Wolfram Stender · Guido Follert · Mihri Özdogan (Hrsg.) Konstellationen des Antisemitismus
Perspektiven kritischer So...
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Wolfram Stender · Guido Follert · Mihri Özdogan (Hrsg.) Konstellationen des Antisemitismus
Perspektiven kritischer Sozialer Arbeit Band 8 Herausgegeben von: Roland Anhorn Frank Bettinger Henning Schmidt-Semisch Johannes Stehr
In der Reihe erscheinen Beiträge, deren Anliegen es ist, eine Perspektive kritischer Sozialer Arbeit zu entwickeln bzw. einzunehmen. „Kritische Soziale Arbeit“ ist als ein Projekt zu verstehen, in dem es darum geht, den Gegenstand und die Aufgaben Sozialer Arbeit eigenständig zu benennen und Soziale Arbeit in den gesellschaftspolitischen Kontext von sozialer Ungleichheit und sozialer Ausschließung zu stellen. In der theoretischen Ausrichtung wie auch im praktischen Handeln steht eine kritische Soziale Arbeit vor der Aufgabe, sich selbst in diesem Kontext zu begreifen und die eigenen Macht-, Herrschafts- und Ausschließungsanteile zu reflektieren. Die Beiträge in dieser Reihe orientieren sich an der Analyse und Kritik ordnungstheoretischer Entwürfe und ordnungspolitischer Problemlösungen – mit der Zielsetzung, unterdrückende, ausschließende und verdinglichende Diskurse und Praktiken gegen eine reflexive Soziale Arbeit auszutauschen, die sich der Widersprüche ihrer Praxis bewusst ist, diese benennt und nach Wegen sucht, innerhalb dieser Widersprüche das eigene Handeln auf die Ermöglichung einer autonomen Lebenspraxis der Subjekte zu orientieren.
Wolfram Stender · Guido Follert Mihri Özdogan (Hrsg.)
Konstellationen des Antisemitismus Antisemitismusforschung und sozialpädagogische Praxis
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. . 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17235-4
Inhalt
WOLFRAM STENDER Konstellationen des Antisemitismus...................................................................... 7 TEIL I DIE GEGENWART DES ANTISEMITISMUS: THEORETISCHE GRUNDLAGEN UND AKTUELLE ENTWICKLUNGEN ROLF POHL Der antisemitische Wahn. Aktuelle Ansätze zur Psychoanalyse einer sozialen Pathologie.......................... 41 JAN WEYAND Die Semantik des Antisemitismus und die Struktur der Gesellschaft.................. 69 ASTRID MESSERSCHMIDT Flexible Feindbilder – Antisemitismus und der Umgang mit Minderheiten in der deutschen Einwanderungsgesellschaft.......................... 91 KLAUS HOLZ/MICHAEL KIEFER Islamistischer Antisemitismus. Phänomen und Forschungsstand...................... 109 CLAUDIA DANTSCHKE Feindbild Juden. Zur Funktionalität der antisemitischen Gemeinschaftsideologie in muslimisch geprägten Milieus................................ 139 NIKOLA TIETZE Zugehörigkeiten rechtfertigen und von Juden und Israel sprechen....................147
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Inhalt
TEIL II DER ANTISEMITISMUS DER GEGENWART: EMPIRISCHE FORSCHUNG UND SOZIALPÄDAGOGISCHE PRAXIS HEIKE RADVAN Formen pädagogischer Intervention im Horizont wahrgenommener Antisemitismen. Perspektiven für die Aus- und Weiterbildung von Jugendpädagoginnen......................................165 GABRIEL FRÉVILLE/SUSANNA HARMS/SERHAT KARAKAYALI „Antisemitismus – ein Problem unter vielen“. Ergebnisse einer Befragung in Jugendclubs und Migrant/innen-Organisationen.................185 GUIDO FOLLERT/WOLFRAM STENDER „das kommt jetzt wirklich nur aus der muslimischen Welt.“ Antisemitismus bei Schülern in der Wahrnehmung von Lehrern und Schulsozialarbeitern – Zwischenergebnisse aus einem Forschungsprojekt............................................199 DAVID BEGRICH/JAN RAABE Antisemitismus in extrem rechten jugendkulturellen Szenen............................ 225 MIRKO NIEHOFF Handlungsbedingungen einer Pädagogik gegen Antisemitismus im globalisierten Klassenzimmer...................................243 MICHAL KÜMPER/SUSANNA HARMS Chancen und Grenzen von jüdisch-nichtjüdischen Begegnungen als pädagogischer Ansatz gegen Antisemitismus...............................................265 AUTORINNEN UND AUTOREN.................................................................................287
Konstellationen des Antisemitismus Zur Einleitung Wolfram Stender
„Der Erfolg jedes Versuchs, den Antisemitismus zu bekämpfen, beruht weitgehend auf der Erkenntnis seiner verschiedenen Abarten, die im täglichen Leben oft nicht unterscheidbar sind. Wir müssen die soziale und psychologische Genese jeder einzelnen Variante erforschen.“ (Horkheimer 1985a: 178)
Die gesellschaftlichen Konstellationen des Antisemitismus verändern sich. Was aber das tatsächlich Neue am gegenwärtigen Antisemitismus ist, droht im Handgemenge einer von Diffamierungen und Unterstellungen geprägten Debatte unterzugehen. Der Streit um den „neuen Antisemitismus“ zeigt einmal mehr, dass es um viel mehr geht als um die Klärung offener Forschungsfragen, wenn es um Antisemitismus geht. Es ist nicht nur eine paranoide Phantasie von Antisemiten, dass der Antisemitismusvorwurf als Waffe moralischer Disqualifizierung in den gesellschaftlichen Verteilungs- und Konkurrenzkämpfen eingesetzt wird. Die Inszenierung eines „Antisemitismus bei muslimischen Migranten“ ist nicht frei davon. In ihr wird eine muslimisierende Problemwahrnehmung etabliert, die den Formwandel des Antisemitismus gerade nicht im gesellschaftlichen Zusammenhang begreift, sondern innergesellschaftliche Grenzziehungen verstärkt. Völlig in die Irre führt die Diskussion aber, wenn in Reaktion darauf Antisemitismus und Rassismus nach Art eines Opferwettstreits gegeneinander ausgespielt werden, statt die gesellschaftlichen Konstellationen zu untersuchen, in denen sich die Ausdrucksformen moderner Massenmedien verändern. Als solches definierte Adorno den Antisemitismus: „(Er) ist ein Massenmedium; in dem Sinn, dass er anknüpft an unbewusste Triebregungen, Konflikte, Neigungen, Tendenzen, die er verstärkt und manipuliert, anstatt sie zum Bewusstsein zu erheben und aufzuklären. Er ist eine durch und durch antiaufklärerische Macht.“ (Adorno 1997a: 366) Auch die Muslimenfeindschaft hat die Qualität eines anti-aufklärerischen Massenmediums, das eine sekundär-antisemitische Funktion übernehmen kann.
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Aber sie deshalb mit dem Antisemitismus gleichzusetzen, verwischt die Differenz, die ihn von allen Formen rassistischer Ausgrenzung trennt. Noch verworrener wird die Debatte, wenn aktuelle Spielarten des Antisemitismus wie These und Antithese gegeneinander gestellt werden und sich dafür auch tatsächlich empirische Anhaltspunkte finden lassen. Islamistischer Antisemitismus, antisemitischer Antizionismus von rechts, links und aus der Mitte, alte wie neue Varianten des sekundären Antisemitismus, alltagsantisemitische Erscheinungsformen, wie sie in Frankreich unter dem Stichwort eines „Antisemitismus der Exklusion“ diskutiert werden – dies alles begegnet sich im lokalen Raum globalisierter Gesellschaftsverhältnisse, ohne dass das Identische in der Vielfalt der Antisemitismen den Akteuren wie den Beobachtern der Akteure zu Bewusstsein kommt. Tatsächlich aber ist Antisemitismus eine Destruktionskraft ganz eigener Art, die tief in der europäischen Gesellschaftsgeschichte verankert ist, sich von dort aus weltweit verbreitet hat und in der Konsequenz auf nichts anderes abzielt als die Vernichtung der Juden. 1
Antisemitismus nach Auschwitz
Die Debatte über einen „neuen Antisemitismus“ ist nicht neu, aber ihr Kontext hat sich verändert. Sie bezog sich zuerst auf den Antisemitismus nach Auschwitz. Der Zivilisationsbruch wurde als „Epochenscheide“ interpretiert, die den „neuen“ vom „alten“ modernen Antisemitismus trennt. Klar und deutlich formulierte dies Herbert A. Strauss vor fast 20 Jahren: „Der Antisemitismus der Gegenwart (...) ist vom ‚modernen Antisemitismus’ durch die geschichtlichen Tatsachen des Massenmordes an den Juden (...) und der Existenz des Staates Israel getrennt. Diese Veränderungen sind so grundlegender Natur, dass es historisch berechtigt erscheint (...), von einer neuen Periode des Antisemitismus zu sprechen und die Nachkriegserscheinungen etwa durch die Kennzeichnung ‚neuer Antisemitismus’ von den früheren Formen abzugrenzen.“ (Strauss 1990: 14) Die „geschichtlichen Tatsachen des Massenmordes an den Juden“ affizierten auch den Antisemitismus in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, der in beiden deutschen Nachkriegsrepubliken die Form eines Antisemitismus ohne Antisemiten annahm. In der DDR galt Antisemitismus als eine Gefahr, die aus dem Westen kommt. Bildete der Mythos vom „Antifaschismus“ das ideologische Fundament des sozialistischen Staates, so lag die Verantwortung für den Massenmord an den europäischen Juden allein im kapitalistischen Westen. Eine öffentliche Auseinandersetzung mit historischer Schuld und kollektiver Verantwortung fand ebenso wenig statt wie eine Aufklärung über die gesellschaftliche Genese des Antisemitismus. Stattdessen wurde ein antiimperialistisch begründe-
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ter Antizionismus zur offiziellen Staatsdoktrin, mit dem sich nahtlos an traditionelle antisemitische Motive anknüpfen ließ, ohne diese offen auszusprechen. (Vgl. Haury 2002) Auch in der Bundesrepublik entstand ein Antisemitismus ohne Antisemiten, aber in anderer Gestalt. Eine öffentliche Auseinandersetzung über Schuld, Verantwortung und Antisemitismus fand zunächst ebenso wenig statt wie im Osten. Der demokratische Neuanfang hatte sich darin zu erweisen, dass antisemitische Äußerungen öffentlich nicht mehr zugelassen wurden. Zwar dauerte es einige Jahre, bis die Kommunikationsverbote relativ stabil etabliert waren, gleichwohl trifft Wolfgang Benz den Nagel ziemlich genau auf den Kopf, wenn er mit Blick auf die Geschichte der Bundesrepublik seit den 60er Jahren schreibt: „Öffentlicher Antisemitismus darf in der Bundesrepublik nicht stattfinden, das gehört zu den Gesetzen der politischen Kultur in Deutschland nach Auschwitz. Wer dieses Tabu bricht, verliert Amt und Ansehen, jedenfalls unmittelbar nach dem jeweiligen Vorkommnis.“ (Benz 1995: 7) Anders als im antisemitischen Antizionismus der DDR entstand in der Bundesrepublik eine eigentümliche Doppelstruktur aus Krypto- und Alltagsantisemitismus. Konnten antisemitische Invektiven öffentlich nur versteckt geäußert werden – darauf bezieht sich Adornos Begriff des Krypto-Antisemitismus (Adorno 1997a: 361) –, so wucherte der Antisemitismus in seiner traditionellen modernen Form auf der Ebene der Alltagskultur fort – als nicht-öffentliche Meinung, als Alltagsbewusstsein, als Antisemitismus des Alltags. Es ist eines der Verdienste des 1950 nach Frankfurt zurückgekehrten Instituts für Sozialforschung, die Inkongruenz zwischen öffentlichem Anti-Antisemitismus und privatem Antisemitismus, zwischen der massiven Fortexistenz antisemitischer Ressentiments im Alltagsleben und der offiziellen Ächtung des Antisemitismus empirisch nachgewiesen zu haben. (Vgl. Pollock 1955) In Schuld und Abwehr – der qualitativen Analyse des 1950/ 1951 durchgeführten Gruppenexperiments – trifft Adorno auch bereits auf die historisch neue Konstellation eines Antisemitismus aus Schuldabwehr, dessen Stärke unmittelbar mit dem Bedürfnis nach nationaler Identität korrespondiert. Die aus dem „Narzissmus der Identifikation mit der eigenen Gruppe“ entspringende „krampfhafte Abwehr jeglichen Schuldgefühls“ stelle, so schreibt Adorno, „das Symptom eines überaus gefährlichen sozialpsychologischen und politischen Potentials“ dar. (Adorno 1997b: 263) Unverändert bildete der innere Zusammenhang zwischen Nationalismus und Antisemitismus die Achse der „ideologischen Syndrome“ (ebd.: 153). Je stärker das nationale Identifikationsbedürfnis, desto heftiger die antisemitische Abwehraggression, so Adornos Beobachtung. Für ebendiese ideologischen Syndrome führte Peter Schönbach in der 1961 veröffentlichten Monographie Reaktionen auf die antisemitische Welle im Winter 1959/1960 den Begriff des „Sekundärantisemitismus“ ein. Wie bereits im Gruppenexperiment beobachtete auch Schönbach, damals Mitarbeiter am Institut für
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Sozialforschung, einen Zusammenhang zwischen untergründigen Schuldgefühlen und Abwehrmechanismen bei einem erheblichen Teil der Befragten, der sich z. B. in der Bagatellisierung der antisemitischen Schmierwelle im Winter 1959 äußerte. Schönbach legte den Akzent auf den komplizierten Vorgang einer intergenerationellen Tradierung antisemitischer Ressentiments im Alltagsleben und sah darin eine besondere Herausforderung auch für die politische Bildungsarbeit: „Es ist denkbar, dass wir es heute in vielen Fällen mit einer Art Sekundärantisemitismus zu tun haben, einer Trotzreaktion, die die traditionellen antisemitischen Vorstellungen, seien es die eigenen oder die der Eltern, um ihrer Rechtfertigung willen am Leben erhält. Jedenfalls muss man bei allen Bemühungen um Aufklärung der Vergangenheit und Beseitigung von Vorurteilen bedenken, dass die notwendige Kritik an der älteren Generation bei manchen Jugendlichen zu einer Verhärtung der antisemitischen Einstellung führen kann, die sie von ihren Eltern übernommen haben.“ (Schönbach 1961: 80) In Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute (1962) übernimmt Adorno den Begriff im engen Sinne einer nachträglichen Rechtfertigung des primären Antisemitismus: „(Es) hat sich (...) bei einer Erhebung herausgestellt, dass Kinder aus kleinbürgerlichen und zum Teil auch aus proletarischen Kreisen eine gewisse Neigung zu antisemitischen Vorurteilen haben. Wir bringen das damit zusammen, dass die Eltern dieser Kinder seinerzeit zu der aktiven Gefolgschaft des Dritten Reiches gehörten. Sie sehen heute nun sich gezwungen, ihren Kindern gegenüber ihre damalige Haltung zu verteidigen, und werden dadurch fast automatisch veranlasst, ihren Antisemitismus aus den dreißiger Jahren aufzuwärmen. Unser Mitarbeiter Peter Schönbach hat dafür den recht glücklichen Ausdruck eines ‚sekundären Antisemitismus’ geprägt. Diesen Dingen wäre nachzugehen.“ (Adorno 1997a: 361f.) Mit der sich daran anschließenden Formulierung von der „mächtigen Gewalt der Abwehr des gesamten Schuldzusammenhangs der Vergangenheit“ markiert Adorno präzise die neue Konstellation in beiden deutschen Nachkriegsrepubliken, die die Form eines Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz hervorbrachte. Auf der Untersuchung der „Gewalt der Abwehr“ lag ein Arbeitsschwerpunkt des Frankfurter Instituts für Sozialforschung in den 50er und 60er Jahren. Die Arbeiten von damals gelten heute zu Recht als klassische Texte einer politischen Psychologie des sekundären Antisemitismus. 2
Sekundärer Antisemitismus
Der Anspruch, empirische Forschung und theoretische Reflexion aufeinander zu beziehen, bestand am Institut für Sozialforschung nicht nur programmatisch. Dies gilt auch für den Begriff des sekundären Antisemitismus. Wird der Begriff
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aus dem theoretischen Zusammenhang gerissen, den Horkheimer und Adorno in Elemente des Antisemitismus (Horkheimer/Adorno 1987: 197ff.) entwarfen, verliert er seinen bestimmten Sinn. Dies vorausahnend, warnte Adorno bereits in Studies in the Authoritarian Personality vor einer empiristischen Verflachung der Antisemitismusforschung: „The problem of the ‚uniqueness’ of the Jewish phenomenon an hence of anti-Semitism could be approached only by recourse to a theory (...). Such a theory would neither enumerate a diversity of ‚factors’ nor single out a specific one as ‘the’ cause but rather develop a unified framework within which all the ‘elements’ are linked together consistently. This would amount to nothing less than a theory of modern society as a whole.” (Adorno 1997c: 269) Dessen ungeachtet wurde der Begriff des sekundären Antisemitismus in der deutschsprachigen Antisemitismusforschung in sehr unterschiedlicher Weise aufgegriffen. In seinen verschiedenen Ausdeutungen – für die im Folgenden die Arbeiten von Werner Bergmann, Klaus Holz, Lars Rensmann und Detlev Claussen herangezogen werden – spiegelt sich zugleich das Auseinanderbrechen von empirischer Forschung und theoretischer Reflexion wider, das den Stand der Forschung heute kennzeichnet. (Vgl. Bergmann 2004a: 220) Die Besonderheit der Nachkriegssituation bestand darin, dass der tief in der Alltagskultur verankerte Antisemitismus keineswegs verschwunden war, aber als Weltanschauung öffentlich nicht mehr kommuniziert werden konnte. Für diese Konstellation einer Koexistenz von öffentlichem Antisemitismusverbot und nicht-öffentlichem Alltagsantisemitismus führten Werner Bergmann und Rainer Erb den systemtheoretischen Begriff der Kommunikationslatenz ein, den sie scharf von einer nur psychologisch zu begreifenden Bewusstseinslatenz trennten. (Bergmann/Erb 1986) Die Kommunikationslatenz stellt für Bergmann so etwas wie eine conditio sine qua non dar, ohne die es nicht zu jenem erstaunlichen „kollektiven Lernprozess“ gekommen wäre, den er für die Bundesrepublik konstatiert. Durch die Etablierung der „öffentlichen Kommunikationsnorm des AntiAntisemitismus“ und der mit ihr korrespondierenden Skandalisierungs- und Konfliktbereitschaft gegenüber antisemitischen Äußerungen sei es nicht nur gelungen, diese aus der öffentlichen Kommunikation zu verdrängen, sondern auch einen Meinungswandel zunächst auf der Ebene der Institutionen und Organisationen, dann auch auf der Ebene der individuellen Einstellungen herbeizuführen. (Bergmann 1997: 36 u. 502ff.) Bergmann weist dies an den Ergebnissen der Meinungsforschung von 1946 bis 1989 nach. Sie zeigen, dass antisemitische Einstellungen in der westdeutschen Bevölkerung spätestens seit Mitte der 50er Jahre langsam, aber stetig abgenommen haben. Auch für die Entwicklung ab 1990 kann Bergmann keine „generelle Trendwende“ feststellen, gleichwohl er
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mit Blick auf aktuelle empirische Untersuchungen „eine leicht negative Entwicklung des Meinungsklimas“ beobachtet. (Bergmann 2008: 476) Wie weit der diagnostizierte Lernprozess aber tatsächlich reicht, darüber scheinen Bergmann dann doch erhebliche Zweifel gekommen zu sein. Da der Prozess der Einstellungsänderung sich nur für den Antisemitismus, keineswegs aber für Ressentiments gegenüber anderen Minderheiten nachweisen lasse, scheine „ein quasi abgespaltener Lernprozess“ (Bergmann 1997: 511) vorzuliegen. Und dieser seltsam verengte Lernprozess erscheint in sich noch einmal gebrochen. Trotz der erfolgreichen öffentlich-moralischen Ächtung des Antisemitismus ist dieser nämlich lediglich in seiner politisch-ideologischen Äußerungsform auf eine unbedeutende Erscheinung am rechtsextremen Rand zusammengeschrumpft. Im gesellschaftlichen Mainstream aber scheint er, so Bergmann, einen spezifischen Formwandel durchlaufen zu haben, der sich in der empirisch nachweisbaren Korrelation zwischen Normalisierungsbedürfnis, Schuldabwehr und Judenfeindlichkeit zeige. Repräsentativen Umfragen zufolge hält mehr als die Hälfte der westdeutschen Bevölkerung Ende der 80er Jahre einen „Schlussstrich unter die Vergangenheit“ für angemessen, fast die Hälfte unterstellt „den Juden“ die Absicht, des eigenen Vorteils wegen „die Deutschen immer an ihre Schuld zu erinnern“ (Bergmann/Erb 1991: 260) – Meinungswerte, die sich auch nach 1990 nur unwesentlich verändert haben. (Bergmann 2008: 498f.) Die Juden als Störenfriede der Erinnerung – genau in diesem Motiv offenbare sich ein „sekundärer Antisemitismus“, „der sich im Wesentlichen aus dem Problem der Vergangenheitsbewältigung speist“ (Bergmann 1990: 151). Indem sich „die Juden“ – so die weit verbreitete Meinung – der Versöhnung hartnäckig verweigern, stellen sie eine Gefahr für die „nationale Identität“ der Deutschen dar. Der hier diagnostizierte Formwandel des traditionellen modernen Antisemitismus in einen „latenten, sekundären Antisemitismus“ deutet nun aber eher auf ein Missglücken des anti-antisemitischen Lernprozesses hin, was allein schon damit zu tun haben könnte, dass das Tabu über den Antisemitismus antisemitische Äußerungen zwar abwehrt, aber eben dadurch noch keine Einsichten über ihn bewirkt. Zwar wurde die anti-antisemitische Kommunikationsnorm öffentlich erfolgreich etabliert und auch – zu Teilen jedenfalls – ins Alltagsleben transportiert; zugleich brach sich diese aber an dem – wie Adorno formulierte – „Narzissmus der Identifikation mit der eigenen Gruppe“, für den „die Juden“ der ewige Störenfried bleiben. Der daraus resultierende sekundäre Antisemitismus ist ein, wie Bergmann im Anschluss an Bernd Marin (ders. 1983) formuliert, Antisemitismus ohne Antisemiten und weitgehend auch ohne Juden. Bemerkenswert ist die sich daran anschließende Beobachtung Bergmanns, dass die sekundär-antisemitischen Normalisierungsverfechter und Vergangenheitsbewältiger in der öffentlich-politischen Diskussion dazu tendieren, Antisemitismus in
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toto als ein Problem der Vergangenheit abzutun und antisemitische Erscheinungen der Gegenwart zu leugnen oder zumindest zu bagatellisieren oder aber in der Weise zu externalisieren, dass sie als eine Gefahr erscheinen, die von außen den anti-antisemitischen Grundkonsens der bundesrepublikanischen Demokratie bedrohen. (Bergmann 1990: 160ff.) Die externalisierende Problemwahrnehmung ist demnach typisch für die von Bergmann dargestellte Form des sekundären Antisemitismus. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts verschiebt sich die Konstellation des Antisemitismus erneut, was sich für Bergmann sowohl in veränderten Erscheinungsformen des Antisemitismus als auch in den Anzeichen einer Erosion der Kommunikationslatenz zeigt. (Vgl. Bergmann 2006; ders./Heitmeyer 2005a) Die Ursachen dafür sieht er zum einen im Ende der Ost-West-Spaltung und der Neujustierung von Selbst-, Fremd- und Feindbildern, zum anderen in einer neuen Phase globaler Modernisierung und den damit einhergehenden Krisenphänomenen. Beide Entwicklungen hätten die „politische Gelegenheitsstruktur für den Antisemitismus“ (Bergmann 2006: 35) verbessert. Dies zeige sich deutlich in einer weltweiten Revitalisierung des antisemitischen Antizionismus. In dem antisemitisch-antizionistischen Feindbild „Israel“ als kollektivem Juden treffen sich heute „die extreme antizionistische Linke, die extreme Rechte, islamistische Gruppierungen und Teile des politischen Mainstreams“ (ebd.: 47). Auch in Deutschland habe sich die auf Israel bezogene Form des Antisemitismus bis in die politische Mitte verbreitet und verknüpfe sich zunehmend mit dem bislang dominierenden vergangenheitsbezogenen Schuldabwehr-Antisemitismus. Als Anzeichen für eine beginnende Erosion der Kommunikationslatenz des Antisemitismus nennt Bergmann in einem zusammen mit Wilhelm Heitmeyer verfassten Aufsatz die Möllemann-Affäre und den Konflikt um die antisemitische Rede des ehemaligen CDU-Abgeordneten Hohmann. In beiden Fällen gehe es darum, die Grenze des antisemitisch Sagbaren zu verschieben, wobei sich die „Tabubrecher“ Möllemann und Hohmann – wie Umfrageergebnisse zeigen – einer breiten Zustimmung in der Bevölkerung sicher sein konnten. (Bergmann/Heitmeyer 2005b: 229f.) Klaus Holz knüpft an Bergmanns Konzept der Kommunikationslatenz an, ohne allerdings der These vom kollektiven Lernprozess zu folgen. (Vgl. Holz 2001: 483ff.) Nach 1945 habe der Antisemitismus seine weltanschauliche Qualität zwar verloren, gleichwohl sei seine Sinnstruktur intakt geblieben. Die von Holz herausgearbeiteten Grundmuster des modernen Antisemitismus – die Dichotomie zwischen der „Wir-Gruppe“ als Gemeinschaft und der „jüdischen“ Gesellschaft; die verschwörungstheoretische Konstruktion vom „Juden“ als weltumspannender Macht; die „Juden“ als Verkörperung nationaler Nicht-Identität, die in der Figur
