbegrenzten Auswahlmöglichkeit des Publikums bestimmt. Nicht zuletzt würden die Unterschiede in der Interpretation von journalistischen Texten nicht automatisch ein Verstehen implizieren – der Aktivität der Rezipienten seien somit durchaus feste Grenzen gesetzt (vgl. Curran/Sparks 1991: 225f.). Zwar würden Massenmedien und Journalismus wichtige „Schlüsselquellen für den interpretativen Rahmen“ (Curran/Sparks 1991: 227) darstellen, der Prozess sei aber insgesamt differenzierter zu fassen. Sparks (1996: 37ff.) liefert für den Bereich des Populären Journalismus auch einen Entwurf zur Ideologie des journalistischen Boulevards, wobei er die Thesen unter einem produktions- und textorientierten Zugang zum Forschungsgegenstand exemplarisch an Beispielen aus der britischen Presse abtestet. So beschäftigt sich der Populäre Journalismus seiner Meinung nach mit anderen Bewertungen als der reine Informationsjournalismus – ein Aspekt, der Langer (1998) zur Formulierung seines Begriffs des populären Fernsehjournalismus als „the other news“ führt. Die thematischen Prioritäten dieser ‚anderen Nachrichten‘ liegen bei personenzentrierten Stories, melodramatischen Stoffen, Sport, den sogenannten ‚truly awful news‘ sowie beim Fotojournalismus. Während in diesen Schwerpunkten die Stärken des Populären Journalismus liegen, zeigt das Genre aber in den traditionellen Informationsbereichen Politik, Wirtschaft sowie Kunst und Kultur seine Schwächen, indem es Hintergründe weitgehend ignoriert und verschweigt, verdeckt oder durch Verkürzung entstellt. Populärer Journalismus kann in diesem Sinne deshalb kein Ersatz für jene Art von Weltverstehen sein, das qualitätsjournalistische Analysen vermitteln. Durch die Schwerpunktsetzung populärjournalistischer Inhalte auf subjektivierte Alltagsgeschichten zeichnen sich Boulevardmedien zum einen durch eine bunte Varietät aus, zum anderen ist deren Struktur jedoch zugleich systematisch depolitisiert bzw. sind die angebotenen Erklärungsmuster entpolitisiert. Trotzdem findet sich im Populären Journalismus auch eine politische Dimension. Sparks (1996: 42) bezeichnet diese aber eher als einen „Politikentwurf“, der sich in ahistorischer Weise und stark fragmentiert auf Alltagsmeinungen und populistisches Gedankengut stützt. Die populäre Konzeption des Subjektiven knüpft in ihrer appellativen Struktur unmittelbar an die persönlichen Erfahrungen des Publikums an und wird zum politischen Erklärungsrahmen, innerhalb dessen die soziale Ordnung scheinbar durchschau- und verstehbar wird. Das Persönliche, das im Informationsjournalismus meist nur ein kleiner Teil eines Nachrichteninhaltes ist, wird im Populären Journalismus zum universalen Interpretationsrahmen und als solcher als Schlüssel zum Verständnis der sozialen Totalität bereitgestellt.
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Neben der textuellen Ebene weist Sparks auch auf die kontextuelle Ebene hin. Zwischen der massenmedialen Ideologie und der sozialen Totalität der Rezipienten muss in die Analyse des Populären Journalismus auch die Vermittlungsebene der institutionellen Strukturen, der wirtschaftlichen Beziehungen etc. einbezogen werden. Ein umfassendes Erhebungsbild wird dann zeigen können, dass die Absicht des Populären Journalismus kaum – wie es etwa der ‚kulturelle Relativismus‘ à la Fiske sehen möchte – darin liegt, Alltäglichkeit bzw. das ‚everyday life‘ als einen Ort des politischen Widerstands zu zelebrieren und in diesem Zusammenhang „intellektuelles Material zur Selbstbefreiung“ bereitzustellen, sondern dass das Populäre im Boulevardjournalismus unter dem Druck ökonomischer Notwendigkeiten häufig eine durchaus reaktionäre Kategorie darstellt (vgl. Sparks 1996: 42). Diesen Gedanken und andere mehr exemplifizieren Bruck und Stocker (1996) an Hand des österreichischen Boulevardblattes Neue Kronen Zeitung. Ziel der beiden Autoren ist es, die Rolle der Boulevardzeitung in der Alltagspraxis des Publikums, d.h. den Umgang der Leser mit der Zeitung und den Prozess der damit verbundenen Sinnproduktion, zu erklären. Die Varietät der Nutzung der Neuen Kronen Zeitung zeigt sich für Bruck und Stocker in der „Vielfältigkeit der Text-Leser-Interaktion“. Ihre Hauptthese lautet, dass verschiedene Personen verschiedene Teile der Zeitung in verschiedenen Situationen in unterschiedlicher Weise lesen würden. Soziodemografische und psychologische Variablen, Textauswahl bzw. textuelle Selektionsmuster, Leseorte und Lesezeiten sowie Lektüremuster geben Auskunft darüber, wie Boulevardzeitungen ihr Publikum vielschichtig und konventionalisiert ansprechen und die Inhalte von den Rezipienten im Prozess des Verstehens komplettiert bzw. „weitergeschrieben“ werden (vgl. Bruck/Stocker 1996: 287f., 296). So bestimmen soziale Schichtzugehörigkeit, inhaltliches Interesse und textuelle Komplexität in hohem Maß die Publikumszuwendung, wobei im Rezeptionsprozess vor allem diejenigen journalistischen Botschaften bevorzugt würden, die – im Sinne von Lévi-Strauss (1963: 89) – „gut zu denken“ seien, d.h. der jeweils präferierten Bedeutung einen Zusammenhang bzw. Anschlussmöglichkeiten an den Alltag verleihen könnten (vgl. Alasuutari 1996: 28; Bruck/Stocker 1996: 259f.). Aus den erhobenen Selektions- und Lektüremustern setzen die beiden Autoren schließlich zwölf Faktoren des Text-Leser-Interaktionsprozesses zusammen. Der quotenstarke Zuspruch des Publikums gegenüber der Neuen Kronen Zeitung ist demnach bedingt durch niedriges Einstiegsniveau, interne Differenzierung des Produkts für verschiedene Bildungsschichten und Rezeptionssituationen, Emotionalisierung, Unterhaltung, handliche Blattgröße, Orientierungsangebote für den Alltag, soziale Macht durch das Emotionalisierungsmuster der „Empörung“, Reiz der publizistischen Stärke, Interessenskonvergenz, reduzierte Komplexität bzw. Normalität als Weltbild, Gewohnheit bzw. Alltagsroutine und erst an letzter Stelle Befriedigung von Informationsbedürfnissen (vgl. Bruck/Stocker 1996: 297ff.). Sparks‘ Ansatz zur Erklärung des ideologischen Gehalts von Tabloid-Formaten bzw. von Politikentwürfen in Boulevardblättern wurde von Renger (2002) als Ausgangspunkt einer Studie über die politische Berichterstattung in den drei größten deutschsprachigen Boulevard-Tageszeitungen herangezogen. Die deutsche Bild-
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Zeitung, die österreichische Neue Kronen Zeitung und der Schweizer Blick wurden quantitativ und qualitativ untersucht; mit einer Objektivitätsanalyse (vgl. Merten 1995: 27ff.,222f.) wurde die objektive Darstellung in der Berichterstattung überprüft, etwa die Trennung von Nachricht und Meinung. In der Untersuchung zeigte sich Folgendes (vgl. Renger 2002: 230f.): •
Eine Tendenz von den boulevardjournalistischen Randzonen hin zu einem populärjournalistischen Mittelfeld kann in bestimmten Merkmalen für die BildZeitung angeführt werden;
•
boulevardjournalistische Tageszeitungen bieten ein eher schmales Spektrum an politischen Berichtsthemen;
•
die untersuchten Blätter betonen in ihrer Politikberichterstattung (überraschenderweise) weniger den individuell-privaten ‚Human interest‘-Bereich, sondern behandeln in erster Linie innen- und außenpolitische Themen;
•
die gebotenen politischen Inhalte sind stark fragmentiert und überwiegend als Nachricht oder Meldung aufbereitet;
•
Unmittelbarkeit und Nähe wird in der politischen Berichterstattung der Boulevardblätter u.a. durch starke Wertungen und Meinungs-Sedimente in – nach außen hin – objektive journalistische Darstellungsformen eingebettet;
•
das Persönliche und Meinungsbetonte dürfte auch als Andockstelle für die individuellen Erfahrungen des Publikums dienen.
Auf Grund dieser Befunde wird auch klar, dass der Boulevard- und Populäre Journalismus als eine Art von Diskursmaschine aufzufassen ist, die in ihren Manifestationen Empörung initiiert und Vorurteile in – oft wochenlangen – Serien- und Kampagnenformen gezielt managt – und auf diese Weise auch durchaus Politik betreibt (vgl. Renger 2002: 231).
4 Zusammenfassung Die Formulierung einer Theorie des Populären Journalismus wird dadurch erschwert, dass sich das Phänomen des Populären mittlerweile quer durch sämtliche medialen Genres zieht, das System Journalismus zunehmend „an den Rändern ‚zerfranst‘“ (Scholl/Weischenberg 1998: 270) und deshalb nicht (mehr) an einzelnen Erscheinungsformen festgemacht werden kann. Massenmedien – so Luhmann (1996: 20) – seien heute generell „auf Popularisierung verpflichtet“. Vorläufig kann deshalb festgestellt werden: Statt einer spezifischen populärjournalistischen Theorie kann auf einen Pluralismus von unterschiedlichen theoriezugewandten Annäherungen an das Phänomen des Populären Journalismus verwiesen werden. Der Populäre Journalismus selbst ist als ein Subgenre bzw. Teilsystem in einem allgemeineren
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System von unterschiedlichen Journalismen zu begreifen, wobei – je nach Schwerpunktsetzung der Betrachtung – die Thesen einer intergrativen sozialtheoretischen Sichtweise von Journalismus als in verschiedene Kontexte geteiltes Funktionssystem (Weischenberg 1992, 1995; Scholl/Weischenberg 1998) oder als gesellschaftliches Ganzes (Hartley 1996) gültig sind. Die Anwendung der Perspektive der kontextuellen Populärkulturforschung bzw. des Cultural Studies-Ansatzes auf die Journalismusforschung ist somit weniger als ein Alternativmodell zur kommunikationswissenschaftlichen Mainstream-Journalistik aufzufassen, sondern vielmehr als ein weiterer analytischer Beitrag, um Journalismus insgesamt besser betrachten, beobachten, untersuchen, artikulieren und verstehen zu können. Eine kultur- bzw. kulturwissenschaftlich orientierte Journalismusforschung sieht den Gegenstand des Populären Journalismus allgemein im Spannungsfeld eines „struggle over meaning“ und fragt danach, wie die Bedeutung in jedem einzelnen journalistischen Text geschaffen und fixiert wird – sowohl auf der Produzenten- wie auf der Konsumentenseite. Der integrale Bezugspunkt für die Analyse des Populären Journalismus ist demnach die Beziehung zwischen den narrativen Strukturen und dem sozialen Bedeutungshintergrund.
Anmerkungen 1
Dieser Beitrag baut in Teilen auf Renger (2001) auf.
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Die (Fernseh-)Fiktion als Gemeinschaftswerk(en) und kulturelle Teilhabe Ursula Ganz-Blättler
1 Fiktion als soziale Praxis Begriffe wie ‚Information‘, ‚Berichterstattung‘, ‚Fiktion‘, ‚Unterhaltung‘, oder ‚Werbung‘ bezeichnen nicht primär einen Gegenstand oder eine Dienstleistung, im Sinne eines Produkts mit bestimmten, identifizierbaren Eigenschaften, sondern spezifische, unterschiedlich konzipierbare Kommunikationsprozesse, die stets mehrere Beteiligte involvieren und damit auch mehrere kommunikative Absichtserklärungen. Da möchte (oder hofft) jemand jemanden anderen, mehr oder minder Bestimmten, über einen Sachverhalt zu informieren bzw. ihm oder ihr Bericht zu erstatten. Oder: Jemand hat sich für einen kleineren oder größeren Personenkreis etwas ausgedacht, um diesen zu unterhalten oder ihm ein Produkt als Ware oder Dienstleistung schmackhaft zu machen. Dabei gibt es keine Gewähr für den gewünschten Erfolg, sei es im Sinne einer intendierten Verhaltensänderung, sei es in der Hoffnung auf gesellschaftliche Anerkennung oder signifikant steigende Absatzzahlen. Denn eine kommunikative Absicht trifft immer auf andere kommunikative Absichten und ist mit diesen nur bedingt kompatibel. Mit anderen Worten: Kommunikation ist, da in erster Linie eine Beziehungsgeschichte, letztlich unkontrollierbar und prekär.1 Fiktion als Absichtserklärung und soziale Praxis (und damit als kommunikatives Genre) bezeichnet vor diesem Hintergrund eine mehr oder weniger explizit formulierte Einladung zum Mitmachen beziehungsweise Mit-Imaginieren. Dies schlägt Noël Carroll (1998: 272) vor, der Fiktionen definiert als: „ […] stories that authors intend readers, listeners, and viewers to imagine.“ Das heißt, es geht um Geschichten, die Lesende, Zuhörende oder Zusehende nicht etwa fertig zusammengesetzt frei Haus geliefert bekommen, sondern als Bausätze und Imaginationsangebote erst einmal mit eigenen Versatzstücken aus Fantasie und kontextuellem Wissen, aus emotionalen Implikationen und Sinngebungen anreichern und ergänzen (sollen). Dokumentarische Berichterstattung (sei es als Ergebnis einer journalistisch-aktuellen oder auch historischen Langzeitrecherche) könnte analog definiert werden als ‚stories that authors intend readers, listeners, and viewers to realise‘; sie wären dann Einladungen zum gemeinsamen Nachvollziehen bzw. Wahr-Nehmen von solchen Geschichten, die durch vorgefundene (bzw. nicht eigens für den Kommunikations-
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prozess erfundene oder erdachte) Zeugnisse beziehungsweise durch entsprechende „Authentiziätssignale“ (nach Hattendorf 1999: 54), hinreichend abgesichert erscheinen.2 Dabei ist oder wäre ein solches (für) Wahr-Nehmen, genauso wie das Mit- und Weiter-Imaginieren, als aktiver und komplexer, als kontextabhängiger und nur sehr beschränkt kontrollierbarer Prozess zu verstehen – und zwar unabhängig vom Umstand, ob dabei für Außenstehende nachvollziehbare Spuren hinterlassen werden, ungeachtet auch des Umstandes, ob der Autor, je nachdem als Berichterstatter oder Spielleiter, über die Tragweite der individuellen und kollektiven Anschlussaktivitäten in Kenntnis gesetzt wird oder nicht. Wir haben es hier mit verschiedenen Formen von Lese-Verträgen oder kommunikativen Verträgen zu tun,3 die bestimmten genrespezifischen Regeln und Konventionen folgen, dabei aber auch immer wieder spezifische Konfliktfelder generieren. Als Einladung zum Mit-Imaginieren ist Fiktion auf der Empfängerseite angewiesen auf eine gewisse minimale Bereitschaft zu dem, was Samuel Taylor Coleridge bereits 1814 unter dem Stichwort der „poetic faith“ (vgl. Coleridge 1985: 314, und weiterführend Coleridge 2004) zusammengefasst hat, nämlich als „[…] willing suspension of disbelief for the moment“: Es geht beim Lesen, beim Zuhören und beim Zuschauen (oder bei einer performativen Kombination von all dem) ja gerade nicht darum, den Autoren zu ‚glauben‘ bzw. die als Protagonisten einer fiktionalen Erzählung kodierten Repräsentanten eines einmal imaginierten Parallel-Universums mitsamt ihren Erlebnissen, Erfahrungen und Emotionen als ‚wirklich‘ oder zumindest wahrscheinlich in ihrer Existenz zu bestätigen. Vielmehr verlangt der kommunikative Lese-Vertrag bei dieser mehrschichtigen und entsprechend komplexen Spielvariante, dass zunächst einmal – bevor überhaupt den angebotenen Imaginationen folgend mit- und weiter imaginiert werden kann – eine ganz eigene Welt des Glaubens kreiert oder einmal mehr bestätigt wird: Angenommen, die Geschichte lohnt den Aufwand, bin ich bereit, meinen prinzipiellen Unglauben an das, was sich als Fiktion zu erkennen gibt, metaphorisch an der Garderobe abzugeben, und zwar a) freiwillig und b) bei vollem Verstand, aber doch nur c) ‚for the moment‘ – für den Augenblick also und auf beschränkte Zeit. Die Rolle eines mit fiktionalen Genres vertrauten und entsprechend konditionierten Publikums ist dann aber eine doppelt aktive: Nicht nur erklärt es sich bereit zur freiwilligen Teilnahme an allerlei Ungereimtheiten, mit inbegriffen die AusserKraft-Setzung von physikalischen Gesetzen und die Aufhebung von jeglichem alltagstauglichen Common Sense. Darüber hinaus suggeriert Carrolls eingangs zitierte Definition, dass ein solches „Mitspielen“ sehr wohl auch als Ko-Autorenschaft verstanden werden kann. Ein wichtiger Unterschied zwischen dem Imaginieren und dem Fingieren ergibt sich dabei, in Anlehnung an Paul Sartres „Psychologie de l‘Imagination“ (1940) und Wolfgang Isers Überlegungen zu einer literarischen Anthropologie (1983 und 1991), in der unterschiedlichen sozialen Reichweite und Bedeutung solchen Tuns: Imagination erscheint ja, als Tagtraum verstanden, stets auf die Person des oder der Imaginierenden selbst bezogen und damit als eine private Tätigkeit, die ohne auf andere
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gerichtete „Anschluss-Imaginationen“ unentdeckt und entsprechend unreflektiert bleibt. Währenddem Fiktion als öffentliche Imagination den Austausch mit anderen Spielpartnern gezielt sucht – und sich in Folge dessen auch mit Vorteil an bereits ausgehandelte Regeln und Konventionen (zum Beispiel der narrativen Genres oder auch der für ein bestimmtes Medium ausgebildeten Symbolsprache) hält.4 Was nun allerdings in Carrolls Definition ausgeklammert oder zumindest ambivalent bleibt, ist die Frage, inwieweit dieses Weiter-Imaginieren auch ein WeiterFingieren sein darf und auch dann noch im Rahmen der von dem Autor oder von den Autoren intendierten rezeptiven Aktivitäten ‚legitim‘ erscheint. Mit anderen Worten: Während die Rolle des oder der Interpretierenden erneut als eine aktive bestätigt wird, da sie nach Carroll eine Mit-Autorschaft am Text konstitutiv voraussetzt (Vordenker zum Begriff des „offenen Kunstwerks“ war hier Eco 1962, Vordenker zu den les- als „schreibbaren“ Texten Barthes 1970), erscheint die Rolle des Autors als die des Voraus-Imaginierenden und Anstifters durchaus doppeldeutig: Er kann genauso gut als Spielleiter im Sinne eines Conférenciers oder master of ceremonies verstanden werden, der Regeln setzt und an allfällige Mitfingierende weiter kommuniziert, ohne dass er das Spiel der Imaginationen selbst zu beeinflussen sucht, wie auch als strategischer „Marionettenspieler“, der sich die Kontrolle über den Prozess des Zusammensetzens nach den Regeln seines Spiels vorbehält und eifersüchtig darüber wacht, dass das, was seitens von einzeln oder kollektiv Rezipierenden über imaginative Zusatzleistungen an Mehrwert produziert wird, im Normbereich des zuvor (sei es gesetzlich oder konventionell) Festgelegten bleibt. Was ist aber, wenn der Einladung zum Mit- und Weiter-Imaginieren auf der Empfängerseite über ein mehr oder weniger kreatives Mit- und Weiter-Fingieren Folge geleistet wird? Unter welchen Umständen ist dieses Tun – in Form von individuellen Wunschträumen oder auch expliziten Anschlusskommunikationen, wie sie beim Austausch von Fanfiction als Tertiärtexten zu Fernsehserien eher die Regel als die Ausnahme sind – gerade noch als legitim zu betrachten oder aber als kommunikativer „Vertragsbruch“? Gerade bei kommerzialisierten oder anderweitig institutionalisierten Fiktionsvorgängen sind hier Konflikte um Abgrenzung und Besitzstandwahrung beziehungsweise Partizipation und Aneignung vorprogrammiert, legen doch wirtschaftliche ebenso wie kulturelle oder ideologische Interessen nahe, dass der Zugriff der Rezipierenden auf autorenrechtlich geschütztes Material nach Möglichkeit auf ein privates Weiter-Imaginieren – plus allfällige Mund-zu-Mund-Propaganda – beschränkt bleibt.5 Wir haben es hier mit einem von verschiedenen Konfliktfeldern zu tun, für die der fiktionale Kommunikationsvertrag als Vereinbarung zwischen Anbietern von narrativen Strukturen, die zum Imaginieren einladen, und Abnehmern dieser narrativen Strukturen, die sich freiwillig mit ins einmal vorgeschlagene narrative Universum als fiktionalen think tank begeben, keine oder nur unzulängliche Regelungen bereit hält.6 Jedenfalls ‚lebt‘ der Autor in Carrolls Definitionsvorschlag, und er (oder sie) hat durchaus entscheidenden Einfluss auf die eigene Schöpfung als einmal begonnenes und irgendwann auch, zumindest versuchsweise, zu Ende geführtes Werk.7 Und
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trotzdem lässt sich das ‚Ende der Geschichte‘ – verstanden als narrative Schließung, wie sie in älteren literarischen als verfasserzentrierten Erzählmodellen fast zwingend vorgeschrieben war8 – bei einem Fingieren, das als Gemeinschaftswerk(en) definiert wird, kaum mehr verlässlich absehen oder gar am Werk selbst festmachen. Denn die Erzählung ist als gemeinsam Ersponnenes auch erst dann ‚fertig‘, wenn alles Mitund Weiter-Imaginieren ein Ende hat, sei es als Resultat einer entsprechenden kommunikationsvertraglichen Übereinkunft oder, weil die gemeinschaftlich erdachte Geschichte als Text den daran Beteiligten irgendwann schlicht ‚aus dem Sinn‘ kommt.9 Es ist von daher vor allem eine Konventionsfrage, ob man vom Ende einer Geschichte als story bereits dann sprechen will, wenn sich die Autoren unmissverständlich von ‚ihrer‘ Fiktion als Werk verabschiedet haben und keine weiteren Einladungen zum Fingieren mehr nachschieben,10 oder ob erst die (explizite oder implizite) Akzeptanz eines einmal angezeigten Endes seitens der Leser-, der Zuhöreroder Zuschauerschaft die Geschichte im Wortsinn abschließt.
2 Kommunikation als Transport und Zeremonie Während bereits der „kommunikative Vertrag“ als Metapher nahelegt, dass hier Kommunikation nicht einfach als Informations- oder Bedeutungstransfer von einer Seite (Kommunikator/Autor) nach einer anderen (Rezipient/Leser) zu verstehen ist, impliziert auch die Idee der Fiktion als einer Einladung zum Weiter-Imaginieren und Weiter-Kommunizieren eine (inter-)aktive Beteiligung des Publikums am kreativen Prozess – sei es in der Rolle einer partizipativen, weitgehend reglementskonformen oder aber einer konspirativ-oppositionellen Interpretationsgemeinschaft. Eine entsprechende Beschreibung von Kommunikation, die Bedeutungen nicht (nur) überträgt, sondern als kollektive Leistung im Rahmen bestimmter kontextueller Vorgaben immer wieder neu generiert und modifiziert, hat James W. Carey 1975 – also ungefähr zeitgleich mit Stuart Halls berühmterem Encoding/Decoding-Modell – in seinem Aufsatz „A Cultural Approach to Communication“ vorgeschlagen (vgl. Carey 1988: 14-15): „Two alternative conceptions of communication have been alive in American culture since this term entered common discourse in the nineteenth century. Both definitions derive, as with much in secular culture, from religious origins, though they refer to somewhat different regions of religious experience. We might label these descriptions, if only to provide handy pegs upon which to hang our thought, a transmission view of communication and a ritual view of communication.“
Carey schlägt dann, im Einklang mit seiner Herkunft aus den US-amerikanischen Cultural Studies, mehrere Standpunkte und entsprechende Sichtweisen vor, von denen aus sich kommunikative Prozesse perspektivisch einmal so und dann wieder ganz anders betrachten lassen. Und er lädt uns ein, dasselbe zu tun – und sei es bloß, um uns ein paar praktische bildliche ‚Kleiderhaken‘ zu zimmern, an denen wir unsere Gedanken aufhängen und festmachen können.
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Die metaphorische Konzeption von Kommunikation als Transport (bestimmter Botschaften von einem räumlichen Punkt zum anderen) einerseits und Ritual (zur Herstellung und zum Erhalt von Gemeinschaft über Zeit) andererseits rückt dabei jeweils unterschiedliche, handlungstypische Rollenmuster und situative Aspekte desselben Vorgangs in den Vordergrund, wie es das nachfolgende Modell deutlich macht: Tabelle 1:
Zwei Kommunikationsmodelle (nach James Carey 1975/1988):11
Funktion:
Transmissionsmodell Transport Sender und Empfänger Gesendet und empfangen Information Empfänger erreicht (Exaktheit der Übermittlung) Einfluss über räumliche Distanz
Medium dient als:
Kanal, Transportmittel
Analogiebildung: Rollenverteilung: Information wird: Ziel erreicht, wenn:
Ritualmodell Zeremonie Teilnehmende Kreiert und re-kreiert Erfahrung geteilt wird (Gefühl der Gemeinschaft) Erhalt von Gemeinschaft über Zeit Treffpunkt, Forum
Zwei Argumente scheinen mir in Careys doppelgesichtiger Konzeption von Kommunikation besonders anregend: Zum einen die postulierte Nähe unserer heutigen, säkularen Kommunikationsbegriffe (die ja immer auch den Glauben an ein mögliches Gelingen von Kommunikation voraussetzen) zu ursprünglich religiös besetzten Strategien und Praktiken – man könnte diese beispielsweise als „Wort Gottes verbreiten“ und „gemeinsam feiern“ paraphrasieren. Und zum anderen das Paradox, wonach Kommunikation (als Kulturträger und Kulturfaktor) stets ambivalent zu verstehen sei – nämlich auf der einen Seite durchaus hierarchisch strukturiert und auf die sinngemäße Übermittlung einer Botschaft von einem Punkt zum anderen bedacht, auf der anderen Seite aber auch um Ausgleich von unterschiedlichen Positionen zugunsten der gemeinschaftlichen Teilnahme an demselben Anlass oder Prozess bemüht. Wobei das eine das andere nicht ausschließt: Ein statusbedingtes Hierarchiegefälle setzt ja zumindest eine gemeinsame Symbolsprache voraus, die alle in das System eingebundenen Personen und Gruppen als Angehörige derselben communitas kenn- und auszeichnet. Von dieser communitas als Exklusivgemeinschaft bleiben dann aber wiederum alle dissidenten Individuen und Gruppen ausgeschlossen, die sich entweder als nicht zugehörig erklären oder denen die Zugehörigkeit von seiten der dominanten ‚In-Group‘ verweigert oder irgendwann abgesprochen wurde. Folgt man Careys Argumentation, kann man unter anderem zum Schluss kommen, dass es bei einer analytischen Betrachtung von Kommunikationsprozessen gar nicht so sehr der Forschungsgegenstand ist, der die Wahl der jeweiligen Forschungsperspektive nahelegt, sondern vielmehr das leitende Forschungsinteresse, das Hierarchiegefälle genauso wie Austauschprozesse (hier: die „vertraglichen“ Absprachen von Kommunikationspartnern) näher unter die Lupe nehmen kann. Gerade die klassischen Massenmedien wie Presse, Kino, Radio und Fernsehen, die ja gemäß Ger-
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hard Maletzke (1963, 1987) grundsätzlich asymmetrisch organisiert sind und über die jeweilige technische Infrastruktur ein disperses, weitgehend anonymes Publikum erreichen, werden inzwischen nicht mehr allein in ihrer Funktion einer territorialen Versorgung mit zentral aufbereiteten Neuigkeiten analysiert, sondern, genauso wichtig, in einer Vielfalt von zeremoniell angebotenen und entsprechend institutionalisierten Sozialfunktionen, die über die virtuelle und zeitweilige Präsenz in symbolischen Kommunikationsgefügen oder -netzwerken wahrgenommen werden (können). Dazu gehören alle Formen von kollektiver Sinnstiftung, gehören insbesondere auch raum- und zeit- sowie gruppenspezifische Kongregationen und Segregationen, und es gehören – gerade mit Blick auf die hier behandelten literarischen auf audiovisuellen Fiktionen – eine Vielzahl von gemeinschaftlich bewirtschafteten Projektionsflächen für Wunschvorstellungen und Ängste mit dazu.
3 Fiktion als kommunikatives Genre Ein Genre, als textbezogenes Ordnungssystem oder hierarchisch geordneter Bestandteil einer solchen Ordnung (im Sinne einer ‚Textsorte‘, die zu anderen Textsorten in spezifische Beziehung tritt), bezeichnet gemäß Jim Cullen (2001: 5) „[…] a form that has more specific expectations surrounding it.“ Genres sind als von Erwartungen geprägte Textformen immer konventionell und rekurrieren auf erkennbare Modelle; sie sind außerdem häufig mit genrespezifischen Formeln, also bewährten Rezepturen hinsichtlich Ingredienzien und Abläufen, gekoppelt. Gemäß John Fiske (1987, 1999: 110) sind diese im Fall der Populärkultur industriell geprägt und schon von daher nicht an ästhetischen Kriterien wie etwa ihrer Originalität zu messen. Während Genres ohne Weiteres das Medium wechseln können und sich damit in ganz verschiedenen symbolischen Kodesystemen „einnisten“ können, bezeichnen Formate nach Cullen (ebd.) „[…] the specific organization a form takes within a medium“. Auch hier sind es, im Fall der Populärkultur, vor allem ökonomische Standards, die die innere und äußere Erscheinungsform des „formatierten“ Textes hinsichtlich ihrer Platzierung, ihrer räumlichen oder zeitlichen Ausdehnung und ihrem Aufbau bestimmen.11 Genres können aber nicht nur als Textsorten gemäß strukturellen Kategorien unterschieden werden, sondern lassen sich auch über ihre massenmediale Funktionen als diskursive Praxis definieren. Niklas Luhmann unterscheidet bekanntlich in seiner systemtheoretischen Beschreibung von Massenkommunikation (1996, 20052) drei Makrogenres, die je spezifische Funktionen für die in ihnen gespiegelte (oder: in ihnen rekonstruierte) soziale Realität wahrnehmen: die Berichterstattung, die Unterhaltung und die Werbung. Allen dreien sind, um Cullens Kriterien wieder aufzugreifen, sowohl genrespezifische Konventionen und Formeln wie auch medienspezifische Formate eigen. Die Fiktion zählt dabei, wie das Spiel auch, zu den unterhaltenden Textsorten, denn sie stellt der sozialen Realität alternative Spielarten von Realität zur Seite, die auf Grund ihrer Kodierung als „Wirklichkeitsmodell“ bereits
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ein Stück weit Unverbindlichkeit signalisieren: Man kann sich zwar auf sie einlassen und zum Beispiel alle möglichen, mehr oder weniger eskapistischen Vergnügensaspekte daraus gewinnen, ist dazu aber auf Grund des inherenten Freizeitcharakters zumindest nicht verpflichtet. Während nun unterhaltende Textsorten all das, was wir nach den Kriterien unseres Allgemeinwissen als soziale Realität wiederzuerkennen glauben, als Möglichkeit und Imagination immer wieder neu entwerfen; während andererseits werbende Textsorten entsprechend ihrer Abhängigkeit von kommerziellen oder anderen Interessen nichts anderes tun als erwartungsgemäß zu ‚lügen‘ (nach Luhmann zwei durchaus legitime Strategien, um die häufig postulierte Repräsentationsfunktion von Massenmedien zu relativieren), sieht sich ausgerechnet die als authentisch und entsprechend ernsthaft kodierte Berichterstattung in allen ihren Spielarten mit der an sich unlösbaren Aufgabe konfrontiert, so etwas wie ‚Realität‘ oder ‚Wirklichkeit‘ auch tatsächlich (re-)produzieren zu müssen. Als Problem stellt sich dabei weniger das – bei allen am Kommunikationsprozess beteiligten Parteien durchaus vorhandene – Wissen um die prinzipielle Unmöglichkeit eines solchen Vorhabens als vielmehr die, wiederum genrespezifische, Erwartung, dass es eben doch möglich sein müsse. Und eine interessante Anschlussfrage wäre, wo Niklas Luhmann heute Hybrid-Genres wie etwa die verschiedenen Spielformen von Reality ansiedeln würde – ziemlich sicher nicht in dem durch die Bezeichnung „Reality“ an sich suggerierten Bereich der Berichterstattung, sondern je nachdem im Bereich der Unterhaltung (auf Grund der supponierten Alltagswelten und Extremsituationen sowie des unübersehbaren Spielcharakters) oder auch im Bereich der Werbung (auf Grund der Abhängigkeit von kommerziellen Interessen und des forcierten Einsatzes interaktiver Technologien). Fiktion als kommunikatives Genre erlaubt aber nicht nur einen durch eigene Erwartungen vorgespurten, konventionell geregelten und letztlich virtuellen Übertritt in alternative Realitäten, sondern, wie wir oben gesehen haben, auch eine aktive und kreative Teilnahme an den Ereignissen und Handlungen innerhalb des einmal angewählten Paralleluniversums. Für solche zwar vergleichsweise risikoarmen, aber durchaus zeit- und energieaufwändigen Aufenthalte in Grenzregionen existenzieller menschlicher Erfahrung, zu denen letztlich alle medialen Unterhaltungsangebote einladen, hat der britische Anthropologe Victor Turner den Begriff des „Liminoiden“ geprägt (vgl. Turner 1982, 1995). Auch hier spielt die weiter oben erwähnte Vorstellung von kommunikativen Gemeinschaften eine wichtige Rolle: Indem ich mich auf Fiktionen einlasse und dafür zum einen „poetic faith“ entwickle, zum anderen aber auch mein ganzes gesammeltes Vor- und Spezialwissen in die Waagschale werfe, um einen Mehrwert an Sinn zu generieren, gehe ich einen „kommunikativen Vertrag“ nicht nur mit den Autoren der gewählten Geschichte ein (die mir die wesentlichen Versatzstücke liefern, die ich für mein eigenes privates oder öffentliche Weiter-Imaginieren benötige), sondern auch mit den Spielfiguren der Geschichte (die an meiner Stelle oder als mir vertraute Bezugspersonen handeln, leiden und genießen, triumphieren und scheitern) und nicht zuletzt mit all jenen, die an derselben Geschichte und ihrem Fortgang Interesse und Vergnügen zeigen – sei es als ‚Mitspielende‘ und Komplizen, sei es als Mehr- oder Weniger-Wissende mit ent-
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sprechenden taktischen Vorteilen und Defiziten. Das heißt aber auch, dass die durchaus eigen-sinnige Interpretation von fiktionalen Geschichten, als Re-Kreation und individuelle Eigenleistung mit zahllosen kollektiven Implikationen, letztlich doch nicht folgenlos bleibt.
4 Fiktion als Einladung zur kulturellen Teilhabe In ihrem Aufsatz zum angelsächsischen Konzept der cultural citizenship (gemeint ist damit eine ‚bürgerliche‘ Teilhabe an symbolhaft über Medienkommunikation vermittelten Gemeinschaften, die so etwas wie kulturelle Identität überhaupt erst ermöglichen), postulieren Elisabeth Klaus und Margreth Lünenborg, dass sich soziale Zugehörigkeiten heute ohne Rekurs auf medial vermittelte Erfahrungen, ohne das Bewusstsein aber auch für den rituellen Inklusions- und Exklusionscharakter von solcherart symbolisch generierten Gemeinschaften nur noch unzulänglich beschreiben und erklären lassen (2004: 199). Und sie erklären die kulturelle Teilhabe an massenmedialen Diskursen zu einer zentralen und notwendigen (wenn auch nicht exklusiven oder gar hinreichenden) Dimension von „Staatsbürgerschaft“ (ebd.: 200). Cultural citizenship umfasst vor diesem Hintergrund „[…] all jene kulturellen Praktiken, die sich vor dem Hintergrund ungleicher Machtverhältnisse entfalten und die kompetente Teilhabe an den symbolischen Ressourcen der Gesellschaft ermöglichen. Massenmedien sind dabei Motor und Akteur der selbst- und zugleich fremdbestimmten Herstellung von individuellen, gruppenspezifischen und gesellschaftlichen Identitäten.“
Populäre Fiktionen nun ermöglichen, indem sie ganz verschiedene Publika zum individuellen und kollektiven Mit- und Weiterimaginieren von medial angebotenen Symbolstrukturen einladen, die Bestätigung und spielerische („liminoide“) Neukonstruktion von Identitäten sowohl entlang den Parametern, die durch genre- und medienspezifische Konventionen und Kodes vorgeben sind wie auch (mehr oder weniger intendiert) im Widerspruch dazu. Ein solches ‚Aushandeln‘ nicht nur von Bedeutungsstrukturen an sich, sondern auch von gesellschaftlichen Positionen innerhalb von (expliziten oder impliziten) Interpretationsgemeinschaften kann in der Tat weitreichende Folgen haben. Das Beispiel einer Fernsehfiktion für ein begrenztes, nämlich jugendliches, vorwiegend ländliches und weitgehend weibliches Publikumssegment (Hélène et les garçons) zeichnet etwa Dominique Pasquier in ihrer ethnografischen Studie einschlägiger In- und Outgroup-Aktivitäten nach (1999), wobei sie verschiedene Spielarten von Briefkorrespondenz (an die verehrten Stars der Serie) und emotional höchst intensiv erlebte Konzertbesuche genauso registriert wie den einseitig verordneten Ein- oder Ausschluss der Serie aus dem familiären Alltag oder serien- ebenso wie genderbedingte Konflikte in der schulischen Öffentlichkeit. Ihren Beobachtungen zu Folge sind es häufig parasoziale Beziehungen zu (bestimmten) Serienfiguren, die den Jugendlichen in der Zeit der Adoleszenz über als schwierig erlebte Grenzsituationen hinweg helfen; und ebenso typisch erscheint
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das Abflauen des Interesses für diesen besonderen Gegenstand, sobald sich die eigene, durchaus als liminal erlebte Befindlichkeit innerhalb des unmittelbaren sozialen Umfeldes geklärt hat. Explizit mit dem Konzept der cultural citizenship argumentiert schließlich die niederländische Kommunikationswissenschaftlerin Joke Hermes, die am Beispiel populärer (und zwar literarischer) Crimefiction, die von Frauen für Frauen geschrieben wurde, die Demarkationslinien von postmodernen Gemeinschaften näher zu beschreiben sucht. Zum einen fordert sie (1998: 159), dass bürgerliche Teilhabe als citizenship neu zu definieren sei als „[…] sets (plural) of practices that constitute individuals as competent members of sets of different and sometimes overlapping communities one of which should ideally constitue the national (political) culture.“ Zum anderen betont sie, dass gerade solche offenen und dialogisch angelegte Symbolstrukturen, wie sie von populären Fiktionen als „Plattform“ für eigene Aktivitäten und Diskussionsforum angeboten würden, diese Formen von Teilhabe ermögliche (vgl. ebd. und Hermes/Stello 2000). Als weiterer wichtiger Aspekt kommt bei Hermes/Stello die emotionale Zugehörigkeit ins Spiel, die Interpretationsgemeinschaften als Bürgergemeinschaften mindestens genauso auszeichne wie eine gemeinhin zu Grunde gelegte Lese- oder anderweitige Kompetenz. Und wenn auch im Übrigen der regelmäßige Konsum von populären Unterhaltungsangeboten noch nicht als politisch relevante Tätigkeit zu bezeichnen sei, so gehe es doch um dieselben grundlegenden Fragen von Identätit und Gemeinschaft, Zugehörigkeit und Inklusions- sowie Exklusionsabsichten (2000: 219): „Broadly defined, citizenship is first of all the ways in which we feel connected to the different communities we are part of, ranging from formally organized communities such as the nation state to virtual communities such as feminism. […] Reading detective fiction may not in itself be a political act, but as a cultural practice it is related to questions of identity and community; to a sense of belonging as well as to mechanims of inclusion and exclusion.“
5 Fiktion im Fernsehen Fiktion im Fernsehen ist in erster Linie Fiktion und erst in zweiter Linie Fernsehen. Weder die Eigenschaft als audiovisueller Text noch der besonders häufige Umstand der Serialität zeichnet entsprechende Angebote vor anderen, ähnlich strukturierten massenmedialen Imaginationsangeboten aus. Wenn es Unterschiede gibt, dann betreffen sie zum einen die vergleichsweise hohe, nämlich wöchentliche oder sogar tägliche Ausstrahlungsfrequenz der entsprechenden Programmbestandteile und damit – eine erklärte Bereitschaft zur aktiven Teilhabe einmal vorausgesetzt – die besonders große Wahrscheinlichkeit der Habitualisierung und emotionalen Involviertheit (vgl. dazu Hagedorn 1995). Zum anderen erklären sie sich auch aus der spezifischen gesellschaftlichen Institutionalisierung des Mediums. Dazu gehört etwa die Frage, ob es sich bei einer ursprünglich produktionsverantwortlichen Senderfa-
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milie um öffentlich oder privat verantworteten Rundfunk handelt, ob der ausstrahlende Sender dieselben gesetzlichen und konzessionsmäßigen Auflagen zu respektieren hat wie andere vergleichsweise Anbieter (was zum Beispiel für Kabelsender in den USA im Vergleich zum sogenannten Free TV nur bedingt gilt) und nicht zuletzt das kontextuelle Umfeld: Mit welchen technischen Neuerungen, mit welchen ökonomischen Zwängen und gesellschaftlichen Umbruchprozessen sieht sich das grundlegende Mediensystem gerade konfrontiert, und zwar auf welchen(der lokalen, der regionalen, der nationalen oder allenfalls auch der internationalen) Ebene? Ein interessantes Konzept mit Erklärungspotenzial für einige aktuellen Entwicklungen in der europäischen, aber auch der US-amerikanischen Fernsehunterhaltung hat Umberto Eco 1983 vorgelegt. In seinem polemischen Aufsatz zur „verlorenen Transparenz“ einer zwar immer komplexeren, dabei aber nicht unbedingt vielfältigeren Fernsehlandschaft zeichnet er auf den ersten Blick die gleichen Prozesse nach, die im deutschsprachigen Raum als „Dualisierung“ beschrieben und kritisiert wurden. Und doch folgt seine Unterscheidung von „Paläofernsehen“ und „Neofernsehen“ (dazu auch Casetti/Odin 1990) primär anderen Demarkationslinien und lässt sich eher als Paradigmenwechsel von einem angebotsorientierten hin zu einem nachfrageorientierten Rundfunkmodell (entsprechend Ellis 1999) interpretieren denn als bloße Kommerzialisierung eines ursprünglich öffentlich-rechtlichen public service. Während das ‚alte‘ Fernsehen, das häufig als Monopolbetrieb konzipiert war, lediglich ausgewählte und dieser ganz besonderen Ehre als würdig erachtete Personen auf den Bildschirm holte, sucht etwa das ‚neue‘ Fernsehen den Kontakt und die Interaktion mit ‚seinem‘ Publikum an allen Fronten, sowohl hinter wie auf dem wie auch diesseits des Bildschirms. Mit der zunehmenden Alltäglichkeit eines Fernsehens als ‚Nahsehen‘ kommen sich aber auch die beiden Instanzen der Produktion und Rezeption laufend näher, und neue Formen der Zuschauerbeteiligung gehen einher mit neuen Formen der Zuschaueransprache. In den Worten von Casetti/Odin (1990, dt. 2000: 319): „Im Neo-Fernsehen ist Vertrautheit die Regel: Man nennt sich beim Vornamen, plaudert über Intimitäten […]; man klopft sich auf den Rücken, spielt sich Streiche, erzählt Witze […]. Hier sind wir wirklich weit vom pädagogischen Modell des Paläo-Fernsehens entfernt. Das NeoFernsehen ist keine Institution mehr, die sich als Verlängerung der Schule oder der Familie versteht, sondern als ein in den täglichen Raum integrierter Raum, als ‚Lebensort‘ wenigstens, wenn man darunter einen Ort versteht, an dem es auf beiden Seiten des Bildschirms Menschen gibt, die hier Stunde um Stunde ihres Lebens verbringen.“
Rückwirkungen dieser Entwicklung lassen nicht zuletzt auch die fiktionalen Angebote ebendieses ‚neuen‘ Fernsehens erkennen; sei es, dass der alltäglichen Lebenswelt von Serienhelden mehr Raum eingeräumt wird als noch vor 10 oder 20 Jahren, sei es, dass das Publikum über Begleitangebote wie Merchandising-Produkte, Bücher und Spiele zur Serie, intertextuelle Verweise zwischen Programmen und nicht zuletzt über aufwändig gestaltete und betont interaktive Webseiten selbst in gerade ‚Folgen-losen‘ Zeiten bei der Stange gehalten wird. Um den Unterschied an zwei unterschiedlichen Beispielen festzumachen: Siska ist deutsches Paläo-Fernsehen, genauso wie Derrick und Der Kommissar es waren. Welche ‚Neo‘-Fernsehserie
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könnte es sich leisten, den Tod des Titelhelden (wegen anderweitiger Interessen des Hauptdarstellers Peter Kremer) völlig ohne Vorankündigung und weitergehende fiktionale Verarbeitung abzuhandeln? Bei Siska geht das ohne Umstände: Der Hauptkommissar stirbt, sein Bruder (mit selbem Namen) übernimmt Kommissariat, Verantwortung und Titelpart, und das Publikum hat sich damit abzufinden. Ganz anders die US-amerikanische, vom renommierten Kabelfernsehsender HBO verantwortete Serie Six Feet Under, die ihrem auf den ersten Blick wenig alltagstauglichen fiktionalen Kerngeschäft (es geht um ein Bestattungsunternehmen) erstaunliche Facetten von Interaktivität abzugewinnen vermag. Nicht nur, dass die hauseigene Webseite (vgl. http://www.hbo.com/sixfeetunder) verschiedene Möglichkeiten zur Beteiligung an Publikumsdiskussionen zu den laufenden und weiter zurück liegenden Episoden bereit hält und dazu weiterführende Imaginationsangebote wie etwa Nachrufe auf die in der Serie verstorbenen Spielfiguren – darüber hinaus erlauben die Macher der Serie in ihren weekly features ausgewählte Einblicke in die Serienwerkstatt, was sich in der Ankündigung beispielsweise liest als „Inside the Writers‘ Room“, „In a Casting Session“ oder „In a Production Meeting“. Die von Umberto Eco beklagte „verlorene Transparenz“ wird hier versuchsweise wettgemacht über eine geradezu familiär anmutende Atelier-Atmosphäre, die die Zuschauenden einlädt zu regelmässigen Einblicken hinter die Kulissen des Produktionsprozesses. Wenn das ‚neue‘ Fernsehen die Schranken zwischen der Institution und dem Publikum niederreisst oder zumindest durchlässiger macht, dann sehen sich auch die Autoren fiktionaler Unterhaltungsangebote entsprechend herausgefordert. Wie dieser Aufsatz allerdings aufzuzeigen versuchte, sind es nicht primär die Veränderungen in den Medienstrukturen, die zu veränderten Rezeptionsgewohnheiten führen (müssen). Genauso wie Fiktion als kommunikatives Genre und soziale Praxis auf die Zusammenarbeit von Partnern auf beiden Seiten des kommunikativen Vertrags angewiesen ist, und zwar in jedem Medium, so sind auch mediale Entwicklungsprozesse das Ergebnis von komplexeren Zusammenhängen, die (mindestens) zwei Seiten involvieren. Zur ‚Bürgerin‘ einer wie auch immer gearteten zukünftigen Medienoder auch Informationsgesellschaft werde (oder wurde) ich vielleicht bereits ohne mein Zutun erklärt – welche Rollen, und damit auch Rechte und Pflichten, ich aber in den neuen Bürgergemeinschaften wahrnehme, hängt doch wesentlich von meinen Interessen und Bedürfnissen und vor allem von meiner eigenen Bereitschaft zur Involviertheit ab.
Anmerkungen 1 2 3
Zur Kommunikation als tentatives Unternehmen und „Risikogeschäft“ vgl. ausführlich Luhmann (1996, 2005); zur Genese des Begriffs auch Peters (1999). Für Fernsehnachrichten auch Luginbühl (2004). Den Begriff des „contrat de lecture“ oder „contrato de lectura“ hat der argentinische Sozial- und Geisteswissenschaftler Eliséo Véron geprägt (Véron 1985, und weitere Ausführungen bei Adam 1996), wobei er sich auf das Medium der Presse bezog. Francesco
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Casetti schlägt, mit Blick auf Fernseh- und Filmgenres, den Begriff des Kommunikationsvertrags vor (2001). 4 Dazu Iser 1991: 21-22: „Da das Fingieren auf Zwecksetzung bezogen ist, müssen Zielvorstellungen durchgehalten werden, die dann die Bedingung dafür abgeben, Imaginäres in eine bestimmte Gestalt zu überführen, welche sich von den Fantasmen, Projektionen und Tagträumen unterscheidet, durch die das Imaginäre direkt in unsere Erfahrung tritt.“ Für audiovisuelle Fiktionen weiterführend auch Burger 1996 und Hattendorf 1999. 5 Zu den Fans, die als weithin sicht- und hörbare Hauptakteure bei der Produktion von tertiären Anschluss-Texten sowohl zu den besten Konsumenten der populären Kulturindustrie zählen wie auch zu den Hauptverdächtigen, was Copyright-Verletzungen betrifft, vgl. z.B. Hills (2000 und 2002: dort insb. 27-45). 6 Mit dafür verantwortlich ist natürlich, dass sich die hier vorgeschlagene Definition von Fiktion als Erzählung, die zum Mitspielen einlädt, kaum mehr von gängigen und prinzipiell regelbasierten ‚Spiel‘-Definitionen unterscheidet. Während etwa Walter (2002) am paradigmatischen Unterschied zwischen den beiden Unterhaltungsformen festhält, beschreiben andere Erzähl- und Spielforschende wie etwa Ryan (2003, 2004) den Unterschied als graduell oder fließend. So auch Burn/Schott (2004: 216), die die Frage offen lassen, inwieweit (fiktionale) Erzählungen Eigenschaften von Spielen aufweisen und umgekehrt: „If narrative requires a willing suspension of disbelief, games require a willing submission to rule-based systems.“ 7 Zum Schlagwort des „Tod des Autors“ vgl. Barthes (urspr. 1968, hier 1994); zum Thema weiterführend auch Burke (1992). 8 Als Beispiel das von Aristoteles‘ „Poetik“ abgeleitete Spannungsdreieck von Gustav Freytag (1863): Aus einer verhältnismäßig stabilen Anfangssituation entwickelt sich über diverse Komplikationen eine prekäre dramatische Krisensituation, die in der weiteren Entwicklung (als „Auflösung“) in eine wiederum relativ stabile und als solche klar erkennbare Schlusssituation einmündet. 9 Eine nützliche Differenzierung liefert hier Mary Talbot, die Fiktion genauso wie Noël Carroll als eine soziale Praxis versteht und dabei den ‚Text‘ (als gemeinschaftlich erarbeitetes kulturelles Produkt) nicht nur vom ‚Werk‘ (als Produkt eines Autors oder Autorenkollektivs) unterscheidet, sondern auch vom ‚Diskurs‘ als Prozess der Bedeutungsgenerierung selbst (1995: 24-25): „I use text to mean the observable product of interaction: a cultural object; and discourse to mean the process of interaction itself: a cultural activity. The distinction between text and discourse I am making is an analytical one between the observable materiality of a completed product and the ongoing process of human activity. […] Text is the fabric in which discourse is manifested, whether spoken or written, whether produced by one or more participants. So the distinction is between product and process, between object and activity.“ Der fiktionale Text kann dann aber mit Blick auf die ihn betreffenden Diskurse entweder als aktiv oder als inaktiv bezeichnet werden: Er ist nie wirklich ‚fertig‘, sondern ruht vielmehr dann, wenn (gerade) kein Diskurs (mehr) stattfindet. 10 Manche Werke werden von ihren Schöpfern intertextuell vernetzt und laufend zu anderen Werken in Bezug gesetzt, was durchaus entsprechende Anschlusskommunikationen generiert. Beispiele solch literarischen „Weltenbauens“ finden sich in Helbling (1995). 11 Das Modell nach Robert T. Craig; vgl. http://www.colorado.edu/communication/metadiscourses/Theory/models.html (konsultiert am 17.9.2004) – wobei ich mir erlaubt habe, für die entsprechenden Medienrolle(n) auf die (von Carey inspirierte) „Forums“- Idee von Newomb/Hirsch (1983) zurückzugreifen. Für die rituellen Aspekte von (Massen-)Kommunikation weiterführend auch Rothenbühler (1998) und Couldry (2003). 12 Inzwischen bezeichnen ‚Formate‘ fachsprachlich insbesondere solche Formen von Unterhaltungssendungen, die als Handelsware geschützt sind und international vertrieben werden; dazu Hallenberger (2004), Moran (2003) und Waisbord (2004); für Reality-Fernsehformate auch Bonner (2003). Genres zeichnen sich demgegenüber durch ihren Status als „freie Software“ aus – niemand kann Urheberrechte an einem als genrespezifisch oder genretypisch kenntlichen narrativen Merkmal geltend machen.
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Verdoppelte Identitäten: Medien- und Werbebotschaften als Konstrukteure von Authentizität Matthias Marschik
1 Einleitung Fragen nach Identität und Selbst-Bewusstsein sind in den vergangenen gut 20 Jahren zum bevorzugten Thema sozial- und kulturwissenschaftlicher Analysen geworden. Doch schießt die Abwendung von der Vorstellung stabiler Identitäten und die Forcierung von Modellen der Fragmentierung und von Patchwork-Identitäten übers Ziel hinaus, denn die Intensität und Stoßrichtung der Diskussion korreliert nur zum Teil der Selbstwahrnehmung (post-)moderner Subjekte: Während theoretische Modelle und Konzepte von einer generellen Krise im Verhältnis von Individuen zu ihren Umwelten, zur Gesellschaft oder zur ‚Welt‘ schlechthin ausgehen, so dass persönliche Unsicherheit oder Fragmentierung, kollektive Instabilität oder das Schwinden lokaler bzw. nationaler Bewusstheit das aktuelle Selbst charakterisieren (Hall 1996; Hettlage 2000), versuchen sich viele Individuen in ihrer Eigenwahrnehmung, auch wenn sie mehr oder minder massive Störungen ihrer Autonomie erleben, doch weiterhin als bewusst, rational und autonom handelnde Subjekte zu begreifen. So lässt sich oft feststellen, dass Menschen den generellen Einfluss ‚der Medien‘ auf Gesellschaft und Individuen zwar hoch bewerten, doch zugleich von ihrer Fähigkeit zu einem ‚im Grunde‘ rationalen und autonomen Umgang mit Medien überzeugt sind. Umgekehrt bedürfen viele Medien- und besonders Werbebotschaften eines zumindest kurzfristig stabilen Ich, das diese Botschaften rezipiert. Das Selbst-Bewusstsein und die gesellschaftliche Positionierung eines Subjektes kann daher weder einseitig als aufklärerisches Festhalten an stabilen Identitätsentwürfen, noch im postmodernen Sinn als deren permanente Auflösung und Fragmentierung verstanden werden. Vielmehr wäre es naheliegend, von einer verdoppelten Identität auszugehen, die Aufklärung und Postmoderne zu vereinen trachtet oder einen Kurs zu steuern sucht, der beide Möglichkeiten inkludiert. Sowohl der stabil konstruierten Identität (in Form eines Gefühles von Sicherheit, aber auch des Zwanges einer unverrückbaren Positionierung), als auch dem fragmentierten Selbst (in Gestalt der Chance von Veränderbarkeit und Freiheit, aber auch der Unsicherheit von Flexibilität und situationaler Anpassung) wohnen individuelle Chancen und Gefahren, Freiheiten und Einschränkungen inne, die zugleich
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als innere und äußere Anforderungen erlebt werden. Der Nukleus dieser Ansprüche lässt sich neuerdings in die Forderung oder den Zwang zur Authentizität fassen: Gerade mediale Botschaften suggerieren uns Authentizität als höchstes Gut. Man denke besonders an Big Brother und Deutschland sucht den Superstar oder deren österreichische Pendants Taxi Orange und Starmania, wo Selbstgewissheit einer kontinuierlichen Identität ebenso bedarf wie deren situativer Adaptierung. Authentizität bedeutet nicht mehr, stets mit sich selbst identisch zu sein, aber es heißt auch nicht Beliebigkeit und ein freies Spiel mit Identitäten, sondern verlangt, zu sich selbst zu stehen. Sie inkludiert Stabilität und Fragmentierung und einen situationsangepassten Wechsel zwischen beiden. Ähnliches hat bereits Emmanuel Levinas (1992: 210ff.) formuliert, der einer „Treue zu sich selbst, die in ihrem Bezug auf Selbstkritik und Ehrlichkeit gegen sich selbst eben der Authentizität entspricht“, die „Aufrechterhaltung des Ich“ kontrastiert, die im Changieren zwischen Flexibilität und Stabilität versucht, die eigene, einzigartige Identität zu bewahren und sich zugleich mit seinen Umwelten zu arrangieren. Wenn weder die stabile noch die fragmentierte, situative Identität die einzig erwünschte gesellschaftliche wie individuelle Positionierung darstellt, verlangt dies nach Reformulierungen des individuellen Selbst-Bewusstseins. Und dafür bedarf es wiederum der Nutzung aktueller Vorbilder und Ideale, die dieses Changieren vorführen, um die individuelle Lebensgestaltung leisten zu können. Diese Modelle werden nicht zuletzt von den Medien bereitgestellt, die einerseits Authentizität einfordern, andererseits von konkreten Schablonen bis zu abstrakten Mythen Konzepte von Authentizität präsentiert. Die Bandbreite geht dabei von Talk Shows und Reality Soaps, die uns trefflich vor Augen führen, wie Menschen sind, bis hin zur Werbung, die uns Ideale präsentieren: Die Mythenwelt der Werbung zeigt uns mögliche Ziele unserer Selbstpositionierung – und zwar durch den Kauf oder die Nutzung von Produkten. So erleben wir via Medien sowohl die Norm und den Ist-Zustand, als auch die Vorbilder und Ideale authentischen Lebens, die zur Identifizierung und Anpassung an, zur Bestimmung durch oder Orientierung in Diskursen, Gesellschaften oder sozialen Strukturen nötig sind. Die Warenwelt der Konsumgesellschaft definiert sich ja schon seit ihren Anfängen in der frühen Neuzeit nicht nur über das „Mehr oder Weniger an verfügbaren Gütern, sondern über die Wünsche und Träume, die zum Inhalt des Lebens werden und aus der die jeweilige Identität hervorgeht“ (Geyer/Hellmuth 2003: XXIV). Das 19. Jahrhundert ließ erstmals eine Palette von Produkten entstehen, die, für eine begrenzte bürgerliche Schicht von Käuferinnen und Käufern, nicht nur „als Sinnträger, sondern als Sinnvermittler“ galten (Brewer 1997: 54). Doch es ist die Idealisierung dieser Produkte in Form der Werbung, die den paradigmatischen Ort der Verknüpfung der kulturellen Kodes von materiellen Gegenständen, deren Erwerb zugleich deren Beherrschung verspricht, an die ideelle Produktion von Mythen darstellt und den Menschen die Wunschbilder und Zielvorstellungen des Lebens vermittelt. Produkte, aber auch ihre Herstellung und ihr Konsum, sind ein wesentlicher Aspekt eines rationalen und vernünftigen Weltbildes, die Werbung dagegen geht nur
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zum Teil Hand in Hand mit der Aufklärung, denn auf der anderen Seite konterkariert sie den Entwurf der Moderne. Sie ist zugleich Handlungsanleitung, aber eben auch Mythenproduktion, wobei in verschiedenen Zeitabschnitten an unterschiedlichen Orten einmal die eine, einmal die andere Ebene ein Übergewicht erobert. Unterstützt die Werbung zum einen die Zielsetzung der Moderne, die Welt „mit aller Kraft zu entzaubern“ und einen „Krieg gegen Mystik und Magie zu führen“ (Bauman 1995: 8f.), so verstärkt sie zum anderen die postmodernen Praxen, die vermehrt wiederum mythische, spirituelle und jenseitige Angebote bereithalten (Marschik/Dorer 2003; Marschik 2003a), auch wenn sie mehr denn je die Form der Ware in einer konsumgeprägten kapitalistischen Ordnung angenommen haben.
2 Von falschen Bedürfnissen zum trügerischen Selbst Blicken wir kurz zurück in die identitätskonstruierende Geschichte der Medien: Die 1950er Jahre waren – in Europa – zweifellos von einem von Fragmentierung bedrohten, jedoch auf dem klaren Weg zur Stabilisierung befindlichen Subjekt gekennzeichnet. Die Medien lieferten dazu rationale Identifikationsmodelle, eine klare Trennung von Information und Unterhaltung sollte dies verdeutlichen. Auch die Werbung präsentierte meist nicht Mythen, sondern handfeste Produkte, das Ziel bestand im Entwurf einer stabilen und stabilisierenden Warenwelt (Schneider/Spangenberg 2002) und dazu passender rationaler Konsumentinnen und Konsumenten. Noch in den 1960er Jahren wiesen wissenschaftliche Analysen nach, wie Medien in modernen fordistischen Beziehungen das Individuum bestimmten, indem sie durch ihre Form und Technik ebenso wie durch ihre Inhalte das Wissen, das Bewusstsein und die Identität des Menschen beeinflussen und strukturieren. Der aufklärerische Diskurs der Wissenschaft analysierte die Strukturen medialer Beeinflussung und auch deren Ideologien. Da wurden Bilder produziert, transportiert und rezipiert; für Mythen gab es – selbst in der Werbung – nur wenig Raum. Das Individuum war idealiter selbst-bewusst, konnte rationale Entscheidungen treffen und objektive Wertungen vornehmen. Zwar konnte es seine Wünsche nicht immer richtig einschätzen, weil ihm ‚falsche Bedürfnisse‘ oktroyiert wurden, aber schließlich war ja der aufklärerische Diskurs angetreten, um die Wirkungen der Medien aufzudecken und das Individuum zu befreien, auch indem er es mythischer Vorstellungen entledigte. Doch war es gerade die Werbung, die zu Ende des Jahrzehnts mit der Hinwendung zum Luxusgut das Bild der mündigen Konsumentinnen und Konsumenten erstmals unterlief (Knop 2003: 269). Werbesujets gehören damit zu den wichtigen alltagskulturellen Wegbereitern des Spiels mit Mythen und Idealen und damit der Unterwanderung einer als stabil inszenierten Identität. Und es ist ganz wesentlich zu sehen, dass die Inszenierungspraxen von Werbung sehr rasch begannen, in Gestalt einer „promotional culture“ (Wernick 1991) die Gestaltungspraxen von Medien generell zu beeinflussen. Dies ist ein im Vergleich zum Infotainment weit weniger beachteter Aspekt postmoderner
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Medienentwicklung, dass werbliche Gestaltungsprinzipien auf das übrige Mediensystem transferiert und als konstitutiver Teil der Kapitalisierung und Globalisierung in ein mediales Supersystem eingebunden wurden. Ab der Mitte der 1970er Jahre veränderten sich daher die modernen Medienmodelle und durchbrachen auf der Basis umfassender Ökonomisierung den Ist-Zustand der Schranken von ‚Rasse’, Klasse und Gender, wobei neue Grenzziehungen, nunmehr auf konsumistischen Idealtypen basierend, in Gestalt von Zielgruppensegmentierungen gleich wieder errichtet wurden (Dorer/Marschik 1993). Die Vorstellung des selbstbestimmten Individuums hat diesen Zugriff des Kapitalismus nicht unbeschadet überstanden. Neben das rationale, selbst-bewusste Ich trat eine „nomadische“ (Grossberg 1988) Subjektivität, ein fragmentiertes Selbst, eine Patchwork-Identität, die sich zwischen verschiedenen persönlichen wie gesellschaftlichen Positionen bewegt, ohne sich festmachen zu lassen (de Certeau 1988). Die Forderung nach Stabilität des (erwachsenen) Selbst wurde allerdings nicht, wie das gesellschaftsorientierte Ansätze – auch die Cultural Studies – gerne annehmen, durch Idealvorstellungen der Fragmentierung verdrängt, vielmehr überlagern sich beide Anforderungen an das Individuum in unterschiedlichen Ausprägungen. Unter dem speziell ab den 1990er Jahren aktuellen Begriff der Authentizität müssen Subjekte danach trachten, durch teils gewundene Strategien beide Anforderungen vor sich und der Welt zu argumentieren und zu leben (Krotz 2001a; 2001b). Und auch die Wissenschaft verdoppelt dieses Wechselspiel, indem sie das Subjekt in seinen Umwelten verschwinden lässt oder es auf bio-physiologische Vorgänge reduziert (Marschik 2003b). Wie reagiert nun das (in Kombination fragmentierter und stabiler Anteile) auf seine Authentizität festgeschriebene Selbst auf die verfestigte Struktur des globalen Kapitalismus und die segmentierten Angebote der Mediengesellschaft oder – andersherum und damit konkreter gefragt: Was bietet das mediale System mit seiner scheinbaren Vielfalt dem nach Authentizität strebenden Selbst an Identifikationsangeboten, wenn die Medien selbst signifikante Quellen der Identifikation sind? Zunächst dürfen wir dabei – in Anlehnung an den „circuit of culture“ (du Gay et al. 1997) – den Beitrag und Einfluss des Individuums nicht übersehen (Nava 1997): Medien definieren zwar die Umwelt, in der Identitäten in einem Wechselspiel von Kultur und Medien geformt werden (Fitzgerald 1993: 51), doch ist die Realitätskonstruktion der Medien kein abstrakter Vorgang, sondern muss als von Individuen mitbestimmt gedacht werden, deren individuelle Wahlmöglichkeiten ihr Begehren widerspiegeln (Ang 1996: 177): Medien inkorporieren kulturelle Vorgaben und verbinden sie mit eigenen Interessen. So wird die Grenze zwischen Realität und Schein, das Wissen um eine objektive Wahrheit aufgehoben, eine Vielheit an Perspektiven eröffnet. Medien homogenisieren und verstärken zugleich regionale Differenzen, aber vor allem geben sie Images vor: Sie entwerfen Strukturen von Raum und Zeit und überschreiten die Grenze zwischen privat und öffentlich. Sie geben vor, was männlich und weiblich, was Erfolg oder Misserfolg ist: „Media culture also provides the materials out of which many people construct their sense of class, of ethnicity and race, of nationality, of sexuality, of ‚us‘ and ‚them‘“ (Kellner 1995: 1). Medien
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geben entsprechend praktische Exempel und auch Idealmodelle zum Beispiel von Männlichkeit: So erzählt etwa die Reality Soap konkrete Situationen, in denen ein Mann ganz Mann sein muss und wann er sich schon einmal weich und nachgiebig zeigen kann, während die Werbung uns die zugehörigen Ideale und Mythen ‚neuer Maskulinität‘ präsentiert. Zwar lassen sich im nunmehr umfassenden Mediensystem einzelne Mediensorten immer weniger differenzieren, doch übernimmt etwa die Werbung noch immer besondere Aufgaben innerhalb des permanenten Rauschens der Baudrillardschen „Ekstase der Kommunikation“.
3 Vom wahren Image zum Mythos der Ware Sohin haben wir nun jene Elemente beisammen, die eine Analyse der Wirkung der Medien und konkret der Werbung zur Konstruktion einer (imaginierten) Authentizität des Ich auf der Basis von konkreten Exempeln und idealisierten Mythen ermöglichen: Auf beiden Ebenen erweisen sich Medien sowohl als treibende Kraft der Fragmentierung, als auch als Betreiber der Konstruktion stabiler, wenn auch zunehmend globaler Werte: „Media culture helps shape the prevalent view of the world and deepest values“ (Kellner 1995: 1). Also trifft der Wunsch des Selbst nach der Aufrechterhaltung von Werten mit dem Ziel der Medien zusammen, globale Images zu entwerfen. „Media stories and images provide the symbols, myths, and resources which help constitute a common culture for the majority of individuals in many parts of the world today“ (Kellner 1995: 1). Und ebenso trifft das individuelle Begehren nach neuen Freiheiten und Chancen auf den medial forcierten Bedarf an zunehmend flexiblen, risikoorientierten und mobilen Individuen (Sennett 1998: 120). Medien konfrontieren „people with dream-images which speak to desires, and aestheticize and derealize reality“ (Featherstone 1991: 68). So sind Medien durch die Globalisierung zwar darauf angewiesen, weltweit verständliche Images zu entwerfen, andererseits müssen aber alle Sender versuchen, uns zu verführen und konkret anzusprechen, um Rezipientinnen und Rezipienten zu gewinnen (Kellner 1995: 2). Medien sind darauf ausgerichtet, uns komplexe Träume und Mythen und ebenso einfache Modelle zu präsentieren. Medien sind demnach industrialisierte „contemporary bards“: Sie produzieren eine Fülle von Erzählungen, Märchen, Geschichten, Mythen und Bildern (Fiske/Hartley 1978; Fiske 2001). Werbung bildet zunehmend die Basis dieser Mythen und ihrer Konstruktion, teils auf direktem Weg, teils auf dem Umweg über Filme oder als Bestandteile von Nachrichten. Was die Werbung im Konzert der Medien auszeichnet, ist die Tatsache, dass sie eine lange Tradition in der Erzeugung und im Transport von Träumen besitzt (Marchand 1985). So hat etwa die Frankfurter Schule deutlich nachgewisen, wie sehr Werbung neben der Anpreisung von Waren und der Forcierung des Konsums auch die Vermittlung des symbolischen Aspekts von Gütern förderte (Ewen 1976). Doch obwohl Produkt, Idee, Wunsch und Identitätskonzept zu klar strukturierten Anzeigen zusammengefasst wurden, blieben sie innerhalb des Sujets deutlich unterscheid-
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bar. Es geht dabei um Symbole; für Mythen war dabei vorerst kein Platz. Doch in den folgenden Jahren expandierten die symbolischen Aspekte der Warenwelt, immer mehr bindet Werbung Bilder von „exotica, desire, beauty, fulfilment, communality, scientific progress and the good life“ an „mundane consumer goods such as soap“ (Featherstone 1991: 14). Die Images treten nicht mehr neben, sondern an die Stelle der Produkte und machen es schwierig, den Nutzen der beworbenen Güter noch zu entziffern. Die Waren treten gegenüber der Produktion von ‚Stil‘ bzw. ‚Lifestyle‘ in den Hintergrund. „Consumption becomes its own message, wanting is more important than needing“ (Wagner 1995: 59). Die Werbung der 1970er und 1980er Jahre entkoppelt zwar noch nicht Produkte und Images, aber sehr wohl deren Realität: Eine ästhetisierte Werbekultur zeigt perfekte Produkte in idealen Welten (Goldman 1992). Zugleich erobert Werbung endgültig Raum in allen Medienprodukten und positioniert ihre Idealentwürfe überall, vom Fernsehen bis zum Internet, von der Nachrichtensendung bis zur Kunstgalerie. Wir leben nach Baudrillard (1978, 1987) längst in einer ästhetischen Halluzination der Realität und die Rezipientinnen und Rezipienten der Werbung müssen erkennen, „that the jazzing of the soft drink, buffooning of the pizza, or body-pantomime of a motorcar never takes place in real life“ (Wagner 1995: 66), dass aber nicht mehr Softdrink, Pizza und Auto, sondern eben deren ästhetische Einbettung in eine Konsumkultur beworben werden. Die 1990er Jahre schließlich sind geprägt von erneuter Konzentration des Mediensystems, die nicht nur die Monopolisierung betrifft, sondern auch eine formale wie inhaltliche Vermischung medialer Angebote. Werbung und PR, Information und Unterhaltung, Fiktion und die Konstruktion von Realität vermischen sich mit Ästhetik und Alltagskultur zu dem, was heute als Mediengesellschaft bezeichnet wird, aus der es keinen Ausstieg gibt. Im Konkurrenzkampf der Anbieter wird jede mediale Kommunikation zur Werbung. Medientechnologien, -inhalte und -rezipienten sind Waren in einem westlich-kapitalistischen Supersystem. Die Strategien der Werbung werden vom gesamten Mediensystem aufgegriffen. „Advertising has increasingly filled up the spaces of our daily existence […] advertising is ubiquirous – it is the air that we breathe as we live our daily lives“ (Jhally 1995: 79): „Film, television, (popular) literature etc. construct an imaginary world that builds on and appeals to individual and social fantasies. Mass media prodice and reproduce collective memoires, desires, hopes and fears, and thus perform a similar function as myths in earlier centuries […] In their presentation of major social events like coronations, sports games or disasters media present the content of myth, and in their familiar and formulaic narratives they resemble mythical story-telling“. (Jhally 1995: 79)
Es geht also nicht mehr darum, von Manipulation oder den falschen Versprechen der Werbung zu sprechen. Der „rituelle Blick auf die Kommunikation“, den Liesbet van Zoonen (1994: 37) hier vorstellt, „focuses on the construction of a community through rituals, shared histories, beliefs and values“. Genau das sind aber die Werte, die nach dem Vorbild der Werbung nun vom gesamten Mediensystem unaufhörlich ausgesandt werden. Die Medien greifen nach dem Vorbild der Werbung die fragmentierten und konfligierenden gesellschaftlichen Inhalte auf und reduzieren sie auf ‚bedeutsame‘
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Erzählungen im Sinne der dominanten sozialen Ordnung. Es ist evident, dass die produzierten Mythen, Rituale und Images eine Hegemonie weißer, männlicher, heterosexueller Idealvorstellungen propagieren und alles andere als Abweichung darstellen. Doch im Gegensatz zu früher werden auch diese Gruppen, so sie potenzielle Käuferinnen und Käufer sind, mit je spezifischer Werbung versorgt. Es herrscht nicht mehr der Primat von Klasse oder Geschlecht, sondern jener des Konsums: „As compensation for decaying social conditions, those who can afford it are offered an always increasing dose of media culture and consumption […]As an escape from social misery, or distraction from the cares and woes of everyday existence, people turn to media culture to produce some meaning and value in their lifes.“ (Kellner 1995: 332)
Der geänderten Segmentierung der Zielgruppen entspricht eine Neusegmentierung der produzierten Images. Der Mythos ist dann der manifeste Ausdruck eines übergeordneten Strukturprinzips, eben einer dominanten Ideologie (Fiske/Hartley 1978), die zwar global angelegt, aber lokal unterschiedlich ist: „In so far as the ruling class attempts to reproduce its own vision of the world, it also seeks to establish a definition of global alongside national citicenship.“ (Smith 1993: 112)
Die medialen Angebote gleichen sich formal wie inhaltlich immer stärker an. Soaps gebärden sich wie Werbesendungen ihres Hauptsponsors, in Werbesendungen dagegen werden Produkte und Präsentation zunehmend entkoppelt, konkrete Waren nehmen immer weniger Raum ein. Konsumentinnen und Konsumenten werden nicht mehr zum Kauf angeregt, sondern zur Übernahme eines bestimmten Lifestyles, zur Übernahme dominanter Rituale, wobei das Produkt als deren unabdingbarer Teil akzeptiert werden soll. Die symbolischen Bilder der Werbung „attempt to create an association between the products offered and socially desirable and meaningful traits in order to produce the impression thar if one wants to be a certain type of person“ (Kellner 1995: 248). Nicht Waren werden beworben, sondern Mythen, deren Akzeptierung man durch den Kauf bestimmter Produkte symbolisieren soll: Ein Werbespot für Mode demonstriert die Vorstellung eines perfekt gestylten Körpers und vermittelt die Einsicht, dass das beworbene Produkt Teil dieses Kodes ist. Dies führt dazu, dass das Betrachten von Werbespots, das lange Zeit ein Vermeidungsverhalten auslöste, heute wieder mit Vergnügen einhergeht (Jackson 1993: 213) und Unterhaltungswert besitzt. Die Differenz zwischen Soaps und Werbung besteht nur mehr in der zeitlichen Komprimierung, so dass die Botschaft in der Werbung besonders emotional und eindringlich vorgetragen wird (van Zoonen 1994: 79). Werbung kann daher aktuell als konzentrierte Form medialer Kommunikation definiert werden, die besonders auf mythische Bilder und Symbole angewiesen ist. Oft wurde die simple Metapher bemüht von Konsum „as a religion, in which commodities become the icons of worship and the rituals of exchanging money for goods become a secular equivalent of holy communion“ (Fiske 1989: 13). Diese Metapher ist hilfreich, was die gesellschaftliche Bedeutung und die Konstruktion von Realitäten betrifft – doch sie ist kontraproduktiv, wenn es um Fragen der Macht und Akzeptanz, des ‚Glaubens‘ und der ‚Wahrheit‘, der Tradition und der Wichtigkeit von Neuigkeit und Aktualität geht. Medien und Werbung leben von Verän-
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derungen und Flexibilität und nicht vom Aufbau von Dichotomien (Wernick 1991: 62), sie leben von Mythen und nicht von ‚Information‘ im weitesten Sinn. Werbung konstruiert Ideale, Mythen und Stereotype eines perfekten Lebens und entwirft Modelle industriell geformten Lifestyles. Doch auch wenn die Strategien der Medien immer kongruenter werden, lassen sich doch Differenzen zeigen bezüglich ihrer Wirkung auf die Rezipientinnen und Rezipienten. So produzieren Public Relations im Gegensatz zur Werbung tagesaktuelle und seriös dargebotene Information, die wir vorgeblich zur Bewältigung des Alltags benötigen. Obwohl Werbung und PR gleichen ökonomischen Vorgaben und Stereotypen unterliegen, produzieren sich doch unterschiedliche Bilder und bewirken differente Repräsentationen: Während die Werbung – in der Terminologie Baudrillards – „Hyper-Realität“ entwirft, produzieren Public Relations eine Art von Pseudo-Realität. So können die Bilder dieser Kommunikationskanäle differenziert werden im Bezug auf ihre räumliche (‚abstrakt‘ vs. ‚konkret‘) und zeitliche (‚zukünftig‘ vs. ‚präsent‘) Repräsentation der Welt. Differenzen gibt es aber auch bei den Inhalten, indem Public Relations nicht Mythen, sondern Szenen entwerfen, und bei den Wirkungen, indem Public Relations ‚Realität‘ entwickeln, während die Werbung vornehmlich ‚Modelle‘ oder ‚Design‘ produziert. Doch weil PR und Werbung den gleichen Prämissen unterliegen, schließen sie Mythen und Realität zusammen: Sie knüpfen ‚what we know‘ an ‚what we need‘.
4 Von den Mythen der Waren zum Mythos der Authentizität Hier sind wir nun wieder bei der Konstruktion des Selbst und bei der Identität, die in der Konsum- und Mediengesellschaft selbst zum Mythos geworden ist (Morris 1988), zu einem doppelten Mythos von Stabilität und zugleich von Freiheit und Wahlmöglichkeit. Identität entsteht aus den changierenden Wechselwirkungen zwischen „common culture“ und den medialen Präsentationen und Repräsentationen mit deren differenten Rezeptionsmustern, den Lesarten der kulturellen und medialen Texte, die durchaus nicht immer vorhersehbar sind, weil es sehr wohl möglich ist, mit medialen Angeboten zu interagieren. Medien bieten ja auch unterschiedliche Texte an, die mittels der „symbolischen Kreativität des Selbst“ (Willis 1990) gegeneinander ausgespielt, ironisch unterlaufen oder auch abgelehnt werden können, freilich nur, indem man sich einem anderen medialen Text anschließt. Ein außerhalb medialer Vorgaben ist nur schwer vorstellbar, weil alle ihre Angebote so verpackt sind, dass sie „simply appear to be part of our natural world“ (Jhally 1995: 77). Innerhalb der medialen Produktion von Identität hat die Werbung ganz spezielle Aufgaben übernommen. Zuerst lieferte sie das Vorbild zur Umgestaltung medialer Realitäten, später stellte sie die Verknüpfung von konsumierbaren Waren und dem damit verbundenen Erwerb von Lebensgefühlen her. Und heute übernimmt sie den Part der Konstruktion von idealen Entwürfen von Authentizität, indem sie Mythen des perfekten Daseins mit dem Gefühl (oder eigentlich: mit dem Wissen) verbindet,
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dass diese erreichbar sind oder zumindest sein können. Während etwa Reality Soaps, wie der Name schon andeutet, realistische Lebensentwürfe präsentieren, die Stabilität und Flexibilität als vereinbare Praxen der Lebensgestaltung darstellen, portraitieren werbliche Botschaften in post-fordistischen Mediengesellschaften die Siegerinnen bzw. Sieger in einer Gesellschaft des neuen Kapitalismus. Vor allem aber demonstrieren sie, dass jeder bzw. jede das Zeug zum Sieger oder zur Siegerin in sich trägt (denn die, die von vornherein nicht gewinnen können, kommen in der Werbung nicht vor). Was nun die verdoppelte Identitätskonstruktion der Individuen betrifft, vermag die Werbung deren Idealzustände paradigmatisch vorzuführen: So ist es evident, dass die Fragmentierung des Selbst durch die Werbung noch forciert wird, indem nicht mehr Personen, sondern einzelne Empfindungen und Wünsche angesprochen werden, wobei ein Produkt in verschiedenen Situationen unterschiedliche Bedeutungen annehmen kann: „Beer can be connected with anything from eroticism to male fraternity to the purity of the old West“ (Jhally 1995: 79). Parallel dazu wird auch Identität in unterschiedlichen Situationen – und in Abstimmung auf die jeweiligen Produkte – immer neu definiert (Grodin/Lindlof 1996: 6f.), denn in der werblichen Botschaft zählt weniger die Kontinuität, als vielmehr der konkrete Moment. Doch ist es ganz wesentlich zu sehen, dass gerade diese komplex konstruierten Momente einerseits durch die Anbindung an eine Ware und den dazugehörigen Lifestyle, andererseits durch ihren mythischen Charakter, für kurze Zeit ein authentisches Erleben ermöglichen. Dieses Erleben ist ein wesentliches ‚Movens‘ unserer Mediengesellschaft und gerade die Werbung ist damit beschäftigt, magische Lösungen für authentische Probleme anzubieten (Stevenson 1995: 14). Charakterisiert ist Werbung also durch die wunderbare Bewältigung einer schwierigen Situation, wobei gerade dieses Problem ja eine Rückbindung an das Echte, Wahre und Natürliche darstellt, aber ebenso den spielerischen und ‚kreativen Umgang‘ damit. Stabilität wird aber auch in der ironischen Darstellung jener demonstriert, die gescheitert sind und sofort den nächsten Versuch starten, zu Siegerinnen bzw. Siegern zu werden. Es ist die Werbung, die uns abstrakt die Erfüllung unserer Wünsche und konkret, via beworbene Produkte, jene Authentizität verspricht: „Consumer subjects define themselves not merely with reference to their own personal experience, but increasingly with reference to the images presented by advertising and through the consumer products they identify with. The subject is defined in relation to the commodity […] The subject looks for its identity not from within itself, nor from its own biography or immediate social experience, but draws ist identity from the ready-made practices offered as commodities to buy.“ (H. Rodaway 1995: 265)
Das Produkt steht dabei nicht nur für die Erreichung konkreten kurzfristigen Glücks, sondern repräsentiert zugleich dessen scheinbare Stabilität. Das Subjekt mag fragmentiert oder eine Ansammlung von Zuschreibungen sein, doch so wie die Werbung Hyper-Realität konstruiert, wird das Subjekt zum permanenten Hyper-Subjekt (Rodaway 1995: 266). Doch möglicherweise ist dieses Hyper-Subjekt diejenige Existenzform des Selbst, die unserer Zeit adäquat ist. Wer sich auf die Angebote der Konsumkultur einlässt, erlebt zumindest für eine kurze
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Zeitspanne sein subjektives Glücksgefühl und das Erlebnis, den Mythos realisiert zu haben. Und das ist, betrachten wir die anthropologische Forschung, kein Rückschritt: Es ist nicht mehr und nicht weniger, als vergangene Generationen, von den wenigen ‚aufgeklärten Individuen‘ einmal abgesehen, in ihren typischen Formen der Mythen und Mythisierungen, des Glaubens oder Aberglaubens, auch erlebt haben.
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Globale Kultur in Deutschland: Der lange Abschied von der Fremdheit Mark Terkessidis
1 Einleitung Wenn in der Bundesrepublik Deutschland über Einwanderung und Globalisierung debattiert wird, dann geht es stets um Fremdheit. Tatsächlich haben sich durch Migration, aber auch durch Massenmedien, Popkultur und Tourismus die Eindrücke und Bilder vom sogenannten Fremden geradezu inflationär verbreitet. Freilich besitzt der Ausdruck Fremdheit hier zu Lande eine erstaunliche Selbstverständlichkeit. Trotz aller Veränderungen erscheint das Eigene immer noch intakt – als fremd gilt weiterhin, wer nicht ‚hierher‘, wer nicht zu ‚uns‘ gehört. Dabei wird Fremdheit vor allen Dingen als kulturelle Unterschiedlichkeit verstanden. Im Gegensatz zu den Lippenbekenntnissen und der allgegenwärtigen Rhetorik der Postmoderne lassen sich die Ideen von Johann Gottfried Herder implizit in allen Debatten heraus hören: Kulturen gelten in Deutschland immer noch als von voneinander unabhängige, kugelförmige Gebilde, wobei die äußerlich sichtbaren Merkmale von Personen (Aussehen, Kleidung, Gebräuche etc.) als Verkörperungen einer unsichtbaren substanziellen kulturellen Gemeinsamkeit – einer Identität – erscheinen. In diesem Text soll nun zunächst gezeigt werden, wie sehr der Herdersche Kulturbegriff weiter die öffentliche Auseinandersetzung – auch in der Wissenschaft – beherrscht, wobei sich jedoch auch erste Brüche zeigen. Dann soll an einigen konkreten Beispielen aus der Massenkultur unserer Tage gezeigt werden, wie unbrauchbar diese Vorstellung derweil geworden sind, um aktuelle Phänomene zu verstehen. Indessen erhält man in der Medienöffentlichkeit geradezu atemberaubende Einblicke in die Kulissenhaftigkeit von Fremdheit. Im Prozess der Globalisierung – so die These – wird Fremdheit in erster Linie zum mehr oder minder bewussten strategischen Einsatz in gesellschaftlichen Konflikten. In der englischsprachigen Welt existiert unter der Bezeichnung „Postkolonialismus“ seit geraumer Zeit eine Diskussion, in der die Beteiligten den Versuch unternehmen, solchen Erscheinungen theoretisch beizukommen. Bei allen Problemen der Übertragbarkeit kann etwa die Theorie des Literaturwissenschaftlers Homi Bhabha helfen, kulturelle Artikulationen von Migranten in Deutschland zu analysieren – so etwa das viel diskutierte Kopftuch.
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Tatsächlich müssen sich die hiesigen Sehgewohnheiten in Bezug auf kulturelle Differenz radikal verändern – denn die Differenz zeigt sich nicht dort, wo der Blick der Mehrheit sie zu sehen glaubt. Um den Prozess der Globalisierung auf dem Feld der Kultur zu verstehen, ist es notwendig, „die unheimliche Differenz desselben oder die Alterität der Identität“ wahrzunehmen (Bhabha 1997: 110) – zweifelsohne eine komplizierte Formulierung Bhabhas, die hier aber bewusst gegen die gängigen Selbstverständlichkeiten in Stellung gebracht werden soll. Um jene ‚Verdopplung‘ zu verstehen, muss stets der institutionelle und soziale Kontext von kulturellen Artikulationen rekonstruiert werden. Das bedeutet auch: Die Analyse von Machtbeziehungen. Denn ein weiterer Irrtum des hiesigen Kulturdiskurses besteht darin, einer idealisieren Kultur gewaltige Autonomie zuzugestehen – dabei geht es um materielle kulturelle Ausdrucksformen innerhalb eines zu tiefst materiellen Kontextes.
2 Leitende Kultur und hybride Vervielfältigung Ob eher progressiv oder eher konservativ – wer in Deutschland zum Thema Einwanderung und Globalisierung spricht, der hält gewöhnlich das „Zusammenleben der Kulturen“ für die Crux des Themas. In den letzten Jahren gab es zwei exemplarische Vorschläge zur Frage der Einwanderungsgesellschaft – zum einen das Plädoyer für ‚Multikultur‘ und zum anderen die Forderung nach ‚Leitkultur‘. In beiden Fällen blieben die traditionellen Kulturvorstellungen implizit grundlegend, wobei sich allerdings Brüche zeigten. Vordergründig bedienten sich die Befürworter des Multikulturalismus einer Rhetorik, welche die Abhängigkeit von Fremdheit anerkannte. So schrieben Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid in ihrem Klassiker „Heimat Babylon“ von 1992: „Man definiert sich selbst und gewinnt Kontur, indem man sich von anderen abgrenzt“ (Cohn-Bendit/Schmid 1992: 322). Allerdings hielten sie diese Abgrenzung zum einen für „fast anthropologisch“ und zum anderen erwies sich das ansonsten verwendete Vokabular eindeutig als herderianisch: Da waren Kulturen in der Lage „miteinander in Kontakt“ zu kommen; da konnten Menschen „in zwei Kulturen aufwachsen“ und andere wiederum „zwischen zwei Kulturen lavieren“ (ebd. 45 und 311). Während bei den Vertretern des Multikulturalismus der herkömmliche Kulturbegriff hinter den zaghaften Kontextualisierungen nahezu unbemerkt wieder auftauchte, verhielt es sich bei den Exponenten von ‚Leitkultur‘ im Jahre 2000 genau umgekehrt. Um sich entschieden gegen die Idee der „multikulturellen Gesellschaft“ abzusetzen, wurde etwa in der „Arbeitsgrundlage“ der CDU-Zuwanderungs-Kommission ganz konventionell festgehalten: „Die Gemeinsamkeit unseres kulturellen und geschichtlichen Erbes und unser gemeinsamer Wille zur Freiheit und Einheit sind Ausdruck nationaler Identität.“ Wenige Sätze später jedoch konnten die Verfasser nicht mehr verhehlen, dass sich diese „nationale Identität“ offenbar längst im Fluss befindet und zum Objekt einer gezielten Rekonstruktion werden muss – die
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„christlich geprägten Wertgrundlagen“ nämlich, so das Papier, gilt es „zu bewahren, zu stärken und weiter zu entwickeln.“ 1 Als das Konzept schließlich in der Öffentlichkeit diskutiert wurde, waren sich die meisten der Kommentatoren in der Presse einig, dass es kein Zurück zur ‚Leitkultur‘ mehr gäbe – die Bundesrepublik sei längst kulturell differenziert. Weder „türkische Halbstarke mit Rapper-Gebaren“ (FAZ) noch „das Tragen oder NichtTragen von Kopftüchern“ (Die Zeit) erschien den Autoren dabei noch ungewöhnlich oder gar gefährlich. Einheimische Kulturwissenschaftler und Soziologen hatten solche „Vermischung“ angesichts der globalisierten Einwanderungsgesellschaft bereits früher entdeckt. Elisabeth Bronfen und Benjamin Marius etwa betonten, dass es angesichts einer neuen globalen Mobilität „weniger um Ausschluss des nicht Dazugehörigen“, sondern um die „Produktivität interner Differenzen“ gehe (Bronfen, Marius 1997: 3). Als Modell für die nationale Gemeinschaft der Zukunft erschien ihnen nun nicht mehr das „Multi-Kulti-Gartenfest“, „auf dem Folklore dargeboten wird und in der das politische Subjekt durch den Anderen seine Korrektheit genießen kann, sondern eine „Club-Nacht, in der nationale und (sub-)kulturelle Differenzen als einige unter vielen anderen möglichen produktiv eingesetzt werden können“ (ebd.: 4). In dieser neuen Form der Vergemeinschaftung, in der sich Realität und Utopie offenbar bereits vermischen, avancierte der Fremde bzw. der Migrant zum Modell des neuen Kulturtyps der Postmoderne. „Das Nomadentum des Arbeitsmigranten“, betonte der Literaturwissenschaftler Paul Michael Lützeler, „ist ein Merkmal postmoderner Verfassung und Identität überhaupt geworden“ (Lützeler 1998: 913) Allerdings wurde dieser Fremde von den Forschern kaum einmal etwa als illegaler Einwanderer gedacht, der in einem Sweatshop arbeitet, sondern gewöhnlich als „postkolonialer“ Schriftsteller oder Intellektueller – ein glitzernder Wanderer und bereichernder Kulturvermittler zwischen Peripherie und Zentrum eben. So schwärmte etwa die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim in ihrem Beitrag zu dem Band Perspektiven der Weltgesellschaft von diesen Schriftstellern als „neuen Ureinwohnern des Weltdorfes“ oder bezeichnete sie gar unverhohlen als „neue Rasse der postkolonialen Seelen“ (Beck-Gernsheim 1998: 163ff.). Während die ‚progressiven‘ Intellektuellen in der ‚Hybridität‘ offenbar einen Ersatz für den herkömmlichen Multikulturalismus gefunden hatten, wenden sich derweil andere wiederum dagegen. „Vor allem“, polemisiert der Philosoph Jochen Schütze, „bahnt sich unter der Bezeichnung Globalismus die Epoche an, in der die Dimension des Fremden endgültig ausstirbt“. Er glaubt, dass der „existenzielle Abstand“ zwischen Eigenem und Fremdem gewahrt bleiben muss und scheut sich nicht, in dieser neuen Abwesenheit des Fremden eine „Voraussetzung des Totalitarismus“ zu erkennen (Schütze 2000: 93f.). Ähnlich argumentiert Frank Böckelmann – ehemals Berufsrevolutionär und heute Kommunikationsforscher: „Zu Kulturkampf und Rassenhass kommt es nur zwischen einander Nahegerückten“ (Böckelmann 1998: 442). Gegen die „Entgrenzungsspekulanten“ versteht er sein Buch Die Gelben, die Schwarzen und die Weißen als „Lob der Fremdheit“. Obzwar der Herdersche Kulturbegriff also immer noch den Hintergrund der Diskussion um Globalisierung in Deutschland bildet, sind sich dennoch alle Betei-
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ligten bis hin zu den Vertretern der Union einig, dass die kulturelle Differenzierung der Gesellschaft inzwischen eine Tatsache ist. In den Auseinandersetzungen geht es lediglich um die Bewertung: Handelt es sich um einen Zustand, der durchweg bejaht wird und sogar Qualitäten einer Gesellschaftsutopie aufweist, oder gehört dieser Zustand korrigiert – je nachdem durch Wiederherstellung von ‚nationaler Identität‘ oder gar von Fremdheit allgemein? In diesem Sinne besteht die Anforderung an die Politik offenbar nur noch darin, wie sie diese Differenz organisiert. Tatsächlich zeigt sich bereits an dieser Diskussion, dass der Bezug auf Fremdheit strategisch ist: Die Beteiligten verwenden das vorgebliche Fremde schlicht als einen Spiegel, in dem die eigenen Vorstellungen von der Gesellschaft reflektiert werden. Dabei bleibt die Diskussion erstaunlich abstrakt. Nur in den seltensten Fällen werden konkrete Phänomene genauer unter die Lupe genommen. Hier zu Lande scheinen selbst kulturpolitische Interventionen hauptsächlich von abstrakten Modellen inspiriert zu sein. Ein Beispiel dafür ist die Ausstellung Heimat Kunst, die 2000 im Berliner Haus der Kulturen der Welt unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten stattfand. Dort wurden von einem durchweg einheimischen Kuratorenteam 43 ‚fremde‘ Künstler kuratiert, wobei es gleichgültig war, ob es sich um Personen mit Migrationshintergrund handelte oder um ausländische Künstler, die sich vorübergehend in der Bundesrepublik aufhielten. In einer Broschüre formulierte Leiter Johannes Odenthal eines der wichtigsten Anliegen der Ausstellung: „Wie kann sich Deutschland künstlerisch in den nächsten Jahrzehnten international darstellen?“ Offenbar diente die im gleichen Aufsatz geforderte „Sichtbarkeit von Migranten-Kultur“, womit wohl die Exponierung von Fremdheit gemeint war, in erster Linie dem strategischen Ziel einer Repräsentation Deutschlands in der Kunst. Unter mangelnder Sichtbarkeit leidet das Fremde derweil sicherlich nicht – allein: Um was für eine Art von Sichtbarkeit handelt es sich genau?
3 Bilder des Fremden I: Differenzkonsum in der Massenkultur Für den beschleunigten Umschlag von Bildern des Fremden spielt heute ein Feld eine ausgezeichnete Rolle: die herrschende Massenkultur. Was zaghaft mit Ernährungsgewohnheiten und Schlagermusik begann, hat sich mittlerweile auf alle Bereiche ausgedehnt: Werbung, Fernsehen, Popmusik etc. kommen heute kaum noch ohne ein Spiel mit Elementen des Fremden aus. Freilich bedeutet diese überdeutliche Heterofilität in der Konsumsphäre noch lange nicht, dass die Anderen auf dieser Bühne ihre Repräsentation selbst in der Hand hätten. Denn zum einen spielt sich die Einbeziehung des Fremden im Bereich der Unterhaltung ab – bekanntlich traditionell eine ‚Domäne‘ der Marginalisierten. Auf der anderen Seite kann auf dem Feld der Massenkultur die dargestellte Differenz auf vielfältige Weise kontrolliert und reguliert werden, was die Anderen wiederum auf die Präsentation bestimmter Identitätsmarker festlegt. Insofern scheint der Wunsch nach ‚echter‘ Differenz in der Konsumsphäre vor allem durch das Klischee befriedigt zu werden.
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Es sind vornehmlich Bilder von Schwarzen, die in der Massenkultur eine Rolle spielen. Das hat eine gewisse Tradition – nicht durch Zufall war die ewig lachende Stimmungskanone mit dem bezeichnenden Künstlernamen Roberto Blanco einer der ersten ‚Fremden‘ im deutsche Unterhaltungssektor. Bereits in den 1970er Jahren erfand der Produzent Frank Farian die Gruppe Boney M – die schwarzen Interpreten waren dabei eigentlich nicht anders als Präsentatoren der Musik. Dieses Prinzip hat sich in der seit einigen Jahren sehr erfolgreichen Sparte „Eurodance“ verallgemeinert. Zu diesem Sektor gehörte etwa der Sommerhit des Jahres 1997, der von der Gruppe Bellini stammte und den Titel Samba de Janeiro trug. Bellini war eine Erfindung der Kölner Dancefloor-Producer Ramon Zenker und Gottfried Engels, welche die Gruppe nach ‚multikulturellen‘ Gesichtspunkten zusammenstellten: Neben der aus Brasilien stammenden Sängerin gab es eine Tanzfraktion, die aus einer Einheimischen, einem Algerier, einer Indonesierin und einer Thailänderin bestand. Im Info der Plattenfirma Virgin wurde der „feurige Einzug“ des Karneval auf deutsche Tanzböden gefeiert und das Video zeigte die Gruppe bei einem Umzug mit Musik im brasilianisch angehauchten Ambiente. Hier erfanden also einheimische Produzenten ein karnevalsk-internationalisiertes Brasilien, das ‚Fremdheit‘ und ‚Farbigkeit‘ auf die Funktion einer Genussmaschine reduziert. Die meisten Videos der Eurodance-Produktionen zeigen die Reduktion des Fremden auf ein Klischee sehr deutlich. So trug in einem Stück von 1997 mit dem Titel Can you feel the bass ein schwarzer Mann ein pulsierendes Lichtbündel vor sich her, das er schließlich im Verlauf des Videos auf einen weißen Mann schleuderte. Dieser begann daraufhin zu tanzen: Offenbar diente der schwarze Mann allein als Überbringer des Rhythmus. Manches Mal sind die Clips sogar unverhohlen rassistisch. Im Jahre 1999 entstand eine deutsche Eurodance-Version des Reggae-Klassikers Sun is Shining von Bob Marley. Im zugehörigen Video wurden Szenen von trommelnden Rastas, die Authentizität symbolisieren sollten, mit solchen gegen geschnitten, auf denen weiße Männer in hellen Anzügen sich mit schnellen Autos, Jachten und Hubschraubern fortbewegten. Hier wird der Abstand deutlich markiert: Auf der einen Seite eine Peripherie im Stillstand, die Material für die Differenzkonsummaschine bereitstellt; auf der anderen Seite extrem mobile Individuen, die Fremdheit wie aus dem Bauchladen konsumieren. Ende der 1990er Jahre nutzten auch Produzenten nichtdeutscher Herkunft wie Tony Cottura und Bülent Aris mit ihrer Produktionsfirma Booya das Begehren nach authentischer Fremdheit, indem sie für den deutschen Markt sehr erfolgreich Gangsterrap aus der Retorte fabrizierten. In einer Presseinformation des Plattenmajors Universal wurde der in Deutschland lebende Rapper A.K. Swift 1997 so beworben: „Seine Hautfarbe ist schwarz! Er rappt, dass uns warm im Unterleib wird! Er sieht gut aus! Er ist gut gebaut!“ Dass auch die Mode dieser Logik der Einbeziehung von Fremdheit folgt, ist kaum verwunderlich. Exemplarisch stellte Wolfgang Joop kürzlich kategorisch fest: „Als Amerikaner wäre ich dunkelhäutig“. Und er fügte die Erklärung gleich hinzu, indem er des Titel eines Hollywood-Films zitiert: „Because white man can‘t jump“2. Der gleichen Logik wie Joop, der eben das Stilvermögen und glamouröses Auftreten der Afroamerikaner begehrt, folgte eine Werbung der renommierten Versicherung
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Allianz. Die Zeile „Performance – Covered by Allianz Group“ wurde illustriert mit einem schwarzen Mann, der sich offenbar an der Börse gerade über einen Gewinn freut. Gerade für große Firmen ist die ‚Mischung‘ zu einem konstitutiven Bestandteil geworden – sowohl was die angebliche Kreativität ‚multikultureller‘ Belegschaften betrifft als auch das Image nach außen. Auch die Repräsentation der Hauptstadt Berlin kommt ohne Bilder des Fremden nicht mehr aus. Nachdem Berlin die „Love Parade“ als Standortfaktor entdeckte, warb die Stadt gar für sich selbst mit Bildern von weißen, schwarzen und asiatischen Ravern, die gemeinsam die Offenheit und Toleranz des neuen Berlin symbolisieren sollten. Mit der Aufzählung solcher Beispiele ließe sich endlos fortfahren. Freilich ist es auch interessant, wer in diesen Repräsentationen nicht auftaucht. Es zeugt von einem gewissen ‚rassischen‘ Exotismus, dass etwa im neuen Image von Berlin Schwarze und Asiaten auftauchen, die bei weitem größte Minderheit in der Stadt – die Einwanderer türkischer Herkunft – jedoch nicht. In diesem Zusammenhang ist sicher nicht zufällig, dass der erste Kommissar türkischer Herkunft im Fernsehen – Sinan Toprak – sich vor allem durch eine vehemente Zurschaustellung traditionell deutscher Tugenden auszeichnete: Hier werden offenbar via Massenkultur Verhaltenszumutungen in Richtung aus Anpassung formuliert. Allerdings wäre es dennoch falsch, absolute Homogenität zu vermuten. Die Massenkultur ist weites Feld mit mannigfaltigen Brüchen und Fransen, in denen auch dissidente Positionen zu ihrem Recht kommen können. Dennoch lässt sich aus der zunehmenden Präsenz von selbstbestimmten afrodeutschen Rappern oder Reggae-Künstlern oder der von populären türkisch-deutschen Kabarettisten wie Kaya Yanar keineswegs folgern, dass alle Beteiligten ihre Positionierungen in diesem Feld frei wählen können. Wie erwähnt, handelt sich um eine Bühne, auf der Differenz reguliert wird. In der Massenkultur kommen jeweils global verständliche Zeichensysteme und nationale Hintergründe zusammen. Die beschriebene Differenzkonsummaschine jedenfalls ist ein Angebot für die kaufkräftigen Individuen in der ‚Neuen Mitte‘, welche hier ein Terrain für die hegemoniale Identitätsbildung vorfinden. Für diese Individuen erscheint das eigene Selbst im Konsum unendlich formbar: Sie erwerben Differenz und füllen dadurch einen scheinbar leeren Ort. So plastisch scheint das Eigene geworden zusein, dass selbst ‚biologische‘ Merkmale wie die Hautfarbe manipuliert werden können. Dies wurde etwa durch eine Plakatreklame für ein Sonnenstudio illustriert, auf dem weibliche Pos in verschiedenen Farbabstufungen zwischen fast weiß und fast schwarz abgebildet waren. Darunter stand: „Den Ton bestimmen sie“. Hier wirkt selbst die Pigmentierung wie ein Konsumartikel: Sogar Hautfarben kann man sich offenbar aussuchen wie Frisuren. In diesem Prozess wird Fremdheit wie erwähnt zu einer unbewussten oder bewussten strategischen Spielmarke: Sie wird begehrt und erfunden, sie wird kontrolliert und reguliert. Je mehr Authentizität gewünscht wird, desto mehr KlischeeFremdheit entsteht: Stets bringen die Fremden Rhythmus, Natürlichkeit, Kraft, Feuer, Lebensfreude usw. Freilich wird weiterhin streng darüber gewacht, welche Differenzen zugelassen werden und welche nicht – nicht umsonst wird in dieser Gesell-
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schaft ununterbrochen über Toleranz verhandelt. Im nächste Abschnitt wird es insbesondere um jene Differenzen gehen, welche die Differenzkonsummaschine von außen begrenzen. Slavoj Zizek hat in seinem Plädoyer für die Intoleranz keineswegs Unrecht, wenn er polemisch bemerkt: „Multikulturalismus ist ein Rassismus, der seine eigene Position von jeglichem positiven Inhalt freigemacht hat […], trotzdem bleibt aber diese Position die eines privilegierten leeren Platzes der Universalität, von dem aus man in die Lage gerückt ist, die anderen partikularen Kulturen zu bewerten (oder zu entwerten)“ (Ziek 1998: 73).
4 Bilder des Fremden II: Gegenbilder 1992 bezeichneten Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid den „Umgang der Deutschen mit der moslemischen Minderheit“ als „Nagelprobe“ für die multikulturelle Gesellschaft (Cohn-Bendit/Schmid 1992: 306). Schnell stellte sich freilich heraus, dass vor allem der offenbar als Einheit betrachtete ‚Islam‘ als Problem definiert wurde. Die Autoren wollten diesen zwar keineswegs als auf Fundamentalismus reduzieren, aber doch als Hemmnis für den Multikulturalismus verstanden wissen: Der Islam sei nämlich „nicht nur eine Religion, sondern auch eine theokratische Vision“ – der Prozess der Säkularisierung stehe noch bevor (ebd.: 309). Dieses Bild von ‚dem Islam‘ ist in den 1990er Jahren in den Medien vielfach reproduziert worden, wobei zumal in der Sprache der Bilder stets eine Mischung zwischen Rätselhaftigkeit und Bedrohung suggeriert wird. Beispielhaft dafür steht ein Titelbild von Spiegel special aus dem Jahre 1998, das eine verschleierte Frau zeigt, deren Augenbraue sich in ein Schwert verwandelt hat. Der Titel lautete: „Weltmacht hinterm Schleier: Rätsel Islam“3. Im Innern des Heftes fand sich eine weitere Illustration mit einer verschleierten Frau, die eine Teekanne reichte, wobei ihr unverschleierter, also demaskierter Schatten im Hintergrund anstatt der Kanne eine Pistole in der Hand hielt. Offenbar stammen diese Bilder aus einem imaginären Repertoire, das an den antikolonialen Befreiungskampf in Algerien erinnert. So wirkt das Kapitel „Algerien legt den Schleier ab“ aus Frantz Fanons Buch über die algerische Revolution, in dem er die Reaktionen der Franzosen auf das Kopftuch beschreibt, heute wieder erstaunlich aktuell.4 Insbesondere nach den Anschlägen vom 11. September wurde auf die suggestive Wirkung solcher Bilder gesetzt. Die Titelbilder von großen Illustrierten im Oktober – „Weltmacht Islam“ (Focus), „Geheimnis Islam“ (Stern), „Mohammeds zornige Erben“ (Stern) – sowie die Bilder zu den Artikeln reduzierten ‚den Islam‘ auf wenige, leicht wieder erkennbare Merkmale: Menschenmassen, Verschleierung, wütende Männer. Dazu kamen brennende Fahnen, Karten der sogenannten islamischen Welt und historische Schlachtenbilder. Der imaginäre Text ist von atemberaubender Eindeutigkeit: Eine weltweit verbreitete, verschlossene, fanatische Religiosität, die schon seit Jahrtausenden expansive Bestrebungen hat, bedroht ‚uns‘ mit Flamme und Schwert. Ähnliches wurde auch verbal geäußert – etwa vom ehemali-
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gen Staatsminister für Kultur bei Sabine Christiansen am 14. September 2002, der von einer Milliarde nicht säkularisierter Menschen sprach – doch die Bilder wirken weitaus evidenter. Zweifelsohne handelt es sich hier um das bekannte Repertoire des „Orientalismus“ und Edward Said hat wohl recht behalten, als er 1978 in der Einleitung seines gleichnamigen Buches die globalen Massenkultur nicht als Antidot gegen das Klischee verstehen wollte – im Gegenteil: „One aspect of the electronic, postmodern world is that there has been a reinforcement of the stereotypes by which the Orient is viewed“ (Said 1995: 26). Die wenigen Merkmale, mit denen der Islam dargestellt wird, ergeben eine Art Syndrom, das wie ein Spiegel funktioniert – eine glatte Fläche, in der wiederum in strategischem Sinne das Fremde umgekehrt das Eigene reflektiert: Dass ‚sie‘ in Massen auftreten, fanatisch und verschlossen sind, zeigt ‚uns‘ unsere Individualität, Vernunft und Offenheit. Das Gegenbild begrenzt die Maschine des Differenzkonsums und schafft so ein virtuelles Terrain erlaubter und kontrollierter Differenz. Freilich ist die Beziehung jener Merkmale, welche den Islam repräsentieren sollen, und dem Signifikat ‚der Islam‘ völlig ungesichert. Nicht nur, dass wir nicht wissen, ob Massen, Fanatismus und Verschleierung tatsächlich mit „dem Islam“ in Verbindung stehen – wir wissen nicht einmal, ob das Signifikat ‚der Islam‘ als ein Ganzes überhaupt existiert. Daher lässt sich feststellen, dass hier Fremdheit im strategischen Sinne erfunden wird – der „weiße Blick“ (Frantz Fanon) legt nicht nur die Merkmale fest, an denen Fremdheit zu erkennen ist, sondern er füllt diese Fremdheit auch mit einem spezifischen Inhalt und bewertet sie – zumindest implizit. Fremdheit in der Bedeutung des „gesunden Menschenverstandes“ – das, was wir nicht kennen – ist längst ein Relikt der Vergangenheit. Es gibt kaum noch einen Ort, eine Gruppe, eine Position, die nicht durch tausende von Details, Anekdoten und Erzählungen des westlichen Diskurses bekannt sind. Dieses Gesehen-Werden durch die Mehrheit bleibt selbstverständlich nicht ohne Einfluss auf jene, die von diesem Blick erfasst werden. Doch was geschieht in jenem Moment, wenn die Anderen, die sogenannten Fremden, dem ‚weißen Blick‘ begegnen? Fanon schreibt: „Ich entdeckte mich als Objekt inmitten anderer Objekte“ (Fanon 1985: 79). Jede kulturelle Artikulation der Migranten im Einwanderungsland muss im Kontext dieser ‚erdrückenden Objektivität‘ gelesen werden: Die Artikulationen stellen – wiederum unbewusst oder bewusst – eine strategische Reaktion auf diesen Blick dar. In der Eingangsszene des Filmes Ich Chef, Du Turnschuh von Hussi Kutlucan, der sich unausgesetzt mit dem Problem der ‚gespielten‘ Ethnizität befasst, entgeht ein Asylbewerber der Abschiebung, indem er sich ein Handtuch um den Kopf bindet und sich zu einer Gruppe indischer Neuankömmlinge gesellt. Allein das Merkmal Turban lässt ihn im Blick der Einheimischen als Inder erscheinen. Die Szene ist letztlich jedoch hochsymbolisch für die kulturellen Ausdrucksformen von Einwanderern allgemein. Zum einen handelt es sich stets um aktive Umgangsweisen mit einem Machtgefälle. Zum anderen treiben diese Positionierungen ein Spiel mit der Unsichtbarkeit und der Sichtbarkeit von Migranten. Am Beispiel des Kopftuches soll dieser Prozess nun genauer erläutert werden.
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5 Die Umkehrung des Blicks: Fremde stören das Bild In den letzten Jahren ist das Kopftuch in der Bundesrepublik das ausgezeichnete Symbol für eine in politischer als auch kultureller Hinsicht ‚unpassende‘ Differenz geworden. Als 1998 Fereshta Ludin, eine deutsche Muslima afghanischer Abstammung, im Land Baden-Württemberg Lehrerin werden wollte, wurde ihr das von der Kultusministerin Annette Schavan mit der Begründung verweigert, das Kopftuch sei „ein Symbol kultureller Abgrenzung“ und mit den Toleranzvorstellungen der Bundesrepublik nicht vereinbar. Tatsächlich projiziert die Ministerin hier offenbar die eigene Intoleranz auf die ‚Fremde‘: Sie begründet diese Intoleranz mit der Gefährdung der Toleranz durch das Kopftuch. Mittlerweile wird das Tuch in Zeitschriften beinahe ikonisch verwendet, um Artikel zu illustrieren, die sich mit Integration bzw. ihren Problemen befasst. Beispielsweise konnte man selbst in der taz vom 6. Oktober 1999 ein Bild von jungen Frauen mit Kopftüchern sehen, die über eine Kirmes schlenderten und Eis aßen. Die Überschrift des Artikels lautete „Stadt ohne Zukunft?“ und die Unterzeile: „Wieviel Fremdheit verträgt Deutschland? Eine Diskussion – nicht nur für Nationalisten“. Selbstverständlich sorgt das Kopftuch gerade in der Massenkultur für Irritationen. Dies bringt eine erotische Fotostrecke der Männerillustrierten GQ mit Yasmeen Ghauri auf den Punkt. Ghauri ist Model und wuchs in Montreal mit einer deutschen Mutter und einem pakistanischen Vater auf. „Das ist die Frau“, lautet der Lassotext, „die einem religiösen Symbol schärfste Konkurrenz geboten hat. Jammerschade, wenn Yasmeen Ghauri heute verschleiert rumlaufen müsste.“5 Hier werden also säkularisierte Offenheit und religiös motivierte Verschlossenheit miteinander in ein Verhältnis der Konkurrenz gebracht, wobei Freiheit und Offenheit allerdings letztlich wenig mehr bedeuten als erotische Entblößung. Auf einer ähnlichen Ebene argumentiert der Spiegel in einem Text mit dem Titel „Erregend Anders“. Hier werden jungen Frauen mit Kopftüchern so fantasiert: „hoch gewachsene, vollkommene Gestalten, mit makellosem Make-Up, High Heels und hautengen Bodys, das Haar versteckt unterm Tuch, der Bauchnabel frei“6. Bei GQ gewährleistet allein die Entkleidung die Einspeisung des deutlich exotisierten Frauenkörpers in die „Differenzgenussmaschine“, während das Kopftuch dieser entgegenstünde. Für den Spiegel wird das Kopftuch letztlich nur dadurch akzeptabel, dass die Frauen gleichzeitig auf westliche Weise sexualisiert erscheinen. Allerdings ist das Kopftuch, dass als Grenze von Toleranz und ‚Vermischung‘ in der globalen Massenkultur wahrgenommen wird, eine weitaus interessantere und originärere politisch-kulturelle Hybridisierung als zunächst sichtbar wird. Die jungen Frauen mit ihren Kopftücher bieten dem hegemonialen Blick in Deutschland keinerlei Anhaltspunkt. Da die deutsche Gesellschaft sich traditionell nicht als Einwanderungsgesellschaft verstanden und die Migranten weitgehend von politischer Mitbestimmung ferngehalten hat, gelten die Einwanderer immer noch als ‚fremde‘
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Gruppe mit ‚fremden‘ Sitten auf deutschem Territorium. Kopftücher erscheinen dem hegemonialen Blick letztlich selbstverständlich – die Fremden haben eben andere Sitten. Erst wenn diese ‚Fremdheit‘ den Kontext wechselt und selbstbewusst als Lehrkraft an deutschen Schulen auftaucht oder wenn diese Fremdheit den Genuss von exotisierter Weiblichkeit in der globalen Massenkultur gewissermaßen blockiert, dann wird dieses ‚Fremde‘ plötzlich problematisch. Selbstverständlich handelt es sich bei dieser Bedeckung um ein religiöses Bekenntnis, doch die jungen Frauen bestehen dabei nur scheinbar auf einer traditionellen, quasi vormodernen Form der geschlechtsspezifischen ‚Fremdheit‘. Denn die jungen Kopftuchträgerinnen7 befinden sich nicht an dem Ort, an dem sie gesehen werden. Wie Yasemin Karakasoglu-Aydin (1998) in Interviews mit ‚Kopftuch-Studentinnen‘ türkischer Herkunft herausfand, verkörpern diese jungen Frauen eben nicht „kulturelle Abgrenzung“ im Sinne von religiöser Traditionalität und weiblicher Unterordnung. Das zeigt sich schon am Kopftuch selbst: Es handelt sich nicht um die hergebrachte Kopfbedeckung der Mütter, die den Haaransatz freilässt und unter dem Kinn geknotet wird, sondern um den sogenannten ‚türban‘, welcher das gesamte Haar und auch die Schultern verhüllt. Dieses Kopftuch hat in der Türkei keine spezielle Bedeutung, sondern es wird heute weltweit von Musliminnen der jüngeren Generation getragen – es hat mit Türkischsein also überhaupt nichts zu tun. Auch stammt der vorwiegende Teil der Studentinnen aus Arbeiterfamilien, in denen die Religion kaum praktiziert wurde. Zudem sind auch die Islamvorstellungen nicht traditionell. Im Tragen des Kopftuchs kommt daher oft eine Art „sanfte Revolution“ gegen die Eltern zum Ausdruck (Karasoglu-Aydin 1998: 466). In den Interviews stellen die jungen Frauen ihre Entscheidung für das Kopftuch als strikt individuell und auch emanzipativ dar. Das Tuch nach ihren Aussagen soll dafür sorgen, dass nicht das weibliche Äußere, sondern die Persönlichkeit Beachtung findet. Darüber hinaus garantiert er den jungen Frauen Respekt. Alle Bedeutungen, die von den jungen Frauen selbst mit dem Tragen des ‚türban‘ verbunden werden, sind im höchsten Maße ‚integriert‘ und ‚modern‘. Gleich, ob man diesen emanzipativen Anspruch anzweifelt oder nicht, die jungen Frauen bilden jedenfalls eine internationalistische, im Hinblick auf sexuelle und ethnische Differenz aktive Subkultur, die über den Bezug auf ein hegemonial bedeutsames Zeichen via Stil Einwände formuliert. Sie wollen, dass sie gerade in ihrer Sichtbarkeit als ‚Fremde‘ integriert werden. Wie kann man nun diese kulturelle Artikulation theoretisch fassen? Hier bietet sich Homi Bhabhas Theorie der ‚Hybridität‘ an.
6 Weniger als eins und doppelt: Hybridität Der Begriff der ‚Hybridität‘ steht im Kontext von sogenannten PostkolonialismusAnsätzen. Die Diskussion über Postkolonialismus entwickelte sich in Großbritannien unter minorisierten Intellektuellen und im direkten Gefolge antikolonialer und
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antirassistischer Kämpfe. Die Schwierigkeit und zum Teil auch das Scheitern solcher Kämpfe offenbarte das Problem mit – je nachdem politischen oder auch essenzialistisch verstandenen – Identitätskonstruktionen wie ‚Dritte Welt‘, ‚Afrika‘, ‚Schwarz‘ oder ‚Nation‘. Denn übersehen wurde bei dieser Art der binären Positionierung, die Stuart Hall „Identitätspolitik ersten Grades“ (Hall 1994: 78ff.) nennt, zum einen der Streit um Differenzen innerhalb der jeweiligen ‚erfundenen‘ Gemeinschaft und zum anderen die Verwicklung der vorgestellten Identität in die Kultur des politischen Gegners, also des Kolonisatoren oder der Majorität. Besonders der zweite Punkt führt schließlich zum Begriff der Hybridität. Wie Hall schreibt, führt kein Weg an der Erkenntnis vorbei, dass jede Identität bei ihrer Konstitution durch das „Nadelöhr des Anderen“ (ebd.: 44) hindurch ging und dass Identität „aus mehr als einem Diskurs zusammengesetzt ist, immer aus dem Schweigen über den Anderen gebildet wird“ und „mit und durch Ambivalenz und Begehren geschrieben ist“ (ebd.: 74), Am anspruchsvollsten hat diese Vorstellung vom Dislozieren der Identität in sich selbst wohl Homi Bhabha beschrieben. In verschiedenen Aufsätzen, die später zu dem Buch The Location of Culture zusammengefasst wurden, befasste sich Bhabha ausführlich mit der „anderen Szene“ der kolonialen Machtentfaltung – mit jener unausweichlichen Ambivalenz, in die sowohl die eine als auch die andere Seite durch das Mimikry der Kolonisierten an die Kultur ihrer Unterdrücker verwickelt werden.8 Denn die Nachahmung erzeugt, wie Bhabha immer wieder betont, „a subject of difference that is almost the same, but not quite“ (Bhabha 1994: 86). Diese „Szene“ wiederholt sich dann unter anderen, nämlich „postkolonialen“ Vorzeichen in der Metropole, deren Regierung die Ex-Kolonisierten nach ihrer Befreiung ja zur Einwanderung aufforderte. Um den Prozess der minoritären Identitätsbildung zu erläutern, zitiert Bhabha ein Gedicht von Meiling Jin, indem sie davon spricht, sie habe eine „geheime Kunst“ gelernt, die „Unsichtbarkeit“. Diese bewahre sie davor, vom hegemonialen „Du“ gesehen zu werden, während sie selbst jedoch weiterhin sehen kann: „Nur meine Augen bleiben als Spuk und werden aus Deinen Träumen ein Chaos machen“ (zitiert nach Bhabha 1997a: 98). Diese exemplarische Identitätskonstruktion stellt die gewöhnliche Vorstellung von Identität zutiefst in Frage. Während allgemein davon ausgegangen wird, dass dem, was man von einem Ich sieht oder dem, was eine Person sagt, auf einer tieferen Ebene eine sich selbst gleiche Essenz zu Grunde liegt, befindet sich hier die Migrantin (das Subjekt) offenkundig nicht an dem Ort, von dem aus es spricht und an dem es gesehen wird. Allerdings indiziert diese Spaltung nicht, dass die Migrantin ein befreites, nichtunterdrücktes Ich hinter einem falschen Bild in Sicherheit gebracht hat. Was hier stattgefunden hat, ist vielmehr eine „Verdoppelung“, „die unheimliche Differenz desselben oder die Alterität der Identität“ (Bhabha 1997a: 110). In einer zweifachen Bewegung schmiegt sich die Migrantin durch Mimikry der hegemonialen Vorstellung von sich selbst an und ersetzt gleichzeitig metonymisch das vorgebliche Ganze (das Ich) durch einen Teil (das Auge). 9 Sie wird also nicht, auch nicht auf verborgene Weise, identisch im traditionellen Sinne: Sie bewohnt einen „dritten Raum der
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Absenz“ (ebd.: 106.), der genau zwischen der Behauptung von Identität und ihrem Hinterfragen liegt. Durch diesen Akt der Verdoppelung stört die Migrantin gleichzeitig aber auch die Identität des hegemonialen „Du“, welches sich nicht zuletzt durch die Abgrenzung vom Anderen definiert. „Diese Störung deines voyeuristischen Blicks“, schreibt Bhabha, „beruht auf der Komplexität und Widersprüchlichkeit deines Verlangens, kulturelle ‚Differenz‘ in einem eingrenzbaren, sichtbaren Objekt oder als natürlichen Tatbestand zu sehen, zu fixieren […]“ (ebd.: 108). Dabei kann mit kultureller Differenz im übrigen nicht nur ethnische, sondern auch sexuelle Differenz gemeint sein. Durch ihre Hybridität führt die Minorisierte, da sie weniger als eins und doppelt ist, eine unerwartete „Spaltung der Differenz zwischen Selbst und Anderem“ (ebd.: 106) ein. Kulturelle Unterschiede sind also keineswegs einfach da, um gesehen und analysiert zu werden, sie sind weder die Quelle von Konflikt noch bieten sie eine Basis für Anerkennung, sondern kulturelle Differenzierung wird produziert als Effekt einer diskriminatorischen Praxis.10 Insofern geht es „für das Subjekt der Minorisierung […] nicht um die Frage der ‚Reziprozität‘ – das ‚Verhältnis der beiden‘ -, sondern um die Problematik der Nähe“ (Bhabha 1997b: 38). Allerdings bleibt bei Bhabha der Status von Hybridität systematisch unklar: Handelt es sich um die Bedingung der Identitätsbildung unter ungleichen Machtverhältnissen oder, wie Bhabha immer wieder anmerkt, um eine (dann notwendig intentionale) Strategie der Subversion gegen die Macht? 11 Tatsächlich ist minoritäre Identität wohl auch in dieser Hinsicht ambivalent: Wenn wohl auch von Intentionalität im engeren Sinne sicher nicht die Rede sein kann, enthält die hybride Identitätsbildung der Minderheiten immer auch einen Akt des Widerstandes. Allerdings sollte man die Wirkung dieses Widerstandes, wie Bhabha es gelegentlich tut, weder überschätzen noch gegen eine oppositionelle Politik ausspielen. Wenn man diesen Ansatz auf das Phänomen der „Kopftuch-Studentinnen“ in Deutschland überträgt, dann ist die in den Interviews hervortretende Modernität und Individualität nicht etwa die befreite Identität ‚hinter‘ dem Schleier, die nur freizulegen wären und die jungen Frauen verwandelten sich einfach in Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft, sondern bloß eine Verschiebung, ein Teil für ein Ganzes. Hier liegt auch der Unterschied zu den Jugendsubkulturen der Majoritätsangehörigen. Die Verschiebung kann nur inmitten der Unsichtbarkeit stattfinden, die der „türban“ auf der Ebene der Repräsentation garantiert. So bewohnen die jungen Frauen eben jenen ‚dritten Raum‘, von dem Homi Bhabha spricht, der eben nicht ‚zwischen zwei Kulturen‘ liegt, sondern in dem jede kulturelle Äußerung immer das Eine-im-Anderen verkörpert. In ihrer sexuellen und ethnischen Identitätskonstruktion wird etwas Zusätzliches hervorgebracht, sie ist „hybrid“ in Bhabhas Sinne: Die jungen Frauen besitzen keine ‚tiefe‘, stimmige Identität; sie sind weniger als eins und doppelt, sie spalten die scheinbar einfach gegebene Differenz auf. Sie stellen herrschende Identitätsvorstellungen in Frage, weil ihre Äußerung genau zwischen der Behauptung einer Identität und ihrer Infragestellung liegt.
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7 Repräsentationskrisen Die empört-aggressiven Reaktionen zeigen es – diese jungen Frauen lösen eine Krise der hegemonialen Repräsentation aus, wie sie gerade über die Massenmedien vermittelt wird. In dem französischen Spielfilm Les années lycées 1995: Sa vie à elle von 1995 gibt es eine Szene, die diese Krise perfekt illustriert. Der Film handelt von einem Mädchen in der Abschlussklasse, welches beginnt ein Kopftuch zu tragen. Sie erklärt ihr Verhalten nicht und riskiert schließlich einen Schulverweis. Ein Lehrer, der sich selbst als liberal vorstellt („ich persönlich bin mit den harten Reaktionen der anderen Lehrer nicht einverstanden“) befragt das Mädchen dennoch in nahezu inquisitorischer Weise über seine Motivation. Als sie gleich zu Beginn auf die Frage nach dem „Warum“ nicht antwortet, wird der Lehrer immer weiter auf sich selbst zurückgeworfen. Von der Frage, ob sie das „normal“ finde und was sie antreibe, gleitet er bald in einen Monolog des Selbstzweifels: „Warum wollen sie nicht sprechen? Weil wir nicht in der Lage wären, es zu verstehen, ist es das? Wir wären nicht in der Lage, zu verstehen, was sie uns sagen würden, die Bedeutung, die es für die hat, diesen Schleier zu tragen. Wir sind nicht in der Lage, wir sind nicht klug genug.“ Dies gipfelt in der Frage: „Also, was bin ich, ich, der hier jeden Tag vor ihnen steht.“ Diese Befragung muss im französischen Kontext gesehen werden. Im universalistisch-assimilatorischen Frankreich ist es ein Skandal, wenn sich „Fremdheit“ bei den Schülerinnen zeigt und das ‚rationale‘ Gespräch zu verweigern scheint. In Deutschland ist die ‚Fremdheit‘ bei Schülerinnen dagegen kein Aufsehen erregendes Ereignis. Erst wenn diese ‚Fremdheit‘ auf der Ebene der Lehrerinnen erscheint, erst wenn die betreffende Person deutsch spricht und nachdrücklich nach Integration verlangt, dann entsteht der Skandal. Insofern verläuft jenes von Bhabha beschriebene Mimikry anders als in Staaten mit kolonialer Vergangenheit, in denen die staatsbürgerliche Assimilation gewöhnlich mit dem Anspruch auf kulturelle Assimilation gekoppelt ist.12 Wenn man es idealtypisch vereinfachen möchte, dann taucht die ‚hybride‘ Unsichtbarkeit, von der Bhabha spricht, nicht in einem Prozess des „almost the same, but not quite“ auf, sondern in einem des „almost the other, but not quite“. Der deutsche hegemoniale Blick sieht gewissermaßen dann „nichts“, er wird dann nicht gestört, wenn sich ihm ‚Fremdheit‘ zeigt. Dass – um auf die oben beschriebenen ‚Gegenbilder‘ zurückzukommen – Musliminnen unter der Knute der ‚fremden‘ islamischen Religion Kopftücher tragen, wird ja durchaus erwartet: Ambivalenz und Diskussionen entstehen, wenn solche Kopftuchträgerinnnen plötzlich selbstbewusst Anspruch auf ‚Integration‘ erheben – etwa eine Anstellung im Staatsdienst wünschen. Allerdings sind die Abwehrreaktionen in unterschiedlichen Kontexten ähnlich. So zeigen die Selbstzweifel des französischen Lehrers, dass eine bestimmte Vorstellung vom Andern auf symbolischer Ebene zutiefst in die Wahrnehmung des Eigenen
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eingelassen ist. Denn wenn diese Fremden sich plötzlich nicht mehr so benehmen, wie man es von ihnen erwartet, wenn sie Verschiebungen in der Repräsentation anzetteln, dann bricht plötzlich das Selbstgefühl zusammen und die Frage „Was bin ich?“ taucht auf. Diese Frage verweist freilich auf ein ganzes Ensemble von Bedingungen – auf ein ökonomisches Machtgefälle, auf politische Kämpfe, auf kulturelle Ent- und Wiederaneignungen. „Was bin ich?“ ist zur Grundfrage der globalisierten Welt geworden, weil die Globalisierung die Frage der Identifizierung in vielfältiger Weise ins Zentrum rückt und gleichzeitig eine ‚Leere‘ erzeugt, welche oft genug unheimliche Einblicke in die Kulissenhaftigkeit von Eigenem und Fremdem zulässt. Es dürfte klar geworden sein, dass sich die Idee von Fremdheit als fixer Beziehung zwischen einer Äußerung und einem ‚tiefen‘ inneren Kern nicht halten lässt. Fremdheit ebenso wie Kultur können selbst nicht als Erklärung fungieren – sie sind als Phänomene selbst hochgradig erklärungsbedürftig. Dabei muss es darum gehen, jeweils konkrete, materielle Phänomene aus ihrem materiellen Kontext heraus zu entwickeln – denn ohne die Einbeziehung der sozialen und politischen Marginalisierung sind kulturelle Artikulationen von Fremdheit überhaupt nicht zu verstehen. Dass der Bezug auf Fremdheit strategisch ist, das verbindet plötzlich sich scheinbar unabhängig gegenüberstehende Gruppen. Kulturelle Differenz ist niemals da, wo wir sie zu sehen glauben – denn sie ist bereits in jenem Ort eingeschrieben, von aus wir sehen. Es geht um die Differenz innerhalb der sichtbaren Differenz, um die Brüche, um jene Überlappungen, wo die angeblich voneinander geschiedenen kulturellen Entitäten in einem verschwiegenen gemeinsamen Prozess produziert werden. Daher kann es im ‚Zusammenleben‘ in der Einwanderungsgesellschaft nicht nur um Toleranz gehen – das wäre eine Toleranz für Ungleichheit. Es geht um Veränderung. Der Ansatzpunkt ist dabei eben nicht Kultur, sondern der gesamte Prozess – der Kontext, in dem kulturelle Ausdrucksformen ihre Bedeutung entfalten.
Anmerkungen 1 2 3 4 5 6 7
8 9
Vgl. „Arbeitsgrundlage für die Zuwanderungs-Kommission der CDU Deutschlands“; Berlin, den 06.12.00. Wolfgang Joop, Ich habe einen Traum. In: „Die Zeit – Leben“, Nr. 2, 2000: 14. Spiegel special, Nr.1/1998. Vgl. Fanon 1969: 19ff. „Eine Pligerin namens Yasmeen“, in GQ, Nr.2, 1998: 130ff. Alexander Smoltecyk: erregend anders, in: Der Spiegel 1999 (36): 97. Ich beziehe mich hier auf das Kopftuch, dass von jungen, meist Gebildeten Musliminnen in den letzten Jahren verstärkt getragen wird. Zwischen Kopftuch und Kopftuch gibt es Unterschiede und ich möchte keineswegs verleugnen, dass in anderen Fällen auch manifester Zwang hinter dem Tagen des Schleiers stecken kann. Vgl. etwa Bhabha 1994: 85ff. Im Originaltext ist dies ein Wortspiel mit „I“ und „Eye“.
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10 Vgl. Bhabha 1994: 114. 11 Auf die Probleme in Bhabhas Theoriebildung hat kürzlich Monika Fludernik ausführlich hingewiesen (Fludernik 1998). 12 Sicher gibt es einen vergleichbaren Fall auch in Deutschland: Im Falle des willkürlicher „Gnadenaktes“ einer Ermessenseinbürgerung, wie er bis 1990 ausschließlich möglich war, wurde eine geradezu extreme Anpassung an die „deutsche Kultur“ erwartet. Allerdings war die Anzahl der Einbürgerungen eben sehr gering.