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des Dritten die nationalstaatlich strukturierte Weltordnung bedrohen, und schließlich die Täter-Opfer-Umkehr, wonach sich die Antisemiten in einem existenziellen Abwehrkampf gegen das übermächtige jüdische „Tätervolk“ befinden – lassen sich auch in den Varianten des Antisemitismus nach Auschwitz nachweisen, wobei der Täter-Opfer-Umkehr im „demokratischen Antisemitismus“ Westeuropas und insbesondere Deutschlands ein besonderer Stellenwert zukommt. Der von Holz verwendete Begriff des „demokratischen Antisemitismus“ (Holz 2005: 54ff.) ist nicht inhaltlich qualifiziert, sondern rein umfangslogisch bestimmt. Er umfasst alle antisemitischen Äußerungen, die innerhalb der Grenzen der demokratischen Öffentlichkeit und der für sie geltenden Kommunikationsverbote geäußert werden können. Im Unterschied zum manifesten, nach wie vor weltanschaulich ausgestalteten Antisemitismus im rechtsextremen Spektrum, zu dessen ideologischem Repertoire sowohl die Leugnung als auch die Affirmation des nationalsozialistischen Massenmords an den Juden gehören, konzentrierte sich der demokratische Antisemitismus zunächst auf Formen der „Vergangenheitsbewältigung“, die eine positive Identifikation mit der deutschen Nation möglich machten. Gelingen konnte dies durch das Motiv der Umkehrung des Verhältnisses von Tätern und Opfern, das allerdings an die in einer demokratischen Öffentlichkeit unhintergehbare Bedingung der Schuldakzeptanz angepasst werden musste. Drei Strategien lassen sich hier, wie Holz zeigt, unterscheiden: die dichotomische Fokussierung auf die Leiderfahrung der „Wir“-Gruppe („wir“ waren auch Opfer, haben unermessliches Leid erfahren und dadurch jede Schuld mehr als gesühnt); die Strategie, die Erinnerung an Auschwitz als „Moralkeule“ zu denunzieren; und schließlich die Strategie, „den Juden“ historisch und in der Gegenwart Verbrechen (der „Terror des jüdischen Bolschewismus“, der „israelische Vernichtungskrieg gegen das palästinensische Volk“) anzudichten, die denen der Nazis in nichts nachstehen. Insbesondere in der auf Israel bezogenen Kritik verschieben sich heute, so beobachtet auch Holz, die Grenzen dessen, was in der demokratischen Öffentlichkeit gesagt werden kann. Antisemitische Ressentiments werden wieder offener geäußert: „Diese Tendenz läuft, zu Ende gebracht, darauf hinaus, dass der Antisemitismus seinen genuin weltanschaulichen Charakter wieder voll entfaltet.“ (Holz 2005: 57) In dieser Wiederherstellung des Antisemitismus als Weltanschauung ziehen sich – auch darin stimmt Holz mit Bergmann überein – die verschiedenen Spielarten des Antisemitismus auf die eine des antisemitischen Antizionismus zusammen. Keineswegs in der Veränderung der Form also, sondern in der Angleichung der Variationen besteht für Holz das „Neue“ am gegenwärtigen Antisemitismus: „Neu ist (..), dass sich die unterschiedlichsten antisemitischen Gruppen in ihrer Weltanschauung angleichen. Nach dem Nationalsozialismus hatte sich der Antisemitismus in verschiedene Spielarten separiert, die
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wenig Verknüpfungen und Übergänge zuließen. Das gilt insbesondere für den stalinistischen Antizionismus in Ost und West, für den islamistischen Antisemitismus im arabischen Raum und für den auf die Vergangenheitsbewältigung konzentrierten Antisemitismus in Deutschland wie in Europa generell. Zur Zeit ist festzustellen, dass sich diese Spielarten annähern. (...) Die gegenwärtig dominante Gestalt des Antisemitismus ist ein vom Stalinismus gereinigter antisemitischer Antizionismus, der die Shoah relativiert.“ (Ebd.: 12) Kritisch sich von Bergmann und Holz gleichermaßen abgrenzend, versucht Lars Rensmann an den vergessenen politisch-psychologischen Zugang in der Antisemitismusforschung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung in den 50er und 60er Jahren anzuknüpfen, ohne dies allerdings bislang empirisch einlösen zu können. (Vgl. Rensmann 1998; ders. 2004) Adornos Analyse des sekundären Antisemitismus aus Erinnerungsabwehr sei von unverminderter Aktualität, gerade weil sie den Affektüberschuss im zeitgenössischen Antisemitismus zu thematisieren wisse, der im Mainstream der Antisemitismusforschung gar nicht mehr vorkomme. Zu Recht weist Rensmann auf die Grenze der Semantikanalyse von Klaus Holz hin, die dieser allerdings auch selber konstatiert. (Rensmann 2004: 111; Holz 2001: 87) Holz kann die semantische Struktur des Antisemitismus überzeugend darstellen; aber die politisch-psychologische Frage, was den Antisemitismus für moderne Individuen affektiv so attraktiv macht und warum sich diese in nicht geringer Zahl für antisemitische Sinnangebote nach wie vor anfällig zeigen, stellt er nicht. Ist es bei Holz der bewusste Verzicht auf „kausale“ Theorie, so ist es bei Bergmann die (lern-)fortschrittsoptimistische Perspektive, der Rensmanns Kritik gilt. Bergmann überschätze die Stabilität der antiantisemitischen Kommunikationsnorm, die „nie so einhellig und hermetisch“ (Rensmann 2004: 39) gewesen sei, wie er unterstelle. Und er unterschätze mit seiner These vom kollektiven, anti-antisemitischen Lernprozess die Beharrungskraft antisemitischer Deutungsmuster im gesellschaftlichen Alltagsleben. (Ebd.: 200) Bergmanns These vom Formwandel des Antisemitismus hin zu einem „absoluten Primat des sekundären Antisemitismus“ (ebd.: 204; Rensmann 1998: 294) – die Bergmann allerdings so eindeutig wie Rensmann behauptet auch gar nicht formuliert – verkenne schließlich den komplexen politisch-kulturellen Prozess der transgenerationalen Tradierung antisemitischer Stereotype, der nach 1945 zu einer „Legierung alter und neuer, moderner und sekundärer Formen des Antisemitismus“ (Rensmann 2004: 164) geführt habe. Der sekundäre Antisemitismus sei nur eine Variante im Antisemitismus nach Auschwitz, der sich insgesamt als „modernisierter Antisemitismus“ interpretieren lasse. (Ebd.: 71; vgl. auch Rensmann/Schoeps 2008: 16) Antisemitische Denk- und Ausdrucksformen reagieren auf veränderte gesellschaftliche Konstellationen, sie ‚modernisieren’
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sich, bleiben allerdings als Teil eines autoritären Einstellungssyndroms ihrer politisch-psychologischen Struktur nach mit dem modernen Antisemitismus identisch. Entsprechend konträr zu Bergmann interpretiert Rensmann dann auch die Ergebnisse der Meinungsforschung seit 1990. Für ihn werde darin eine „Tendenzwende“ sichtbar. Diese zeige sich keineswegs nur in der von Bergmann wie auch von Holz beobachteten Erosion der „Kommunikationslatenz“ des Antisemitismus, sondern auch in einem teilweisen Anstieg antisemitischer Einstellungen „gerade bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen“. (Rensmann 2004: 40 u. 234) Eine Fortsetzung der Antisemitismusanalyse der Kritischen Theorie findet sich in den Arbeiten von Detlev Claussen. Wie Klaus Holz spricht auch Claussen vom „demokratischen Antisemitismus“. Er hat den Begriff bereits vor zwanzig Jahren in die Diskussion eingeführt, um eine Variante des von Horkheimer und Adorno diagnostizierten Antisemitismus ohne Antisemiten genauer zu charakterisieren (vgl. Claussen 1989: 27). Claussen versteht darunter Angriffe auf Juden in Wort und Tat, die innerhalb des demokratischen Konsensrahmens möglich sind. Typisch dafür waren nach 1945 die von Adorno analysierten Strategien der Schuldabwehr und sind heute Strategien der Israelkritik, die aus Juden Täter machen, deren Taten mit denen der Nazis vergleichbar sind. Im Unterschied zu Holz stellt der demokratische Antisemitismus für Claussen eine Spielart des sekundären Antisemitismus unter anderen dar. Auch der poststalinistische Antizionismus und der islamistische Antisemitismus sind Variationen eines globalen sekundären Antisemitismus. (Vgl. Claussen 2005: XXV) Was auf den ersten Blick als Überdehnung des Begriffs des sekundären Antisemitismus erscheint, erklärt sich in Reflexion auf die weltgeschichtliche Zäsur, für die die Chiffre Auschwitz steht. Nicht nur muss jeder Antisemitismus nach Auschwitz sich auf Auschwitz beziehen, sondern der gesellschaftliche Zusammenhang nach Auschwitz ist, so Claussen, ein anderer als davor. Antisemitismus wird nicht als gesellschaftliches Phänomen isoliert, sondern sein Formwandel – und dies trennt die Kritische Theorie vom Mainstream der Antisemitismusforschung – wird als Moment im gesellschaftlichen Transformationsprozess begriffen, der durch den Nationalsozialismus nicht blockiert, sondern forciert wurde. War der moderne Antisemitismus – wie die Analyse seiner gesellschaftlichen Genese zeigen kann – ein Resultat und zugleich ein konstitutives Moment im Krisenprozess der modernen, bürgerlichen Gesellschaft, dann stellt sich die Frage, welche Form der Antisemitismus in der nachbürgerlichen Gesellschaft annimmt: „Unterscheiden wir zunächst zwischen traditionellem und modernem Antisemitismus, so muss davon noch der nachnationalsozialistische Antisemitismus abgetrennt werden, der mit der Entbürgerlichung der kapitalistischen Gesellschaft zusammenhängt.“
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(Claussen 1987: 44) In der Transformation von Kultur in Kulturindustrie sahen schon die Autoren der Dialektik der Aufklärung eine so tiefgreifende Strukturveränderung der Gesellschaft, dass davon auch die Form des Antisemitismus nicht unberührt bleiben konnte. (Horkheimer/Adorno 1987: 144ff.) Claussen knüpft daran an. Er erkennt in der Kulturindustrie eine „Ideologieproduktion neuen Typs“ (Claussen 1987: 53), die auch die Spielarten des sekundären Antisemitismus hervorbringt: „Wir nennen diesen Antisemitismus der nachfaschistischen Ära deshalb sekundär, weil er nur noch das verformte Resultat zum Ausdruck bringt, nicht die Gestalt des Verformten selbst. Er richtet sich wie immer stereotyp gegen den Warencharakter, an dessen Entlarvung er stets neue Energie vergeudet. Der moderne Antisemitismus setzte der Entfremdung die trotzige Behauptung der natürlichen Ordnung entgegen, die durch die Juden, die Repräsentanten von Geld und Geist, gestört wurde. Der sekundäre Antisemitismus prangert nicht die Juden als Störenfriede an, sondern die Entfremdung ist zur Verdinglichung fortgeschritten – nur noch die ehemaligen als jüdisch charakterisierten Qualitäten, Spekulationen in Geld und Geist, gelten ohne spezifisch kenntlich gemachte Träger als Repräsentanten der Bedrohung. Die Ohnmacht der Individuen gebiert Verschwörungstheorien jeder Art: Antiintellektualismus und irrationaler Chauvinismus als unkenntliche Fahnen des sekundären Antisemitismus; aber sie versammeln alle die, die es betrifft.“ (Claussen 1987: 48f.) Auch in dieser Form behält der Antisemitismus die Qualität einer konformistischen Rebellion. Das Zusammenspiel von rebellischem Lustgewinn und konformistischer Sicherheit hatten bereits Otto Fenichel (ders. 1993) und Max Horkheimer (ders. 1991) an der traditionellen Form des modernen Antisemitismus hervorgehoben. Auch in den Spielarten des Antisemitismus nach Auschwitz gehen Konformismus und Rebellion eine destruktive Einheit ein, wie Claussen am Beispiel der aktuellen, auf Israel bezogenen Form des „demokratischen Antisemitismus“ zeigt: „Es sind die Freuden einer konformistischen Rebellion, die sich endlich zum Verfolgen moralisch berechtigt fühlt und sich einer heimlichen kompakten Majorität sicher ist. Der alte Antisemitismus ist unberechtigt gewesen, gibt man gerne zu; aber der neue ist keiner, weil er berechtigt ist. Die israelische Politik gegenüber den Palästinensern nach 1967 ist zum Einfallstor dieses neuen Antisemitismus in die Weltöffentlichkeit geworden.“ (Claussen 2005: XV) In der kritischen Theorie des Antisemitismus erscheint die in der Forschung übereinstimmend hervorgehobene Differenz zwischen öffentlicher Ächtung des Antisemitismus und der Fortexistenz nicht-öffentlicher antisemitischer Ressentiments in einem anderen Licht. Denn auch die Gewalt der Kulturindustrie muss nun berücksichtigt werden, die die öffentliche Auseinandersetzung sowohl über den Antisemitismus als auch über den Massenmord an den europäischen Juden – Claussen zeigt dies eindringlich an der weltweiten Karriere des kulturindustriel-
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len Artefakts „Holocaust“ – nachhaltig deformiert. Die Analyse subjektiver Ressentimentstrukturen als Folge moderner Vergesellschaftungsformen stand im Zentrum der Autoritarismusforschung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, deren Begriffsbildung im Wesentlichen auf der Zusammenführung psychoanalytischer Subjekttheorie und materialistischer Gesellschaftstheorie basierte. Claussens Theorie der Alltagsreligion knüpft daran an. (Claussen 2000) Der moderne Konformismus hat eine Bewusstseinsform eigener Art hervorgebracht, die der narzisstischen Bedürftigkeit moderner Individuen entspricht. Auf sie bezieht sich der Begriff der „Alltagsreligion“, der präzise an der Schnittstelle von Subjekt- und Gesellschaftstheorie situiert ist. Alltagsreligionen sind Orientierungs- und Ordnungssysteme, die auf die ‚Sinnfragen’ – wer sind „wir“? wo kommen „wir“ her? wer ist schuld? – ebenso eindeutige wie einfache Antworten geben; in ihnen wird die innere Relation von Selbst-, Fremd- und Feindbildern organisiert und flexibel an veränderte gesellschaftliche Konstellationen adaptiert. Alltagsreligionen stiften Sinn, indem sie psychische und materielle Realität, die in einer immer abstrakter werdenden Welt auseinander fallen, wieder miteinander versöhnen: „Die Alltagsreligion, die den ‚gesunden Menschenverstand’ mit der im Verlauf der gesellschaftlichen Modernisierung abgespaltenen Gefühlswelt versöhnt, besitzt eine synkretistische Qualität; sie kann mit Techniken, die der Traumarbeit vergleichbar sind, Disparates zusammenbringen. Sie erweist gerade ihre Macht darin, dass sie die sinnlos erscheinende äußere Realität in der psychischen wieder zusammenfügt. Die Alltagsreligion verknüpft Urteile und Vorurteile zu einem flexiblen System, das fähig ist, dem Einzelnen unter dem Aspekt der Realitätsgerechtigkeit nur solche Aufgaben zu stellen, die er lösen kann. Ihre Überlegenheit gegenüber den unangenehmen Erkenntnissen des Denkens demonstriert die Alltagsreligion durch das schon von Karl Mannheim beobachtete soziologische Wunder, das sie ihren Anhängern bietet: Sie vermittelt ihnen das Gefühl, zugleich Mitglied der Mehrheit und einer Elite zu sein. Um dieses Wunder zu vollbringen, bedient sie sich aller Formen gemeinschaftsstiftender Aggression, die aus der europäischen Gesellschaftsgeschichte hervorgegangen sind – das heißt: Aggression gegen Andere und Fremde, die mit Liebe zum Eigenen korrespondiert. Xenophobie, Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus und Antiintellektualismus heißen ihre Elemente.“ (Claussen 1994: 21f.) Die Differenz zwischen Kulturindustrie und Alltagsreligion darf nicht verwischt werden. Beide sind nicht identisch, sondern stehen in Relation zueinander. Sie korrespondieren miteinander – als Zusammenwirken von öffentlicher und nichtöffentlicher Meinung; davon zu unterscheiden sind noch einmal politische Öffentlichkeiten, die die alltagsreligiösen Formen gemeinschaftsstiftender Aggression gezielt eindämmen oder auch politisch mobilisieren können. Adornos Diktum, der Antisemitismus sei das Gerücht über die Juden (Adorno 1997d: 125),
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trifft exakt die Ebene der Alltagsreligion. Diese scheint sich allerdings heute in eigentümlicher Weise pluralisiert zu haben. 3
Gerüchte über die Juden – Antisemitismen im Alltag globalisierter Gesellschaftsverhältnisse
Was Werner Bergmann und Wilhelm Heitmeyer in systemtheoretischer Begrifflichkeit als „Erosion der Kommunikationslatenz“ bezeichnen und Lothar Baier als „nachlassende Bremswirkung der öffentlich geltenden Anstandsregeln“ (ders. 2002: 4) beschrieb, zeigt sich in der erschreckenden Offenheit, mit der antisemitische Ressentiments im Alltag heute wieder geäußert werden. Und dies nicht etwa nur in extrem rechten Gruppen, auch nicht etwa nur in der so genannten älteren Bevölkerung, die traditionell hohe antisemitische Einstellungswerte aufweist. Wer mit Schülern und Schülerinnen – z. B. im Rahmen eines Forschungsprojekts1 – Gespräche darüber führt, was sie so über Juden denken, wird nicht selten offen antisemitische Stereotype zu hören bekommen. Es gibt kaum einen Schüler, der nicht das Schimpfwort „Du Jude!“ kennt und auch ganz genau weiß, was damit gemeint ist: hinterhältige, verlogene, geizige, unsolidarische Mitschüler.2 Nicht wenige Schulen scheinen ihren „Schuljuden“ zu haben, den man beleidigt, beschimpft und tätlich angreift. Es geht so weit, dass jüdische Schülerinnen und Schüler die Schule verlassen müssen, weil sie die täglichen Angriffe nicht mehr aushalten. Umfragen zufolge haben 30 Prozent der Hauptschüler, 28 Prozent der Realschüler und 13 Prozent der Gymnasiasten antisemitische Einstellungen. (Bergmann 2004b: 36) Wie sich dies im Alltag darstellt, können die Zahlen kaum angemessen wiedergeben. Fälle wie der im sachsenanhaltinischen Parey im Jahre 2006, wo Jugendliche einen Mitschüler zwangen, auf dem Schulhof ein Plakat mit der Aufschrift zu tragen: „Ich bin im Ort das größte Schwein, lass mich nur mit Juden ein“, ereignen sich in weniger spekta1
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In der explorativen Phase des Forschungsprojekts zum Thema „Antisemitismus bei Jugendlichen im Kontext von Migration und sozialer Exklusion“ führte Verf. zusammen mit Wibke Bremer, Gertraud Hollegha, Guido Follert und Mihri Oezdogan sieben Gruppendiskussionen mit Schülerinnen und Schülern an Haupt- und Realschulen einer Großstadt in Norddeutschland sowie acht Interviews mit Lehrern und Schulsozialarbeitern durch. Zwischenergebnisse werden in diesem Band in einem eigenständigen Beitrag dargestellt. Häufig wird darauf hingewiesen, dass die Verwendung des Schimpfworts „Du Jude“ zum gewöhnlichen Jargon von Schülern aus v.a. „bildungsfernen“ Milieus gehöre wie etwa „Du Opfer“ oder „Hurensohn“ auch und „keinen spezifischen Antisemitismus“ anzeige. (Vgl. Scherr/ Schäuble 2007: 32) Unsere Forschungen bestätigen dies bisher nur zum Teil. Aber selbst wenn „Du Jude“ nur ein Schimpfwort unter anderen wäre, macht dies die Sache nicht besser. Selbstverständlich steckt in der Beschimpfung „Du Jude!“ eine Gewaltandrohung auch für Juden, die mit der Häufigkeit der Verwendung wächst.
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kulären Varianten tagtäglich an deutschen Schulen. Jedenfalls können Schüler und Schülerinnen einiges darüber berichten, wenn man sie denn danach fragt. In unseren Gruppengesprächen zeigte sich, dass es häufig gerade die ressentimentgeladenen Schüler waren, die die Diskussion dominierten, während die anderen – mit wenigen Ausnahmen – eher schwiegen. Nur in einer von sechs Gruppendiskussionen, die wir an Haupt- und Realschulen einer norddeutschen Großstadt im Sommer 2008 durchführten, wurde antisemitischen Äußerungen couragiert widersprochen. Aufklärung über aktuelle Formen des Antisemitismus scheint an Schulen selten stattzufinden. Dies scheint sich auch im Verhalten von Lehrern und Schulsozialarbeitern zu zeigen. Antisemitische Äußerungen und Vorfälle werden, wie uns in Gesprächen mit Schülern und Sozialarbeitern berichtet wurde, bagatellisiert, verschwiegen, unsichtbar gemacht oder unangemessen dramatisiert. Viele Pädagogen scheinen aber auch ratlos, wie sie mit der neuen Offenheit des Antisemitismus bei Kindern und Jugendlichen umgehen sollen. Nicht selten wird auf massenmedial vorgegebene Ad hoc-Erklärungen zurückgegriffen, die nichts erklären, aber ausgrenzende Zuschreibungen produzieren. Die von uns interviewten Lehrer und Schulsozialarbeiter leugneten antisemitische Äußerungsformen bei Schülern entweder ganz oder reagierten in spezifischer Weise alarmistisch, indem sie den Antisemitismus als ausschließliches, allerdings hoch virulentes Problem der „muslimischen Schüler“ darstellten. Auffällig war dabei, dass gerade die Alarmisten unter den Lehrern die massenmediale Inszenierung eines „muslimischen Antisemitismus“ bis in einzelne Formulierungen hinein alltagssprachlich reproduzierten.3 Seit Jahren lassen große Teile der Massenmedien keine Gelegenheit aus, über den angeblich stetig anwachsenden Antisemitismus bei „muslimischen Migranten“ zu berichten. Durch empirische Forschungen belegt ist dies allerdings bislang nicht. Während eine Reihe von empirischen Studien nachweist, dass antimuslimische Ressentiments in den letzten Jahren in Deutschland deutlich zugenommen haben (vgl. Brettfeld/Wetzels 2008: 334), bewegen sich die Einschätzungen beim „migrantischen Antisemitismus“ auf der Ebene des mehr oder weniger informierten Verdachts (vgl. Stender: 2008). Nach wie vor gibt es keine belastbaren Forschungsergebnisse, geschweige denn repräsentative Erhebungen. Lediglich für zwei standardisierte Befragungen liegen Auswertungen vor, die aber in ihrer Aussagekraft sehr begrenzt sind. In der bereits vor zwölf Jahren publizierten Studie Verlockender Fundamentalismus. Türkische Jugendliche in Deutschland sprechen Heitmeyer, Müller und Schröder von einem „verdeckten Antisemitismus“, der sich bei ca. einem Drittel der 1.221 befragten „tür-
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Siehe dazu den Beitrag von Follert/Stender in diesem Band.