Literatur Beck-Gernsheim, E. (1998): Schwarze Juden und griechische Deutsche – Ethnische Zuordnung im Zeitalter der Globalisierung. In: Beck, U. (Hrsg.): Perspektiven der Weltgesellschaft. Frankfurt a.M. Bhabha, H. (1994): The Location of Culture. London/New York. Bhabha, H. (1997a): Die Frage der Identität. In: Bronfen, E./Marius, B./Steffen, T. (Hrsg.): Hybride Kulturen. Tübingen, 97-122. Bhabha, H. (1997b): Globale Ängste. In: Weibel, P./Zizek, S. (Hrsg.): Inklusion: Exklusion – Probleme des Postkolonialismus und der globalen Migration. Wien, 19-44. Böckelmann, F. (1998): Die Gelben, die Schwarzen, die Weißen. Frankfurt a.M. Bronfen, E./Marius, B. (1997): Hybride Kulturen. Einleitung zur angloamerikanischen Multikulturalismusdebatte. In: Bronfen, E./Marius, B./Steffen, T. (Hrsg.) (1997): Hybride Kulturen. Tübingen, 1-30. Cohn Bendit, D./Schmid, T. (1992): Heimat Babylon. Hamburg. Fanon, F. (1969): Aspekte der algerischen Revolution. Frankfurt a.M. Fanon, F. (1985): Schwarze Haut, weiße Masken. Frankfurt a.M. Fludernik, M. (1998): The Constitution of Hybridity: Postcolonial Interventions In: Fludernik, M. (Hrsg.): Hybridity and Postcolonialism – Twentieth Century Indian Literature. Tübingen, 19-54. Hall, S. (1994): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2. Hamburg. Karakasoglu-Aydin, Y. (1998): „Kopttuch-Sudentinnen“ türkischer Herkunft an deutschen Universitäten. Impliziter Islamismus-Vorwurf und Diskriminierungserfahrungen. In: Bielefeldt, H./Heitmeyer, W. (Hrsg.): Politisierte Religion. Frankfurt a.M., 450-473. Lützeler, P. (1998): Nomadentum und Arbeitslosigkeit – Identität in der Postmoderne. In: Bohrer, K.-H./Scheel, K. (Hrsg.): Postmoderne – Eine Bilanz, Berlin (Sonderheft der Zeitschrift Merkur), 908-918. Said, E. (1995): Orientalism. London. Schütze, J. (2000): Vom Fremden. Wien. Zizek, S. (1998): Plädoyer für die Intoleranz. Wien.
Zwischen den Kulturen: Diskursanalytische Grenzgänge Siegfried Jäger
1 Positionen1 Die Annahme, dass die Begegnung und Berührung unterschiedlicher Kulturen zwangsläufig zu Konflikten führe, ist außerordentlich verbreitet, nicht nur bei Rechtsextremisten, sondern in allen Schichten der Bevölkerung,2 aber auch bei vielen Wissenschaftlern.3 Die Idee der multikulturellen Gesellschaft ist daher oft von der Vorstellung begleitet, sie sei notwendig problematisch, konfliktreich und schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Solche Vorstellungen unterstellen das Gegebensein von mehr oder minder natürlichen Monokulturalitäten, die es aber – zumindest auf größeren Territorien – historisch niemals gegeben hat. Im Gegenteil: Historisch gesehen, gehörte es zur Lebensweise der Menschen, abwechselnd zu wandern und sesshaft zu sein, wie David Theo Goldberg unterstreicht (Goldberg 1994: 229). Kurzum lässt sich sagen: Seitdem es Menschen gibt, wandern sie. Andererseits ist die Position verbreitet, dass Konflikte bei kulturellen Überschneidungen und Berührungen völlig unnötig und vermeidbar sind, wenn eine vernünftige Einwanderungspolitik betrieben würde, ein einigermaßen liberales Einwanderungsgesetz vorhanden wäre und rechtliche und politische Gleichstellungen von Menschen unterschiedlicher Kultur selbstverständlich gewährleistet würden. In der ausufernden wissenschaftlichen Literatur zum Problemzusammenhang gibt es nun eine Vielfalt von Positionen aus einer Vielfalt wissenschaftlicher Disziplinen. Der US-Amerikaner McLaren (1994: 46ff.) etwa referiert und kritisiert verschiedene Positionen zum Thema Multikulturalität aus politologischer Sicht und plädiert für einen „kritischen Multikulturalismus“. Er unterscheidet einen konservativen bzw. korporativen von einem liberalen, einem links-liberalen und einem kritischen oder widerständigen Multikulturalismus. Konservative Multikulturalisten leisten nach McLaren nur Lippenbekenntnisse, wenn sie von der kognitiven Gleichheit aller Menschen sprechen; sie verbinden mit der Sicht von Minderheiten kulturell zurückgebliebene Hintergründe und attestieren ihnen einen Mangel an familienorientierten Werten. Für sie ist Weißheit eine Form der Ethnizität und eine unsichtbare Norm, und sie werden durch rassistische, sexistische, klassistische und homophobe Unterstellungen geleitet.
328
Siegfried Jäger
Liberale Multikulturalisten führen die Ungleichheit fast auschließlich auf Erziehungsdefizite zurück. Sie fordern, dass alle Menschen auf dem Markt gleichberechtigt konkurrieren können, und erhoffen sich davon einen allmählichen Abbau der Ungleichheiten. Zugleich legen sie aber Normen zu Grunde, die an anglo-amerikanischen kulturell-politischen Gemeinschaften orientiert sind. Links-liberale Multikulturalisten begrüßen die Vielfalt und finden Multikulturalität „exotisch“. Sie ignorieren Unterschiede als Resultate sozialer, historischer und kultureller Prozesse und Zuschreibungen und essenzialisieren sie. Der kritische Multikulturalist strebt nach McLaren soziale Veränderungen an. Er betont dabei insbesondere die Rolle der Sprache und der Repräsentation bei der Herausbildung von Identität und Bedeutungen. McLaren geht davon aus, dass Zeichen und Bezeichnungen im Wesentlichen instabil sind und sich ständig ändern. Sie können nur für kurze Fristen fixiert werden, was davon abhängig ist, wie sie innerhalb einzelner diskursiver und historischer Auseinandersetzungen artikuliert werden. Repräsentationen und Zuweisungen von Rasse, Klasse und Geschlecht versteht McLaren als Folgen größerer sozialer Kämpfe über Zeichen und Bedeutungen. Daher fordert er die Transformation sozialer, kultureller und institutioneller Verhältnisse, durch die die Bedeutungen konstituiert und generiert werden, und zwar durch eine radikale Politik. Zu konstatierende Unterschiede seien immer Resultate von Geschichte, Kultur, Macht und Ideologie. Nach McLaren geschehen sie bzw. spielen sie sich ab zwischen den und innerhalb der sozialen Gruppen und können nur unter Berücksichtigung der Besonderheiten ihres Entstehens verstanden werden und bekämpft werden. Hier liegt eine typische ideologiekritische Position vor, die letztendlich davon ausgeht, dass das gesellschaftliche Sein, zu dem auch die sozialen Kämpfe gehören, das Bewusstsein bestimme, und eine Änderung der Ideologien nur auf Grund von Änderungen der gesellschaftlichen Verhältnisse möglich sei. Ideologie ist danach nur die verzerrte Darstellung von Wahrheit, womit impliziert wird, dass es eine solche Wahrheit gäbe, der durch entsprechende Kämpfe zum Sieg verholfen werden könnte. Im Unterschied dazu möchte ich betonen, dass sich erst in bestimmten diskursiven Konstellationen durchsetzt, was jeweils als wahr gilt. Mit dieser knappen Darstellung solcher Positionen sind auch nicht annähernd alle Varianten des Verständnisses von Multikulturalität vorgestellt worden; es ist mir allerdings bisher kein Versuch begenet, Multikulturalität aus diskursanalytischer Perspektive heraus zu diskutieren.4 Deshalb will ich im Folgenden den Versuch machen, auf dem Hintergrund diskursanalytischer Untersuchungen und diskurs- bzw. ideologietheoretischer Überlegungen dem Problem nachzuspüren, ob die Wanderungen der Menschen, die immer zu Begegnungen unterschiedlicher Gruppen führen und die die unterschiedlichsten Ursachen haben, auch immer zwangsläufig zu Konflikten führen. Doch des Weiteren möchte ich der Frage nachgehen, wie sich solche Konflikte, sofern sie sich ergeben, vermeiden oder doch abmildern lassen. Es geht also um die immer aktuelle Frage, ob und wie multikulturelle Gesellschaft entwickelt und gelebt werden kann.5
Zwischen den Kulturen: Diskursanalytische Grenzgänge
329
Da die Vorstellung von Multikultur auch immer mit Vorstellungen von nationaler und personaler Identität, Nation und ‚Rasse‘ verbunden ist, werden diese und ähnliche Begriffe genauer betrachtet werden müssen.
2 Diskurs, Macht, Rassismus 2.1
Diskurs
Im Anschluss an Foucault verstehe ich unter Diskurs den Fluss von Wissen durch die Zeit. (vgl. Foucault 1988)6 Das Wissen der Menschheit fließt durch viele Kanäle, die miteinander verbunden sein können, die einander kreuzen, ineinander übergehen und verschmelzen, ‚unterirdisch‘ weiterfließen und wieder auftauchen, aber auch versiegen können.7 Sie sind das Werk tätiger Menschen, die die Diskurse aufnehmen, weitertragen und vergegenständlichen.8
2.2
Diskurs und Macht
Insofern üben Diskurse Macht aus; sie bestimmen nicht nur Verläufe und Umfang anderer Diskurse, sondern sie stellen – insbesondere mittels der Massenmedien – Applikationsvorgaben für die Umsetzung in Handlungen und Wirklichkeitskonfigurationen bereit.9
2.3
Macht über die Diskurse
Zudem gibt es eine – ebenfalls auf diskursivem Wege erzeugte – Macht über die verschiedenen Diskurse. Der Diskurs über Einwanderung und Anwesenheit von Flüchtlingen in Deutschland und anderswo hat z.B. die Macht, diese Leute als normal oder abweichend hinzustellen, sie als ‚Rasse‘ zu konstruieren, sie negativ (oder auch positiv) zu bewerten. Jeder Einzelne, der sich in Einklang mit dem hegemonialen Diskurs äußert, unterwirft sich dieser Macht, befestigt den hegemonialen Diskurs, übt ihn sozusagen vor Ort aus und schadet damit den Betroffenen/Bewerteten/Ausgegrenzten und kann somit z.B. zur Eskalation und zum Unfrieden beitragen, wenn der hegemoniale Diskurs z.B. konfliktverschärfend agiert.10 Zugleich ist die Macht über die Diskurse äußerst unterschiedlich verteilt. Wer etwa Zugang zu den Medien hat, ist leichter in der Lage, diskursive Verläufe mit zu prägen und mit zu beeinflussen, als jemand, der seine Stimme jeweils nur im kleinen Kreise zur Geltung bringen kann.
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2.4
Siegfried Jäger
Diskurs und ‚Wirklichkeit‘
Neben und außerhalb der unmittelbar ‚diskursiven Sphäre‘ haben Ereignisse, Verhältnisse und Strukturen ihre Existenzbedingungen und realen Effekte; „aber nur innerhalb des Diskursiven, und vorbehaltlich seiner spezifischen Umstände, Grenzen und Modalitäten, haben sie Bedeutung oder können innerhalb eines Bedeutungsrahmens konstruiert werden“ (Hall 1994: 17). Zudem können die gleichen ‚realen Ereignisse‘ diskursiv außerordentlich verschieden verortet werden: als ‚diskursive Ereignisse‘, die gegenüber den ‚realen Ereignissen‘ in ganz verschiedener Weise ausgestaltet werden können. Es geht also nicht allein und nicht vor allem darum, was ‚wirklich‘ geschieht, sondern um die ‚jeweilige Bedeutung‘ des Geschehens, die Bedeutungen also, die den Geschehnissen diskursiv zugewiesen werden. ‚Bedeutung‘ heißt hier aber: die mehr oder minder verallgemeinerte Sicht eines Ereignisses, die etwa bei Christen und Muslimen sehr verschieden sein kann. Die realen Ereignisse und Effekte (auch oft ‚wirkliche‘ Wirklichkeit genannt) sind nämlich ihrerseits als Resultate diskursiver historischer Bedingungen zu sehen, die ‚neue‘ diskursive Eingriffe beeinflussen und prägen, dergestalt dass sie die ‚Auftreffbedingungen‘ dieser Diskurse darstellen. Zugleich sind sie selbst Bedeutungsträger als diskursive Geprägtheiten und können deshalb nicht abgelöst gesehen werden von den Diskursen. Stuart Hall spricht z.B. von „Ethnizität“ (1994: 15 ff., bes. 21) als Resultat unterschiedlicher diskursiver Verstricktheiten von Einzelpersonen oder ganzen sozialen Gruppen und entsprechend eben auch von Multi-Ethnizität (als Wirklichkeitsbefund). Sie resultiert aus der je unterschiedlichen historisch-kulturell-politischen Konstruiertheit der Subjekte und Gemeinschaften (und bedeutet nicht etwa die je gemeinsame Verwurzeltheit in einen nationalen oder gar biologischen Ursprung). Die Sicht von Wirklichkeit oder anders: Die Zuordnung von komplexen Bedeutungszusammenhängen zu Wirklichkeiten und Gegenstandszusammenhängen und, in Verbindung damit, die Art und Weise, wie Menschen ihre Wirklichkeit zu bewältigen versuchen, sind also höchst verschieden. Das gilt auch noch einmal innerhalb von Gruppen, die sich selbst als homogen betrachten, erst recht aber zwischen Gruppen, die sich als radikal verschieden interpretieren.
2.5
Diskurse ‚spiegeln‘ nicht
Zu betonen ist, dass Diskurse die Wirklichkeit nicht im Sinne wie auch immer gearteter Widerspiegelungstheorien einfach abbilden, sondern sie stellen eigene, von Menschen geschaffene Wirklichkeiten dar. Sie sind nicht Ausdruck oder Abbild von
Zwischen den Kulturen: Diskursanalytische Grenzgänge
331
Materialitäten, sondern selbst Materialitäten sui generis.11 Sie enthalten Bewusstseinsinhalte und sie transportieren und formen damit Bewusstsein. Diskurse sind soziale Wissensvorräte, die sich die Menschen erarbeitet haben und die von Menschen zu Menschen, von Generation zu Generation und im Austausch zwischen den Kulturen weitergegeben und auf Grund neuer Kämpfe untereinander und neuer Lern- und Arbeitsprozesse verändert werden und auf deren Basis Wirklichkeiten selbst verändert werden. Das heißt zugleich: An den Diskursen stricken alle mit, allerdings mit mehr oder minder großem Einfluss. Und das heißt auch: Die Subjekte werden durch die Diskurse konstituiert, insofern als ihr Wissen und Fühlen, ihr Selbstverständnis und ihre Vorstellung eigener Identität durch sie (mit-)bestimmt ist. Trotz einer Ungleichverteilung der Macht über die Diskurse kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Verlauf der Diskurse von Einzelnen oder einzelnen Gruppen gesteuert wird. Er kann diskurstaktisch beeinflusst werden, gewisse Regulationen in wohl begrenzten Bereichen sind möglich; doch das Resultat dieser Verläufe ist in keinem Falle (genau) vorherbestimmbar. Es entwickelt sich gleichsam hinter dem Rücken der Subjekte, worauf bereits vor Foucault Karl Marx, aber auch Norbert Elias hingewiesen haben.
2.6
Eigener und fremder Diskurs
In der Regel wird aber nun der eigene Diskurs für normal und natürlich gehalten, und alle anderen Arten der Interpretation und Gestaltung von Wirklichkeit werden (zumindest tendenziell) als Abweichung angesehen und deshalb oft abgelehnt. Differenzen werden also aus der jeweils eigenen Perspektive wahrgenommen,12 fremde Diskurse tendenziell als Normalitätsabweichungen. Sie stehen jedoch weitestgehend relativ zueinander. Aber: Die Verknüpfung von Diskurs und Macht trägt dazu bei, dass sich machtvolle Diskurse als normal oder auch als wahr durchsetzen können. Sie geben dann in ganzen Gesellschaften und Gruppen die Regeln dafür vor, was sagbar und was nicht sagbar ist oder anders: was als Wahrheit zu gelten habe. Dabei ist mit historisch zu tiefst verankerten Diskurssträngen zu rechnen, die wegen dieser historischen Verankertheit häufig als anthropologisch konstant interiorisiert werden.13 Damit soll nun nicht gesagt sein, dass Normen und Konventionen grundsätzlich etwas Negatives darstellen. Sie sind Routinen und Operationen, auf die die Menschen zur Bewältigung ihres Alltags angewiesen sind. Zu beachten ist jedoch, dass Verfestigungen und Routinen nicht selten inhuman pervertiert sein können, wie das m.E. für den Diskurs des Rassismus zu beobachten ist. Wichtig ist mir allein die Tatsache, dass solche Routinen und konventionalisierten Handlungen und Tätigkeiten lokal und global unterschiedlich ausgebildet sind und dass sie sich historisch ständig allmählich oder auch schneller verändern. Die Ursachen solcher Veränderungen können unterschiedlichster Art sein. Sie liegen alle
332
Siegfried Jäger
jedoch in der Tatsache begründet, dass Menschen in sozialen Kontexten miteinander und gegeneinander agieren und dies jeweils auf der Grundlage der diskursiven Vernetzungen tun, in die sie eingebunden sind.
3 Im Netz der Diskurse 3.1
Diskurspositionen im Netz der Diskurse
Die Welt ist, diskursanalytisch gesehen, von einem rhizomartigen dynamischen, sich ständig veränderndem diskursiven Netz überzogen, innerhalb dessen die Individuen jeweils verortet sind. Dieser Ort ist zugleich ihre jeweilige Sprecherposition, die man auch als ihre Diskursposition bezeichnen könnte. Dieses diskursive Netz ist keineswegs homogen. Es besteht aus einer Vielzahl von Netzen von Diskursen bzw. Diskurssträngen, die sich nicht bzw. nicht immer scharf voneinander abgrenzen lassen, die sich überlappen und überschneiden, sich berühren und auf Grund äußerer und innerer Einflüsse gespalten, verdrängt und verschmolzen haben. In ihren Hauptsträngen lassen sie sich jedoch meist leicht voneinander abgrenzen. Sie sind oft tief in den jeweiligen Vergangenheiten verwurzelt. Sie bestimmen die jeweiligen Gegenwarten mit und changieren zwischen Vergangenheit und Zukunft, insofern ihr Fluss durch die Zeit nicht einfach und beliebig abbricht, sondern eine gewisse Festigkeit haben kann. Um es etwas stärker zu konkretisieren: Grenzen zwischen „Kulturen“ können sprachlich, räumlich, ideologisch und/oder geografisch sein und dabei jeweils äußerst unterschiedlich verlaufen und in unterschiedlichen Gemengelagen auftreten.
3.2
Diskurs und Kultur
Analog diesen sich überlappenden und voneinander abgrenzbaren Diskursen ist ‚Kultur‘ verteilt; ja, dieses multiple Netz von Diskursen ist das Netz von ‚Kulturen/Kulturellem‘, wobei unter Kultur eben das vielfältige und differenzierte Gesamt der Prozesse und Produkte menschlicher ideell-praktischer Tätigkeit zu verstehen ist. Anders gesagt: Der Diskurs ist die Kultur oder, wie Jürgen Link und Ulla Link-Heer sagen: „kultur […] ist in ihrem wesen interdiskurs“ (1983: 7). Das heißt trivialer Weise auch: Kultur ist Multikultur. Der Kulturwissenschaftler Gerhard Neumann definiert Kultur als „eine geschichtete Hierarchie bedeutungsvoller Strukturen, in deren Rahmen Zucken, Zwinkern, Scheinzwinkern, Parodien und geprobte Parodien produziert, verstanden und interpretiert werden und ohne die es all dies faktisch nicht gäbe.14 Und er meint, daran anschließend: „Kultur ist nichts anderes als ein ‚Kon-Text‘; die Körper und
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333
die Sprachen liefern die Zeichen, die diesen Kontext durchströmen.“ Neumann beruft sich dabei auf Max Weber, der gesagt habe, „dass der Mensch ein Wesen ist, das in selbst gesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich (gemeint ist Max Weber, S.J.) Kultur als dieses Gewebe ansehe. Der Kulturbegriff, den ich (also Weber) vertrete, ist wesentlich ein semiotischer“ (Neumann 1995: 12, meine Hervorhebungen, S.J.). Eine diskursanalytische Sichtweise, die Diskurs als komplexen Fluss von Wissen durch die Zeit begreift, der durch menschliche Tätigkeit in Gang gehalten wird, kann daran durchaus anschließen; sie betont aber zugleich das Gewordensein von Kultur, ihre (relative) Festigkeit, mit anderen Worten: ihre Historizität, und zugleich ihre Veränderbarkeit. Für die diskursanalytische Sichtweise wichtig ist zudem, dass der Zusammenhalt von Diskursen bzw. Kulturen stark durch je spezifische Systeme kollektiver Symbolik gewährleistet wird.15
3.3
Auch Nationen sind diskursive Realitäten
Betrachtet man das heutige Verständnis von Nationen, die ja auch als kulturell homogen imaginiert werden, und die mit ihnen in Verbindung gebrachten ‚Nationalen Identitäten‘, so muss man diese als komplexe diskursive Realitäten ansehen, so inhomogen sie sich bei genauerer Betrachtung auch darstellen mögen und so sehr sie sich auch mit anderen überlappen und überschneiden können. Es handelt sich um diskursive Netze, die zwar mythisch aufgeladen sein können, Erzählungen, Ursprünge und Kontinuität besonders betonen, wobei Traditionen frei erfunden worden sein mögen, Gründungsmythen gestiftet sein mögen, wozu dann oft auch noch die Vorstellung der Wahrheit, Reinheit und Ursprünglichkeit gehören können.16 Der Begriff der Nation ist aber im Unterschied zu dem faktisch jeweils vorhandenen diskursiven Gewimmel, das i. R. selbst die kleinste soziale Gruppe darstellt, im Resultat gesehen und bei mancherlei Varianten, heute jeweils stark durch die Vorstellung bzw. das Konzept von Monokulturalitäät und Homogenität geprägt.
3.4
Fiktion und Realität von Monokulturalität
In dieser Form ist die Idee der Monokulturalität eine Findung des späten 19. Jahrhunderts (vgl. Goldberg 1994: 3), die in früheren Zeiten schlicht als absurd aufgefasst worden wäre. David Theo Goldberg (1994: 5) bezeichnet sie als „intellectual ideology and institutional practice“, die zugleich alles das, was von der eigenen angenommenen hohen Kultur abweicht, als Kultur leugnet. Demgegenüber müsse auch historisch „Heterogenität als die Norm“ betrachtet werden (ebd. 28).
334
Siegfried Jäger
Goldberg übersieht hier jedoch die Realität und Materialität der diskursiven Formationen und sitzt dem ideologiekritischen und abbildtheoretisch begründeten Missverständnis auf, dass die Wirklichkeit nur im Bewusstsein ideologisch verzerrt dargestellt werde. Die Folge ist, dass seine Lösungsvorschläge auch damit enden, falsches Bewusstsein zu bekämpfen und durch Richtiges zu ersetzen. Dies hätte bekannterweise zur Voraussetzung, dass man die Wahrheit kennt und nur zu verbreiten brauche. Alle anderen, davon abweichenden ‚Wahrheiten‘ wären dann, so gesehen, falsch. Demgegenüber muss betont werden, dass diskursiv produzierte unterschiedliche Kulturen und ‚Nationen‘ Realitäten sui generis sind. Konzepte von (allgemeingültigen) Wahrheiten an sie heranzutragen, stellt sich als absurd heraus. Das gilt auch noch einmal für die allgemeinen Menschenrechte, die keineswegs von so universeller Gültigkeit sind, wie oft angenommen wird.
4 Diskursive Kämpfe 4.1
Heterogenitäten
Die von uns Menschen erarbeiteten Diskurse bestimmen die menschlichen Lebensformen und Diskurs- bzw. Subjektpositionen auf allen diskursiven Ebenen (Politik, Medien, Alltag). Sie transportieren und formieren Werte, Normen, Religionen, Ideologien, Sprachen, Institutionen, Architektur, Körper etc. von und in höchst unterschiedlicher Art. Stoßen Diskurse aufeinander, führt dies zu Verschmelzungen, Nebeneinander, Verbindungen, Abtötungen, Versiegen, zu lokalen und globalen Konflikten bis hin zu Kämpfen und kriegerischen Auseinandersetzungen. Die Form und die Art und Weise, wie sich diese Begegnungen und Konfrontationen abspielen, hängt von einer Vielzahl von unterschiedlichen diskursiven Konstellationen und diskursiv erzeugten Wirklichkeitszuständen ab, die im einzelnen oft nicht oder nur schwer rekonstruierbar sind. Das ist genau die Situation, in der sich faktische multikulturelle Gesellschaften wie etwa die der BRD befinden. Gab es auch innerhalb aller früheren Gesellschaften kaum oder nur sehr oberflächlich Homogenität, so entstehen durch Wanderungsbewegungen neben Verschmelzungen und Modifikationen doch auch weitere Heterogenitäten. Die global zu beobachtenden Unterschiede waren immer schon auch innerhalb von als homogen imaginierten oder oberflächlich homogen erscheinenden Bereichen zu beobachten. Verändern sich die großen Diskurse (etwa Zusammenbruch der Sowjetunion, als diskursives Ereignis betrachtet), reagieren etablierte Diskurse verschiedener Art durchaus verschieden. Was etwa einerseits schwerpunktmäßig als Sieg des Kapitalismus gesehen wurde, kann andererseits als Ausgangspunkt eines neuen Feindbildes Islam akzentuiert werden.17
Zwischen den Kulturen: Diskursanalytische Grenzgänge
4.2
335
Globale und lokale Verwerfungen
Die Tatsache, dass es immer schon Heterogenitäten neben Homogenitäten gegeben hat, kann nicht zu der Hoffnung Anlass geben, dass sich die damit verbundenen Probleme von selbst lösen werden. Die zur Zeit zu beobachtenden weltweiten Verwerfungen, die Globalisierung von Wanderungsbewegungen, Säkularisierungen auf der einen Seite und Fundamentalisierung auf der anderen und umgekehrt, zunehmende Armut einerseits und Anhäufung von Reichtum in den großen Industrienationen, gesellschaftlich produzierte Unweltkatastrophen mit den entsprechenden Folgen für die betroffenen Bevölkerungen und daraus resultierender Wanderungsdruck, Kriege und nationale und internationale Konflikte etc. zeigen, dass größte Krisen ins Haus stehen, die eine globale De-Eskalationspolitik verlangen bzw., diskursanalytisch gesprochen, die alle Anstrengungen verlangen, de-eskalierende Diskursregulationen zu finden und anzuwenden.18 Für die hier angesprochene Situation des Nebeneinanders von Heterogenität und Homogenität, bei zur Zeit zu beobachtender Zunahme heterogener Strukturen, finden sich Beispiele auf der sozialen Mikroebene (Familie, Nachbarschaft) wie auf der Makroebene. So sind einerseits neue nationale Diskurse zu beobachten, die nationale Identitäten zu stiften versuchen und dabei zugleich heterogene oder als heterogen geltende Erscheinungen unterdrücken bzw. ausgrenzen; so ist zu sehen, dass die großen konkurrierenden Religionen, die meist nationenübergreifend agieren, aber auch innerhalb von Nationen, zu Gegensätzen führen; ferner aber ist zu sehen, dass große Religionen, wie etwa der Islam ihre traditionellen geografischen Grenzen auf breiter Front überschreiten: In England und in Frankreich ist der Islam mittlerweile zur zweitgrößten Religionsgemeinschaft geworden. Als ein Beispiel für die Gefährlichkeit solcher Entwicklungen bei unangemessener diskursiv-regulierender Bearbeitung möchte ich auf den eskalierenden Rassismus in Deutschland (und anderswo) verweisen, der sich als Folge neuerlicher Verstärkung eines deutsch-nationalen konservativ-fundamentalistischen Diskurses begreifen lässt und der möglicherweise zugleich zum Erstarken eines islamistischen Gegengewichts beiträgt. Weiter ist zu bedenken, dass im Vergleich zu früheren Zeiten global eine ungeheure Beschleunigung solcher Entwicklungen stattfindet, dass Verschiebungen und Veränderungen auf Grund der weltweiten Informationsvernetzungen heute blitzschnell wahrgenommen werden können etc.
336
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5 Der Diskurs „Der Westen und der Rest“ Man kann hier in mehrfacher Hinsicht argumentieren, dass der Diskurs „Der Westen und der Rest“ eine weithin prägende und handlungs- bzw. politikbestimmende Formation der Gegenwart ist. Dies wird u.a. an deren historischen Wurzeln und der Stellung Deutschlands in diesem Zusammenhang greifbar.
5.1
England und der Rest
Der englische Soziologe Stuart Hall beschreibt die Heraufkunft eines speziellen „Englischseins“ im Vergleich zum „Rest der Welt“ folgendermaßen: Nach dem Charakter der kulturellen Identität Englands fragend, stellt er fest, dass diese „als eine stark zentrierte, sich hochgradig abschließende und ausschließende Form einer kulturellen Identität definiert wurde“ und „von einem bestimmten historischen Zeitpunkt an […] Engländer die Erfahrung (machten), dass sie innerhalb der Diskurse ihrer eigenen, englischen Identität die Diskurse fast aller anderen bestimmen konnten“ (Hall 1994: 45). Diese englische Situation gehört ein gutes Stück weit der Vergangenheit an, lässt sich aber bei einigen Modifikationen ohne größere Schwierigkeiten auf die großen modernen Industrienationen als gegenwärtige Gesamtheit übertragen. Sie dominieren den Rest der Welt und geben vor, was weltweit als normal zu gelten habe.
5.2
Nationale Identitäten
Die nicht zu übersehenden Heterogenitäten innerhalb der eigenen Gesellschaften suchte man dadurch in den Griff zu bekommen, dass nationale Identitäten als diskursive Entwürfe produziert wurden, die alle Differenzen egalisieren sollten und alle Risse und Zerklüftungen, die faktisch gegeben sind, diskursiv zudecken bzw. ‚normalisieren‘ sollten (Klassen, Geschlechter, Rassen etc.), um die jeweiligen Nationen trotz aller Heterogenitäten als homogene Nationen imaginieren zu können (vgl. dazu Rex 1995). Damit kristallisierte sich das heute gängige Konzept von Nation überhaupt heraus. Für Konzepte multikultureller Gesellschaften bedeutet dies im Prinzip entweder Assimilation der Fremden oder deren Ausgrenzung. Diese Alternative ist angesichts der Tatsache, dass alle modernen Nationen kulturell hybrid (Hall 1994: 207) bzw. heterogen sind, darauf angelegt, dass Menschen ausgegrenzt und vertrieben oder gar verbrannt werden. Sie ist m.E. allerdings langfristig zum Scheitern verurteilt, weil sich die Menschen das nicht gefallen lassen müssen.19 Es stellt sich
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337
damit sogleich aber die Frage, ob die weitere Entwicklung als Katastrophenkurs gefahren werden wird oder ob es möglich ist, durch eine Vielzahl zu schließender notwendiger Kompromisse einen halbwegs menschlichen Entwicklungspfad entwerfen und begehen zu können.20
6 Die derzeitige Ausgangssituation in Deutschland Ich werde im Folgenden zunächst einen diskursanalytischen Blick auf die derzeitige Situation in Deutschland werfen, bevor ich des Weiteren zu generelleren und grundsätzlichen Einschätzungen der Situation kommen werde. Deutschland scheint mir ein exemplarischer Fall für die Problematik der Multikulturalität sein. Es lassen sich dabei einige Basis-Probleme erkennen, die für die Einschätzung der Grundproblematik von Multikulturalität von Bedeutung sind.
6.1
Deutsche Diskurs-Positionen
Die derzeit vorherrschende Vorstellung der meisten Deutschen von Deutschland ist tendenziell völkisch, also die einer Abstammungsgemeinschaft. Das ist zwar wenig demokratisch, und das war auch bis zur Berliner Wende 1989/90 nicht die dominante Position im Verständnis der (West-)Deutschen. Ein völkisches Staatsverständnis war zwar grundgesetzlich festgeschrieben, störte aber kaum, da man Identitäten als BRD-Deutscher oder Westeuropäer entwickelt hatte. Anders gesagt: Die eher dominante diskursive Position der meisten Deutschen war, westdeutscher Verfassungspatriot zu sein. Eine absolute Revision völkischer Vorstellungen hatte jedoch nicht stattgefunden, hielt sich aber in einer labilen Balance mit eher demokratischen Vorstellungen. Lutz Hoffmann meint: „Seit 1990 ist dieses raffinierte Zusammenspiel jedoch aus der Balance geraten. Da man es nicht für notwendig erachtete, durch einen konstituierenden Prozess auf ein neues Selbstverständnis des Volkes im gesamtdeutschen Staat hinzuarbeiten, musste zwangsläufig auf die alten Modelle zurückgegriffen werden.“ (Hoffmann 1994: 11)
Der völkische Diskurs, der zumeist eher unter der Oberfläche auch nach der Naziherrschaft weitergeflossen war, wurde – verstärkt nach der Bonner Wende von 1982 – wieder belebt, und er ist auch nach dem Regierungswechsel 1998 nicht versiegt. Mittel dazu waren die Anheizung des rassistischen und des militaristischen Diskurses durch Politik und Medien, die Anheizung des Diskurses über Kriminalität, über Ruhe und Ordnung, über die Stellung der Frauen, deren Emanzipationsbestrebungen rückgängig gemacht werden sollten und die Verstärkung anderer Diskurse, die zum Gesamtbild des völkischen Nationalismus gehören.21
338
6.2
Siegfried Jäger
Der Blick von außen und von Einwanderern
Diese deutsche Entwicklung wird von außen teilweise unterstützt. Für die Zurückhaltung etwa, die die Deutschen mit Rücksicht auf die Nazizeit gegenüber Out-ofArea-Einsätzen übten, wurde von verschiedenen ausländischen Seiten wenig Verständnis entwickelt.22 Durch die rassistisch motivierten Brandanschläge und Überfälle auf Einwanderer und Flüchtlinge der vergangenen Zeit, die seit 1994 etwas abgeebbt sind, die aber nicht wirklich aufgehört haben und durchaus ihre harte Fortsetzung im Schüren eines weiteren rassistischen Diskurses fanden, sind die Millionen von Einwanderern in die Situation geraten, sich schärfer gegen die Deutschen abgrenzen zu müssen. Längst modifizierte oder ganz abgelegte Traditionen gewinnen wieder mehr an Gewicht. Dazu kommen andere Faktoren, wie etwa die Auswirkungen der türkischen Kurdistanpolitik auf die in Deutschland ansässigen Kurden, die sich zunehmend durch Aktivitäten, die sich gegen Menschen türkischer Herkunft und, vermittelt darüber, gegen die Türkei richten, angreifbar und für rassistische Politik instrumentalisierbar machen. Solche Faktoren werden alle durch den weiter herrschenden rassistischen Diskurs entsprechend rassistisch aufgeladen.23
7 Die derzeitige globale Situation, diskursanalytisch gesehen 7.1
Gegenläufigkeiten
Betrachtet man den Globus insgesamt, so ist eine Zunahme von Wanderungsbewegungen einerseits zu verzeichnen, zugleich aber auch eine internationale ‚Verkleinerung‘ des Globus durch die Verdichtung und Steigerung internationaler wirtschaftlicher Zusammenarbeit bzw. die Ausdehnung der kapitalistischen Märkte, neue Kommunikationstechniken (Datentransfer, Satellitenfernsehen!), zunehmende internationale Interdependenz (wie internationale Abkommen, Sozialgipfel, Klimagipfel, Club of Rome, internationale wissenschaftliche Konferenzen, gemeinsamer Konsum des Gleichen, Moden, Stile etc.), und auch wachsende ökologische Interdependenzen (vgl. Hall 1994: 49). Dabei entstehen neue (Zusammensetzungen von) Ethnizitäten (ebd. 15 ff.) und – tendenziell – eine globale Massenkultur (ebd. 53). Die Globalität (des Kapitals) und die Idee der Nation reiben sich (immer schon seit es beide gibt). In der Moderne sind gegenläufige Trends zu konstatieren: Globalisierung und Nationalisierung. Die Globalisierung aber beschleunigt sich, verdichtet sich in Zeit und Raum. Das kann zu nationalen Erosionen führen (gegen die Wider-
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339
stand aufgemacht wird). Dabei kann es durchaus passieren, dass die nationalen Identitäten geschwächt werden und an ihre Stelle zunehmend Hybridisierungen (= neue Identitäten der Hybridität) treten (vgl. Hall 1994: 209).
7.2
Gefahren
Mit dieser Globalisierung sind jedoch zugleich erhebliche Gefahren verbunden, z.B. durch aggressive (militaristische und rassistische) Abwehr tatsächlicher oder scheinbarer nationaler Erosionen. ‚Standorte‘ müssen eingenommen und verteidigt werden. Trotzdem scheint der Trend in Richtung Globalisierung nicht aufzuhalten zu sein. Das ist insbesondere das ‚Verdienst‘ des Kapitals, das international agiert und durch weltweit verkaufte Produkte und Lebensformen konformiert.24
7.3
Die Erosion des Nationalen
Die Frage ist daher zu beantworten, ob sich die Idee der einheitlichen und homogenen Nation halten kann oder gar als eine nur vorübergehende Erscheinung betrachtet werden muss. Dies ist davon abhängig bzw. gleichbedeutend mit der Beantwortung der Frage, ob es den bzw. allen Nationalstaaten weiterhin gelingt, sich als einheitlich und homogen zu präsentieren. Es gibt jedenfalls eine Reihe von Anzeichen für die Erosion des Nationalen. Hall nennt vier: •
Die Faszination für die Differenz, die Vermarktbarkeit der Ethnizität und des Andersseins, ein neues Interesse am Lokalen, flexible Spezialisierungen, Nischen-Marketing usw.
•
Das Globale ersetze jedoch das Lokale nicht. Eher sei an eine neue Artikulation zwischen dem Globalen und dem Lokalen zu denken. Neue globale und lokale Identifikationen entstehen.
•
Die Globalisierung wirke sich regional und sozial sehr verschieden aus.
•
Die Globalisierung betreffe besonders den Westen. Aber auch die Peripherie sei offen für westliche Einflüsse. Hier gehe der Prozess der Globalisierung aber langsamer vor sich. Wanderungsbewegungen seien Ausdruck dieser Entwicklung (vgl. Hall 1994: 213 f.).
340
7.4
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Konfliktverschärfende Politik
Als Reaktionen gegen die (Politik der) Globalisierung und zur Erhaltung nationalkultureller Identitäten ist eine konfliktverschärfende Politik und die entsprechende Fütterung der Diskurse in Deutschland und auch in anderen Nationalstaaten zu beobachten; ferner, die Betonung der Andersartigkeit etc. zum Zwecke der Ab- und Ausgrenzung und zur Stärkung lokaler Identität, insgesamt Rassismus und Rechtsdrift. Der Widerstand gegen Erosionen scheint zur Zeit besonders durch Normalisierungsdiskurse und Regulationstechniken gefahren zu werden (vgl. Link 1992a, 1999). Doch auch hier sind Grenzen und „siamesische Bifurkationen“ (Link 1995) zu beobachten: Repressiver Protonormalismus und flexibel-liberaler Normalismus spielen gegeneinander; es gibt immer wieder Reaktionen der beiden Diskurstypen aufeinander. Schlägt die Sache zu weit in Richtung Liberalität um, wird protonormalistisch darauf reagiert. Die Frage ist natürlich, ob und wie lange diese Bewegung funktioniert. Konservativer Multikulturalismus fährt genau diesen Doppelkurs: Assimilation (= Normalisierung) und Abschottung/Abschiebung (= Protonormalisierung/Repression). Damit operiert er konfliktverschärfend.
7.5
Re-Identifikationen
Zugleich und als Reaktion darauf entsteht eine Stärkung von Re-identifikationen mit der Herkunftskultur bei Minderheiten und Bemühungen zur Konstruktion stärkerer Gegenidentitäten. Im Alltagsdiskurs schlägt sich dies darin nieder, dass Ängste vor Überfremdung (‚Wir können doch nicht alle aufnehmen‘) und ‚Bevölkerungsexplosion‘, neue Rassismen, die sich an der ‚anderen Kultur‘ festmachen, Unverträglichkeiten und Krieg etc. als in der Natur der Sache liegend angesehen werden.
7.6
Widersprüche
Die Frage, ob ein allgemeiner gobaler Entwicklungstrend zu beobachten ist, lässt sich also nicht einfach beantworten. Stuart Hall bezieht sich auf die Widersprüche der kapitalistischen Entwicklung, die dazu führen, dass Dezentralisierung und Dezentrierung stattfindet; das Kapital ist international und global; es lernt mit den Differenzen umzugehen (segmentierte Märkte, neue Arbeitsorganisation, Lean Produktion, Nachhaltigkeit (sustainable development)).
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8 Diskursverschränkungen Was heißt das diskursanalytisch? Der ökonomische Diskurs ist eben nicht alleine da, sondern bezieht sich zwangsläufig auf andere Diskursstränge und muss diese berücksichtigen, wenn er weiter existieren will. Das führt auch zu Widersprüchlichkeiten. Auch liegen alte und neue Vorstellungen (Diskurse) von Identität im Kampf miteinander: Wir haben in der Postmoderne einen globalen Modernisierungsprozess vorliegen und zugleich alte konservative Vorstellungen von Identität. Andere Kulturen und eine andere Wissenschaft machen sich gegenüber den westlichen bemerkbar. Zugleich sind neue Formen von Herrschaft in der westlichen Welt dabei, sich breiter durchzusetzen: Der Siegeszug der Biopolitik (Foucault) scheint kaum aufhaltbar.
9 Eine etwas kühne, erste Schlussfolgerung Es besteht jedoch kein Grund, das entstehende multikulturelle Miteinander ausschließlich unter fatalistischen Aspekten zu betrachten. Das klingt vielleicht etwas kühn oder angesichts der anhaltenden Überfälle auf Einwanderer sogar zynisch. Zugleich sollte jedoch nicht vergessen werden, dass diese Eskalation rassistisch motivierter Anschläge auf Ausländer durch den hegemonialen Diskurs geschürt worden und keineswegs von allein entstanden ist. Es geht hier also auch um die Frage, ob der rassistisch unterfütterte völkisch aufgeladene Ausländerdiskurs zurückgedrängt werden kann, wie an alltäglichen Diskursen angesetzt werden kann, ob es gelingt, auf den hegemonialen Diskurs der Politiker und der Medien Einfluss zu nehmen etc.
10 Grenzgänge Der Bochumer Philosoph Bernhard Waldenfels sieht eine Lösung, die in der Nähe meiner eigenen Vorstellungen liegt. Es gebe nicht das Rezept der Überwindung von Fremdheit; er meint: „Was sich anbietet, ist ein Grenzverhalten, das sich auf Fremdes einlässt, ohne es dem eigenen gleichzumachen oder es einem Allgemeinen zu unterwerfen […]“ (Waldenfels 1990: 39). Es „ist ein Agieren und Denken auf der Grenze“ (ebd. 64). Das Eigene und das Fremde stehen einander danach nicht monolithisch und exakt abgegrenzt gegenüber. Die Begegnung ist immer Prozess und Erneuerung:
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„Innovation […] bewegt sich zwischen den entstehenden und bestehenden Ordnungen. Der Übergang selber gehört weder der alten noch der neuen Ordnung an, weil jene nicht mehr, diese noch nicht gilt, und eine übergreifende Ordnung, die den Übergang regeln würde, ausgeschlossen ist, wenn Ordnungen alternativ auftreten“ (ebd. 99f.).
In diesem Feld verlaufen ‚Grenzgänge‘, die ein ‚Ethos des Grenzverhaltens‘ erfordern, das die Andersheit des Anderen respektiert. Waldenfels möchte so dem Fremdheitsverhältnis den konfrontativen Charakter nehmen. Der ‚Grundsatz‘ des Respekts gegenüber der Würde des Anderen ist zugleich einer, der trotzdem eine bewusste Entscheidung darstellt, die man im Prinzip auch ablehnen kann. Er ist nicht universalistisch i.S. von transzendental oder angeboren, sondern eine Frage der bewussten Entscheidung und Anerkennung des Grundsatzes von der Würde des Menschen. Dieser kann dann Maßstab oder letzter Fluchtpunkt für Bewertungen werden. Das heißt auch: Dieser Grundsatz muss selbst durchgesetzt werden oder anders; im Ringen miteinander muss dieser Grundsatz schrittweise im Diskurs zur Geltung gebracht werden. Damit liegt meine eigene Position nicht in der Nähe des politischen Relativismus (Gutmann 1995: 279-283). Der Unterschied besteht darin, dass der politische Relativismus auf Verfahren setzt, mit denen Gerechtigkeit erzielt werden kann, er hat aber keine Kriterien für die Bewertung solcher Verfahren. Daher gehen meine Überlegungen auch stärker in Richtung eines konkreten Universalismus als ‚letzte Instanz‘ (Akzeptanz des konkret Anderen, Menschenwürde, keine Gewalt), die abstrakt an alle Verfahren, die an alle Normen, Werte, Handlungen, Distributionen etc. angelegt werden kann. Damit behaupte ich nicht, eine allgemeingültige Wahrheit zu vertreten: Ich nehme eine bestimmte Position ein, die ich in den diskursiven Auseinandersetzungen verteidige. Hinzu kommt die realistische Einsicht, dass die anzutreffenden Normen, Werte, Sitten und Gebräuche und sonstige „Wahrheiten“ stark verfestigt sind, dass sie Routinen darstellen, die schwer aufzubrechen sind und ein zähes Verhandeln verlangen. Aber universalistisch ist meine Position (s.o.) nur in dem Sinne, dass die Akzeptanz des ‚Grundsatzes‘ die Voraussetzung dazu werden kann, dass die Menschen sich nicht die Köpfe einschlagen, morden, betrügen etc. Der Grundsatz ist auch kein Glaubensbekenntnis oder gar ein Gebot, auf das man die Leute verpflichten kann. Auch kann es zu Konflikten kommen, die existenzieller Natur sind: Wann hat der Grundsatz für mich keine Gültigkeit mehr? Etwa wenn es mir selbst an den Kragen geht – dann greife auch ich zur Gewalt. Auch schon, wenn ich nur vage befürchte, dass dies geschehen könnte. Oder wenn meine Freiheit bedroht ist. Insofern kann der Kampf zur Durchsetzung dieses Grundsatzes auch keiner sein, der nur auf ihn selbst gerichtet ist. Er muss auf eine diskursive Konstellation zielen, die die Durchsetzung dieses Grundsatzes erst möglich macht. Die (allmähliche) Durchsetzung dieses ethischen Grundsatzes ist eine Frage der Entwicklung der Flussrichtung ethischer Diskurse überhaupt, die aber verstanden werden müssen als Elemente übergreifender und diskursiv vor sich hin wimmelnder Diskurse mit völlig anderen Schwerpunkten und Inhalten, etwa ökonomischen, ökologischen etc.
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11 Die Veränderbarkeit der Diskurse Das wirft prinzipiell die Frage auf, ob und wie sich Diskurse verändern lassen. Die Inaugurierung von Kampagnen, des Austauschs von Argumenten etc., das weist alles in die richtige Richtung. Was jeweils dabei herauskommt, ist jedoch nicht vorhersagbar, zumindest nicht genau. Für tentative Einschätzungen sind die bisherigen Verläufe von Diskursen und ihre derzeitige Stärke, Verteilung, Stützungen durch andere Diskurse etc. jedoch durchaus heranzuziehen. Richtig ist auch, Vorschläge zu Beratung, Verfahren, Gesetzen (Anti-Diskriminierungsgesetze) etc. zu sondieren. Sie gehören zum Weitertreiben des Diskurses, ersetzen ihn aber nicht, weil sie ja Bestandteil des Diskurses sind. Wenn um ihre Durchsetzung gerungen wird, beteiligt man sich an Diskursveränderungsversuchen. Das leitet über zu einigen abschließenden Bemerkungen, bei denen es um die Frage von Handlungsmöglichkeiten in diesem umstrittenen Zusammenhang geht.
12 Die Ohnmacht der Fakten und die Zerbrechlichkeit der herrschenden Diskurse So weit habe ich die Welt als ein waberndes Netz von verflochtenen und kaum zu überschauenden diskursiven und realen Berührungen, Kämpfen und Konflikten in der Grobskizze nachzuzeichnen versucht. Diese betreffen mit Sicherheit nicht allein das Problem der Multikulturalität. Daneben und damit verbunden gibt es andere globale Probleme, wie etwa solche der Ökologie, der Militarisierung, der ökonomischen Ausbeutung etc. Alle diese Probleme bedürfen eigener Analysen und der Entwicklung entsprechender eigener Lösungsstrategien; diese Probleme tragen aber alle dazu bei, dass es eine weltweite neue Völkerwanderung gibt, deren Formen und Folgen hier im Mittelpunkt der Überlegung stehen.
12.1 Migration und Flucht Migration und Flucht sind Ausdruck der global mobilisierten und strukturell ungleichen Welt. Denn die heutige ‚Völkerwanderung‘ stellt sich dar als ein Konglomerat von Arbeitsmigration, Kriegs- und Katastrophenmigration und politisch motivierten oder erzwungenen Wanderungen. Diese können heute nicht mehr eindeutig getrennt werden.
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12.2 Lösungen sind möglich Aber wie sollen Lösungen gefunden und vorangetrieben werden, angesichts der Tatsache, dass nicht nur in Deutschland, sondern global ein eher konfliktverschärfender als konfliktentschärfender hegemonialer Diskurs gefahren wird? Die folgenden Ideen mögen manchem utopisch erscheinen, sie sind als solche zur Zeit sicherlich in nur in ganz kleinen Schritten durchsetzbar. Notwendig ist der Abbau derjenigen zur Zeit dominierenden Diskurse, die die mit Einwanderung und Flucht verbundenen Konflikte verschärfen. Demgegenüber ist die Entwicklung einer konfliktentschärfenden Formierung der Diskurse in Medien, Politik, Alltag dringend erforderlich. Doch wie ist die Veränderung oder gar der Abbau hegemonialer Diskurse angesichts der Verknüpfung von Macht und Diskurs als Macht über die Diskurse konkret vorstellbar? Reicht es, mit Foucault auf die Macht, die zwar von allen Seiten, aber auch von unten kommt, zu verweisen und die Hoffnung auf lokale Auseinandersetzungen und Berührungen zu setzen, die den Globalisierungsprozess letztendlich doch in eine ‚richtige Richtung‘, etwa die einer Entwicklung humaner Gesellschaft lenken (vgl. Foucault 1983)? Ferner: Reicht es aus, auf ‚Prozesse struktureller Kopplung‘ und ‚diskursiver Transformation‘ zu setzen, durch die angeblich „fortgeschrittene Industriegesellschaften längst die Fähigkeit entwickelt haben, mit Fremdheit umzugehen (vgl. Bukow/Llaryora 1995: 19)? Ist es richtig, dass die anhaltenden gewaltförmigen Auseinandersetzungen ihre Ursache allein in dem Versuch einer Refeudalisierung der Gesellschaft haben, in einem „nachholenden Nationalismus […] aus einem spezifischen Machtinteresse heraus“, wodurch „zunächst private Einstellungen mobilisiert, […] Fremdheit neu zugerechnet und dies alles zum Schluss nationalistisch reorganisiert“ wird? (ebd.) Hat demgegenüber „die städtische Bevölkerung längst die Fähigkeit zum interkulturellen Miteinander“ entwickelt und ist diese Fähigkeit nur „zunehmend durch diskriminierende, ethnisierende und rassistische Intervention beeinträchtigt“ worden, so dass „nicht die Fremdheit das Problem ist, sondern die Beschwörung des Fremden und deren Mobilisierung für Ausgrenzung und Abwertung“? (ebd.) Sicher ist damit der zur Zeit hegemoniale Diskurs zu Recht angesprochen; aber ihn auf diese Weise letztlich allein für die Eskalation rassistisch motivierter Gewalt verantwortlich zu machen, reicht als Ursachenerklärung für den Widerstand gegen multikulturelle Gesellschaften wohl kaum hin. Rassistische Diskurselemente sind auf allen diskursiven Ebenen, in Politik, Medien, Alltag, in der Wissenschaft und im Bereich der Erziehung zu beobachten. Sie sind historisch fest verankert, sie haben Kontinuität und wirken auch in die Zukunft weiter. Es wäre daher eher gefährlich, in der Absicht, Rassismus zurück zu drängen, allein auf die hegemonialen Diskurse zu blicken einerseits oder gar auf sich selbst reinigende Systeme zu setzen, die quasi von selbst ihre Disfunktionalitäten überwinden.25
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Diskurse (im Sinne Foucaults) sind keine über-menschlichen oder gar metaphysischen Dinge/Strukturen/autopoietische Systeme, sondern sie werden von tätigen Menschen gemacht und tradiert. Diese können die Diskurse im Prinzip ändern, sie können sich der Macht über die Diskurse unterwerfen, sich ihr aber auch verweigern und sich widersetzen. Das stelle ich mir allerdings auch nicht als massenhaftes Ereignis vor, sondern als Resultante einer Vielzahl von lokalen diskursiven Scharmützeln und Feiern oder unter bestimmten Bedingungen globalerer diskursiver Einflussnahme, wie sie etwa die Veröffentlichungen des „Club of Rome“ darstellen, an denen der hegemoniale Diskurs nicht wirklich vorbeikommt. Es wäre zu fragen, was man tun kann, diese Scharmützel zu entfachen und unter Kontrolle zu halten und zu ‚Feier‘ und Miteinander zu ermutigen bzw. wo und wie ansetzend auch der hegemoniale Diskurs durch globalere Aktivitäten zu Zugeständnissen zu veranlassen ist.
12.3 Kompromisse und Berührungen Diskurse sind zwar substanziell, stark und oft tief verwurzelt in den Sozietäten. Änderungen der Diskurse verlangen einen langen und zähen Kampf und manche Kompromisse. Und: Änderungen und Verdrängungen dominanter Diskurse sind zwar relativ kurzfristig möglich, aber wohl kaum wirklich tief greifend. Diskursive Gegenmaßnahmen sind nicht bzw. können nicht in jedem Falle spektakulär und umfassend sein. Daher ist jede diskursiv erreichte kleine Verbesserung (doppelte Staatsbürgerschaft, Kommunales Wahlrecht, Organisation von interkulturellen Aktivitäten etc.) äußerst sinnvoll, ebenso jede friedliche Berührung und Überkreuzung, jedes friedliche Miteinander und Nebeneinander von Diskursen. In diesem Zusammenhang sei auch auf die Erfahrungen multikultureller Ehen und Freundschaften verwiesen, auch wenn diese sich keineswegs immer problemlos gestalten. 26
12.4 Prozessierende Identitäten Wichtig für die Stärkung eines demokratischen multikulturellen Diskurses ist einmal die Unterstützung des Konzeptes von Differenz gegen ihre diskursive Unterdrückung und Homogenisierung (Assimilation), die ja das Ziel verfolgt, diese Gesellschaft als monokulturell imaginieren zu können. Dabei versteht es sich von selbst, dass dies nicht ethnopluralistisch gedeutet werden darf, sondern als transkulturelles und transnationales Konzept verstanden werden soll. Das heißt nicht Relativierung und falsche Toleranz, sondern nur und auch, dass „Hybridisierung“ (Hall 1994: 23), die gesellschaftlich allgemein und für die einzelnen Personen entsteht, akzeptiert und als Tatsache respektiert wird. Identität ist nie etwas Fertiges, sie prozessiert. Das war immer schon so.
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12.5 Die Erosion hegemonialer Diskurse Andererseits ist zum Beispiel Gegenwehr gegen Ausgrenzungen erforderlich, die ja das gleiche Ziel verfolgen wie die Assimilierung der Fremden: Als homogen und mit sich identisch kann eine Gesellschaft nur imaginiert werden, wenn diejenigen, die sich den deutschen Normen und Werten nicht anpassen, ausgegrenzt und abgeschoben werden. Doch es ist nicht zu übersehen, dass solche Positionen derzeit zunehmend umstritten sind. Dieser sich andeutende Paradigmenwechsel ist als Erfolg diskursiver Gegenwehr gegen Ausbeutung und Unterdrückung zu werten. Ein anderes wichtiges Beispiel stellt etwa der tragische Konflikt zwischen Israel und Palästina dar. Der israelische Schriftsteller Amos Oz zeigt in seinen politischen Essays, wie hart in einer Situation, in der Recht gegen Recht steht und die „von historischen Traumata und verletzten Gefühlen geprägt ist“ (Oz 1995: 9), um Kompromisse gerungen, welche Rückschläge hingenommen werden mussten und welchen Beitrag zur Entwicklung solcher Lösungsperspektiven die politischen Diskurse geleistet haben. Hier hat sich allmählich gezeigt, dass „wenn ein Recht auf ein anderes stößt, ein über dem Recht stehender Wert gelten muss, und dieser Wert ist das Leben selbst“ (ebd. 10). Die Einflussnahme auf den Diskurs erübrigt selbstverständlich nicht die Auseinandersetzung mit den ‚harten Fakten‘, die jedoch selbst nur Bestand haben, solange sie diskursiv eingebettet sind. Auf der Grundlage diskurstheoretischer Überlegungen kann nämlich mit Fug und Recht bezweifelt werden, dass die Welt der ‚harten Fakten‘ den absoluten Vorrang hat. Die Welt der Fakten ist selbst ohne diskursiven Vorlauf und ohne ständige diskursive Absicherung nicht vorstellbar, und daher ist sie zugleich auch etwas äußerst Zerbrechliches. Es sind die Diskurse, die dieses Fakten-Gebilde vorbereitet, in gewisser Weise ‚geplant‘ und auf der Grundlage dieser ‚Planungen‘ produziert haben, diese stützen und zusammenhalten. Und es ist das in seiner Katachresenhaftigkeit leicht durchschaubare System kollektiver Symbole, die sie als homogen und völlig ‚normal‘ erscheinen lassen. Es sind nicht die Fakten und schon gar nicht die Fakten allein, die den weiteren Ablauf der Geschichte bestimmen, es sind im wesentlichen die Diskurse, in die die Ideen und Träume der Menschen eingebettet sind und dort auch den Ort ihrer eigenen Realität haben. Auch sie sind Applikationsvorgaben für die Veränderung realer Welt. Ihre Artikulation und Verbreitung kann ein Gegengewicht schaffen gegen die herrschenden Diskurse, kann diese isolieren und ad absurdum führen, insbesondere wenn sie – was eine leichte Übung ist – die normalisierende und Widersprüche verkleisternde Funktion der Kollektivsymbole deutlich macht. Deshalb ist es politisch äußerst sinnvoll, sich an den Diskursen und Diskurs- und Kollektivsymbolanalysen zu beteiligen, was ja jeder und jede tun kann. Es geht nicht gegen Fabriken und Insitutionen als solche, sondern es geht um problematisierende und kritisierende Ana-
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lyse der Diskurse, durch die die immer nur zeitweilig gültigen ‚Wahrheiten‘ in Frage gestellt werden. Friedliche Veränderungen sind möglich. Es geht darum, dafür die richtigen Strategien zu entwickeln und diese umzusetzen. Solche Prozesse sind längst im Gang, begleitet und konterkariert von teilweise brutalen Gegenmaßnahmen. Daraus ergibt sich bereits eine wichtige Strategie der Veränderung: Die Anwendung von Gewalt muss kompromisslos geächtet werden, da sie eine Umgestaltung der Welt nach humanen Maßstäben verhindert. Damit wird sie nicht von heute auf morgen verhindert, und es ist auch nicht auszuschließen, dass man selbst in Gewalt verstrickt wird, etwa wenn es darum geht, Leib, Leben und Freiheit zu verteidigen. Solche Situationen aber sind als Ausnahme von der Regel der Notwendigkeit der Gewaltlosigkeit zu sehen und nicht umgekehrt so, dass die Gewaltlosigkeit die Ausnahme von der Regel der Gewaltanwendung darstellte. Insgesamt ist mit langfristigen Prozessen zu rechnen, deren Resultate keineswegs feststehen und in deren Verlauf viele große und kleine Kompromisse ausgehandelt werden müssen. Eines ist jedoch auch sicher: Kulturkontakt ist nicht automatisch Kulturkonflikt, wie Samuel P. Huntington anzunehmen scheint, schon gar nicht gefasst als eine Art soziales Gesetz, als quasi natürliche Konstante oder gar anthropologische Konstante.27 Kulturen berühren sich, verschränken sich, vermischen sich, es erfolgen Hybridisierungen, Bereicherungen, Schwächungen, Abgrenzungen, Gegenläufigkeiten, Widersprüche, Kämpfe. Multikulturalität ist von Chancen wie von Risiken gleichermaßen begleitet. Betrachtet man die Welt als ganze, so stellt sie sich dar als eine Vielzahl von lokalen, regionalen und überregionalen Berührungen, Kampffeldern und Konflikten. Der Weg zu einer Globalisierung (eine Welt) verläuft widersprüchlicher und vibrierender als Liberalismus und (orthodoxer) Marxismus sich das vorgestellt haben. Insbesondere hat eine Kultur, die westlich und kapitalistisch geformt ist, keineswegs endgültig gesiegt. Die Geschichte ist nicht postmodern ans Ende gekommen (Fukuyama). Die großen Erzählungen, sofern es sie noch gibt, sind in die Krise geraten. Aber es gibt tausende von Anderen; es wird gegen die großen Erzählungen an erzählt, auch gegen die große Erzählung des Kapitals. Nennen wir diese mittlere Erzählungen, oder meinetwegen auch kleine! Wichtig ist, dass deutlich wird, dass die Menschen lernen müssen, Konflikte auszuhandeln und dass auch jeder einzelne in der Lage ist, sich an diesen diskursiven Auseinandersetzungen wirkungsvoll zu beteiligen.
Anmerkungen 1
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Die vorliegende Fassung stellt nur eine leichte stilistische und inhaltliche Überarbeitung des 1997 erschienenen Artikels dar. Erstaunt konstatiere ich selbst die prognostische Kraft von angewandter Diskurstheorie, die zwar nicht dazu ausreicht, Details der Entwicklung vorherzusagen, jedoch dazu, die großen Linien im Vorhinein auszumalen. Dazu z.B. Jäger 1992.
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Hier sei nur auf die bekannte und einflussreiche Studie von Huntington verwiesen (Huntington 1993). Eine gewisse Ausnahme stellt Hall 1994 dar, der Konzepte der Cultural Studies mit der Diskurstheorie Michel Foucaults in Verbindung gebracht hat. Die Moral-Philosophin Amy Gutmann definiert Multikulturalismus als „den Zustand einer Gesellschaft oder der Welt, sofern es in ihr viele Kulturen gibt, die in signifikanter Weise interagieren“ (Gutmann 1995: 273). Vgl. ausführlich dazu Jäger 2004. Link baut diese Definition weiter aus, indem er schreibt: „Auch die ‚Diskursstränge‘ (‚als Flüsse von Wissen durch die Zeit‘) wären m.E. eher zyklologisch zu fassen, also eher analog zu Populationen in einem Biotop, von denen einige sich stabil reproduzieren, einige mutieren, einige neu auftauchen und andere aussterben – oder auch einige von anderen gefressen werden. Was da zu ‚fließen‘ scheint, sind also Einheiten, die ständig (re-)produziert werden.“ (Link 2003: 62) Siehe zum Gedanken der Zyklologizität auch Winkler 2004. Sie sind das Werk tätiger Menschen, die die Diskurse aufnehmen, weitertragen und vergegenständlichen. Vgl. dazu im einzelnen auch Jäger 2001. Vgl. dazu im einzelnen auch Jäger 2001. Vgl. dazu Link 1992. Winkler 2004 versucht zu zeigen, dass ökonomischer Tausch und Austausch/Kommunikation auf vielfältige Wiese untereinander verbunden sind. Ein solches Verhalten kann man auch als rassistisch bezeichnen, insofern Rassismus ein Wissen darstellt, durch das die Menschen anderen Aussehens oder anderer ‚Kultur‘ als Rassen konstruiert werden, diese so gesehenen Menschen oder Gruppen (meist auf der Grundlage eigener Normalitätsvorstellungen) bewertet werden, und dies aus der Position der Macht heraus geschieht. Die Position der Macht ist, folgt man der Diskurstheorie etwa Michel Foucaults, bereits dadurch gegeben, dass der oder die Betreffende in den hegemonialen Diskurs eingebunden ist. Vgl. dazu auch M. Jäger 1996, die diese Bestimmung ausführlich diskutiert. – Die hier vorgetragene Definition von Rassismus lehnt sich an die internationale Diskussion an, beruft sich aber im Unterschied zu den Bestimmungen bei Rääthzel, Memmi, Balibar, van Dijk u.a. auf die Diskurstheorie Michel Foucaults und sein Verständnis von Diskurs, der mit Macht selbst verbunden ist, selbst Macht ausübt, so dass sich die zusätzliche Kategorie der „Macht“ eigentlich erübrigt. Vgl. dazu Link 1992 sowie Sarasin 2003. Zur Perspektivität der Wirklichkeitsdeutung vgl. Foucault 1986: 13ff. sowie auch S. Jäger/M. Jäger 2003: 18-21. Sarasin spricht in diesem Zusammenhang von „privilegierten Signifikanten“. Obwohl jedes Mitglied (einer Gruppe), jedes Ereignis und jede Gruppe ein wenig ‚anders sind‘, formulieren sie ihre Identität durch die Differenz zu allen anderen. Gleichzeitig existieren aber auch Äquivalenzrelationen zwischen ihnen, die dadurch zu Stande kommen, dass sie sich als ‚gleich‘ im Verhältnis zu einem Dritten, zu einem Außen definieren (vgl. Sarasin 2001: 68). Neumann in der FR vom 21.2.1995: 12. Vgl. dazu Link 1982. Vgl. dazu die Artikel in Jäger/Januschek (Hrsg.) 2004, insbesondere auch die Einleitung. Vgl. dazu Link 1993. Zu westlichen Orientbildern vgl. Said 1981. Ein Konzept einer Intelligenten De-Eskalationsstrategie wird seit Jahren von Jürgen Link entwickelt und immer wieder aktualisiert. Vgl. dazu auch Link 2004. Dass die damit angesprochene Gegenwehr selbst katastrophisch und kriminell ausfallen kann, zeigen die Terroranschläge der letzten Jahre, nicht erst seit dem 11.9.2001. Darauf mit Gegenterror, genannt Krieg, zu reagieren, ist nur dazu angetan, die Katastrophe weiter eskalieren zu lassen. Vgl. dazu auch Weller 2004. Fünf Jahre nach Abschluss der ersten Fassung dieses Artikels hat sich ein eher weiter konfliktverschärfender Diskurs etabliert, indem die einzig verbliebene Weltmacht eine Politik des „Clash of Cultures“ zu betreiben versucht. Die Betonung liegt dabei auf Politik; es
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handelt sich dabei keineswegs um einen irgendwie natürlichen Prozess. Wozu eine solche Politik führt, ist an den „neuen Kriegen“ und ihren Folgen abzulesen. Vgl. dazu Kellershohn 1994. Für den Diskurs der Politik vgl. etwa Wichert 1994, 1995, zu Medien Jäger/Link 1993; zum Alltagsdiskurs Jäger 1992, 4. Aufl. 1996, Jäger u.a. 1998; sowie M. Jäger/Jäger 1999; Jäger/Januschek 2004. Diese Zurückhaltung ist inzwischen vorbei. Selbst die Irak-Politik der rot-grünen Bundesregierung erweist sich als durch eine „defensive Eskalationsstrategie“ (Link) geprägt. Zur neueren Entwicklung dieses Diskurses nach dem 11.9.2001 vgl. Jäger 2004 und Carius 2004. Zur Gleichzeitigkeit von Entgrenzungs- und Abgrenzungstendenzen des Kapitals vgl. Link 198: 11. Wie groß die Widerstände gegen eine vernünftige Einwanderungspolitik sind, zeigt das elende Gerangel um das sogenannte ‚Zuwanderungsgesetz‘ bis in die Gegenwart von 2004 hinein. Vgl. dazu etwa die Erfahrungsberichte der IAF (Interessengemeinschaft mit Ausländern verheirateter Frauen), in denen auch Fälle schrecklichen Scheiterns dokumentiert werden, sowie Perlet (Hrsg.) 1983 oder Wolf-Almanasreh 1984. Huntington 1993, 1996.
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Zwischen den Kulturen: Diskursanalytische Grenzgänge
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Das Internet und die Genealogie des Kommunikationsdispositivs: Ein medientheoretischer Ansatz nach Foucault Johanna Dorer
1 Vorbemerkung Die Forschung zum Thema Internet hat in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre mit der zunehmenden Verbreitung der neuen Technologien explosionsartig zugenommen. Ein Beitrag über das Internet ist also immer auch in seinem zeitlichen Entstehungskontext zu sehen. Aus diesem Grund entschied ich mich für die dritte Auflage des Buchs, den Text nicht wesentlich zu ändern, sondern vornehmlich um einige aktuelle Literaturhinweise zu ergänzen. Die neue Technologie im Rahmen der beiden Schaltpläne des Informations- und Kommunikationsdispositivs zu betrachten, geht dabei auf einen bereits früher für die Medien entwickelten theoretischen Ansatz, der auf Überlegungen von Foucault basiert, zurück (Dorer/Marschik 1993). Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der Medien und der nun vonstatten gegangenen Kommerzialisierung des Internet, zeigt sich recht deutlich, wie sich jene damals entwickelten theoretischen Überlegungen zur ‚Normalisierung‘ des Internet vermehrt in sozialen Praxen im politischen, rechtlichen, ökonomischen und sozialen Bereich niedergeschlagen haben. Besonders hervorheben möchte ich in diesem Kontext die von Lovink und Schultz im Jahr 1999 veröffentlichte Systematisierung der Netzentwicklung. Sie unterscheiden bezüglich der Entwicklung des Internet drei Phasen wie folgt (Lovink/Schultz 1999: 299-310): Die erste Phase (1969-1989) ist geprägt durch die Vernetzung von Großrechnern in Militär, Wissenschaft und Großunternehmen. Dies ist auch die Zeit, in der sich Jugendliche das technische „Geheimwissen“ aneignen und sich als sogenannte „Hacker“ und „Cyberpunks“ für die Öffnung des Netzes einsetzen. In dieser Zeit entstanden die von der Wissenschaft – auch von den Cyberfeministinnen – euphorisch kommentierten „Mysterien“ des Internets wie Entkörperung, Unsterblichkeit, Hybridisierung von Körper und Maschine, Cyborg und Cybersex. Die zweite Phase (1990-1995) ist die Zeit der Mythenbildung, der Gerüchte und Erwartungen, in der die alten Medien den Mythos Internet, den Glauben an universelle Möglichkeiten, verbreiten und die „digitale Revolution“ ausrufen. Es ist die
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Johanna Dorer
Zeit der schnellen Profite, Netzutopien, der Netzkritik und der Medienkunst, wo aus so unterschiedlichen Interessen eine neue „virtuellen Klasse“ (Kroker/Weinstein 1994) hervorgeht. Die dritte Phase ist gekennzeichnet durch die Entwicklung des Internets hin zu einem Massenmedium. Die Anzahl der Nutzer/innen steigt rasch an, Klickraten und Userstatistiken und die Spuren, die Anwender/innen in unzähligen Logfiles hinterlassen, werden marktrelevant verwertet. Die digitale Vernetzung beschleunigt Globalisierungs- und Konzentrationsprozesse, verändert Geld- und Aktienmärkte, die neue Ökonomie wird zur wichtigsten Wachstumsbranche. Das Streben nach politischer Einflussnahme äußert sich – unter Bezugnahme auf das Thema Kinderpornografie – in der Diskussion um Kontrolle, Reglementierung, Zensur versus Meinungsund Medienfreiheit. Der hegemoniale Kampf wird nicht zuletzt auf dem Gebiet der Festlegung von Standards ausgetragen. Denn jede Nutzer/innengruppe hat ihre eigenen Standards und Benutzungsregeln entwickelt und dem Netz eingeschrieben.
2 Internet und gesellschaftliche Erwartungen Medienentwicklung und gesellschaftlicher Wandel sind aufs Engste miteinander verknüpft (Krotz 2003; Schmidt 2003). Dabei ist nach Krotz (2003: 15) Medienwandel Bestandteil und Ausdruck eines Gesellschaftswandels, Folge und/oder aber auch Ursache eines gesellschaftlichen Wandels. Ein techno-deterministischer, eindimensionaler Zugang kann dabei das komplexe Zusammenspiel technischer und gesellschaftlicher Veränderungen keineswegs erklären. In diesem Sinne ist auch die Entwicklung neuer Medientechnologien im Kontext der Entwicklung des öffentlichen Diskurses zu betrachten und zu fragen, ob und wie das Internet als neuartige Technologie mit einer Veränderung des öffentlichen Diskurses einhergeht. Denn wie kaum ein anderes Medium ist das Internet als Kommunikationstechnologie und Kommunikationstechnik – in Form einer gegenseitigen Rede und Antwort, in der Diktion von Habermas als „gleichberechtigte Rede und Gegenrede“ bezeichnet – mit der Vorstellung und dem Versprechen einer allgemeinen Demokratisierung der öffentlichen Kommunikation angetreten. Tangiert wird dabei die Frage nach der Kommunikationskultur einer Gesellschaft, welcher allerdings die Frage nach dem Machtdispositiv zu Grunde liegt, das einem durch fortschreitende Mediatisierung gekennzeichneten Gesellschaftskörper eingeschrieben ist und das auf den Körper und sein Begehren wirkt. Begleitet war und wird die Entwicklung des Internet von einem öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs, der sich zunehmend ausdifferenziert hat (Featherstone 1995; Gerbel/Weibel 1995; Jones 1995; Kroker/Weinstein 1994; Shields 1996; Turkle 1995; Virilio 1994, 2000; Marchart 2004). Grundsätzlich lassen sich dabei zwei Standpunkte ausmachen, die zuvor weitgehend unverbunden nebeneinander standen und heute zunehmend sachlicher diskutiert werden: Technikeuphorie gekoppelt mit der Vorstellung der Revolutionierung
Das Internet und die Genealogie des Kommunikationsdispositivs
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menschlichen Zusammenlebens auf der einen Seite und Skepsis bzw. Kulturpessimismus, der die sozialen Folgen dieser Entwicklung kritisiert, auf der anderen Seite. Mit der Einführung und Etablierung des Internet waren also jene Mythen verbunden, die bereits die Einführung des Radios und des Fernsehens begleitet haben: Einerseits ein Kultur-Pessimismus, der seinen Ausdruck in einer restriktiven Medienpädagogik und einer gemeinwohlorientierten Medienpolitik gefunden hat, sowie andererseits ein Kultur-Optimismus, wie wir in bereits von Brechts Radiotheorie kennen. Das Credo lautete damals – genauso wie heute bezüglich des Internets: „Jeder Empfänger ein potenzieller Sender.“ Die Hoffnungen der Brechtschen Radiotheorie haben sich bis heute in widerständischen Kulturen erhalten. Nichtkommerzieller Rundfunk, freie Videogruppen und offene Kanäle sind die Repräsentanten eines medialen Widerstands, der sich wider eine kommerzielle Vereinnahmung als Gegenmacht artikuliert (Dorer 1995, 1997).
3 Meinungsfreiheit als Bruchlinie des öffentlichen Diskurses In der Mediengeschichte und der Entwicklung der Medientechnologien wird der Idee der Artikulationsfreiheit und Meinungsfreiheit eine enorme Bedeutung beigemessen. Für den öffentlichen Diskurs ist mit den Ansätzen der Realisierung von Meinungsfreiheit eine historische Bruchstelle eingetreten, die einhergeht mit einer Veränderung sowohl der kommunikativen Techniken als auch der Kommunikationstechnologien. Der Kampf um die Meinungsfreiheit und damit um eine Demokratisierung der öffentlichen Kommunikation fällt mit der Entwicklung der technischen Voraussetzung für die Massenproduktion von Zeitungen zusammen und bedeutet den ersten historischen Schritt in Richtung Massenkommunikation. Begleitet war diese Entwicklung der Informationstechnologie mit einer Veränderung der öffentlichen Kommunikation. Die journalistischen Techniken der „Hofberichterstattung“ werden durch neue journalistische Techniken des „Recherchejournalismus“ ersetzt. Damit ist die Substituierung eines Verlautbarungsjournalismus durch den Investigativjournalismus ein Versuch der Einlösung des Versprechens auf Meinungsfreiheit auf der Ebene der kommunikativen Form. Interessant ist, dass sich gerade zu diesem Zeitpunkt, als sich ein journalistisches Selbstverständnis durchzusetzen begann, das sich auf Korruption und Aufdeckung von sozialen Missständen konzentrierte, auch Wirtschaftsunternehmen Public Relations-Stellen einrichteten, die die Öffentlichkeit mit Information versorgten. Die Verfeinerung der kommunikativen Techniken – insbesondere die zunehmende Ausdifferenzierung des Journalismus, der Werbung, der Meinungsforschung, und später der Publikumsforschung und Public Relations –, begann zu jenem Zeitpunkt, als sich die Idee der Meinungs- und später der Medienfreiheit als immer bedeutendere Strategie des öffentlichen Diskurses erstmals etablierte (Dorer/Marschik 1993).
356 Tabelle 1:
Johanna Dorer Der historische Weg von der Verlautbarung und Verheimlichung zum Geständniszwang vor 1848 Zensur
ab 1848 Zensurverbot
2.WK Zensur
1950/60 Medienfreiheit
Einheit der Inhalte
Vielfalt der Inhalte und Medien
Einheit der Inhalte und Medien
Vermehrung der Inhalte und Medien
Medien
obrigkeitsstaatlich
Parteimedien
Propagandamedien
Massenmedien
Journalismus
Hofberichterstattung
Propaganda
Informationssysteme
Ausdifferenzierung des Journalismus
Partei-und Recherchejournalismus Ausdifferenzierung von Journalismus und Werbung
Verlautbarungsjournalismus Ausdifferenzierung der Meinungsforschung
Strategien d. Disziplinierung
Repression
Zwang zur Parteilichkeit und Freiheit
Kriminalisierung Zensurbehörde
Solidarisierung
rechtlicher Rahmen Zweck
Kontrolle der öff. Meinung
Wirtschaft
Gesellschaft
Ständegesellschaft
Parteiischer Journalismus
Ausdifferenzierung der Propaganda und Persuasionsforschung Repression und Indoktrination mittels Bildung
Kriminalisierung Zensur und Denunziantentum
Entstehung der Aktiengesellschaften, Beginn der Fabriksproduktion
wirtschaftlicher Aufschwung durch Kriegsproduktion
Klassengesellschaft
totalitäre Gesellschaft
ab 1970/80 Kommunikationsfreiheit Explosion der Kanäle und Normierung der Inhalte Medien als Werbeträger, Zielgruppenund Gratismedien Investigativjournalismus Ausdifferenzierung von PR, CI, CC und Sponsoring
Sozialisation, Integration, Wissen und Verwissenschaftlichung
Partizipation, Demokratisierung, Individualisierung, Beschlagnahme von Zeit
Ethisierung
Ästhetisierung
Werbewirtschaft, Marktund Meinungsforschung, PR, Journalismus, Nachrichtentechnik, Anreizung von Wissen wirtschaftlicher Aufschwung, Korporatismus, Interessenidentität
Werbewirtschaft, Marktund Meinungsforschung, PR, Journalismus, Nachrichtentechnik, Anreizung von Wissen Reichtumsproduktion und neue Armut, partizipatorische und umweltpolit. Anforderungen Kommunikationsgesellschaft
Informationsgesellschaft
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Hand in Hand mit der Ausdifferenzierung der Medientechnologie geht die Ausdifferenzierung der kommunikativen Techniken. In diesem Sinne korrespondiert die Meinungsfreiheit mit einem nun allen Institutionen auferlegten „Geständniszwang“. Das Internet und seine Möglichkeiten der direkten Kommunikation ist ein vorläufiger Höhepunkt dieser Entwicklung, bei der alle Userinnen und User im Namen der Freiheit und Demokratie (bzw. auch Anarchie) diesem Geständnisimperativ – bzw. in den Worten Baudrillards der „Ekstase der Kommunikation“ – ausgesetzt sind. Es ist demnach keineswegs verwunderlich, dass in der Diskussion um die rechtliche Regulierung des Internet mehr als bei anderen Medien das Argument der Meinungsfreiheit als Konstituens und Ausdruck einer demokratischen Gesellschaft ins Blickfeld gerät. Doch im Zuge der Ausdifferenzierung der kommunikativen Techniken zeigt sich, dass der öffentliche Diskurs bereits viel früher einem Geständnisimperativ gehorchte. Public Relations ist nicht länger als eine Möglichkeit der Bedingung für eine öffentliche Präsenz zu betrachten, sondern weit mehr als Verpflichtung zur medialen Selbstrepräsentation, um nicht aus der gesellschaftlichen Realität ausgegrenzt zu sein. Denn Medienrealität ist nicht nur Konstrukt sozialer Realität, sondern wirkt auf diese wiederum zurück, womit Medienrealität eine realitätskonstituierende und handlungsauslösende Wirkung eingeschrieben ist. Der Imperativ zur ständigen Rede in der Öffentlichkeit, ein allen Institutionen auferlegter „Geständniszwang“, strukturiert die öffentliche Auseinandersetzung und konstituiert jenen öffentlichen Diskurs, der Meinungs- und Medienfreiheit als Garant demokratischer Kommunikation proklamiert. Grob gesprochen veränderte sich der öffentliche Diskurs seit dem 19. Jahrhundert in drei Etappen: Das Ringen um Pressefreiheit bis nach dem zweiten Weltkrieg ist als Kampf zwischen Zensur und Zensurverbot aufzufassen. Erst in den 1950er Jahren ist die Zeit der Medienfreiheit angebrochen, die in einer dritten Etappe schnell zu einem Imperativ zur permanenten Rede und Gegenrede, zu einem „Geständnis- und Kommunikationszwang“ mutiert. Das Dispositiv der öffentlichen Rede ist damit einem grundlegenden Wandel unterworfen. In einem Zusammenspiel mobiler, polimorpher Machttechniken, die sich insbesondere bezüglich der Entwicklung der Kommunikationstechnologien sowie der kommunikativen Techniken nachzeichnen lässt, ist eine schrittweise Ablösung des Informationsdispositivs durch die Herausbildung eines Kommunikationsdispositivs in Gang gesetzt worden. Ein Dispositiv ist nach Foucault (1978a: 119ff.) dabei jener Schaltplan eines strategischen Netzes, das sich aus dem Wissen und den Praktiken zu einer technisch-strategischen Gesamtheit von Kontroll- und Regulierungsinstanzen zusammenfügt und auf den Körper und sein Begehren wirkt. Das Informationsdispositiv fällt zusammen mit der Zeit der Zensur. Von der Gründung der ersten Zeitungen bis ins 19. Jahrhundert war der Diskurs der öffentlichen aber auch privaten Kommunikation gekennzeichnet durch eine von der Staatsmacht institutionalisierte Zensur und Observierung. Die Verpflichtung zur Hofberichterstattung und das Verbot eigenständiger politischer Berichterstattung wurde kontrolliert durch ein fein gesponnenes Observierungsnetz. Instrumente dieser Kon-
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trolle waren Sonder- und Stempelsteuern für bestimmte Medien, Überwachung durch die Postdienste, Errichtung von Polizei- und Zensurhofstellen, Installierung der Geheimpolizei, kontrollierte Vergabe von Druckprivilegien, Verkaufsverbote für ausländische Zeitungen, etc. Mittels zahlreicher Gesetze und kommunikationspolitischer Restriktions- und Kontrollmaßnahmen versuchte die Staatsmacht, Kommunikation als Raum der Disziplinierung öffentlicher Meinung zu kontrollieren. Die Kontrolle erstreckte sich dabei – z.B. in Form des Spitzelwesens – bis in den Bereich der privaten Kommunikation. Der Machttypus jener Zeit war gekennzeichnet durch Repression und Verbot und bewirkte als Disziplinarstrategie den Ausschluss bestimmter öffentlicher und privater Äußerungen. Die Wirkung erstreckte sich damit nicht nur auf den Gesellschaftskörper an sich und den öffentlichen Diskurs, sondern wirkte bis hinein in den privaten Bereich.
4 Der „Geständniszwang“ als Kennzeichen des Kommunikationsdispositivs Weder Zensur, Unterdrückung noch Repression sind heute die Techniken einer zentralen Macht, die die Disziplinierung des öffentlichen Diskurses zu garantieren sucht. Im Gegenteil: Die Unterdrückung einer öffentlichen Meinung durch Zensur und zensurähnliche Verfahren verkehrt sich in einen kategorischen Imperativ zur ständigen, mehrdimensionalen Rede, die auch am Rande die Rede über das NichtGesagte hervorbringt. Zum primären Kennzeichen des Kommunikationsdispositivs wird jenes unablässige Sprechen in der Medienöffentlichkeit und seine Wirkung, die sich bis in die letzten Winkel des Privaten entfaltet: „Wir erleben nicht mehr das Drama der Entfremdung, wir erleben die Ekstase der Kommunikation“ (Baudrillard 1987: 18). Die Integration von Widerstandspotenzialen ist dabei der Strategie der Macht eingeschrieben. Der Machttypus innerhalb des Kommunikationsdispositivs wirkt nicht mehr repressiv, sondern zeigt sich in einer produktiven Form. Macht im Sinne Foucaults (1977a: 114), ist eine komplexe, strategische Situation, welche sich in einem Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht, niemals aber von einer einzelnen Institution oder Person ausgehen kann. Die Macht des öffentlichen Diskurses ist somit nicht zu denken als eine Repressions-Macht oder Macht der Zensur, sondern vielmehr als eine Anreizungsmacht und Wissensmacht. Die produktive Form von Macht zeigt sich dabei auf allen Ebenen der Medienproduktion und Medienrezeption. Die Auswirkung der Anreizungsmacht ist die stete Vermehrung der Produktion von Wahrheit. Mit dem Willen zum Wissen, dem Willen, Realität authentisch zu zeigen, entsteht ein kontinuierlicher Fluss eines Mehr an Bildern, Texten, Werbung, Public Relations etc. und schafft daher ein Mehr an Kommunikationsspezialisten, die wiederum ein Mehr an Bildern, Texten, Werbung, Public Relations etc. produ-
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zieren. Nicht erst im Internet sind Raum- und Zeitgrenzen aufgehoben, nicht erst im Internet ist der Geständniszwang ein allumfassender geworden. Die Entwicklung hat bereits deutlich früher eingesetzt. Im Bereich der Kommunikationstechnologien sei hier die Ausdifferenzierung und grenzenlos scheinende Expansion im Printmedienund Rundfunkbereich genannt: Magazine, Special Interest Medien und Fachzeitschriften einerseits sowie die Ausweitung von Hörfunk- und Fernsehkanälen andererseits. Die Frequenzknappheit scheint es in der Tat nicht zu geben, vielmehr lässt sich der Verweis auf eine Knappheit der Frequenzen oftmals als politisches Kalkül interpretieren. Das Gleiche gilt aber auch für die kommunikative Form: CNN ist ein Beispiel dafür. Für TV-Nachrichten galt lange Zeit das 20-Minuten-Limit als Maßstab, bis 1980 Cable News Network, CNN, die Zeitknappheit des Nachrichtenformats mit einem 24-Stunden-Nachrichtenprogramm durchbrach. Mit EyewitnessBerichten hat CNN die neue kommunikative Form etabliert, die nicht nur die Augenzeugenschaft der Journalistinnen und Journalisten, sondern auch des Publikums suggeriert. In Bezug auf die Aufhebung der Raum- und Zeitgrenzen ist das Internet als neue Medientechnologie lediglich die konsequente Folge der Reproduzierbarkeit der eigenen Möglichkeit. Denn es ist gerade typisch für die Formierung des Kommunikationsdispositivs, dass sich der Diskurs öffentlicher Kommunikation selbst reproduziert und erweitert. Dies gilt – wie oben gezeigt – für beide Ebenen: für die Ebene der Kommunikationstechnologie sowie die Ebene der kommunikativen Form. Das Medium – als Bedingung seiner eigenen Reproduktion – schafft sich selbst die Vermehrung seiner formalen Möglichkeiten. Beschränkte sich im Informationsdispositiv die produktive Seite der Macht auf Repressionsmaßnahmen, das heißt auf die Produktion von Zensur- und Observierungstechniken, um widerständige Informations- und Kommunikationsflüsse zu be- und verhindern, so konzentriert sich im Kommunikationsdispositiv die Produktivität der Macht auf die Hervorbringung und Distribution von Information und Kommunikation selbst, und zwar via Vervielfältigung der Kommunikationstechnologien und via der dadurch möglich gewordenen Vielfalt kommunikativer Formen. Mit dem Internet ist die Idee der Bereitstellung ungeheurer Mengen an Information zur freien Auswahl und steten Verfügbarkeit ebenso verbunden wie die Präsenz einer potenziell unendlich großen Zahl von Gesprächs- und Diskussionspartner und partnerinnen zu jeder Tages- und Nachtzeit. Dies ermöglicht den freiwilligen Anschluss des Selbst an ein komplexes Kommunikationssystem. Denn die stete Produktion von Kommunikation bewirkt die dauernde Anreizung der Userinnen und User zur medienvermittelten Anschlusskommunikation. Auch hier zeigt sich das Internet lediglich als Höhepunkt einer Entwicklung, die bereits mit den ‚alten‘ Medien eingesetzt hat. Treibendes Moment zur Weiterentwicklung und Verfeinerung medialer und kommunikativer Techniken war stets das Versprechen, alles sehen, alles hören zu können und maximal informiert sein zu können. Vermehrte Freizeit und verbesserte Speichertechnologien (Ton- und Videokassette etc.) führen zu einer Neustrukturierung der Zeit in der individuellen Mediennutzung und zu einem alle Lebensbereiche umfassenden Anschluss des Selbst an ein differenziertes
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Mediensystem, das es sowohl mittels gleichzeitiger Nutzung verschiedener Medien als auch mittels verschiedener Kanäle (mittels Watchman, Walkman, Zapping, Internet etc.) zu erreichen gilt. Mit dem Internet ist diese Entwicklung noch einmal deutlich sichtbar geworden.
5 Normierung und Kontrolle Die Strategie des Begehrens ist der medialen Technik und der medialen Form eingeschrieben. Denn der Anschluss des bzw. der Einzelnen ans Kommunikationsnetz funktioniert über die Stimulation und Anreizung des Begehrens. Bereits die zahlreichen Sendungen und Formen von Publikumsbeteiligung in Print- und Rundfunkmedien machen deutlich, wie ein Machtdispositiv seine produktive Wirkung zu entfalten vermag. In diesem Sinne ist eine der Hauptfunktionen der Medien heute die Beschlagnahme von Zeit. Den Rezipienten bzw. Rezipientinnen ist es heute fast unmöglich, der Mediatisierung zu entkommen. Die Allgegenwart der Medien und deren Strategien, unaufhörlich Aufmerksamkeit produzieren zu müssen, führen so zu einer kontinuierlichen Reizüberflutung und einer ständigen Überreizung durch das medial Wahrnehmbare. Die Macht, wirksam als Anreizungsmacht, zielt dabei auf die Stimulation und Anreizung des Begehrens. Die Medien sind längst keine „geheimen Verführer“ (Packard 1962) mehr, sondern tragen ihr Anliegen der Verführung ganz offen zur Schau. Es geht um die Beschlagnahme von Zeit, um die Aktivierung von Aufmerksamkeitspotenzialen und um die stete Aktualisierung und Thematisierung der gesellschaftlichen Norm. Obgleich die Vielfalt der Medien stets zunimmt, so bieten sie dennoch lediglich „more of the same“ und führen keineswegs zu einer vergleichbaren Vermehrung von Alternativen. Indem Medienrezeption im Rahmen der Alltagsroutine erfolgt, produziert der Informationsüberfluss nicht mehr ein Mehr an Wissen oder Kommunikation, sondern präsentiert primär die gesellschaftliche Norm und ihre Grenzen. Die Gewohnheit bestimmter Nutzungsverhalten im Rahmen von Alltagsroutinen stiftet dabei die Internalisierung der Norm. Damit verdrängt die Gewohnheit und Routine die Wahrnehmung potenzieller anderer Wahrnehmungsalternativen. Bezogen auf den Geschlechterdiskurs geben beispielsweise Medien nach wie vor die Norm für gesellschaftlich männlich und weiblich kodiertes Verhalten vor. Das Internet gilt hier nicht notwendig als Ausnahme. Noch Mitte der 1990er Jahre erreichte der Frauenanteil im Netz gerade 10 Prozent und die Rahmenbedingungen legten eine nahezu ausschließliche männliche Kodierung des Internet nahe (Dorer 1997b). Chat-Regeln im Netz, folgen einem männlich kodierten Wertekodex, Homepages mit sexistischen oder pornografischen Inhalten hatten und haben nach wie vor eine ungeheure Verbreitung (Dorer 1996; Grinstaff/Nideffer 1995; Lane 2000). Auf allen Ebenen der Interaktion von Technologie- und Geschlechterverhältnissen, wie der Wissensproduktion (Forschung zum Internet, Entwicklung der Hard-
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und Software), der industriellen Produktion (Hard- und Softwareproduktion), der Distribution der neuen Technologie (Verkaufs- Werbe- und PR-Praktiken) und der Konsumpraxis (Aneignung und Verwendung der neuen Technologie) lässt sich die Konstruktion des Internet als primär männlich kodierter Interaktions- und Kommunikationsraum nachvollziehen (Dorer 2001a, 2001b). Mit der Kommerzialisierung des Internet – Ende der 1990er Jahre – kommt es zu einer Ausdifferenzierung des Geschlechterdiskurses im Internet. Zunehmend werden Konstruktionen von Männlichkeit und Weiblichkeit differenzierter, vielfältiger, ohne aber die gängigen Geschlechterstereotypen grundsätzlich in Frage zu stellen. Cyberfeministische Diskurse zum Internet, die bereits in den 1980er Jahren Utopien von Geschlechtergerechtigkeit entwarfen (Haraway 1985; Turkle 1995; Plant 1998), werden heute viel nüchterner betrachtet (Floyd 2002; Consalvo/Paasonen 2002; Flanagan/Booth 2002; Wajcman 2004). Medien sind eine Machttechnik der Normierung und Disziplinierung. Die Wirkung erzielen sie nicht über Verbot oder Zensur, sondern im Gegenteil über das Gebot permanenter Konsumtion, Interaktivität und Beteiligung. Austragungsort ist der Körper und sein Begehren geworden. Die Normierung und Disziplinierung erfolgt über die Normierung des Sehens und Hörens, so dass das Wahrnehmungsdispositiv durch das Mediale und seine Norm geprägt ist. Verdrängt werden dabei zunehmend Formen einer widerständigen Leseart (Stuart Hall), wenngleich diese sowie widerständige Produktion und Interaktion präsent sind. Jedes neue Medium wird mit dieser Hoffnung auf Befreiung verknüpft. Doch die normierende Kraft, die von Medien ausgeht, ist allgegenwärtig. Die Internalisierung der Norm soll dabei auf Freiwilligkeit basieren. Die Disziplinierung soll zu einer freiwillig gewählten Selbstdisziplinierung werden und den öffentlichen Diskurs und sein Kräfteverhältnis stabilisieren. Einher mit dieser Disziplinierung des Blicks und Hörens vollzieht sich die Verwaltung des Einzelnen und seines Nutzungsverhaltens in Datenbanken und seine stete Verfügbarkeit als ‚Reichweite‘, ‚Auflagenzahl‘ oder ‚Log-ins‘. Für die ‚alten Medien‘ erfolgt die Kontrolle des Publikums im Sinne der Disziplinierung und Normierung über die Erhebung von Nutzungsdaten. Sie registrieren den Anschluss des Selbst an die medialen Informationsnetze und referieren jede Tendenz, sich aus dem Schaltkreis auszuklinken. Die angewandten Beobachtungs- und Registrierungstechniken fördern unterschiedliches Wissen zutage. Zum einen jenes Verwaltungswissen, das an Hand von Auflagenzahlen und elektronischen Zuschauermesssystemen das für die Mediennutzung aufgewendete Zeitbudget des Publikums genau prüft, zum anderen ein Ermittlungswissen, das via Benotung und Tagebuchbewertung die Akzeptanz kontrolliert. Das so produzierte Wissen erzeugt einen „Quoten-Diskurs“, der genau die Wahrheit hervorbringt, die Medieninstitutionen für den Verkauf ihrer Programme benötigen (Ang 1991). Im Auftrag der Wahrheitsfindung kann hier eine Wissensmacht ihre normierende Wirkung erzielen, indem der veröffentlichte Quotendiskurs wiederum auf das Nutzungsverhalten des Publikums zurückwirkt.
362 Tabelle 2:
Johanna Dorer Vom Informationsdispositiv zum Kommunikationsdispositiv
Kennzeichen
Informationsdispositiv Repression
Unterdrückung Schweigen Verschweigen Informationsverhinderung
Idee der Aufklärung
Kontrollinstanzen der öffentl. Meinung Ordung des Dispositivs
Zensurbehörde Spitzelwesen das Gesetz
Ziel/Funktion des Dispositivs
Ausgrenzung Ausschluss
Machttypus
Strafmacht, Repressionsmacht
Kommunikationsdispositiv Kategorischer Imperativ zur ständigen mehrdimensionalen Rede Unablässiges Sprechen in der Öffentlichkeit „Geständniszwang“ Informationsüberflutung Explosion der Kanäle Aufhebung von Raum und Zeit (CNN 24h-Nachrichtenprogramm, Internet) Idee der Freiheit Kommunikations-Ideal der gleichberechtigten Rede u. Gegenrede als Schlüssel zur Befreiung des Individuums Zusammenspiel sämtlicher kommunikativer Instanzen die Norm, das was als Norm Gültigkeit besitzt (Norm der Inhalte, der Form, der Rezeption, etc.) Disziplinierung des Körpers (des Blicks, des Hörens) Normierung (der Inhalte, der Form) Anschluss an das Kommunikationsnetz global u. lokal (durch Watchman, Walkman, Internet) Beschlagnahme von Zeit Verwaltung des Selbst in Datenbanken u. stete Verfügbarkeit als Reichweite, Auflage und Log-ins Anreizmacht Wissensmacht Kontrollmacht
Im Internet sind analoge Mechanismen wirksam. Die Kontroll- und Wissensmacht zeigt sich dabei an mehr oder weniger auffälligen Orten. In Zeitungen wird regelmäßig bei der Berichterstattung über das Internet eine Vorselektion der „besten Homepages“ – inklusive Angabe der Adressen – vorgenommen. Hinter der Sperre von News Groups, welche nicht selten das Argument der Pornografie missbraucht, steht der unverblümte Versuch, das Internet einer (inter)nationalen Kontrolle zu unterwerfen. Aber auch das automatische Zählsystem, das alle User/innen beim Besuch einer Hompage registriert, ist im Sinne dieser Kontroll- und Wissensmacht zu erwähnen. Anonymität und das Spiel mit Identitäten in Chat Groups (Turkle 1995) wird mittels neuer Software erschwert oder verunmöglicht. Aus der Verbindung von Computerund Kommunikationstechnologien entstehen vernetzte Informationsspeicher und Kontrollstrategien, die selbstständig die Überwachung der Diskurse durchführen.
Das Internet und die Genealogie des Kommunikationsdispositivs
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Nicht zuletzt das rege Interesse der Wissenschaft an der Erforschung des Internet und seiner User/innen ist im Sinne dieser Kontrollmacht und Wissenmacht zu verstehen.
6 Kommunikations-Ideal als Verführung zur Vernetzung Hat sich die Ordnung des Informationsdispositivs noch vorwiegend über das Gesetz konstituiert, so tritt im Kommunikationsdispositiv die Norm an die Stelle des Gesetzes. Die Gesetzes- und Straf-Macht wird ersetzt durch eine Anreizungs- und Wissensmacht, die auf die Disziplinierung und Normierung des Blicks und des Hörens zielt, bewirkt durch die permanente Präsenz der Norm. Das Informationsdispositiv, das immer weniger Glaubwürdigkeit beanspruchen kann und dem Ideal einer demokratischen Gesellschaft praktisch nicht entsprechen kann, lässt das Aufkommen des Kommunikationsdispositivs zu, das mit dem Versprechen umfassender Demokratisierung angetreten ist. Propagiert wird nicht weniger als die Erfüllung eines jahrhundertealten Ideals von Rede und gleichberechtigter Gegenrede. Die imaginäre Instanz ist die Kommunikation, die im Sinne der Wahrheitsfindung beschworen wird. Die Einlösung des Kommunikations-Ideals wird über die Möglichkeiten neuer Technologien suggeriert. Das Kommunikationsdispositiv erscheint im Zuge der Konstituierung einer globalen, partizipativen Weltgesellschaft als das vernünftigste Instrument. Die Medien haben in ihrer grenzenlosen räumlich-zeitlichen Ausweitung dabei die Rolle der Professionalisierung und gleichzeitig Verhinderung von gesellschaftlicher Kommunikation übernommen. Das Internet reiht sich dabei in die bereits vorhandenen Kommunikationstechnologien ein. Es stellt einen Höhepunkt in der Herausbildung des Kommunikationsdispositivs dar. Trotz der Idee der grenzenlosen Kommunikation abseits hierarchischer Strukturen von „class, race und gender“ ist das Internet weit davon entfernt, diesem Anspruch gerecht werden zu können. Die Anreizungs- und Wissensmacht – unterstützt durch die Kommerzialisierung des Internets – ist stärker als die derzeitigen Bemühungen, das Internet staatlich zu kontrollieren. Die Produktion von Wissen und Wahrheit sowie technische Kontrollsysteme werden weit besser die Funktion der Macht der Disziplinierung und Normierung übernehmen als es das Gesetz je zu erbringen im Stande ist.
Literatur Ang, I. (1991): Desperately Seeking the Audience. London/New York. Baudrillard, J. (1987): Das Andere selbst. Wien.
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Johanna Dorer
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Globalisierung, Gewalt und Identität im Diskurs der westafrikanischen Weltmusik Frank Wittmann
1 Einleitung Populäre Musik spielt in den Cultural Studies schon seit langem eine wichtige Rolle. Vornehmlich in den Studien zur Jugendkultur und zum Postkolonialismus sind musikologische Studien ein nicht zu unterschätzender Bestandteil (Becker 2004: 9).1 Was mit Paul Willis‘ ethnografischer Untersuchung „Profane Culture“ (1978) begann, hat sich in den letzten 25 Jahren zu einem innovativen und prosperierenden Arbeitsfeld entwickelt. Unzählig sind inzwischen die kulturalistischen Studien zur Pop- und Weltmusik. Zu den qualitativ herausragendsten Arbeiten stammen diejenigen von Simon Frith, Lawrence Grossberg, Jocelyne Guilbault oder Richard Middleton. Eine Schwachstelle der Popular Music Studies ist allerdings die forschungspraktische Marginalisierung der afrikanischen Musikkultur. Trotz der Erkenntnis, dass sie „zum wichtigsten Subtext der weltweiten Popkultur“ (Lipsitz 1999: 82) geworden ist, stellt nur eine Minderheit von Forscherinnen und Forscher die afrikanische Musik in den Mittelpunkt ihrer Arbeit.2 Die Mehrheit der Popular Music Studies ist sich zwar der historischen und zeitgenössischen Einflüsse der afrikanischen Musikkultur bewusst, aber für gewöhnlich findet sie bloß im Rahmen des Konzepts der Hybridität Erwähnung. Ein Beispiel: Paul Gilroys zeigt in seinem Buch „The Black Atlantic“, dass kulturelle Identität immer ein Produkt von Austauschprozessen sei. In letzter Konsequenz zieht dieses antiessentialistische Konzept die Erkenntnis nach sich, dass es kein „absolut ethnisches Eigentum“ (1993: 15) mehr gäbe. Dem dritten Kapitel seines Buches weist Gilroy die Funktion zu, die Versatzstücke der kollektiven Erinnerung an den rassistischen Terror in der schwarzen Musik aufzuzeigen. So sehr die gesamte Argumentation auch besticht, so sehr die gewählten Beispiele auch überzeugen, suchen die Leserinnen und Leser von Paul Gilroys Buch vergeblich nach afrikanischen Quellen. Gilroy bezieht sich ausführlich auf Quellen der (afro-)amerikanischen, europäischen und karibischen Diaspora, aber Musik von afrikanischen Gruppen bleibt konsequent ausgespart, obwohl hier Themen wie Ausbeutung, Heimatverlust und Sklavenhandel genauso reflektiert werden wie auf der anderen Seite des Atlantiks.
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Die Vernachlässigung der afrikanischen Musikkultur hat durchaus ihre strukturellen Gründe, da die Cultural Studies ihre Untersuchungen an kulturellen Schnittstellen ansetzen, die von Differenzen geprägt sind. Neben Geschlecht oder Rasse ist dies vor allem die Unterscheidung von E- und U-Kultur. Mag diese Unterscheidung für den Westen zutreffen oder zumindest zugetroffen haben, gibt es auch Kulturkreise, für die diese Dichotomie niemals Gültigkeit hatte3: Die westafrikanische Musikszene zeichnet sich zwar durch eine Vielfalt von traditionell-akustischen und modern-elektronischen Stilen aus, die aber nicht angemessen mit den Kategorien ‚elitär‘ oder ‚unterhaltend‘ bewertet werden können. „Musik wird hier nach den Anlässen kategorisiert, bei denen sie gespielt wird, oder nach Instrumenten, oder Interpreten, nicht aber nach künstlerischem Anspruch oder ästhetischem Niveau“ (Panzacchi 1996: 17). 4 Ausgangspunkt des folgenden Beitrags ist die Feststellung Cornelia Panzacchis, „dass die Welle der engagierten Pop-Musik, entstanden aus dem Strudel von ProtestSong, Flower-Power, politischem Chanson, Liedermachern und Rock-gegen-Rechts […] auch Westafrika überspült hat und sich hier mit der bereits bestehenden Strömung der Gesellschafts- und Individualkritik vermischt hat“ (1996: 66). Mit anderen Worten, diese Politisierung ist das Resultat eines Prozesses, bei dem exogene Faktoren (Globalisierung) auf eine bereits vorhandene Tradition treffen und zu einer Entgrenzung lokaler Spezifika führen. Dieses Phänomen wird von den Cultural Studies als Hybridität bezeichnet und gilt als ein wesentliches Merkmal einer globalen und transnationalen Welt: „Symbole, Zeichen und Ideologien werden aus ihren ursprünglichen Kontexten heraus gelöst und gewinnen in Vermischung mit anderen kulturellen Elementen eine neue Bedeutung“ (Winter 2003: 277). Hieran anknüpfend überprüft der Artikel in einem ersten Schritt Panzacchis Hypothese der Politisierung mit einer Diskursanalyse zum thematischen Spektrum von populären Musikstilen in Westafrika: Welche thematische Ausrichtung pflegen Hip-Hop, Mbalax und Reggae in Côte d‘Ivoire, Gambia und Senegal? Welche Identitäts- und Identifikationspotenziale stellen sie für ihre Zielgruppen bereit? In einem zweiten Schritt soll schließlich nach den Gründen des Befundes gefragt werden: Treffen die genannten indogenen und exogenen Faktoren zu? Lassen sie sich allenfalls spezifizieren?
2 Zum Begriff ‚Weltmusik‘ Die hier behandelten Musikstile werden unter dem Begriff ‚Weltmusik‘ zusammengefasst. Der Begriff ‚Weltmusik‘ ist derart nichts sagend und in seiner homogenisierenden Konnotation irreführend, dass es unter Umständen besser gewesen wäre, ihn gar nicht erst zu kreieren. Trotzdem hat er Eingang in Umgangssprache, Feuilleton und Wissenschaft gefunden. In seiner historischen Entwicklung wurde die Weltmusik als Gegenentwurf zum Mainstream der Pop- und Rockmusik entworfen: „Weltmusik war keine Verkaufskategorie wie jede andere; diese Plattenlabels ver-
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banden eine bestimmte Art des Engagements mit der Musik, mit der sie handelten, und versprachen ihrer Klientel eine bestimmte Erfahrung“ (Frith 2000: 306). Von welcher Art ist aber die hier ausgesprochene Differenz? Da zur Weltmusik die Walliser Alphornbläser genauso gehören wie der nahöstliche Sufi Soul, kann die Differenz nicht geografischer Natur sein. Vielmehr ist sie eine des Authentizitätsanspruchs „zwischen wirklichen und künstlichen Sounds, zwischen dem musikalisch Wahren und dem musikalisch Falschen, zwischen authentischen und nicht authentischen Erfahrungen“ (Frith 2000: 307). Auch wenn der hier formulierte Authentizitätsanspruch für einen Teil des Publikumserfolges mitverantwortlich ist, ist er doch offensichtlich ideologisch gefärbt. Aus diesem Grund schlage ich folgende Definition vor: Weltmusik ist eine lokal bzw. regional identifizierbare und für ein globales Publikum produzierte Musik. Auf diese Weise wird der Begriff in die Nähe der Globalisierung gerückt: „Weltmusik ist unzertrennbar mit einem anderen ähnlich schwer zu definierenden Phänomen unserer Zeit verbunden, der Globalisierung“ (Bohlman 2002: XI). Dies hängt in erster Linie damit zusammen, dass viele Musikstile durch Kommunikations- und Migrationsflüsse aus dem lokalen Kontext gelöst und für die weltweit operierenden Kulturindustrien zugänglich wurden. Zu den Musikindustrien gehören nicht bloß Produktions-, Distributions- und Marketingsystem, sondern auch Kulturjournalismus, Konzertveranstalter, Filmindustrie oder Tourismusbehörden.5 Dieses globale System eines zunehmenden free flow of sounds hat in den letzten 20 Jahren große Absatzmärkte geschaffen und ein ungeahntes Kreativitätspotenzial freigesetzt wie die Entstehung des Reggaeton6 oder des Zouk-Rap zeigen,7 um nur zwei neue karibische Stile zu nennen. Die wichtige Frage betrifft nun aber die Interaktion von musikalischem Wandel und kultureller Identität: „Musikalischer Wandel bedeutet keinen Verlust an kultureller Identität, sondern ist Ausdruck dessen, wie sie [die Identität] sich im Kontext verändert“ (Frith 2000: 312). Aus diesem Grunde bringt der vorliegende Artikel dem Konnex von Globalisierung und kultureller Identität in den Diskursen der westafrikanischen Weltmusik eine besondere Aufmerksamkeit entgegen. Noch einige Bemerkungen zur Methodologie: Musik ist eine komplexe Kommunikationsform, die unter anderem aus instrumentellen, performativen und rhythmischen Aspektes besteht, die weit über die „geringe Macht der Worte“ (Gilroy 1993: 76) hinausgehen. Wenn man sich nun für die textuellen und repräsentativen Aspekte von Musik interessiert, muss diese relative Einseitigkeit im Auge behalten werden.8 Methodologisch gesehen sind Liedtexte den „philologischen Methoden der Textanalyse zugänglich“ (Androutsopoulos 2003: 16), wodurch sie „direkte Bezugnahmen auf die Aktualität und auf weitere gesellschaftliche Diskurse“ (ebd.) ermöglichen. Mit anderen Worten, die diskursanalytische Untersuchung von Musiktexten ist eine interessante Analyseoption, da sie etwas über Gesellschaft und Kultur aussagt. Hinsichtlich des afrikanischen Forschungskontextes mit seinen tausenden von unterschiedlichen Sprachen sind allerdings profunde linguistische Kenntnisse oder zumindest der Zugang zu Übersetzungen fremdsprachiger Texte und eine umfassende Kenntnis der Gesellschaften nötig, um die Lieder kontextualisieren zu können.9
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3 Authentizität in Senegambia Im Laufe der 1990er Jahre hat sich in Gambia und Senegal ein neuer Musikstil durchgesetzt, der die Vorherrschaft der allgegenwärtigen Popmusik Mbalax in Frage stellt: der Hip-Hop.10 Wie für die Weltmusik im Allgemeinen und den nordatlantischen Hip-Hop im Besonderen ist der Anspruch auf Authentizität bzw. Wahrheit ein Zeichen dieser Straßenkultur: „Realness ist ein zentrales Qualitätskriterium der HipHop-Kultur“ (Klein/Friedrich 2003: 7). Was macht aber diesen Anspruch aus? „Die Händler denken, dass Rap bloß Showbiz und Sex ist/Ha, Scheiße, es sind gute Ideen und klare Texte […] Wenn du wahre Musik willst, musst du würdig sein und kämpfen/Schau‘ dir MCs wie Max Crazy und Daddy B. an/Sie schreiben Remixe und geben dir Linderung/Ha, ich nerve dich, ich nerve dich, ich will dich einfach daran erinnern, was du in der Stadt und in der Musik verloren hast.“ (Daddy Bibson, Bou souba 2002)
Der junge Dakarer Rapper Daddy Bibson nennt zwei Kriterien für die Wahrhaftigkeit von Musik: Ein moralisch korrektes Verhalten und aussagekräftige Liedtexte. Entsprechend häufig zeichnen sich senegambische Hip-Hop-Texte durch soziale Relevanz aus: „Alle 5 Jahre fangen die Leute wieder an, ihre Kandidaten für den Wahlkampf herauszuputzen/Die Politik verursacht in den Familien Probleme/Die Kandidaten sagen, ich habe dies getan, ich habe jenes getan/Aber sie haben alle nichts getan/Neu sind bloß die Geräte, die wir kaufen/Aber Fernseher, HiFi-Anlagen und Kühlschränke gehen wegen Stromausfällen kaputt […] Deshalb stehe ich hier, halte mein Mikrophon und treffe tief in dein Herz/Weil ich in Angst, Hunger und Unterdrückung lebe/Wenn‘s dir weh tut, komm‘ her und knall mich ab .“ (Da Fugitivz, Keep Kui Bangh 1999)
Mit sozial-politischem Engagement versuchen die Hip-Hopper – wie hier die gambische Gruppe Da Fugitivz – auf ihre Umwelt einzuwirken. Dies betrifft häufig auch den Bereich des Individualverhaltens, indem die Hip-Hop-Texte zur Verbesserung der Sitten beitragen möchten. Welches Verhalten moralisch akzeptabel bzw. nicht akzeptabel ist, wird im senegalesischen Hip-Hop v.a. in Auseinandersetzung mit dem vorherrschenden Musikstil Mbalax erläutert. In Liedern wie Music bu amoul tiono (2001) von Rap‘Adio oder 100 commentaires (1999) von Iba/Maktar werden Sänger wie Youssou N‘Dour, Coumba Gawlo Seck oder Viviane für die Verwahrlosung der Sitten verantwortlich gemacht. Indem sie in Texten und bei öffentlichen Konzertauftritten einer hedonistischen Lebensweise frönen, würden sie die Sitten der Jugend verderben, sie emotional und mental und damit auch ihre Lebenskonzeptionen verändern: „All das wegen Viviane und Aida Patra/Sie verdrehen ihre Köpfe und ihre Herzen/Du weißt nicht, wie verdorben einige Mbalaxleute sind […] Du bist ein Rapper oder ein Mannequin […] Du hast gemacht, dass alle jungen Leute verdorben sind […] Fast alle Mbalaxleute haben schon mal eine geschwängert.“ (Daddy Bibson, Bou souba 2000)11
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Die Hip-Hopper verurteilen den Mbalax als inhaltlich belanglos, gesellschaftsschädigend und verweichlicht. Inwieweit ist diese Einschätzung zutreffend? Blickt man auf das inhaltliche Spektrum von Mbalaxtexten, fällt auf, dass es von Lobpreis- und Liebesliedern bis zu Liedtexten mit politischen und sozialen Inhalten reicht. Letztgenanntes Genre ist in aller Regel zwar etwas weniger anklagend, direkt und provokativ als im Hip-Hop, aber es finden sich doch eine Vielzahl von Sängern wie Souleymane Faye, Youssou N‘Dour oder Ouza, die sich regelmäßig mit sozial relevanten Themen auseinander setzen. Dies trifft in besonderem Maße auf Omar Pène zu, dessen Popularität vor allem auf seine engagierten Textinhalte zurückgeht. Mit Agresseur (2003) landete er einen grossen Hit. Darin thematisiert er die gesunkene öffentliche Sicherheit sowie das gestiegene Misstrauen, das sich die Bürger Dakars an öffentlichen Plätzen entgegen bringen. Für diese Veränderungen macht Pène die Taschendiebe verantwortlich: „Seine verrückte Liebe für das Geld, gepaart mit einer Faulheit im Wettkampf des Lebens, erleichtern ihm den Diebstahl des Besitzes seines Nächsten.“
In seinem Song begnügt er sich allerdings nicht mit einer Brandmarkung des Fehlverhaltens. Der Mbalaxsänger ruft die Taschendiebe dazu auf, der Kriminalität abzuschwören. Solange sie Diebe seien, würden sie Außenseiter der Gesellschaft bleiben. Omar Pène stellt den Delinquenten also die soziale Anerkennung und Integration in Aussicht, wenn sie vom unrechten Tun ablassen sollten. Mit klugen (naiven?) Ratschlägen versucht er ihnen, den Weg zu weisen: „Als Bürger deines Landes und auf deinem Mutterboden arbeitend, wirst du der Stolz deiner Mitbürger sein […] Zuerst einen Beruf erlernen, der dir einen Posten verschafft und es ermöglicht, für den Unterhalt der Familie aufzukommen.“
Ein weiteres Beispiel ist Youssou N‘Dours Jéebbaane (2003), das diffamatoriche Tendenzen der senegalesischen Gesellschaft brandmarkt. Beim Erfahren eines Unrechts würden sich die Menschen nicht mehr an die dafür zuständigen Justizbehörden wenden, sondern die vermeintlich fehlbare Person in den Massenmedien diffamieren: „Wenn dir ein Unrecht widerfahren ist und sich der Fall trotz deines Bemühens nicht regeln lässt, reiche beim Gericht Klage ein […] Klage niemanden willkürlich an und mache nicht das, was man ‚porter presse‘ nennt.“
Diese Kritik richtet sich zunächst einmal an die Bürger, mit Hilfe der Massenmedien zur Selbstjustiz zu greifen und die vierte Gewalt zu missbrauchen (Wittmann 2003: 166ff.). Die Kritik richtet sich aber auch an die Journalisten. Von den Moderatoren des Privatradios fordert der Text indirekt ein energisches Eingreifen, wenn die Hörer bei den beliebten interaktiven Sendungen live ihre Anliegen berichten und es dabei zu Auswüchsen kommt. Aber auch die reisserischen Boulevardzeitungen wie Frasques, Moeurs oder Révélations bekommen ihr Fett ab. Da sie sich der Suche nach Gerüchten und Skandalen verschrieben haben und in den Redaktionen durch Personalnot ein mangelhaftes Qualitätsbewusstsein Einzug gehalten hat, sind sie dafür anfällig, die erhaltenen Informationen nicht zu überprüfen. Dagegen sollte der Journalist einem seriösen Berichterstattungsmuster verpflichtet sein:
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„Er ist nicht für Geschwätz da. Er informiert die Leute, aber er darf weder etwas hinzufügen noch weglassen.“
Aber auch den Opfern des ‚porter presse‘ kommt eine wichtige Aufgabe zu: „Antworte nicht auf die Provokation. Kümmere dich nicht um sie, sie wollen dich nur aufhalten. Geh‘ deinen Weg.“
N‘Dour versucht die Opfer von Medienkampagnen dafür zu sensibilisieren, kein weiteres Öl in das Feuer zu gießen, da sie so den skandalgierigen Journalisten nur in die Hände spielen würden. Denn diese können mit weiteren Enthüllungen oder Gegendarstellungen den Fall breit treten, in die Länge ziehen und in jeder Ausgabe mit neuen Enthüllungen in der nächsten Woche werben. Dieses Beispiel unterstreicht das Urteil, dass Youssou N‘Dour „ein engagierter Künstler für den Fortschritt ist; er schlägt uns einen Sozialvertrag vor, der sich auf eine kulturelle Charta stützt“ (Sankhare 2002: 11).
4 Selbstkritik im ivorischen Reggae Nach Hip-Hop und Mbalax möchte ich noch auf einen dritten Musikstil zu sprechen kommen, den Reggae. Dabei handelt es sich um einen auf der Karibikinsel Jamaika entwickelten Stil, dessen lange Entstehungsgeschichte in die 1950er Jahre zurückreicht. Reggae ist auf das engste mit den Sound Systems als Vorläufer des modernen DJing verbunden. Clement „Coxsone“ Dodd, Duke Reid und Prince Buster stehen stellvertretend für die Emanzipation der jamaikanischen Populärmusik, die sich von der Adaption des amerikanischen Rythm ‘n‘ Blues und Souls bis hin zur Entwicklung von Ska, Rocksteady und den verschiedenen Reggaestilen wie Roots, Lovers Rock oder Dancehall entwickelte. Es dauerte bis 1971, dass ein Reggae-Song zum ersten Mal den ersten Platz der englischen Hitparade erklomm: Double Barrel von Dave/Ansell Collins. An der globalen Verbreitung hatte aber auch der Film The Harder They Come (1972) mit Jimmy Cliff in der Hauptrolle und den zugehörigen Soundtrack einen grossen Anteil. Zu derselben Zeit gelang es, den Roots Reggae zu kommerzialisieren und die Rastafari-Bewegung aus ihrer Marginalisierung zu befreien. Erst mit dem Rootsstil nahmen die Reggaetexte jene Spiritualität und jenes sozialpolitische Engagement an, das schließlich kein Musiker so glaubwürdig in aller Welt vertreten konnte wie Bob Marley. Auch wenn er der bekannteste Reggaesänger ist und als „godfather of international rock hybrids“ (Santoro 1997: 150) gilt, so ist seine musikgeschichtliche Bedeutung für den Reggae gering: Er „trat irgendwo hinter der Avantgarde auf der Stelle“ (Bradley 2003: 348). Die öffentliche Meinung in aller Welt hat sich nie darum geschert. Mit seiner metaphysischen „Verbindung zwischen dem Afrika vor den ersten Sklavenhändlern und dem postkolonialen Kingston“ (Bradley 2003: 352) gelang es Marley, auch das Publikum in Afrika
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anzusprechen. Roots Reggae erfreut sich seither auf dem afrikanischen Kontinent besonders in Ländern wie Burkina Faso, Côte d‘Ivoire, Gambia, Kenya und Südafrika großer Beliebtheit. Auch heute ist dem Reggae in Afrika noch ein panafrikanistischer und antikolonialistischer Impetus zu eigen. 40 Jahre nach der Unabhängigkeit und 15 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges sind die ökonomischen, politischen und sozialen Missstände in Afrika aber nicht mehr nur auf Kolonialismus und Imperialismus zurückzuführen (Chabal/Daloz 1999). Die ivorischen Reggaesänger Alpha Blondy und Tiken Jah Fakoly entgehen einer anachronistischen und einseitigen Betrachtungsweise, indem sie sich in ihren Liedern für eine multivariante Analyse der Missstände einsetzen. Sie suchen die Gründe für Krisen, Kriege und Katastrophen nicht nur in den Folgen von Sklaverei, Kolonialismus, Entwicklungszusammenarbeit und Globalisierung, sondern ebenfalls in der fehlgeschlagenen und selbstsüchtigen Politik der afrikanischen Eliten: „Ich beharre, ich bestehe, ich unterschreibe/Die Feinde Afrikas/Das sind die Afrikaner.“ (Alpha Bondy, Les Imbéciles 1998) „Meine Herren Präsidenten/Entschuldigen Sie die Störung/Wollen Sie wirklich die Korruption bekämpfen/Ich schlage Ihnen meine Lösung vor/Rechtfertigen Sie zuerst Ihr Vermögen/Rechtfertigen Sie das Vermögen Ihrer Minister/Dann werden Sie unseren Unmut verstehen.“ (Alpha Blondy, La Queue du Diable 1999) „Sagt den Politikern/Unsere Namen aus ihrem Business zu streichen […] Sagt den Händlern der Illusionen/Dass unser Gewissen nicht zu verkaufen ist/Sie sind die Komplizen Babylons/Um uns zu betrügen/Tun sie so, als ob sie uns helfen würden […] Sie legen Feuer, sie fachen es an/Und später kommen sie und spielen die Feuerwehr/Wir haben alles kapiert.“ (Tiken Jah Fakoly, On a tout compris 2002)12
Mit solch provokativen Texten schreiben die urbanen Sänger eine Tradition der Mande-Musik als „Waffe des Widerstands“ (Lee 1988: 18) fort. Bereits vor der jüngsten Krise der Côte d‘Ivoire und ihrer faktischen Landesteilung seit September 2002 hat Alpha Blondy vor ethnischen Argumenten im politischen Diskurs gewarnt: „Das ethnische Argument darf niemals dazu verwendet werden, einen Kandidaten auszuschließen, da es die Côte d‘Ivoire, die wir kennen, in Gefahr bringt, ihr soziales Netz, ihre nationale Einheit“ (Alpha Blondy 2002). Oder in den Worten seines jüngeren Kollegen: „Früher sprach man weder vom Norden noch vom Süden […] Früher sprach man weder von Christen noch von Muslimen/Aber heute haben sie alles kaputt gemacht/Die Armee ist gespalten/Die Studenten sind gespalten/Die Gesellschaft ist gespalten.“ (Tiken Jah Fakoly/Le pays va mal 2002)
Die Kritik richtet sich allerdings nicht bloss an die politische Elite, sondern auch an die ivorische Bevölkerung. In ihrer Lethargie würden sie sich instrumentalisieren und auseinander dividieren lassen sowie bereitwillig den Handlungsweisen und Argumenten der Politiker folgen: „Dummkopf, Dummkopf, die Politiker verarschen dich/ Dummkopf, Dummkopf, öffne die Augen .“ (Alpha Blondy, Lalogo 1998)
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„Man klagt die Weißen an, sich überlegen zu fühlen/Aber hier bei uns läuft‘s schlimm/Regeln wir zuerst unser Verhältnis unter einander.“(Tiken Jah Fakoly, Mangercratie 1996)
Hypokrisie und Lethargie macht Alpha Blondy aber nicht nur auf dem Terrain des Politischen aus, sondern auch in kulturellen und gesellschaftlichen Belangen. Sein Interesse gilt dabei in hohem Masse der Rastafari-Bewegung, der er sich selbst zugehörig fühlt. Dabei handelt es sich um eine synkretische (Jugend-)Kultur- und Befreiungsbewegung, die auf jamaikanische Gründungsväter wie Marcus Garvey oder Leonard Percival Howell zurückgeht. Sie anerkennt den äthiopischen König Haile Selassie als Inkarnation Gottes, als Ras Tafari, und erwartete von ihm, die afrikanische Diaspora zurück nach Afrika zu führen (Bradley 2003; Lee 2000). Als solche hält sie nicht nur für junge Schwarze ein Identitätspotenzial bereit und bietet ihnen eine kulturelle Heimat. Diese Angebote machen die Bewegung aber auch für Menschen anziehend, die der kollektiven Ethik nicht entsprechen: „Du lehnst es ab, zu arbeiten/Du ziehst es vor, dich herumzutreiben/Und wenn man dir Ratschläge geben will/Antwortest du, du seist ein Rasta/Es gibt verlauste Rastas/Es gibt verrückte Rastas/Und es gibt coole Rastas.“ (Rasta poué 1984)
Ex negativo wird deutlich, dass die Rastafari-Ethik aus Werten wie Aufrichtigkeit, Fleiß, Glaube, Mut oder Respekt besteht. Alpha Blondy kämpft gegen die Gefahr an, dass das Rasta-Dasein an inhaltsleeren Symbolen festgemacht wird. „Du musst nicht Gras rauchen, um eine Rasta zu sein/Du musst keine Dreadlocks haben, um ein Rasta zu sein/Du musst nicht schwarz sein, um ein Rasta zu sein.“ (God bless Africa 2002)
In seiner Argumentation sind Erkennungszeichen wie Dreadlocks, Joints und eine schwarze Hautfarbe nur Oberflächlichkeiten. Explizit wendet sich Alpha Blondy gegen den Ausschluss von Menschen aus, die diese Symbole nicht teilen, obwohl ihr Verhalten sie als ‚wahre‘ Rastas ausweist: „Alpha Blondy möchte das Amalgam zwischen seiner Ideologie und gewissen zweifelhaften Praktiken vermeiden, die unter der Rastachiffre eine Legitimation suchen“ (Konaté 1987: 204). Er ist ein politisch und sozial engagierter Künstler, dessen Engagement ihn als moralischen Menschen ausweist und der pädagogisch auf sein Publikum einwirken will. Sei es, dass er zu politischer Partizipation aufruft, sei es, dass er Tendenzen zur Intoleranz und Oberflächlichkeit innerhalb der Rastafari-Kultur ausmacht. Dabei unterzieht der Sänger auch seine eigene Verhaltensweise einer kritischen Prüfung, wie zum Beispiel im selbstironischen Lied Travailler c‘est trop dur (1986).
5 Lobpreis, Empfindsamkeit und Verführung Bisher wurde das Augenmerk auf das soziale und politische Engagement der westafrikanischen Sänger gerichtet. Nicht nur die seit jeher als engagiert geltenden HipHopper und Reggaemusiker sind sozial-politisch aktiv, sondern entgegen aller Polemik auch die Mbalaxsänger. Wie ist es aber mit Lobpreisliedern? Sieht man den
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Liedtextkorpus hinsichtlich dieser Thematik durch, findet sich eine unzählbare Menge von diesem Liedgenre. Kaum ein Sänger oder eine Sängerin preist nicht Gott, Marabouts, Politiker oder vorbildhafte Menschen. Ein bekanntes Mbalaxlied ist Vivianes Baay Senghor (2002), das sie nach dem Tod des ersten Präsidenten Senegals und des ersten schwarzen Mitgliedes der Académie Française, Léopold Sédar Senghor, verfasst hat: „Oh Einsamkeit auf dieser Erde angesichts des Todes dieses Mannes/Senegal aufgelöst in Tränen/Afrika in Fassungslosigkeit […] Die Negritude in totaler Einsamkeit/Léopold aus dem Hause Dior/Stolz der Ethnie Serer/Grund für die Heiterkeit der Senegalesen.“
Ein anderer Ohrwurm wurde zu Ehren Che Guevaras komponiert: „Hier ist jemand, der ein echter Opponent war/Kommandant Che Guevara […] Er liebte sein Land und war bereit, sich für sein Volk zu opfern.“ (N‘Dèye Kassé, Ché Guévara 2003)
Auch im ivorischen Reggae finden sich Lobpreislieder wie zum Beispiel Alpha Blondys Journalistes en danger (1999), bei dem der ermordete Journalist Norbert Zongo aus Burkina Faso besungen wird. In vielen Fällen verbindet sich das Lobpreislied mit dem religiösen Lied, wie es Tiken Jah Fakoly oder Daddy Bibson exemplarisch vorführen: „Kommt mit mir zu Gott Lâ illaha illalah/Lasst uns zu Gott gehen Lâ illaha illalah/Lasst uns zu Gott umkehren Lâ illaha illalah.“ (Tiken Jah Fakoly, Missiri 2002) Überall sehe ich den Namen Gottes […] Ich habe mich an die Worte Moses auf dem Berg Sinai erinnert/Gott, ich möchte dein Angesicht sehen/Ruf das Feuer, oh Mose/Ich beglaubige deine Einheit/Lâ illaha illalah, lâ illaha illalah .“ (Daddy Bibson, Baye 2001)
Die westafrikanische Musiklandschaft besitzt auch ein unendliches Reservoir an Liebesliedern. Alpha Blondy hat mehrmals – so mit Maïmouna (1998) – bewiesen, dass er auch dieses Genre beherrscht. Die Dakarer Hip-Hopper stehen ihm dies bezüglich nicht nach, wobei die Mehrheit ihrer Liebeslieder zum Klagelied tendiert. Positive Black Souls Boul falé (1994) kann als das enigmatische Gründungslied des Seneraps angesehen werden. Es klagt u.a. die Untreue einer jungen Frau an und begründet damit einen Topos, der bereitwillig von FlammJ bis Pacotille reproduziert wird: „Die Frau von heute ist nichts wert/Wegen Geld schmeichelt sie dir, frisst dich auf, wird dein Sklave/Die Zeiten der Liebe sind vorüber/Wenn du nichts hast, wirst du nicht geliebt/Die Mädchen begehren dich nur im Reichtum.“ (FlamJ, Goor et Jiguéne 2001) „Du warst meine Quelle der Eingebung, meine einzige Sorge, mein einziges Ziel […] I‘m sorry, aber ich habe niemals den unendlichen Wert, den du für mich hast, versteckt/Darüber hinaus hast du dich geirrt, den Knoten, der uns verband, zu lösen/Du warst immer nur falsch.“ (Pacotille, Bul saalit 2002).13
Im Mbalax tritt an die Stelle von Anklage, Empfindsamkeit, Wut und manchmal selbst Sexismus eher die Artikulation romantischer Emotionen und sehnsüchtigen Duldens:
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„Ich weiß nicht, was die Wunde in deinem Herzen verursacht hat/Und eine Herzenswunde ist nicht leicht zu heilen/Manchmal höre ich die Schläge ihres Herzens […] In Wahrheit bist du Tag und Nacht für mich […] He du, komm‘ und zeige mir den rechten Weg […] Lieben ist schwer, Lieben ist gut.“ (Youssou N‘Dour, Beugueunte 1994) „Mein Bruder, du, der mich glücklich macht, den ich liebe und mit dem ich mich so gut verstehe – antworte mir/Wenn du eine Person nicht liebst, lass sie nicht leiden.“ (N‘Dèye Kassé, Sa Ndagarwalé 2003)
Darüber hinaus verstehen sich einige Mbalaxsänger wie Mbaye Dièye Faye in Songa Ma (2002) oder Coumba Gawlo Seck in Ma yeur li nga yoor (2002) auf ein gewagtes wie anzügliches Spiel um Liebe und Sexualität: „Kann ich sehen, was du da hast?/Zeig mir, was du verbirgst/Das, was man nicht sehen soll.“ (Coumba Gawlo Seck, Ma yeur li nga yoor 2002)
Das charmante Spiel der Mehrdeutigkeit ist ein Zeichen dafür, dass die Künstlerin eine „Beziehung der Verführung“ mit ihren Hörern unterhält.14 Indem sich der Text um polyseme Wörter dreht, wird die Interpretation dem Publikum überlassen: „Man darf nicht vergessen, dass ich eine Künstlerin bin. […] Im Rahmen meiner Kunst, muss ich mich mit Strategien durchsetzen. […] Es ist richtig, dass es für eine junge Frau nicht selbstverständlich ist, gewisse Sachen zu sagen, weil sie mit zu vielen Vorurteilen behaftet sind. Ich sage nichts Schlechtes oder Schockierendes“ (Seck 2003: 36).
Die gewählte Strategie höhlt bisherige Moralkonventionen aus, ohne direkt mit ihnen in Konfrontation zu gehen. Dieses Spiel ist im Rahmen einer sozialen Entwicklung gesehen, die von einigen Akteuren als bedenklich beurteilt wird: „Die senegalesische Gesellschaft ist heute in einer ‚gefährlichen‘ sexuellen Revolution. Sex verkauft sich“ (Ndoye 2003:147).