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kischen Jugendlichen“4 nachweisen lasse. Allerdings stützt sich diese Interpretation auf die Auswertung lediglich eines Items. 33,2 Prozent der befragten Jugendlichen stimmten der Aussage zu, dass „der Zionismus den Islam (bedroht)“ (Heitmeyer/Müller/Schröder 1997: 181). Eine erschreckend hohe Zahl. Daraus aber zu schließen, dass „in der Bundesrepublik Deutschland aufgewachsene jugendliche Muslime (...) in einem erschreckenden Ausmaß (die) Position“ vertreten, dass „die Existenz Israels (...) eine weltweite jüdische Verschwörung gegen den Islam“ (Kiefer 2002: 12) darstelle, überstrapaziert das Datenmaterial erheblich. Auch die vom Bundesministerium des Innern im Auftrag gegebene Studie Muslime in Deutschland (2008) lässt viele Fragen offen. Zwar ist die Zustimmung „muslimischer Jugendlicher“ zu einer in der Befragung vorgelegten antisemitischen Aussage signifikant höher als die der „nicht-muslimischen“ Vergleichsgruppe. Von den 500 befragten „muslimischen Jugendlichen“ an Schulen in Hamburg, Köln und Augsburg stimmten 15,7 Prozent der Aussage zu, dass „Menschen jüdischen Glaubens überheblich und geldgierig (sind)“. In der Vergleichsgruppe der „nicht-muslimischen Migranten“ waren es 7,5 Prozent, in der Gruppe der „nicht-muslimischen Einheimischen“ 5,4 Prozent. (Brettfeld/Wetzels 2008: 275) Auch gelingt es den Forschern, eine Korrelation zwischen antisemitischer Einstellung, fundamental-religiöser Orientierung und Autoritarismus aufzuzeigen. Mehr als ein Fünftel der als „fundamental-religiös“ eingestuften „muslimischen Jugendlichen“ stimmten dem antisemitischen Stereotyp zu, bei den „gering religiös“ eingestuften waren es hingegen ‚nur’ 3 Prozent (ebd.: 280). Ähnlich stellt sich die Korrelation zwischen autoritaristischen und antisemitischen Einstellungswerten dar. Bemerkenswert ist zudem die Beobachtung, dass bei zwei Drittel der als islamisch-autoritaristisch eingestuften Jugendlichen Diskriminierungserfahrungen und Exklusionsgefühle eine zentrale Rolle spielen, während für das andere Drittel weniger Exklusion als religiöse Orientierungsmuster für die Etablierung autoritaristischer und antisemitischer Haltungen ausschlaggebend zu seien scheinen (ebd.: 294). Gleichwohl ist ein Item als Erhebungsgrundlage für antisemitische Einstellungen zu wenig; zumal aus der Forschung bekannt ist, dass die Zustimmung zu bestimmten antisemitischen Items stark nach Bildungsniveau variiert. Hätten Brettfeld und Wetzels nicht das klassische antisemitische Stereotyp des „Shylock Jew“ („geldgierig“), sondern das neuere des „Rambo Jew“ („genauso brutal wie die Nazis“) abgefragt, wären die Ergebnisse in der Vergleichsgruppe mit hoher Wahrscheinlichkeit signifikant anders ausgefallen.5 Es wäre wichtig gewesen, dies zu kontrollie4 5
Heitmeyer/Müller/Schröder sprachen noch von „türkischen Jugendlichen“; die Muslimisierung der Jugendlichen setzte sich auch in der Wissenschaft erst nach dem 11. September 2001 durch. So ist aus Umfragen des Forsa-Instituts aus dem Jahr 2003 bekannt, dass 25 Prozent der befragten Jugendlichen vergangenheitsbezogenen antisemitischen Stereotypen zustimmt, 14 Prozent
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ren und bei der Auswertung sozialstrukturelle Faktoren zu berücksichtigen. Brettfeld und Wetzels weisen zwar darauf hin, dass mehr als drei Viertel der befragten „jungen Muslime“ seit ihrer Geburt in Deutschland leben und das Bildungsniveau sowohl ihrer Eltern als auch ihr eigenes signifikant unter dem aller anderen Befragten liegt. Wie stark aber das Bildungsniveau mit dem antisemitischen Antwortverhalten korreliert, schlüsseln die Autoren nicht weiter auf. Auch wäre es aufschlussreich gewesen, neben den Herkunftskontexten auch die Milieuzuordnungen der befragten „muslimischen Migranten“ zu berücksichtigen. Aus anderen Studien ist bekannt, dass beide Faktoren in signifikant höherem Maß Einfluss auf Einstellungsmuster haben als die Religionszugehörigkeit. (Vgl. Boos-Nünning/Karakaolu 2006: 272ff.; Sinus Sociovision 2007) Fraglich ist schließlich, ob die Bezeichnung „muslimische Jugendliche“ nicht ohnehin viel zu pauschal und ähnlich verzerrend ist, wie wenn man „junge Christen“ als Sammelbegriff für alle Jugendlichen verwenden würde, die den christlichen Konfessionen formal zugehören. Viel zu heterogen sind die verschiedenen Milieus und Szenen, aber auch die Aneignungsweisen und subjektiven Funktionen von Religion, als dass eine pauschale Klassifizierung von Jugendlichen nach religiösen Kategorien wirklich Sinn machen würde.6 Die meisten der von Brettfeld und Wetzels befragten „jungen Muslime“ haben keine Migrationserfahrung. Sie sind in Deutschland geboren, rezipieren fast ausschließlich deutschsprachige Massenmedien und sind der Herkunftssprache ihrer Eltern oder Großeltern kaum noch mächtig; nur eine – allerdings signifikante – Minderheit von 19,3 Prozent sieht nach den Ergebnissen von Brettfeld und Wetzels „überwiegend oder ausschließlich Sendungen nichtdeutscher Sprache“ (dies. 2008: 222). Auch darin zeigt sich, dass die Grenzziehung zwischen „Einheimischen“ und „muslimischen Migranten“ die Realitäten moderner Migrationsgesellschaften unzulässig simplifiziert. Phänomene der Mehrfachzugehörigkeit und der hybridisierten Identitätskonstruktionen werden ebenso ausgeblendet wie die Realität transnationaler Vergemeinschaftungen. (Vgl. dazu Mecheril 2003; Mau 2007) Wer die Erscheinungsformen des globalisierten Antisemitismus begreifen will, sollte die Ergebnisse der neueren Migrationsforschung nicht ignorieren. Transnationale Lebensformen sind in den Metropolen der Welt schon lange kein Ausnahmefall mehr, sondern Lebensrealität von Millionen von Menschen. Was im Schattendasein irregulärer Pendelmigration im Extrem hervortritt, ist ein massenhaftes Phänomen sowohl der Eliten- wie auch der Armutsmigration. Mo-
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sind der Meinung, „die Juden hätten zu viel Einfluss“. (Forsa-Institut, Antisemitismus in Deutschland, Umfrage vom 14./15, Nov. 2003, im Auftrag des „Stern“, dort veröffentlicht am 20.11.2003) Vgl. auch Bergmann/Erb 1991: 202; Markovits 2007: 242. Gegen die Logik der Muslimisierung von Jugendlichen und zu den verschiedenen subjektiven Funktionen muslimischer Religiosität bei Jugendlichen vgl. auch Tietze 2001.
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derne Kommunikations- und Transporttechnologien entterritorialisieren die sozialen Näheverhältnisse und ermöglichen es, angestammte Loyalitäten mit den ihnen eigentümlichen Gefühlsbeziehungen über weite Distanzen hinweg aufrechtzuerhalten. Dies bedeutet auch, dass sowohl kulturindustriell produzierte Bewusstseinstatsachen als auch alltagsreligiös tradierte Ressentimentstrukturen relativ bruchlos von einem Winkel der Welt in einen anderen transportiert und dort aktualisiert werden können. Antisemitische Fernsehserien wie Asch-Schatat oder Zahras blaue Augen werden in den Vororten Beiruts genauso wie in den Vorstädten von Paris oder in den „Stadtteilen mit besonderen Erneuerungsbedarf“ von Berlin empfangen und alltagsreligiös weiterverarbeitet.7 Transnationale Lebensformen führen aber keineswegs nur – und nicht einmal in erster Linie – zur Etablierung relativ abgeschotteter Kommunikationsinseln in städtischen Metropolen; auch die Herausbildung hybridisierter Herkunftskonstruktionen gehört in diesen Kontext. Nichts ist heute umkämpfter als Zugehörigkeitskonstruktionen, an die sich Zugangs- und Teilhabechancen knüpfen. Zugleich nehmen Zugehörigkeiten immer häufiger pluriforme Ausdrucksmodalitäten an. Zunehmend normal wird es, dass sich in individuellen Identitätskonstruktionen unterschiedliche Erinnerungsgemeinschaften überlappen, kreuzen, miteinander verknüpfen. Welche Konsequenzen dies für die Äußerungsformen des alltäglichen Antisemitismus hat, ist noch völlig unerforscht. Möglicherweise spiegelt sich aber in der vielfach beobachteten „neuen Unübersichtlichkeit“ von Alltagsantisemitismen genau diese Realität von Migrationsgesellschaften8 wider. Salomon Korn spricht von einem neuen „Kraftdreieck des Antisemitismus“ in Europa, dessen Konturen bereits deutlich erkennbar seien: „Der gleichzeitig von Südeuropa vordringende islamistische Antisemitismus und der aus dem Osten Europas in die bisherige Europäische Union einsickernde ‚klassische’ Antisemitismus werden eine ‚Zangenbewegung’ vollziehen, die den in Westeuropa vorhandenen 7 8
Vgl. dazu den Beitrag von Holz/Kiefer in diesem Band. Der Begriff der Migrationsgesellschaft wird immer wieder missverstanden, weil er sich dem alltagstheoretischen Verständnis entzieht. Mit dem Begriff soll nicht ein neues Wort für das irreführende, ideologische Konstrukt „migrantische Parallelgesellschaften“ eingeführt werden. Wir halten den Begriff deshalb für angemessen, weil Migration – als Ein- und Auswanderung, Pendel- und Transmigration – heute in einem entscheidenden Maße gesellschaftliche Realität betrifft: „Die Rede ist hier von ‚Migratonsgesellschaft’ und beispielsweise nicht von Einwanderungsgesellschaft, weil der Begriff Migration weiter als der der Einwanderung ist und dadurch einem breiteren Spektrum an Wanderungsphänomenen gerecht wird. Der Ausdruck Migration ist eine allgemeine Perspektive, mit der Phänomene erfasst werden, die für eine Migrationsgesellschaft kennzeichnend sind: Übertragung beispielweise von Lebensweisen, Biographien und Sprachen in die neue Gesellschaft, ihre Modifikation als Folge von Wanderungen, Entstehung von Zwischenwelten und hybriden Identitäten, Phänomene der Wahrnehmung und Zuschreibung von Fremdheit, Strukturen und Prozesse des Rassismus, Konstruktionen des und der Fremden oder auch die Erschaffung neuer Formen von Ethnizität.“ (Broden/Mecheril 2007: 7)
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sekundären und ‚schuldreflexiven’ Antisemitismus vermutlich stärken wird. Die Folge wäre womöglich eine Art ‚Kraftdreieck des Antisemitismus’ – eine sich wechselseitig stützende Allianz unterschiedlich ausgeprägter Formen der Judenfeindschaft.“ (Zit. n. Markovits 2008: 208) In einer Gruppendiskussion, die wir mit Jugendlichen aus der ehemaligen Sowjetunion führten, äußerte sich der Antisemitismus tatsächlich ungleich härter, offener und traditioneller als in Gesprächen mit in Deutschland geborenen Jugendlichen mit türkischem oder arabischem Herkunftshintergrund oder auch autochthonen Jugendlichen, die eine höhere Sensibilität für die offiziellen, anti-antisemitischen Kommunikationsverbote aufwiesen.9 Allerdings bewegt man sich mit Feststellungen dieser Art bereits ganz in der kulturalisierenden Logik ausgrenzender Zuschreibungen. Die neuen Konstellationen von Alltagsantisemitismen sind komplizierter als Korn annimmt. Man muss auf die durch Macht- und Herrschaftsbeziehungen geprägten Bedingungen der unterschiedlichen Zugehörigkeitskonstruktionen in den vielfältig gespaltenen Migrationsgesellschaften Europas reflektieren, um zu begreifen, wie sich die Äußerungsformen des alltäglichen Antisemitismus heute zusammensetzen. Dabei wird man feststellen, dass sich Antisemitismen unterschiedlicher sozialer und psychologischer Genese amalgamieren, aber auch in Konkurrenz zueinander treten, weil die Differenzkonstruktionen, auf denen sie beruhen, sich nicht miteinander vereinbaren lassen. Es kommt nicht zu einer Angleichung, sondern – nur scheinbar paradox – zu einer Konfrontation von Antisemitismen im lokalen Raum globalisierter Gesellschaftsverhältnisse. Am Beispiel des transformierten Schuldabwehr-Antisemitismus und eines islamisierten Antisemitismus ‚von unten’ lässt sich dies zeigen.10
9 Siehe dazu den Beitrag von Follert/Stender in diesem Band. 10 Die ‚Angleichungsthese’ von Holz, die ich weiter oben dargestellt habe: die verschiedenen Spielarten des Antisemitismus verschmelzen heute in der Form eines vom Stalinismus gereinigten antisemitischen Antizionismus, lässt sich auf der Ebene des Alltagsantisemitismus im lokalen Raum nicht bestätigen. Plausibler scheint uns die ‚Heterogenitätsthese’ von Scherr/Schäuble, die auf der Auswertung der von ihnen durchgeführten Gruppendiskussionen basiert: „In der Gruppe zeigt sich, dass sich – anders als häufig vermutet wird – unterschiedliche Spielarten antisemitischer Argumentation nicht zu einem gemeinsamen ‚globalen Antisemitismus’ verbinden müssen. Vielmehr führt die heterogene Zusammensetzung der Gruppe dazu, dass keine gemeinsame Grundlage für eine Differenzkonstruktion ‚Wir – die Juden’ verfügbar ist. (...) Juden (...) eignen sich nicht als gemeinsames Gegenüber, da die verfügbaren antisemitischen Fragmente auf heterogene ideologische Hintergründe verweisen, die nicht konsensfähig sind.“ (Scherr/Schäuble 2007: 31f.)
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Die antisemitischen „Anderen“ – neue Konstellationen des sekundären Antisemitismus
Die Transnationalisierung von Lebensformen bietet dem sekundären Antisemitismus ganz neue Möglichkeiten. In der Variante, wie ihn Adorno und seine Mitarbeiter in den 50er Jahren beobachteten, war er ein Antisemitismus aus Schuldabwehr. In der transgenerationalen Weitergabe unbewusster Affekt- und Abwehrformationen setzt sich dieser fort, modifiziert sich aber auch in spezifischer Weise. Die Psychoanalytikerin Ilka Quindeau hat dafür eine bemerkenswerte Erklärung gefunden, die auf der These beruht, dass der sekundäre Antisemitismus seit den 80er Jahren einen Formwandel durchlaufen hat. Bergmanns These vom kollektiven Lernprozess bestätigend, sieht Quindeau „die Leistung der zweiten und dritten Generation in einer Anerkennung der Schuld (..), die in mühsamen, leidvollen kollektiven Prozessen einer ethisch-politischen Selbstverständigung errungen wurde“ (Quindeau 2007: 164). Die dadurch in Gang gesetzte „Dialektik von Schuldanerkennung und Schuldentlastung“ hebt den sekundären Antisemitismus nicht auf, sondern verändert ihn. Schuldanerkennung verletzt den Narzissmus der Identifikation mit der eigenen Gruppe und weckt das Bedürfnis nach Entlastung, das sich in unterschiedlicher Weise äußern kann, z. B. in der bekannten Täter-Opfer-Umkehr: „die Juden“ in Gestalt Israels sind heute genauso schlimme Täter wie „wir damals“, oder auch in dem ebenfalls nicht neuen „Die-anderen-sind-noch-schlimmer“-Motiv: „die Muslime heute“ sind mindestens ebenso schlimme Antisemiten wie „wir damals“. Gerade das zweite Motiv gewinnt heute an Relevanz. Die Schuldanerkennung korrespondiert mit dem Bild der moralisch integren, demokratischen Nation, der eine vorbildliche Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit attestiert wird. Dieses Selbstbild aber und die mit ihm einhergehende Möglichkeit nationaler Identifizierung gerät durch die Revitalisierung eines enthemmten Alltagsantisemitismus in Gefahr und kann nur durch eine rigorose Abspaltung des Antisemitismusproblems aufrechterhalten werden. Genau an dieser Stelle gewinnt die massenmediale Konstruktion des „muslimischen Antisemitismus“ eine enorme sozialpsychologische Attraktivität. Die Wir-Gruppe der „Einheimischen“ kann sich in die Position moralischer Überlegenheit setzen, indem sie den Antisemitismus als Problem der Anderen inszeniert, und vermeidet so die Auseinandersetzung mit den eigenen antisemitischen Tendenzen. Die kulturalisierende, ‚religionisierende’ Wahrnehmung eines „muslimischen Antisemitismus“ verknüpft den Kampf gegen eine angebliche Islamisierung Europas mit dem kategorischen Imperativ des „Nie wieder Auschwitz“. In dem Kompositum „muslimischer Antisemitismus“ wird ein innerer Zusammenhang zwischen Islam und Antisemitismus hergestellt. Antisemitismus wird zum Wesensmerkmal des Islam erklärt (vgl. exemplarisch:
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Raddatz 2007; kritisch dazu Widmann 2008). Dadurch entsteht ein gigantisches Bedrohungsszenario. Sofern ein Muslim kein manifester Antisemit ist, ist er es zumindest latent. Aber schlimmer noch: Die Muslime befinden sich in großer Zahl bereits in „unserem“ Land, und mit jedem neu ankommenden Muslim wächst die antisemitische Gefahr auch in Deutschland wieder. Historische Verantwortungsübernahme heißt dann, sich gegen diese Gefahr zur Wehr zu setzen – und zwar mit allen Mitteln, die dem demokratischen Rechtsstaat zur Verfügung stehen. Wie beim Rechtsextremismus erscheint der Antisemitismus auch hier als eine Gefahr, die von außen das anti-antisemitisch geläuterte Gemeinwesen bedroht. 5
Antisemitismus ‚von unten’
Tatsächlich aber kommt der Antisemitismus nicht von außen, sondern aus dem Innersten der Gesellschaft, und zwar in allen seinen Varianten. Auch der Antisemitismus „muslimischer Migranten“ kann nicht auf seine massenmedial importierten Anteile reduziert werden, sondern muss im Zusammenhang mit einem rassifizierten System der gesellschaftlichen Arbeitsteilung begriffen werden, das die europäischen Migrationsgesellschaften heute kennzeichnet.11 Vor allem die Antisemitismusforschung in Frankreich hat diesen Zusammenhang einem Verständnis näher gebracht. In einer Untersuchung über das soziale Leben in den französischen Vorstädten stellt Didier Lapeyronnie dar, wie ein „Antisemitismus ‚von unten’“ im Kontext von rassistischen Exklusionsformen entsteht. Er beobachtet, dass antisemitische Beleidigungen und Schimpfwörter Eingang ins Alltagsvokabular eines Teils insbesondere der jungen Bevölkerung gefunden hat. Dabei sind die Bedeutung und die Funktion dieses Vokabulars uneindeutig. Oft 11 Zwischen Rassismus und Antisemitismus muss trennscharf unterschieden werden. Nach dem Ende der rassistischen Staatssysteme im 20. Jahrhundert hat sich ein Rassismus ohne Rassisten und ohne „Rassen“ herausgebildet, den man als sekundären Rassismus bezeichnen kann, der aber nicht mit dem sekundären Antisemitismus identisch ist. (Vgl. Stender 2010) Als Ideologie und Alltagsbewusstsein stellt der sekundäre Rassismus ein Element in einem rassifizierten gesellschaftlichen System dar. Ein gesellschaftliches System ist dann rassifiziert, wenn die sozialen Lebenschancen nach Herkunft und Hautfarbe unterschiedlich verteilt sind. Dies ist nachweislich in allen europäischen Gesellschaften der Fall. Je schärfer die soziale Ungleichheit nach Herkunft und Hautfarbe, desto rassifizierter eine Gesellschaft. Die Rassifizierung kennt unterschiedliche Grade, unterschiedliche Organisationsformen und entsprechend auch unterschiedliche ideologische Formen. Immer aber sind es drei Elemente, die in unterschiedlichen Konstellationen eine rassistische Realität konstituieren: Rassifizierung, Ausgrenzungspraxen und differenzierende Macht. Die Untersuchung der gesellschaftlichen Konstellation dieser Elemente bildet den Kern jeder Rassismusanalyse. Zum strukturanalytischen Ansatz in der Rassismusforschung vgl. Bonilla-Silva 1996; ders. 2006; Winant 2001; auch Terkessidis 2004.
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drückt sich darin weniger eine unmittelbar antisemitische Intention aus als vielmehr eine Gruppenzugehörigkeit. Gleichwohl wird dadurch nicht nur ein „feindliches Klima“ geschaffen, sondern eine „regelrechte Sozialordnung, die den Grundstein für die Legitimität von Gewalttätigkeiten legt“ (Lapeyronnie 2005: 35). Der tatsächlich große „Bedarf“ an Antisemitismus in der Banlieue ist ohne Reflexion auf die durch rassistische Exklusion geprägte Lebenssituation ihrer Bewohner nicht zu begreifen. Hoch projektiv werden hier Ausgrenzungserfahrungen verarbeitet. Das projektive Bild vom „Juden“, mit dem Lapeyronnie in seinen Gesprächen mit Jugendlichen aus den Banlieues konfrontiert wurde, stellt so etwas wie die negative Synthese der eigenen, marginalisierten Lebenslage dar. Dieser Antisemitismus ‚von unten’ kommt, psychoanalytisch betrachtet, nicht weniger aus narzisstischer Kränkung wie der sekundär-antisemitische, aber seine soziale und psychologische Genese ist eine ganz andere. Er kann, so Lapeyronnie, als völlig verzerrte Forderung nach Integration interpretiert werden: „Integration in die ‚normale’ Gesellschaft, Integration in die Bezugsgruppe, persönliche Integration“ (ebd.: 38). Dass das Versagen des französischen Integrationsmodells eine wichtige Rolle bei der Entstehung des Antisemitismus in den Vorstädten gespielt hat, ist ein Ergebnis auch der groß angelegten Studie zur Antisemitischen Versuchung, die Michel Wieviorka (ders. 2005) und seine Mitarbeiter vorgelegt haben. Auch in Frankreich ist für viele der Nachkommen der Arbeitsmigranten aus der ökonomischen Unterschichtung soziale Ausgrenzung geworden: „Aus diesen Problemlagen nährt sich der Antisemitismus, weniger indem er sie den Juden anlastet, als vielmehr dadurch, dass er ihnen zum Vorwurf macht, eben nicht unter solchen Verwerfungen leiden zu müssen, sich vielmehr auf der sozialen Sonnenseite etabliert zu haben.“ (Wieviorka 2004: 31) Man könnte hier eine Parallele zum Black anti-Semitism in den USA ziehen. Auch an den von Armut betroffenen Rändern der Großstädte Europas scheinen sich Milieus und Sub- und Jugendkulturen herauszubilden, in denen sich islamistische und antisemitische Ideologiefragmente mit antirassistischer Rhetorik amalgamieren.12 Nur handelt es sich dabei – dies zeigt das Beispiel der Banlieues – keineswegs nur und nicht einmal in erster Linie um „Migrantenkulturen“, sondern vielmehr um postkoloniale und auch postmigrantische Konstellationen. In Frankreich sind es junge Franzosen, darunter „eine Art harter Kern“ (Lapeyronnie) von als „arabisch-muslimisch“ abqualifizierten Nachkommen von Einwanderern aus den ehemaligen Kolonien, die Juden angreifen, jüdische Friedhöfe verwüsten und Synagogen anzünden. Was sie gemeinsam haben, ist die Erfah12 An Jugend-Musikkulturen wie HipHop lässt sich dies exemplarisch demonstrieren. Als Rap gegen den Rassismus des Weißen Amerika idealisiert, wurde der offene Antisemitismus in großen Teilen der Schwarzen „HipHop Nation“ lange Zeit übersehen. Vgl. Jacob 2004; zum Black anti-Semitism auch: Hentoff 1970.