6 Hybridität und Transkulturalität Es sollte deutlich geworden sein, dass sich die Texte der drei behandelten populären Musikstile aus demselben thematischen Reservoir speisen. Lobpreis- und Liebeslieder finden sich in Hip-Hop, Mbalax und Reggae genauso wie sozial-politisches Engagement. Auch wenn den verschiedenen Stilen nach wie vor gewisse Spezifika bleiben, hat sich im Verlauf der letzten 10 Jahre die Tendenz zur thematischen Hybridität verstärkt. Aus diesem Grund ist die vom senegalesischen Hip-Hop geführte Mbalaxpolemik kaum haltbar. Einerseits ist einer ganzen Reihe von Mbalaxsängern ein pädagogischer Impetus eigen, andererseits singen auch die ‚harten‘ Rapper gelegentlich gerne ein religiöses Lobpreislied oder einen seichten Liebessong. Neben der thematischen Hybridität hat sich in den letzten Jahren auch die Vermischung der Musikstile verstärkt. Zeichen dafür sind Alpha Blondys Reggaesongs Wari und Zoukefiez moi ça (beide 2002), die mit Versatzstücken aus Hip-Hop und Zouk spielen. Und in Senegambia loten mehrere Gemeinschaftsprojekte die Verträg-
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lichkeit unterschiedlicher Musikstile aus. So haben Pacotille und Baba Maal 2003 das Stück Taxi Bu Rousse aus den Stilen Yéla und Hip-Hop aufgenommen, Viviane und der Kapverdier Philip Monteiro kreierten mit ihrem Duett Amor (2002) den Zouk-Mbalax und Omar Pène schrieb mit L‘An 2000 (1999) die lange Tradition des Salsa-Mbalax fort. Experimente zur Fusion der Jugendkulturbewegungen Set Setal (Mbalax) und Bul faale (HipHop) gibt es unzählige. Das bislang ambitionierteste Unternehmen ist die CD Viviane N‘Dour and friends (2004), auf der Vivane alle neun Lieder im Duett mit einem anderen Rapper singt. Diese in den letzten Jahren zunehmende Hybridität sollte aber nicht den Blick dafür verstellen, dass die Evolution der besprochenen Weltmusikstile nicht ohne die Berücksichtigung des langen Austauschprozesses zwischen Afrika, Amerika und Europa zu begreifen sind: „Die meisten Menschen wissen, dass Jazz, Blues und lateinamerikanische Musik teilweise aus Afrika kommen, aber sie wissen nicht, dass diese Tanzstile nicht nur nach Afrika zurückgetragen wurden, wo sie Eingang in die lokale Musik fanden, sondern dass diese lokalen Mischungen wiederum den Atlantik überquerten.“ (Collins 1992: 286)
Die verschiedenen Formen von Hybridität (instrumentell, rhythmisch, stilistisch oder thematisch) sind nicht ein Merkmal der letzten 15 Jahre, sondern ein Phänomen von longue durée. Dies kann beispielhaft am (Roots) Reggae eingesehen werden, der musikalisch auf karibische Stile wie Calypso, Mento, Rocksteady und Ska und inhaltlich auf das Themeninventar des Gospel und der evangelistischen Predigten Nordamerikas zurückgeht. Die karibischen Stile sind wiederum mit Rythm ‘n‘ Blues und Soul verwandet, die ihre Wurzeln in Afrika haben. Der jamaikanische Reggae hat im Zuge seiner Internationalisierung auch regionale Spezifika aufgenommen. Dazu haben Sänger wie Alpha Blondy (Côte d‘Ivoire), Sonny Okosun (Nigeria), Linton Kwesi Johnson oder UB40 (beide England) beigetragen. Bei Linton Kwesi Johnsons ‚Dub Poetry‘ handelt es sich dabei um einen im jamaikanischen Kreol vorgetragenen Reggae-Rhythmus, „der zwar ausserhalb Jamaikas entstanden ist, aber erst seine echte Wirkung zeigte, als er ‚nach Hause‘ kam“ (Bradley 2003: 381). Dies ist nur ein weiteres Beispiel dafür, dass Reggae wie auch die anderen westafrikanischen Musikstile den „Prozess vielfältiger Interaktion“ (Mattelart 1999: 237) zwischen dem Globalen und dem Lokalen fortschreiben. So verstanden, macht auch der Begriff Weltmusik Sinn. Denn er umgeht „die Gefahr, dass man sich völlig einer deterministischen Konzeption verschreibt, wo das Internationale zum Imperativ wird, während am entgegengesetzten Pol die ausschließliche Begrenzung auf den lokalen Bereich auf kürzestem Weg zum Relativismus führt.“ (Mattelart 1999: 258)
7 Weltmusik zwischen Demokratie und Kriegstrommel Cornelia Panzacchi nennt plausible indogene und exogene Faktoren für die Politisierung der westafrikanischen Musik, der Teil dieser weiter reichenden Hybridität
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ist. Die bereits vorhandene lokale Tradition des Spottliedgenres wird unter Einfluss von sozialpolitischen Tendenzen in der euro-amerikanischen Musik sowie den Erwartungen des kommerziell lukrativen Weltmusikpublikums verstärkt. Meiner Meinung nach lässt sich die Hybridität allerdings nur verstehen, wenn neben diesen bereits genannten Gründen zusätzlich auch der soziale Wandel in Westafrika miteinbezogen wird. Musikalische Inhalte haben ihr kritisches Potenzial nämlich erst dann voll ausschöpfen können, als ihnen ein ausreichend großes und vielfältiges Forum offen stand. Bis Anfang der 1990er Jahre war dies durch das staatliche Informationsmonopol aber gar nicht der Fall. Das Ende des Kalten Krieges und der damit verbundenen polaren Weltordnung wurde in Afrika von einem Demokratisierungsschub abgelöst. Auch wenn sich viele Hoffnungen angesichts der politischen Instabilität (Körner/Mehler 2003) oder der ökonomischen Krise unterdessen zerschlagen haben, haben der öffentliche Politdiskurs und die Liberalisierung der Massenmedien zugenommen. Für die Populärmusik war die Konzessionierung von privaten UKW-Stationen von entscheidender Bedeutung. Seit Länder wie Côte d‘Ivoire, Ghana oder Senegal über ein ansehnliches Radiosenderangebot verfügen, hat sich nicht nur die Quantität der gespielten Musik exponenziell erhöht, sondern auch die Qualität im Sinne einer Pluralisierung. Selbst marginale Musikstile haben ihre Programme und provokative Lieder finden auf Spartensendern eine Plattform. Die Möglichkeit, sich mit Textinhalten direkt an die Bevölkerung zu wenden, hat dazu geführt, dass die Gruppen ihren Inhalten eine erhöhte Aufmerksamkeit entgegen bringen und ihre Musik als alternatives Kommunikationsinstrument nutzen. Die erhöhte gesellschaftliche Relevanz der westafrikanischen Musik führt auf der anderen Seite aber auch zu einer Spirale der Gewalt und Selbstjustiz. Dabei sind die Gewalt von Jugendlichen und die Gewalt von politischen Kreisen zu unterscheiden. Für die Gewalt von politischen Kreisen lassen sich eine ganze Reihe von Beispielen anführen. So haben im Zuge der Unruhen im Herbst 2002 ivorische Sicherheitskräfte dem Haus von Tiken Jah Fakoly einen Besuch abgestattet und sich nach der Anwesenheit des Reggaemusikers erkundigt. Seither lebt er im Exil in Burkina Faso und Mali. Auch Alpha Blondy hat schon mit Morddrohungen leben müssen (Dépry 1999). In Senegal hat die Popularität des Mbalax den Oppositionspolitiker und Generalsekretär der Alliance Jëf-Jël, Talla Sylla, auf die Idee gebracht, seine politischen Inhalte in Form dieses Musikstils der Bevölkerung vorzutragen. In den Präsidentschaftswahlen 2000 hatte Jëf-Jël zwar die Koalition von Abdoulaye Wade unterstützt und zum Fall der 40jährigen Vorherrschaft der Parti Socialiste beigetragen, es aber später als einzige Partei abgelehnt, in die Regierung einzutreten. Seither verfechtet Jëf-Jël einen hartnäckigen Oppositionskurs, wobei Talla Sylla dazu immer wieder die Medien einspannt – beispielsweise durch die Publikation von offenen Briefen in der Dakarer Presse. Im Sommer 2003 brachte er nun eine Kassette mit dem Lied Abal Niou (sinngemäss ‚Mach dich davon‘ oder ‚Entferne dich von dort‘) heraus, die auf den informellen Märkten der Hauptstadt Dakar vertrieben wurde.15 Damit kein Missverständnis über den Adressaten des Liedes aufkommen konnte, war auf dem Cover der Kassette eine Silhouette abgebildet. Zur Umgehung eines Werbeverbotes für Staatspräsidenten, hatte Wades Partei PDS in den Parla-
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mentswahlen 2002 eine Silhouette ihres Parteichefs auf den Werbeplakaten abgebildet. Dieser Zusammenhang machte nun eindeutig erkennbar, wer in dem Lied angesprochen war, ohne dass Talla Sylla seinen politischen Kontrahenten je explizit erwähnt hätte. Kurz Zeit nach Veröffentlichung der skandalösen Kassette, wurde Sylla Opfer eines gewalttätigen Überfalls, bei dem er nur knapp mit dem Leben davonkam. Die Täter schlugen am 5. Oktober 2003 mit Hämmern auf ihr Opfer ein, das gerade aus dem Restaurant Le Régal im Dakarer Stadtteil Fenêtre Mermoz trat. Schaulustige wurden mit Pistolenschüssen vertrieben. Die Gewalt von Jugendlichen ist im Kontext der Straßenkultur zu situieren. Soziologen wie Momar-Coumba Diop und Ousseynou Faye (2002: 700f.) sowie Tshikala Biaya (2000: 28) gelangen einhellig zum Ergebnis, dass die Gewalt in den Straßen afrikanischer Metropolen steigt und sich dies auch in der Musikszene im Allgemeinen und in den Liedtexten im Besonderen wiederspiegelt: „Seit einiger Zeit ist der senegalesische Rap dabei, in eine Phase der Gewalt einzutreten; besonders von Seiten einiger Rapper, aber auch von Seiten Jugendlicher, die sich betroffen fühlen“ (Teuw 2000)16
Der berühmteste Fall betraf die Hip-Hop-Formation WA BMG 44, die in ihren Liedern immer wieder die Trennung von Politik und Religion fordern und damit die Macht der Marabouts anfechten. Im Jahr 2000 trugen die Rapper Verletzungen von einem Überfall davon, deren Urheber im Lager der muslimischen Bruderschaft der Mouriden vermutet werden. Sie reagieren häufig besonders empfindlich auf politische Kritik.
8 Ausblick Diese Beispiele verdeutlichen, dass die Globalisierung zu tief greifenden politischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen in Westafrika geführt hat. An dem Demokratisierungsschub haben die liberalisierten Massenmedien einen wesentlichen Anteil und auch die lokale Musikindustrie konnte von der Politisierung profitieren. Wie die gewalttätigen Überfälle allerdings zeigen, tun sich Teile der politischen Klasse wie auch der Bevölkerung schwer damit, den Gebrauch der Meinungsfreiheit zu tolerieren. Angesichts des Nexus von Globalisierung und Gewalt bringt Tiken Jah Fakoly mit seinem Lied L‘Afrique en a marre (2002) die Stimmung in der westafrikanischen Gesellschaft auf den Punkt.17 Welche Konsequenzen zieht dieser Befund für die Cultural Studies nach sich? Der politische Umbruch von 1989, das Erstarken des Neoliberalismus und die kulturellen Reibungen in der Folge des 11. Septembers 2001 stellen die Cultural Studies vor neue Herausforderungen, da sich ihre Basisdifferenzen geändert haben. So ist der Rassismusdiskurs dabei, sich in Richtung religiöse Zugehörigkeit zu verschieben, und die Dichotomie von E- und U-Kultur ist auf ihre traditionelle Weise nicht mehr haltbar. Um den aktuellen geopolitischen Veränderungen und ihren kulturellen Implikationen Schritt zu halten, fordern die in Paris lehrenden Sozialwissen-
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schaftler Armand Mattelart und Eric Neveu die Cultural Studies auf, die sich „ständig verschiebenden Linien und Grenzen der Disziplinen“ (2003: 109) nicht einfach hinzunehmen, sondern verstärkt die wissenschaftlichen Rekonfigurationen voranzutreiben. Die Cultural Studies sollten sich also nicht mit ihrer steigenden Institutionalisierung zufrieden geben und ihre Basistheoreme endlos wiederholen. Stattdessen gehe es darum, das grundsätzlich nach wie vor geeignete Forschungsinstrumentarium an die kulturellen und sozialen Entwicklungen anzupassen. Um der politischen Aktualität und sozialen Relevanz willen sei die Beschäftigung mit der Globalisierung voranzutreiben. Darunter versteht Mattelart einen internationalen Vernetzungsprozess, der sich zwar seit 1989 verstärkt habe, der aber ein Phänomen der longue durée sei und dem die Wissenschaften mit „einer transnationalen Sicht von Kultur“ (1999: 237) begegnen sollten. In diesem Forschungsbereich kann Mattelart für sich in Anspruch nehmen, gemeinsam mit Wissenschaftlern wie Arjun Appadurai, Roland Robertson oder Immanuel Wallerstein bereits frühzeitig den Boden für zukünftige Studien bereitet zu haben.
Anmerkungen 1
Ich danke Craig Naumann für seine wertvollen Anregungen zu diesem Artikel sowie
Mass N‘Diaye und Khalifa Sidibe für ihre Liedübersetzungen. Von dieser Kritik seien unter anderem Jules Bagalwa-Mapatano (2004); John Collins (1992); Steve Feld (2000) und Timothy D. Taylor (1997) ausdrücklich ausgenommen. 3 Nimmt man die Programme öffentlich-rechtlicher Fernsehanstalten, das Spektrum von Zeitungsfeuilletons oder Theaterspielplänen zum Massstab, kann ernsthafter Weise heute nicht mehr von einer Diskriminierung der Populärkultur in Europa gesprochen werden. 4 Dies ist auch der Grund, weshalb der Begriff ‚populär‘ oder das Präfix ‚Pop-‘ hier nicht als Komplement zu ‚elitär‘ oder ‚klassisch‘ verwendet wird. 5 Das offizielle Jamaika wirbt bereits seit den 1960er Jahren mit der heimischen Musik und die Länder Westafrikas haben spätestens in den 1980er Jahren begonnen, die lokale Musikszene für die Tourismuswerbung einzuspannen. 6 Reggaeton ist eine auf Kuba entstandene Mischung aus den Stilen Reggae, Hip-Hop und Salsa. Die im Augenblick populärste Reggaeton-Gruppe ist Cubanito 20.02. 7 Mit Zouk-Rap ist ein Rap gemeint, der auf Zoukrhythmen gesprochen wird (eine hoffnungsvolle Gruppe ist beispielsweise Dramas). Zouk ist ein auf den Kleinen Antillen entstandener Musikstil und Paartanz, der auch auf den Inseln Kap Verden, La Réunion und Mauritius sowie auf in Brasilien, Côte d‘Ivoire und Guinea-Bissau Eingang gefunden hat. Das weltweit wichtigste Kompositions- und Produktionszentrum liegt in Paris. Weltweite Hits waren beispielsweise Se pa poudar (2002) von Alan Cave oder Zouk-la-se sel medikaman nou ni (1984) von Kassav. 8 Die verschiedenen möglichen Formalobjekte von Musikstudien und die adäquaten methodischen Zugangsweisen sind Gegenstand vieler Publikationen. An dieser Stelle sei vor allem der Sammelband von Clayton et al. (2003) herausgehoben. 9 In Agawu (2003) wird die afrikanistische Ethnomusikologie kritisch hinterfragt. 10 Der Popularitätsgewinn des westafrikanischen Hip-Hops ist weder der Entwicklungszusammenarbeit noch der internationalen Forschungsgemeinschaft verborgen geblieben. Siehe: Auzanneau (2003); Barlet (1999); Benga (2002); Kimminich (2003 und 2004); Havard (2001) und Wittmann (2004). 2
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11 Während Viviane N‘Dour zu den erfolgreichsten Sängerinnen des Landes gehört, ist Aida Patra eine berühmt-berüchtigte Moderatorin des Radiosenders Soxna FM. Ihre Musiksendungen wurden eine Zeit lang live im Fernsehen übertragen und unterdessen ist selbst eine DVD erhältlich. Die beiden Frauen liefern regelmäßig Gesprächsstoff für die lokale Boulevardpresse. 12 Im Jargon der sich auf das Alte Testament berufenden Rastas steht Babylon als Metapher „für die die gottlose abendländische Welt und deren Kultur sowie noch spezieller für jene, die sie konkret durchsetzt – die Polizei“ (Bradley 2003: 69). Babylon ist seit den Anfängen des Reggaes die beliebteste Metapher überhaupt und wurde durch den Hit Rivers of Babylon von den Melodians (1969) bzw. durch die Coverversion von Boney M. (1978) weltweit bekannt. Auch der Widerstand gegen die Polizei ist heute noch aktuell wie Anthony B.‘s Raggasong Police (2002) eindrucksvoll zeigt. 13 In dem gemeinsam mit Viviane gesungenen Duett lässt sich der Hip-Hopper im Refrain von der Mbalaxsängerin trösten. 14 Die Journalistin Saphie K. Ly (Sud Quotidien) in einem unpublizierten Interview mit dem Verfasser im Mai 2003. 15 Die Kassette macht keine Angaben über das Produktionsstudio, den Vertrieb oder die Musiker. Allerdings ist bekannt geworden, dass Angestellte des staatlichen Théâtre National Daniel Sorano musikalisches und technisches Material an Talla Sylla für die Produktion ausgeliehen haben. Sie wurden umgehend entlassen. 16 Das Phänomen eines senegalesischen Gangstarap schliesst nahtlos an den nordamerikanischen Rap an: „Die Mediengeschichte des Rap ist eine durch Gewalt gezeichnete Geschichte“ (Shusterman 2004: 3). Damit ist vor allem an die gewalttägigen Auseinandersetzungen zwischen dem East- und dem Westcoastrap angespielt, die 1996/1997 in den Morden an den Rappern 2Pac und Notorious B.I.G. kulminierten. 17 Übersetzung: Afrika hat genug davon oder Afrika reicht es.
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Ethnografie von Jugendszenen am Beispiel einer Studie zur Welt der Gothics Klaus Neumann-Braun & Axel Schmidt
1 Vorbemerkung Menschen kommunizieren Sinn, indem sie alltägliche Gegenstände und Handlungen in ein komplexes Netz aus funktionalen und semiotischen Bezügen stellen. Bemerkenswert scheinen homonymische Relationen: Warum gilt ‚Hände waschen‘ einmal als instrumentelle Handlung im Dienste der Hygiene und ein anderes Mal als ritueller Vollzug zum Zwecke der Katharsis? Was hat es damit auf sich, dass geometrische Figuren (wie das Kreuz) das Numinose verkörpern? Ohne Genese und Semantik solcher Relationen en detail klären zu können, verweist ihr Vorhandensein zumindest auf eine hierarchische Struktur innerhalb sinnstrukturierter Welten: Neben instrumentellen und kommunikativen Gegenständen und Handlungen, die ihrer selbst Willen vollzogen werden (etwa Holz hacken) oder zum Zwecke der Intersubjektivierung von Alltag (Kommunikation), vermögen magische und rituelle Gegenstände und Praktiken das Hier und Jetzt des Alltags zu transzendieren. Ihr Potenzial, Alltäglichkeit in Außeralltäglichkeit zu überführen, soll im Folgenden den Ansatzpunkt darstellen.
2 Magie und Religion Seit alters her streben Menschen danach, ihrem profanen Dasein einen höhersymbolischen Sinn zu verleihen und ihr Streben und Wollen auf moralische und überindividuelle Letztbegründungen zu stützen. Dies erforderte mehr oder weniger kollektive Muster der Welterklärung und -deutung, die grundsätzlich auf anti-rationalistische Vorstellungen rekurrier(t)en. Solche universellen und zeitlosen Weltanschauungen stell(t)en traditionellerweise religiöse und magische Systeme zur Verfügung. Nach Durkheim (1981) geht mit der Entstehung von Religion die grundsätzliche Unterscheidung von sakralen und profanen Dingen einher. Diese Differenz ist in der absoluten Andersartigkeit dieser beiden Welten begründet, welche für Durkheim vor allem in den Ge- und Verbotsregeln gegenüber dem Heiligen ihren Ausdruck findet
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Klaus Neumann-Braun & Axel Schmidt
(vgl. ebd.: 67). Im Unterschied zur Magie ist Religion auf die Elemente der ‚kollektiven Moral‘ und der ‚kirchlichen Gemeinschaft‘ angewiesen: „Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d.h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugungen und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören.“ (Durkheim 1981: 75)
Ausgehend davon, besteht Durkheims Kernthese in der Auffassung, dass Göttlichkeit als „symbolisch gedachte Gesellschaft“ (1976: 105) zu begreifen ist, die eine komplexere moralische Wirklichkeit besitzt als die einzelnen Individuen. Marcel Mauss (1989) weitet die Differenz zwischen Magie und Religion aus, indem er darauf verweist, dass der magische Ritus – im Gegensatz zum religiösen – nicht nur nicht auf Pflichterfüllung und Unterwerfung gegenüber einer verehrten Gottheit angelegt ist (Opfermotiv), sondern als Versuch der zweckhaften Beeinflussung (Behexungsmotiv) auch immer ‚gegenkulturelle‘ Züge trägt. So setzt Mauss die Magie in Opposition zur Religion: „Diese verschiedenen Zeichen [die Verborgenheit und Abgeschottetheit der Magie; Anm. d. Verf.] drücken in Wirklichkeit nur die Irreligiosität des magischen Ritus aus, er ist anti-religiös und man will, dass er es ist. […] Notwendigkeit, aber nicht moralische Verpflichtung macht sich geltend, wenn auf den Medizinmann, den Besitzer des Fetisches oder des Geistes, den Heilpraktiker oder den Magier zurückgegriffen wird.“ (Mauss 1989: 57)
In der (post-)modernen Kultur spielt diese der Magie traditionell zugewiesene verbotene ‚Nischenrolle‘ eine ebenso große Bedeutung wie der Umstand ihrer Unabhängigkeit von moralisch verpflichtenden Deutungssystemen. Die damit einhergehende Möglichkeit individueller und fakultativer (im Gegensatz zu obligatorischer) Ausgestaltung und ‚Anwendung‘ verweist auf das der Magie inhärente Potenzial, Individuen (spirituelle) Wirkmächtigkeit zu verleihen. Während magische Systeme erweiterbar, offen für neue Einflüsse und individuell flexibel ‚verwendbar‘ sind, stellen religiöse Systeme absolute Ansprüche: Sie standen immer schon und stehen auch heute noch mit allen anderen Formen transzendenter Erklärungssysteme in Konkurrenz um die herrschende, ‚richtige‘ Weltdeutung. Die Machtverhältnisse waren dabei klar abgesteckt: Historisch verdrängten bzw. unterdrückten institutionalisierte und kollektiv verpflichtende Deutungssysteme magische Praktiken und Erklärungsmuster (was sich in Begriffen wie ‚Hexerei‘, ‚Ketzerei‘, ‚Heidentum‘, ‚Häresie‘, ‚Blasphemie‘ etc. manifestierte). Im Zuge der Kanonisierung, Kodifizierung und Institutionalisierung religiösen Sinns entstand ein professionalisiertes Personal (Priester, Pfarrer) für Glaubens- und Weltdeutungsfragen. Der Gläubige wurde zum Laien und war auf den vermittelnden Experten angewiesen, um Zugang zur herrschenden religiösen Wahrheit zu erhalten.
Ethnografie von Jugendszenen am Beispiel einer Studie zur Welt der Gothics
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3 Ent-Zauberung und Wieder-Verzauberung Dass sich die Verteidigung und Aufrechterhaltung eines solchen (Welt-)Deutungsmonopols historisch alles andere als unproblematisch gestaltete, spätestens seit der Epoche der Aufklärung ins Wanken geriet und schließlich im Zuge der Moderne vollends zusammenbrach, ist als Säkularisierungsprozess hinlänglich beschrieben worden. Beides – die Konkurrenz durch weltlich-diesseitige Deutungssysteme (etwa: politische und philosophische Ideologien, wissenschaftliche Welterklärungen etc.), die nun gleichberechtigt mit religiösen Systemen um die Vorherrschaft auf dem Markt der Sinngebote wetteiferten und die Individuen, die nun eine Wahl zwischen alternativen Deutungssystemen hatten – nährte einen Prozess zunehmender Rationalisierung und Entzauberung, der auch vor der (christlichen) Religion nicht Halt machte. Angesichts der Durchsetzung und Vorherrschaft rationaler, auf die diesseitige Lebensführung zielender Elemente in der christlichen Religion selbst, diagnostizierte Weber insgesamt eine Verdiesseitigung und Individualisierung der Religion (v.a. im Protestantismus) im Zuge eines weltgeschichtlichen Rationalisierungsprozesses (im Okzident), der innerreligiös zu einem Abbau der Magie und einer Entzauberung religiöser Heilssuche führt (vgl. Weber 1991). Weltgeschichtliche und innerreligiöse Entzauberung führ(t)en dazu, dass sich Formen diffuser Religiosität bzw. unsichtbarer Religion (Luckmann 1991) verbreite(te)n. Und nicht nur das: Im Zuge eines solchen weltgeschichtlichen Rationalisierungsprozesses, dessen ‚Kollateralschäden‘ unter Stichworten wie „Entzauberung der Welt“ (Weber 1991), „Kolonialisierung der Lebenswelt“ (Habermas 1981) oder „Dialektik der Aufklärung“ (Adorno/Horkheimer 1985) ihren modernisierungskritischen Ausdruck finden, entsteht das Bedürfnis nach ‚Wiederverzauberung‘ oder Resakralisierung (post-)modernen Lebens. Damit zusammenhängende Sehnsüchte und Suchbewegungen nach (Ur-)Gemeinschaften (‚Retribalisierung‘), nach kollektiver Sicherheit und universellen Werten sind ihrer Tendenz nach ‚rückwärtsgewandt‘, also ‚entmodernisierend‘ bzw. gegenmodern. Sie spiegeln symptomatisch das Dilemma wider, das allen Versuchen anhaftet, in modernisierten, sich auf die Individualität des Einzelnen stützenden Lebenszusammenhängen, ‚vormoderne‘ Ordnungsformen wiederherzustellen. Soll heißen: Der historische Prozess ist irreversibel, und alle gegenmodernen Lebens- bzw. Vergemeinschaftungsformen müssen einen enorm hohen Aufwand betreiben, um sich als abgegrenzte Einheit in einer (post-)modernen Umwelt behaupten zu können. Das heißt auch: Alle prinzipiell rückwärts gerichteten Suchbewegungen erfordern notwendigerweise reflexive Wahl- und Entscheidungsprozesse und bedürfen deshalb eines aktiven Wieder-Herstellungsprozesses durch den Einzelnen, da der ‚natürliche Urzustand‘ unwiederbringlich verloren ist bzw. sowieso bloß als Mythos existiert. Als paradoxe Grundfigur (post-)moderner Suchbewegungen lässt sich ein doppelter Widerspruch festhalten: Die zunehmende Inkongruenz von gruppen- und/oder individuumsspezifischen
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Deutungsmustern und Lebensstilen mit gesamtgesellschaftlichen Anforderungen und Funktionszuschreibungen einerseits sowie das Zurückgeworfen-Sein des Einzelnen auf sich selbst innerhalb seiner Suche nach umfassenderen, die moderne Gesellschaft transzendierenden Weltdeutungen und Sinnhorizonten andererseits. Beide Suchbewegungen – Wiedervergemeinschaftung und -verzauberung – können also als Reaktionen auf die Auflösung religiös fundierter Großkollektive begriffen werden, was es mit sich bringt, dass Restituierungsprozesse nicht gesamtgesellschaftlich erfolgen (können), sondern sich gruppenspezifisch ereignen. Der dadurch in Gang gesetzte Wertepluralismus (kulturpessimistisch: Sinnkrise) produziert vielfältige, i.w.S. auf Religion rekurrierende Bewältigungsformen.
4 Schaffung magischer Spielräume durch (Körper-)Ästhetik und Stil Das Phänomen ‚Gothic‘ kann als eine Spielart (post-)moderner Bemühungen um Wieder-Verzauberung und -Vergemeinschaftung angesehen werden. Dies manifestiert sich im subkulturellen Stil der Szene. Subkulturelle Stile können verstanden werden als eine intensive (die Zeichen sind auffällig und u.U. irreversibel, etwa Tattoos) und extensive (sie umfasst nahezu das gesamte Alltagsleben) sowie absichtvoll gegenkulturelle Ausdrucksform. Stil konstituiert hier eine Kultur, eine eigene Welt und ist damit mehr als Mode; insofern lässt sich behaupten, dass die subkulturelle Ästhetisierung und Stilisierung des Körpers Hand in Hand geht mit einem Lebensgefühl, das dadurch seinen Ausdruck findet, gewissermaßen im Stil verobjektiviert wird. Obwohl dem Gothic-Stil daher die Funktion zukommt, auf eine bestimmte Innerlichkeit und Disposivität zu verweisen, entpuppt sich dieses vermeintlich Bestimmte jedoch als ein diffuser Spielraum: Oft spielt es keine Rolle, welche konkrete Einstellung die einzelnen Szenemitglieder zu einem Thema haben, ob sie an etwas Bestimmtes glauben oder nicht, in welchem Ausmaß sie ihr Leben und ihren Alltag danach ausrichten, sondern vielmehr, dass sie sich überhaupt damit befassen und eine möglichst originelle, abseitige und individuelle Sicht und ‚authentisch‘ daran geknüpfte Ausdrucksformen entwickeln. Die häufig erwähnte, werthaltige Kategorie des Inhalts scheint synonymisch für ‚Religion‘ bzw. für alle kulturellen Hervorbringungen zu stehen, die sich auf mittlere und v.a. ‚große Transzendenzen‘ beziehen lassen (u.a. etwa Psychologie (Intersubjektivität), Psychoanalyse (Träume, Unterbewusstes), Esoterik (Übersinnliches, Metaphysisches) etc.). Da Religion die kulturell überlieferte prototypische Form der Prozessierung transzendenter Fragen darstellt, steht sie zunächst in ihrer rein formalen Funktion, nämlich Angebote für die Vermittlung von Transzendenz und Immanenz zur Verfügung zu stellen, in der Szene im Vordergrund. Einheitsstiftend ist also zunächst die Tatsache, dass man sich überhaupt mit Religion und Lebenssinnfragen auseinandersetzt und weiterhin der Umstand, dass dies in offener, nicht verpflichtender Weise geschieht. Inhaltlich enggeführt wird die Bezugnahme auf Religion allerdings durch die spezifische Symbolpolitik der Szene, die – grob
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gesprochen – oppositionell-gegenkulturelle Tendenzen vornehmlich in ästhetischstilistischer Art und Weise zum Ausdruck bringt. So kann die eigentümliche Verquickung traditioneller, religiös aufgeladener Symbole (etwa das christliche Kreuz) bzw. Sinnfragmente epochaler Deutungssysteme (etwa die Betonung des subjektiven Gefühlserlebnisses der Romantik) mit tabuisierten und/oder gesellschaftlich verpönten und/oder Angst besetzten Sinnbereichen andererseits (etwa Pornografie/Fetischismus/Perversion, Tod, Satanismus/Okkultismus/Opferritualismus, als gefährlich und destruktiv geltende Kulte (etwa Voodoo, Hexenzauber und sonstige magischokkulte Praktiken naturreligiöser oder heidnischer Glaubensrichtungen) etc.) als das durchgehende Merkmal des Phänomens ‚Gothic‘ begriffen werden. Kurz: Dass sich die Szene trotz ihrer betonten Offenheit und Wertschätzung der Individualität jedes Einzelnen als Einheit verstehen kann, ist sichergestellt durch die Spezifität ihrer Symbolpolitik, die Ausdruck der Aufeinanderbezogenheit von grundlegender Andersartigkeit und Tiefsinnigkeit ist. Entscheidend und hoch geschätzt in der Szene sind dem zu Folge nicht festgefügte, ‚stimmige‘ oder quasi-dogmatische Deutungssysteme und Ideologien, sondern vielmehr konsistente und ‚authentische‘ Lebenswege, die die intensive und zweifelnde Suche eines Einzelnen jenseits des gesellschaftlichen ‚Mainstreams‘ zu dokumentieren vermögen. Zu diesem Zweck werden i.w.S. religiöse Inhalte und Elemente verschiedener Glaubenssysteme in eklektizistischer Manier re-de-kombiniert; Resultat sind mehr oder weniger ideosynkratische Synkretismen und Religions-Bricolagen. Die schwarze Szene bewegt sich dem zu Folge in einer der Postmoderne zugeschriebenen Paradoxie, nämlich in einer ‚Gemeinschaft von Individualisten‘. Verschiedenheit als Einheitsprinzip zu etablieren, erzeugt das Problem, in der Verschiedenheit etwas Einheitsstiftendes zu erhalten, was jedoch die regulative Idee der Individualität wiederum nicht zerstört. Diese Aufgabe übernehmen inhaltlich nicht konkretisierbare Rahmensetzungen (einer der Interviewten formulierte: ‚Oberflächlichkeit ist ein Tabu‘), die jeweils individuell ausagiert werden (etwa über Selbstverwirklichungs- und -thematisierungsprozesse). Auf diese Weise ist ein einheitlicher Rahmen geschaffen, der über den Stil angezeigt wird und der einer je individuellen Füllung anheim gestellt ist. Formen von Religiosität in der Gothic-Szene sind untrennbar verbunden mit einer umfassenden Ästhetisierung, stilistischen Überformung und popmusikalischem Ausdruck. Die Vordergründigkeit einer hoch spezialisierten und distinktiven Symbolpolitik bringt es mit sich, dass ‚Gothic‘ also gerade keine ‚unsichtbare‘ (i.S.v. beobachtbar), sondern eher eine höchst sichtbare, geradezu hyperpräsente (i.S.v. augenfällig, evident) Form von Religiosität etabliert. Dies bedeutet zunächst, dass eine Verlagerung von Inhalten (z.B. bestimmte Glaubenssätze und -lehren) auf die Oberfläche bzw. den Stil stattfindet: Als Kollektiv einheitlich – und damit gemeinschaftsstiftend – erweist sich zunächst also nicht der spezifische Inhalt, sondern die Form bzw. der Stil, der prinzipiell damit als Super-Zeichen fungiert und darauf verweist, dass die Szene und ihre Mitglieder sich mit ‚Inhalten‘ (verstanden als normative Kategorie) beschäftigen. Die Verschiebung der religiösen ‚Botschaft‘ auf
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gegenkulturelle Objektivationen, kurz: auf den subkulturellen Stil der Szene erzeugt eine enorme Polysemie und damit einen Spielraum für mannigfache Fantasien und Identifikationen rund um das mehr oder weniger ‚düster konnotierte Transzendente‘.
5 Gotische Inszenierung des Magischen Schaut man sich die Szene und ihre Mitglieder heute an, so erscheint die typische schwarze Ästhetik als Abschreckung und Einladung zugleich: Kultisch-romantischen Stilen steht die Mehrheit der heutigen Jugendlichen eher ablehnend gegenüber; diese bevorzugt sportlich lässige Kleidung und gibt sich pragmatisch bis karrierebewusst (vgl. Zinnecker et al. 2002). Die demonstrative Zur-Schau-Stellung von Andersartigkeit, die Hyperpräsenz von religiösen, magischen und kultischen Verweisen und die damit aufgerufenen ‚großen Transzendenzen‘ in der Gothic-Szene (er)scheinen wie eine sperrige Tür in eine andere, sakralisierte Welt, die die Szenemitglieder als stilisierte Figuren selbst mit Leben füllen. Eine Typologie der schwarzen Bekleidung zeigt, dass die Gothics magische Zeitreisen im Crossover unternehmen: Zu finden ist die „Historische Retrofigur“ (Typus Ritter), die „Kinder der Nacht“ (Typus Hexe, Magier, Vampir), die „Dark Wave“-Anhänger (Elemente: Schwarz, Leder, Lack) sowie die „Cyberpunks“ (Elemente: Future-and-UtilityLook, aber auch SM). Alle Typen existieren nicht nur in Reinform sondern in den verschiedensten Crossover-Formen (zu einer Typologie der Kleidungsstile vgl. Schmidt/Janalik 2001; für Bildbeispiele siehe Neumann-Braun/Richard/Schmidt 2003). Im Unterschied zu anderen jugendkulturellen Stilen wie Heavy Metal, die sich auch mit magischen Symbolen umgeben, findet bei den Gothics ein sehr differenzierter Umgang mit den Verbildlichungen der Magie statt, die nicht nur der Provokation dienen. Die magischen und okkulten Praxen sind deshalb attraktiv, weil sie mit einer anderen Zeit und Zivilisationsstufe verbunden sind, die Vergangenheit enthält das uneinlösbare Versprechen zwischenmenschlicher Harmonie und Wärme. Ihre magisch-theatralische Inszenierung ist eine Transzendierung des Alltäglichen, die auf der Erzeugung von Bildern und Tableaus beruht. Über die Kleidung und somit den Körper wird ein magisches Element als Störfaktor in den rational durchorganisierten Alltag implementiert. Die magische Aufladung des Alltags entspringt dem elitären Bewusstsein, mit dem Geheimwissen über Tod und Magie einen Einblick in die dunklen Seiten des Lebens zu haben, den man anderen voraushat. Seit den 1980er Jahren halten sich die Gothics für eine Elite, die als einzige gegen die soziale Verdrängung des Todes arbeitet und unerfüllte Liebe, Schmerz, Einsamkeit und Tod akzeptiert und nicht nur – wie eben in ihren Augen alle Nicht-Schwarzen – das Schöne und Bunte im Auge hat. Die schwarzen Gegenwelten – historisch, magisch (märchenhaft) und technoid –, sind in ihren unterschiedlichen Modellen bis ins Detail ausgestaltet. Die magische Oberflächenästhetik bildet eine hermetische
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Grenze, die in einem Spannungsverhältnis zur postulierten gotisch-tiefgehenden Nachdenklichkeit steht.
5 Das Lebensgefühl ‚Gothic‘ – die Frage nach dem Sinn des Lebens Die Gothic-Kultur zeichnet sich ganz offensichtlich im Vergleich zu anderen Jugendszenen v.a. dadurch aus, dass sie eine Beschäftigung mit (Lebens-)Sinn- und Transzendenzfragen, im weitesten Sinne also eine Auseinandersetzung mit religiösen Fragen, explizit in den thematischen Fokus stellt. Sowohl zentrale Überzeugungen und Distinktionsbemühungen als auch typische Handlungspraktiken und stilistisch-ästhetische Inszenierungsformen sind grundsätzlich auf solche Fragen bezogen bzw. an ihnen ausgerichtet. Insbesondere eine Analyse der Selbstauskünfte über die in der Szene verbreiteten Glaubensvorstellungen vermag einen Einblick in die spezifische Form der Religiosität, die in der Szene vorherrscht, anzudeuten. Bei dieser handelt es sich nicht um festgefügte Formen von Religion, Sektenglaube oder politischer Ideologie i.e.S. (etwa Satanismus), sondern eben um eine spezifische Disposition zur Auseinandersetzung mit tiefgründigen religiösen Fragen und Themen. Wie oben bereits angedeutet kulminieren zentrale Überzeugungen und Wertvorstellungen in einem spezifischen Lebensgefühl, das die schwarze Szene auszeichnet. Dieses sehr spezielle Lebensgefühl der Szene drückt sich in einer eigenen Sicht auf die Welt und einer daraus resultierenden andersartigen Aneignung von Welt aus. Großer Wert wird auf den Umstand gelegt, dass die Welt ‚anders‘ als von den meisten Menschen, sprich von der ,Normalgesellschaft‘, wahrgenommen wird. Diese andere Wahrnehmung wird als eine tiefgründige Auseinandersetzung mit dem Leben bzw. mit Lebenssinn und einer Sensibilität für Details beschrieben. Das ‚schwarze‘ Deutungssystem steht für eine ‚andere Welt‘ („einen Kosmos, in den man eintauchen kann“, wie es einer der Interviewten formulierte), die es auf Grund ihrer besonderen Qualitäten (Erweiterung, Entgrenzung, Sensibilisierung für Details) möglich macht, das Leben bewusster wahrnehmen können (d.h. „wirklich zu leben“ – wie es einer der Interviewten ausdrückte). Diese Bewusstmachung von Wahrnehmung und Erleben wird ohne bewusstseinsverändernde Mittel (z.B. Drogen) erlangt. Sie wird ‚erspürt‘ durch Nachdenklichkeit, Zweifeln, Grübeln, (Tag-)Träumen und Traurigsein. Von Grufties, die sich darauf nicht einlassen resp. ihr Lebensgefühl nur oberflächlich zur Schau stellen (d.h. mittels Mode und Stil), distanziert man sich in der Szene: Sie werden als unauthentisch empfunden. Die in den Interviews häufig wiederkehrende Betonung des Gefühlserlebens verweist auf die Bedeutsamkeit affektiver Weltaneignung und lässt Gefühle zu einer werthaltigen Kategorie und zu einem Maßstab in der Szene werden: Die Welt kann nur bewusst wahrgenommen werden, wenn sie (auch) gefühlt wird. Diese Versinnlichung des Lebens spiegelt sich etwa in der Beschäftigung mit schöngeistigen Errungenschaften der Zivilisation (z.B. Geschichte, Kunst, Ästhetik) aber auch in der zentralen Stellung, die der Musik in der Szene zukommt, wider. Die Sensibilität der Umwelt
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gegenüber führt auch dazu, dass gesellschaftliche Haltungen und Muster nicht kritiklos übernommen werden. Häufig äußert sich dies in komplexen Vorstellungen und Alltagstheorien, welche sich auf transzendente Fragen beziehen (oft genuin religiöse Fragen, wie ‚Wer bin ich?‘, Wo komme ich her?‘ und ‚Wo gehe ich hin?‘). Exemplarisch hierfür steht die dialektische Vorstellung, dass Glück und Unglück bzw. Leid/Schmerz und Glück eng miteinander verwoben sind und nur als zwei Seiten einer Medaille begreifbar sind. So lehnen die Szenemitglieder den in der ,Normalgesellschaft‘ vorherrschenden naiven Optimismus und die damit einhergehende Oberflächlichkeit der ‚Spaßgesellschaft‘ ab und sehen bzw. betonen die ‚dunklen Seiten‘ im Leben (z.B. Schmerz, Einsamkeit, Tod). Dabei stellen sie sich – so die Selbstwahrnehmung vieler Szenemitglieder – schutzlos schrecklichen Ereignissen und entlarven Tabus. Sie stilisieren sich bisweilen zu einer gesellschaftlichen Instanz, welcher auf Grund des offenen und ehrlichen Umgangs mit sich und der Welt aufklärerisches Potenzial zukommt. Dieses Ideal eines gesellschaftskritischen Blicks hebt den Gothic als ein autonomes Subjekt mit einer eigenen Handlungs- und Beurteilungsautonomie hervor. Die Einsicht in (dialektische) Weltgesetze und die daraus resultierende kritische wie holistische Aneignung von Welt (im Gegensatz zur ,Normalgesellschaft‘) bedeutet eine (angestrebte) Entideologisierung vorgegebener (gesellschaftlicher) Weisen der Welterzeugung. Ihre spezifischen Haltungen und Weltdeutungsmuster sehen die Gothics in einem eigenständigen ‚schwarzen‘ Kosmos verdichtet, der sie von der (begrenzten) ,Normalgesellschaft‘ distinguiert. Diese kohärente ‚Welt der Gothics‘ stützt sich auf den immer wieder aufgerufenen und nebulös umschriebenen Begriff des Inhalts als Eigenwert (s.o.). Was den szenespezifischen Inhalt ausmacht, wird in den meisten Interviews nur vage umschrieben. Verwiesen wird häufig auf szenespezifische Gestimmtheiten, die sich der Artikulation entziehen, da sie auf einer nicht artikulierbaren Gefühlsebene anzusiedeln sind. Ein solcher Inhalt wird nur für Personen spürbar, die wissen, was damit gemeint ist – zugänglich eben nur für Eingeweihte. In diesem elitären Denken spiegelt sich der Mythos der Seelenverwandtschaft wider, welcher häufig bemüht wird, wenn eine quasi-natürliche Affinität der Mitglieder zu ihrer Szene beschworen wird. Dieses holistische Gefühl rangiert auf einer Ebene, die jeder Rationalität und Analytik entzogen ist. Ein solcher Kosmos entfaltet lebensweltartige Züge und spendet damit Geborgenheit, Aufgehobenheit und Zugehörigkeit – Dinge, die in der Gesellschaft schmerzlich vermisst werden. Analog zum ‚Gothic-Kosmos‘ muss auch die szenetypische Ästhetik einem Bild von Konsistenz und Ganzheitlichkeit genügen. Dieser umfassende Ästhetikanspruch evoziert eine spezifische ‚schwarze‘ Atmosphäre im Szeneleben, die – umgekehrt betrachtet – einen wesentlicher Bestandteil des ‚schwarzen Kosmos‘ darstellt und zugleich Ausdrucksebene des spezifischen Lebensgefühls ist. ‚Schwarz‘ fungiert nicht nur als Farbe, sondern vielmehr als Leitmotiv, das in vielfältiger Weise mit Bedeutungen versehen werden kann. Gerade an der Art und Weise des Umgangs mit Selbstinszenierung und Mode wird immer wieder die Frage der Authentizität virulent. Eine Faszination, die die Szene ausübt, ist die Möglichkeit, aus der Gesellschaft auszubrechen und zu experi-
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mentieren, aber trotzdem sein Alltagsleben bewältigen zu können. Das Szeneleben steht nicht im Widerspruch zu einer (Berufs-)Karriere bzw. zum ‚Restleben‘ (wie z.B. bei den Punks). Vielmehr existiert ein Nebeneinander von Szeneleben und Alltagsleben, was dazu führt, dass das Leben der Grufties in eine Öffentlichkeit – respektive das Szeneleben – und eine Privatheit – respektive das Alltagsleben – geteilt wird. Der Trennung von Öffentlichkeit (Szene) und Privatheit (Alltag) wird von einem Interviewten eine kompensatorische, regenerierende und therapeutische Funktion zugeschrieben. Im Szeneleben können unartikulierbare und diffuse Gefühle, die im Alltag anfallen, transformiert und verarbeitet werden. Der Szene wird damit eine gesellschaftsstabilisierende Funktion zuteil. Es wird ein auf Integration basierendes, harmonisches und konstruktives Bild von ihr entworfen. Das ‚AbstandSchaffen‘ zum Alltag – mit seinen teilweise gesellschaftlich abweichenden Denkmustern – birgt kein revolutionäres Potenzial in sich. Es wird vielmehr betont, dass die Szene nicht auf Gesellschaftsveränderung angelegt ist, auch wenn dies durch das äußere Auftreten nahe gelegt zu werden scheint. Die Grufties wollen zwar – wie z.B. die Punks – auffallen, aber mit Stil! Denn trotz ihres provokativen Aussehens haben die Gothics ein starkes Bedürfnis nach Harmonie, Nichtausgrenzung und Toleranz. Sie wollen in ihrer Andersartigkeit – die für sie ihre Berechtigung hat – akzeptiert werden. Obwohl die Szenemitglieder also nicht gegenkulturell agieren, sondern gewissermaßen ‚zwei Leben führen‘, kommt es dennoch zu Diskrepanzen und Brüchen im Übergang zwischen Alltags- und Szeneleben. Der Wechsel vom Szeneleben ins Alltagsleben und umgekehrt verläuft also nicht bruch- und reibungslos. Je nach Grad der persönlichen Involviertheit in die Szene besteht die Tendenz, das Szeneleben in den Alltag hineinzutragen. Die Verschränkung von Szeneleben und Alltag bedeutet für die meisten Gothics eine Gratwanderung, die einerseits darin besteht, gerade soviel ihres ,Gothic-Seins‘ in den Alltag hinein zu tragen, dass dadurch keine weit reichenden negativen Konsequenzen entstehen bzw. andererseits – diesmal aus der Perspektive der Szene betrachtet – sich eben soviel ihres ,Gothic-Seins‘ – auch im Alltag – zu bewahren, dass sie in der Szenegemeinschaft als authentische Mitglieder bestehen können. So ist es eine typische Handlungspraxis in der schwarzen Szene, subtil-temporäre aber auch weit reichendere Strategien zu entwickeln, um seine Szeneanhängerschaft mit einem ,normalen‘ gesellschaftlichen Status in Einklang zu bringen (das können kurzfristige, das Äußere betreffende Veränderungen sein, aber auch weitreichendere, wie die Entscheidung für einen bestimmten Beruf).
6 Methodische Wege der Szeneethnografie Solche Erkenntnisse über die stilistischen und ästhetischen Praxen einer JugendSzene – hier: der Gothic-Szene und die Vergemeinschaftungsformen, Weltanschauungen, Selbstdeutungen und vor allem aber auch das Lebensgefühl der Szenemitglieder können nur in einer umfassend angelegten ethnografisch orientierten Feldstudie gewonnen werden. Um vor allem auch die Fragen nach den Organisations- und
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Vergemeinschaftungsstrukturen der Szene sowie dem kollektiven Szenehabitus bzw. der ‚Sinnfigur‘ des Phänomens ‚Gothic‘ zu beantworten, stützt sich unsere Studie über die Welt der Gothics (Schmidt/Neumann-Braun 2004), deren Anlage im Folgenden skizziert werden soll, auf einen i.w.S. szeneethnografischen Ansatz, dessen Wurzeln bei den jugendsubkulturellen Arbeiten der so genannten Cultural Studies liegen und der zum heutigen Zeitpunkt eine große Verbreitung in den Sozialwissenschaften erfahren hat (vgl. Eckert/Reis/Wetzstein 2000; Hitzler/Bucher/Niederbacher 2001). Als grundlegend für diese Herangehensweise seien die folgenden zentralen Aspekte genannt: Als erstes gilt es auf die Orientierung an den Grundprinzipien interpretativer Sozialforschung einzugehen: Sozialwissenschaftliche Gegenstandsbereiche sind sinnstrukturiert, d.h. ihre Konstitution erfolgt durch handelnde Subjekte, die in Interaktionsprozessen Sinn(-zusammenhänge) herstellen. Dem zu Folge gilt (Fremd-)Verstehen bzw. die Rekonstruktion solcher Sinnkonstitutionsprozesse als grundlegendes Erkenntnisprinzip. Ausgangspunkt ist damit die Fallrekonstruktion, die auf Texte in Form von empirischem Datenmaterial rekurriert und auf deren Grundlage eine idiografische Erfassung des Gegenstandes sowie die Bildung von Typen angestrebt wird. Je nach Erklärungsanspruch des jeweiligen Ansatzes stehen entweder das Nachvollziehen subjektiv gemeinten Sinns (Erklärung durch Verstehen von Handlungsmotiven in einem je spezifisch-kulturellen Kontext) oder die Rekonstruktion einer Fallgesetzlichkeit (Erklären durch den Rekurs auf ‚objektive‘ Sinnstrukturen) im Vordergrund. Zweitens ist die Methode der Ethnografie die leitende Forschungshaltung. Ethnografische Ansätze setzen sich zum Ziel, Daten vor dem Hintergrund kultureller Strukturen zu interpretieren bzw. anhand von Daten kulturelle Strukturen zu rekonstruieren. Handlungs- und kulturtheoretische Ansätze sind darauf angelegt, sich solchen „Konstruktionen ersten Grades“ (Schütz) in einer verstehenden Haltung zu nähern. Eine solche Haltung lässt sich im Programm einer „Befremdung der eigenen Kultur“, wie es von Hirschhauer/Amann (1997) formuliert wurde, sehen. Erkenntnisstil ist das Entdecken ‚fremder‘ Lebenswelten (hier: Jugendszenen) in der eigenen Gesellschaft. Szenen werden als Interaktionsgeflechte sowie Orte geteilter Orientierungen und Stile definiert. Methodisch gewendet muss ihnen dadurch der Status fremder Teilkulturen innerhalb der eigenen pluralisierten Gesellschaft eingeräumt werden. Als eigenständige Untersuchungsgegenstände im Sinne fremder Lebenswelten bedürfen sie damit einer ethnografischen Beschreibung und Rekonstruktion. Einem naturalistisch konzipierten Empiriebegriff folgend, richtet sich der Fokus des Interesses auf gelebte soziale Praxis, d.h. auf real beobachtbare Interaktions- und Sinnkonstituierungsprozesse. Die Methodenauswahl und die Analyse der Daten orientieren sich an den Selbst(re)produktionsmechanismen der jeweiligen Gegenstände. Der Datengewinn erfolgt immer zeitlich gestreckt und im Zuge dieses z.T. lang andauernden Erhebungsprozesses wird variantenreiches und qualitativ umfangreiches sowie heterogenes Datenmaterial erhoben. Es entsteht ein Datenkorpus, in dem sich die verschiedenen Daten und Dokumente wechselseitig kontrollieren und
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interpretieren. Je nach momentanem Interpretationsfokus fungieren die jeweils restlichen Daten als Interpretationskontext. Dies wird gewährleistet durch kontinuierlichen Kontakt mit dem Feld und durch das sukzessive Vertrauter-Werden mit dem betreffenden Untersuchungsgegenstand. Kurz: Die Forschung zeichnet sich grundsätzlich durch „ihre Einbettung in den Kontext einer andauernden teilnehmenden Beobachtung“ (Hirschhauer/Amann 1997: 16) aus. Die Auswertung der Daten und Materialien erfolgt prinzipiell verstehend und den subjektiv gemeinten Sinn nachvollziehend, jedoch mit dem Ziel, die methodische Hervorbringung sozialer Praxis zu rekonstruieren. Dabei ist eine Verschränkung theoretischer und empirischer Arbeitsprozesse unabdingbar. Obwohl Ethnografien prinzipiell induktiv arbeiten, d.h. von den Alltagsphänomenen bzw. dem dort erzeugten Material ausgehen, können bestimmte Theorien als Ausgangspunkt fungiert haben, jedoch nicht als Objekt der Überprüfung (i.S.v. hypothesentestend), sondern als Grundlage des Erkenntnisinteresses und der Fragestellung. Theorien spielen die Rolle von Denkmitteln, die sich im Feld, in der Empirie bewähren müssen. Als Forschungsdesign wurde drittens der Ansatz der Grounded Theory von Glaser/Strauss (1967) zu Grunde gelegt, der mittlerweile Grundlage einer Reihe von heterogensten Forschungsansätzen und -vorhaben geworden ist. In unserer Studie haben wir uns an folgenden, den Forschungsprozess als Ganzes strukturierenden Prinzipien orientiert: Die Forschung gestaltet sich als offener und zirkulärer Prozess. Grundlegendstes Prinzip in diesem Prozess ist das des Theoretical Samplings, d.h., dass sich die Gewinnung von Daten nicht auf den Beginn der Untersuchung beschränkt, sondern im Verlauf der Forschung immer wieder erneut vollzogen wird, wobei sich die Ausrichtung der (Neu-)Erhebungen nach den bisherigen Erkenntnissen zu richten hat. Als Konsequenz ergibt sich ein kontinuierlicher Zuwachs einer äußerst heterogenen Menge an Material (Datenvielfalt), zu deren Auswertung die unterschiedlichsten Analysestrategien eingesetzt werden können. Prinzip der Auswertung ist eine sukzessiv an den Daten orientierte Hypothesengenerierung (statt Hypothesenprüfung ex ante), die schließlich zu theoretisch gehaltvollen, datenfundierten Annahmen führen soll.
7 Forschungsdesign und Methoden Ausgehend von diesen allgemeinen Prämissen lässt sich das Forschungsdesign unserer szeneethnografischen Untersuchung in einer ersten Annäherung wie folgt umreißen: Die Untersuchungsfragestellung wird im Zuge des Forschungsprozesses offengehalten und immer wieder vor dem Hintergrund gewonnener Erkenntnisse re-formuliert. Dies führt in the long run zu konkreteren Fragestellungen und Forschungsaspekten sowie schließlich zur Konstitution eines Forschungsgegenstandes. Ist der Gegenstand im Zuge einer Konkretisierung der Fragestellung näher bestimmt, geht es darum, die Eigenstrukturiertheit des in Frage stehenden Gegenstan-
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des zu beleuchten, um schließlich zu gegenstandsangemessenen Methoden zu gelangen. Zentraler Gegenstand im vorliegenden Fall sind jugendkulturelle Szenen. Diese bestehen einerseits aus Interaktionen zwischen Szenemitgliedern im Rahmen szenetypischer Events und Locations. Dies lässt sich als die Ebene der Praxis bezeichnen. Gefragt wird, wie Szenemitglieder typischerweise handeln und wie die Szene ‚gelebt‘ und angeeignet wird. Andererseits ist Szenen ein spezifischer Wissensvorrat eigen, der sich in so unterschiedlichen Phänomenen wie Handlungsorientierungen, Überzeugungen, Interaktionsregeln, Sprache und Stilpraxen manifestiert. Dies wird als die Ebene des geteilten Wissens (Theorie/Ideologie) gefasst. Gefragt wird, welche Bewertungsmaßstäbe für das Handeln in der Szene gelten, welche Überzeugungen und Werte in der Szene weiter getragen werden und welche Symbole und körperlichen Erscheinungsbilder (Kleidung, Accessoires, Styling) als szenetypisch gelten. Tabelle:
Zugangsmodi, Qualitäten der Daten und Aussagerichtungen der Gothic-Studie
Datenqualität
registrierender Modus: teilnehmende Beobachtung
rekonstruktiver Modus: Interviews
Aussagerichtung
Ausdeutung natürlicher Praxen hinsichtlich Musterhaftigkeiten und Regeln der Vergemeinschaftung; kulturhistorische Ausdeutung von Erscheinungsbildern (z.B. Kleidung, Styling)
Interpretation von Selbstauskünften hinsichtlich typischer Szenestrukturen (Experten) oder subjektiver Aneignungsformen (Szenegänger)
medial vermittelter Modus: Szenematerialien (etwa Zeitschriften) - kulturhistorische Ausdeutung einzelner Artefakte (z.B. Merchandising-Produkte) - Indikator für das Symbolrepertoire einer Szene - Beschreibung und Ausdeutung der Selbstdarstellungsformen einer Szene (nach außen)
Mit Blick auf die Methodenauswahl verlangt die Zweiseitigkeit von Szenen (Interaktion/Wissensvorrat) eine zweigleisige Herangehensweise. Daten, die im registrierenden Modus gewonnen werden, bilden die Prozesshaftigkeit von Realität ab. Die tatsächlich abgelaufenen Interaktionen und Gespräche werden entweder technisch fixiert (Audio/Video) oder Handlungsabläufe, etwa das ‚Treiben‘ auf einem Festival, werden beobachtet und notiert (Feldberichte/teilnehmende Beobachtung). Anhand solcher Daten lassen sich v.a. Aussagen hinsichtlich der Interaktionspraxis einer zu untersuchenden Gemeinschaft treffen. Daten im rekonstruktiven Modus dagegen repräsentieren die Selbstauskünfte von Szenemitgliedern. Dritte berichten aus ihrer Erinnerung, wie ein bestimmtes Ereignis ablief oder Szenemitglieder geben Auskunft über ihre Erfahrungen und Ansichten (Interviews mit Szene-Experten oder ,normalen‘ Szenegängern). Darüber hinaus können Selbstauskünfte als Quelle für
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subjektive Theorien und typische Denkmuster fungieren. Anhand solcher Daten sind v.a. Aussagen hinsichtlich zentraler Handlungsorientierungen und Überzeugungen, die für die Szene prägend sind, möglich. Daten im medial vermittelten Modus (Szenedokumente wie etwa Zeitschriften, Flyer, Prospekte, Kataloge, Internetseiten und -foren, Radiosendungen etc.) stellen Medienprodukte dar. Sie entstehen im Rahmen spezifischer, medialer Produktionsbedingungen. Medienkommunikation ist insofern spezifischer als Alltagskommunikation, als dass sie spezielle, kommunikative Strategien verfolgt (wie etwa Werbung) und damit den Eigengesetzlichkeiten medienproduzierender Institutionen (etwa einer Zeitungsredaktion) unterliegt. Auf der Basis solcher Daten lassen sich v.a. Aussagen über Selbstdarstellungsprozesse bzw. das kollektive Selbstverständnis einer Szene treffen. Abbildung:
Anlage der Studie im Überblick Fragestellung SZENETYPIK
Methodische Umsetzung: SZENEETHNOGRAPHIE
Organisationsstrukturen und Vergemeinschaftungsmuster; geteilte Überzeugungen, Handlungsorientierungen und Stilpraxen; kollektive Habitusformationen
Qualitativ/ethnografischer Forschungsansatz, Grounded Theory als Forschungsdesign
Datenvielfalt Erstellung und Auswertung eines Korpus von Szenedokumentationen Datengewinn/-erhebung
Datenauswertung
Status der Daten
Interviews Rahmung: Experten- vs. Szenegängerinterviews Art: Leitfadeninterviews
Auswertung anhand eines Kategorienschemas/Bildung thematischer Blöcke; Hermeneutische Ausdeutung einzelner Passagen hinsichtlich der jew. fokal gesetzten Kategorie Ethnographische Deskription/Analyse Kulturgeschichtliche Ausdeutung Bildhermeneutische Ausdeutung
Selbstbilder der Szene/Grundlage für ein Szeneportrait im Sinne der Ausgangsfrage; Herstellung von Bezügen zu zentralen, für das Thema einschlägigen soziologischen Konzepten (etwa Religion oder Identitätskonstruktionen) Registrierende Daten: Aussagen über faktische Handlungsabläufe, Stil- und Inszenierungspraxen; Kontrastierung/Kontext für die Interviewinterpretationen
Inhalts- und Sprachanalyse
Außenperspektive/Fremdbilder
Teilnehmende Beobachtung/Feldberichte/eigene Fotos (‚Fotos des Feldes’) Szenedokumente (Zeitschriften, Flyer u.ä.) Externe Dokumentationen (Berichterstattung über die Szene in Presse und Populärwissenschaft)
Als Methoden der Wahl wurden zur Erhebung und Auswertung der unterschiedlichen Daten (Interviews, Feldberichte, Fotos, Szenedokumente) in der Hauptsache folgende Forschungsinstrumente verwendet: die teilnehmende Beobachtung, die Methoden des Leitfaden- und halbstandardisierten Interviews, das Experteninterview sowie die hermeneutischen Interpretationen von Texten (Interviews, Szenematerialien (Print/Internet) und Bildern (Fotos/Bilddokumente (z.B. Flyer)).
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8 Zusammenfassung: Die Gesamtanlage unserer ethnografischen Szene-Studie Die bisherigen Ausführungen dürften deutlich gemacht haben, dass die Gothic-Studie eine Kombination verschiedener qualitativer Grundprinzipien und Instrumente vereint. Die Grundhaltung lässt sich als ethnografisch kennzeichnen und der Forschungsprozess gestaltet sich nach Grundprinzipien der Grounded Theory. Die Experten sollen zunächst Auskunft über typische Szenestrukturen und -haltungen geben bzw. sonstige fragestellungsrelevante Aspekte beleuchten. Die Interviews mit den Szenegängern dienen darüber hinaus dazu, individuelle Szenehaltungen zu rekonstruieren und diese mit den Aussagen der Experten zu vergleichen. Die Auswertung der Interviews unterliegt einer Vorordnung nach formalen, aus szenekonzeptuellen Überlegungen abgeleiteten Kategorien (Zuordnung von Textstellen zu Themen), woran sich eine hermeneutische Analyse der ausgewählten Passagen anschließt. Die Feldberichte, Fotos und Szenedokumente sollen Aufschluss geben über typische Interaktions- und Inszenierungspraxen, Gestaltung und Ablauf szenekonstitutiver Örtlichkeiten und Events sowie Selbstdarstellungsformen und Selbstbilder der Szene. Die Auswertung dieser Materialien erfolgt weitestgehend deskriptiv und dient v.a. der Kontrolle der aus den Interviewanalysen gewonnenen Aussagen. Hiermit ergibt sich die in der oben stehenden Abbildung zusammengefasste Gesamtanlage der Studie.