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rung der Ausgrenzung und das Gefühl, zu den „Überzähligen“ (Castel 2000: 19) zu gehören. Es sind Jugendliche aus der New Urban Underclass, deren Kennzeichen es gerade ist, dass ökonomische und rassistische Ausgrenzung unlösbar ineinander verwoben sind. Antisemitismus als antirassistische Rebellion – das ist in Europa genauso absurd wie in den USA, zeigt aber an, wo das Problem bei der Erscheinungsform eines Antisemitismus ‚von unten’ liegt: „Am Juden kristallisiert sich das Ressentiment, die Bitterkeit, nicht anerkannt zu sein, mit negativer Identität behaftet und irgendwie ‚der Böse’ zu sein, vor dem man sich fürchtet und den man lieber draußen hält.“ (Lapeyronnie 2005: 41) Im alltagsreligiösen Wahrnehmungshorizont der Mehrheitsgesellschaft erscheint der Antisemitismus von unten als Antisemitismus der „muslimischen“ Anderen. Die sekundär-antisemitischen Entlastungsstrategien ebenso wie die massenmedialen Inszenierungen verstärken diese verzerrte Wahrnehmung. Antisemiten sind immer die Anderen, die allerdings im Prozess des Othering zu Anderen überhaupt erst gemacht werden müssen. Für Astrid Messerschmidt zeigt sich darin ein „koloniales Muster“: „Es wird ein Wissen über andere produziert, über deren Defizite und ihren Mangel an Aufklärung, gegenüber dem man sich selbst als fortschrittlich betrachten kann.“ (Messerschmidt 2006: 164) Umfragen aus der jüngsten Zeit zeigen, dass dies auf fruchtbaren Boden in der Mehrheitsbevölkerung fällt. Die vom Bielefelder Institut für Konflikt- und Gewaltforschung jährlich durchgeführte Befragung zur „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“ weist nach, dass mittlerweile deutlich mehr als ein Viertel der Befragten der Aussage zustimmt, dass Muslimen die Zuwanderung nach Deutschland untersagt werden sollte. (Heitmeyer 2007: 26) Obwohl auch hier die empirische Datenlage schmal ist und weitere Forschungen notwendig sind, ist die Annahme plausibel, dass eine wachsende Muslimenfeindschaft in der Mehrheitsgesellschaft, die durch die ständigen Bedrohungs- und Verdachtsdiskurse in den Medien noch angetrieben wird, das ohnehin bereits hohe Exklusionsgefühl in Teilen der Migranten-Communities verstärkt. Dies kann dann allerdings – eine sich selbst erfüllende Prophezeiung – den Hetzrednern eines islamistisch adaptierten Antisemitismus auch in Deutschland verstärkten Zulauf bringen. Wer den Antisemitismus bekämpfen will, muss – so schrieb Max Horkheimer 1943 – jede einzelne Variante in seiner sozialen und psychologischen Genese erforschen. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts scheinen diese Varianten nicht weniger, sondern zahlreicher geworden zu sein. Ihre Genese ist, wie hier am Beispiel des modernisierten Sekundärantisemitismus und des islamisierten Antisemitismus ‚von unten’ gezeigt wurde, tatsächlich unterschiedlich. Dies stellt nicht nur die Forschung, sondern auch die politische, pädagogische und sozialarbeiterische Praxis vor eine große Herausforderung, der sie sich bislang nicht gewach-
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sen zeigen. Auch wenn der Antisemitismus nicht auf ein pädagogisches Problem reduziert werden darf, bedarf es eigenständiger pädagogischer und auch sozialarbeiterischer Handlungskonzepte gegen Antisemitismus, die erst in Ansätzen existieren. Die Anforderungen sind hier hoch – auch deshalb, weil die Sozialund Bildungsarbeiter in Projektions- und andere Abwehrvorgänge verstrickt sind, die sie in unterschiedlicher Weise auch bei ihren Adressaten vorfinden. Bei dem Versuch, die Antisemitismen im Alltag globalisierter Gesellschaftsverhältnisse zu erforschen, wird man sich an Horkheimers interdisziplinär angelegten Plan für ein Antisemitismusprojekt aus den 40er Jahren des letzten Jahrhunderts unter veränderten Bedingungen orientieren können. (Vgl. Horkheimer 1985b) Schon Horkheimer allerdings betonte, dass es darauf ankommen werde, das Identische des Antisemitismus in der Vielfalt seiner Variationen nicht aus dem Blick zu verlieren. Denn auch heute bleibt Antisemitismus, in welcher Variante auch immer, genau das, was er seit je zu sein vorgab: „eine tödliche Gefahr für Juden und nichts sonst“ (Arendt 1986: 32). Zu den Beiträgen des Buches 6
Die Gegenwart des Antisemitismus: Theoretische Grundlagen und aktuelle Entwicklungen
Antisemitismus ist, so Jean-Paul Sartre (ders. 1972: 113) „gleichzeitig eine Leidenschaft und eine Weltanschauung“. Die Leidenschaft, genauer: die Hass- und Wutaffekte des Antisemiten, aber auch die antisemitischen Aversionen des AntiAntisemiten wie die Liebesbekundungen des Philosemiten sind Gegenstand der psychoanalytischen Erkenntnisweise; sie fragt nach der psychischen Genese des antisemitischen Ressentiments. Die Weltanschauung ist Gegenstand z.B. der wissenssoziologischen Erkenntnisweise; sie fragt nach den Strukturen der kommunikativ konstruierten Semantik des Antisemitismus. Am psychologischsoziologischen Phänomen des Antisemitismus werden zugleich die Grenzen beider Erkenntnisweisen erfahrbar. Die psychoanalytische Perspektive auf das antisemitische Subjekt wird in dem Beitrag von Rolf Pohl dargestellt. Für die Analyse der psychischen Genese des antisemitischen Hassaffekts stellt, so Pohl, der unbewusste Abwehrmechanismus der projektiven Identifizierung als „Prototyp einer destruktiven Beziehungskonstellation ein brauchbares und bislang kaum beachtetes Instrument der sozialpsychologischen Antisemitismusforschung dar“. Mit ihm lässt sich erklären, warum der Hass des Antisemiten ohne Grenze und ohne Ende ist. Seine „psychische Wurzel“ aber hat das antisemitische Feindbild in der Angst, in einem in „Hass
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umgewandelten Angstpotenzial“, das – gesellschaftlich vermittelt – in Zeiten „verschärfter ökonomischer Krisen und sozialer Erosionen“ gefährliche Ausmaße annimmt. Die Attraktivität des Antisemitismus als subjektive Angstverarbeitungsform liegt, so Pohl, in seiner normalisierenden bzw. normalitätsstabilisierenden Funktion. Als Prototyp einer kollektiven Wahnbildung erfüllt die antisemitische Vergemeinschaftung, psychoanalytisch betrachtet, die Funktion einer „Schiefheilung“ (Freud 1999: 159) und schützt so den Einzelnen vor psychischer Dekompensation. Stellt sich aus psychoanalytisch-sozialpsychologischer Perspektive Antisemitismus als ein „normalpathologisches“ Phänomen dar, das daran zu erkennen ist, dass die narzisstische Selbstdefinition durch „Rasse“, Nation oder Religion mit dem Hass auf die Juden einhergeht, so lässt sich aus wissenssoziologischer Perspektive ebendieses Phänomen als eine spezifische Semantik verstehen, in der ein nationales, „rassisches“ oder religiöses Selbstbild mit einem abwertenden Judenbild korrespondiert. Klaus Holz (ders. 2001) hat nachgewiesen, dass das Identische in der Vielfalt der Varianten des modernen Antisemitismus – räumlich wie zeitlich – in der Sinnstruktur, nämlich u.a. in der konstitutiven Relation von nationalistischem Selbstbild und antisemitischem Fremdbild besteht. Jan Weyand knüpft in seinem Beitrag an diesen Befund an. Er zeigt auf, dass im Unterschied zum vormodernen Judenhass für die semantische Struktur des modernen Antisemitismus der Totalausschluss der Juden aus der menschlichen Welt charakteristisch ist. Zentral für Weyands Argumentation ist die Beziehung zwischen moderner antisemitischer Semantik und der Struktur der modernen Gesellschaft. Diese Beziehung begreift er nicht als kausale, sondern – mit Bezug auf Adorno – als dialektische: Semantik und Struktur sind als „wechselseitig durcheinander konstituiert“ zu verstehen. Die Konsequenzen, die sich daraus für die Bekämpfung des Antisemitismus ergeben, stimmen wenig optimistisch: „Wir müssen nämlich annehmen, dass der moderne Antisemitismus (...) bestehen bleibt, solange sich die gesellschaftliche Struktur nicht fundamental verändert.“ Dies heißt aber keineswegs, dass Bildungsarbeit gegen Antisemitismus sinnlos wäre. Vielmehr verlangt die Einsicht in die sowohl subjektive als auch objektive Tiefendimension des Antisemitismus dem oder der politischpädagogisch Handelnden ein Maximum an Selbstreflexion ab. Die gesellschaftliche Bedeutung von Antisemitismus kann erst erfahrbar werden, wenn – so Astrid Messerschmidt in ihrem Beitrag – „die Problematik in pädagogischen Kontexten als eine repräsentiert wird, von der sich auch die Lehrenden nicht lossagen können“. Nicht nur die Adressaten antisemitismuskritischer Sozial- und Bildungsarbeit, sondern die Sozial- und Bildungsarbeiter/innen selber sind affektiv an ihren Gegenstand in einer Weise gebunden, die ihre Wahrnehmung verzerrt. Diese Verzerrungen kehren in den aktuellen Erscheinungsformen des Antisemitismus
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wieder. Astrid Messerschmidt wendet sich den veränderten Konstellationen des Antisemitismus in der deutschen Migrationsgesellschaft zu. Muslimenfeindschaft und Judenfeindschaft, antimuslimischer Rassismus und Antisemitismus müssen gleichermaßen in den Blick genommen und auf ihre Gemeinsamkeiten wie auf ihre Unterschiede hin betrachtet werden, „um eine Relativierung der jeweiligen Diskriminierungspraktiken zu vermeiden“. Messerschmidt beobachtet in der Mehrheitsgesellschaft den Mechanismus der „projektiven Lokalisierung von Antisemitismus“: dieser werde den als „muslimisch“ markierten und als defizitär wahrgenommenen „Anderen“ zugeschrieben. Sie zeigt auf, wie kulturrassistische und sekundär-antisemitische Motive im antimuslimischen Ressentiment eine giftige Melange bilden: „In diesem Zusammenhang kann man gegenwärtig von einem demokratischen Rassismus sprechen. Er dient einem Selbstbild als gefestigter Demokratie, wobei die Aufarbeitung des Nationalsozialismus als ein Markenzeichen dafür eingesetzt wird. Die ausgesprochen diskontinuierlich verlaufene Geschichte bundesdeutscher Erinnerungsarbeit erscheint als eine Erfolgsgeschichte, wenn sie zur nationalen Selbststilisierung beansprucht wird.“ Gegen eine identifizierende Sicht auf den Antisemitismus als Wesensmerkmal des Islam beziehen auch Klaus Holz und Michael Kiefer klar und deutlich Stellung. Der Antisemitismus in der arabischen Welt, so die These ihres Beitrags, ist in allen wesentlichen Aspekten ein Import aus Europa und wurde lediglich an eine islamistische Semantik angepasst: „Es ist offensichtlich, dass sich die antisemitische Weltanschauung nur indirekt und in wesentlichen Teilen überhaupt nicht aus den Heiligen Texten des Christentums oder des Islam ableiten lässt. Vielmehr entsteht der Antisemitismus als eine Weltanschauung, die die neue, ebenfalls von Europa übernommene Leitideologie des Nationalismus durch die Konstruktion eines internationalen, universalistischen Feindes absichert.“ Holz und Kiefer belegen diese These sowohl in historischer als auch in semantikanalytischer Perspektive. Sie weisen aber auch darauf hin, dass es heute zu einer Art „Re-Import“ des islamistisch adaptierten Antisemitismus kommt, zum einen durch islamistische Organisationen, deren Tätigkeitsfeld sich auch auf Deutschland erstreckt, zum anderen durch eine neue Qualität antisemitischer Propaganda, wie sie durch Satellitenfernsehen und Internet möglich wird. Jedoch „in welchem Ausmaß diese Sendungen von in Europa lebenden muslimischen Migranten rezipiert werden, ist faktisch unbekannt“. Eine Feststellung, die Holz und Kiefer abschließend auf den Forschungsstand insgesamt beziehen. Tatsächlich wissen wir über die Ausbreitung des islamisierten Antisemitismus in Deutschland nach wie vor sehr wenig: „Angesichts zahlreicher warnender Stimmen aus Schulen und Jugendeinrichtungen, die von einer erheblichen Zunahme antisemitischer Ansichten bei muslimischen Schülern mit Migrationshintergrund berichten, ist dies ein unhaltbarer Zustand.“
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Weisen Holz und Kiefer in ihrem Beitrag auf den wachsenden Antisemitismus in der Türkei und insbesondere auf das erschreckende „Ausmaß der Verbreitung antisemitischer Stereotype im türkischsprachigen Fernsehen“ hin, so nimmt Claudia Dantschkes Beitrag diesen Sachverhalt zum Ausgangspunkt, um die Funktionalität des Antisemitismus für islamistische Gemeinschaftsideologien nachzuweisen. Mit Hinweis auf die „extreme Heterogenität“ der als „muslimisch“ markierten Migranten in Deutschland weist Dantschke die Rede vom „muslimischen Antisemitismus“ als viel zu pauschal und irreführend zurück. Nur eine Minderheit von etwa 14 Prozent aller „Muslime in Deutschland“ hänge „islamistischen Gesellschaftsvisionen“ an. Für diese allerdings stelle „die Moderne“ die „alles zerstörende“ Macht dar, und hinter dieser Macht stehe für sie der „gottlose Jude“. Im „gottlosen Juden“ als „Erfinder der Moderne“ sieht Dantschke – das Modell von Klaus Holz modifizierend – die Figur des Dritten, der die binäre Unterscheidung zwischen „uns und den anderen“ zersetzt und damit Islam, Christentum und Judentum gleichermaßen als religiöse Gemeinschaften bedroht. Weist Claudia Dantschke die Funktionalität des Antisemitismus für eine bestimmte, nämlich islamistisch-weltanschauliche Form der Zugehörigkeitskonstruktion nach, so untersucht Nikola Tietze in ihrem Beitrag, wie in Deutschland lebende „Personen, die sich als Muslime oder Palästinenser beschreiben“, die von ihnen gewählten Zugehörigkeitskonstruktionen rechtfertigen. Anhand von Fallstudien in muslimischen Organisationen in Hamburg und palästinensischen Kultur- und Stadtteilvereinen in Berlin arbeitet Tietze zunächst die normativen Rechtfertigungsprinzipien der Zugehörigkeitskonstruktionen heraus, um dann die mit diesen Rechtfertigungsprinzipien korrespondierenden Bilder über Juden und Israel darzustellen. Spiegelt sich in allen untersuchten Zugehörigkeitskonstruktionen der Umgang der Befragten mit erfahrenen Ungleichheiten und Diskriminierungen in der Bundesrepublik wider, so nimmt das Sprechen über Juden und Israel je nach Rechtfertigungsprinzip der Zugehörigkeitskonstruktion eine andere Form an. Insbesondere bei der „physisgerechtfertigten Zugehörigkeitskonstruktion“, in der Zugehörigkeit als „natürliche Beschaffenheit“ essentialisiert wird, fällt auf, dass das Sprechen über Juden antisemitisch strukturiert ist.
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Der Antisemitismus der Gegenwart: Empirische Forschung und sozialpädagogische Praxis
Die empirische Forschung über Formen des Antisemitismus in der Gegenwart hat in Deutschland gerade erst begonnen. Auffallend ist dabei die enge Koppelung der ausschließlich qualitativen Forschungsprojekte an die (sozial-)pädagogische Praxis und Jugend- bzw. Erwachsenenbildungsarbeit (vgl. Scherr/ Schäuble 2007). Die Forschung ist entweder aus der Praxis heraus entstanden oder für sie gedacht. Dies gilt auch für die in diesem Band vorgestellten Forschungsergebnisse. Auf der Grundlage eigener empirischer Untersuchungen (leitfadengestützte Interviews mit 21 Sozialpädagog/innen) beschäftigt sich der Beitrag von Heike Radvan mit der Frage, „wie in der offenen Jugendarbeit mit gegenwärtigen Erscheinungsformen von Antisemitismus umgegangen wird“. Dabei richtet Radvan den Fokus auf die Perspektiven der jugendpädagogisch Tätigen: „Wie beschreiben sie ihr Handeln in Situationen, in denen sie auf Antisemitismus reagieren?“ In der Interpretation des Interviewmaterials gelingt Radvan die Typisierung von drei pädagogischen Beobachtungs- und Interventionsformen: die stereotypisierende, die immanente und die rekonstruktive Form. Während die stereotypisierende Beobachtungsform eine hohe Ähnlichkeit mit der Struktur antisemitischer Semantik aufweist und mit einer Interventionshaltung korrespondiert, die weder lebenswelt- noch subjektorientiert arbeitet, ist die rekonstruktive Beobachtungsund Interventionsform durch einen „von Anerkennung und Verständnisinteresse geprägten Umgang“ mit den Jugendlichen gekennzeichnet und nimmt eine „genetische Suchhaltung ein, die nach Funktionen und Kontexten fragt, in der die Aussagen für die Jugendlichen stehen“. Die kontrastierende Typisierung pädagogischer Haltungen dient Radvan schließlich dazu, Handlungskompetenzen zu bestimmen, die im Rahmen der Aus- und Weiterbildung vermittelt werden sollten: „Die Typenbildung illustriert, dass neben der Vermittlung von theoretischem Wissen über das Thema Antisemitismus in der Aus- und Weiterbildung von Jugendpädagogen das Wie des pädagogischen Handelns und der Beziehungsarbeit im Vordergrund stehen sollte.“ Die Dringlichkeit antisemitismuskritischer Kompetenz in der Kinder- und Jugendarbeit wird deutlich, wenn man den Beitrag von Gabriel Fréville, Susanna Harms und Serhat Karakayali liest. Die Autoren haben vierzig Gespräche mit Mitarbeiter/innen aus Jugendeinrichtungen und Migrant/innen-Organisationen in Berlin-Kreuzberg geführt. Fast in allen Einrichtungen ist nicht nur „Du Jude!“ ein häufig benutztes Schimpfwort, sondern sind auch auf Israel bezogene antisemitische Ressentiments unter vor allem migrantischen Jugendlichen keine Seltenheit. Fréville/Harms/Karakayali warnen allerdings davor, für den Antise-
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mitismus migrantischer Jugendlicher „allein herkunftsspezifische Einflüsse verantwortlich zu machen. Mindestens genauso wichtig ist es, ihre in Deutschland gemachten Erfahrungen und Prägungen sowie mögliche Wechselbeziehungen mit einzubeziehen“. Dass die „Stigmatisierung, Ausgrenzung und Diskriminierung der migrantischen Communities“ bei der Analyse der Genese bestimmter Formen des Antisemitismus berücksichtigt werden müssen, ist eine These auch des Beitrags von Guido Follert und Wolfram Stender. Untersucht Heike Radvan die unterschiedlichen Beobachtungs- und Interventionsformen, mit denen Pädagog/innen antisemitischen Äußerungen von Jugendlichen begegnen, so interessieren sich Follert und Stender für die Inkongruenz zwischen den Wahrnehmungen der Pädagog/innen und Sozialarbeiter/innen und den Darstellungen der Jugendlichen. Während in den Gruppendiskussionen mit Jugendlichen, die die Autoren an Haupt- und Realschulen führten, sowohl von antisemitischen Vorfällen als auch von der häufigen Verwendung des Schimpfworts „Du Jude!“ berichtet wurde, bestritten die interviewten Lehrer und Schulsozialarbeiter dies entweder ganz oder reagierten in spezifischer Weise alarmistisch, indem sie den Antisemitismus als ausschließliches, allerdings hoch virulentes Problem der „muslimischen Schüler“ darstellten. Die zum Teil eklatante Diskrepanz zwischen den Darstellungen der Pädagogen einer-, der Jugendlichen andererseits interpretieren Follert und Stender als empirischen Beleg für die These, dass nicht nur die Adressaten von Bildungsarbeit, sondern auch die Sozial- und Bildungsarbeiter/innen selber in Projektions- und andere Abwehrvorgänge verstrickt sind, wenn es um Antisemitismus geht. Die Erfahrungen aus der antisemitismuskritischen Fort- und Weiterbildung mit Lehrer/innen, die David Begrich und Jan Raabe in ihrem Beitrag reflektieren, bestätigen dies noch einmal aus anderer Perspektive. Zwar betonen die Pädagog/innen durchweg ihre anti-antisemitische Grundeinstellung, sind aber nicht in der Lage, gegenwartsbezogene antisemitische Stereotype zu erkennen, sondern stimmen diesen häufig sogar zu. Welche Formen diese Stereotype in extrem rechten Jugendkulturen heute annehmen, zeigen Begrich und Raabe in einem detailgenauen Überblick. Die Autoren weisen allerdings auch darauf hin, dass antisemitische Symbole und Chiffren – vor allem vermittelt über das Medium Musik – mittlerweile auch im jugendkulturellen Mainstream angekommen sind. Die konzeptionellen Herausforderungen, die sich dadurch für eine antisemitismuskritische Bildungsarbeit stellen, werden in dem Beitrag von Mirko Niehoff reflektiert. Ausgehend von der „neuen Unübersichtlichkeit“ in den Erscheinungsformen des alltäglichen Antisemitismus bestimmt Niehoff die „Handlungsbedingungen“, die einer zeitgemäßen „Anti-Antisemitismusarbeit“ gesetzt sind: Antisemitismuskritische Handlungsansätze werden umso konkreter, je genauer sie
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der Realität moderner Migrationsgesellschaften konzeptionell Rechnung tragen. Was dies für die Arbeit mit Jugendlichen heißt, demonstrieren abschließend Michal Kümper und Susanna Harms. Die Autorinnen konzentrieren sich dabei auf die Begegnung zwischen jüdischen und nicht-jüdischen Gruppen in der Jugendarbeit und reflektieren die Besonderheiten, die solche noch immer von starken unbewussten Abwehrhaltungen geprägten Begegnungen in Deutschland mit sich bringen. Zu danken haben die Herausgeber Ellen Horn für ihre Unterstützung während des Herstellungsprozesses des Buches sowie Frank Bettinger dafür, dass er es ermöglicht hat, den Band in der Reihe Perspektiven Kritischer Sozialer Arbeit zu veröffentlichen. Literatur Adorno, Theodor W. (1997a): Zur Bekämpfung des Antisemitismus, in: Ders., Gesammelte Schriften: 20.1, Frankfurt/M. Adorno, Theodor W. (1997b): Schuld und Abwehr, in: Ders., Gesammelte Schriften: 9.2, Frankfurt/M.: 121 - 324 Adorno, Theodor W. (1997c): Studies in the Authoritarian Personality, in: Ders., Gesammelte Schriften: 9.1 (Soziologische Schriften II), Frankfurt/M.: 143 - 509 Adorno, Theodor W. (1997d): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: Ders., Gesammelte Schriften: 4, Frankfurt/M. Arendt, Hannah (1986): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (zuerst 1951), München Baier, Lothar (2002): Nachlassende Bremswirkung. „Neuer Antisemitismus“ und alter Wahn, in: http://www.eurozine.com/articles/2002-09-25-baier-de.html Benz, Wolfgang (1995): Einleitung. Alltäglicher Antisemitismus in der Bundesrepublik, in: Ders. (Hg.), Antisemitismus in Deutschland. Zur Aktualität eines Vorurteils, München: 7 - 13 Bergmann, Werner (1990): Der Antisemitismus in der Bundesrepublik Deutschland, in: H. A. Strauss/W. Bergmann/Chr. Hoffmann (Hg.), Der Antisemitismus der Gegenwart, Frankfurt/New York: 151 - 166 Bergmann, Werner (1997): Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur 1949 – 1989, Frankfurt/New York Bergmann, Werner (2004a): Starker Auftakt – schwach im Abgang. Antisemitismusforschung in den Sozialwissenschaften, in: Ders./Mona Körte (Hg.), Antisemitismusforschung in den Wissenschaften, Berlin: 219 - 240 Bergmann, Werner (2004b): Die Verbreitung antisemitischer Einstellungen in der Bundesrepublik Deutschland. Ergebnisse der empirischen Forschung von 1990 bis 2003, in: Bundesministerium des Innern (Hg.), Extremismus in Deutschland. Erscheinungsformen und aktuelle Bestandsaufnahme, Bonn: 25 - 81 Bergmann, Werner (2006): Erscheinungsformen des Antisemitismus in Deutschland heute, in: Fritz Bauer Institut/Jugendbegegnungsstätte Anne Frank (Hg.), Neue Judenfeindschaft? Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus, Frankfurt/New York: 33 - 50
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Teil I Die Gegenwart des Antisemitismus: Theoretische Grundlagen und aktuelle Entwicklungen
Der antisemitische Wahn. Aktuelle Ansätze zur Psychoanalyse einer sozialen Pathologie1 Rolf Pohl
Das antisemitische Ressentiment ist kein bloßes soziales Vorurteil, das als Folge einer defekten Informationsverarbeitung begriffen, mit kognitionspsychologischen Ansätzen der Einstellungsforschung erklärt und durch rationale Aufklärung oder lerntheoretisch orientierte Erziehungs- und Trainingsprogramme überwunden werden kann. Die psychischen Wurzeln des Antisemitismus liegen im unbewussten Affekthaushalt und die Hauptantriebskraft antisemitischer Einstellungen und Gewalttaten ist eine tiefsitzende, bis zum Hass steigerbare Feindseligkeit, die letztlich aus einer spezifischen Umwandlung sozialer und persönlicher Ängste entsteht. Die Konzepte der sozialkognitiven Vorurteilsforschung reichen trotz ihrer neueren Fokussierung auf „implizite Vorurteile“ an diese unbewusst-affektive Tiefendimension nicht heran. Daher ist die Irrationalität der Judenfeindschaft ohne den Versuch einer Vermittlung von individuellem und gesellschaftlichem Unbewussten und damit ohne eine Integration der subjekttheoretischen Perspektive der Psychoanalyse nicht zu verstehen. Zu den wichtigsten Kennzeichen dieser Irrationalität, die alle unterschiedlichen Erscheinungsformen des Antisemitismus miteinander verbinden, gehören ihr wahnhafter (paranoider) Charakter und ein spezifisches Destruktionspotenzial. Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang die in klinischen Erfahrungskontexten gewonnenen Konzepte über dieses Verhältnis von Wahnbildung und Destruktivität, nehmen wir einmal die gängige Bezeichnung des Antisemitismus als „kollektiven Wahn“ oder als „soziale Geisteskrankheit“ ernst? Die folgenden Ausführungen gehen dieser Frage unter Bezugnahme auf einschlägige Ansätze der Psychoanalyse, der analytischen Sozialpsychologie und der Kritischen Theorie in drei Schritten nach: zunächst wird der Einfluss der Projektion und des damit verwandten Abwehrmechanismen der projektiven Identifizierung auf die Entstehung antisemitischer Feindbilder untersucht. Der zweite Abschnitt setzt sich mit den wahrnehmungspsychologischen Grundlagen dieser projektiven 1
Dieser Text ist eine stark gekürzte und überarbeitete Fassung meines Aufsatzes Projektion und Wahn. Adorno und die Sozialpsychologie des Antisemitismus (Pohl 2006).