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Kommunikative Mobilität – mobile Lebensstile? Die Bedeutung der Handyaneignung von Jugendlichen für die Artikulation ihrer Lebensstile Caroline Düvel
1 Einleitung 90 Prozent der deutschen Jugendlichen besitzen ein Handy, was verdeutlicht, dass die Akzeptanz des Mobiltelefons in dieser gesellschaftlichen Gruppierung recht hoch ist (vgl. BMWA 2004). Schon jetzt gibt es in jeder vierten Wohnung von unter 25-Jährigen keinen festen Telefonanschluss mehr und laut einer Emnid-Umfrage von April 2005 geben 27% der Befragten 14 bis 29-jährigen an, auch gänzlich auf das Festnetztelefon verzichten zu können1. Mit der Mobilkommunikation entsteht offenbar auch die Möglichkeit einer Mobilisierung des Alltags auf ganz unterschiedlichen Ebenen, die vor allem die junge Generation für sich zu nutzen scheint. Diese Entwicklungen lassen vermuten, dass sich die Aneignung neuer mobiler Kommunikationstechnologien durch viele junge Leute in Form einer Integration in die alltäglichen „Praktiken eines mobilen Lebens“ (Höflich/Gebhardt 2005b: 9) vollzieht, was sowohl Situationen in der häuslichen Privatsphäre als auch öffentliche Kommunikationssituationen umfasst. Damit verbunden ist die Zunahme von kommunikativer Mobilität, die sowohl eine passive Komponente in Form von permanenter Erreichbarkeit als auch die aktive situations- und ortsunabhängige Handynutzung impliziert. Als eine Folge der kommunikativen Mobilität lässt sich die Veränderung des Verständnisses und Verhältnisses zu Raum und Ort begreifen, indem nun mobile Kommunikationsräume physische Orte überlagern. Durch Handynutzung wird (private) Kommunikation zunehmend auf bisher ‚medienfreie’ Orte und Situationen ausgedehnt, wodurch öffentliche Orte mit privaten oder gar intimen Inhalten gefüllt werden. Für viele Nutzerinnen und Nutzer ist das Handy dabei inzwischen nicht mehr nur ein mobiles Telefon, sondern aufgrund der Fülle an angebotenen Anwendungen und Diensten vielmehr ein persönliches MehrzweckMedium (vgl. Krotz 2001) oder Hybridmedium, womit es potenziell die Möglichkeit eines auf mehr Mobilität und Flexibilität ausgerichteten Lebensstils bietet. Doch wie mobil sind nun Jugendliche heute wirklich? Wodurch charakterisiert sich ihre Handyaneignung? Existiert tatsächlich ein ‚mobiler Lebensstil’ in Abhän-
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gigkeit zum Handy? Welche Möglichkeiten, aber auch Beschränkungen bietet Mobilkommunikation für Jugendliche? Solche Fragen sind Gegenstand der Untersuchung. Dabei geht es darum heraus zu finden, in welcher Relation das mobile Kommunikationsverhalten junger Menschen zur Artikulation2 eines mobilen Lebensstils steht, weshalb die Aneignung des Handys und dessen Integration in den Lebensstil Jugendlicher und junger Erwachsener untersucht wurde.3
2 Mobilkommunikation, Mobilität und das Verhältnis zu Raum und Ort Wenn Friedrich Krotz von der Mediatisierung kommunikativen Handelns (vgl. Krotz 2001 und 2005a) spricht, so ist damit eine Ausdehnung von Kommunikation auf Situationen und damit Kontexte sowie Orte, die bisher nicht durch Mediennutzung charakterisiert wurden, gemeint. In diesem Prozess der Mediatisierung spielt auch die Mobilkommunikation eine erhebliche Rolle: Beispielsweise war es vor der Entwicklung des Handys kaum denkbar, während der Auto- oder Zugfahrt Termine zu koordinieren, beim Einkaufen im Supermarkt den Partner Zuhause zu fragen, welche Dinge noch fürs Abendessen benötigt werden oder gar sich von unterwegs zu einem spontanen Treffen mit Freunden zu verabreden. Die Nutzung mobiler Terminals wie des Handys ermöglicht somit eine erhöhte Flexibilität im Alltag vor allem hinsichtlich der Mobilität aus kommunikativer und lokaler Perspektive – wobei lokale Mobilität generell die Situationen umfasst, die Personen nicht am Ort ihrer häufigsten Präsenz (beispielsweise Zuhause oder im Büro), sondern unterwegs an oder zwischen anderen Orten verbringen, – aber ebenso bezogen auf Zeit. Es ist diese kommunikativ und lokal mobilisierte Lebensart, die Anthony Townsend als „real-time lifestyle“ (2002: 71) beschreibt, in der Menschen ihre Handlungen und Pläne mit dem Handy nicht nur örtlich mobil, sondern auch in Echtzeit koordinieren können.4 Demnach sind vielerlei Planungen über lange Zeiträume hinweg unnötig geworden, da das Handy den Abruf von Informationen zu jedem beliebigen Zeitpunkt und damit eine Flexibilisierung fast jeder Situation ermöglicht. Für viele Jugendliche bedeutet das Leben in „real-time“ z.B., dass für sie aufgrund der Handynutzung kein festes Verabreden im Voraus zu einer fixen Zeit an einem bestimmten Ort mehr notwendig ist. Sie kontaktieren sich schnell per SMS oder Anruf und teilen sich auf diese Art und Weise mit, wo in der Stadt sie sich gerade aufhalten, um sich treffen zu können (vgl. Dworschak 2004). In einer Studie mit belgischen Jugendlichen stellt Claire Lobet-Maris fest: “Young people communicate all the time, and are always somewhere else. The present moment is always being split, always shadowed by an ‘elsewhere’ that takes up every moment of time not filled by some immediate activity. There is no more empty time. The ‘mobile’ fills all the previous gaps between activities.” (Lobet-Maris 2003 : 91)
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Mobile Kommunikationsstrukturen sind somit Teil eines Veränderungsprozesses auf sozialer Ebene: Verabredungen werden häufig nur vage fixiert und lokalisiert, um sie dann mithilfe des Handys spontan und flexibel auf einen Treffpunkt zu konkretisieren (vgl. BMWA 2004), wodurch auch ein anderer Bezug zu Ort und Zeit hergestellt wird.5 Mobile Kommunikationstechnologien ermöglichen damit eine Form der Mobilität, die sich in der ‚Anwesenheit’ an mehreren Orten gleichzeitig ausdrückt, wobei die kommunikative Präsenz in der Situation des Telefonierens von Joachim Höflich als ein „virtueller“ Ort (Höflich 2005b: 19) begriffen wird, der konträr zum Ort der physischen Präsenz steht. Demnach verknüpft die Nutzung der Mobilkommunikation zwei reale Orte der Kommunikationspartner durch die mobile Übertragung von Kommunikation und ermöglicht so ein mobiles ‚Ortsplitting’, indem sich die Kommunikationspartner an einem dritten, dem virtuellen Ort für die Dauer des Telefonats treffen (Höflich 2005b). Oftmals kollidieren diese Orte miteinander, indem die Mobilkommunikation die Interaktion am Ort der physischen Kopräsenz überlagert und so komplexe Kommunikationssituationen entstehen, womit auch die Ambivalenz der Mobilkommunikation und ihr Konfliktpotenzial deutlich werden: Beispielsweise kann die Allgegenwart des Handys und die damit verbundene AllErreichbarkeit als aufdringlich und störend bei einem Face-to-Face-Treffen empfunden werden, wenn dem Telefon- oder SMS-Partner mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird als dem Gegenüber (vgl. Höflich/Gebhardt/Steuber 2003). Denn mit dem Handygebrauch entfernt sich der Nutzer aus der Face-to-Face-Situation mit Anwesenden, in welcher er sich eigentlich in dem Moment befindet (vgl. Krotz 2005a). Somit konstatiert Höflich (2005b: 37) einen fließenden Übergang virtueller und realer Kommunikationsräume, beispielsweise, indem die Person nach Beendigung des Telefonats wieder den anwesenden Dritten am physischen Ort und damit im realen Kommunikationsraum zur Verfügung steht. Um solche Störungen und Konflikte zu vermeiden, wird deshalb teilweise versucht, durch Handyverbotschilder sogenannte „Handy-Oasen“ (in Restaurants oder im Wartezimmer von Arztpraxen und bestimmten Zugabteilen) zu schaffen, in denen zumindest temporär der Handygebrauch untersagt ist und man sich somit uneingeschränkt auf die Situation der physischen Anwesenheit konzentrieren kann. An diesen Beispielen wird deutlich, dass man sich in der Beschäftigung mit Mobilkommunikation und Mobilität nicht nur mit deren Einfluss auf soziale Beziehungen, sondern auch in einer Auseinandersetzung mit dem Begriff und Verständnis von Raum (Englisch: Space) bzw. Ort (Englisch: Place) in Bezug auf elektronische Medien befassen muss. Hierzu eignen sich unterschiedliche Ansätze. Ein interessantes Konzept hinsichtlich einer allgemeineren Fokussierung von Medien und Raum liefern Nick Couldry und Anna McCarthy mit ihrem multidimensionalen Ansatz des „MediaSpace“ (2004): Ihre Theorie beinhaltet, dass elektronische Medien und soziale Prozesse, die unsere Wahrnehmung und unseren ‚Gebrauch’ von Raum formen, verknüpfte Phänomene sind. Diese Verknüpfungen machen die Komplexität des derzeitigen sozialen Lebens aus. Demzufolge kann man Medien und Raum quasi als sich ‚bedingende Gegenstücke’ bezeichnen, die notwen-
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dig verbunden, aber nicht zu vereinfachen auf eins sind, weshalb sie den Ausdruck MediaSpace gewählt haben. Couldry und McCarthy definieren „MediaSpace“ als exemplarischen Begriff für dreierlei Prozesse: „MediaSpace […] at once defines the artefactual existence of media forms within social space, the links that media objects forge between spaces, and the cultural visions of a physical space transcended by technology and emergent virtual pathways of communication.” (Couldry/McCarthy 2004: 2)
Der Ansatz erscheint relevant für die Darstellung des Verhältnisses von Mobilkommunikation, Mobilität und Raum, da der Fokus nicht allein auf der bloßen Existenz von Medien im sozialen Raum verbleibt, sondern sich auf die Veränderung in Form von Überschreitungen und Verknüpfungen verschiedenster Räume durch Medien konzentriert, ein Charakteristikum der Mobilkommunikation, das in den vorangegangenen Beispielen bereits deutlich gemacht wurde und mit „MediaSpace“ einen bezeichnenden Namen erhält. In diesem Kontext erscheint eine weitere Theorie zum Erfassen des örtlichen Mobilitätsphänomens relevant: In Anlehnung an Shaun Moores (2004 und 2005) greife ich die Theorie von der ‚Pluralisierung des Ortes’ durch die Nutzung elektronischer mobiler Medien auf. Dabei ist diese Perspektive konträr zur Auffassung von Joshua Meyrowitz nicht die einer zunehmenden Bedeutungslosigkeit des physischen Ortes und damit verbunden auch nicht eine Wahrnehmung von gesellschaftlicher Existenz als „relatively placeless“ (Meyrowitz 1985: 312). Moores geht vielmehr davon aus, dass es gerade nicht zu einer solchen ‚Auflösung’ physischer Orte kommt,6 er verweist auf ein abstrakteres Verständnis von Ort, bei dem er sich auf Emanuel Castells (1996) bezieht. Demnach ist Ort als eine Art Schnittstelle innerhalb von Netzwerken zu begreifen, wo bestimmte (kommunikative) Flüsse zusammen fließen, sich kreuzen und wieder trennen. Diese Schnittstelle ist gleichzeitig geprägt durch Offenheit (vgl. Massey 1995), indem Orte nicht mehr charakterisiert werden durch ihre Grenzen, sondern im umgekehrten Sinne durch die Durchlässigkeit ihrer Grenzen und die Verknüpfung durch die Interaktion mit anderen Orten (Moores 2005: 11). Weiterhin charakterisiert Moores in Anlehnung an John Urry (2000) Orte durch ihre vielschichtige Bedeutung, indem sie auf der einen Seite zur Herstellung und Verknüpfung von Nähe durch die Interaktion Anwesender gekennzeichnet sind, andererseits allerdings ebenso durch „fast flowing webs and networks“ (Moores 2005: 10) und am Ort der physischen Kopräsenz durch die Vernetzung via Kommunikationstechnologien zeitgleich auch mit anderen Kommunikationspartnern in lokal größerer Distanz eine Verbindung bestehen kann (vgl. Urry 2000). In diesem Zusammenhang steht der Ansatz des „Doubling of Place“ von Scanell (1996: 172) und Moores (2004) für die Möglichkeit der Interagierenden, durch mobile mediale Übertragung gleichzeitig an zwei Orten zu sein, womit es zu einer ‚Doppelung von Realität’ und ‚Pluralisierung des Ortes’ kommt. Diese Theorie erscheint nun deshalb in Bezug auf Mobilität und Mobilkommunikation für die folgende Studie bedeutsam, da erstens darin überein zu stimmen ist, dass physische Orte nicht bedeutungslos werden, sondern vor allem als Bezugs- und Treffpunkte für
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die Konstitution von Face-to-Face-Interaktionen (für den sozialen Austausch mit dem Freundeskreis genauso wie für geschäftliche Treffen z.B. für Vertragsabschlüsse) von großer Wichtigkeit bleiben (vgl. Urry 2000), sie bilden folglich eine Schnittstelle zwischen medialer und Face-to-Face-Kommunikation. Darüber hinaus verdeutlicht der Ausdruck Schnittstelle bereits, dass physische Orte als offen begriffen werden müssen, da durch Mobilkommunikation für Interagierende die Möglichkeit besteht, zumindest kommunikativ die Grenzen eines Ortes zu überwinden, womit eine temporäre Loslösung (für die Dauer eines Telefonats) vom physischen Ort der Kopräsenz gemeint ist. Sie befinden sich damit in zwei Situationen (und Realitäten) gleichzeitig: Am Ort der physischen Kopräsenz und in der telefonischen Interaktion mit dem Kommunikationspartner. Weiterhin weist die Bezeichnung Schnittstelle auf die Existenz eines Netzwerks hin: Die Nutzer der Mobilkommunikation befinden sich in einem Zustand des ‚Miteinander-Vernetzt-Seins’. Je nach Ausprägung und Intensität dieser Vernetzung kann dies als Pluralisierung und Mobilisierung der Lebenswelt gefasst und möglicherweise als Kennzeichen eines mobilen Lebensstils begriffen werden. In welcher Form sind nun jugendliche Handynutzer tatsächlich vernetzt und was hat das für Konsequenzen? Wie wird die Möglichkeit der kommunikativen ‚Überwindung’ örtlicher Grenzen empfunden? Diesen Fragen widmet sich die Untersuchung. Den Aspekt der Vernetzung greift auch Michael Bull in seiner Theorie zur Darstellung von Mobilkommunikation und Raum auf, die hier als dritter Ansatz erläutert werden soll: „From home to street, from private setting to public arena, the media have helped us link these two areas of daily life together in unexpected ways.“ (Bull 2004: 279). Inzwischen ist unumstritten, dass das Handy für viele Gesellschaftsmitglieder – nicht nur, aber in erheblichem Maße auch für Jugendliche – zum ständigen Begleiter im Alltag und somit das Telefonieren mittlerweile zu einer alltäglichen öffentlichen Praxis geworden ist. Der bisherige intime und ‚statische’ Charakter des Telefonierens (mit dem Festnetztelefon vom fixen Ort innerhalb geschlossener Räume) ist aufgeweicht und verschoben, die Kommunikation hat sich mobilisiert (vgl. Burkart 2000: 218). Somit dringt das Private in die Öffentlichkeit: „Mobile phones act to privatize public spaces as private discourse fills the street, classroom and every other conceivable public space“ (Bull 2004: 287).7 Laut Bull „transformieren“ (2004: 283) Handynutzer den (öffentlichen) Raum zu ihrem privaten Raum, indem sie in der Öffentlichkeit mit nichtanwesenden Personen kommunizieren. Wir befinden uns dadurch in Mitten eines Prozesses der Grenzverschiebung öffentlicher und privater Sphären und Kommunikationsformen, zu denen sich unsere Beziehung und Wahrnehmung durch mobile Technologien verändert hat.8 Der Gebrauch mobiler Kommunikationstechnologien repräsentiert demzufolge soziale und gesellschaftliche Transformationen, welche sich in diesem Kontext als die Entstehung beweglicher statt fixer Kommunikationsräume und weiter als die Privatisierung öffentlicher Räume begreifen lassen. „The desire to be ‚connected’ is more important than issues of ‚privacy’ for many users” (Bull 2004: 286), eine Aussage, die bisherigen Studien zufolge für viele Jugendliche zutreffend scheint (vgl. exemplarisch Lobet-Maris 2003; Puro 2002; Höflich/Rössler 2001). Inwieweit besteht
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nun das Bedürfnis nach Vernetzung bei Jugendlichen? Oder überwiegt gar das Bedürfnis nach Privatsphäre? Auf welche Art und Weise haben Jugendliche das Handy in ihre Alltagswelt integriert, ist es für sie ‚normal’, in öffentlichen Situationen private Telefonate zu führen? Leben Jugendliche in mobilen Kommunikationsräumen? Diese Fragen sollen im Folgenden fokussiert werden. Darüber hinaus erscheint es relevant zu untersuchen, ob sich mit der Ausdehnung von Kommunikationsräumen ebenso das Verhältnis der Handynutzer zum physischen Ort verändert und inwiefern mobilisierte Kommunikationsräume möglicherweise ein Kennzeichen für die Entstehung von mobileren Lebensstilen in Zusammenhang mit der Handykommunikation darstellen. Mobil- und insbesondere Handykommunikation ist somit nicht nur als eine Ausdehnung von Kommunikation auf bisher ‚medienfreie’ Situationen, sondern vielmehr auch als Wandel von Kommunikationsräumen zu begreifen, da sich nicht nur die Kommunikation, sondern ebenso die Kommunikationsräume mobilisieren. Kommunikation wird demnach „um ein mobiles Individuum herum als flexibles kommunikatives Netzwerk aufgebaut“ (Burkart 2000: 212). Hier gewinnt der von Andreas Hepp geprägte Ansatz der Konnektivität an Bedeutung: Dieser Ansatz „ermöglicht die Beschreibung und Analyse des Wandels von kommunikativen Beziehungen in einer Art und Weise, die zunächst einmal offen ist für unterschiedliche Bewertungen.“ (Hepp 2005 in diesem Band; vgl. auch 2004c). Das Konzept der Konnektivität eignet sich demnach für die Auseinandersetzung mit Medienwandel anhand von digitalen Medien und ganz konkret, um die Aneignung mobiler Terminals wie des Handys und die durch deren Konnektivität geschaffenen mobilen Kommunikationsräume zu fassen. Im Fall der Mobilkommunikation ist es folglich das translokale kommunikative Konnektivitätsnetzwerk, wodurch interagierende Kommunikationspartner an unterschiedlichen Orten miteinander vernetzt sind. In Bezug auf mobile Kommunikationstechnologien konstatiert Bull (2004) zwei Ausprägungen von Konnektivität: einerseits die Konnektivität mobiler Endgeräte und damit verbunden die Entstehung beweglicher Kommunikationsräume. Die andere Ausprägung ist die mobile Konnektivität personaler Kommunikation im städtischen Raum. Ebenso wie die Konnektivität von Orten bzw. Räumen durch mediale Kommunikation intensiviert wird, besteht damit potenziell auch die Möglichkeit zur Erhöhung der Verbindung von Personen und damit der Intensität sozialer Beziehungen bei zunehmender Mobilität (vgl. Couldry/McCarthy 2004). Wie auch John Tomlinson argumentiert, liegt die zentrale Wertschätzung des Handys als mobiler Kommunikationstechnologie darin, dass es trotz seines Potenzials weltweit Kommunikationsräume erschließen zu können, überwiegend nicht als Instrument der globalisierten Kommunikationstechnologie angeeignet wird. Vielmehr wird es zur Nahraumkommunikation genutzt, um die Konnektivität und das Kontaktbedürfnis zu vertrauten sozialen Beziehungen in Zeiten globaler Deterritorialisierung und Mobilität zu befriedigen (vgl. Tomlinson 2005). Auch Höflich und Rössler stellten fest, dass das Handy vor allem zur Interaktion mit dem sozialen Netzwerk bei zunehmender Mobilität genutzt wird (vgl. Höflich/Rössler 2001: 446).
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Damit lassen sich Veränderungen durch die Aneignung mobiler Kommunikationstechnologien nicht nur auf die Ebene der lokalen und kommunikativen Mobilität in Form einer Pluralisierung und Mobilisierung des Ortes konstatieren, sondern ebenso auf die Ebene der sozialen Beziehungen projizieren.
3 Aneignungsprozesse mobiler Kommunikationstechnologien Was heißt nun Aneignung und wie verläuft der Aneignungsprozess mobiler Kommunikationstechnologien? Zentraler Ausgangspunkt für eine Untersuchung des Aneignungsprozesses eines Mediums im Kontext der Cultural Studies ist die von Michel de Certeau formulierte Auffassung, dass Alltagspraktiken der Nutzer im Gebrauch eines Mediums als „Aneignungspraktiken“ (de Certeau 1988: 19) verstanden werden, „durch die Konsumenten Produkte ‚in ihren Besitz’ nehmen und sie zu einem Teil ihres ‚kulturellen Eigentums’ machen.“ (Hepp 2004c: 357). Damit steht der Ausdruck Aneignen konträr zu dem der Assimilation, denn der alltägliche Konsum kann nicht als ein Vorgang des ‚Sich-Anpassens’ beschrieben werden. Der Mensch handelt nicht nur bei der Produktion von Gütern aktiv, sondern ebenso beim Konsum dieser Güter, denn Konsum wird als das aktive Erzeugen von Bedeutungen aufgefasst. D.h. der alltägliche Umgang mit Medien aus der Perspektive der Nutzer lässt sich nicht mit Konzepten einer eindimensionalen Wirkung, Gratifikation oder Manipulation fassen, sondern wird als ein aktiver und kulturell umfassend kontextualisierter Prozess des ‚Sich-zu-Eigen-Machens’ von Medieninhalten und Medien verstanden (vgl. Hepp 2004b). Dabei werden Medien als Teil der Gesamtartikulation von Kultur begriffen. Im Prozess der Aneignung erfolgt somit die ‚Domestizierung’ von Medienprodukten, womit die kulturelle Lokalisierung in Form einer Integration in die jeweilige Lebenswirklichkeit dieser gemeint ist (vgl. Hepp 2004b: 2).9 Im medialen Aneignungsprozess ist allerdings auch die Besonderheit digitaler Medien zu berücksichtigen: Bei der Nutzung von digitalen Medien wie dem Internet oder der Mobilkommunikation lassen sich auf der Handlungsebene die Phasen der Rezeption und Aneignung nicht mehr voneinander getrennt betrachten, was bedeutet, dass Aneignung in diesem Fall gleichzeitig auch ein Prozess der Generierung von Medieninhalten ist (vgl. Hepp 2004b). Der Grund dafür ist die Spezifik digitaler Medien, die in deren multimedialer Konvergenz besteht, d.h. ein- und dasselbe Gerät ist in differenter Weise als Endgerät für verschiedene Medienangebote verwendbar. Bezogen auf das Mobiltelefon hat sich hierfür der Begriff des ‚Smart-Phones’10 etabliert. Diese „gerätebezogene Konvergenz der Kommunikationsformen“ (Hepp 2004b: 9) gilt es bei der Analyse der Medienaneignung zu berücksichtigen. Demnach ermöglichen Hybridmedien wie das Mobiltelefon eine „Genese zusätzlicher medial vermittelter Kommunikationsnetzwerke im Alltag“ (ebd.). Über solche Netzwerke findet gleichzeitig die Aneignung verschiedener Medien oder Medieninhalte statt wie auch die Aneignung des Alltags selbst. Somit ist die Aneignung
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gleichzeitig ein Prozess der individuellen Generierung von Medieninhalten, welche unmittelbar in den Alltag eingebettet ist und diesen erst konstituiert. Der Prozess der soziokulturellen Aneignung von Medienkonsum verläuft somit umfassend kontextualisiert und lässt sich nicht losgelöst von kulturellen Bedeutungszuschreibungen innerhalb der Alltagswelt betrachten. Dieser Artikulationsprozess der kontextualisierten soziokulturellen Aneignung lässt sich anhand des Kreislaufs der Medienkultur darstellen. Der Kreislauf versucht den bereits angesprochenen Aspekt von Medien als Teil der Gesamtartikulation von Kultur zu verdeutlichen, d.h. dass die Bedeutungsangebote auf kulturell vermittelte Aneignungsweisen verweisen. Ausgehend von einer kulturtheoretisch orientierten Medienanalyse scheint eine Medienkultur nur dann vollständig erfassbar, wenn man sie in ihrer Gesamtartikulation und damit auf drei unterschiedlichen Artikulationsebenen betrachtet: Erstens auf der Ebene der Produktion von verschiedenen materiellen und immateriellen Kulturprodukten (das Handy als Gerät), zweitens auf der Ebene der diskursiven Repräsentationen, welche diese ausmachen (die Entwicklung vom einfachen Telefon zum Smart-Phone) und drittens auf der Ebene der Aneignung dieser Kulturprodukte (aus unterschiedlichen Motiven, z.B. Sicherheitsmotive) (vgl. Hepp 2004c). Zwei Kategorien, die quer zu diesem Kreislauf verlaufen, sind die der Regulation wie beispielsweise durch politische Eingriffe (z.B. Handyverbot während der Autofahrt) und die der Identifikation, d.h. die Konstitution und Artikulation bestimmter Medienidentitäten (z.B. Vielnutzer, Wenignutzer). Damit kann man Aneignung als einen komplexen und in sich geschlossenen Prozess beschreiben. Doch in welchem Zusammenhang stehen nun mediale Aneignungsprozesse wie der des Handys und die Artikulation von Lebensstilen? Wodurch drücken sich unterschiedliche Lebensstile aus? Lebensstile können als die Entwicklung expressiver Muster der gewählten Lebensführung in Abhängigkeit kultureller Ressourcen und Werthaltungen beschrieben werden, wie beispielsweise Lebenschancen, jeweilige Wahlmöglichkeiten und vorherrschende Lebensziele (vgl. Vollbrecht 1997 sowie Beck 1983). In diesem Prozess spielen auch Medien eine zentrale Rolle, indem sie aktuelle Lebenssinn- und Lebensstilangebote vermitteln (vgl. Hitzler 1994) und damit eine stilgenerierende Funktion einnehmen. Laut Höflich (1996 sowie 2003) konstituieren sich Lebensstile einerseits über eine materielle Dimension, nämlich über den Besitz oder Nichtbesitz bestimmter Konsumgüter oder Produkte, die Hinweise auf die gesellschaftliche Rolle und auch die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe geben. Andererseits etablieren sich Lebensstile aber auch darüber hinaus in der Art und Weise des Kommunizierens, in der Wahl von Kommunikationsmedien und ihrem Gebrauch sowie in Stil und Form des kommunikativen Verhaltens (vgl. Höflich 2003: 160f.). Beide Ebenen verknüpft das Handy, da es sowohl als symbolgeladenes Artefakt betrachtet werden kann, als auch darüber hinaus als Medium, um Kommunikation zu realisieren. Vor diesem Hintergrund vereinen Kommunikationstechnologien wie das Handy den Aspekt der symbolischen Artefakte mit dem der symbolischen Kommunikation, in deren unterschiedlichem Gebrauch sich Ausprägungen differenter Lebensstile finden lassen.
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Erfolgt nun die Aneignung neuer Medien – wie seit einiger Zeit die des Mobiltelefons – in einer (neuen) Nutzergemeinschaft, so stellt sich die Frage, wie sie in bereits existierende Lebensstile und den Alltag bestimmende Kommunikationspraktiken integriert werden und diese verändern oder sogar neu konstituieren.11 Gerade junge Menschen haben in dieser Phase ihres Lebens bedingt durch gesamtgesellschaftliche Individualisierungsprozesse und der damit verbundenen Pluralisierung von Lebensstilen (begrenzte) Stilwahloptionen (vgl. Garhammer 2000; Clarke 1979). Stilstimulierende Funktionen offerieren dabei nicht nur die Massenmedien, sondern Stil wird in einem permanenten sozialen Prozess unter Jugendlichen in Peer-Groups12 ausgehandelt, wobei auch das Handy als Individualmedium von Bedeutung ist und eigene (kommunikations-)stilgenerierende Elemente hervorbringt. Somit sind sowohl die Massenmedien als auch das Individualmedium Handy für die Konstruktion und Artikulation von Identitäten Jugendlicher und deren spezifischer Lebensstile von großer Bedeutung, wie beispielsweise bereits Skog (2002) in ihrer Studie zur Handyaneignung und Identitätsartikulation von norwegischen Jugendlichen deutlich gemacht hat. Hiermit sollen in Kürze einige Ansätze erläutert worden sein, welche Bedeutung die Aneignung von Medien und insbesondere die des Handys für die Artikulation von Lebensstilen haben. In dieser Studie liegt der Fokus allerdings ausschließlich auf der Untersuchung der Integration des Handys im Rahmen der Artikulation von Lebensstilen. Eine umfassende Darstellung der Lebensstile einzelner Handynutzer kann und soll hier nicht geleistet werden. Die folgende Studie fokussiert nun die Handyaneignung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen im Alter von 17-23 Jahren. Diese Altersgruppe erscheint von Interesse, da die Mobilfunkverbreitung unter Personen dieses Alters sehr hoch ist, sie gelten allgemein als ‚Early Adopters’ des Handys (vgl. BMWA 2004). Zudem befinden sich gerade junge Menschen in der Phase ihres Lebens, in der sie sehr motiviert sind, neue Identitäten zu konstruieren und neue soziale Gruppen zu formieren. Die persönliche Mobilität nimmt zu, der Führerschein wird gemacht und in diesem Kontext dehnt sich auch das Weggehverhalten aus. In diesem Prozess spielt das persönliche Medium Handy eine zentrale Rolle für die alltägliche Kommunikation mit der Peer-Group, die bei Jugendlichen in dieser Lebensphase von großer Bedeutung ist. Sie durchleben einen Lebensabschnitt, in dem sie alternative Lebensstile zu den bisherigen ausprobieren, womit sie sich demnach in einem Ablöseprozess von der vertrauten häuslichen Welt befinden hin zu einem Lebensstil, der mehr durch Außenorientierung charakterisiert werden kann. Meine Vermutung ist nun, dass in diesem Prozess das Handy eine entscheidende Rolle spielt, weshalb ich dessen Bedeutung im Alltag und Lebensstil der Jugendlichen und jungen Erwachsenen untersuche.
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4 Typen der Mobilitätsartikulation Ich strebe in der Untersuchung von medialen und kommunikativen Handlungsweisen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in ihrem Alltag hinsichtlich der Konsequenzen für ihren Lebensstil keine bloße Erfassung von rein quantitativen Merkmalen an, sondern das Ziel besteht vielmehr in der Erforschung tieferliegender Strukturen und Bedeutungsprozesse im lebensweltlichen Kontext der Jugendlichen. Im Gegensatz zur quantitativen Forschung, die eher eine „Vermessung sozialer Realität“ (Hepp/Vogelgesang 2003b: 26) vornimmt, charakterisiert die hier angewandte ethnografische Feldforschung die Entdeckung und Erschließung von bisher Unbekanntem, Fremdem, oder Unerschlossenem, indem Ethnografie – so Hepp und Vogelgesang weiter – ihre Erkenntnisse auf der Basis einer Rekonstruktion der Erfahrungen und Deutungsmuster der Erforschten und ihrer interaktiven und kollektiven Handlungspraxis gewinnt (2003b: 24). Soziale Lebenswelten „von innen aufzuhellen“ (Hepp/Vogelgesang 2003b: 26) begreifen sie als Intention der Ethnografie. In diesem Kontext erscheint die von Rainer Winter (vgl. Winter in diesem Band) vertretene Position einer ‚neuen Ethnografie’ im Rahmen der Cultural Studies relevant, die sich daran orientiert, dass der Forscher seine „voyeuristische“ (Winter in diesem Band) Perspektive von außen überwinden muss, um sich ganz auf die neue Erfahrungswelt des Anderen einzulassen und der gelebten Wirklichkeit der Untersuchungspersonen nahe zu kommen. Die neue qualitative Forschung geht davon aus, dass gelebte Erfahrung nur im Kontext des Untersuchungsprozesses und im geschriebenen Text des Wissenschaftlers konstituiert wird und nicht per se unabhängig von ihren Repräsentationen existiert. Deshalb finden aufgrund ihrer Berücksichtigung der komplexen Realität des Forschungsgegenstandes bzw. -subjektes, und der Fähigkeit, bisher unerforschte neue Situationen in ihrer sozialen Komplexität zu fassen und somit neue Perspektiven zu eröffnen (Strauss/Corbin 1996), qualitative Methoden in der im Folgenden dokumentierten Studie ihre Anwendung. Um gemäß den laut Hepp/Vogelgesang „in der rekonstruktiven Erfassung der in Sinnbezügen konstituierten sozialen Wirklichkeit“ (2003b: 26) liegenden Intentionen der Ethnografie zu handeln, ist es notwendig, eine möglichst komplexe Einsicht in das Kommunikationsverhalten und den Lebensstil der Interviewten zu bekommen. Als Methode bieten sich hierzu qualitative Leitfadeninterviews an. Der Vorteil dieser halboffenen Erhebungsmethode besteht darin, dass keine Antwortkategorien vorgegeben, sondern vom Interviewer fast ausschließlich offene Fragen gestellt werden, d.h., der Interviewer ein offenes Gespräch mit dem Befragten führen und flexibel auf die Thematik eingehen kann. Ziel des qualitativen Interviews ist, dass der Befragte seine persönliche Wirklichkeitsdefinition darstellt und so detailliert wie möglich erläutert, auf deren Basis der Forscher Einblicke in die soziale Welt des Befragten nimmt (vgl. Lamnek 1995). Es wurden mit insgesamt neun Personen jeweils einzeln qualitative Leitfadeninterviews durchgeführt. Im Vorfeld ist
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dazu ein thematischer Leitfaden mit zahlreichen unterschiedlichen Kategorien, die nicht nur die Handynutzung, sondern ebenso ihre Alltagswelt, soziale Beziehungen und Freizeitinteressen betreffen konstruiert worden. Die Materialerhebung fand im Oktober und November 2004 in Niedersachsen statt, die Orte der Datenerhebung waren Hannover und Umland. Es wurden insgesamt fünf Handynutzerinnen und vier Handynutzer interviewt. Die Datenerhebung verlief nach der Methode des Theoretischen Samplings, wobei auf maximale demografische Varianz geachtet wurde. Alle Interviews wurden im Einverständnis der Interviewten auf Kassette aufgezeichnet und vollständig nach der traditionellen Methode der ethnomethodologischen Forschung, der Konversationsanalyse, transkribiert (vgl. Dittmar 2002), sie variieren in ihrer Länge von 47 bis 90 Minuten. Der Tradition der Grounded Theory folgend, wurde für die Datenauswertung die Methode des Offenen sowie Axialen Kodierens nach Strauss/Corbin (1996) angewandt (vgl. auch Krotz 2005b). Bei der Analyse des empirischen Materials wurde eine typologisierende Interpretation angestrebt, wobei der Vorteil darin liegt, dass diese Vorgehensweise die Aufdeckung der hinter singulären Aussagen sichtbar werdenden sozialen Strukturen ermöglicht (vgl. Hepp/Vogelgesang 2003b). Eine Typenbildung eignet sich demnach, Sinnzusammenhänge über den Einzelfall hinausgehend zu verdeutlichen und dabei Aussagen über charakteristische Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu treffen (vgl. Kluge 1999). Dies bedeutet jedoch nicht, dass ein Typus eine homogene Gruppe darstellt, vielmehr sind die herausgearbeiteten Typen im Sinne Webers eine Mischung aus Real- und Idealtypen.13 Das Ergebnis der Studie ist eine Trilogie der Handynutzungstypen: Die drei Typen sind der ‚Mobile Typus’, der ‚Beziehungstypus’ und der ‚Praktische Typus’. Sie kennzeichnet differente Anschaffungsmotive für das Handy, unterschiedliche Grade an Mobilität, Kommunikativität und Aneignungsformen des Handys, welche kontextualisiert in Bezug auf die Integration in ihre Lebensstile betrachtet werden. Im folgenden Abschnitt wird jeder Typus anhand seiner spezifischen Charakteristika dargestellt. Zur Illustration und zur intersubjektiven Nachvollziehbarkeit der Interpretation des Materials sind einige Interviewzitate angeführt.
4.1
Der Mobile Typus
„Allen Leuten geb ich meine Handynummer, weil ich da halt immer erreichbar bin, [...] ich kann ja nicht sagen, ob ich um drei Zuhause bin oder woanders.“ (Martin, 23 Jahre)
Der Begriff des Mobilen Typus verweist bereits darauf, dass sich diese Gruppe der Handynutzer vor allem durch ihren hohen Mobilitätsgrad – nicht nur in Bezug auf Handykommunikation – kennzeichnet. Die der Mobilität beigemessene hohe Bedeutung und die Art und Weise der Aneignung des Handys als allgegenwärtiges Medium sind das Wesentliche, was Personen dieses Typs verbindet. Charakteris-
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tisch ist vor allem auch ihre sozial-aufgeschlossene Haltung, die in vielen und häufigen sozialen Kontakten zum Ausdruck kommt. Diesen Typus zeichnet ein sehr intensives mobiles Kommunikationsverhalten aus: ‚Mobile’ tätigen bis zu zehn Anrufe vom Handy und schreiben bis zu 15 SMS pro Tag, wobei hier geschlechtsspezifische Differenzen existieren: Weibliche ‚Mobile’ schreiben mehr SMS als männliche. Der häufigste Kontaktpartner ist dabei die Peer-Group, wobei charakteristisch ist, dass der Mobile Typus einen sehr großen Freundeskreis hat und seine intensiven sozialen Kontakte primär per Handy pflegt. Wie folgendes Zitat illustriert, nutzt der ‚Mobile’ sein Handy generell in jeder Situation und an jedem Ort: „Wenn jetzt irgendwas ist zum Beispiel, was weiß ich, meine Freundin in Hannover, die hat Liebeskummer, dann texte ich auch, wenn ich im Kino sitze.“ (Michaela, 20 Jahre). An diesem Zitat wird deutlich, was Moores mit seiner Theorie der ‚Doppelung von Realität’ (2004) meint: Das Handy verbindet in dieser Situation nicht nur zwei Orte, sondern verknüpft auch zwei unterschiedliche Welten. Der Mobile Typus hat sein Handy stets bei sich und trägt es häufig sogar direkt am Körper, womit auch seine permanente Erreichbarkeit verbunden ist. Er lässt sein Handy sogar nachts angeschaltet auf seinem Nachtschrank liegen, um ggf. Anrufe zu beantworten. Der Zustand der Nichterreichbarkeit ist für den Mobilen Typus unerträglich: „Ich würd mich leer fühlen also so ich wüsste jetzt gar nicht keiner könnte mich jetzt erreichen.“ (Martina, 23 Jahre). Der Mobile Typus vergleicht diesen handylosen Zustand sogar mit dem Gefühl des Nacktseins (Kerstin, 21 Jahre), womit sich für ihn ein regelrechter Erreichbarkeitszwang ergibt. Der Grund für das intensive Kommunikationsverhalten ist einerseits ein ständiges Kontaktbedürfnis zum Freundeskreis, weil die Clique für den Mobilen Typus den zentralen Lebensmittelpunkt darstellt und das Handy von extremer Wichtigkeit für die Pflege sozialer Kontakte im Alltag ist. Er eignet es sich demzufolge an als ein Medium zur Herstellung von Konnektivität mit dem Freundeskreis (vgl. Bull 2004) und somit zur Nahraumkommunikation, um sich zu verabreden (vgl. Höflich/Rössler 2001). Andererseits hat der Mobile Typus das Handy auch als Instrument zur Koordination und Organisation in seinen Alltag integriert, wodurch sich seine hohe Mobilität ermöglicht. Er koordiniert per Handy seine Alltagsaktivitäten von unterwegs und tätigt Termine, wodurch er ‚ungenutzte’ Zeit durch das Handy für sich nutzbar macht. An dieser Stelle wird bereits deutlich, wie stark sich Kommunikation und Kommunikationsräume für diesen Typus mobilisieren und loslösen von lokaler Fixierung, so dass er sich oftmals ‚an zwei Orten gleichzeitig’ befindet (vgl. Moores 2004 sowie Höflich 2005b). Aus diesen Mobilitätsgründen hat der Mobile Typus das Tarifmodell der Homezone14 gewählt, was ihm gestattet, auch von unterwegs zu günstigen Festnetztarifen zu telefonieren. Somit nimmt er durch das Handy eine größere Flexibilität in seinem Alltag wahr: „Zum Beispiel oft, du bist unterwegs, du kannst alles ungefähr gleichzeitig machen, ist doch schon praktisch, dass ich von überall telefonieren kann, ja. Ich brauch nicht zum Beispiel im Büro Zuhause jetzt sein und Termine machen, ich kann das kombinieren. Ich sag, ich fahr jetzt los mit `m Auto, bin dann im Restaurant und ruf den nächsten an, ne, hab die Nummern
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ja alle gespeichert, und kann das dann kombinieren. Also spar ich ja deutlich Zeit [...] ja man kann dadurch richtig flexibel sein, das ist praktisch.“ (Martin, 23 Jahre)
Was dieses Zitat illustriert ist dreierlei: Erstens nimmt der ‚Mobile’ den Vorteil der Ortsunabhängigkeit von Mobilkommunikation wahr: Hier bestätigt sich erneut die Theorie der Pluralisierung des Ortes von Moores (2004). Indem er von unterwegs Termine koordiniert, befindet er sich somit in beweglichen Kommunikationsräumen (vgl. Bull 2004). Das hat allerdings auch zur Folge, dass Mobile Typen als Handynutzer demnach die Orte, an denen sie sich befinden, ihren Bedürfnissen anpassen: Indem mobile Technologien eine Prioritätensetzung ihrer Nutzer über die lokalen Gegebenheiten ihrer Umwelt hinweg ermöglichen, verändert sich auch die Struktur (öffentlicher) Orte, die nun zunehmend durch Mobilkommunikation geprägt werden (vgl. Bull 2004: 289), was einerseits neutral ausgedrückt als eine Ausdehnung von persönlichem ‚MediaSpace’ (Couldry/McCarthy 2004) gefasst, andererseits allerdings auch als die Privatisierung (öffentlicher) Orte (Bull 2004) dargestellt werden kann. Zweitens verdeutlicht das Zitat eine flexiblere Gestaltung von Zeit durch die Handyaneignung: Indem der ‚Mobile’ sich auf dem Weg zu einem Termin befindet, fixiert er gleich einen weiteren, ohne dass er dafür zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem konkreten Ort sein muss. Denn drittens hat er alle notwendigen Daten in seinem Handy gespeichert und damit immer bei sich, so dass er in jeder beliebigen Situation darauf zurückgreifen kann. In folgendem Zitat kommen noch einmal das veränderte Verhältnis zum physischen Ort und die wahrgenommene Flexibilität durch mobile Kommunikationsräume zum Ausdruck: „Man kann eigentlich immer überall sein, in dem Sinne also dass man, ja, ich bin jetzt zwar in der Uni, aber trotzdem kann ich derweil dann irgendwie meine Arbeitszeiten irgendwie regulieren oder irgendwie Babysitten und was weiß ich nicht so alles trotzdem organisieren und machen.“ (Kerstin, 21 Jahre)
Der Mobile Typus nimmt durch das Handy also eine hohe Mobilität im Alltag wahr und gestaltet sie: Die Wortwahl ‚immer überall sein’ drückt die für ihn zentrale Stellung des sozialen Netzwerkes aus und das damit verbundene Bedürfnis, nichts verpassen zu wollen, was im Freundeskreis passiert. Die Äußerung ‚alles gleichzeitig machen’ verdeutlicht sein Bedürfnis nach Effizienz und Steuerung der Koordination seiner Aktivitäten. Damit ist das mobile Kommunikationsverhalten des Mobilen Typus ein gutes Beispiel für die beschriebene Individualisierung der Kommunikation (vgl. Burkart 2000) und das Entstehen von mobilen translokalen Kommunikationsräumen (vgl. Hepp 2004c) sowie ein verändertes Verhältnis zum physischen Ort in Form einer Privatisierung (öffentlicher) Orte (vgl. Bull 2004) mit dem Smart-Phone als multimedialem Kommunikationsinstrument zur Herstellung von Konnektivität (vgl. Tomlinson 2005). Darüber hinaus lässt sich eine hohe Mobilität bei diesem Typus nicht nur in kommunikativer und lokaler Hinsicht feststellen, sondern auch bezogen auf seine sozialen Kontakte: Verabredungen zu einem Face-to-Face-Treffen mit Freunden werden meistens per SMS oder Anruf ausgemacht. Dies geschieht überwiegend von unterwegs und spontan, beispielsweise auf dem Weg nach Hause im Auto, in einer mobilen Situation der Zeitüberbrückung, in einem mobilisierten Kommunika-
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tionsraum. So wie durch das Handy das Kommunikationspotenzial und die Kontaktfrequenz mit der Clique gesteigert worden sind, hat sich ebenso der Zeitrahmen für soziale Kontakte verschoben. Mit jedem Anruf oder mit jeder SMS können sich weitere und neue Möglichkeiten der Freizeitgestaltung anbieten und Treffen mit Freunden werden per Handy genauso schnell wieder verschoben oder abgesagt, wie sie vereinbart wurden: „Da können Sachen dazwischen kommen die man ja dann, man plant dann vielleicht doch schon anders, weil man eigentlich, wenn man nicht die Möglichkeit hätte das [...] einfach alles umzuwerfen, [...] dann würd es mit der Verabredung Samstag bestimmt so bleiben. Aber durchs Handy ist es dann auch so, dass man ja noch kurzfristig sagen kann nee, also ich plan das jetzt um dann können wir das so und so machen oder so, und dann kann das schon Donnerstag ganz anders wieder aussehen für Samstag.“ (Kerstin, 21 Jahre)
Im sozialen Netzwerk des Mobilen Typus werden demnach Verabredungen tendenziell nur noch kurzfristig angesetzt, oftmals für denselben Tag, so dass Treffen nicht über eine lange Zeit im Voraus geplant werden. So wie sich dieser Typus in seinen mobilen Kommunikationsräumen bewegt, illustriert das Zitat, dass er sich auch in seinen Freizeitaktivitäten in Form von Verabredungen mit Freunden ganz bewusst nicht festlegen will, sondern sich stattdessen immer die Option offen hält, kurzfristige Änderungen vornehmen zu können. Falls sich neue Möglichkeiten ergeben, will er nicht gebunden sein an vorher fixierte Termine. Resümierend kann man konstatieren, dass sich die hohe Mobilität dieses Typus in Abhängigkeit zur Handyaneignung durch vielerlei Ausprägungen konstituiert, wobei mit jeder Ausprägung spezielle Handlungsweisen des ‚Mobilen’, die situations-spezifische Handyaneignung betreffend, verbunden sind. Diese dargestellten Aneignungspraktiken lassen das Fazit zu, dass der Mobile Typus das Handy als einen bedeutungsvollen und festen Bestandteil in sein Leben integriert hat, womit deutlich wird, dass die Alltagswelt des Mobilen Typus zumindest durch das Handy vollkommen „mediatisiert“ (Krotz 2001 sowie Couldry/McCarthy 2004) ist. Noch deutlicher wird dies vor allem daran, dass Angehörige dieses Typus vielerlei Vorteile mit dem Handy assoziieren und darüber hinaus auch reflektieren, wie diese ihren Alltag verändert haben: Das Mobiltelefon ermöglicht eine Intensivierung bzw. eine permanente Konnektivität zu seinen sozialen Kontakten bei gleichzeitig höherer Mobilität sowie mehr Spontaneität bei alltäglichen Terminkoordinationen und ständiger Erreichbarkeit: „Ja, die Flexibilität ist durchs Handy erhöht worden.“ (Steffen, 21 Jahre). „Weil man einfach flexibler ist, also man kann [...] die Zeiten besser koordinieren, weil man nicht an einen Platz oder Ort zurück muss, weil man da erst mal dann telefonieren kann oder das absprechen kann. Ich könnte jetzt von hier aus mich mit jemanden in der Stadt treffen oder so, dem könnt ich jetzt Bescheid sagen.“ (Kerstin, 21 Jahre)
Daran wird deutlich, dass der Mobile Typus das Handy vollständig in seine Alltagswelt integriert hat und in mobilen Kommunikationsräumen lebt, weshalb ein Leben ohne seinen ständigen Begleiter Handy für ihn nur schwer denkbar wäre: „Weil man´s sich einfach überhaupt nicht mehr vorstellen kann, dass es nicht da ist.“ (Kerstin, 21 Jahre) Das Handy ist offenbar so verankert im Bewusstsein des ‚Mobi-
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len’ als wäre es ein Teil seiner selbst, wenn auf die Frage ‚Könntest du es dir noch vorstellen ohne Handy?’ geantwortet wird: „Nee [...] ((kopfschüttelnd)), weil ich mach wirklich alles über mein Handy, also ich verabrede mich und für die Arbeit bin ich da zu erreichen und alles also.“ (Michaela, 20 Jahre). Das Handy wird vom ‚Mobilen’ als Instrument für ‚alles’ wahrgenommen, die Pflege sozialer Kontakte und Erreichbarkeit für den Arbeitgeber sind nur zwei Beispiele. Der mobilisierte Alltag wäre demzufolge nicht mehr so einfach zu bewältigen ohne Handy. Das lässt den Schluss zu, dass die mobile Alltagswelt erst mithilfe des Handys konstruiert worden ist, sowie im Umkehrschluss, dass zu deren Organisation und Artikulation das Handy benötigt wird, weil sie sonst in dieser Form nicht lebbar wäre. Das mobile Kommunikationsverhalten Jugendlicher und junger Erwachsener des Mobilen Typus steht demzufolge in einem positiven Zusammenhang mit der Mobilisierung ihres Lebens(-stils): Er überträgt sein mobiles Kommunikationsverhalten auf seine soziokulturelle Umwelt, die sich in Folge dessen ebenfalls zunehmend mobilisiert. In diesem Fall ist es also nicht nur der Lebensstil, der als Bestimmgrund und Kontext für die Medienaneignung eine Rolle spielt (vgl. Höflich 2003), sondern die Aneignung eines neuen Mediums verändert den bisherigen und bringt einen differenten Lebensstil mit neuen Elementen hervor: Den mobilen Lebensstil. Dieser Typus illustriert, dass ein mobiler Lebensstil in beweglichen Kommunikationsräumen tatsächlich in Abhängigkeit zum Handy bei jungen Menschen existiert und weiterhin, dass Handys eine mobile Konnektivität personaler Kommunikation ermöglichen. Demnach vollzieht sich eine Interdependenz in der Konstitution des mobilen Alltags und Lebensstils und der Handyaneignung des Mobilen Typus. Das legt das Fazit nahe, dass die Handyaneignung einen erheblichen Einfluss auf die Mobilität und sogar auf den gesamten Lebensstil des Mobilen Typus hat, in dessen Zentrum mittlerweile die Mobilität, ermöglicht durch das Handy, steht. Eine andere Gruppe der Handynutzer verhält sich zum Mobilen Typus weitestgehend konträr. Sie soll im nächsten Abschnitt dargestellt werden.
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Der Beziehungstypus
„Übers Handy ruf ich meistens immer nur Mama oder Papa an.“ (Kathrin, 17 Jahre)
Der Ausdruck ‚Beziehungstypus’ soll fassen, dass hier eine spezielle Art der Beziehungskommunikation charakteristisch ist: Er eignet sich sein Handy im Wesentlichen zur zielgerichteten Kontaktierung weniger ausgewählter Personen bzw. Personenkreise an. Sein wenig ausgeprägtes mobiles Kommunikationsverhalten sowie die starke Kostenorientierung sind weitere Charakteristika dieses Typus, außerdem kennzeichnet ihn in der Handyaneignung der Fokus auf die Sicherheitsorientierung. Die Beziehungskommunikation gestaltet sich in der Form, als dass die häufigsten Kontaktpartner dieses Typus die Eltern bzw. die Partnerin oder der Partner sind, wie folgendes Zitat illustriert: „Also wenn ich meine Freundin nicht hätte, dann
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könnte ich das Handy glaube ich ganz abmelden.“ (Sebastian, 22 Jahre). Dabei ist das Kommunikationsverhalten weit weniger ausgeprägt als beim Mobilen Typus, der Beziehungstypus schreibt maximal vier SMS pro Tag und tätigt höchstens einen Anruf. Interessant ist hier der Kommunikationsanlass, der meist nicht in der Kontaktaufnahme zum sozialen Netzwerk oder der Organisation des Alltags besteht, sondern primär zur Absicherung, um Eltern oder dem Partner mitzuteilen, dass alles in Ordnung ist, wenn Angehörige dieses Typus unterwegs sind: „um irgendwas Bescheid zu sagen, wenn ich wiederkomme, wo ich bin ob ich irgendwas, Plan sich irgendwie geändert hat.“ (Tanja, 19 Jahre) oder „Also meistens ist es so, wenn meine Freundin oder so abends weggeht denn nach Hannover oder so, da sagen wir [...] wir vereinbaren, schreib noch mal kurz `ne SMS, dass sie Zuhause angekommen ist.“ (Sebastian, 22 Jahre). Dieser Typus eignet sich das Handy primär zur Befriedigung des Sicherheitsbedürfnisses an. Konträr dazu steht allerdings seine häufige Erreichbarkeitsverweigerung, die sich darin ausdrückt, dass er das Handy oftmals nicht mitnimmt, wenn er für Freizeitaktivitäten das Haus verlässt. Hier existieren allerdings geschlechtsspezifische Differenzen, weibliche Beziehungstypen haben ihr Handy häufiger bei sich – aus den genannten Sicherheitsmotiven – als männliche. Somit existiert nicht wie beim Mobilen Typus eine situations- und ortsunabhänigige Aneignung des Handys, sondern im Alltag des Beziehungstypus gibt es viele Situationen der Mobilkommunikationsverweigerung: „Ich finde, man muss nicht immer erreichbar sein, also wenn ich zur Freundin fahre nicht, wenn ich irgendwo auf `m Geburtstag bin, wenn ich irgendwo nach Hannover `n bisschen Party mache, nehm ich’s auch nicht mit, weil wie gesagt, da will ich dann nicht erreichbar sein.“ (Sebastian, 22 Jahre)
Hier wird bereits deutlich, dass in Verbindung mit dieser anderen Form der Handyaneignung des Beziehungstypus (im Vergleich zum Mobilen Typus) kaum Mobilität in seinem Alltag entstehen kann, die offenbar von ihm auch nicht gewollt ist. Vielmehr empfindet der Beziehungstypus Kontrolle durch permanente Erreichbarkeit, weshalb er eine ständige Handyaneignung ablehnt. Es entstehen demnach zeitlich sehr begrenzte und situativ eingeschränkte mobile Kommunikationsräume im Gegensatz zum Mobilen Typus, der sich vollständig in einer mobilisierten Lebenswelt befindet. Dies ist auch auf die ausgeprägte Kostenorientierung des Beziehungstypus zurück zu führen, welche ihn dazu veranlasst, gezielt mit dem Anrufen zu warten, bis er Zuhause das Festnetz zur Verfügung hat, um nicht das Handy benutzen zu müssen: „Wenn ich in `ner Bahn sitze und denke, hm, den könnte ich mal wieder anrufen, dann ruf ich nicht vom Handy aus an, dann warte ich, bis ich Zuhause bin.“ (Tanja, 19 Jahre). Auch hier grenzt sich dieser Typus deutlich vom Mobilen Typus ab, der spontan mobil telefoniert und keine Rücksicht auf Kosten nimmt. Konträr dazu telefoniert der Beziehungstypus fast ausschließlich aus einer nicht-mobilen Situation von Zuhause, womit er seine kommunikative Mobilität selten nutzt, um von unterwegs Verabredungen zu treffen oder Termine zu koordinieren. Diese Aneignung verweist auf eine deutlich niedrigere kommunikative Mobilität des Beziehungstypus im Vergleich zum Mobilen Typus.
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Das kommunikative sowie auch das soziale Handeln des Beziehungstypus hat sich durch die Aneignung des Mobiltelefons demnach temporär begrenzt flexibilisiert, von einer Mobilisierung kann in diesem Fall allerdings nicht gesprochen werden. Die Flexibilisierung bezieht sich demzufolge nur auf seinen Kommunikationsstil und die Interaktion mit seinem sozialen Netzwerk, wobei die sozialen Kontakte – konträr zu denen des Mobilen Typus – nicht gekennzeichnet sind durch Spontaneität und Unverbindlichkeit, sondern der Beziehungstypus durchaus fixe Verabredungen über längere Zeiträume trifft, meistens allerdings per Festnetztelefon, die dann per SMS nochmals bestätigt werden. Der Bezug zur Artikulation des Lebensstils ist bei diesem Typus folgender: Offenbar besteht nur ein sehr geringer Zusammenhang zwischen mobiler Kommunikation und Lebensstil, da die Handyaneignung nicht kontinuierlich, sondern eher situativ verläuft. Man kann hier von einer temporären Integration des Handys in den Lebensstil des Beziehungstypus sprechen, die jedoch unter ganz anderen Gesichtspunkten erfolgt als beim Mobilen Typus. Die Aneignung der Mobilkommunikation des Beziehungstyps wird überwiegend geleitet vom Motiv des Sicherheitsaspekts und nicht von Mobilität im sozialen Netzwerk oder flexiblerer Koordination seiner Alltagsaktivitäten. Deshalb erfolgt aufgrund der Handyaneignung keine Veränderung des bisherigen Lebensstils hinsichtlich einer Mobilisierung, sondern der Beziehungstyp integriert das Handy so in seinen Alltag, dass die Mobilkommunikation seinen Lebensstil zumindest situativ und temporär flexibilisiert, jedoch keinesfalls mobilisiert wie beim Mobilen Typus. Es kommt somit nicht zu einer Artikulation eines neuen (mobilen) Lebensstils.
4.3
Der Praktische Typus
„Wie soll ich `n das sagen, welche Rolle das spielt, also [...] eben `n Gebrauchsgegenstand, ne, der auch mit dabei sein sollte.“ (Christian, 18 Jahre)
Wie der Name ausdrückt, beläuft sich die Aneignung des Handys durch diesen Nutzungstypus auf den praktisch-funktionellen Gebrauch in seinem Alltag. Das Wesentliche, was den Praktischen Typus kennzeichnet, ist somit die Betrachtung des Handys als nützlichen Gebrauchsgegenstand zur Organisation der lokalen Mobilität seiner Alltagsaktivitäten. Darüber hinaus charakterisiert ihn ein Lebensstil mit Ausrichtung auf lokale Interessen und eher begrenzten sozialen Kontakten. Konträr zu den anderen Typen sind es beim ‚Praktischen’ immer konkrete Anlässe, weshalb er das Handy nutzt. Er telefoniert, um sich einen Rat zu holen und nicht, um soziale Kontakte zu pflegen oder sich abzusichern, weshalb seine Handykontaktpartner häufig Arbeitskollegen und seltener Freunde sind. Diese Aneignungspraktiken geben bereits Aufschluss darüber, dass es sich bei dem Kommunikationsanlass auch um einen ‚wirklichen’ Grund handelt, weshalb der ‚Praktische’ anruft: „`n Problem zum Beispiel [...] wo man nicht weiter weiß, ja, das war`s
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eigentlich, [...] und `n Notfall eben.“ (Christian, 18 Jahre). Deshalb bevorzugt er auch die Kommunikationsform Anruf, weil er so zu einer schnelleren Lösung des Problems kommt und nicht wie bei einer SMS die Antwort abwarten muss. Schneller problemorientiert kommunizieren zu können, ist hier das zentrale Kriterium für die Wahl der mündlichen Form der Mobilkommunikation. Darin besteht eine erhebliche Divergenz zu den anderen Typen, welche das Handy im weitesten Sinne aus sozial oder emotional geleiteten Motiven aneignen. Charakteristisch für den Praktischen Typus ist weiterhin keine temporär-situative, sondern seine kontinuierliche Nutzung des Handys im gesamten Tagesverlauf, womit er dem Mobilen Typus näher steht als dem Beziehungstypus. „Wenn ich weggehe, hab ich’s meistens zu 95 Prozent dabei.“ (Christian, 18 Jahre). Seine permanente Erreichbarkeit tagsüber und die damit verbundene Handynutzung orts- und situationsunabhängig von überall konstituieren eine hohe kommunikative Mobilität. Was ihn jedoch deutlich vom Mobilen Typus abgrenzt ist die Tatsache, dass der ‚Praktische’ durch das Handy kaum mehr Flexibilität oder Mobilität in seinem Alltag wahrnimmt, wenn er die Frage ‚Fühlst du dich flexibler durch das Handy?’ beantwortet: „Joa, kann man so sagen, aber [...] ja, irgendwo schon Bescheid sagen so, ne, aber eigentlich nicht, es ist ganz normal.“ (Christian, 18 Jahre). Das ‚ganz normal’ drückt aus, dass der ‚Praktische’ seinen jetzigen Tagesablauf gar nicht kennt ohne Handy, weil er es von Anfang an integriert hat. Demzufolge reflektiert er die durch das Handy möglicherweise gewonnene Flexibilität und kommunikative Mobilität in seinem Alltag nicht, weil es (inzwischen) normal für ihn ist, überall die Möglichkeit zum mobilen Kommunizieren zu haben. Nichtsdestotrotz lebt er aber seine hohe Mobilität im Alltag mit Hilfe des Handys aus. Somit ist sein Alltag ähnlich mediatisiert durch das Handy und er bewegt sich in mobilen Kommunikationsräumen wie der Mobile Typus. Für den ‚Praktischen’ ist demzufolge das Handy ein Instrument zur Organisation und Koordination seiner hohen lokalen Mobilität im Alltag. Da er häufig sowohl beruflich als auch privat unterwegs ist, gibt ihm das Handy die Möglichkeit der flexiblen Koordination, der organisatorisch-zweckrationale Aspekt ist bei ihm vordergründig. Obwohl seine sozialen Kontakte wenig ausgeprägt sind und er im Gegensatz zu den anderen Typen nicht Mitglied einer festen Clique ist, eignet sich der Praktische Typus das Handy zur Nahraumkommunikation an. Das Konnektivitätsbedürfnis (vgl. Bull 2005; Tomlinson 2005) bezieht sich hier allerdings nicht so sehr auf eine Kontaktherstellung zum Freundeskreis, sondern auf die Verbindung zu seinen Arbeitskollegen. Man kann damit den Praktischen Typus auf der Mobilitätsebene zwischen dem Mobilen und dem Beziehungstypus ansiedeln, da ein wesentlicher Teil seines Alltagslebens von Mobilität gekennzeichnet ist. Der ‚Praktische’ eignet sich – ähnlich wie der ‚Mobile’ – das Handy als Koordinationsinstrument seiner Alltagswelt an, worin es ein fester Bestandteil ist. Dabei verändert die Handynutzung den Alltag des Praktischen Typus, indem es ihn auf organisatorischer Ebene erleichtert und flexibilisiert, da seine Alltagswelt durch eine hohe lokale Mobilität gekennzeichnet ist. Jedoch trägt die Aneignung nicht so maßgeblich zur Artikulation des Alltags und Lebensstils bei wie beim Mobilen Typus.
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Nach eigenen Angaben könnte der ‚Praktische’ zumindest eine begrenzte Zeit auf sein Handy verzichten: „Also, wenn es jetzt von heute auf morgen nicht mehr geht, dann würd ich jetzt nicht sofort losfahren und dass ich `n neues kriege, das kann dann auch ruhig mal `ne Woche dauern oder so.“ (Christian, 18 Jahre). Mögliche Gründe dafür könnten erstens sein, dass er kein ausgeprägtes soziales Netzwerk hat, zu dessen Kontaktierung das Handy essentiell ist, sowie zweitens, dass er gar nicht weiß, wie sein jetziger Alltag ohne Handy verlaufen würde, da er es noch nie erlebt hat. Die hohe lokale Mobilität im Lebensstil des Praktischen Typus würde auch ohne Handy stattfinden, da sie überwiegend berufsbedingt ist und das Handy sie nur kommunikativ begleitet und ‚absichert’, womit die Alltagsaktivitäten des ‚Praktischen’ zwar umständlicher würden ohne Handy, jedoch dennoch lösbar wären. Die Handyaneignung konstituiert also nur bedingt eine höhere Mobilität im Lebensstil des Praktischen Typus. Hier besteht allerdings keine Interdependenz wie beim Mobilen Typus. Somit kann man nicht von einer Artikulation eines wirklich neuen Lebensstils durch die Handyaneignung sprechen, der ohne das Handy nicht aufrecht zu erhalten wäre. Sondern vor diesem Hintergrund erscheint der Begriff mobilisierter Lebensstil im Kontext der Handyaneignung adäquat.
5 Fazit: Chancen und Risiken der Handyaneignung Die vorliegende Untersuchung vermittelt einen ersten Eindruck über qualitative Unterschiede in der Aneignung des Handys und im mobilen Kommunikationsverhalten Jugendlicher und junger Erwachsener – und damit auch über Differenzen in dessen Integration in den individuellen Alltag, persönliche Mobilitätsräume sowie den Lebensstil der verschiedenen Handynutzer. Das Ergebnis ist, dass drei Aneignungstypen herausgearbeitet wurden, für die Mobilkommunikation eine jeweils andere Bedeutung hat. Am bemerkenswertesten scheint, dass kein Lebensstil ‚unberührt‘ von der Handyaneignung bleibt, sondern die Mobilkommunikation – wenn auch in ganz unterschiedlichen Ausprägungen – in verschiedene Lebensstile dreier Typen integriert wird. Für den Kontext der Untersuchung Mobilität, Mobilkommunikation und Lebensstil ist sicherlich der Mobile Typus am bedeutendsten, den das am weitesten entwickelte und am höchsten ausgeprägte mobile Kommunikationsverhalten charakterisiert. Sein mobiler Lebensstil artikuliert sich in wechselseitiger Abhängigkeit zur mobilen Kommunikation. Deshalb kann man in diesem Fall das Handy als Medium zur Herstellung von Mobilität und Konnektivität benennen. Die drei generierten Nutzungstypen unterscheiden sich v.a. in Bezug auf die Aneignungsaspekte, Handykontakte, Aneignung (als Integration), Kommunikationsanlass, Erreichbarkeit und Mobilität (siehe Tabelle 1). Die Ergebnisse verdeutlichen, dass sich Alltag und Lebenswelt von Jugendlichen und jungen Erwachsenen durch die Aneignung von Mobilkommunikation in unterschiedlichen Ausprägungen als mediatisiert bezeichnen lassen (vgl. Krotz 2001
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und Couldry 2004), was auf eine Mobilisierung hinauslaufen kann, jedoch nicht zwangsweise muss. Tabelle:
Typenübersicht
Handykontakte
Aneignung
Kommunikationsanlass
Erreichbarkeit Mobilität
Mobiler Typus Beziehungstypus häufig und intensiv: weniger intensiv: Clique, Freundeskreis Eltern, Partner, Clique vollständige Integra- temporäre und situation und Artikulation tionsabhängige Intedes Alltags gration in die Alltagswelt Pflege sozialer KonEltern und Partnerin takte, Freizeitgestalbenachrichtigen, tung, AlltagskoorSicherheitsbedürfnis dination sehr hoch: immer eingeschränkt: nicht immer sehr hoch begrenzt
Praktischer Typus weniger häufig und intensiv: ‚Kumpels’, Arbeitskollegen vollständige Integration jedoch kaum Artikulation des Alltags Problemlösung, um Rat fragen
hoch: fast immer hoch
Je nach Motiv bzw. Intention bestehen unterschiedliche Aneignungspraktiken für das Handy, die teilweise (wie z.B. beim Mobilen Typus) in einem positiven Zusammenhang mit den theoretischen Vorüberlegungen stehen. Einerseits erscheinen die Theorien des „MediaSpace“ von Couldry und McCarthy (2004), die der Pluralisierung von Orten und Realitäten (Moores 2004), der Entstehung und Wahrnehmung von beweglichen Kommunikationsräumen (Bull 2004) sowie die der Konnektivität (Hepp 2004c; Tomlinson 2005) als geeignete Ansätze für eine Auseinandersetzung mit Mobilkommunikation. Für eine Gruppe Jugendlicher besteht in der Mobilisierung und Flexibilisierung des Alltags durch kommunikative ‚Überwindung’ der örtlichen Grenzen der Gewinn der Handykommunikation, sie charakterisiert ein großes Bedürfnis nach Konnektivität, das sie mit dem Handy befriedigen. Jedoch zeigen die Ergebnisse der Studie ebenso, dass das, worin die einen das Potenzial und die Chancen der Mobilkommunikation sehen, andere als Beschränkungen und Risiken empfinden, weshalb sie die Handynutzung auf wenige Situationen reduzieren. So empfindet eine andere Gruppierung in der kommunikativen Vernetzung – überspitzt formuliert – eine Einschränkung der Privatsphäre und Kontrolle durch übermäßige kommunikative Konnektivität und befürchtet hohe Kosten in Zusammenhang mit dem Handy. Geleitet wird diese Gruppe in der Handyaneignung ausschließlich durch das Motiv der Absicherung bei Mobilität. Resümierend lässt sich demnach festhalten, dass sich durch die Aneignung von Mobilkommunikation ebenso viele Chancen wie Risiken ergeben, was von allen Aneignungstypen auf differente Art und Weise wahrgenommen wird, weshalb das Mobiltelefon ein unterschiedlich stark integrierter Bestandteil ihrer soziokulturellen Alltagswelt und damit auch ihres Lebensstils ist, insgesamt jedoch aus der Lebenswelt der Jugendlichen nicht mehr wegzudenken ist.
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Anmerkungen 1 2
Siehe http://www.handelsblatt.com [18.07.05]. Stuart Hall folgend hat der Artikulationsbegriff zweierlei Bedeutungen, nämlich erstens unterschiedliche „Elemente zu verbinden“ sowie zweitens „sich zu äußern“ (vgl. Hall 1986: 141 sowie Hepp 2004a: 50f.). Im Rahmen einer Medienanalyse im Sinne der Cultural Studies wird Artikulation hier verstanden als ein diskursives In-Beziehung-Setzen einzelner Elemente, die dadurch ihre Bedeutung verändern und wodurch sie zu Momenten eines ‚größeren Diskurses’ (vgl. Hepp 2004a) werden: Ein Diskurs kann in diesem Verständnis als das „Produkt von sozialen, historischen und institutionellen Formationen“ (Hepp 2002: 36) gefasst werden. 3 Wenn im Folgenden der Begriff Mobilkommunikation verwendet wird, so fokussiert er primär die mobile Kommunikation per Handy und stellt die anderen mobilen Terminals zurück. 4 Townsend (2000) stellt in diesem Zusammenhang weiter fest, dass Individuen, die sich ganz auf den neuen durch das Mobiltelefon ermöglichten Lebensstil einlassen, einen wichtigen Wandel erfahren: Zeit wird zu einer Tauschware, die über das Telefon nach Belieben gehandelt werden kann. 5 Allerdings bringt die höhere Flexibilität und Mobilität nicht zwangsweise nur Vorteile mit sich. Die Verbindlichkeit einer fixen Verabredung beispielsweise ist mit der Möglichkeit, sich jederzeit wieder neu entscheiden zu können, nahezu völlig aufgelöst worden (vgl. Dworschak 2004). Wenn Mobilität nicht nur zu mehr Flexibilität, sondern teilweise zur Loslösung von Verbindlich- und Verlässlichkeit führt, ist ein Überdenken und Reflektieren der eigenen Werte als Handlungsbasis für den Umgang mit der mobilen Technologie notwendig. 6 Auch Kristof Nyiri konstatiert: „Mobile telephony is of course at all times entirely bound up with real places. At a pedestrian level […] it is based on a cellular system of transmission towers […]. At a more elevated level, we should note that most mobile calls and SMS messages are domestic, and are in fact connected to some local situation…” (2005: 18). Ähnlich hält auch Joachim Höflich fest, dass sich Menschen zwar temporär durch ein Telefongespräch von ihrem (öffentlichen) physischen Ort entfernen, dies jedoch nicht in völliger Unabhängigkeit geschieht, da sie sich durchaus der sozialen Normierungen des Ortes, an dem sie sich befinden, bewusst sind (vgl. Höflich 2005a). 7 Vgl. auch Puro 2002 8 Vgl. auch Höflich/Gebhardt 2005c sowie Krotz 2005a 9 Der Aneignungsbegriff soll hier nicht bloß im eingeschränkten Sinne einer reinen kommunikativen Aneignung verstanden werden, sondern Aneignung geht über den Ansatz wie er der Mediennutzungs- und Kommunikationsforschung zugrunde liegt hinaus: Dieser differenziert Mediennutzung in verschiedene Teilphasen wie prä-kommunikative Phase (Medienauswahl), kommunikative Phase (Medienrezeption) und post-kommunikative Phase (Medienaneignung). Somit umfasst der hier verwendete Aneignungsbegriff im Rahmen der Cultural Studies sowohl das kulturell kontextualisierte als auch Kultur (re)artikulierende ‚Sich-zu-Eigen-Machen’ von Medieninhalten (durch personale Kommunikation) (vgl. Hepp 2004b). 10 Der Begriff umfasst, dass man mit dem Handy außer telefonieren auch fotografieren, Kurzvideos drehen oder weitere Dienstangebote nutzen kann (vgl. BMWA 2004). 11 Vgl. dazu exemplarisch auch Bovill/Livingstone 2001 sowie Bug/Karmasin 2003 12 Peer-Groups sind Gleichaltrigengruppen bestehend aus Individuen mit im weitesten Sinne ähnlichen Interessen in der Phase der Jugend mit teilweise recht lockeren Beziehungs-
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strukturen, in denen Jugendliche Werte und Normen verhandeln, Handlungsorientierungen bilden und ihre Identitätsprofile entwerfen (vgl. Neumann-Braun 2003: 16). 13 Vgl. Kluge 1999; Weber 1976 14 Das Prinzip der Homezone ist folgendes: Der Nutzer definiert anhand einer Adresse seine Homezone, in der ein Häuschen auf seinem Handydisplay erscheint und in der er zu besonders günstigen Konditionen telefonieren kann. Die Homezone hat eine Größe von mindestens 500 Quadratmetern in jede Richtung, ausgehend von der definierten Adresse. Im Umkreis seines Festnetzanschlusses von einigen hundert Metern kann der Mobilfunkteilnehmer mit seinem Handy zum Festnetzpreis telefonieren (vgl. Mobilfunk-Lexikon: http://www.inside-handy.de/mobilfunk-lexikon [07.02.05]).