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Feindbildproduktion auseinander. Dieser doppelte Zugang mündet schließlich im dritten Teil in eine Diskussion der rätselhaften und weitgehend verkannten oder ignorierten normalisierenden Funktion eines kollektiven Wahns. Der Hauptfokus liegt dabei auf einer Analyse signifikanter Verarbeitungs- und Abwehrmechanismen, die für eine kritische Diskussion der Reichweite und Grenze psychoanalytischer Ansätze in der sozialpsychologischen Antisemitismusforschung von zentraler Bedeutung ist. Die Konstruktion des antisemitischen Feindobjekts durch Projektion und projektive Identifizierung Das Wissen, dass der Antisemitismus wie alle übrigen Vorurteils- und Stereotypenbildungen auch, etwas mit Projektionen zu tun hat, gehört inzwischen fast zum Alltagsbewusstsein. Wie aber, so ist genauer zu fragen, funktioniert dieser Projektionsvorgang im Dienste der psychischen Abwehr eigentlich und was wird dabei aus welchen Gründen, auf welchen Wegen und auf wen projiziert? Für Adorno versteht die Psychoanalyse unter Projektion ganz allgemein eine psychische Operation, durch die das Subjekt „eigene Triebregungen, eigenes Unbewusstes und Verdrängtes“ aus sich ausschließt und an ein anderes Subjekt delegiert, oder genauer ausgedrückt, diese Regungen auf einen zum Objekt gemachten Anderen überträgt, um sie anschließend dort zu lokalisieren und nun verzerrt als reale äußere Gefahr (wieder) zu erkennen. Ein Projektionsvorgang ist dann erfolgreich abgeschlossen, wenn es dem Subjekt gelingt, die eigenen (inneren) Quellen dieses Vorgangs vollkommen zu verschleiern und dem, was nunmehr real geworden scheint, volle Aufmerksamkeit und vollen Glauben zu schenken. Das Ziel dieser projektiven Veräußerlichung eines ursprünglich inneren Vorgangs ist es, unliebsame Tendenzen so zu behandeln, als ob sie eine reale Bedrohung darstellen, die man, wenn kein Entfliehen möglich ist, nun energisch bekämpfen kann. Dieser Abwehrmechanismus setzt insbesondere an den negativ sanktionierten Aggressionsneigungen an. „Unter dem Druck des Über-Ichs“, so fassen Horkheimer und Adorno den potentiell gewaltförmigen Gehalt dieses Vorgangs zusammen, „projiziert das Ich die vom Es ausgehenden, durch ihre Stärke ihm selbst gefährlichen Aggressionsgelüste als böse Intentionen in die Außenwelt und erreicht es dadurch, sie als Reaktion auf solches Äußere loszuwerden, sei es in der Phantasie durch Identifikation mit dem angeblichen Bösewicht, sei es in der Wirklichkeit durch angebliche Notwehr“ (Horkheimer/Adorno 1947: 201). Adorno sieht zwei Vorteile, die das Individuum auf diesem Wege erzielt: es wird den „Anforderungen des eigenen Über-Ichs gerecht und findet zugleich Anlässe,
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unter dem Titel legitimer Strafe die eigenen aggressiven Neigungen auszulassen“ (Adorno 1955: 232). Der archaische Abwehrmechanismus der Projektion dient letztlich der Entlastung des Ichs von sozial induzierten, unerträglich gewordenen intrapsychischen Spannungen und den mit ihnen verbundenen Unlusterfahrungen. Dabei geht es für das Subjekt offenkundig immer darum, „etwas nach außen zu werfen, was in sich selbst zu erkennen oder selbst zu sein man sich weigert“ (Laplanche/Pontalis 1972: 406)2. Für eine Analyse des Antisemitismus im Kontext sozialer und psychischer Inklusions- und Exklusionsprozesse (vgl. Stender 2008: 288) ist aber folgende konzeptionelle Vertiefung unerlässlich: Der Projektionsvorgang steht sowohl unter psychiatrischer als auch unter sozialpsychologischer Perspektive in enger Verbindung mit jenem primitiven Abwehrmechanismus, den Melanie Klein als „projektive Identifizierung“ bezeichnet. Nach diesem Konzept werden zerstörerische, als „böse“ empfundene Persönlichkeitsanteile unbewusst isoliert, abgespalten, externalisiert und schließlich geeignet erscheinenden (oder geeignet gemachten) Personen oder Personengruppen nicht einfach nur durch Übertragung angeheftet, sondern gleichsam in deren Inneres eingepflanzt (Klein 1946; Hinshelwood 1993; vgl. auch Frank/Weiß 2007). Dieses Konzept geht nach Bohleber von der Fähigkeit des seelischen Organismus aus, sich „seiner eigenen Erfahrungen zu entledigen und sie nicht als die eigenen anerkennen zu müssen“ (Bohleber 1999: 512). Damit aber unterscheidet sich die projektive Identifizierung gravierend von den klassischen psychischen Abwehrmechanismen, dessen Prototyp die Verdrängung darstellt. „Anders als bei der Verdrängung“, so Bohleber weiter, „verschwindet durch die projektive Identifizierung ein unerträglicher Selbstanteil aus der psychischen Selbstorganisation und wird in einen anderen Menschen hineinprojiziert, dort lokalisiert und kontrolliert“ (ebd.). Horkheimer und Adorno nennen diesen Vorgang falsche Projektion, mit der das „sprungbereite Innen ins Äußere“ versetzt und so noch „das Vertrauteste als Feind“ geprägt wird. „Regungen, die vom Subjekt als dessen eigene nicht durchgelassen werden und ihm doch eigen sind, werden dem Objekt zugeschrieben: dem prospektiven Opfer“ (Horkheimer/Adorno 1947:
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Aber projiziert werden dabei nicht direkt die häufig anthropologisch missverstandenen Aggressionspotentiale des Menschen, sondern die psychischen Niederschläge, so Mentzos in einem Aufsatz über die psychosozialen Funktionen von Feindbildern, von abgespaltenen und negativ besetzten Anteilen „einer ambivalenten Beziehung zu einem Anderen oder zu sich selbst“ (Mentzos 2003: 73), dessen sichtbare Ausdrucksformen den Anschein von Natur, d.h. den Charakter von Pseudonatur angenommen haben. „Die projektive Feindbildung stellt sozusagen eine ‚Entsorgung’ des abgespaltenen ‚bösen’ Anteils, der zuvor ambivalenten Objekt- und Selbstrepräsentanzen dar“ (ebd.).
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196).3 Zum Opfer aber können nur diejenigen gemacht werden, die besonders geeignet zu sein scheinen, mit dem unbewussten Inhalt der Projektionen und damit schließlich mit dem eigenen „Bösen“ des Projizierenden identifiziert zu werden. Im Kern und am Ausgangspunkt dieses Vorgangs steht also eine Identifikation zwischen Subjekt und Objekt, denn, so Freuds entsprechende Formulierung in Die Verneinung: „Das Schlechte, das dem Ich Fremde, das Außenbefindliche, ist ihm zunächst identisch“ (Freud 1925: 13). Erst diese unbewusste Identifizierung des Objekts mit den verpönten Selbstanteilen und den dazugehörenden Affekten (Aggression und Hass) schafft eine Verbindung, die ein zerstörerisches Eindringen in die nun als absolut feindlich empfundenen Objekte als Gegenmaßnahme gegen die ihnen supponierten gefährlichen Tendenzen nicht nur erlaubt, sondern geradezu erzwingt. Denn gerade weil der Projizierende mit dem Objekt seiner Projektion partial und auf Dauer identifiziert bleibt, muss er umso mehr dessen unerbittliche Rache fürchten. Der konstruierte äußere Verfolger wird durch diese projektive Verschiebung zum Träger der eigenen zerstörerischen Hassregungen. Erst durch diese unbewusste Identifizierung kann das Feindobjekt zur Inkarnation des absolut Bösen erhoben werden. Als „wichtigste Folge dieses Vorgangs entstehen,“ so der Psychoanalytiker Otto Kernberg, „gefährliche, vergeltungssüchtige Objekte, gegen die der Projizierende wiederum sich zur Wehr setzen muss (...); er muss das Objekt beherrschen und eher selber angreifen, bevor er (wie er fürchtet) vom Objekt überwältigt und zerstört wird“ (Kernberg 1979: 51 f.).4 Unerlässliche Bedingung für eine solche Selbststilisierung als verfolgter Verfolger mittels projektiver Identifizierung ist über die Interaktion von Einzelnen hinaus die durch soziale Erosionen verstärkte und politisch instrumentalisierbare Möglichkeit einer kollektiven Projektion individueller seelischer Inhalte auf dafür geeignet erscheinende, mittels Ideologien nach dem Muster eines paranoiden Wahns gefundene Feindobjekte.5 Beim Individuum ist der gesamte Pro3
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Ein solcher Projektionsvorgang steht hinter der Überzeugung der Nationalsozialisten, die Juden würden allem Nicht-Jüdischen mit absoluter Feindschaft gegenüber stehen. Der Antisemit muss daher den Juden verfolgen, so die schlichte Pointierung Ernst Simmels, „weil er sich einbildet, vom Juden verfolgt zu werden“ (Simmel 1946: 77). Durch den Abwehrvorgang der projektiven Identifizierung wird dem Gegner unbewusst immer größere Stärke und Macht verliehen und die von ihm vermeintlich ausgehenden Gefahren unter bestimmten realen Umständen immer weiter potenziert, je mehr sich der Glaube an die eigene Größe real als Illusion entpuppt. Die Eskalation dieses irrationalen Kreislaufs von Angst, Hass und Destruktivität stand psychologisch im Zentrum der spätestens ab Ende 1941 stark vom Kriegsverlauf abhängigen Entfaltung und Ausweitung des nationalsozialistischen Programms zur angeblich heilsversprechenden Judenvernichtung: die Juden galten mehr und mehr als der Kriegsfeind schlechthin. Der Mechanismus der projektiven Identifizierung stellt als Prototyp einer destruktiven Beziehungskonstellation ein brauchbares und bislang kaum beachtetes Instrument der sozialpsycholo-
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jektionsvorgang zunächst ein rein innerseelischer Prozess, der die Affekte entlang unbewusster Objekt- und Vorstellungsbilder gleiten lässt. Die dabei zustande kommenden und neu organisierten ökonomischen Besetzungsvorgänge sind folglich nicht als reale Emanationen, als Aussendung seelischer Energie auf Personen der Außenwelt zu verstehen. Der beim Individuum ursprünglich innerpsychische Mechanismus der projektiven Feindbildung ist allerdings in besonderer Weise geeignet, massenpsychologisch ausgeweitet und politisch ausgenutzt zu werden, da auch die kollektive Feindbildkonstruktion in erster Linie das veräußerlichte Resultat psychisch wirksamer ideologischer Konstruktionen darstellt. Auf den Ausgangspunkt der nationalsozialistischen Judenfeindschaft bezogen, bedeutet das für Horkheimer und Adorno vor allem eines: auch der „faschistische Antisemitismus muss sein Objekt gewissermaßen erst erfinden“ (Horkheimer/Adorno 1947: 216).6 Aus diesem Vorgang der zunächst innerpsychischen Feindbildung ergeben sich drei sozialpsychologisch relevante Schlussfolgerungen: 1. Erst die anschließende (Wieder-)Findung eines äußeren, vermeintlich gefährlichen Feindes, an den sich das innere Bild mitsamt seiner begleitenden Affekte (Angst, Hass, Wut) heften kann, lässt die Projektion „real“ werden und ermöglicht jene gewaltvorbereitende Affektumwandlung im Dienste der ursprünglich inneren Gefahrenabwehr die, so Jan Philipp Reemtsma, in letzter Konsequenz darauf hinausläuft, Angst- in Grausamkeitspotentiale zu verwandeln, „sobald die Möglichkeit besteht, der befürchteten Zerstörung durch Zerstörung des Angsterregenden zuvorzukommen“ (Reemtsma 1992: 255); 2. trotz einer momentan erfolgreichen Entlastung des Seelenhaushalts ist der Projektionsprozess niemals vollständig zum Abschluss zu bringen, denn selbst eine Vernichtung des „passenden“, auf dem Wege der Veräußerlichung gefundenen Feind-Objekts kann die innerpsychischen Quellen dieses Vorgangs und die von ihnen kontinuierlich ausgehenden (angst-
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gischen Antisemitismusforschung dar. Gleichwohl ist die hier vorgenommene Verwendung der Begriffe Projektion und Identifizierung noch unscharf und uneinheitlich. So macht es einen Unterschied, ob von der Projektion eigener „Selbstanteile“ (Klein/Bohleber) oder der Anteile von „Selbst- und Objektrepräsentanzen“ (Mentzos), ob von der Projektion aggressiver Triebregungen (Adorno/Simmel) bis hin zur „Begierde zum Töten“ (Fenichel) oder von der Projektion von Verdrängtem die Rede ist. Ähnlich verhält es sich mit dem Identifikationsmechanismus: je nach Perspektive heißt es entweder, das projizierende Subjekt identifiziere sich in toto mit dem Objekt der Projektion und mal ist von der Identifikation der ausgewählten Feindobjekte mit den unbewussten Inhalten der eigenen Projektion und schließlich mit den eigenen „bösen“ Regungen die Rede. Hier besteht mit Sicherheit noch weiterer Klärungsbedarf (vgl. Laplanche/Pontalis 1972: 399-408 u. 219-228). Eine ähnliche Formulierung findet sich bei Jean-Paul Sartre: „Nicht die Erfahrung schafft den Begriff des Juden, sondern das Vorurteil fälscht die Erfahrung. Wenn es keinen Juden gäbe, der Antisemit würde ihn erfinden“ (Sartre 1966: 111; vgl. auch Lorenzer 1984: 121).
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auslösenden) Anreize für das Seelenleben nicht beseitigen.7 Vielleicht liegt hier eine der wichtigsten psychischen Ursachen für den unerbittlichen Hass und den fanatischen Ausrottungseifer, mit dem der vermeintliche Verfolger selbst verfolgt wird;8 3. im Zentrum des gesamten Ablaufs der projektiven Feindbildung steht eine doppelte Wahrnehmung: eine anfänglich innere, vom Bewusstsein nicht zugelassene und verarbeitete Wahrnehmung wird gleichsam in eine äußere, zerstörungsbereiten Hass entbindende Wahrnehmung transformiert. „Eine innere Wahrnehmung wird unterdrückt und zum Ersatz für sie kommt ihr Inhalt, nachdem er eine gewisse Entstellung erfahren hat, als Wahrnehmung von außen zum Bewusstsein“ (Freud 1911: 302 f.). Eine solche Umwandlung kann bis zum (scheinbar) vollständigen Austausch von Innen- und Außenwelt führen und zählt dann zu den Hauptkennzeichen einer Psychose und insbesondere, wenn die Abwehr gegen konstruierte Bedrohungen im Mittelpunkt steht, zu den paranoiden Wahnkrankheiten. Sigmund Freud hat die Projektion daher ursprünglich als typischen Abwehrvorgang der Paranoia behandelt, sieht ihre Wirkung aber auch in verschiedenen kulturellen Erscheinungen wie dem Aberglauben, der Mythologie oder dem Animismus und siedelt ihre Wurzeln schließlich im „normalen“ Seelenleben und seinen lebensgeschichtlich frühesten Äußerungsformen an. Adorno vertritt in dieser Frage der Zuordnung der Projektion im Spannungsfeld zwischen Normalität und Pathologie einen ganz ähnlichen Standpunkt: „Der Projektionsmechanismus liegt insbesondere bei der Paranoia, beim Verfolgungswahn vor. Die Neigung zu projizieren geht aber weit über den eigentlichen psychotischen Bereich hinaus und findet sich in allen möglichen Graden bis ins normale alltägliche Verhalten“ (Adorno 1955: 232). Bei der Projektion handelt es sich somit um einen spezifischen Wahrnehmungstypus im Umgang mit sich und der Welt, mit dem Eigenen und dem Fremden, ein Typus, dem nach Auffassung Freuds „ein regelmäßiger Anteil an unserer Einstellung zur Außenwelt zugewiesen ist“. Die menschliche Neigung, 7
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Für Horkheimer und Adorno hasst eine antisemitische Gefolgschaft von Erwachsenen, „denen der Ruf nach Judenblut zur zweiten Natur geworden ist“, die Juden ohne Ende. Diese Gefolgschaft „will keine Entspannung dulden, weil sie keine Erfüllung kennt“ (Horkheimer/Adorno 1947: 180). In dieser unbewussten Wut über die reale Aussichtslosigkeit einer radikalen Lösung der „Judenfrage“ liegt wohl eine der wichtigsten innerseelischen Ursachen für die stete Wiederholungsgefahr antisemitischer Ausbrüche des Volkszorns in jeweils neuem historischen Gewande. So hat Adolf Eichmann, der als Deportationsspezialist im Reichssicherheitshauptamt nicht nur aus bürokratischem Eifer und Kadavergehorsam, sondern auch aus fanatischem Antisemitismus zum maßgeblichen Organisator der nationalsozialistischen Ausrottungspolitik wurde, noch Ende der 1950er Jahre seine große Enttäuschung darüber zum Ausdruck gebracht, seine Aufgabe für das deutsche Volk nicht restlos vollendet zu haben: „Ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, hätten wir von den 10,3 Millionen Juden, (...) 10,3 Millionen Juden getötet, dann wäre ich befriedigt und würde sagen, gut, wir haben einen Feind vernichtet“ (zit. nach Wojak 2001: 63).
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die „Ursachen gewisser Sinnesempfindungen nicht (...) in uns selbst zu suchen, sondern sie nach außen zu verlegen“ (Freud 1911: 303), ist für ihn ein normaler seelischer Vorgang. „In gewissem Sinn“, so heißt es ganz ähnlich in der Dialektik der Aufklärung, „ist alles Wahrnehmen Projizieren“, wobei Horkheimer und Adorno hier eine (normale) bewusste, durch Reflexion überprüfbare, im günstigsten Fall sich (mimetisch) der Umwelt und dem Anderen ähnlich machende Projektion von einer pathischen, einer falschen und unkorrigierbaren abgrenzen, die analog einer paranoiden Wahnerkrankung auf ein gestörtes Verhältnis zwischen Subjekt und Außenwelt verweist. Diese Störung äußert sich vor allem „in der mangelnden Unterscheidung des Subjekts zwischen dem eigenen und fremden Anteil am projizierten Material“ (Horkheimer/Adorno 1947: 196). Die pathische Projektion ist folglich starr, unerbittlich und neigt zu jenem NichtaufhörenKönnen, das für Adorno nicht nur bloßes Meinen, sondern auch die latente Bereitschaft zum Losschlagen kennzeichnet: Dieses Potenzial ähnelt einer Wahnbildung, kann aber im kollektiven Maßstab erst dann manifest werden und ausbrechen, wenn es politisch gelingt, „das im Individuum vergrabene subjektive Unheil mit dem sichtbaren objektiven“ (Adorno 1951: 71) zu einer explosiven Mischung zu integrieren. – Wie aber funktioniert beim Antisemitismus, dem Prototyp einer kollektiven Wahnbildung, der Sprung von der innerseelischen ErFindung zur anschließenden realen Wieder-Findung des Feindobjekts mittels projektiver Wahrnehmung? Wie kommt der angstauslösende Eindruck der Fremdheit der Juden zustande und welche Rolle spielt hier der verbreitete Aberglaube an ihre „geheimnisvolle Andersheit“ (Adorno)? Über die wahrnehmungspsychologischen Grundlagen des Antisemitismus In Mein Kampf beschreibt Hitler seine Erweckung vom „schwächlichen Weltbürger“ zum „fanatischen Antisemiten“ während seiner sogenannten Wiener Lehr- und Leidensjahre von 1908-1913. Diese Erweckungsgeschichte ist zweifellos aus propagandistischen Gründen konstruiert, aber aufgrund der verwendeten Stilmittel der Erzählung dennoch aufschlussreich für eine Diskussion der wahrnehmungspsychologischen Grundlagen und Mechanismen der Judenfeindschaft. Hitler schildert hier ein erstes Schlüsselerlebnis, als er (angeblich) beginnt, mit offenen Augen durch Wien zu wandeln: „Als ich einmal so durch die innere Stadt strich, stieß ich plötzlich auf eine Erscheinung in langem Kaftan mit schwarzen Locken. Ist dies auch ein Jude? War mein erster Gedanke. So sahen sie freilich in Linz nicht aus. Ich beobachtete den Mann verstohlen und vorsichtig, allein je länger ich in dieses fremde Gesicht starrte und forschend Zug um Zug prüfte, um so mehr wandelte sich in meinem Gehirn die erste Frage zu einer
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anderen Frage: Ist dies auch ein Deutscher?“ (Hitler 1925/1927: 59). Diese Begegnung wird von Hitler an den Beginn seiner angeblich größten inneren Umwälzung gestellt. Sein Befremden erscheint als direktes Ergebnis seiner Wahrnehmung, in Wirklichkeit aber handelt es sich um den Versuch, die Kette von Ursache und Wirkung zu verkehren und einen für die Leser nachspürbaren Weg einer befreienden Erkenntnis zu konstruieren, bei dem der Einfluss seiner rassistischen Einstellung und der in ihr verdichteten Mischung aus projektionsbereitem Affekt und demagogischem Kalkül verschleiert werden soll (vgl. Hamann 2001). Die Lektüre einschlägiger „Aufklärungs“bücher über die „Judenfrage“ im Anschluss an diese erste irritierende Wahrnehmung scheint Hitler endgültig die Augen zu öffnen und er verliert jeglichen Zweifel daran, dass es sich bei den Juden nicht um „Deutsche mit einer besonderen Konfession“, sondern um „ein Volk für sich“ handeln musste. Auf einmal, nachdem er nun beginnt, den Fokus seiner Aufmerksamkeit auf die Juden und ihr äußeres Erscheinungsbild zu lenken, sieht er Wien in einem völlig anderen Licht: „Wo immer ich ging, sah ich nun Juden, und je mehr ich sah, um so schärfer sonderten sie sich für das Auge von den anderen Menschen ab. Besonders die innere Stadt und die Bezirke nördlich des Donaukanals wimmelten von einem Volke, das schon äußerlich eine Ähnlichkeit mit dem deutschen nicht mehr besaß“ (ebd.: 60). Erst dieser „neue“ Blick öffnete für Hitler angeblich das Tor zur sicheren Erkenntnis des „wahren“ Wesens der Juden und ihrer Verantwortung an nahezu allen Übeln, von denen nicht nur das deutsche Volk und die arische Rasse, sondern die gesamte Menschheit heimgesucht werden. Als „Schmarotzer“ und „Parasiten“ würden sie ihre Wirtsvölker durch ihren intellektuellen Einfluss, durch ihr Kapital und die von ihnen dominierte Börse, durch Demokratie und Pazifismus, durch die moderne Kunst und selbstverständlich auch durch die Pornographie aussaugen und damit versuchen, die rassischen Grundlagen vor allem des unterjochten deutschen Volkes für immer zu verderben. Selbst den „Neger“ hätten sie zum Zwecke der Bastardisierung der weißen Rasse an den Rhein gebracht und ihm „das deutsche Weib“ hingeworfen, während der „schwarzhaarige Judenjunge (...) stundenlang, satanische Freude auf seinem Gesicht, auf das ahnungslose Mädchen [lauert], das er mit seinem Blute schändet“ usw. (ebd.: 357). Am Endpunkt dieser paranoiden, gleichzeitig antisemitischen und antifeministischen Erweckungsgeschichte taucht schließlich jene Überzeugung auf, die das Bild vom nationalen und völkischen Notstand perfekt abzurunden schien: das Konstrukt von der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung. „Indem ich den Juden als Führer der Sozialdemokratie erkannte, begann es mir wie Schuppen von den Augen zu fallen. Ein langer innerer Seelenkampf fand damit seinen Abschluss“ (ebd.: 64). – Jede Form des Widerstands gegen die weltweite Verschwörung von Juden und die mit ihnen gleichermaßen identifizierten Sozialdemokraten, Kom-
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munisten und Bolschewisten gelte als Notwehr, da das letzte Ziel des Marxismus die endgültige „Vernichtung aller nicht-jüdischen Nationalstaaten“ sei. Der Literaturwissenschaftler Raimar Zons bringt diese propagandistisch inszenierte Abfolge von Wahrnehmung und Erkenntnis in Hitlers wundersamer Erleuchtungsgeschichte mit der ein wenig in Vergessenheit geratenen Psychologie der Eidetik in Verbindung. „Was Hitler diesem wenig erbaulich geschriebenen Erweckungsbericht zufolge zufällt, ist nichts weniger als der eidetische Blick (...). Der Einschlag des totaliter aliter des kaftantragenden Juden macht ihn wahrhaft sehend, sehend nämlich hinter die Masken der satanischen Mimen, hinter den betrügerischen Schein einer bis zur Ununterscheidbarkeit reichenden falschen Ähnlichkeit geradewegs bis zu ihrem Sein, ihrem Blut“ (Zons 2003: 191). Der eidetische Blick verarbeitet Wahrgenommenes ähnlich dem photographischen Gedächtnis und erzeugt subjektive Anschauungsbilder, deren Produzenten in der Lage sind, sich Objekte und Situationen derart bildlich-sinnlich vorzustellen, als ob sie realen Wahrnehmungscharakter besitzen. Die Eidese zielt auf eine primitive Einheit von Bild und Begriff, in der gleichsam Wahrnehmen und Denken wie in den frühkindlichen Mustern der Verarbeitung von innerer und äußerer Realität vor dem Erwerb der Schriftsprache zusammenfallen. In der eidetischen Wahrnehmung und ihrer Reproduktion steht die Gestalt, nicht die Analyse im Vordergrund, weshalb sie eher als eine emotions- und affektbetonte Vorstufe rationalen Denkens aufzufassen ist. Die durch eidetische Fähigkeiten gewonnenen Anschauungsbilder liegen phänomenologisch zwischen getreuen Abbildern der Realität und reinen Vorstellungen und folgen damit der Logik hartnäckig wiederkehrender Illusionen. Die Resultate dieser durch subjektive Umdeutungen verfälschten und verfälschenden Wahrnehmungsprozesse sind resistent gegenüber neuen Erfahrungen und lassen sich kaum anders, als in der einmal erworbenen Weise verarbeiten und in neue stereotype Muster umwandeln. Zu den wichtigsten Merkmalen des eidetischen Sehens gehört die Gleichförmigkeit der wahrgenommenen Inhalte, die als vorgängig definierte Anschauungsbilder nach außen projiziert und in der Wirklichkeit lokalisiert werden. Das weist auf einen allgemein gültigen Mechanismus hin, der an der Vorurteilsbildung beteiligt ist: „Wir definieren, ehe wir sehen, und wir sehen nicht, ehe wir definieren“ (Brückner 1966: 72).9 Mit dieser sinnlichen Veranschaulichung von Innen heraus, der Beeinflussung durch hohe Emotions- und Affektanteile sowie der Unkorrigierbarkeit der 9
Es ist kein Zufall, dass im Nationalsozialismus die auf den wichtigsten Vertreter der Eidetik, den Marburger NS-Psychologen Erich Rudolf Jaensch zurückgehende Integrationstypologie Ende der 1930er Jahre zur stigmatisierenden Kennzeichnung rassischer Merkmale von Juden und anderen nicht-arischen Menschentypen herangezogen wurde. Der Jude als „Gegentypus“ repräsentierte für Jaensch all das, was die nationalsozialistische Rassenideologie überwinden wollte.