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Verhandlungssache Geschlecht: Eine Fallstudie zur kulturellen Herstellung von Differenz bei der Rezeption von Musikvideos Ute Bechdolf
1 Vorbemerkungen An deutschen Hochschulen haben feministische Perspektiven und Denktraditionen – meist unter dem Begriff ‚Gender Studies‘ zusammengefasst – in allen Disziplinen bis heute einen weitaus schwereren Stand als an britischen oder US-amerikanischen Universitäten (vgl. Ecker 1996) – nach einer zögerlichen Berücksichtigung in den 1990er Jahren verschwanden sie oft kurze Zeit später wieder aus den Curricula. Unterzieht man die Selbstdarstellungen der im letzten Jahrzehnt neu entstandenen kulturwissenschaftlichen Studiengänge einer kritischen Prüfung, studiert man die Programme einschlägiger Konferenzen, zeigt sich auch hier das vertraute Bild: Die sich in Deutschland derzeit etablierenden Kultur-, Kommunikations- und Medienwissenschaften betrachten Geschlecht selten als grundlegende kulturelle Kategorie. Während der Feminismus, wie auch Stuart Hall (1994) mehrfach angemerkt hat, im internationalen Kontext der Cultural Studies als eine der wichtigsten sozialen Bewegungen der letzten Jahre gilt, werden im Etablierungsprozess in Deutschland wichtige Chancen vergeben. Dieses Phänomen lässt sich auf eine langjährige Rezeptionssperre vieler Forscher gegenüber der auch in Deutschland interdisziplinär arbeitenden kulturwissenschaftlichen Geschlechterforschung zurückführen. Da sich meine eigene Arbeit auf die feministischen Ansätze der Cultural Studies stützt, bietet es sich an, vor der Präsentation der Fallstudie einen kurzen – und notwendigerweise holzschnittartigen – Blick auf einige zentrale Aspekte der Gender Studies zu werfen.
2 Feminist Cultural Studies Die Anfänge der British Cultural Studies waren – wie der überwiegende Teil der Geisteswissenschaften in den 1950er Jahren – von Universalisierungen männlicher Kulturpraxen geprägt (für eine ausführlichere Darstellung vgl. Franklin/Lury/Stacey 1991): Zahlreiche Studien zur Arbeiter- und Jugendkultur konzentrierten sich auf männliche
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Stile der Rebellion und grenzten dabei weibliche Sichtweisen und Erfahrungen aus. Gegen diese Marginalisierung setzten sich einige Birminghamer Wissenschaftlerinnen zur Wehr, formten die Women‘s Studies Group (1978) und füllten in den folgenden Jahren die von männlichen Forschern verursachten Lücken mit ihren Arbeiten aus (z.B. McRobbie/Garber 1979). Auch in der Medienforschung (für einen Überblick vgl. Baehr/Gray 1996 bzw. Zoonen 1994) standen für viele feministische Wissenschaftlerinnen die vernachlässigten und degradierten weiblichen Vorlieben und Erfahrungen im Zentrum des Interesses. In textanalytischen Studien wurden besonders die Genres Mädchenzeitschrift, Liebesroman, Melodram und Soap Opera unter die Lupe genommen, und viele ethnografische Rezeptionsstudien konzentrierten sich auf ein weibliches Publikum, um die medialen Faszinationen von Frauen analysieren zu können. Charlotte Brunsdon (1993) verwies in einem eindrucksvollen Aufsatz auf die Vorzüge, aber auch auf die Problematik der feministischen Fernsehforschung der 1980er Jahre. Zwar stand die allzu oft ignorierte Subjektivität von Frauen im Zentrum, wurden nicht nur ihre Vorlieben und Erfahrungen, sondern auch ihre medialen und freizeitgestalterischen Aktivitäten durch die Forschung validiert, doch legten die Forscherinnen damit gleichzeitig fest, was ‚Frau‘ ist und konstruierten – von verschiedenen theoretischen Standpunkten aus – eine weibliche Identität, die sich von einer männlichen grundlegend unterscheidet. So wichtig diese Untersuchungen von vergeschlechtlichten (‚gendered‘) Texten und Zuschauerschaften für die Kritik an der Verallgemeinerung männlicher Kulturpraxen waren, so erschweren sie doch aus heutiger Sicht die Wahrnehmung und Untersuchung von Differenzen zwischen Frauen. Auch die Frage, wie unterschiedliche Geschmacksausprägungen oder Nutzungsweisen kulturell produziert werden, lässt sich mit dieser Perspektive nicht beantworten.
3 Gender Studies Unter dem Einfluss von poststrukturalistischen und konstruktivistischen Theorien vollzog sich innerhalb der letzten fünfzehn Jahre ein Paradigmenwechsel in der Betrachtungsweise von Geschlecht (z.B. McRobbie 1994). Während frühere feministische Theorien eine Trennung von Geschlecht in ‚sex‘ und ‚gender‘ etablierten, in der ‚gender‘ lediglich die kulturelle Überformung des natürlich gedachten ‚sex‘ darstellte (damals eine wichtige Trennung, um die Historizität der unterschiedlichen HierarchieAusprägungen betrachten zu können), fallen diese beiden Begriffe inzwischen wieder zusammen. Auch die Vorstellung von ‚sex‘ als biologische Grundlage von ‚gender‘ ist demzufolge eine kulturell konstruierte (vgl. etwa Gildemeister/Wetterer 1992). Das System der Zweigeschlechtlichkeit wird inzwischen nicht mehr als unhinterfragbare Biologie gesehen, die durch gesellschaftliche Rollenzuweisungen lediglich angereichert wird, sondern als gedankliche Konstruktion, die unsere gesamte Weltsicht durchdringt – und damit nicht als Essenz, sondern als Effekt, als Kultur statt Natur. In Auseinandersetzung mit Judith Butlers Gender Trouble (1991) zeigten in den
Verhandlungssache Geschlecht
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1990er Jahren etliche Wissenschaftlerinnen, wie das (als natürlich verhandelte) System der Zweigeschlechtlichkeit, das männlich und weiblich auf allen Ebenen hierarchisiert, in kulturellen Prozessen ständig neu reproduziert wird. Indem wir davon ausgehen, dass jeder Mensch zwangsläufig ein und nur ein Geschlecht hat, unverwechselbar und unveränderbar, stellen wir Männlichkeit und Weiblichkeit als Polaritäten in all unseren Denk- und Handlungsweisen immer wieder her – ein alltägliches ‚doing gender‘. Medien sind in diesem kulturellen Konstruktionsprozess wichtige Agenturen, sie werden beispielsweise von der Medien- und Kulturwissenschaftlerin Teresa de Lauretis als Technologien der Geschlechter (1987) bezeichnet. Auf allen Ebenen produzieren die Medien ständig – wie andere Instanzen auch – Diskurse über Geschlecht. Als Medienrezipientinnen und Medienrezipienten sind wir also umgeben von einem Geflecht aus Diskursen, Aussagen über die Beschaffenheit von Männlichkeit und Weiblichkeit, über die Differenzen zwischen beiden wie auch über die davon abgeleitete Hierarchisierung. Indem wir darauf Bezug nehmen, uns z.B. identifizieren oder auch von bestimmten Bildern abgrenzen, arbeiten wir an diesem Prozess aktiv mit. Es gibt keine Möglichkeit, sich nicht in diesem Diskursfeld zu positionieren, ein nicht-geschlechtliches Denken und Handeln ist, aus dieser Theorie-Perspektive gesehen, ausgeschlossen. Selbstverständlich können in bestimmten Situationen andere Diskurse wie etwa Schicht oder Ethnizität wesentlich wichtiger sein, doch die Wirksamkeit der diskursiv verbreiteten Macht (Foucault 1977) ist im Feld von Geschlecht und Sexualität besonders groß. Geschlecht entsteht in einer Art Sinn-Bastelei (Hitzler/Honer 1994) also im wechselseitigen Prozess von Repräsentation und Selbstrepräsentation.
4 Musikvideos: Texte und Rezeptionen In diesem alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringenden kulturellen Prozess erscheinen Musikvideos lediglich als kleine Mosaiksteine, doch für viele Jugendliche sind sie enorm wichtig (Altrogge 1999; Quandt 1997). Indem sie textuelle Angebote machen, Bilder, Worte und Klänge zur Verfügung stellen, machen Videoclips auch Rezeptions-Vorgaben, wobei das Spektrum von relativ direkt angebotenen Identifikationsfiguren bis hin zu einem großen Fantasie-Spielraum für potenzielle Geschlechtsidentitäten reicht. Diese Bedeutungsangebote entstehen natürlich nicht in einem luftleeren Raum, sondern die Musikvideos nehmen dominante Diskurse der Differenz und der Hierarchie der Geschlechter auf und arbeiten mit ihnen. Obwohl die tägliche Kost von Kanälen wie MTV und VIVA den traditionellen Konventionen von Weiblichkeit und Männlichkeit entspricht, lassen sich immer auch Clips finden, die spielerisch mit den Diskursen umgehen, sie verfremden, ausweiten und zu überwinden versuchen. Die kultur- bzw. kommunikations- und medienwissenschaftliche Literatur zum Thema Musikvideos ist inzwischen stark angewachsen und es liegen inzwischen auch einige Produktanalysen über die Konstruktion von Geschlecht wie auch über Strategien des ‚gender-bending‘ vor (z.B. Bloss 1998). Während sich die früheren Analysen eher auf die visuelle Stimulanz konzentrierten (z.B. Grigat 1995; Kaplan 1987; Lewis 1990;
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Stockbridge 1989), werden inzwischen die popmusikalischen Grundlagen der Videoclips stärker berücksichtigt. Erste Beispiele waren etwa die Arbeiten von Barbara Bradby (1992), Susan McClary (1991) und Melanie Morton (1993), die sich als erste auch mit der musikalischen Bedeutungsproduktion von Madonna-Videos auseinander setzten. Robert Walser (1993) analysierte Geschlechterkonstruktionen in Heavy Metal-Videos, Clara Juncker (1993) beschäftigte sich mit dem verwirrenden Zusammenspiel von Stimme, Auftreten und Rhythmus in den Videos von Grace Jones, und Richard Middleton (1995) stellte heraus, mit welch differenzierten musikalischen Strategien Annie Lennox, die frühere Sängerin des Pop-Duos Eurythmics, das Arrangement der Geschlechter durcheinanderbringt. Auch Sheila Whiteley (2000), Monika Bloss (2001) sowie der Sammelband „Clipped Differences“ (Helms/Phleps 2003) präsentieren popmusikalische Analysen von Musikvideos. Doch wie die andere Seite dieses kulturellen Prozesses funktioniert, die Bedeutungskonstruktion von Geschlecht durch die Rezipientinnen und Rezipienten, ist bis auf wenige Einzelstudien (Bechdolf 1999; Brown/Schulze 1990; Hurley 1994) unerforscht. Im Kontext der Medientheorien der British Cultural Studies ist – insbesondere bei populärkulturellen Produkten – von relativ offenen Texten auszugehen, von einer potenziellen Polysemie. Die Bedeutung eines Musikstücks oder eines Videoclips ist daher nicht als etwas Fixes, allein im Produkt selbst Angesiedeltes zu betrachten, sondern entsteht erst in der Interaktion der Rezipientinnen bzw. Rezipienten mit den Texten. Das Musikvideosehen ist also immer auch ‚Verhandlungssache‘, denn die jugendlichen Zuschauerinnen bzw. Zuschauer und Zuhörerinnen bzw. Zuhörer nehmen hauptsächlich auf jene Bedeutungen Bezug, die ihnen jeweils am meisten Lust, Vergnügen, Spaß bereiten. Dieses Vergnügen hängt wiederum von verschiedenen Faktoren ab: von der konkreten Sehsituation und Stimmung, von Vorwissen und Mitseherinnen bzw. Mitseher, von Schicht und Bildungsgrad, aber auch Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Alter, psychische Disposition und Musikgeschmack spielen dabei eine Rolle. Meine Rezeptionsforschung zu diesem Themenkomplex ist daher von folgenden Fragen geleitet: Wie wird der Faktor Geschlecht im Umgang mit Musikvideos wirksam? Wie wird Männlichkeit, wie wird Weiblichkeit in der Rezeption artikuliert? Wie wird dabei die Differenz, wie die dominante Hierarchie der Geschlechter reproduziert? Welche inneren Verhandlungen finden beim Musikvideo hören und sehen statt? Und welche Widerstände gegen die Ordnung der Geschlechter können möglicherweise aktiviert werden?
5 Die ethnografische Studie Auf den ersten Blick verhalten sich weibliche und männliche Jugendliche beim Musikfernsehen – wie auch beim Umgang mit Popmusik generell – den dominanten Geschlechterdiskursen dadurch entsprechend, dass sie unterschiedliche Orte, Zeiten, Häufigkeiten und MitseherInnen bevorzugen und teilweise verschiedene Motivationen
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fürs Musikvideo sehen/hören angeben. Wie meine Umfrage unter 200 Schülerinnen und Schülern aus dem Raum Tübingen zeigt, gehen Mädchen dabei eher Nebenbeschäftigungen nach oder sprechen mit ihren FreundInnen über Stars und Mode, während Jungen eher intensiv und konzentriert bei der Sache sind, beim Fernsehen ihre Ruhe haben wollen und Interesse daran signalisieren, die Musiker zu sehen. Behne und Müller (1996) erzielten in einer Untersuchung ähnliche Ergebnisse: Mehr Mädchen gaben an, bei den Hits mitzusingen, gelegentlich Tanzschritte einzuüben, Jungen hingegen kreuzten häufiger an, dass sie sich beim Sehen besonders dafür interessieren, wie die Musik gemacht wird, dass sie sich aber immer wieder auch eigene Bilder zur Musik vorstellen. Diese Ergebnisse beruhen jeweils auf größeren Fragebogenaktionen und werfen vermutlich mehr Licht auf die Einstellungen der Jugendlichen, auf die an sie gestellten sozialen Erwartungen, die sie mit ihren Kreuzchen zu erfüllen (oder abzulehnen) meinen, als auf ihre tatsächliche Umgangsweise mit dem Medium. Um geschlechtsspezifische Differenzierungen alltagsnah zu erforschen, und um Erklärungen für diese Unterschiede zu erarbeiten, wäre eine langfristig angelegte teilnehmende Beobachtung notwendig. Darüber hinaus betreffen die Antworten zunächst nur die Nutzungsweisen, die Rezeption von spezifischen musikalischen bzw. visuellen Inhalten und Formen kann mit solchen Methoden nicht erforscht werden. Daher habe ich Interviews mit 22 weiblichen und männlichen Jugendlichen geführt, zunächst über ihren alltäglichen Umgang mit Popmusik und Musikfernsehen, über ihre Vorlieben und Abneigungen. Ein Jahr später, nachdem sich mein Interesse stärker auf die Geschlechterkonstruktionen fokussiert hatte, bat ich sie um ein zweites Gespräch, in dem wir uns ausführlich über sechs spezifische Musikvideos unterhielten. Diese Videos wurden ausgewählt, weil sie Geschlecht auf sehr unterschiedliche Weise repräsentieren: als klassische Reproduktion dominanter Diskurse über Männlichkeit und Weiblichkeit (Billy Idols Rockvideo Cradle of Love und Come Baby Come von der Rapgruppe K7), als implizite oder explizite feministische Kritik an diesen Diskursen (Whitney Houstons Popclip I‘m Every Woman und Shoop von den Rapperinnen Salt‘n‘Pepa) und als Versuche, die Dichotomie zu dehnen, wobei sich die Möglichkeit ergibt, die Geschlechterdifferenz als solche zu hinterfragen. Gezeigt wurden in diesem Kontext Aerosmiths Living on the Edge und Madonnas Justify My Love. Die Auswertung dieser jeweils eineinhalb- bis dreistündigen Interviews zeigt im Detail, dass Musikvideo-Sehen eine sehr komplexe Aktivität ist, bei der Geschlecht, bewusst und unbewusst, eine enorme und vielfach dominante Rolle spielen kann – aber nicht zwangsläufig in jedem Fall auch spielen muss. In bestimmten Fällen kann diese Kategorie zugunsten anderer Problemkomplexe wie z.B. Alter, Bildungsgrad oder Ethnizität in den Hintergrund treten. Nachdem ich mich von meiner ersten Frage, inwiefern und warum sich junge Frauen und Männer bei der Nutzung und Rezeption von Musikvideos unterscheiden (Bechdolf 1994), verabschiedet hatte, konnte ich mich auf die Prozesse konzentrieren, in denen Weiblichkeit wie auch Männlichkeit im Akt des Sehens und Hörens thematisiert und als grundlegende Differenz bzw. Hierarchie erzeugt werden. Damit richtet sich der Blick auf die unterschiedlichen Ebenen, auf denen Geschlecht zur ‚Ver-
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handlungssache‘ wird. Jugendliche, so zeigt meine Untersuchung, re- und dekonstruieren Geschlecht •
was sie hören und sehen: Indem sie bestimmte Musikvideos bevorzugen und andere ablehnen, also ihren eigenen Geschmack in Bezug auf Stilrichtungen und visuelle Formen ausbilden, ausdrücken und begründen, ihn als kulturelles Kapital (Bourdieu 1987) einsetzen und damit Distinktion aktiv betreiben, konstruieren sie eine Differenz zwischen ‚männlich‘ und ‚weiblich‘;
•
dadurch, wie sie sehen und hören: Indem sie mit Musikvideos auf bestimmte Weisen umgehen, diese Umgangsweisen mit Geschlechterkonnotationen versehen und ihnen damit Wert zuweisen oder absprechen;
•
dadurch, wie sie interpretieren, was sie hören und sehen: Indem sie die Repräsentationen von Geschlecht entziffern, dekodieren, ihnen bestimmte Bedeutungen zuweisen und sich in selbst in diesem Bedeutungsgefüge, in diesem Diskurssystem verorten.
Auf allen Ebenen differenzieren die Jugendlichen immer wieder ‚männlich‘ von ‚weiblich‘, sie polarisieren die beiden Kategorien (durch Vergleichs- oder AusschlussKonstruktionen) und nehmen eine klare Hierarchisierung vor. Dies geschieht zum einen explizit und bewusst, wenn wir im Interview konkret darüber sprachen, unter Zuhilfenahme von etablierten Geschlechterdefinitionen und Wissenskonzepte. Doch es zeigt sich auch, implizit und unbewusst, in den anderen Gesprächspassagen, wenn Geschlecht nicht unmittelbar zur Debatte stand. Auch wenn es dem Wortlaut der Interview-Transkripte an solchen Stellen nicht direkt zu entnehmen ist, beziehen sich die Jugendlichen immer wieder auf dominante Geschlechter-Diskurse, was an Parallelen in der Argumentation, an subtilen inhaltlichen Gleichsetzungen und sprachlichen Verknüpfungen erkennbar ist, die auf diese stark vergeschlechtlichten Sinn-Konstruktionen hinweisen. Im Folgenden soll an Hand eines Fallbeispiels (vgl. dazu auch Bechdolf 1999) dargestellt werden, wie diese Prozesse im einzelnen funktionieren. Benutzt man die Interviews nicht nur als eine Art Steinbruch für die Selbstbeschreibungen der Jugendlichen, sondern interpretiert man sie im Gesprächszusammenhang und vergleicht die verschiedenen Aussage-Ebenen im Detail, so entsteht ein komplexes und differenziertes Bild. Es zeigt zwar, wie sich die Jugendlichen zum Teil nahtlos in das System der Zweigeschlechtlichkeit einfügen, wie sie es aktiv reproduzieren, es verweist aber auch darauf, an welcher Stelle Risse und Brüche auftreten, wo die Diskurse zwar als machtvolle erkannt, aber für sich selbst abgewandelt, revidiert oder gar abgelehnt werden. Diese Relativierungen, kritischen Perspektiven und Oppositionen näher zu beleuchten halte ich für zentral, weil damit deutlich wird, wie die kulturelle Reproduktion von Geschlecht – und damit auch der Erwerb von Geschlechtsidentität im Einzelfall – funktioniert: Nicht als eine bruchlose Übernahme medial vermittelter Werte und Normen, sondern als eine ständige, aktive Auseinandersetzung mit einzelnen visuellen Attraktionen und Klängen, Geschichten und Songtexten, die jeweils, individuell und si-
Verhandlungssache Geschlecht
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tuativ verschieden, als Puzzleteile bei der Herstellung eigener Bilder verwendet werden können.
6 Zum Beispiel Lisa Lisa ist eine junge Frau, 19 Jahre alt, die in die letzte Klasse eines städtischen Gymnasiums geht. Beide Eltern sind berufstätig, Mittelschichtsangehörige, ihr Bruder studiert bereits, sie selbst wirkt auf mich sehr selbstständig und kenntnisreich. Zur Zeit meines ersten Interviews sieht sie jeden Tag MTV, hört aber auch insgesamt viel Musik auf Kassette und CD, im zweiten Interview weist sie mich darauf hin, dass beide Nutzungsformen zurückgegangen seien, seit sie eine Berufsakademie besucht. Tabelle:
Beispiel Lisa
Qualität
Attraktion
1. Text, 2. Musik, 3. Bild
1. Musik, 2. Bild, 3. Text
Stil: Heavy-Metal (Rock)
„Whitney-Houston-Stil“ (Pop)
Bsp.: Metallica, Nirvana, Pearl Jam, The Cult, Danzig Whitney Houston, Michael Bolton, Elton John Künstler: Gruppen, Männer
Einzelpersonen, Frauen
Videos: abwechskungsreich; „Männer müssen nicht schön sein“
visuell langweilig, deshalb müssen sie „etwas hergeben“ (Erotik, Sex)
Texte: gehaltvoll, „haben sich wahnsinnig viel dabei gedacht“
„Ich würde auf so einen Text nie kommen“
Musik: aggressiver, härter Instrumente: E-Gitarre, Schlagzeug
„Frauen machen ganz andere Musik“, „weicher“, „immer wieder gleich alles“; nur Gesang (Ausnahme: Madonna)
Suche nach: Sinn, Bedeutung, Verstehen
gute Stimmung, Harmonie, auch Ablenkung vom Alltag
Hörer von Heavy Metal: vorwiegend Jungen
Pop/Soul: viel mehr Mädchen
Schule: man hört Männerbands
„das andere wird nicht soviel gehört“
Rezeptionsweise: Konzentration, Mühe – Rationalität Fun, Genuss, Gefühl – Emotionalität
Interpretation: Hochkulturelles Muster
Populärkulturelles Muster
Positionierung: kritisch-distanzierte Expertin
begeisterte Musikhörerin und Musikvideoseherin
Sie hat sehr genaue Vorstellungen von ihren Vorlieben und Abneigungen, entwickelt im Gespräch eine eigene Definition von Musikvideos und unterscheidet auf Grund visueller Charakteristika verschiedene Typen. Sie verfügt über ästhetische und moralische Bewertungskriterien für Videoclips und nimmt – aus meiner Sicht – die von mir
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angebotene Gesprächsrolle der ‚Expertin‘ weitgehend an. Dabei spricht sie fast nur über sich und ihre persönlichen Einschätzungen und verallgemeinert vergleichsweise wenig. Lisa beschreibt sich selbst als aktive Zuschauerin, die Spaß beim Sehen hat, sich aber auch Gedanken machen will, in Musikvideos nach einem Sinn sucht, der durch Nachdenken oder Reden mit Freunden oder eben auch im Gespräch mit mir entdeckt werden kann. Hier stellt sie direkte Forderungen an Produzenten, bessere Videos zu machen und nicht ständig nur Sexualität in den Mittelpunkt zu stellen. Ein Musikvideo ist für sie zuallererst Musik, die mit Bildern untermalt ist. Die Musikebene ist daher auch wichtiger als die Bildebene oder der Songtext; dieser wiederum wird jedoch von ihr hin und wieder als Schlüssel für die Bedeutung eines Clips benutzt. Während Lisa die Attraktivität eines Stücks für sie persönlich an der Musik festmacht, erst danach folgen Bild und Songtext, bestimmt sie die Qualität eines Stücks interessanterweise anders, nach der Reihenfolge: Songtext – Musik – Bild. Das heißt, für sie ist die Hochwertigkeit eines Clips nicht gleichbedeutend mit der Attraktivität, gut ist nicht unbedingt das, was gefällt – eine Argumentationsweise, die in der Populärkultur eher selten verwendet wird, sondern vielmehr aus einem hochkulturellen Umfeld stammt. Diese Opposition, die mir während der beiden Interviews nicht weiter aufgefallen war, wurde für mich bei der intensiven Auswertung zu einem Schlüssel für die Umgangs- und Interpretationsweisen meiner Gesprächspartnerin. Lisa unterscheidet Musikvideos und Musik generell nicht nur im Hinblick auf Qualität und Attraktivität, sondern konstruiert fortlaufend Polarisierungen, die sie mit diesen beiden Konzepten in Verbindung bringt, z.B. Stilrichtungen, Akteure, ästhetische Elemente und Hörerkreis (vgl. Tab.1). Interessant dabei ist, dass sie bereits in den ersten Minuten des Interviews auf einen krassen Gegensatz innerhalb ihres eigenen Musikgeschmacks hinweist, diesen Faden im Gesprächsverlauf immer wieder aufnimmt und dabei mit Geschlechterkonnotationen versieht. Neben Metallica, Nirvana, Pearl Jam und anderen eher am Rock orientierten Gruppen mag sie auch Pop, den sie als Whitney-Houston-Stil bezeichnet und gleichzeitig abwertet. Auf eine Nachfrage meinerseits, warum in der Musik für Männer und Frauen unterschiedliche Standards in Bezug auf Schönheit gelten, bringt sie eine ihrer Ansicht nach unterschiedliche Musikausrichtung von Männern und Frauen ins Spiel: „Es ist halt auch oft so, dass die Frauen ‘ne ganz andere Musik machen als die Männer, so ‘ne, ich kann immer wieder nur sagen, dieser Whitney-Houston-Stil, und wenn die Frauen dann als Einzelperson ein Video drehen und du andauernd das Gesicht siehst und den Körper siehst und das einfach nichts hergibt, dann spricht es die Zuschauer nicht an. Deswegen muss so ‘ne Person immer wieder was hergeben. Und auch nicht immer dasselbe, sondern immer wieder was anderes, sonst wird‘s langweilig, weil‘s halt auch nur eine Person ist. In ‘ner Band, da kann man die ganze Band mal filmen, aber bei denen ist es dann oft eine Einzelperson, die ist immer wieder drauf, in verschiedenen Situationen in verschiedenen Videos, aber im Prinzip ändert sich nichts, und es ist auch oft die Musik immer wieder gleich. Zum Beispiel, ich hab vorhin gesagt, ich hör auch Michael Bolton, ich hör die Kassette einmal und dann tu ich sie ganz schnell wieder weg, weil jedes Lied gleich ist, und weil jedes Lied denselben Text hat, praktisch, es geht immer um dasselbe.“
Während Rockmusiker, meist Männer, ihrer Meinung nach eher Gruppen bilden und als Kollektiv schon genügend visuelle Reize bieten (‚Männer müssen nicht schön
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sein‘), können sich Popsängerinnen oder auch Popsänger, die eher als Einzelpersonen auftreten, nicht auf eine Band stützen – womit sie sich auch die erotisierende Darstellung von Frauenkörpern erklärt. In diesem Zitat zeigt sich die Verknüpfung einiger in der Tabelle festgehaltener Ebenen deutlich. Nicht nur musikalische Ausrichtung und visuelle Verdinglichung unterscheiden sich ihrer Meinung nach bei Männern und Frauen, sondern auch die Bewertung, mit denen sie die beiden geschlechtlich kodierten Richtungen versieht: Während Rock für sie gehaltvoll ist, beschreibt sie mir Pop als langweilig, immer wieder gleich und verbindet damit etwas später im Interview auch eine andere Rezeptionsweise. Bei Pop stehen Spaß und Genuss, auch Gefühl für sie im Mittelpunkt, während bei den ernsthafteren Rockstücken die Begriffe Konzentration und Mühe fallen – und damit wechselt auch ihre Positionierung im Gespräch mit mir zwischen der kritisch-distanzierten Expertin und der begeisterten Musikvideoseherin hin und her. Das Hochwertige und das Lustvolle, das Männliche und das Weibliche, das Eine und das Andere – die Konstruktionsmechanismen der Bipolarität sind deutlich sichtbar. Die zunächst als widersprüchlich empfundene Ausprägung ihres Musikgeschmacks wird im Verlauf des Interviews von ihr selbst als vergeschlechtlichte interpretiert und dadurch ausgebaut, dass sie andere polarisierende Deutungsmuster daran anknüpft, als explizit Gesagtes, aber auch als implizit Gemeintes. Geschlecht dient Lisa also zum einen als zentrale Ordnungskategorie, zum anderen aber auch als Ursache, die Ungereimtheiten und Ungerechtigkeiten erklären kann. Danach gefragt, warum in ihrer Schule Jungen eher selbst Musik machen als Mädchen, bemüht sie erst ein biologistisches Erklärungsmuster (Jungen sind von Natur aus aggressiver), das sie jedoch gleich darauf als blödes Klischee verwirft, um nach kulturellen Ursachen für den Unterschied zu suchen, wobei sie die Tradition der Gitarre spielenden Cowboys am Lagerfeuer erwähnt. Auf den ersten Blick akzeptiert sie also das System der Zweigeschlechtlichkeit, trennt fast alle Elemente in ihrem Musikfeld in zwei Bereiche, männlich/weiblich, und bewertet diese auch unterschiedlich, den Regeln des dominanten Diskurses folgend. Allerdings – und hier wird es meiner Meinung nach wirklich spannend – reflektiert Lisa diesen Prozess der polaren Bedeutungszuweisung und hinterfragt ihre eigenen Aussagen immer wieder, denn sie setzt sich im Gespräch mit mir auch mit ihrer eigenen Stellung in diesem Gefüge auseinander und stellt ihre Identität situativ her, z.B. über Identifikationen mit Musikerinnen bzw. Musiker und anderen handelnden Personen. Bei dieser zwangsläufig stattfindenden Positionierung tauchen immer neue Widersprüche auf. Als sie mir z.B. die Musikvideos beschreibt, die ihr im Augenblick besonders gut gefallen, kommen ihr zuerst die Hard Rock- und Heavy Metal-Videos in den Sinn, wobei sie die (dafür nicht unbedingt typische) Ballade November rain von Guns‘N Roses mit ihren melodramatisch anmutenden Bildern einer Hochzeit, die mit Tod endet, als besonders gelungen hervorhebt. Beim Versuch, auch ein Video ihrer zweiten, ‚anderen‘ Richtung zu berücksichtigen, merkt sie plötzlich, dass die Sängerin Vanessa Williams darin keinen besonders großen Handlungsspielraum hat und verwirft es daraufhin wieder:
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„Das Lied ist schön, aber das spielt sich alles in einem Raum ab, sie steht da in einem Pullover, hat die Arme verschränkt, guckt nachdenklich in die Luft und singt. Und dann geht sie mal ein Stück und hockt sich auf ihr Sofa und singt weiter. Hat nicht so viel.“
Sie verhandelt damit den Widerspruch zwischen ihrer Geschmackspräferenz und den zuvor aufgestellten Kriterien für ein gutes Video und entdeckt dabei kritische Aspekte an dieser Repräsentationsweise. Auch bei den Einzelinterpretationen im zweiten Interview nimmt sie eine ablehnende Haltung gegenüber den traditionellen Festlegungen der männlichen und weiblichen Figuren ein und kritisiert die immer gleiche Zuschreibung von Aktivität vs. Passivität oder die Aufteilung in handelnder oder auch voyeuristischer Mann und behandelte bzw. betrachtete Frau. In narrativen Clips zieht sie aktive Frauen solange vor, wie sie bestimmte Grenzen, was die sexuelle Aggression angeht, nicht überschreiten. So macht ihr etwa die Umkehrung der Rap-Konventionen in Salt ‚n‘ Pepas Video Shoop großen Spaß, hier betrachten die Frauen am Strand die gutgebauten Männer mit begehrlichen Blicken. Auch Madonna bewundert sie wegen ihrer unglaublichen Wandlungsfähigkeit, ihre Erotik-Selbstinszenierungen sind ihr allerdings zu heftig, und bei Justify My Love empfindet sie, obwohl sie die Musik bisher mochte, angesichts der drastischen Bilder kein richtiges Vergnügen mehr. Indem sie die Geschlechter-Oppositionen aufgreift und kritisiert, rekonstruiert Lisa zwar die dominanten Diskurse, tut dies aber nicht bedingungslos, sondern relativiert, verhandelt Brüche und Widersprüche, versucht Ausnahmen heranzuziehen und probiert alternative Deutungsmuster aus. Durch wechselnde Identifikationen versucht sie sich selbst immer wieder aus dem System herauszunehmen, sucht nach Auswegen aus dem Entweder-Oder und der damit verbundenen Hierarchie. Dadurch, dass sie wenig Geld für Musik ausgibt, lieber Sängerin als Keyboarderin wäre, Whitney Houston mag und sexuelle Darstellungen in Musikvideos nicht zwangsläufig erotisch findet (wie sie dies den jungen Männern ihres Alters zuschreibt), positioniert sie sich als ‚weiblich‘. Dadurch, dass sie gern Heavy Metal hört, sich Experten-Wissen darüber angeeignet hat und musikalisch nicht einem Herdentrieb folgen will, positioniert sie sich explizit als Individuum, was implizit aber, im Kontext des zuvor von ihr Gesagten, die Deutung ‚männlich‘ zur Folge hat, der sie dann wieder ausweichen muss. Umgekehrt verweigert sie vor allem dann die Identifikation mit dem eigenen Geschlecht, wenn sie etwa davor in einem anderen Gesprächskontext das als ‚weiblich‘ Bezeichnete ausgesondert und abgewertet hat. Sie bewegt sich somit in einem Spannungsfeld hin und her: zwischen ihrer Identifikation mit gesellschaftlich konstruierter und normierter Weiblichkeit (die mit gleichzeitigem Machtverlust einhergeht) und einem Bemühen, sich als ‚männlich‘ konnotierte Attribute anzueignen (was Stigmatisierung zur Folge haben kann). Dazwischen liegt die immer wieder aufscheinende Weigerung, sich überhaupt festlegen zu lassen – ein deutlich artikuliertes Bestehen auf einem autonomen Subjektstatus. Sie dekonstruiert damit in letzter Konsequenz die gängige Universalisierung, die das männliche Subjekt mit dem Menschen schlechthin gleichsetzt, Weibliches jedoch als das Andere markiert und ausgrenzt (z.B. Maurer 1996). An einigen Stellen des Interviews versucht sie daher, Geschlecht zur ‚Verhandlungssache‘ zu machen, sich selbst einen Sonderstatus einzuräumen, der Gleichzeitigkeiten und Übergänge ermöglicht – ein sehr
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differenzierter und letztlich utopische Elemente beinhaltender Prozess von ‚doing gender‘. Das Fallbeispiel Lisa zeigt, wie Geschlecht als Kategorie, als Differenz und als Machtverhältnis bei der Musikvideo-Rezeption wirksam wird – in einem Prozess der fortwährenden Re- und Dekonstruktion. Während solche komplexen Verhandlungen bei der Detailanalyse eines Interviews auseinander dividiert und unter die Lupe genommen werden können, sind sie im Alltag unentwirrbar ineinander verwoben. Der Medienalltag zeichnet sich ja dadurch aus, dass alle wichtigen kulturelle Prozesse unreflektiert, unkommentiert und unbewusst vonstatten gehen. Es wäre daher sinnvoll, in weiteren Forschungsprojekten nicht nur den (in einer Interview-Ausnahmesituation) gemeinsam geführten Dialog über Musikvideos zu analysieren, sondern auch den konkreten Musik- und Fernsehalltag von Jugendlichen teilnehmend zu erforschen, um das System der Zweigeschlechtlichkeit bei seiner alltäglichen Arbeit beobachten zu können. Allerdings, und das kann hier am Ende nur kurz angemerkt werden, ist die Forscherin in jedem Fall immer auch selbst in diesem System positioniert: Die Jugendlichen sprechen ja nicht mit einem Neutrum, sondern mit mir, einer weiblichen Forscherin mit eigenen Musikvorlieben und Clip-Rezeptionsweisen, mit eigenen Wünschen und Fantasien. Einerseits untersuche ich die Konstruktion von Geschlecht und bin dabei um Dekonstruktion vorgegebener Anordnungen bemüht, da mein Erkenntnisinteresse auf eine Lockerung und Umwertung starrer Geschlechterkonventionen zielt. Andererseits reproduziere ich in diesem wissenschaftlichen Tun die Differenz wie auch die Kategorie Geschlecht immer wieder aufs neue. Aus diesem Dilemma gibt es keinen Ausweg – nur die ständige Selbstreflexion im Forschungsprozess und das Bemühen, die eigenen Positionierungen sichtbar und damit auch kritisierbar zu machen.
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Kulturelle und mediale Praxisformen Jugendlicher Waldemar Vogelgesang
1 Vorbemerkung Zu den geläufigen soziologischen Gesellschaftsdiagnosen gehört die Beobachtung der Auflösung von traditionellen Wertmaßstäben und Gemeinschaftsformen. Ursprünglich gesellschaftlich vorgeprägte Rollen und Lebenspläne werden individuell verfügbar, geraten zunehmend in die Hoheit des Einzelnen. Er kann – zumindest prinzipiell – seine Arbeit, seinen Beruf, seine Vereins-, Partei-, Kirchen- oder Sektenmitgliedschaft sowie seinen kulturellen oder subkulturellen Stil frei wählen und wechseln. Er ist der Bastler seines Lebens, das im Spannungsverhältnis zwischen Globalisierungs- und Partikularisierungsprozessen unter der Devise steht: Man hat keine Wahl, außer zu wählen. Diese Entwicklung hat mittlerweile auch die Jugendlichen und ihre Lebensformen voll erfasst, gewissermaßen als Fortsetzung (oder Vollendung!) der langen Entwicklungsphase der Individualisierung des Lebens in der modernen Gesellschaft. Das Jugendalter, das der Vorbereitung auf individuelle Lebensführung dient, wird selbst individualisiert. Die Statuspassage nimmt Züge einer Jugendbiografie an. Selbst bei lediglich kursorischer Betrachtung fällt auf, welche Vielfalt die jugendliche Daseinsgestaltung angenommen hat. In Fortführung und Steigerung des auch in der älteren Jugendforschung ausgewiesenen Trends zur jugendeigenen Gruppenbildung hat sich im Sog gesamtgesellschaftlicher Differenzierungs- und Pluralisierungsprozesse eine breite, mittlerweile beinah unüberschaubare Palette von kulturellen Formen und Szenen mit spezifischen Handlungs-, Zeichen- und Deutungsmustern gebildet (vgl. Müller-Bachmann 2002; Vogelgesang 2005). Diese alltagskulturelle Diversifizierung zwingt die Jugendlichen dazu, sich selektiv zu verhalten. Wahlen und Entscheidungen müssen getroffen werden, welcher Jugendkultur man sich anschließt, mithin welcher gruppeneigene Habitus als individuelles und kollektives Flaggensignal adaptiert und performativ eingesetzt wird. Dabei spielt es vielfach keine Rolle, ob man Mitglied dieser Gruppe ist, also faktisch-interaktiv zum Gruppenensemble gehört, oder lediglich nominell-virtuell in den entsprechenden jugendkulturellen Rahmen involviert ist. Gerade die expressiven Jugendszenen – wie etwa die Techno- und Hip-Hop-Fangemeinde – haben durch die wachsende Mediatisierung und Kommerzialisierung eine internationale Stilsprache
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ausgebildet, deren Elemente als Erkennungszeichen und Verständigungsbasis fungieren und ad hoc (z.B. in der Disco) einen sozialen Nahraum generieren, in dem exzessive Fankulte, körperbezogene Expressionen und stilgebundene Selbstinszenierungen ausgelebt werden können. Mode, Musik und Handlungen erhalten hier eine gruppenbezogene emblematische Bedeutung und Ausstrahlung, etablieren ein eigenes jugendkulturelles Kommunikationssystem und Szenenarrangement, das den Anhängern Profilierungs- und Identifizierungschancen eröffnet. Jugendkulturelle Stile und Praxisformen sind also sowohl ein Instrument des Ausdrucks wie der Distinktion von Kommunikationsbeziehungen. Sie erzeugen ein spezifisches Idiom, ein Konglomerat von Signalen, die in einer Art Dialektik von Zuordnung und Abgrenzung eine relativ klare Grenzziehung nach außen sowie Zugehörigkeitsgefühle nach innen illustrieren und stimulieren.
2 Jugend als gesellschaftliches Muster Um die Bedeutung jugendkultureller Praxisformen und szenischer Inklusionsprozesse richtig einordnen zu können, gilt es zunächst einmal ganz grundsätzlich an die gesellschaftliche Verortung der Jugend zu erinnern. Damit man den Strukturwandel des Aufwachsens und die sich daraus für die Jugendforschung und Jugendtheorie ergebenden Konsequenzen richtig einordnen und der Gefahr einer „SorgenfaltenSoziologie entgehen kann, die ihrem Gegenstand von einer Wendung des Zeitgeistes (Themenmode) zur nächsten folgt“ (Hondrich 1999: 79), muss Jugend als eine gesellschaftlich bedingte Lebensphase konzeptualisiert werden. Nur vor diesem Hintergrund können auch die fundamentalen Wandlungsprozesse, denen die Jugend in der Postmoderne unterworfen ist, angemessen thematisiert werden. Ich beziehe mich dabei weitestgehend auf Überlegungen, wie sie Richard Münchmeier (1998) vorgetragen hat. Dem Alltagsverständnis zu Folge scheint der Gegenstand der Jugendforschung leicht zu definieren und ebenso leicht abzugrenzen zu sein: Die Sozialgruppe Jugend wird vor allem durch ihr Alter bestimmt, d.h. sie wird als spezifische Lebensaltersgruppe zwischen Kindheit und Erwachsensein begriffen. Ablösung von der Herkunftsfamilie und Verselbstständigung werden in dieser Sichtweise als die primären Funktionen eines biografischen Durchgangsstadiums angesehen, wobei allenfalls die Festlegung der Altersgrenzen noch strittig erscheint. Allerdings ist dieses Lebensaltersmodell von Jugend nur scheinbar eindeutig, denn es abstrahiert weitestgehend von den objektiven Bedingungen des Jungseins und ihrer subjektiven Bewältigung. Definitorische Exaktheit wird durch die Suspendierung von Inhaltsfragen erzielt: Jugend umfasst danach die Mitglieder einer Akteursgruppe, die zu einem bestimmten Zeitpunkt jung sind und einer gewissen Altersspanne angehören. Was aber bedeutet jung sein, welche Chancen und Risiken sind damit verbunden, welche Bedingungen des Aufwachsens kennzeichnen dieses Alter, welche Anforderungen
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und Ressourcen finden Jugendliche in der „ärgerlichen Tatsache der Gesellschaft“ (Dahrendorf) vor? Viele dieser inhaltlichen Fragen ließen sich stellen. Sie werfen das Problem auf, darüber nachzudenken, welche Themen die zentralen und wichtigen sind, diejenigen also, die gewissermaßen die Jugend strukturieren und ausmachen. Mithin ist die Frage, wie das Jugendalter von der Kindheit einerseits und dem Erwachsenenalter andererseits abzugrenzen sei, also keineswegs die Hauptfrage. Wichtiger ist es vielmehr, von der Erkenntnis auszugehen, dass Jugend ein Strukturmuster darstellt, eine gesellschaftlich entwickelte und ausgestaltete Lebensform, die den Zweck hat, bestimmte individuelle und soziale Erfordernisse und Funktionen zu gewährleisten. Was Jugend also bedeutet – und zwar sowohl für die Gesellschaft als auch für den jungen Menschen selbst –, wird weitaus stärker durch die Art und Weise bestimmt, wie die Jugendphase vergesellschaftet ist, als durch die simple Tatsache des rein zeitgebundenen Lebensalters. Dies ist keineswegs eine neue Entwicklung, sondern ein alter – freilich manchmal vergessener – Erkenntnisstand der Jugendforschung. Jugend, wie wir sie heute kennen, als eigene Lebensphase zwischen Kindheit und Erwachsenendasein, mit eigenen Ordnungen und Aufgaben ist ein Produkt und Projekt der europäischen Moderne, die vor allem im 19. Jahrhundert einen völlig neuen Typus adoleszenter Vergesellschaftung entstehen ließ: Jugend als Moratorium und Passagenzeit. Als Hauptaufgaben wurden die Qualifizierung und die Vorbereitung auf das spätere Leben – vor allem als Arbeits- und Erwerbsperson – angesehen. Aber es erfolgte auch eine Aufwertung der individuellen Bedürfnisse, Persönlichkeitsbildung und Entscheidungsbefugnisse, damit die Heranwachsenden in einer sich individualisierenden, äußere soziale Kontrollen und festlegende Milieus abbauenden Gesellschaft bestehen konnten – ein Prozess, der bis in die Gegenwart fortwirkt und an Dynamik zugenommen hat (vgl. Gestrich 2001). Die Tatsache, dass Individualität gesellschaftlich institutionalisiert wird, bedeutet also, dass eine eigenständige Lebensplanung nicht nur möglich ist, sondern dem Einzelnen auch abverlangt wird. Wahlfreiheit und Wahlzwang durchdringen einander. Das bedeutet, im Zuge der Individualisierung werden die Grundlagen und die Zukunftsversprechen, die mit dem traditionalen Konzept von Jugend verknüpft worden waren, ambivalenter, brüchiger, ungewisser. Das betrifft das Verhältnis der Generationen in Familie und Gesellschaft ebenso wie die Verlängerung von Schulund Ausbildungszeiten bei gleichzeitig zurückgehenden beruflichen Chancen, die Pluralisierung von Wertmustern ebenso wie die steigenden Anforderungen an Selbstständigkeit, Mobilität und Anpassungsfähigkeit. Die enttraditionalisierte Gesellschaft potenziert somit – auch für die Jugendlichen – gleichermaßen Freiheiten und Zumutungen. Heutigen jungen Menschen fehlt die institutionelle Stütze (oder gesellschaftliche Pauschalversicherung) der religiös fundierten und stratifikatorisch geordneten Lebenswelt der Vormoderne. Lebenserfahrungen werden temporaler, pluraler und relativer, womit ihre Lebensläufe selbst zu einem Problem werden, mit dem sie konstruktiv umgehen müssen. Als Konsequenz sieht die neuere Identitätsforschung das Ende der Normalbiografie für gekommen: „Die Biografie
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der Person wird zur frei schwebenden, sich selbst tragenden Konstruktion“ (Schimank 2002: 231) – „biografischer Inkrementalismus“ (ebd.: 235) lautet entsprechend das Gebot der Stunde. Damit sind zugleich die Optionen und Ambivalenzen des individualisierten Lebenslaufs markiert. Denn der Abschied von der Normalbiografie setzt die Jugendlichen stärker Zufällen, einem größeren Entscheidungsdruck und letztlich auch höheren Scheiternsrisiken aus. Es ist zugleich deutlich geworden, dass man diese Fragen nur angemessen diskutieren und eruieren kann, wenn man sich ihnen gesamtgesellschaftlich nähert, d.h. die Mikro- und Makroebene gleichzeitig in den Blick nimmt. Worüber muss man vor diesem Hintergrund dann eigentlich reden, nachdenken und forschen, wenn man die heutige Jugend verstehen möchte? Ist es ihr ausgefallenes Outfit – die schrillen Frisuren, die provozierende (bauchfreie) Bekleidung oder die ausgefallene Körperornamentik, die sich in einer wachsenden Attraktivität und Selbstverständlichkeit von Piercings, Brandings und Tattoos zeigt? Ist es ihr expressiver, vielfach szenegebundener Verhaltensstil, mit dem sie sich demonstrativ untereinander und von den Erwachsenen abgrenzt und zugleich eine eigene Ästhetik kreiert und Stilsprache repräsentiert. Ist es ihre Medienfaszination, die sie zur Avantgarde – und kaufkräftigen Konsumentengruppe – jedweder elektronischen Innovation macht? Sind es gar ihre flippigen und schnoddrigen Sprüche und Parolen – wir haben null Bock auf gar nichts –, mit denen sie ihr Lebensgefühl und ihren Alltagsfrust zum Ausdruck bringt? So grell und provokant sich die heutige Jugend auch darzustellen vermag, die Forschung muss hinter diese bunte Fassade blicken. Zu sehr bleiben nämlich die schillernden Expressionsformen emblematischer Selbstinszenierung und performativer Zugehörigkeitsdemonstration an der Oberfläche, die sich noch dazu erstaunlich rasch mit dem Strom der Moden und Stile verändern. Sie machen für sich genommen noch keinen Zugang zur Lebenssituation der Jugendlichen möglich. Aber sie können sehr wohl eine Anlass- und Brückenfunktion haben, um mit ihnen in Kontakt zu kommen und im Rahmen einer fokussierten Ethnografie auch Deutungsmuster für ihren äußerlichen Habitus offen legen, mit dem die Jugendlichen immer auch eine Selbstbeschreibung ihres Daseins und ihrer aktuellen Befindlichkeit vornehmen. Diese Äußerlichkeiten fangen aber erst dann an zu sprechen und etwas über die heutige Jugend auszusagen, wenn man sie auf deren Lebenslagen und Gesellungen bezieht. Dies zeigt sich nicht zuletzt an den Strategien, wie Jugendliche mit Medien umgehen. Sie sind für sie Ausdruck sozialer und kultureller Muster, die auf höchst unterschiedliche – und manchmal auch sehr eigenwillige – mediale Gebrauchsformen verweisen. Diese aufzudecken setzt Nähe, Kontinuität und Empathie voraus, also Forschungstugenden, die einen Lebensweltbezug ermöglichen. Nur aus dieser Perspektive wird sichtbar, wie groß die Macht der Unterscheidungen ist, die divergierende mediale Aneignungsformen zu erzeugen vermögen. Wie wichtig und notwendig dies gerade im Kontext der Computer- und Netznutzung ist, zeigen die immer wieder verbreiteten kulturkritischen Pauschaldiagnosen, die für das „Reich des digitalen Doubles der Welt“ (Weibel 1991: 57) einen ultimativen und irreversiblen Niedergang jedweder körperlichen, sozialen und historischen Erfahrung
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prophezeien. Solche Kassandrarufe stehen, wie unsere Forschungen zeigen, in einem eklatanten Widerspruch zur Kultur der virtuellen Sphäre und ihrer produktiven Inbesitznahme gerade durch die junge Generation. Die „digitalen Spektakel“ (van den Boom 1995) in den „künstlichen Paradiesen“ (Glaser 1995) erschließen sich ganz offensichtlich nicht aus der Distanz.
3 Jugend- und medienkulturelle Wahlnachbarschaften im Modernisierungsprozess Aber diese Erkenntnis geht keineswegs zwangsläufig mit einer Versachlichung des Mediendiskurses einher. Fakten und Vermutungen konfundieren bisweilen – gerade in Bezug auf die neuen Medien – auf eine schier unentwirrbare Weise. Bereits Mitte der 1990er Jahre haben Mike Sandbothe und Walther Zimmerli (1994: 7f.) vor übertriebenen Hoffnungen auf rationale Geländegewinne in der Mediendebatte gewarnt: „Weite Teile der in den Schnittbereichen von Literatur-, Medien- und Computerwissenschaften geführten Diskussion wurden dabei zumeist entweder von apokalyptischen Schreckbildern oder von medien-euphorischen Heilsvisionen geprägt. Auf der Grundlage dieser globalen Szenarien hat sich eine neue Diskursgattung entwickelt, die man als media fiction bezeichnen könnte. Ihr Markenzeichen ist eine sich als gezielte Ironie präsentierende methodische Unschärfe, durch welche die phänomenologischen Intuitionen, die ihr zu Grunde liegen, notorisch verschliffen werden. […] Charakteristisch für die Gesamtlage der Mediendebatte ist bis heute, dass sich fantasievolle media fiction und seriöse Medienwissenschaft in einem Zustand wechselseitiger Nichtbeachtung befinden.“
Diese Feststellung hat nichts von ihrer Relevanz eingebüßt, wohl aber die Anschlussüberlegung, die die Autoren machen: „Eine Änderung dieses Zustands ist umso notwendiger, als er mit dazu geführt hat, dass detaillierte kommunikationssoziologische Analysen, medienphänomenologische und technologiephilosophische Feindifferenzierungen sowie mediensoziologische Differentialinterpretationen inmitten der enormen Literaturflut zum Medienthema Mangelware geblieben sind.“ (ebd.).
Denn bereits seit Ende der 1980er Jahre ist in der Medienforschung unverkennbar eine Erweiterung der Fragestellungen zu konstatieren, verbunden mit alternierenden theoretischen Konzepten und methodischen Zugriffen (vgl. Hepp 1999/2004a; Krotz 2001; Hepp 2004b). Nicht mehr die Fetische Inhalt und Wirkung und ihre kausalistische Beziehung bilden den Untersuchungsschwerpunkt, sondern die Betonung des Rezeptionsvorgangs und die in ihm vollzogenen Prozesse der Interpretation, Sinngebung und Konstruktion der Realität. Ein solches Verständnis der Medienaneignung zielt nicht mehr auf eine kausal-analytische Deutung, vielmehr geht es um die Rekonstruktionen jener Sinn- und Sozialsysteme, in denen Medien für die Rezipienten bedeutsam werden. Dabei zeigt sich, dass die Vielzahl der Nutzungsmöglichkeiten, die Medien eröffnen, zur Herausbildung von spezialisierten personalen Identitäten und medienaffinen Sozialformen führen – und dies keineswegs nur in der Gegenwart.
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Denn was in einer Vielzahl von medien- und kulturhistorischen Studien belegt wurde, erfährt im Zeitalter der digitalen Revolution auf beinah dramatische Weise Bestätigung: Die dominierenden Medien einer Kultur formen den kommunikativen Austausch, stiften neue Gesellungsformen und Allianzen und prägen die vorherrschenden Erkenntnisformen, Themen und Institutionen. Rainer Winter und Roland Eckert (1990: 141) haben dies in ihrer Studie Mediengeschichte und kulturelle Differenzierung sehr deutlich herausgestellt: „Der Druck und in Ansätzen auch die Schrift haben die Heilsverwaltung des Klerus untergraben, indem sie die Artikulation abweichender Meinungen ermöglicht haben. Die Briefpost im Verein mit Tagebuch und Lesezirkel hat eine spezialisierte Innerlichkeit mitteilbar gemacht, das Standfoto die Repräsentation der Familie, das Fotoalbum, der Amateurfilm und der Videofilm die Biografie visualisiert. Mit dem Radio, der Schallplatte und dem Kassettenrekorder sind musikalische und tänzerische Formen der Selbstdarstellung kommunikabel geworden. […] Durch Video sind medial vermittelte Aggressionen, Träume und Sexualität jederzeit verfügbar. […] Minitel bzw. Btx ermöglichen eine ästhetische Selbstentfaltung unter Ausschaltung moralischer Kategorien, indem sie den Identitätswechsel zum Programm machen.“ Und sie schlussfolgern: „Neue Formen der Kommunikation haben so andere Formen der Wahrnehmung, des Verhältnisses zur Welt und des Umgangs mit anderen hervorgebracht“ (ebd.).
Wenn schon in der Vergangenheit Medien eine wichtige Funktion als Kultur-, Kommunikations- und Identitätsgenerator zukam, so beschleunigt und verstärkt sich diese Entwicklung heute durch die IuK-Technologie in einem atemberaubenden Tempo. Obwohl weder die Auswirkungen noch das Ende dieses Transformationsprozesses exakt prognostizierbar sind, soviel steht bereits fest: Alle Lebens- und Gesellschaftsbereiche sind tangiert. Ob Wirtschaft und Wissenschaft, Politik und Kultur, Öffentlichkeit und Privatsphäre, die neuen Medien haben hier bereits deutliche Spuren hinterlassen. In diesem Zusammenhang kann die steile Karriere des Begriffs ‚Multimedia‘, der im Übrigen im Dezember 1995 von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres erklärt wurde, gleichermaßen als Indikator für eine unter starke Dynamik geratene kommunikationstechnologische Entwicklung wie auch gesellschaftliche Debatte darüber angesehen werden. Dabei liegt der letzte Medienschub erst wenige Jahre zurück: Kabel und Satellit machten Übertragungstechniken verfügbar, die seit den 1980er Jahren zu einer Expansion und zu weitreichenden Transformationen des deutschen Mediensystems führten. Gefördert wurde beides durch eine (rechtliche) Deregulierung und eine Öffnung auch des elektronischen Mediensektors für mehr Wettbewerb. Es entstand hier zu Lande das duale Rundfunksystem, in dem öffentlich-rechtliche und private Rundfunkanbieter miteinander konkurrieren. Diese Veränderungen dürften von den künftig zu erwartenden noch übertroffen werden. Dabei deutet die Wortschöpfung Multimedia die Richtung der Veränderung an: Bisher getrennte Kommunikationstechniken, sozusagen Unimedien, verschmelzen miteinander. Es findet eine Integration von gesprochener Sprache, Text, Video, Audio, Telekommunikation, Unterhaltungselektronik und Computertechnik statt. Diese Entwicklung bedeutet aber nicht nur eine quantitative Steigerung von Kommunikationsangeboten, die Integration führt zugleich zu ganz neuen Medien- und
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Nutzungsformen. Aus soziologischer Perspektive interessiert in diesem Zusammenhang nun weniger, welche technischen Voraussetzungen (z.B. Digitalisierung und Datenkompression, veränderte Übertragungswege, neue Zusatz- und Endgeräte) die Multimedia-Nutzung erst ermöglicht haben, sondern wie sich dadurch die uns bekannten Formen personaler und medialer Kommunikation nachhaltig verändert haben resp. zukünftig noch weiter verändern werden: „Ein großes Problem ist die wachsende Diskrepanz zwischen dem immens gestiegenen Informationsaufkommen einerseits und der begrenzten Verarbeitungskapazität der Medien und der Mediennutzer andererseits. Scheinbar nimmt die Verarbeitungskapazität der Medien zu, zumindest gibt es immer spezialisiertere Medienangebote. Aber die vielen Spezialmedien […] erweitern nicht eigentlich die Sphäre der Öffentlichkeit, das Forum des gesellschaftlichen Diskurses, auf dem über politische Prioritäten gestritten wird. Sie haben vielmehr zu einer enormen Segmentierung des Publikums geführt, zu einer Aufspaltung in eine Vielzahl gegeneinander abgeschotteter Teil- und Unterforen. Die Spezialmedien sorgen ihrerseits dafür, dass sich die Teilpublika weiter spezialisieren und differenzieren, indem sie den Fachjargon, den esoterischen Diskurs pflegen und zur Ausbildung spezieller Normensysteme und eigentümlicher Weltsichten beitragen“ (Schulz 1993: 24).
Die von Schulz gewählten Umschreibungen – z.B. „Teilpublika“ mit „esoterischem Fachjargon“ und einer „eigentümlichen Weltsicht“ – haben einen stark negativen Tenor. Wir plädieren für eine normative Entdramatisierung und schlagen stattdessen Formulierungen wie medienbestimmte Wahlnachbarschaften oder Medienspezialkulturen vor. Zum Ausdruck wird damit gebracht, dass Medien eine bedeutende Rolle als Auslöser und Konstituenten sozialer und (populär-)kultureller Differenzierungsund Segmentierungsprozesse spielen – und dies nicht zuletzt in der jugendlichen Lebenswelt. Von den Beatniks bis zu den Heavy Metal-Fans, von den Wanna-bes (Szenebegriff für die jugendlichen Anhänger des Popstars Madonna) bis zu den Horrorfreaks, von den Computer-Hackern bis zu den verschiedenen Spielarten von Netz-Usern reicht der Bogen medienbestimmter Selbst- und Weltgestaltung. Die Aufzählung zeigt, dass den Medien gerade in den verschiedenen Jugendkulturen – ergänzt und kombiniert mit einem bestimmten Outfit und Verhaltensstil – verstärkt die Funktion von exklusiven Identitätszeichen zukommt. Zudem annoncieren die medialen Gebrauchsstile und die durch sie bestimmten Szenen, Cliquen und Gruppen auch einen grundlegenden Wandel innerhalb der Genese von Jugendkulturen, denn die Verankerung von jugendlichen Lebensformen in klassenspezifischen Stammkulturen wird zunehmend abgelöst durch individualitäts- und marktbezogene Jugendkulturen. Aber in den neuen jugendkulturellen Wahlnachbarschaften manifestieren sich nicht nur veränderte Entstehungsbedingungen, sondern sie stiften auch affektive Allianzen und szenetypische Erlebnisformen. Ihre Feten, Happenings und Sessions markieren – unter zivilisationstheoretischer Perspektive – eine Grenzüberschreitung der Alltagsordnung und ein gesteigertes Bedürfnis nach Reizen und Stimulationen. Die von ihnen präferierten Medien übernehmen dabei die Funktion von Impulsgebern und Transformatoren. Sie konstituieren eine Sondersituation, in welcher die zivilisatorisch bedingte Disziplinierung der Affekte aufgebrochen und – für eine bestimmte Zeit – überwunden werden kann. Rogge (1988) deutet die Vehemenz, mit
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der Jugendliche das medienkulturelle Erlebnisangebot in Anspruch nehmen, als Ausdruck einer Grundstörung des Zivilisationsprozesses. Uns scheint es angemessener, angesichts der Pluralisierung und Diversifizierung jugendlicher Medien- und Affektkulturen, eher von einer Partialisierung des Zivilisationsprozesses zu sprechen. Die Medienfreaks und ihre alltagstranszendierenden Praktiken sind Beispiele dafür, dass unter (nach-)modernen Lebensbedingungen und Daseinsverhältnissen die affektuelle und erlebnismäßige Integration sich immer weniger gesamtgesellschaftlich als vielmehr in Spezialkulturen und abgegrenzten Raumzonen vollzieht. Was heute zählt, ist situationsangepasstes Emotionsmanagement. ‚Rahmung‘ und ‚Modulation‘ im Sinne Goffmans (1977) bestimmen jeweils, was zulässig und/oder gefordert ist. An die Stelle genereller Affektkontrollen tritt das Erlernen von Situationsdefinitionen und Trennregeln. Hier liegt freilich ein Sprengsatz, denn der Erwerb entsprechender Kompetenzen ist ein voraussetzungsvoller Prozess, weil nicht absolute Gebote verinnerlicht werden müssen, sondern diffizile Konditionalprogramme. Die von uns untersuchten Medienfans verfügen über dieses Skriptwissen, freilich nicht von Anfang an. Es ist vielmehr Resultat und Endstufe einer spezifischen Rezeptionsund Medienkarriere. Vor allem die Freaks, also die Gruppe von Jugendlichen, die am tiefsten in der jeweiligen Spezialkultur verwurzelt sind, entwickeln eine erstaunliche Virtuosität bei der Funktionalisierung äußerer (medienbestimmter) Umstände für innere (affektuelle) Zustände. Sie sind letztlich prototypische Repräsentanten der für die Gegenwartsgesellschaft diagnostizierten zunehmenden Dominanz von Erlebnisrationalität (vgl. Schulze 1992). Die Medienvergnügen der Grufties, Computerfreaks, Online-Rollenspieler und vieler anderer Spezialkulturen können somit auch als Teil einer Entwicklung angesehen werden, die sich als Trend zum spannenden Müßiggang einer wachsenden Zahl jugendeigener Szenen und Stilkreationen beschreiben lässt. In selbst geschaffenen sozial-räumlichen Enklaven können sie ihren Emotionen und ihrer Risikolust freien Lauf lassen. Bereits Anfang der 1980er Jahre weist eine Repräsentativbefragung (vgl. Jugendwerk der Deutschen Shell 1982) einen Anteil von 24% von Jugendlichen aus, für die in ihrer Freizeit die Suche nach Erlebnis und Nervenkitzel eine wichtige Rolle spielt; Tendenz steigend, wie jüngste Untersuchungen zeigen (vgl. Raithel 2001; Schmidt 2002). Eingelagert ist dieser Bedeutungszuwachs jugendlicher Affekt- und Abenteuerkulturen in einen allgemeinen Prozess der erlebnismäßigen Spezialisierung. Im Sinne der neueren Zivilisationstheorie handelt es sich dabei um einen Vorgang der „Informalisierung“ (Wouters 1999), der zur Elastisierung herrschender Verhaltensstandards und zur Kultivierung von Emotionen in teil- oder subkulturellen Nischen führt. An die Stelle einer flächendeckenden und umfassenden Affektkontrolle tritt die partielle Entzivilisierung. In bewusster Distanz zu den Selbstdisziplinierungsanforderungen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene entstehen affektive Zonen und Milieus, in denen gezielt außeralltägliche Zustände hergestellt werden. Die erlebnisorientierte Ausrichtung zahlreicher jugend- und medienkulturellen Praxen kann somit auch als affektiv grundiertes experimentum libertatis interpretiert werden. Oder allgemeiner formuliert:
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„So könnte es durchaus ein zivilisatorischer Fortschritt sein, dass nicht mehr nur die konsensfähigen Emotionen evoziert werden, sondern, wie es der Amoral des Marktes und der Moral der Individualisierung entspricht, auch emotionale Spezialkulturen sich ausbilden und darstellen“ (Eckert et al. 1990: 157).