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einmal gewonnenen Bilder und der daran entzündeten Urteile bestätigt auch das bildhafte Denken der Eidetik eine deutliche Nähe zum Wahn, und zwar auch hier, in Hitlers inszeniertem Wechselspiel von Wahrnehmung und Erkenntnis, zum paranoiden Verschwörungswahn.10 Hitlers (scheinbar) eidetischer Blick und seine urplötzliche Erkenntnis des wahren Wesens hinter dem perzeptiv gewonnenen Bild der Juden eröffnen eine anscheinend völlig neue Sicht auf die Gegenwart, die Vergangenheit und die Zukunft. „Kraft der neu gewonnenen Einsicht kann Hitler nämlich schlagartig die gesamte Weltgeschichte auf ihr eigentliches Geschehen hin durchblicken und findet so Rassenkampf statt Klassenkampf, jüdisch-plutokratische Verschwörung statt Frieden und Völkerbund, Schacher und Geldmacherei statt ritterlichem Kampf in den grausigen Kriegsbildern des Ersten Weltkriegs.“ (Zons 2003: 191) – Wenn das alle genauso sehen würden, so die unbewusste Botschaft von Hitlers Erleuchtungsbericht, gelangten auch sie zu einer tieferen Wahrheit, die jeglicher Projektion zum Zwecke der Selbstreinigung Tür und Tor öffnet und von der Auseinandersetzung mit den eigenen Unzulänglichkeiten und denen der gesellschaftlichen Einrichtungen auf scheinbar wundersame Weise befreit. Hier handelt es sich nicht allein um die geschickte Propagierung einer Herrenrasse-Ideologie, in der sich alle bisher aufgeführten Elemente eines paranoiden Wahns (innere Angstabwehr, projektive Feindbildkonstruktion, unbewusste Identifizierung des Feindbildes mit den eigenen negativen Vorstellungen und Ängsten, nach außen gerichteter, zerstörungsbereiter Hass usw.) im widersprüchlichen Bild des Juden verdichten. Hitlers, für die gesamte NS-Propaganda stilbildendes Operieren mit der scheinbar objektiven Übereinstimmung von Urteil und Wahrnehmung appelliert an jenes offenbar nur ungenügend überwundene Verarbeitungsmuster innerer und äußerer Realitätserfahrungen, das Sigmund Freud „Wahrnehmungsidentität“ nennt (Freud 1900: 571). Dabei geht es um die regressive Wiederauffindung einer Wahrnehmung, die mit dem unbewusst erinnerten Bild jenes Objekts identisch ist, das ursprünglich mit elementaren Befriedigungserlebnissen verknüpft gewesen war. Zu den Hauptmitteln dieses Regressionsvorgangs aber gehört die Visualisierung, die halluzinatorische Umwandlung von (abgewehrten) Gedanken in Bilder. Im Erleben der Realität nach diesem Muster prallen Wahrnehmung der Außenwelt, Erinnerung und unbewusste Phantasietätigkeit, in die wiederum bestimmte Affekte und die Geschichte ihrer Ab10 Selbstverständlich geht es hier nicht darum, den verharmlosenden Interpretationen Hitlers als Geisteskranken eine weitere Variante hinzuzufügen, sondern um eine Analyse pathologischer, zum paranoiden Wahn gehörender Mechanismen und ihres Einflusses auf die Konstruktion einer als normal geltenden Wirklichkeit. Die klinische Annahme einer Pathologie Hitlers mag, so schreibt Adorno 1944, am Ende sogar zutreffen, „aber deren Mißverhältnis zu dem objektiven Unheil, das im Namen des Paranoikers über die Welt geht, macht die Diagnose lächerlich (...)“ (Adorno 1951: 66).
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wehr eingelassen sind, aufeinander (vgl. Arlow 1969: 882).11 Im Kern des antisemitischen Verschwörungswahns aber steht in erster Linie der aus Angst umgewandelte Affekt des Hasses, der auf einen einzigen Wunsch zurückgeführt werden kann: auf den Wunsch, alles Störende, selbst das ursprünglich Ersehnte, aber nie Erreichte aus dem Weg zu räumen. Hassgefühle können nach dieser Logik letztlich nur durch die Zerstörung des als Bedrohung konstruierten, angstauslösenden Objekts befriedigt werden. Diese objektgerichtete Destruktivität steht am Ende des Prozesses der pathischen Projektion und zeigt erneut die Ähnlichkeit mit dem Mechanismus der projektiven Identifizierung, denn in letzter Konsequenz, so Horkheimer und Adorno, führt „auch der Hass (...) zur Vereinigung mit dem Objekt“, nämlich zu einer Vereinigung im Akt der Zerstörung selbst (Horkheimer/Adorno 1947: 209). Eine der wichtigsten Voraussetzungen dieses destruktiven Prozesses aber ist, dass die Realität der durch unbewusste Phantasien und Affekte verfälschten Wahrnehmung entsprechen bzw. entsprechend gemacht werden muss. Die auf Verführung und Ansteckung zielende Wirkung von Hitlers Erweckungsgeschichte für das „breite Volk“, dessen Aufnahmefähigkeit nach seiner Überzeugung „nun einmal eine begrenzte“ sei, besteht in der Suggestion, wer so wahrnehme wie er, müsse zwangsläufig zur gleichen Erkenntnis kommen, und wer so denke und urteile wie er, gelange automatisch zur gleichen, sich immer wieder bestätigenden Wahrnehmung. – Der erste grundlegende Schritt zur wehrhaften Volksgemeinschaft lag in dem Versuch einer kollektiven Angleichung der Wahrnehmungsorganisation nach dem Muster einer manichäistischen Aufteilung der Welt in gut und böse, in Freund und Feind. Zur Idee und zur Konstitution der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft gehört die Ausmerzung von Differenz, die nicht an sozialen Gegensätzen und Ungleichheiten, sondern am Bild des Juden als Repräsentant des „Anderen“ schlechthin festgemacht wurde. Aus diesem Grund ist die politische Wahrnehmungssteuerung so ungemein wichtig gewesen, denn: „Der Krieg gegen das menschliche Leben beginnt mit der Bemächtigung der Wahrnehmung“ (Darmstädter 1995: 115).12 11 Der Psychoanalytiker Arlow versteht die in den Symptomen seiner Patienten verdichtete und verschobene Angst „nicht im Sinne der realen Situation, sondern als eine entstellte Wahrnehmung der Realität, dazu angetan, die Inhalte einer unbewussten Phantasie aufzunehmen“ (ebd.: 886). 12 Hier zeigt sich, dass die Bezeichnung „Xenophobie“ für eine konzeptionelle Erfassung des Antisemitismus nicht ausreicht, denn die Judenfeindschaft geht über die Betonung und die Abwehr des Fremden im Rahmen eines binären Schemas von „Ingroup“ und „Outgroup“ hinaus. Die Juden fallen nach dieser Sicht aus den gängigen Freund-Feind-Schemata heraus. In seiner unheimlichen (und daher bösartigen) Fremdheit repräsentiert „der“ Jude als „Rassenantagonist“ das Gegenmodell zum staatenbildenden völkischen Prinzip schlechthin (vgl. Holz 2001, 2005: 30 ff.).
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Wahrnehmungspsychologisch gesehen ist damit aber die Möglichkeit, die Juden nicht nur als eine Minorität, sondern als Gegenrasse, als negatives Prinzip als solches zu stigmatisieren und zu verfolgen, zwangsläufig an die Definition von Merkmalen gebunden, an denen man die Juden unverwechselbar erkennen soll. Die Wahrnehmung der Juden soll mit dem Denken über die Juden und schließlich dem Abscheu ihnen gegenüber zur Deckung gebracht werden. Und dennoch, selbst eine unauslöschliche Verknüpfung von sinnlichen Anschauungsbildern mit negativen Affekten wie Angst, Abscheu, Hass und Ekel unter rassistischem Vorzeichen scheint noch keine Garantie für das erwünschte Wahrnehmungsbild und seine Bestätigung zu bieten. So hat etwa Goebbels 1938 sein Plädoyer, Juden das Betreten deutscher Wälder und wegen ihrer „aufreizenden“ Angewohnheit, sich „stänkernd“ neben deutsche Mütter zu setzen, die Benutzung deutscher Parkbänke zu verbieten, mit der Unmöglichkeit begründet, Juden immer und überall eindeutig als Juden zu erkennen, denn, so seine irritierende Feststellung: „Es gibt Juden, die gar nicht so jüdisch aussehen“ (zit. n. Hochheimer 1965: 88). Auch und gerade bei Kindern, die in besonderer Weise für die Externalisierung, Projektion und Wiedererkennung des angeblich „Bösen“ in der Außenwelt zugänglich sind, „muss“ pädagogisch in die Wahrnehmungsorganisation eingegriffen werden, soll der erkennende Blick auf die Juden geschärft werden. So behandelt der Giftpilz, ein in hohen Auflagen erschienenes NS-Aufklärungsbuch für Kinder aus dem Stürmer-Verlag kaum mehr die bereits als entschieden geltende Frage, was ein Jude, der als Einzelner eine ganze Familie, ein Dorf oder gar ein ganzes Volk vernichten könne, eigentlich ist, sondern hauptsächlich die, an welchen äußeren Merkmalen man ihn erkennen könne, denn: „Wie die Giftpilze oft schwer von den guten Pilzen zu unterscheiden sind, so ist es oft sehr schwer, die Juden als Gauner und Verbrecher zu erkennen“. Aber auch die pädagogische Unterweisung in „gut aufpassen“ und „genau hinschauen“ erzeugt noch keine verlässliche Sicherheit, Juden von Nicht-Juden eindeutig unterscheiden zu können, da nicht jeder Jude über die typischen äußeren Kennzeichen seiner Rasse (sogenannte „Sechsernase“, „wulstige Lippen“, „stechender Blick“, „krumme, kurze Beine“, „dunkle Negerhaare“, „scharfer Geruch“ usw.) verfüge und, so heißt es schließlich ähnlich warnend wie bei Goebbels: „Es kommt vor, dass mancher Jude auf den ersten Blick überhaupt nicht als Jude zu erkennen ist. Mitunter gibt es sogar“, und das scheint besonders hinterhältig zu sein, „Juden mit blonden Haaren“ (Himer 1938: 5 ff.). 13 13 Ein anderes Beispiel für die Unsicherheit im Gebrauch klarer rassebezogener Erkennungsmerkmale findet sich in einem von Raul Hilberg geschilderten Fall, bei dem Himmler während einer Massenexekution versuchte, einen arisch aussehenden blonden, blauäugigen Jungen unter den Todgeweihten zu retten, bevor auf dessen jüdische Abstammung hingewiesen wurde und er resigniert zugeben „musste“: „Dann kann ich ihnen nicht helfen.“ Vgl. auch die Hermann Göring
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Erst das zwischen 1938 und 1942 eingeführte umfassende Kennzeichnungssystem für alle Juden, die Markierung von Personaldokumenten, Lebensmittelkarten und Wohnungen, die Pflicht zur einheitlichen Zweit-Namensgebung („Israel“ und „Sara“), die Einführung des obligatorischen gelben Judensterns und schließlich die eintätowierten Häftlingsnummern schien dieses äußere Identifizierungsproblem „lösen“ zu können. Mit diesem bürokratischen Schritt einer quasi negativen Uniformierung der Juden wird gleichzeitig psychologisch eine der letzten Voraussetzungen ihrer Ausrottung geschaffen: die endgültige Pervertierung des mimetischen Blicks durch die reale und symbolische Dehumanisierung der Juden. „Zuerst verstanden wir nicht, warum man uns nummerierte,“ so heißt es im Bericht von Ruth Elias, einer Überlebenden von Auschwitz und Theresienstadt, „doch langsam fingen wir zu verstehen an. Wir sind keine Menschen mehr. Wie Vieh wurden wir in Waggons verladen und nach Auschwitz gebracht, wie Vieh wurden wir jetzt gezeichnet. Die Nummer bedeutet Entpersonifizierung“ (Elias 2001: 136).14 Die mit den antisemitischen Stereotypen von niederen Tieren oder auszurottenden Krankheitserregern bereits vorgenommene Entmenschlichung des jüdischen Feindobjekts wird mit diesem steuernden Eingriff in die konfektionierte Wahrnehmungsorganisation gleichsam vollendet. Für Adorno ist „der gesellschaftliche Schematismus der Wahrnehmung bei den Antisemiten so geartet, daß sie die Juden überhaupt nicht als Menschen sehen.“ Eine derartige Dehumanisierung aber, so Adorno weiter, „enthält bereits den Schlüssel zum Pogrom“, denn die „Entrüstung über begangene Grausamkeiten wird um so geringer, je unähnlicher die Betroffenen den normalen Lesern sind“ (Adorno 1951: 133).15 – Wie aber, so ist an dieser Stelle zu fragen, hängen Wahrnehmung und Affekt zugeschriebene Phrase „Wer Jude ist, bestimme ich“. Wolfgang Benz hat in diesem Zusammenhang auf die Mühen der Nationalsozialisten hingewiesen, die Juden nach den Nürnberger Rassegesetzen von 1935 überhaupt als Juden erkennbar zu definieren (Benz 2004: 16). Zu den Versuchen einer rechtlichen Regelung dieses Definitionsproblems vgl. Hilberg 1997: 69 ff.. 14 Ähnlich schreibt auch Primo Levi über die symbolische Bedeutung der Tätowierungen in Auschwitz: „Dies ist ein unauslöschliches Zeichen, hier kommt ihr nie wieder heraus; dies ist das Brandmal, das man den Sklaven aufdrückt und den Tieren, die geschlachtet werden; zu solchen seid auch ihr geworden“ (Levi 1995: 123; vgl. auch Hilberg 1997: 182 ff.). 15 „Der Mord ist dann der Versuch, den Wahnsinn solcher falschen Wahrnehmung durch größeren Wahnsinn immer wieder in Vernunft zu verstellen: was nicht als Mensch gesehen wurde und doch Mensch ist, wird zum Ding gemacht, damit es durch keine Regung den manischen Blick mehr widerlegen kann“ (ebd., S. 134). Zu den wahrnehmungspsychologischen Mechanismen und Folgen dieser Entmenschlichungsstrategien gehören auch das selektive Wahrnehmen, das Ausblenden, das Wegschauen und andere Formen des (partiellen) Aussetzens der Realitätsprüfungsfunktion. Diese Wahrnehmungsstörungen haben als Teil des gesamten Abwehrmechanismus der Derealisierung nach 1945 ihre unmittelbare Fortsetzung in den bekannten Formen des Nicht-Wahrhabenwollens, des Ver- und Beschweigens und des Verleugnens im Umgang mit der eigenen (individuellen und kollektiven) Vergangenheit gefunden (vgl. Dahmer 1990; Lohl 2002, 2008).
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als innerseelische Auslöser der Gewaltbereitschaft von Antisemiten miteinander zusammen? Die psychischen Wurzeln der mörderischen Feindbildkonstruktion durch projektive Wahrnehmungsverzerrung liegen, wie mehrfach betont, in einem objektgerichteten und in zerstörungsbereiten Hass umgewandelten Angstpotential. Wovor aber hat der Antisemit eigentlich Angst und ist diese Angst nicht doch ein Stück weit Realangst und damit der Niederschlag einer echten Wahrnehmung im seelischen Affekthaushalt? Für Jean-Paul Sartre steht der Affekt der Angst als Vorstufe des Hasses im Zentrum seiner phänomenologischen Untersuchung des Antisemitismus. Der Antisemit ist auch für ihn „ein Mensch, der Angst hat“, aber er hat gerade keine Angst vor den Juden, sondern vielmehr Angst „vor sich selbst, vor seiner Willensfreiheit, seinen Instinkten, seiner Verantwortung, vor der Einsamkeit und vor jedweder Veränderung, vor der Welt und den Menschen, vor allem – außer vor den Juden“ (Sartre 1966: 134). Im Grunde argumentiert Sartre hier ganz ähnlich wie Horkheimer und Adorno, wenn er als Hauptmotiv des projektiven Judenhasses die Verweigerung einer Auseinandersetzung mit den Zumutungen der gesellschaftlichen Realität anführt. Wenn es eine Realangst gibt, dann ist sie hierin verwurzelt: „Der Antisemit fürchtet sich vor der Erkenntnis, dass die Welt schlecht sei, denn in diesem Falle müsste man erfinden, verbessern, und der Mensch wäre wieder der Herr seines Schicksals mit einer beängstigenden, unaufhörlichen Verantwortung. Darum“, so Sartres Fassung des antijüdischen Drahtzieher-Modells, „sieht er im Juden das Grundübel der Welt“ (ebd.: 127).16 An die Stelle des Aushandelns sozialer Interessenkonflikte tritt die Beseitigung des Schadens, den angeblich ein böser Geist der Gesellschaft zufügt, durch die Vernichtung des Bösen und seiner Repräsentanten. „Dieser Mechanismus“, so Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung, „bedarf der Juden“ als einer aus historischen Gründen in besonderer Weise prädestinierten absoluten Projektionsfläche. Das Ziel der politisch-demagogischen Steuerung der individuellen Wahrnehmungsbereitschaft und ihre Überführung in eine kollektive ist somit die Umwandlung der (möglichen) Erkenntnis der gesellschaftlichen Vermitteltheit von Angst in ein reflexhaftes Denken und Handeln, das scheinbar physikalischen Gesetzen gehorcht, hat sich der Hass erst einmal fest an das Bild der Juden gebunden. Für Horkheimer und Adorno folgt daraus: Die 16 „Demnach ist der Antisemitismus ursprünglich ein Manichäismus. Er erklärt den Lauf der Welt durch den Kampf des Guten mit dem Bösen. Zwischen diesen beiden ist kein Ausgleich möglich. Der eine muß siegen, der andere untergehen“ (ebd.). Dieser Manichäismus aber verdeckt die doppelte Funktion des Antisemitismus, mit dem aus Klassenkampf ein Rassenkampf gegen das absolut Böse in der Welt gemacht wird. Er fungiert als „Sicherheitsventil für die besitzenden Klassen, die ihn ermutigen und so den gefährlichen Hass gegen ein Regime in einen unschädlichen Hass gegen einzelne verwandeln“ und er lenkt „die revolutionären Strömungen von der Zerstörung der Einrichtungen auf die Vernichtung gewisser Menschen ab“ (ebd., S. 129).
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„künstlich gesteigerte Sichtbarkeit“ der Juden „wirkt auf den legitimen Sohn der gentilen Zivilisation gleichsam als magnetisches Feld“ (Horkheimer/Adorno 1947: 194). Schon an der Gestalt des Juden und ihrer bloßen Wahrnehmung sollen sich automatisch Abscheu, Hass und destruktive Impulse entzünden. Wie aber lassen sich dieses tiefsitzende Hasspotential und die bis zur Vernichtungsbereitschaft gehende Grausamkeit erklären, die die kollektiven Aggressionsausbrüche regelmäßig vorbereiten und begleiten? Freud weist mit der unbewussten Spaltung im Affekthaushalt zwischen der Liebe zur Eigengruppe und der Aggression gegen die Fremdgruppe auf eine der tieferen Ursachen dieser fremdenfeindlichen Gewaltbereitschaft und damit auf eine politisch steuerbare radikale Entmischung der libidinösen und aggressiven Triebäußerungen hin. „Es ist immer möglich, eine größere Menge von Menschen in Liebe aneinander zu binden, wenn nur andere für die Äußerung der Aggression übrig bleiben“ (Freud 1930: 473). Aber zur Erklärung der menschlichen Grausamkeitsbereitschaft reicht psychologisch, so muss hier kritisch angemerkt werden, weder die Annahme eines quantitativen Stauungs- und Entladungsmodells menschlicher Aggressionen, noch Freuds anthropologisierende Herleitung der Mordlust aus der phylogenetischen Abstammung der Menschen von einer unendlichen Generationengeschichte von Mördern aus (Freud 1915b; vgl. Pohl 2004). In den antisemitischen Exzessen von Hass und Zerstörung geht es um mehr, als bloß um eine bequeme Abfuhr überschüssiger Aggressionen Einzelner oder ganzer Gemeinschaften bei günstigen Gelegenheiten. Der aus sozialer Angst umgewandelte kollektive Hass ist psychologisch auf ein „Objekt“, das erst zum Fremden, dann zum Feind und schließlich zum Opfer gemacht werden kann, unabdingbar angewiesen. Denn ähnlich wie auf dem Gebiet der Sexualität sind auch die aggressiven Triebäußerungen weder in der Phantasie, noch in der Praxis ohne die Anbindung an Objekte denkbar. Der wahrnehmungspsychologische Schlüsselsatz in der Dialektik der Aufklärung, der „als Feind erwählte wird schon als Feind wahrgenommen“, deutet den Weg an, auf dem durch pathische Projektion das innerlich Vertrauteste als äußerer Feind geprägt werden kann (Horkheimer/Adorno 1947: 196).17 Das ursprünglich ersehnte, dann verpönte Eigene kann und muss erst zum Verhassten gemacht werden, ehe der Abspaltungs- und Projektionsmechanismus auf dem beschriebenen Weg praktisch wirksam greift und dieses Potential massenpsychologisch in die Totalität einer vernichtungsbereiten Volksgemeinschaft überführt werden kann. Am Ende dieses komplexen projek17 Auch hier liegt eine terminologische Unklarheit vor, denn zu den „ursprünglich ersehnten“ Eigenanteilen gehören nicht nur die aggressiven, sondern insbesondere auch die libidinösen Wunschbesetzungen. Von daher geht es bei der antisemitischen Stereotypenbildung nicht nur um die Projektion aggressiver, sondern auch sexueller Vorstellungsinhalte. Beide verdichten sich im Bild des zugleich „lüsternen“ und „vergeistigten“ Juden (vgl. Winter 2009).
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tiven Wahrnehmungsvorgangs steht für Horkheimer und Adorno schließlich der Sprung von der Stigmatisierung zur Auslöschung: „Ist es einmal so weit, dann erscheint das bloße Wort Jude als die blutige Grimasse, deren Abbild die Hakenkreuzfahne – Totenschädel und gerädertes Kreuz in einem – entrollt; dass einer Jude heißt, wirkt als die Aufforderung, ihn zuzurichten, bis er dem Bilde gleicht“ (ebd.: 195).18 Die psychischen Wurzeln dieses zerstörerischen Prozesses liegen im Bereich des Normalen, aber die weiteren Wege und Mechanismen der antisemitischen Feindbildkonstruktion folgen dem Muster einer Pathologie. Der Hass auf Fremde bei gleichzeitiger Selbstdefinition durch die Zugehörigkeit zu einer überlegenen Rasse, Gruppe oder Nation trägt in seiner Primitivität wahnhafte Züge. Dahinter stehen diffuse Ängste und Wahrnehmungsverzerrungen, die bis zum Realitätsverlust reichen können. Das innere Bild des Fremden, das von der Psychoanalyse als unbewusste Fremdenrepräsentanz gefasst und immer in Verbindung mit den Selbstrepräsentanzen zu sehen ist, entsteht nach dem Muster eines (verfolgenden) frühen und nun nach außen verlagerten unassimilierten Introjekts. Das im Innern abgespaltene und als fremd und bedrohlich empfundene Eigene wird, wie gesehen, auf äußere Feinde projiziert und stellvertretend an ihnen verfolgt. Aber erst die projektive Identifizierung der ausgesuchten Opfer mit dem eigenen Hass gibt sie schließlich (potenziell) der Vernichtung preis. Grundlage dieses Mechanismus ist ein allgemeiner frühkindlicher Modus im Umgang mit sich und der Außenwelt, zu dessen Kern eine archaische Hassbereitschaft gegenüber allen unlusterregenden Reizen gehört. „Das Ich hasst und verabscheut mit Zerstörungsabsicht alle Objekte, die ihm zur Quelle von Unlusterfahrungen werden“ (Freud 1915a: 230). Auf diesem Boden findet eine frühe Aufspaltung zwischen der Verinnerlichung lustvoll erlebter Quellen und Objekte (Introjektion) und der Abstoßung jener eigenen inneren Regungen, die Anlass von Unlust werden (Projektion). Ähnlich wie Freud (und Adorno) führt Melanie Klein diesen paranoid getönten Introjektions- und Projektionsvorgang als Urform und Vorbild einer aggressiven Objektbeziehung auf eine ursprünglich normale Abwehrreaktion gegen innere und äußere Bedrohungen in den frühesten Entwicklungsstadien von Subjektivität, der sogenannten „paranoid-schizoiden Position“ zurück, bei der alles Gute (durch Introjektion) von innen zu kommen scheint und alles als böse emp18 Wie dieser Spaltungs- und Projektionsvorgang sozialpsychologisch funktionieren kann, wird von Freud am Beispiel von Massen mit Führen herausgearbeitet. Danach handelt es sich bei einer Masse um eine Anzahl von Individuen, die „ein und dasselbe Objekt“, dem sie idealisierungsbereit in bedingungsloser Hörigkeit zugetan sind, „an die Stelle ihres Ichideals“ bzw. ihres ÜberIchs gesetzt, „und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben“ (Freud: 1921: 128).
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fundene (durch Projektion) nach außen abgestoßen wird (Klein 1946).19 Im Verlauf der Sozialisation wird dieser primitive Mechanismus im Umgang mit inneren und äußeren Wahrnehmungen und den dahinter stehenden archaischen Ängsten in der Regel einigermaßen humanverträglich abgemildert, aber nie vollständig überwunden. In Zeiten existenzieller Krisen können grundsätzlich auch die „Normalen“ auf diese primitive Sicht von sich und der Welt zurückfallen, in der unbewusst der Glaube vorherrscht, durch Isolierung, Abspaltung, Veräußerlichung, Verfolgung und gegebenenfalls durch die Vernichtung des angstauslösenden Bedrohlichen in Sicherheit zu sein oder zu bleiben. In der Möglichkeit derartiger regressiver Rückgriffe liegt psychologisch gesehen das gefährlichste, weil im Normalen liegende psychische Potenzial, das den wichtigsten Anknüpfungspunkt einer rassistischen Politisierung des Subjekts durch den antisemitischen Massenwahn ausmacht. Die normalisierende Funktion eines kollektiven Wahns Greifen wir die verbreitete, aber kaum systematisch überprüfte Kennzeichnung des Antisemitismus als kollektiven Wahn oder als soziale Geisteskrankheit noch einmal auf und nehmen sie, bei allen Vorbehalten gegenüber einer sozialpsychologischen Anwendung genuin klinischer Kategorien ernst, ergibt ein erster Vergleich mit den echten Wahnkrankheiten erstaunliche Übereinstimmungen. Am Antisemitismus lassen sich phänomenologisch nahezu alle Kriterien eines psychiatrisch definierten Wahns und zwar insbesondere die einer paranoiden Psychose erkennen, weshalb es grundsätzlich legitim erscheint, mit den Psychoanalytikern Robert Waelder und Ernst Simmel vom Antisemitismus als einer kollektiven oder einer Massen-Psychose zu sprechen: 1. Der Wahn entsteht in Zeiten angstauslösender innerer und äußerer Krisen und besteht in einem regressiven Rückgriff auf primitive, manichäistische Vorstellungen von gut und böse und auf damit verbundene archaische Ab-
19 Diese Grundannahme Melanie Kleins kann als tiefenpsychologische Präzisierung eines zentralen Gedankens in Adornos sozialpsychologischer Zeitdiagnose verstanden werden: „Die IchSchwäche heute, die gar nicht nur psychologisch ist, sondern in der der seelische Mechanismus die reale Ohnmacht des Einzelnen gegenüber der vergesellschafteten Apparatur registriert, wäre einem unerträglichen Maß an narzisstischer Kränkung ausgesetzt, wenn sie nicht, durch Identifikation mit der Macht und Herrlichkeit des Kollektivs, sich einen Ersatz suchen würde. Eben dazu taugen die pathischen Meinungen, die unaufhaltsam aus dem infantil narzisstischen Vorurteil hervorgehen, man selber sei gut und was anders ist, minderwertig und schlecht“ (Adorno 1961: 156).
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20 Ähnlich auch die These Freuds, nach der der Wahn als „aufgesetzter Fleck“ dort zu finden ist, „wo ursprünglich ein Riss in der Beziehung des Ichs zur Außenwelt entstanden war“ (1924: 389).
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drohung durch dämonische Kräfte, deren gigantische Verschwörung als die Triebkraft der gesamten Geschichte empfunden und dargestellt wird. 7. Im Falle der Paranoia, also dem Verschwörungs- und Verfolgungswahn, gehen mit der projektiven Konstruktion des Verfolgers feindselige und gewaltbereite Hassgefühle einher und es kann zu signifikanten aggressiven Durchbrüchen gegenüber dem vermeintlichen Verfolger kommen. Auch hier gibt es Übereinstimmungen zum kollektiven Wahn: der Abwehrkampf gegen die Gruppe der dämonischen Verschwörer nimmt, wie wir gesehen haben, den Charakter eines Kreuzzuges zur Ausrottung des Bösen an. „Für die Faschisten“, so Adorno und Horkheimer zu Beginn der Elemente des Antisemitismus, „sind die Juden nicht eine Minorität, sondern die Gegenrasse, das negative Prinzip als solches“. Einmal vom „absolut Bösen als das absolut Böse gebrandmarkt“ (Horkheimer/Adorno 1947: 177) solle von ihrer Ausrottung das Glück einer rein arischen Welt abhängen. Sowohl der psychiatrisch auffällige Privatwahn, als auch der politische Massenwahn, so lautet die wichtigste Schlussfolgerung, dienen der Reparatur eines beschädigten individuellen und kollektiven Narzissmus und die zum Losschlagen bereiten destruktiven Neigungen dem vermeintlichen Selbstschutz. Die Verfolgung und Vernichtung des übermächtig gefährlichen Feindes erscheint als putative Notwehrhandlung, die die eigentliche Quelle der darin zum Ausdruck kommenden Destruktivität bis zur Unkenntlichkeit verschleiert. Aber um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: Die objektiven Verhältnisse lassen sich nicht aus dem Seelenleben der Individuen erklären und so warnt Adorno als einer der schärfsten Kritiker vereinfachender Psychologisierungen immer wieder davor, den Antisemitismus aus den Deformationen des Einzelnen abzuleiten. Dennoch ist ein Vergleich zwischen der Paranoia und einem Massenwahn wegen der in beiden Phänomenen vorherrschenden Wege und Mechanismen der Abwehr zulässig und für eine Analyse des Antisemitismus hilfreich. Auch Adorno weist immer wieder auf den Zusammenhang beider Erscheinungen hin, etwa wenn er schreibt: „Von kollektiven Wahnvorstellungen wie dem Antisemitismus wird die Pathologie des Einzelnen, der psychisch der Welt nicht mehr gewachsen sich zeigt und auf ein scheinhaftes inneres Königreich zurückgeworfen ist, bestätigt“ (Adorno 1959: 138).21 Adorno ist davon überzeugt, dass insbesondere der autoritätsgebundene Charakter eine spezifische Affinität zu totalitären Ideologien besitzt und wie alle extrem vorurteilsvollen Individuen zu einem „psychischen
21 Hier ist mit Fenichel daran festzuhalten, dass die Psychoanalyse einzelner Antisemiten für ein Verständnis des Antisemitismus zwar unerlässlich ist, aber auf keinen Fall ausreicht, ihn zu erklären (Fenichel 1946: 35).
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Totalitarismus“ neigt, „der fast ein mikroskopisches Bild des totalitären Staates ist, den es anstrebt“ (Adorno 1950: 143). Selten aber wurden diese Verschränkungen und Übereinstimmungen zwischen privatem und öffentlichem Wahn unter gleichzeitiger Betonung der Grenze möglicher Anwendungen klinischer Kategorien auf politische Phänomene gründlicher untersucht, als von dem sozialistischen Arzt und Psychoanalytiker Ernst Simmel. „Simmel war der erste“, betont Horkheimer in seinem 1948 erschienenen Nachruf, „der dem Ausdruck ‚Massenwahn’ eine mehr als metaphorische Bedeutung gab, indem er zeigte, dass der Rassenhass den Psychosen, besonders der Paranoia, nähersteht als den Neurosen“ (Horkheimer 1948: 485; vgl. Pohl 2000).22 Das Hauptthema in Simmels massenpsychologischer Antisemitismus-Analyse ist die Verwandlung von gesellschaftlich induzierter Irrationalität in die Pseudo-Rationalität „normaler“ Zustände. Dabei werden zunächst auch von ihm die wahnhaften, an archaische Spaltungs- und Projektionsvorgänge gebundenen Züge des Antisemitismus bestätigt: „Dieses klinische Syndrom uneingeschränkter, aggressiver Destruktivität im Banne eines Wahns bei vollständiger Verleugnung der Realität ist uns als Psychose wohlbekannt, und zwar als paranoide Form der Schizophrenie“ (Simmel 1946: 64). Daraus leitet er seine erste zentrale These ab, als Massenphänomen sei der Antisemitismus keine Massenneurose, wie etwa von Otto Fenichel angenommen wird, sondern vielmehr eine Massenpsychose. Bei der Massenpsychose handele es sich um eine kollektive Paranoia, die es erlaube, „die Triebkräfte des primitiven Hasses und der Zerstörung“ (ebd.) an dem zum absoluten Feind deklarierten Juden festzumachen und über den Weg der Projektion, der realen Verfolgung und schließlich der Vernichtung kollektiv zu entfesseln. Was aber kann diese Definition des Antisemitismus als eine Massenpsychose unter sozialpsychologischer Perspektive leisten und geht der ihr zugrundeliegende Vergleich mit der klassischen Psychose des Einzelnen über eine bloße Analogiebildung hinaus? Simmel spricht an vielen Stellen von der Ähnlichkeit individueller und kollektiver Regressionen, von Rückfällen auf vorsoziale und infantile Stufen, in denen die lebensund zivilisationsgeschichtlichen Quellen von Hass und Zerstörung lägen. Jede dieser Regressionen würde durch einen Bruch mit der traumatisch wirkenden oder aus anderen Gründen unerträglich gewordenen Realität ausgelöst. Die Flucht in den Wahn wäre somit in erster Linie immer eine Flucht vor der Realität. Daraus aber folgt auch für Simmel eindeutig, dass die „auslösende Ursache der Massenpsychose des Antisemitismus (...) auf der Realitätsseite“ (ebd.: 74), d.h. in den gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen liegt, die den
22 Auch für Adorno weisen antisemitische Einstellungen und Meinungen Züge psychopathologischer Symptome auf, die „kaum durch die Mechanismen einer Neurose zu erklären sind“ (Adorno 1950: 122), sondern eindeutig den Psychosen und insbesondere der Paranoia nahestehen.
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Drang zu einer projektiven „Schiefheilung“ (Freud) des eigenen Elends allererst hervorbringen (vgl. ebd.: 89). Bedeutet diese Parallelität zwischen privatem und kollektivem Wahn nun, dass der einzelne Antisemit ein Paranoiker ist? Simmel verneint diese Frage entschieden und kommt an dieser Stelle zu seiner zweiten Grundthese: „Der einzelne Antisemit ist kein Psychotiker - er ist normal. Erst wenn er sich einer Gruppe anschließt, wenn er zum Bestandteil einer Masse wird, verliert er gewisse Eigenschaften, die die Normalität ausmachen, und trägt so dazu bei, einen Massenwahn zu erzeugen, an den sämtliche Mitglieder der Gruppe glauben“ (ebd.: 68). Auch diese Feststellung wird von Adorno und Horkheimer geteilt, die davon ausgehen, dass die paranoiden, zu einer massenpathologischen Vergesellschaftung führenden Bewusstseinsformen, den Anschein erwecken, als hätten die Mitglieder „Angst davor, ihren Wahnsinn allein zu glauben.“ An der Verfolgung der kollektiven Hass-Objekte „stärkte sich der krankhafte Zusammenhalt. Das normale Mitglied aber löst seine Paranoia durch die Teilnahme an der kollektiven ab und klammert leidenschaftlich sich an die objektivierten, kollektiven, bestätigten Formen des Wahns“ (Horkheimer/Adorno 1947: 206). Adorno verwendet einen sehr allgemein gehaltenen und unscharfen Paranoia-Begriff, aber gemeint ist sicherlich nicht das psychiatrische Krankheitsbild, sondern ein spezifisch regressiver, durch gesellschaftliche Krisen erzeugter und politisch verstärkter Modus im Umgang mit sich und der Welt, der wahnhaften Charakter annehmen kann (vgl. Rensmann 1998: 91 ff.). Erst der Anschluss an eine pathologische Masse löst die kollektiven Regressionen mit einem signifikanten Anstieg feindgerichteter Hass- und Gewaltbereitschaft aus, aber die Regression des einzelnen Mitglieds der Masse bleibt nur eine vorübergehende, die ihm im Vergleich mit dem echten Psychotiker einen wichtigen Vorteil verschafft: sein in der Masse aufgegangenes Ich kann die subjektiv erfahrene Ohnmacht und das Gefühl des Ausgeliefertseins an undurchschaubare äußere Mächte durch die Partizipation an erlaubte und verordnete „Orgien des Hasses und der Zerstörung“ kompensieren. Er erringt damit, so Simmel weiter, sowohl Triebfreiheit, als auch die Macht über einen Teil der Wirklichkeit, die ihm fehlt. „Dieser Umstand ermöglicht es ihm, mit Hilfe einer Massenpsychose zur Realität zurückzukehren, vor der der einzelne Psychotiker fliehen muss“ (Simmel 1946: 71).23 Daraus ergibt sich schließlich Simmels dritte Hauptthese, die eine entscheidende Differenz zwischen individueller und kollektiver Psychose festhält. Die Regression in der Masse ist kein dauerhafter Zustand, denn dieses Ich „rettet sich 23 Diese Realität aber ist in letzter Konsequenz eine erst zu schaffende Welt der Verfolgung, des Krieges und der Zerstörung. In diesem Zusammenhang ließe sich aus sozialpsychologischer Perspektive auch ein neues Licht auf die These Eisslers von der „Realisierung eines psychotischen Kosmos“ in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern werfen (Eissler 1963).
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durch Untertauchen in einer pathologischen Masse vor individueller Regression, indem es kollektiv regrediert. Die Flucht in eine Massenpsychose ist demnach nicht nur die Flucht vor der Realität, sondern auch vor dem individuellen Wahnsinn“ (ebd.: 73). – Kollektive Wahnvorstellungen nach dem Muster des Antisemitismus könnten zwar, so die Pointierung dieser These Simmels durch Adorno, „den einzelnen Halbirren davon dispensieren, ein ganzer zu werden“ (Adorno 1959: 138). Man dürfe sich allerdings, so Adorno an anderer Stelle, „diejenigen, die psychologisch zu totalitären Systemen neigen“, nicht als „Psychotiker“ oder als „Irre“ vorstellen. „Vielmehr bewahrt das kollektive Wahnsystem, dem sie sich verschreiben (...) nach der Einsicht Ernst Simmels offenbar die Einzelnen vor der offenen Psychose – der abgekapselte Wahn erlaubt ihnen, in anderen Regionen nur um so ‚realistischer’ sich zu verhalten“ (Adorno 1954: 92).24 Aber weder Simmels Position noch Adornos Sympathien für sie können und dürfen hier missverstanden werden: der Antisemitismus ist die rationalisierte soziale Form einer Paranoia und lässt sich nicht aus einer Psychopathologie des Individuums ableiten. Im Mittelpunkt von Simmels Argumentation steht daher nicht die Genese einer echten Wahnkrankheit, sondern eine mit primitiven Abwehrmechanismen gegen elementare Ängste verbundene Wahnbereitschaft, die zum allgemeinen Bestand individueller Dispositionen gehört. Deren manipulative Erweckung und Kanalisierung durch die totalitäre Politik der NS-Regimes bedeutet also selbstverständlich nicht, dass sich klinisch gesehen alle Deutschen am Vorabend des Faschismus auf dem Weg in eine Psychose befunden haben. Die paranoide Volksgemeinschaft ist keine massenhafte Zusammenrottung einzelner Wahnkranker.25 Sie wird zwar durch die Mobilisierung „primitiver“, der frühinfantilen „paranoid-schizoiden Position“ (Melanie Klein) entstammenden seelischer Mechanismen erzeugt, stattet aber die an ihr mit Gewinn Partizipierenden sogar mit einer gewissen Immunität gegen die Gefahr eines Ausbruchs psychiatrisch auffälliger Krankheiten aus. Der Hass wird durch diese Form der Vergemeinschaftung im Zeichen einer totalitären Ideologie pathologisch und die Wahrnehmung reflexhaft paranoid. Und doch kann der Durchschnitts-Antisemit, so Simmel weiter, gerade durch diesen Vorgang „eine relativ normale, gut angepasste Persönlichkeit“ bleiben. „Er geht seinen Geschäften nach, sorgt für seine 24 „Kollektivbewegungen, offenbar einstweilen gleich welchen Inhalts, verschafft das Quentchen Wahnsinn ihre sinistre Anziehungskraft. Durch Integration in den Kollektivwahn werden die Individuen mit der eigenen Desintegration, nach Ernst Simmels Einsicht durch die kollektive mit der privaten Paranoia fertig“ (Adorno 1969: 176 f.). 25 Der Psychoanalytiker Rudolph Loewenstein warnt davor, den Antisemitismus trotz seiner Ähnlichkeit mit einer paranoiden Psychose ungeprüft mit bestimmten Geisteskrankheiten in einen Topf zu werfen: „Man kann Neurotiker oder Irrer sein, ohne deswegen Antisemit zu werden. Und umgekehrt kann einer Antisemit sein, ohne daß er Neurotiker oder Geisteskranker ist“ (Loewenstein 1952: 13).
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Familie usw. Doch er haßt die Juden, und es tut ihm gut zu wissen, daß viele seiner Freunde seine Gefühle teilen“ (Simmel 1946: 61).26 Aus der hier angedeuteten Transformation subjektiver Ängste in eine kollektive Judenfeindschaft ergibt sich schließlich für eine Analyse der nationalsozialistischen Logik der Vernichtung: ist der Antisemitismus erst einmal zu einer Massenpsychose geworden, erlaubt die akzeptierte Freisetzung des ihm innewohnenden Verfolgungs- und Vernichtungspotentials eine Beteiligung des Einzelnen an Grausamkeiten in einem Ausmaß, das selbst extreme Gewaltformen mancher Krimineller und Psychotiker harmlos erscheinen lässt, ohne dass der einzelne Massenmörder dabei selbst als kriminell gilt oder einer Psychose verfällt. Erst dieser normalisierende Effekt eines kollektiven Wahns macht den Ausbruch eines als völkische Rettungs- und Notwehraktion ausgegebenen Destruktionspotentials massenpsychologisch möglich. „Ist alles Grauen der zivilisatorisch erledigten Vorzeit durch Projektion auf die Juden als rationales Interesse rehabilitiert, so gibt es kein Halten mehr. Es kann real vollstreckt werden, und die Vollstreckung des Bösen übertrifft noch den bösen Inhalt der Projektion“ (Horkheimer/Adorno 1947: 195).27 Der echte Wahnkranke aber, und das macht einen der Hauptunterschiede zum (normalpathologischen) Antisemiten aus, hat kaum eine selbst verantwortete Alternative. „Dem gewöhnlichen Paranoiker“ steht für Adorno und Horkheimer die Wahl des feindlichen Objekts seiner Projektionen nicht frei, denn „sie gehorcht den Gesetzen seiner Krankheit.“ Die kollektive Instrumentalisierung des Antisemitismus zur Erzeugung einer kriegs- und vernichtungsbereiten (zumindest aber Krieg und Vernichtung tolerierenden) völkischen Gemeinschaft ist hingegen ein Prozess, in dem der Mechanismus der pathischen Projektion von der Politik systematisch eingesetzt wird, d.h.: „das Objekt der Krankheit wird realitätsgerecht bestimmt“ und „das Wahnsystem zur vernünftigen Norm in der Welt (...)“ (Horkheimer/Adorno 1947: 196).28 Diesem komplexen Zusammen-
26 Über die Rolle der antisemitischen Ideologie, neben der Bindung an den Führer dem wichtigsten Mittel zur Erzeugung politischer Massenloyalitäten, schreibt Lorenzer ebenfalls unter Bezug auf Simmels Analyse des Antisemitismus als Massenpsychose: „Gruppenbildung ist keine zufällige Anhäufung von gestörten Individuen. Es bedarf eines ‚objektiven Organisators’, der in bereitliegende Persönlichkeitsdefekte einhakt: Es bedarf eines ‚Wortes’, einer ‚Idee’, die die weltanschauliche Ausrichtung besorgt“ (Lorenzer 1984: 119). 27 „Erst (...) als die antisemitischen Affekte von modernen zivilisatorischen Vorstellungen abgekoppelt wurden, erfolgte die gnadenlose, vollständige physische Vernichtung der Juden“ (Simmel 1946: 63). 28 Der von Hitler geforderte „Antisemitismus der Vernunft“ steht dabei nicht im Gegensatz zum fanatischen, affektbetonten Antisemitismus, sondern ist seine andere Gestalt, die die Entfesselung des antijüdischen Gewaltpotentials als bürokratisch geregelter Verwaltungsakt in massenindustriellen Dimensionen erst möglich gemacht hat. „Der unbedingte Realismus der zivilisierten
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hang von Normalität und Pathologie müsste insbesondere in der sozialpsychologischen Antisemitismus- und Holocaustforschung weitaus gründlicher nachgegangen werden als bisher. Das Morden der Nazis geschah im Zeichen einer umdefinierten Normalität, in der der Wahn und das „Böse“, vom Charakter des Abweichenden befreit, nun zum Gebotenen und schließlich zur alltäglichen Gewohnheit wurde. „Die komplexe Vorbereitung und weitverzweigte Organisation eines kühl kalkulierten Massenmordes,“ schreibt Jürgen Habermas, „in den Hunderttausende, indirekt ein ganzes Volk, verwickelt waren, hat sich ja im Schein der Normalität vollzogen, war auf die Normalität eines hochzivilisierten gesellschaftlichen Verkehrs geradezu angewiesen. Das Ungeheuerliche ist geschehen, ohne den ruhigen Atemzug des Alltags zu unterbrechen“ (Habermas 1990: 150). Das aber bedeutet auch: Das Absinken in die Barbarei ist faktisch weder ein kollektiver Rückfall in vorzivilisierte Zeiten, noch, wie durch Simmels Grundannahme einer ursprünglichen Triebwelt voll ungehemmter Zerstörungslust suggeriert, eine pathologische Regression des Individuums auf eine primitive vor- und antisoziale Stufe seiner Persönlichkeitsentwicklung, sondern vielmehr die Mobilisierung eines wahnhaften, zum humanspezifisch und gesellschaftlich Normalen zählenden Potentials archaischer Abwehrmechanismen (Spaltung, Isolierung, Introjektion, Projektion, projektive Identifizierung).29 In dieser nur scheinbar paradoxen Bewegung zwischen Normalität und Wahn im Spannungsfeld von Individuum, Politik und Gesellschaft liegt vermutlich einer der Hauptgründe für Adorno, den dafür verantwortlichen psychosozialen Mechanismus als pathisch und gerade nicht als pathologisch zu bezeichnen. Der Ausdruck „pathisch“ verweist zwar auch auf den subjektiven Zustand eines allgemeinen Leidens in und an der Gesellschaft, ist aber eher im Sinne von Freuds Unbehagen in der Kultur als nach den Kriterien der psychiatrischen Krankheitslehre zu verstehen. Adornos häufige Verwendung des Adjektivs „pathisch“ („pathische Dummheit“, „pathischer Narzissmus“, „pathische Meinung“, Menschheit, der im Faschismus kulminiert, ist ein Spezialfall paranoischen Wahns, der die Natur entvölkert und am Ende die Völker selbst“ (ebd., S. 202). 29 Bei diesem Vergleich zwischen Paranoia und Massenwahn handelt es sich keineswegs um eine verharmlosende psychiatrische Spitzfindigkeit, wie Detlev Claussen in seiner pauschalen Kritik an Simmels Beitrag zur Antisemitismusforschung behauptet. Der Psychologismusvorwurf, den er gegen Simmel erhebt, beruht auf einem Missverständnis: Claussen sieht die Hauptaufgabe psychoanalytischer Erklärungsversuche des Antisemitismus in der Aufdeckung seiner Verankerung im Unbewussten unter jener massenpsychologischen Perspektive, die seiner Ansicht nach eher von Fenichel vertreten wird. Simmel würde dagegen unzulässig pathologisieren, "indem er von klinischen Symptomen auf den Zustand der Massen schließt" (Claussen 1987: 6). Der Vorwurf wird leider nicht weiter begründet und Simmels insbesondere für die NS-Täterforschung spannende Schlussfolgerung, der Anschluss an den antisemitischen Massenwahn diene gerade der Aufrechterhaltung vorgeblicher "Normalität", als rhetorischer Trick, als gescheiterter Differenzierungsversuch seiner an sich unhaltbaren Grundthese abgetan.