4 Jugendszenen als Orte kultureller Produktivität und Differenzierung Versucht man die Befunde aus unseren Jugend- und Medienstudien unter einer stärker differenzierungssoziologischen Perspektive zu betrachten, dann ist festzuhalten, dass die Vielfalt der Nutzungs- und Kodierungsmöglichkeiten, die Medien eröffnen, zur Herausbildung von neuen Spezialkulturen führen – und dies keineswegs nur im Jugendbereich. Verbunden ist hiermit eine Steigerung selbst gewählten und selbst definierten Lebens. Personale Identität wird verstärkt auch über mediale Spezialisierungen und Gruppierungen befestigt. Jenseits von Stand, Klasse und Schicht etablieren sich neue medien- und szenegebundene Distinktions-, Identitäts- und Sozialformen. Diese Ergebnisse stehen in deutlichem Widerspruch zu der in bestimmten Kreisen der Kulturkritik immer noch verbreiteten Überzeugung, die Kommunikationsmedien seien die großen kulturellen Gleichmacher oder gar die Produzenten einer farblos-eindimensionalen Einheitskultur. Analog zu Helmut Schelskys (1953) Vorstellungen von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ aus den 1950er Jahren wird hier – allerdings auf globalem Niveau – eine „nivellierte Weltkultur“ behauptet. Damit sollen die Entwicklungen und Folgen transkultureller Medienkommunikation gefasst werden, die zu international vereinheitlichten Interaktionsmustern, Werten, Normen und Bedürfnissen beitragen. Siegfried J. Schmidt (1994: 302ff.) spricht in diesem Zusammenhang von „Entdifferenzierungsphänomenen“, die in – meist negativ konnotierten – Schlagworten wie Vermassung, Amerikanisierung oder auch Kommerzialisierung zum Ausdruck kommen. Entdifferenzierung meint in diesem Zusammenhang, dass Massenmedien – und hier insbesondere das Fernsehen – zu weltweiten Standardisierungen führen. Barbara Sichtermann (1997: 47) hat dies in einer spitzzüngigen Fernsehkritik auf den Punkt gebracht: „Gegen die Amerikanisierung der deutschen – und nicht nur der deutschen – TV-Unterhaltung ist kein Kraut gewachsen.“ Die mit der weltweiten Vermarktung von Medienprodukten einhergehenden Angleichungsprozesse repräsentieren jedoch nur einen Wirkungsaspekt. Denn gleichzeitig – und das belegen unsere Forschungsergebnisse nachdrücklich – sind auch unübersehbare Differenzierungsprozesse in Gang gesetzt worden. So ermöglichen die verschiedenen Medien und Programmgattungen nicht nur neue Wahlmöglichkeiten, sondern eröffnen auch größere Handlungsspielräume und tragen damit zu einer Pluralisierung von Sinn- und Sozialwelten bei. Diese Pluralisierung kann in zwei Bereichen verdeutlicht werden. Zum einen werden kulturelle Praxisformen dehierarchisiert, d.h. die ehemals fest gefügten Unterscheidungen einer hierarchisch
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strukturierten Hochkultur, die nur hohe und niedere Kultur, Wesentliches und Oberflächliches, guten und schlechten Geschmack kennt, werden ersetzt durch miteinander konkurrierende Spezialkulturen, die je nach Stilensemble spezifische Mediennutzungsformen, alltagsästhetische Schemata und Deutungsmuster entwickeln. Zum anderen mindert der horizontale Differenzierungsprozess, der sich in immer neuen und zunehmend spezialisierteren Wahlnachbarschaften dokumentiert, auch die begriffliche Reichweite der Subkulturkonzepte, soweit sie noch von einem hierarchischen Verhältnis zwischen Kultur und Teilkultur ausgehen. Mit dem Begriff der Spezialkultur versuchen wir diesen Transformationen Rechnung zu tragen. Gerade für die jugendlichen Medienkulturen trifft dies in besonderem Maße zu. Sie sind keine sub- oder gegenkulturellen Entwürfe, sondern sie verbinden die überkommene, hegemoniale Kultur mit verschiedensten Teilkulturen. Aber die Medien verdrängen nicht die anderen Wirklichkeiten, sondern pluralisieren sie. Dabei spielen verstärkt auch jugendkulturelle Globalisierungsprozesse eine wichtige Rolle. Hintergrund dieser Entwicklung ist das Faktum, dass in den global media cities (Krätke 2002, Hepp 2004b: 267-274) transnationale Konzerne populärkulturelle Produkte aller Art – und zwar angefangen von Filmen und Serien über Videoclips und Computerspiele bis zu den unterschiedlichsten Musikstilen – für den Weltmarkt produzieren. Fraglos sind diese global verbreiteten Produkte (und die damit verbundenen Images) Angebote zur Selbststilisierung und Gruppenbildung. Aber führen sie auch zu deren Nivellierung und Gleichschaltung, wie immer wieder befürchtet wird? So umschreibt der französische Romancier Frédérik Beigbeder die Zukunftsperspektive der transnationalen und konsumorientierten Jugendmilieus folgendermaßen: „Eines Tages werden wir nicht mehr Länder, sondern Marken bewohnen: Wir sind dann die McDonaldianer und die Microsofties“ (zit. n. Roth 2002: 25). Der uniformierten Konzernwelt werden in dieser Vorstellung standardisierte und homogenisierte Jugendkulturen gegenübergestellt, die sich dem Konsumdruck und der Kommerzialisierung der übermächtigen Marktakteure nicht entziehen können. Unsere bisherigen Forschungen zeigen aber, dass gerade in den jugendlichen Medienszenen die populärkulturellen Fertigprodukte der Medienbranche höchst unterschiedlich und eigenwillig verwendet werden. Zwar haben gerade die expressiven jugendlichen Musikkulturen, wie etwa die Punk-, Techno- und Hip-Hop-Fangemeinschaften, durch die wachsende Mediatisierung und Kommerzialisierung eine internationale Stilsprache ausgebildet, aber sie weisen stets auch einen besonderen lokalen Akzent auf. Dieser Kontextualisierungsaspekt, also die Frage, inwiefern die normierte populärkulturelle Botschaft durch nationale, regionale oder milieuspezifische Aneignungspraxen überlagert wird, zählt zu den zentralen Themenstellungen der gegenwärtigen Jugendkulturforschung (vgl. Kaya 2001; Pilkington et al. 2002; Klein/Friedrich 2003). Versucht man vor dem Hintergrund dieser Entwicklung und mit Bezug auf die aktuelle Forschungslage eine Systematisierung der zeitgenössischen jugend- und medienkulturellen Praxisformen, dann offenbart ihr stilistisches Substrat und ihre
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soziale Verortung folgende Strukturmerkmale, die gleichsam als analytisch-kategoriales Raster für die heutige Jugendkultursphäre insgesamt angesehen werden können: •
Die Zahl von Jugendkulturen hat stark zugenommen. Die Schätzungen schwanken zwischen 100 und 200, wobei die Zahl der Anhänger allerdings große Unterschiede aufweist. Zum Mainstream in den jugendlichen Musikszenen zählen derzeit die Rapper und Raver, also die Anhänger von Hip-Hop und Techno mit jeweils weit mehr als einer Million Fans (Pluralisierung).
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Jugendkulturen unterliegen ständigen Differenzierungen und Aufspaltungen. Aus der Rockszene haben sich die Stilrichtungen des Punk, New Wave, Hardcore und Heavy Metal abgespalten. Die Metal-Kultur ihrerseits hat sich zwischenzeitlich ebenfalls in mehrere Untergruppierungen wie Black Metal, Dark Metal und Doom ausdifferenziert. Die Abspaltung von Subszenen wird regelrecht zum Kampfmittel zur Sicherung von Identität und Autonomie. Man kann deshalb auch von einem Mainstream der Minderheiten sprechen (Diversifizierung).
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Auch wenn sich eine große Anzahl von Jugendlichen einer Szene zugehörig fühlt – in unserem Jugendsurvey aus dem Jahr 2000 (vgl. Vogelgesang 2001) sagte rd. die Hälfte der Befragten, dass sie Anhänger einer Medienszene sind –, ihre Szenebindung ist jedoch unterschiedlich intensiv. Drei Typen des Fantums lassen sich dabei unterscheiden: der Novize, der Tourist und der Freak. Sie markieren einerseits gestufte Formen szenegebundenen Wissens und andererseits, wenn auch nicht zwangsläufig, Karriereabschnitte innerhalb einer Szene (gestufte Szenebindung).
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Es sind vor allem die jugendlichen Szeneveteranen, die ihr Wissen und ihre Stilhoheit auch sehr prononciert als Konfrontations- und Abgrenzungsstrategie gegenüber Erwachsenen einsetzen. In spielerisch-aufreizender Lässigkeit demonstrieren sie die ungleiche Verteilung vor allem von Medienkompetenzen. Gerade ihre Leichtigkeit und Virtuosität in der visuellen Wahrnehmung – und zwar von dem Bilderspektakel der Musikclips bis zu den virtuellen Welten der Computerspiele – verdeutlichen, dass der Umgang mit Medien und ihren Inhalten sich immer weiter auseinander entwickelt, denn selbst aufgeschlossene und wohlmeinende Erwachsene können diese medialen Produkte nicht in ihre alltagsästhetischen Schemata transponieren; Ratlosigkeit, Verwirrung und Empörung sind dann nicht selten die Folge. Die Anzeichen mehren sich, dass sich der Generationen-Konflikt zukünftig viel stärker als Medien-Konflikt zeigen dürfte (asymmetrische Wahrnehmungsstile).
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Jugendkulturen sind Formationen auf Zeit, deren Leben und Überleben aufs Engste mit ihrer Stilexklusivität verknüpft ist. Deren Verlust ist gleichbedeutend mit einer Entzauberung und Auflösung ihrer Identität und hängt wie ein Damoklesschwert über allen jugendkulturellen Stilgemeinschaften. In dem Maße näm-
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Mit der Expansion des Jugendkulturmarktes zu Beginn der 1980er Jahre und der freien Wählbarkeit von kulturellen Mustern und Gruppierungen, verlieren klassenkulturell orientierte Stilbildungsprozesse an Bedeutung. Nicht mehr die Verankerung von jugendlichen Lebensformen in der herkunftsspezifischen parent culture ist bestimmend für die heutigen Jugendkulturen und -szenen, sondern viel eher modische Stilbasteleien, die als postmoderne, identitätsstiftende Bezugspunkte tendenziell allen Jugendlichen verfügbar sind. Während Punks und Popper untrennbar mit ihrer Herkunftskultur verbunden sind – dem Arbeitermilieu und dem Bürgertum –, gibt es bei den Techno-Anhängern keine Schichtabhängigkeit mehr. Der Trend ist offenkundig: An die Stelle der Milieugebundenheit ist die Marktorientierung getreten (Marktabhängigkeit anstelle von Herkunftsgebundenheit).
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Durch Fixierungen, Übersteigerungen und Radikalisierungen kann es auch zu problematischen Entwicklungen innerhalb von bestimmten Jugendkulturen und -gruppen kommen. Zu den aktuellen Konfliktszenen zählen Skinheads, Autonome, Hooligans, Satanisten und Faschos, für die aggressive Männlichkeit und Gewalt die dominanten Ausdrucksmittel sind. Hinzu kommen rigide Macht-, Unterwerfungs- und Bestrafungsrituale, die den Ausstieg zu einem hohen persönlichen Risiko machen. Neben diesen Härtegruppen, gibt es noch andere geschlossene Gemeinschaften: die so genannten Rückzugskulturen. Zu nennen sind hier in erster Linie Jugendsekten und bestimmte Esoterikgruppen, die mit wesentlich subtileren Zwangs- und Kontrollmitteln operieren, um jugendliche Mitglieder unter ihre Kontrolle zu bringen. Nicht selten ist der Preis, den der Einzelne in diesen vermeintlichen Heils- und Erlösungszirkeln zahlen muss, sehr hoch: das eigene Ich (deviante Jugendszenen).
5 Fazit: Distinktion durch Stilisierung Für die Mehrzahl der Jugendszenen ist jedoch die Freiwilligkeit und Selbstbestimmung ihrer Mitglieder oberstes Gebot. Dabei zeigen ihre jugendlichen Anhänger auch meist sehr demonstrativ, zu welcher Gruppierung sie gehören. Hinzu kommt, dass Szenen ihre eigenen Orte und Treffpunkte haben, für die eine hohe Erlebnis-
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dichte charakteristisch ist. Hier ist Emotion pur erlebbar, ganz im Unterschied zur verwalteten, geplanten und rationalitätsbestimmten Erwachsenenwelt. Des Weiteren verdeutlichen Jugendkulturen, dass die Individualisierung des heutigen Lebens nicht zwangsläufig in eine Vereinzelung mündet und keineswegs als Verfallsprozess sozialer Bindungen begriffen werden muss, sondern sie sind gleichsam der Prototyp neuer Formen „posttraditionaler Vergemeinschaftung“ (Hitzler 1998) mit je eigenen Stilen, Ritualen und Symbolen. Eingebunden ist diese Entwicklung in einen gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozess, dessen zeitdiagnostische Schlüsselbegriffe – Individualisierung, Traditionserosion, Pluralisierung von Lebensstilen – einen grundlegenden Wandel der Moderne signalisieren. Wie kein anderer hat Hans Magnus Enzensberger (1991: 264) die damit einhergehende „Exotik des Alltags“ plastisch beschrieben, deren Skizzierung so anschaulich gelingt, dass man geneigt ist, von einer literarischen Form von Alltagssoziologie zu sprechen: „Sie [gemeint ist die Exotik des Alltags; W.V.] ist am deutlichsten in der Provinz. Niederbayerische Marktflecken, Dörfer in der Eifel, Kleinstädte in Holstein bevölkern sich mit Figuren, von denen noch vor dreißig Jahren niemand sich etwas träumen ließ. Also Golf spielende Metzger, aus Thailand importierte Ehefrauen, V-Männer mit Schrebergärten, türkische Mullahs, Apothekerinnen in Nicaragua-Komitees, Mercedes fahrende Landstreicher, Autonome mit Bio-Gärten, Waffen sammelnde Finanzbeamte, Pfauen züchtende Kleinbauern, militante Lesbierinnen, tamilische Eisverkäufer, Altphilologen im Warentermingeschäft, Söldner auf Heimaturlaub, extremistische Tierschützer, Kokaindealer mit Bräunungsstudios, Dominas mit Kunden aus dem höheren Management, Computer-Freaks, die zwischen kalifornischen Datenbanken und hessischen Naturschutzparks pendeln, Schreiner, die goldene Türen nach Saudi-Arabien liefern, Kunstfälscher, Karl-May-Forscher, Bodygards, Jazz-Experten, Sterbehelfer und Porno-Produzenten. An die Stelle der Eigenbrötler und der Dorfidioten, der Käuze und der Sonderlinge ist der durchschnittliche Abweichler getreten, der unter Millionen seinesgleichen gar nicht mehr auffällt.“
In der von Enzensberger hier so eindrucksvoll umschriebenen Alltags-Exotik sind auch unsere Forschungsbeispiele angesiedelt. Ob jugendliche Video-Cliquen oder Spiele-Clans, die Szenen der Grufties, Black Metal-Fans oder Cyberpunks, was hier sichtbar wird sind kleine Lebenswelten, in deren szenischem Rahmen die Insider einerseits als eigenständige Gestalter alltäglicher Bezüge und Ordnungen in Erscheinung treten, andererseits aber auch eine sichtbare und expressiv-ausdrückliche Abgrenzungs- und Absetzbewegung auf soziokultureller Ebene vornehmen. Ihre jugendlichen Protagonisten repräsentieren Stilgemeinschaften, die sich nahtlos in die bunt-plurale Welt zeitgenössischer Jugendformationen einfügen. Für diese gilt: „Die vornehmlich freizeitbezogenen Szenen und Jugendkulturen verstärken eine Tendenz, dass Jugendliche nicht mehr für konventionelle Entwicklungs- und Persönlichkeitsvorstellungen verfügbar sind, denn sie wählen […] in sensibler Reaktion auf gesamtkulturelle Zustände und Angebote ihre eigenen Werte der Motivverwirklichung.“ (Baacke/Ferchhoff 1988: 318)
Die Analyse hat weiterhin gezeigt, dass in der „Multioptionsgesellschaft“ (Gross 1994) die Medien und ihre spezialisierten Aneignungsmodi gleichermaßen individuelle wie kulturelle Muster potenzieren. Vor diesem Hintergrund entpuppt sich die These von der nivellierten Medienkultur als ein Mythos. Solche Vorstellungen stehen nicht nur im Widerspruch zu den Befunden der neueren Stil- und Milieufor-
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schung, sondern sie ignorieren auch völlig, auf welch differenzierte Weise gerade die Akteure in medienbestimmten Spezialkulturen in ihrem Aneignungshabitus hoch- und alltagskulturelle Momente miteinander zu verbinden wissen. Joachim Höflich (1996: 268) kommt bei seinen Untersuchungen von kommunikativen Netzwerken zu ganz ähnlichen Ergebnissen: „Jedes Medium eröffnet aufgrund multipler Kommunikationskanäle die Teilhabe an einer Vielzahl potenzieller sozialer Welten […] und elektronischer Gemeinschaften, die sich nachgerade durch medienspezifische Gebrauchsweisen, Bedeutungshorizonte, auf die Medien hin bezogene Identitäten und Distinktionsinteressen unterscheiden.“ (Höflich 1996: 268)
Künftige Jugend- und Medienforschung sollte ein besonderes Augenmerk auf die empirische Beobachtung und theoretische Konzeptualisierung dieser Prozesse medienstimulierter Selbst- und (Sub-)Weltgestaltung richten. Allerdings darf sich angesichts des dynamischen Medien- und Stilmarktes und seiner produktiven Inbesitznahme durch die Jugendlichen die Forschungsarbeit nicht in typologischen oder szenischen Momentaufnahmen erschöpfen. Denn selbst arrivierte Jugendforscher verlieren auf dem heutigen Jugendmarkt nur allzu leicht die Orientierung und stellen dann resigniert fest, dass die „unzähligen Varianten von Cliquen und Jugendkulturen […] sich dem erklärenden und deutenden Zugriff entziehen“ (Ferchhoff 1995: 65). Jugendkulturelle Feldrecherchen, so notwendig sie auch sind, müssen durch Rückgriff auf geeignete theoretische Konzepte Tiefenstrukturen offen legen, die jenseits der Optionalitäten und Ambivalenzen der individualisierten Gesellschaft Mustererkennungen ermöglichen. Die Stiltheorie von John Clark (1979), das Encoding/Decoding-Modell von Stuart Hall (1980), neuere Vorstellungen von Medienkompetenz, die selbstgesteuertes Lernen betonen (vgl. Tully 2004), oder das von Andreas Hepp (2005) weiterentwickelte Aneignungskonzept können in diesem Zusammenhang als wichtige Theoriedesiderate zur Erklärung der Entstehung, Etablierung und Veränderung von jugendlichen Medienszenen und jugendkulturellen Praktiken sein. Das bedeutet, kontrastierend zur herkömmlichen – vorrangig auf die individuelle Nutzung zielende – Betrachtungsweise, ist eine relationale und kulturelle Perspektive zu wählen, um szenetypische Codesysteme und Kommunikationsmuster – man könnte auch von Szenen-Semantiken sprechen – empirisch aufzuhellen und theoretisch zu verorten.
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Waldemar Vogelgesang
Tully, C.J. (Hrsg.) (2004): Verändertes Lernen in modernen technisierten Welten. Wiesbaden. Vogelgesang, W. (2001): „Meine Zukunft bin ich!“ Alltag und Lebensplanung Jugendlicher. Frankfurt a.M./New York. Vogelgesang, W. (2005): Jugend, Alltag und Kultur. Eine Forschungsbilanz. Wiesbaden (im Erscheinen). Weibel, P. (1991): Abschied vom Vertrauen. In: Du. Die Zeitschrift der Kultur 11, 49-100. Winter, R./Eckert, R. (1990): Mediengeschichte und kulturelle Differenzierung. Opladen. Wouters, C. (1999): Informalisierung. Opladen/Wiesbaden.
Über die Autorinnen und Autoren Jannis Androutsopoulos, Dr. phil., Juniorprofessor für Medienkommunikation an der Universität Hannover (Deutschland). Buchveröffentlichungen u.a.: Herausgeber von „Discourse Constructions of Youth Identities“ (gemeinsam mit Alexandra Georgakopoulou, Amsterdam/Philadelphia 2003) und von „HipHop: globale Kultur – lokale Praktiken“ (Bielefeld 2003). Ien Ang, PhD, Professorin für Cultural Studies und Direktorin des Centre for Cultural Research an der Universität von Western Sydney (Australien). Buchveröffentlichungen u.a.: „Das Gefühl Dallas. Zur Produktion des Trivialen“ (Bielefeld 1986), „Living Rooms Wars. Rethinking Media Audiences for a Postmodern World“ (London/New York 1991) und „On Not Speaking Chinese: Living Between Asia and the West“ (London u.a. 2001), Herausgeberin von „Alter/Asians: Asian-Australian Identities in Art, Media and Popular Culture“ (gemeinsam mit Sharon Chalmers, Lisa Law und Mandy Thomas, Sydney 2001). Ute Bechdolf, Dr. rer. soc., Direktorin des Deutsch-Amerikanischen Instituts in Tübingen (Deutschland). Buchveröffentlichungen u.a.: „Puzzling Gender. Reund Dekonstruktionen von Geschlechterverhältnissen im und beim Musikfernsehen“ (Weinheim 1999), „Politics and Pop, People and Partnership. 50 Jahre Deutsch-Amerikanisches Institut Tübingen“ (Tübingen 2002) und „Culture to go - Wie amerikanisch ist Tübingen?“ (Ed. mit Kaspar Maase, Tübingen 2005). Johanna Dorer, Dr. phil., Ass.-Professorin am Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft der Universität Wien (Österreich). Buchveröffentlichungen u.a.: „Kommunikation und Macht: Public Relations – eine Annäherung“ (gemeinsam mit Matthias Marschik, Wien 1993), Herausgeberin von „Feministische Kommunikations- und Medienwissenschaft. Ansätze, Befunde und Perspektiven der aktuellen Entwicklung“ (gemeinsam mit Brigitte Geiger, Wiesbaden 2002) und von „Radiokultur von Morgen. Ansichten – Aussichten – Alternativen“ (gemeinsam mit Alexander Baratsits, Wien 1995). Andreas Dörner, Dr. phil., Professor für Medienwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg (Deutschland). Buchveröffentlichungen u.a.: „Politischer Mythos und symbolische Politik“ (Opladen 1995, TB-Ausgabe Reinbek 1996); „Politische Kultur und Medienunterhaltung“ (Konstanz 1999), „Politainment. Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft“ (Frankfurt a.M. 2001) und „WahlKämpfe. Betrachtungen über ein demokratisches Ritual“ (Frankfurt a.M. 2002).
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Über die Autorinnen und Autoren
Caroline Düvel, Dipl.-Medienwiss., wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachgebiet Kommunikationswissenschaft, Fachbereich Kulturwissenschaften an der Universität Bremen (Deutschland). John Fiske, Professor em. für Communication Acts an der Universität von Wisconsin-Madison (USA). Buchveröffentlichungen u.a.: „Television Culture“ (London/New York 1987), „Media Matters – Everyday Culture and Political Change“ (Minneapolis/London 1994), „Lesarten des Populären“ (Wien 1999) und „Die Fabrikation des Populären“ (Bielefeld 2001). Ursula Ganz-Blättler, Dr. phil., Assistenzprofessorin am Institut für Medien und Journalismus der Universität Lugano (Schweiz). Buchveröffentlichungen u.a.: „Andacht und Abenteuer“ (Tübingen 1990), „Morde im Paradies“ (gemeinsam mit Brigitte Scherer, Monika Grosskopf und Ute Wahl, Konstanz 1994) sowie Herausgeberin von „Sinnbildlich schief. Missgeschicke bei Symbolgenese und Symbolgebrauch“ (gemeinsam mit Paul Michel, Bern/Frankfurt 2003). Udo Göttlich, Dr., PD am Rhein-Rhur-Institut für Sozialforschung und Politikberatung an der Universität Duisburg-Essen, Campus Duisburg (Deutschland). Buchveröffentlichungen u.a.: „Kritik der Medien. Reflexionsstufen kritischmaterialistischer Medientheorien“ (Opladen 1996), Herausgeber von „Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung“ (gemeinsam mit Roger Bromley und Carsten Winter, Lüneburg 1999), von „Politik des Vergnügens. Zur Diskussion der Populärkultur in den Cultural Studies“ (gemeinsam mit Rainer Winter, Köln 1999) sowie von „Populäre Kultur als repräsentative Kultur. Die Herausforderung der Cultural Studies“ (gemeinsam mit Clemens Albrecht und Winfried Gebhardt, Köln 2002). Lawrence Grossberg, Morris Davis Professor für Communication Studies und Direktor des Cultural Studies Programms an der Universität von North Carolina-Chapel Hill (USA). Buchveröffentlichungen u.a.: „We Gotta Get Out of This Place. Popular Conversatism and Postmodern Culture“ (New York/London 1992), „What‘s Going On? Cultural Studies und Popularkultur“ (Wien 2000), „Caught in the Crossfire: Kids, Politics and America‘s Future“ (London u.a. 2005), Herausgeber von „Cultural Studies“ (gemeinsam mit C. Nelson/P. Treichler, New York, London 1992), von „Without Guarantees: In Honour of Stuart Hall“ (gemeinsam mit Paul Gilroy und Angela McRobbie, London u.a. 2000) sowie von „New Keywords: A Revised Vocabulary of Culture and Society“ (gemeinsam mit Tony Bennett und Meaghan Morris, London u.a. 2005). Andreas Hepp, Dr. phil., Professor für Kommunikationswissenschaft, Fachbereich Kulturwissenschaften an der Universität Bremen (Deutschland). Buchveröffentlichungen u.a.: „Fernsehaneignung und Alltagsgespräche. Fernsehnutzung aus der Perspektive der Cultural Studies“ (Opladen 1998), „Cultural Studies und Medienanalyse“ (Wiesbaden 1999, 2. Auflage 2004), „Netzwerke der Medien.
Über die Autorinnen und Autoren
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Medienkulturen und Globalisierung“ (Wiesbaden 2004), Herausgeber von „Grundlagentexte zur transkulturellen Kommunikation“ (gemeinsam mit Martin Löffelholz, Konstanz 2002), „Populäre Events. Medienevents, Spielevents, Spaßevents“ (gemeinsam mit Waldemar Vogelgesang, Opladen 2003) und „Die Cultural Studies Kontroverse“ (gemeinsam mit Carsten Winter, Lüneburg 2003). Ralf Hinz, Dr. phil., Lehrbeauftragter an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M., an der Ruhr-Universität Bochum (Deutschland) und an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Zürich (Schweiz), Lehrer am QuirinusGymnasium Neuss (Deutschland). Buchveröffentlichung: „Cultural Studies und Pop. Zur Kritik der Urteilskraft wissenschaftlicher und journalistischer Rede über populäre Kultur“ (Opladen/Wiesbaden 1998). Brigitte Hipfl, Dr. phil., Ao.-Professorin am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Klagenfurt (Österreich). Buchveröffentlichungen u.a.: Herausgeberin von „Sündiger Genuss? Filmerfahrungen von Frauen“ (gemeinsam mit Frigga Haug, Hamburg 1995), von „Bewegte Identitäten. Medien in transkulturellen Kontexten“ (gemeinsam mit Brigitta Busch und Kevin Robins, Klagenfurt 2001) und von „Identitätsräume“ (gemeinsam mit Elisabeth Klaus und Uta Scheer, Bielefeld 2004). Karl H. Hörning, Dr. rer. pol., Professor em. am Institut für Soziologie der RWTH Aachen (Deutschland). Buchveröffentlichungen u.a.: „Zeitpioniere“ (gemeinsam mit Anette Gerhard und Matthias Michailow; Frankfurt a.M. 1990, 3. Auflage 1998; engl. Übersetzung Cambridge 1995), „Metamorphosen der Technik“ (gemeinsam mit Karin Dollhausen, Opladen 1997) und „Experten des Alltags“ (Weilerswist 2001), Herausgeber von „Widerspenstige Kulturen“ (gemeinsam mit Rainer Winter, Frankfurt a.M. 1999, 2. Auflage 2004) und „Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und Praxis“ (gemeinsam mit Julia Reuter, Bielefeld 2004). Siegfried Jäger, Dr. phil., Professor em. für Germanistik an der Fakultät für Geisteswissenschaften der Universität Duisburg/Essen, Campus Duisburg (Deutschland). Buchveröffentlichungen u.a.: „BrandSätze. Rassismus im Alltag“ (Duisburg 1992, 4. Auflage 1996), „Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung“ (Duisburg 1993, vierte Auflage Münster 2004), Herausgeber von „‚Diese Rechte ist immer noch Bestandteil unserer Welt.‘ Aspekte einer neuen Konservativen Revolution“ (gemeinsam mit Jobst Paul, Duisburg 2001) sowie von „Gefühlte Geschichte und Kämpfe um Identität“ (gemeinsam mit Franz Januschek, Münster 2004). Elisabeth Klaus, Dr. phil., Professorin am Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg (Österreich). Buchveröffentlichungen u.a.: „Kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung. Zur Bedeutung der Frauen in den Massenmedien und im Journalismus“ (2. aktualisierte Aufl. Mün-
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Über die Autorinnen und Autoren ster/Wien 2005), Herausgeberin von „Kommunikationswissenschaft und Gender Studies“ (gemeinsam mit Jutta Röser und Ulla Wischermann, 2. unver. Aufl. Opladen/Wiesbaden 2002) sowie von „Identitätsräume“ (gemeinsam mit Brigitte Hipfl und Uta Scheer, Bielefeld 2004).
Friedrich Krotz, Dr. phil., Professor für Kommunikationswissenschaft/soziale Kommunikation am Seminar für Medien und Kommunikation der Universität Erfurt (Deutschland). Buchveröffentlichungen u.a.: „Die Mediatisierung kommunikativen Handelns“ (Wiesbaden 2001) und „Neue Theorien entwickeln“ (Köln 2005), Herausgeber von „Die Zuschauer als Fernsehregisseure? Zum Verständnis individueller Nutzungs- und Rezeptionsmuster“ (gemeinsam mit Uwe Hasebrink, Baden-Baden/Hamburg 1996), von „Mythen der Mediengesellschaft – The Media Society and its Myths“ (gemeinsam mit Patrick Rössler, Konstanz 2005) und von „Globalisierung der Medienkommunikation“ (gemeinsam mit Andreas Hepp und Carsten Winter, Wiesbaden 2005). Matthias Marschik, Dr. phil., Universitätsdozent am Institut für Zeitgeschichte der Universität Linz (Österreich). Buchveröffentlichungen u.a.: „Frauenfussball und Maskulinität“ (Münster 2003), „Flieger, grüß mir die Sonne… Eine kleine Kulturgeschichte der Luftfahrt“ (Wien 2000) und „Johann Dolanski: Die Hohlwelttheorie“ (Wien 2005). Lothar Mikos, Dr. phil., Professor für AV-Medienwissenschaft an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam Babelsberg (Deutschland). Buchveröffentlichungen u.a.: „Fernsehen im Erleben der Zuschauer“ (München/Berlin 1994), „Fern-Sehen“ (Berlin 2001), „Film- und Fernsehanalyse“ (Konstanz 2003), Herausgeber von „Die Werkzeugkiste der Cultural Studies“ (gemeinsam mit Udo Göttlich und Rainer Winter, Bielefeld 2001) und „Qualitative Medienforschung“ (gemeinsam mit Claudia Wegener, Konstanz 2005). Eggo Müller, Dr. phil., Ass.-Professor am Instituut Media en Re/presentive an der Universität Ultrecht (Niederlande). Buchveröffentlichungen u.a.: „Paarungsspiele“ (Berlin 1999), Herausgeber von „Ansichten einer zukünftigen Medienwissenschaft“ (gemeinsam mit Rainer Bohn und Rainer Ruppert, Berlin 1988), von „Der Film in der Geschichte“ (gemeinsam mit Knut Hickethier und Rainer Rother, Berlin 2001) und von „Euro 2004 – Medienfußball im Europäischen Vergleich“ (mit Jürgen Schwier, Köln 2005). Klaus Neumann-Braun, Dr. phil., Professor am Institut für Medienwissenschaften der Universität Basel (Schweiz). Buchveröffentlichungen u.a.: „Rundfunkunterhaltung. Zur Inszenierung publikumsnaher Kommunikationsereignisse“ (Tübingen 1993), „Die Welt der Gothics“ (gemeinsam mit Axel Schmidt, Wiesbaden 2005), Herausgeber von „Medien- und Kommunikationssoziologie“ (gemeinsam mit Stefan Müller-Doohm, München 2000), „Kulturinszenierungen“ (gemeinsam mit Stefan Müller-Doohm, Frankfurt a.M. 2002) und von „Coolhunters“ (gemeinsam mit Birgit Richard, Frankfurt a.M. 2005).
Über die Autorinnen und Autoren
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Rudi Renger, Dr. phil., Professor für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft am Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Universität Salzburg (Österreich). Buchveröffentlichungen u.a.: „Populärer Journalismus. Nachrichten zwischen Fakten und Fiktion“ (Innsbruck u.a. 2000), Herausgeber von „Dialog der Kulturen: Die multikulturelle Gesellschaft und die Medien“ (gemeinsam mit Kurt Luger, Wien 1994), von „Journalismus in der Informationsgesellschaft“ (gemeinsam mit Hans H. Fabris und Roman Hummel, Innsbruck u.a. 1999) und von „Kommunikationswelten“ (gemeinsam mit Gabriele Siegert, Innsbruck u.a. 1997). Julia Reuter, Dr. phil., Juniorprofessorin für Allgemeine Soziologie mit Schwerpunkt Entwicklungssoziologie an der Universität Trier (Deutschland). Buchveröffentlichungen: „Ordnungen des Anderen. Zum Problem des Eigenen in der Soziologie des Fremden“ (Bielefeld 2002) und Herausgeberin von „Doing Culture. Neue Positionen zum Verhältnis von Kultur und Praxis“ (gemeinsam mit Karl H. Hörning, Bielefeld 2004). Axel Schmidt, Dr. phil., Forschungsassistent am Institut für Soziologie der Universität Koblenz-Landau, Campus Landau (Deutschland). Buchveröffentlichungen: „Die Welt der Gothics“ (gemeinsam mit Klaus Neumann-Braun, Wiesbaden 2005), Herausgeber von „Popvisionen – Links in die Zukunft“ (gemeinsam mit Klaus Neumann-Braun, Frankfurt 2003). Mark Terkessidis, Dr. phil., freier Autor in Köln (Deutschland). Buchveröffentlichungen u.a.: „Kulturkampf – Volk, Nation, der Westen und die Neue Rechte“ (Köln 1995), „Psychologie des Rassismus“ (Wiesbaden 1998), „Die Banalität des Rassismus“ (Bielefeld 2004), Herausgeber von „Mainstream der Minderheiten“ (gemeinsam mit Tom Holert, Berlin u.a. 1996) und von „Globalkolorit. Multikulturalismus und Populärkultur“ (gemeinsam mit Ruth Mayer, St. Andrä/Wördern 1998). Waldemar Vogelgesang, Dr. phil., Vert.-Professor für allgemeine Soziologie an der Universität Trier (Deutschland). Buchveröffentlichungen u.a.: „Jugendliche Videocliquen“ (Opladen 1991), „‚Meine Zukunft bin ich!‘ Alltag und Lebensplanung Jugendlicher“ (Frankfurt a.M./New York 2001), „Jugend, Alltag und Kultur. Eine Forschungsbilanz“ (Wiesbaden 2005), Herausgeber von „Populäre Events. Medienevents, Spielevents und Spaßevents“ (gemeinsam mit Andreas Hepp, Opladen 2003). Rainer Winter, Dr. phil., Professor für Medien- und Kulturtheorie am Institut für Medien- und Kommunikationswissenschaft der Universität Klagenfurt (Österreich). Buchveröffentlichungen u.a.: „Filmsoziologie. Eine Einführung in das Verhältnis von Film, Kultur und Gesellschaft“ (München 1992), „Der produktive Zuschauer. Medienaneignung als kultureller und ästhetischer Prozess“ (München/Berlin 1995), „Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht“ (Weilerswist 2001), Herausgeber von „Widerspenstige Kulturen“
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Über die Autorinnen und Autoren (gemeinsam mit Karl H. Hörning, Frankfurt a.M. 1999), von „Politik des Vergnügens. Zur Diskussion der Populärkultur in den Cultural Studies“ (gemeinsam mit Udo Göttlich, Köln 1999) und von „Globales Amerika?“ (gemeinsam mit Ulrich Beck und Natan Sznaider, Bielefeld 2003).
Frank Wittmann, lic. phil., Assistent am Department für Gesellschaftswissenschaften der Universität Fribourg (Schweiz). Herausgeber von „African Media Cultures: Transdisciplinary Perspectives“ (gemeinsam mit Rose Marie Beck, Köln 2004) und „Entre tradition orale et neuvelles technologies: où vont les mass médias au Sénégal?“ (gemeinsam mit Martin Taureg, Dakar 2005). Hans-Jürgen Wulff, Dr. phil., Professor für Medienwissenschaft an der Universität Kiel (Deutschland). Buchveröffentlichungen u.a.: „Die Erzählung der Gewalt“ (Münster 1985, Neuauflage 1997) und „Konzeptionen der psychischen Krankheit im Film“ (Münster 1985, Neuauflagen 1995 und 1998: „Psychiatrie im Film“) und „Einführung in die Film- und Fernsehwissenschaft“ (gemeinsam mit Nils Borstnar und Eckhard Pabst, Konstanz 2002).
Index Affekt 28, 35, 39, 389, 445-446 Alltag 13-14, 25-26, 28, 30-31, 34, 36-37, 41-43, 45-46, 52-58, 65-66, 73, 83-85, 94, 101, 104, 113-114, 116-119, 121, 135, 146, 156, 158, 163, 166, 169, 178, 184, 187, 193-196, 202-205, 210, 212, 221-224, 229, 241, 244, 246, 248-249, 262, 269-271, 274-275, 277-279, 291-292, 295, 301, 304, 306, 331, 334, 340, 343-344, 360, 383, 386, 388, 390-391, 393, 395, 399-400, 403-418, 429, 431, 435, 439-440, 442, 445-446, 448-449, 451-452 Aneignung 9, 11-12, 16, 18, 38, 50, 82, 87, 89, 117, 161, 193, 195-196, 205, 209, 221, 224, 231, 237, 240-241, 243, 246, 248, 256, 287, 361, 389-390, 394, 399-400, 404-407, 409, 412-419, 442, 448, 451-452 Anthropologie 30-31, 33-34, 70-72, 102, 109-110, 116, 185, 232, 237, 243, 286, 308, 312, 331, 346 Artikulation 11, 17-18, 25-28, 30, 33-37, 53, 64, 67, 69, 77, 86, 121, 150, 155, 158, 160, 163, 167, 169, 183, 188, 196, 246, 261, 281, 311-312, 318, 320, 324, 328, 339, 346, 355, 375, 390, 399-400, 405-407, 413, 415-418, 428, 434, 444 Ästhetik 30-31, 34, 55, 58, 72, 89, 179, 194, 226, 256, 261-263, 304, 368, 386-391, 431, 442, 444, 448-449 Bedeutung 9, 13-14, 16, 30, 32-33, 35, 38, 41-45, 47-51, 53, 55-59, 61-66, 68-71, 74, 76-78, 88-89, 95, 97-102, 105, 109-111, 113, 115-118, 121, 128-130, 132-134, 136, 139-140, 143, 145, 147, 149, 158, 160, 163, 167, 177, 186-187, 193-196, 201, 204-205, 207, 210-211, 213-214, 223, 229, 232, 243,
246, 257, 270, 272-277, 279, 281, 288, 292, 296, 305, 307, 318, 320, 337, 406, 428, 430, 452 Bewusstsein 28, 32-33, 35, 61-62, 69, 73, 97, 99, 102, 105, 113, 134, 179, 208-209, 257, 261, 292, 299-301, 328, 331, 333-334, 388-389, 412 Bewusstseinsindustrie 11, 274 Binarität 28, 208-209, 321 Bricolage 81, 238, 243-244, 246, 249, 387 CCCS 9, 19, 24, 94, 98, 178-180, 212, 219, 237, 243 Common Sense 29, 33, 51-55, 286 Computer 64, 115, 117-120, 129, 160-161, 182-183, 362, 442-446, 448-449, 451 Cyberkultur 119, 150, 160, 170, 353, 361, 388, 451 Dekodierung 9, 11, 73, 95-96, 103, 131, 158, 201, 222, 274-276, 288, 452 Dekonstruktion 18, 28, 30, 36, 84-85, 89, 203, 206, 259-260, 430, 434-435 Deterritorialisierung 27, 161, 404 Dialektik 31-33, 126, 195, 238, 385, 390, 440 Diaspora 170, 367, 374 Differenz 12, 14, 16-18, 28-29, 42, 44-45, 50, 54, 68, 86, 104, 121, 126, 128, 143, 188, 197, 205, 209, 260-262, 302, 305-306, 312-322, 324, 331, 336, 339-340, 345, 368-369, 383-384, 410, 414, 417, 425-430, 435, 447 Diskurs 9-10, 12, 15, 17, 26, 29, 33-35, 45, 47, 49, 52-53, 64, 68, 70-78, 84-87, 89-90, 95, 102-105, 109, 114-116, 119, 125, 128, 130, 132, 134, 140, 146-147, 149-150, 158, 183, 185, 196-198, 203, 206, 208-210, 213-214, 220, 224, 226, 228, 237-239, 241-242, 247, 249, 256-257, 259-260, 263, 269-270,
462 273-274, 276-277, 280, 290, 292, 300-301, 318, 321, 328-348, 354-355, 357-359, 361-362, 367, 369, 373, 406, 419, 427, 429-430, 433-434, 443, 445 Diskursanalyse 184, 197-198, 238, 241-242, 327-328, 332-333, 335, 337-338, 340, 368-369 Dispositiv 83, 85, 357, 362 Disziplinarität 10-11, 13, 16, 23, 25, 82-83, 127, 155-157, 177-178, 181-182, 184-185, 206, 219, 221, 232, 249, 255, 261, 327, 425 Disziplinierung 31, 34, 42-43, 58, 114, 356, 358, 361-363, 445-446 Elite 34, 46-47, 76, 93, 193, 227, 271, 368, 373, 388, 390 Ethik 26, 29, 31-32, 34, 37, 53, 71, 342, 356, 374 Ethnie 203, 208-209, 213, 375 Ethnizität 224, 243-245, 318, 327, 330, 338-339, 427, 429 Ethnografie 14, 61, 63, 66, 68, 70-73, 76-77, 81-87, 89-90, 110, 182, 186, 188, 225, 237-239, 244, 248, 383, 392-393, 408, 442 Ethnozentrismus 25 Europa 29-32, 76-77, 187, 255, 301, 337, 367, 377, 441 Fan 48, 54-56, 70, 89, 117, 202, 241, 246-247, 257, 262, 264, 285, 287, 296, 439-440, 445, 448-451 Feminismus 57, 74-75, 84, 150, 179, 182-183, 185, 201-207, 211-214, 228, 233, 361, 425-426, 429 Fernsehen 9, 17-18, 34, 58, 61-67, 136, 160, 162, 182-185, 195, 221-225, 229, 248, 258, 271-272, 276, 289, 293-295, 304, 314, 316, 355, 359, 429, 447 Film 18, 57, 84, 88-89, 126, 130-131, 139, 146, 148-149, 160, 162, 183-184, 201, 225-231, 245, 262-263, 272, 303-304, 315, 318, 323, 369, 372, 448
Index Fluss 15, 46, 56-58, 71, 110, 155, 157, 163, 165-170, 226, 312, 329, 332-333, 342, 347, 358-359, 369, 402 Formation 10, 23-24, 26, 46, 70, 97, 103-104, 110, 158, 186-187, 196, 220, 226, 333, 335, 379, 449 Gattung 130, 238, 240-242, 246, 248, 250, 265 Gefühlsstruktur 30-31 Gemeinschaft 24, 30-31, 36-37, 73-75, 77, 82, 97, 118, 226, 233, 241, 243-244, 285, 288-293, 296, 313, 321, 328, 330, 376, 384-385, 387, 394, 439, 450, 452 Gender 11-12, 15-16, 18, 56-57, 179, 201-214, 225, 292, 302, 363, 425-427, 435 Genre 17, 57, 71, 74, 89, 100, 130, 146, 179, 203, 209-210, 229, 239-240, 272-274, 278, 280, 285-287, 290-292, 295-296, 371, 375, 426 Gesellschaft 9-10, 14, 30-32, 34, 42-43, 51, 53, 64, 68, 83-84, 87, 94, 96-105, 109, 111-116, 120, 125, 127-128, 130-131, 133-135, 139, 141, 169, 179, 183-184, 187-188, 193-194, 196-198, 202, 204-206, 208-210, 212-213, 225, 227-232, 237-238, 240, 242, 245-246, 249, 260, 263, 273-275, 281, 285, 292-294, 299-300, 302, 304-305, 307, 311-312, 314, 316-317, 319, 327-328, 331, 334, 336, 344-345, 354, 356-358, 360, 363, 368-369, 371, 373-374, 376, 378-379, 384, 386-387, 390-392, 399, 402-403, 406, 426-427, 434, 439-441, 444-445, 452 Gewalt 226, 262, 342, 344, 346, 367, 371, 378-379, 381, 450 Global 12, 27, 71, 75-77, 87, 159-160, 164, 166-169, 243, 246-247, 249, 302-303, 305, 311, 313, 316, 319-320, 331, 334-335, 338-340, 343-344, 362-363, 368-369, 377, 404, 443, 447-448
Index Globalisierung 13, 15, 17, 27, 76, 120, 135, 157-161, 163, 169, 185, 238, 242-244, 246, 302-303, 311-313, 324, 335, 338-339, 344, 347, 354, 367-369, 373, 379-380, 439, 448 Habitus 113-114, 245, 263, 395, 439, 442 Handeln 26, 37, 39, 43, 110, 112-117, 119, 121, 128-130, 132-135, 161, 164, 166, 196, 198, 201, 210, 244, 291, 299, 392, 394, 400, 408, 415, 427, 433-434 Handlung 12, 18, 25, 28, 34, 36-37, 63, 73-74, 77, 101-102, 104-105, 110-113, 116, 118, 121, 128-129, 133-135, 140, 196, 227, 238-240, 243, 247-248, 289, 291, 301, 329, 331, 335, 342-343, 357, 373, 383, 389-392, 394-395, 400, 405, 408, 412, 427, 433, 439-440, 447 Handlungsfähigkeit 12, 37, 39 Hegemonie 36, 42, 54-55, 58, 76, 95, 130-131, 136, 205, 207, 220-223, 227, 232, 246-247, 305, 316, 319-321, 323, 329, 341, 343-345, 348, 354, 448 Herrschaft 25-26, 36, 104, 114, 169, 223, 245, 263, 340 Hochschule 23, 255, 258-259, 425 Hybridität 17, 238, 244-246, 250, 313, 320-322, 338, 367-368, 376-378 Identifikation 12, 28, 142-144, 147-148, 209, 226, 301-302, 339-340, 368, 388, 406, 427, 433-434 Identität 11-12, 17, 28-29, 31, 33, 35, 37-38, 88, 125, 132-134, 141-142, 144, 146, 202-203, 219-220, 223-227, 230, 232-233, 238-239, 243-244, 260, 292, 299-303, 306-307, 311-314, 316, 321-322, 328-329, 331, 333, 335-340, 345, 348, 362, 367-369, 374, 395, 407, 420, 426, 433, 441, 443-445, 447, 449-450, 452 Ideologie 11, 28, 33-35, 42, 51-55, 76, 81, 83, 89, 95, 140, 197, 202, 208-210, 224-227, 230, 259, 277-279, 301, 305, 328, 333-334, 368, 374, 385, 387, 389, 394
463 Imperialismus 30, 76, 373 Industrialisierung 27, 97, 303 Informationsgesellschaft 270, 295, 356 Intellektuelle 23-27, 31-32, 37, 50, 61, 93, 136, 156, 180-181, 183, 187, 205-206, 211, 220, 256, 259, 261-263, 279, 313, 320 Interaktion 25, 77, 84, 87, 101, 112-113, 115, 118, 120, 127-130, 133-135, 197, 237, 239-240, 244-246, 279, 294, 360-361, 369, 377, 392, 394, 396, 401-404, 415, 428, 447 Interdisziplinarität 13, 19, 23, 25, 181-182, 185, 205, 231-233, 238, 242, 249, 271, 425 Internet 17, 157, 160, 162, 168-169, 201, 211, 247, 304, 353-355, 357, 359-363, 395, 405 Interpretationsgemeinschaft 73, 288, 292-293 Intertextualität 55, 57, 242 Intervention 24, 26-27, 29, 72, 74-75, 88, 90, 156, 183, 187, 202, 205-206, 209-211, 261, 314, 344 Journalismus 16-18, 168, 201, 210, 257, 269-281, 356 Jugend 18, 93, 146, 179-180, 182, 212, 227, 243-248, 255, 292, 322, 353, 367, 370, 374, 378-379, 383, 388-389, 391-392, 399-400, 403-404, 407-408, 413, 417-420, 427-430, 435, 439-443, 445-452 Jugendkultur 18, 180, 246-247, 367, 377, 388, 394, 425, 439-440, 445, 448-452 Kampf 17, 24, 29, 33, 35-37, 45, 77, 99, 111, 119, 125, 140, 145, 181, 210, 223-224, 229, 321, 324, 328, 331, 334, 340, 342-343, 345, 347, 354-355, 357, 370, 373, 449-450 Kapital 27, 113, 164, 220, 338-340, 347, 430 Kapitalismus 23, 27, 43, 53-54, 70, 77, 126, 166, 169, 209, 263, 301-302, 304, 307, 334, 338, 340, 347
464 Klasse 11, 44, 49, 57, 69, 97-98, 126, 131, 178-179, 203, 208-209, 213, 221-222, 224-225, 302, 305, 328, 336, 354, 356, 379, 431, 445, 447, 450 Kodierung 9, 11, 103, 130-131, 158, 184, 222, 274, 276, 288, 290, 360, 447, 452 Kolonisierung 30, 42, 195, 321 Kommerzialisierung 13, 27, 272, 302 Kommunikations- und Medientheorie 67, 93, 101, 103-105, 134-135, 168, 198, 201, 206, 225, 428 Kommunikations- und Medienwissenschaft 11, 14, 16, 18, 23, 62, 96, 103, 125-127, 129, 155, 157, 165, 168-170, 177-185, 187, 194, 199, 201-202, 204, 206-207, 213, 219-220, 249, 269, 271, 281, 293, 425, 427, 443 Kommunikationsforschung 15, 106, 155, 157, 159, 167-168, 170 Konnektivität 15, 155, 157-171, 404, 410-413, 416-418 Konservativismus 28, 36, 97, 203, 226, 231, 233, 312, 327, 335, 340 Konstruktivismus 32-35, 128, 167, 227, 231, 426 Konsum 17, 43, 56, 59, 63-64, 67-68, 76-77, 96, 114, 126, 131, 155, 180, 202, 220, 255, 261-262, 264, 270-273, 281, 293, 296, 300-303, 305-306, 314-316, 338, 361, 405-406, 442, 448 Konsumkultur 23, 304, 307 Kontextualismus 14, 33, 61, 63, 65-69, 73-74, 76-77, 168, 228 Kontrolle 18, 35, 42-43, 47-48, 50-51, 68-69, 77, 84, 142, 161, 241, 272, 287, 344, 354, 356-358, 360-362, 396, 414, 418, 441, 450 Körper 28, 47-48, 50, 56, 77, 115-120, 141-143, 149, 203, 332, 334, 353-354, 357, 361-362, 386, 388, 394, 410, 432, 440, 442 Kritik 11-12, 28, 30, 43, 50, 55-56, 58, 97-98, 105, 113, 169-170, 263, 379, 429
Index Kritische Theorie 11, 43, 90, 105, 125, 178, 187, 233 Kulturalismus 94, 111 Kulturanalyse 9-14, 24, 29, 33, 93, 97, 109-111, 113-117, 237-239, 249, 269 Kulturbegriff 29-32, 94, 97, 99-100, 205, 213, 222, 311-313, 333 Kulturkritik 32, 193, 442, 447 Kultursoziologie 93, 97, 125-126, 133, 135, 185, 255 Kulturtheorie 28, 34-35, 55, 63, 65, 67, 72-73, 94, 96, 99-101, 109, 112, 117, 184, 193, 392, 406 Kulturwissenschaft 9-10, 93, 97, 103, 112, 115, 125, 129, 134, 156, 170, 177-178, 181-183, 185, 187, 255, 258-259, 272, 274, 281, 299, 313, 332, 425, 427 Kunst 30, 46, 49, 55, 57, 98, 131, 186, 246-247, 256, 259-260, 263, 270, 272-273, 278, 287, 304, 314, 316, 321, 372, 374, 376, 389, 431, 451 Legitimität 10, 23, 25, 72, 119, 198, 206, 227, 245, 258, 260-261, 287, 291 Lesart 25, 42, 50, 57-58, 73, 110, 131, 147, 274, 276, 306 Linke 23-24, 231, 256, 260, 262, 327-328 Literatur 25, 30-31, 41, 46-47, 62, 70, 72, 86, 97-98, 183-184, 233, 263, 270, 272, 288, 290, 293, 304, 327, 427, 451 Literaturwissenschaft 10-11, 16, 18, 93, 97, 126, 204, 237, 311, 313 Lokal 12, 27, 36, 62, 66, 76-77, 81, 118-119, 158, 161, 164, 243-246, 249, 294, 299, 305, 331, 334, 339, 343-344, 347, 362, 368-369, 377-379, 400, 402, 405, 410-411, 415-417, 448 Macht 9-13, 15-16, 18-19, 23, 25-26, 28-30, 32, 34, 36, 42-43, 45, 53-54, 58, 70-71, 77, 81, 93, 104, 111, 113-115, 130, 139-140, 147, 155, 157, 160, 164-166, 168-171, 186, 188, 193-194, 198, 201-203, 205, 222-225, 232, 238, 242, 249, 263, 272, 277, 279, 292, 305,
Index 312, 318, 321-322, 324, 328-329, 331, 343-344, 348, 354, 357-363, 369, 379, 384, 427, 434-435, 442, 450 Marxismus 93-94, 97-98, 100, 103, 105, 220-221, 223, 225, 228-229, 232, 260, 347 Massengesellschaft 31 Materialismus 35, 93-98, 100-105, 225 Medienkultur 13, 16-18, 85, 93, 101, 104, 165, 219, 222-231, 267, 271, 406, 443, 446, 448, 451 Mediensoziologie 93, 135, 443 Mehrdeutigkeit 29-31, 35, 276, 278, 376 Methode 9-10, 18, 25, 43, 61, 67-68, 81-82, 85, 87-89, 126, 148, 186, 206, 211, 220, 222, 228, 232, 237-238, 240, 242, 250, 369, 392-395, 408-409, 429 Minderheit 41, 46, 76, 170, 258, 316-317, 322, 327, 340, 367, 449 Mobilität 18, 27-28, 31, 34, 36, 71, 75, 83, 98, 119, 147, 160-161, 165-167, 169, 257, 303, 313, 315, 343-344, 357, 399-405, 407-419, 441 Mobilkommunikation 18, 119-120, 158, 161, 360, 362, 399-407, 409-420 Moderne 31, 161, 220, 301, 338, 385, 441, 451 Moral 26, 31, 71, 82, 87, 90, 262, 370, 374, 376, 383-384, 431, 444, 447 Multikulturalismus 11, 17, 225, 312-313, 315-317, 327-328, 334, 336, 340-341, 344-345 Musik 17, 23, 34, 230, 241, 255-257, 262-263, 265, 270, 315, 367-370, 372-373, 375-381, 389, 425, 427-429, 431-435, 440, 444, 448-449 Musikfernsehen 427-429, 431 Musikindustrie 262, 369 Musikjournalismus 16, 183, 255-256, 258-261 Musikvideo 18, 210, 427-435 Mythos 57, 84, 301, 303-308, 333, 353, 385, 390, 451 Nation 23, 203, 321, 329, 333-336, 338-339
465 Nationalisierung 338 Nationalismus 242, 337, 344 Nationalität 31, 69 Nationalsozialismus 125, 146, 228 Nationalstaat 31, 170, 339 Netzwerk 15, 36, 64-65, 81, 115, 120, 143, 155, 157, 163-171, 275, 290, 402-405, 411-412, 414-415, 417, 452 Netzwerktheorie 34, 170 Öffentlichkeit 6, 16, 172, 219, 228, 232, 240, 272, 292, 313, 355, 357, 362, 391, 403, 444-445 Ökonomie 11-12, 23, 25, 27, 34, 36-37, 42-43, 75, 96, 98-100, 103-104, 113, 130, 139, 155, 159, 167, 169, 178, 186-187, 195, 198, 220-222, 225, 227, 229-230, 261-263, 274, 279, 290, 294, 306, 324, 340, 343, 353-354, 373, 378-379 Ordnung 32, 45, 58, 62, 73, 99, 110, 112, 115-116, 141-144, 146-149, 204-205, 239, 245, 278, 290, 301, 305, 337, 341, 363, 385, 414, 428, 433, 441, 451 Ort 12, 18, 26-28, 30, 36, 39, 113, 118, 141-142, 145, 160-161, 164, 205, 261, 274, 279, 294, 300-301, 316, 318, 320-321, 324, 329, 332, 346, 362, 392, 399-404, 409-412, 414, 416, 418, 428, 447, 450 Pädagogik 16, 18, 23, 180, 183, 294, 355, 374, 376 Paradox 26, 114, 156, 159, 165, 167, 289, 385, 387 Philosophie 29, 32, 34, 100, 112, 183, 224, 272, 385, 443 Politik 10, 19, 24-26, 28-29, 34-35, 56-57, 66, 69, 72, 74, 76, 81, 89, 187, 203, 206, 222-224, 229, 231-232, 257, 271, 278-280, 314, 322, 328, 334-335, 337-339, 341, 343-344, 348, 370, 373, 375, 379, 444 Politikwissenschaft 16, 18, 219-220, 222 Polysemie 101, 195, 222, 229, 278, 388, 428
466 Populärkultur 14, 36, 41-44, 50-51, 55-58, 83, 93-94, 126, 146, 150, 179-181, 183-185, 187, 194, 203, 210, 223, 258, 269-272, 274, 276-277, 281, 290, 428, 431-432, 448 Postkolonialismus 28, 30, 71, 259, 311, 313, 320, 367, 372 Postmoderne 28-29, 62, 71, 75, 83, 87, 180, 203, 206, 209-210, 225, 229-230, 260, 263, 293, 299, 301, 311, 313, 318, 340, 347, 387, 440, 450 Poststrukturalismus 28, 70, 97, 103, 105, 110, 141, 179, 183, 203, 206, 210-211, 221, 257, 259-260, 426 Praxis 10, 12, 14, 17, 23-24, 26-27, 33, 35, 37-38, 54-55, 62, 72, 76, 90, 100, 102-106, 109, 111-116, 118-121, 129, 131, 134, 136, 168, 183, 186, 196, 198, 205-206, 221-223, 225, 229, 233-234, 241-242, 263, 270, 272, 285, 290, 295, 322, 392-394, 403, 439-440, 447-448 Produktion 10, 12, 18, 33, 43, 55, 72, 95-101, 103-104, 112-113, 130, 133, 139, 186-187, 197, 201, 211, 221, 224-225, 229, 240, 242, 244, 256, 271-275, 278, 293-296, 300, 304, 306, 315, 340, 358-359, 361, 363, 369, 380-381, 392, 395, 405-406 Produktivität 18, 26, 30, 42-43, 45, 57, 194-195, 241, 247, 277, 313, 359, 447 Psychologie 16, 18, 184, 286, 386 Publikum 25, 27, 33, 61-67, 73-74, 76-77, 82, 96, 103, 136, 155, 181, 193, 196, 201, 211-213, 219, 222, 224-226, 228, 230, 255, 257-258, 262-264, 269-280, 286, 288, 290, 292, 294-295, 359-361, 369, 372, 374, 376, 426, 445 Publikumsforschung 201, 203, 207, 210-211, 355 Radio 63, 129, 162, 211, 240-241, 289, 355, 378, 381, 395, 444 Rasse 44, 69, 302, 313, 328-329, 336, 347, 368
Index Raum 12, 18, 27, 29-30, 32, 34, 47, 64, 67-68, 71, 98, 113-114, 116, 118-120, 127, 142, 146-147, 150, 160-161, 166-167, 169-170, 203, 211, 244, 290, 294, 302, 304-305, 321-322, 338, 358-359, 362, 399-404, 410-418, 434, 446 Realismus 84 Realität 24, 32, 34-35, 54, 70-71, 76, 99, 111, 117, 129, 132, 143-146, 198, 206, 221, 224, 228, 232, 246, 270, 275, 277, 290-291, 302, 304-307, 313, 333-334, 346, 357-358, 394, 402-403, 408, 410, 418, 443 Regulation 331, 339, 406 Religion 69, 305, 317, 320, 323, 334-335, 379, 383-387, 389, 395 Repräsentation 12, 28, 32-33, 54, 57, 72-73, 81, 84-85, 90, 99, 102, 110, 115, 129, 143, 148, 160, 162, 187, 209, 226, 260, 291, 306, 314, 316, 322-324, 328, 406, 408, 427, 430, 434, 444 Rezeption 9, 11, 18, 55, 61, 64-66, 72, 75, 89, 94, 96, 126, 130-132, 135, 140, 194-196, 201-203, 208-211, 221, 227, 230-231, 240-242, 246-248, 255, 263, 270-272, 276, 279, 294, 306, 362, 405, 425-429, 431, 433, 435, 443, 446 Rezeptionsforschung 14, 61-63, 65-67, 72-73, 75-76, 213-214, 428 Rezipient 15, 61-68, 70, 73, 75-76, 89, 95, 101, 131-133, 139, 194, 196-197, 208-210, 224, 241, 247-248, 270, 273-274, 276-279, 288, 303-304, 306, 360, 428, 443 Ritual 17, 112, 147, 273, 288-289, 304-305, 451 Semiotik 9, 32-33, 43, 47, 110-111, 116, 130, 132, 182, 197, 206, 221, 223-225, 231-233, 237, 259, 333, 383 Sozialwissenschaft 11, 16, 19, 65, 81, 84, 109, 125-128, 156, 183, 219-220, 228, 230, 232-233, 258-259, 379, 392
Index Soziologie 11, 16, 18, 25, 31, 63, 82, 84-85, 97, 112, 120, 125, 134, 155-156, 159, 165, 179-180, 182, 184-185, 187, 206, 225, 232, 237, 249, 261, 395, 439-440, 445, 447 Spätmoderne 29, 116, 244 Sprache 13, 27, 41, 44-50, 70, 97, 99-102, 117, 128-130, 134, 142-144, 150, 162, 170, 184, 186, 188, 226, 237-238, 241-246, 248-249, 257, 259, 272, 287, 289, 294, 317, 328, 332, 334, 368-369, 394, 444 Sprachwissenschaft 16, 125, 127, 130, 180, 182, 237-238, 243, 247, 249 Staat 23, 31, 34, 93, 167, 229, 231, 263, 292, 318, 323, 337, 345, 357-358, 363, 378 Strategie 25-26, 28, 31, 34, 43, 45, 72-73, 84, 88, 112, 114, 118, 127, 187, 193, 207, 209, 227, 239, 259, 262, 272, 277, 287, 289, 291, 302, 304, 306, 311, 314, 316, 318, 322, 324, 343, 346, 355-358, 360, 376, 391, 393, 395, 427-428, 442, 449 Struktur 17, 23, 25-27, 29, 32, 36, 42, 45, 47, 57-58, 75, 82-83, 85, 88, 90, 98, 103, 105, 109-111, 113-115, 119, 128-130, 132-134, 140-142, 144-146, 148-149, 161, 163-167, 169, 183, 186-187, 193-195, 198, 201, 205, 208-209, 220-222, 229, 231, 240-243, 248, 263, 274-276, 278-279, 281, 287, 289-290, 293, 300-303, 305, 330, 332, 335, 343-344, 363, 383, 392, 408-409, 411, 440-441, 448-449 Strukturalismus 43, 94-98, 102, 104, 197, 228, 233 Subjekt 32, 37, 83, 89-90, 112-113, 115, 120, 125, 130-131, 139-148, 184, 186, 196, 205-206, 208, 210-211, 227, 272, 299, 301-302, 307, 313, 321-322, 330-331, 334, 387, 390, 392, 434 Subjektivität 28, 33, 35, 83, 87, 131, 141, 144, 188, 270, 276, 302, 426
467 Subkultur 70, 93, 179-180, 182, 194, 196, 237, 243, 257-258, 261, 264, 320, 322, 386, 388, 392, 439, 446, 448 Symbol 33, 56, 64, 68, 73, 76, 83, 90, 97, 99, 101, 109-112, 115-116, 118, 120, 122, 127-129, 133-135, 141-149, 158, 162, 193, 196-198, 203, 223, 226, 232-233, 238, 241-242, 247, 259-261, 263, 275, 287, 289-290, 292-293, 303-306, 315-316, 319, 323, 333, 346, 368, 374, 384, 386-388, 394, 406, 450-451, 455 Symbolischer Interaktionismus 14, 125, 128, 132, 134 Szene 18, 57, 182, 246-247, 261, 264, 318, 386-396, 439-440, 442, 445-447, 449-452 Taktik 43, 45, 194, 292, 331 Technik 63-65, 67-68, 71, 97, 100-101, 103-104, 114-120, 130, 160, 222, 224, 237, 241, 259, 270, 272, 290, 294, 301, 338-339, 353-355, 357-361, 363, 394, 444-445 Technologie 29, 32, 63-64, 69, 96, 102-104, 150, 160-161, 168-169, 196, 211, 222, 258, 291, 304, 353-355, 357, 359-363, 399, 401-406, 411, 419, 427, 443-444 Telefon 64, 119, 160, 399, 401, 403-404, 406, 410, 412, 414-415, 419-420 Text 13-14, 24-25, 27, 33-34, 41-43, 45-46, 48, 50-51, 53-58, 62, 64, 72, 82, 84, 90, 101, 103, 109-112, 116, 118, 121, 127, 130-131, 179-180, 182, 186, 194-198, 203, 210, 222, 225-228, 237-238, 240-242, 247, 256-257, 259-263, 273-275, 277-279, 281, 288, 290-291, 293, 306, 317, 319, 332, 353, 358, 369-371, 373, 376, 378, 392, 395-396, 410, 427-428, 431-432, 444 Textanalyse 55, 156, 169, 179, 183, 186, 195, 226, 230-231, 259, 369, 426 Textualität 9, 25, 30, 42, 54-56, 58, 62, 64-65, 68, 86, 194, 197, 221,
468 229, 241, 270, 273-275, 277-279, 369, 427 Theorie 10, 13, 15-16, 18, 24, 26, 28-31, 33, 37, 61-62, 74, 85, 94-96, 98, 100-102, 105, 112, 127-128, 130, 133-135, 144, 163, 167, 185-187, 197, 205-207, 211, 221-222, 224-225, 231-233, 249-250, 257, 259-260, 263, 280, 311, 320, 393-395, 401-403, 410-411, 418, 426-427, 452 Tradition 10, 12, 14-16, 18, 30-31, 43, 62, 76, 83-85, 93, 97-98, 101, 112, 115, 126-127, 133, 148-149, 155-156, 166, 168, 178, 180-183, 188, 193, 195, 202, 221, 223, 228, 230, 232-233, 259-260, 263, 270, 272-274, 278, 303, 305, 312, 314-316, 319-321, 333, 335, 338, 368, 373, 377-379, 383-384, 387, 409, 427, 433-434, 439, 441, 451 Transkulturalität 185, 187, 345, 376, 447 Transmission 273, 275, 288-289, 419 Transnationalität 71, 75, 77, 345, 368, 380, 448 Universität 10, 23, 26, 32, 55, 125, 156, 183, 204-205, 237, 255-256, 261-263, 425 Unterhaltung 64-65, 88, 185, 208, 219, 223-227, 229-231, 233, 258, 270-274, 276-277, 279, 285, 290-291, 293, 295, 301, 304-305, 314-315, 444, 447 Vergnügen 34, 44-48, 50-59, 89, 145, 148, 150, 186, 202, 210, 212, 256, 291, 305, 428, 434
Index Vermittlung 26, 29, 31-35, 102, 105, 110, 120, 180, 194, 196-197, 219, 248, 277, 279, 303, 386 Video 46, 48, 57-58, 62, 64, 117, 222, 224, 242, 245-246, 315, 355, 359, 394, 427-429, 431-434, 444, 448, 451 Werbung 17, 47-48, 56, 100, 158, 160, 221, 246, 285, 290-291, 300-301, 303-307, 314-315, 355-356, 358, 395 Widerstand 36, 43, 73, 85, 147, 180, 188, 210, 222, 225, 227, 244, 249, 279, 322, 338-339, 344, 355, 358, 373, 381 Wissen 23, 25-26, 62-63, 66, 69, 71, 74-75, 81, 86-87, 110, 112-113, 116, 119, 121, 126, 129-131, 134, 187, 196-198, 220, 224, 232, 239-241, 245-247, 255, 272, 285, 291, 301-302, 306, 329, 331, 333, 347, 356-358, 360-363, 394, 430, 434, 449 Zeichen 45, 50-51, 53, 97, 99-100, 103-105, 109-111, 122, 128, 141, 143, 219, 223, 244, 316, 320, 328, 332, 368, 370, 376, 384, 386-387, 439 Zeit 23, 26, 30, 32, 34, 36, 53, 65, 68, 82, 113-116, 118-119, 131, 210, 232, 261, 289, 302, 329, 333, 338, 356, 359-363, 388, 400-401, 410-412, 428, 449 Zuschauer 54-55, 61, 64, 68, 72-73, 75, 88-89, 101, 182, 195, 210, 221-222, 226, 237, 247-248, 277, 288, 294, 361, 426, 428, 432