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„pathischer Nationalismus“ usw.) wurzelt vermutlich in seiner Rezeption der aristotelischen Wirkungsästhetik der Tragödie. „Pathisch“ bezieht sich hier auf Leidenschaftlichkeit und einen Überschwang von Affekten (Furcht und Mitleid), deren künstliche Erweckung und dramaturgische Inszenierung letztendlich zu einer reinigenden Befreiung von ihnen führen soll (Katharsis). Als pathisch bezeichnet Adorno jene zeitgemäße „Krankheit der Normalen“, die das „herrschende Allgemeine“ immer wieder mit den typischen Erscheinungsformen eines Ausfalls der Reflexion sowie einer damit einhergehenden Kälte und Affektlosigkeit im Umgang miteinander hervorbringe.30 „Pathische Gesundheit“ ist für Adorno ein „zur Norm erhobener Infantilismus“ in der von der Kulturindustrie geprägten modernen Gesellschaft, der aber im Extremfall einer totalisierenden politischen Vereinnahmung zu einer (vorübergehenden) Reinigung von Affekten sowohl durch ihre Transformation in (scheinbare) Gefühlskälte, als auch durch ihre Entfesselung auf der Basis eines „aggressiven Wahns“ geführt werden kann (Adorno 1951: 17, 71; vgl. Adorno 1954: 92 f.).31 Die psychischen Wurzeln dieses Potenzials liegen somit zwar in dem hier aufgezeigten archaischen Modus des Umgangs mit sich und der Welt, seine kollektive Entfaltung aber ist unabdingbar an die politische Steuerung der gesellschaftlich ausgelösten und durch Krisen verstärkten Verzerrungen dieses unbewusst sedimentierten Musters innerer und äußerer Wahrnehmungsbereitschaft gebunden. Immer wieder insistiert Adorno darauf, dass die psychologische Dimension dieses Phänomens „von der historisch-sozialen nicht bündig zu scheiden“ ist und meint damit: „Spezifische gesellschaftliche Konstellationen begünstigen selektiv die Bildung ihnen gemäßer psychologischer Syndrome oder bringen sie wenigstens ans Licht“, wobei in „Zeiten drohender Katastrophe“, wie hier genauer aufgezeigt werden sollte, insbesondere „paranoide Züge mobilisiert“ werden und sich in die Normalität des Alltagsbewusstseins eingraben können (Adorno 1962: 176). Der rassistische Antisemitismus war das „brutale Hauptstück der NS-Ideologie“ (A. Mitscherlich) und erfüllte als Staatsdoktrin eine Hauptrolle bei dieser Mobilisierung. Entscheidend ist dabei in erster Linie nicht die tatsächliche Anzahl fanatischer und gewaltbereiter Antisemiten, sondern die politische Instrumentalisierung der identitätsstiftenden und loyalitätserzeugenden Funktion des Antisemitismus als Prototyp einer wahnhaften Reali30 Der im Kontext der NS-Täterforschung von Welzer erhobene Pathologisierungsvorwurf gegenüber Adorno beruht dagegen auf einem krassen Missverständnis, denn hier wird „pathisch“ schlichtweg mit „pathologisch“ verwechselt (Welzer 2005: 269). 31 Auch Horkheimer hat diesen paradoxen Zusammenhang von Normalität und Pathologie einmal auf ähnliche Weise unter der Frage thematisiert, ob sich kollektive politische Zustände denken ließen, die mit der jeweils vorherrschenden Idee von Gesundheit gut zu vereinbaren sind und unter denen „ein normales Leben ohne psychische Symptome“ dennoch pathologisch oder sogar wahnhaft ist (Horkheimer 1968: 142).
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tätsverkennung mit massenpathologischer Wirkmöglichkeit. – Die allgemeine Pervertierung der Wahrnehmung nach dem Muster der pathischen Projektion gehört zu den wichtigsten subjektiven Voraussetzungen einer kollektiv entfesselten und in die Tat umgesetzten Unmenschlichkeit. Angesichts eines durch verschärfte ökonomische Krisen und soziale Erosionen mit Sicherheit weiter anwachsenden Angstpotenzials sowie unter Berücksichtigung der Persistenz antijüdischer Einstellungen und Ressentiments kann es daher allein unter Hinweis auf eine funktionierende demokratische Gesellschaft keine Entwarnung geben. Bei der Bekämpfung des Antisemitismus in der Gegenwart geht es folglich nicht um die falsche Alternative zwischen totalitärem Wahn oder demokratischer Normalität, sondern um den Kampf für einen nichtpathischen Umgang mit angstauslösenden gesellschaftlichen Zerfalls- und Transformationsprozessen. Literatur Adorno, Theodor W. (1950): Studien zum autoritären Charakter (3. Auflage). Frankfurt a. M. 1999 Adorno, Theodor W. (1951): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a. M. Adorno, Theodor W. (1954): Bemerkungen über Politik und Neurose. In: Ders. (1971): Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft. Frankfurt a. M.: 87-93 Adorno, Theodor W. (1955): Schuld und Abwehr. Eine qualitative Analyse zum Gruppenexperiment. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 9.2. Frankfurt a. M. 1975: 121-324 Adorno, Theodor W. (1959): Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit? In: Ders. (1970): Eingriffe. Neun kritische Modelle (6. Auflage). Frankfurt a. M.: 125-146 Adorno, Theodor W. (1961): Meinung, Wahn, Gesellschaft. In: Ders. (1970): Eingriffe. Neun kritische Modelle (6. Auflage). Frankfurt a. M.: 147-172 Adorno, Theodor W. (1962): Aberglaube aus zweiter Hand. In: Ders. (1997): Gesammelte Schriften. Band 8 (Soziologische Schriften I). Frankfurt a. M.: 147-176 Adorno, Theodor W. (1969): Dialektische Epilegomena. Marginalien zu Theorie und Praxis. In: Ders. (1970): Stichworte. Kritische Modelle 2 (3. Auflage). Frankfurt a. M.: 169-191 Arlow, Jacob A. (1969): Phantasie, Erinnerung und Realitätsprüfung. In: Psyche – Z Psychoanal 23/1969: 881-899 Benz, Wolfgang (2004): Was ist Antisemitismus? München Bohleber, Werner (1999): Psychoanalyse, Adoleszenz und das Problem der Identität. In: Psyche 53/ 1999: S. 507-529 Brückner, Peter (1966): Was sind und wie entstehen Vorurteile? In: Anstöße. Bericht aus der Arbeit der Evangelischen Akademie Hofgeismar. Heft 3/1966: 69-81 Claussen, Detlev (1987): Über Psychoanalyse und Antisemitismus. In: Psyche 41/1987:1-21 Dahmer, Helmut (1990): Derealisierung und Wiederholung. In: Psyche 44/1990: 133-143 Darmstädter, Tim (1995): Die Verwandlung der Barbarei in Kultur. Zur Rekonstruktion der nationalsozialistischen Verbrechen im historischen Gedächtnis. In: Werz, Michael (Hg.) (1995): Antisemitismus und Gesellschaft. Zur Diskussion um Auschwitz, Kulturindustrie und Gewalt. Frankfurt a. M.: 115-140
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Die Semantik des Antisemitismus und die Struktur der Gesellschaft Jan Weyand
Die Frage, ob es einen „neuen“ Antisemitismus gebe, ist in den letzten Jahren breit diskutiert worden. Das Ergebnis dieser Diskussion lautet kurz zusammengefasst: Nein.1 Vielmehr besteht einer der wichtigsten Fortschritte der Antisemitismusforschung in den letzten Jahren darin, Antisemitismus als eine weitgehend stabile Semantik entziffert zu haben (vgl. insbesondere Holz 2001), die sich in ihren grundlegenden Strukturmustern im späten 19. Jahrhundert gebildet und seitdem nicht wesentlich verändert hat.2 Aus diesem Grund kann der gegenwärtige Antisemitismus noch immer nahtlos an die Reden und Schriften der „Klassiker“ des modernen Antisemitismus, Heinrich von Treitschke, Adolf Stoecker, Karl Lueger oder Édouard Drumont anschließen, und aus diesem Grund finden
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Allerdings lassen sich eine Zunahme an offenem Antisemitismus, insbesondere in Form von Antizionismus, neue Tätergruppen und eine zunehmende internationale Zusammenarbeit von Antisemiten feststellen: Empirisch ist in Deutschland und Österreich eine Enttabuisierung des Antisemitismus zu beobachten (vgl. etwa Bubis 1993 in Kestler 2005: 37). Aufgrund der – weitgehenden – Tabuisierung eines offenen Antisemitismus in der Öffentlichkeit in der Bundesrepublik lässt sich die Geschichte des Antisemitismus zwischen 1945 und 1989 als Geschichte des Tabubruchs, d. h. als Geschichte antisemitischer Skandale schreiben (vgl. Bergmann 1997). In Westeuropa, vor allem in Frankreich, Belgien, Großbritannien, den Niederlanden und zunehmend auch in Deutschland treten neben Rechtsextremen junge, vor allem männliche Migranten aus dem arabischen Raum und muslimisch geprägten Staaten Afrikas als neue Tätergruppe in Erscheinung, die antisemitische Straftaten verübt. In den Transformationsstaaten Osteuropas, vor allem in Ungarn und Russland, ist eine massive Zunahme antisemitischer Propaganda und antisemitischer Straftaten zu beobachten, die oft durch rechtsextremistische Organisationen gesteuert werden, zu deren Bekämpfung die jeweiligen Staaten nicht willens oder nicht in der Lage sind. Schließlich bildet der Antisemitismus seit den späten neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts und verstärkt seit den Anschlägen auf das World Trade Center eine Plattform, die von den unterschiedlichsten antidemokratischen Organisationen als eine Art gemeinsamer Nenner genutzt wird (z. B. finden europäische Rechtsextreme, Holocaustleugner aus allen politischen Richtungen und Vertreter iranischer halbstaatlicher Organisationen hier einen gemeinsamen Nenner, der ihnen punktuelle Kooperationen und eine gemeinsame Verständigung ermöglicht, vgl. dazu Holz 2005: 7-14). D. h., dass sich diese Muster auch für den sogenannten sekundären Antisemitismus nachweisen lassen. Vgl. dazu Holz 2001: 483 ff.; Weyand 2006: 242 ff.
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die „Protokolle der Weisen von Zion“ oder davon abgeleitete Verschwörungsszenarien nach wie vor eine enorme Verbreitung.3 Die Forschung zur Semantik des Antisemitismus hat bisher vor allem durch Erkenntnisse zur empirischen Struktur dieser Semantik auf sich aufmerksam gemacht. Deshalb ist gegen sie der Einwand formuliert worden, sie sei bloß deskriptiv und begnüge sich mit „Oberflächenphänomenen“. Antisemitismus als Semantik zu begreifen bedeutet jedoch nicht, ihn ausschließlich als Semantik zu begreifen: Antisemitismus ist auch – und zeitweise: vor allem – eine handgreifliche, sozial institutionalisierte Verfolgungspraxis. Allerdings setzt Verfolgung als Handlungspraxis Verfolgung auf der Ebene der Semantik voraus, und in diesem Sinne kann man sagen, dass das Verständnis der Semantik eine notwendige (keine hinreichende) Bedingung des Verständnisses von Antisemitismus ist. Umgekehrt trifft jene Kritik in einem wesentlichen Punkt zu: Die Beziehung zwischen moderner antisemitischer Semantik und der Struktur der modernen Gesellschaft ist bisher nicht untersucht. Im Folgenden werde ich diese Beziehung diskutieren. Dazu verdeutliche ich in einem ersten Schritt die Unterscheidung von Semantik und Gesellschaftsstruktur und expliziere das Problem. Da jene Beziehung nicht nur eine substantielle Frage für die Antisemitismusforschung ist, sondern eine der grundlegenden Fragen soziologischer Theoriebildung berührt, expliziere ich das Problem zunächst theoretisch (1). In einem zweiten Schritt werde ich in Abgrenzung zum vormodernen Judenhass ein zentrales Element der modernen antisemitischen Semantik entwickeln und auf die gesellschaftliche Struktur beziehen. Ich werde zeigen, dass vormoderner Judenhass wie modener Antisemitismus sich durch jeweils spezifische Konstellationen von Selbst- und judenfeindlichen bzw. antisemitischen Fremdbildern auszeichnen. Vom vormodernen Judenhass unterscheidet sich die Semantik des modernen Antisemitismus durch einen Totalausschluss der Juden aus der menschlichen Welt. Dieser Totalausschluss erklärt sich aus dem Wandel kollektiver Selbst- und Fremdbilder im Übergang zur Moderne. Daraus leite ich schließlich eine Überlegung hinsichtlich der Frage ab, ob und wie sich der Antisemitismus innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Struktur bekämpfen lässt (2).
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Dies gilt insbesondere für den Nahen Osten. Die Hamas beruft sich auf die Protokolle; im Iran werden sie von einer staatlichen Stelle herausgegeben, zumindest zeitweise haben palästinensische Schulbücher darauf rekurriert.
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Antisemitische Semantik und gesellschaftliche Struktur
Unter einer Semantik verstehe ich im Anschluss an eine Formulierung von Niklas Luhmann „einen höherstufig generalisierten, relativ situationsunabhängig verfügbaren Sinn“ (Luhmann 1993: 19), d. h. ein relativ stabiles Deutungsmuster von Welt. Stabil ist ein solches Muster dann, wenn es zu unterschiedlichen Zeitpunkten und in unterschiedlichen Kontexten zur Anwendung kommt. In diesem Fall wird Sinn nach gleichen Regeln verarbeitet. Wenn z. B. ein antisemitischer Text aus dem Deutschen Reich des Jahres 1879 weitgehend nach den gleichen Regeln konstruiert ist wie ein antisemitischer Text aus der Weimarer Republik der frühen 20er Jahre des 20. Jahrhunderts, ein antisemitischer Text aus der Tschechoslowakei Mitte des 20. Jahrhunderts oder einer aus dem wiedervereinigten Deutschland und sich dies noch für weitere Texte nachweisen lässt, ist davon auszugehen, dass es sich hier um eine Semantik handelt, um einen Bestandteil der kulturellen Ordnung der modernen Gesellschaft. Semantiken sind Teil der Verständigung über gesellschaftliche Struktur, nicht diese selbst. Unter einer gesellschaftlichen Struktur verstehe ich in einem ganz allgemeinen Sinn die stabilen sozialen Formen, in denen Menschen den Umgang mit sich, anderen und der nichtmenschlichen Welt in ihrem alltäglichen Handeln regeln. Als „stabil“ bezeichne ich solche Formen, die gesellschaftliche Epochen als Epochen kennzeichnen und unterscheiden, also etwa die Lohnarbeit in ihren vielfältigen Erscheinungsformen als zum Kapitalismus gehörige Form individueller Reproduktion. Mit der sozialen Form Lohnarbeit sind bestimmte, stabile Muster der Sinnstiftung verbunden, in denen jene legitimiert, verstanden, gedeutet und praktiziert wird. Beispielsweise werden Unterschiede in den Lohnhöhen durch das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit gedeutet und legitimiert. Historikerinnen und Historiker bezeichnen die Differenz zwischen Semantik und Struktur mit der Unterscheidung von Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte (Koselleck 1989a; Koselleck 1989b), Philosophinnen und Philosophen thematisieren sie unter dem Titel erkenntnistheoretisches Problem. Für Soziologinnen und Soziologen sind Semantiken Teile des Wissensvorrats einer Gesellschaft. Der aktuell verfügbare Teil dieses Wissensvorrats4 bildet die Grundlage und das Material unserer Handlungsentwürfe und der Thematisierung unserer selbst (vgl. insbesondere Schütz 1991; Srubar 1988). Worüber wir uns auch immer verständigen, in allen Fällen basiert die Verständigung auf unserem Wissensvorrat, dessen Inhalt wir nach Regeln verknüpfen, die nicht beliebig variiert und kombiniert werden können.5 Dadurch verschaffen uns Regeln der Sinnverar4 5
Zur Unterscheidung von Archiv- und Funktionsgedächtnis vgl. Assmann 1994. Eine Forderung zum Duell als Reaktion auf eine Ehrverletzung beispielsweise ist im heutigen Westeuropa keine anschließbare Handlung mehr.
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beitung eine gewisse Deutungssicherheit: Es ist eben nicht alles möglich. Die Infragestellung dieses Kosmos unhinterfragten, selbstverständlichen Weltverständnisses ist regelmäßig krisenhaft (so führt die Verletzung des alltäglich als gültig unterstellen Leistungsprinzips bei Bonuszahlungen an Manager privater Unternehmen, die ohne Mittel der öffentlichen Hand gar nicht existieren würden, zu erheblichen Irritationen, die in eine Legitimationskrise münden können). Dass nicht nur nicht alles möglich ist, sondern einige der möglichen Verknüpfungsregeln von Sinn über längere Zeit stabil sind, verweist auf stabile Elemente der Gesellschaftsstruktur. Verändert sich die Struktur grundlegend, lassen sich diese Veränderungen auf der Ebene der Semantik als Veränderungen in den grundlegenden Verknüpfungsregeln nachzeichnen. Ein Beispiel ist etwa der Arbeitsbegriff, der in der christlichen Tradition mit dem auf die Vertreibung aus dem Paradies folgenden Mühsal konnotiert ist, im Protestantismus und Calvinismus dann zum Ausweis der Gottgefälligkeit des irdischen Lebens wird und schließlich, weitgehend unabhängig von religiösen Konnotationen, zum Instrument menschlicher Selbstverwirklichung wird. Der Bedeutungswandel von Arbeit als Strafe und mühseliges Mittel der Existenzsicherung zu einem Selbstzweck verweist nicht nur auf allgemeine Entwicklungsmuster der Rationalisierung (Weber) und Verinnerlichung sozialer Normen (Freud), sondern auch auf Brüche, vor allem die mit der Durchsetzung der kapitalistischen Warenproduktion einher gehende Etablierung der formell freien Lohnarbeit als allgemeiner Form der Arbeit. Die soziologische Diskussion der Beziehung von Gesellschaftsstruktur und Semantik basiert unabhängig von der jeweiligen theoretischen Positionierung auf einer gemeinsamen Grundlage: Der Annahme, zwischen Gesellschaftsstruktur und Semantik lasse sich deutlich unterscheiden. Auf der einen Seite steht die Struktur, auf der anderen die Semantik. Verbunden werden beide Seiten durch zwei Annahmen: Erstens wird das Spektrum der Semantik durch Struktur eingeschränkt und zweitens bestehen zwischen beiden Seiten Beziehungen von Ursache und Wirkung. Eher materialistisch orientierte Positionen gehen davon aus, dass die Struktur als Ursache, die Semantik als Wirkung und Reflexion aufzufassen ist, eher idealistisch orientierte Positionen gehen vom Gegenteil aus. In beiden Fällen handelt es sich um Variationen der Unterscheidung von res extensa und res cogitans. Auf dieser Grundlage wird dann die Standortbedingtheit des Wissens, seine Ideologiehaftigkeit oder auch seine Veränderung als Folge von Veränderungen der Komplexität der Gesellschaft (Luhmann 1993: 15) untersucht. Doch die Unterscheidung von res extensa und res cogitans ist hoch problematisch und vielfach kritisiert worden (exemplarisch Plessner 2003: 78-126). In gewisser Weise berührt das die Unterscheidung nicht, weil natürlich der Zweifel
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an der Gültigkeit der Unterscheidung die Unterscheidung als Unterscheidung voraussetzt. In gewisser Weise berührt es sie doch – nicht hinsichtlich ihrer Form, sondern hinsichtlich ihres Inhalts. Dass wir die Unterscheidung inhaltlich anders, nämlich dialektisch, begreifen müssen, wenn wir zu einem angemessenen Verständnis der Beziehung von Semantik und gesellschaftlicher Struktur gelangen wollen, ist die These dieses Aufsatzes. Nach einer dialektischen Auffassung sind beide Seiten der Unterscheidung nicht nur als Unterschiedene aufeinander bezogen, sondern in sich selbst durch die jeweils andere Seite vermittelt. Zwischen Gesellschaftsstruktur und Semantik besteht keine Beziehung von Ursache und Wirkung,6 sondern eine der Wechselwirkung: Semantik konstituiert Struktur, Struktur konstituiert Semantik; Semantik ist auch Struktur, Struktur ist auch Semantik.7 Aus der Verallgemeinerung und Systematisierung dieser Überlegung ergeben sich weit reichende Folgerungen für die soziologische Theoriebildung, die hier nur angedeutet werden können: Was für das Verhältnis von Semantiken als Teil des kulturellen Wissensvorrats und gesellschaftlicher Struktur gilt, gilt allgemein für das Verhältnis von Kultur und Struktur. Struktur ist immer auch Kultur und umgekehrt. Aber weder lässt sich Kultur in Struktur noch Struktur in Kultur auflösen (eine Tendenz, die dem so genannten „cultural turn“ innewohnt). Dafür stehen der vormoderne wie der moderne Antisemitismus als ein exemplarisches Beispiel, wie ich im zweiten Abschnitt zeigen werde. In der Antisemitismusforschung wird die Beziehung von gesellschaftlicher Struktur und antisemitischem Vorurteil vor allem in der Tradition der Kritischen
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Luhmann, der die Systemtheorie oft gegen die „alteuropäische“ Tradition abzuheben geneigt ist, kommt jedenfalls bei der Untersuchung der Beziehung von Gesellschaftsstruktur und Semantik nicht über diese hinaus. In dem schon genannten Aufsatz (1993) wird erst als Untersuchungsgegenstand festgelegt, wie Änderungen der Systemkomplexität durch Änderungen der Semantik beantwortet werden (15). Dies sei keineswegs im Sinne eines Basis-Überbau-Schemas zu verstehen (20) – wobei nicht ganz klar wird, auf was die These, dass eine Anpassung der Semantik erforderlich sei, wenn sich das Komplexitätsniveau einer Gesellschaft verändere, weil sonst der Bezug zur Realität verloren gehe (22), denn sonst aufgebaut sein kann, wenn nicht auf einem Basis-Überbau-Schema. Dann wird die Evolution der Semantik von der der Gesellschaftsstruktur abhängig gemacht und für funktional differenzierte Gesellschaften erklärt, dass sich hier die Beziehung auch umkehren könne und eine eigensinnige Ideenevolution möglich sei (44 u.ö.). Schließlich vertritt Luhmann die These, dass „Wahrheitssemantik und Wissenschaftstheorie als Teil ihres eigenen (der Soziologie, J.W.) Gegenstandes zu begreifen“ (63) seien. Damit verliert dann aber auch die Unterscheidung von Gesellschaftsstruktur und Semantik ihren Sinn. Mit anderen Worten: „Alteuropäisch“ bleibt die Konzeption von Gesellschaftsstruktur und Semantik bei Luhmann wegen ihrer Konzeption als Beziehung von Ursache und Wirkung, und weil das unbefriedigend ist, wird sie am Ende zum Verschwinden gebracht. Das Modell für diese Überlegung liefert Adornos Diskussion der Unterscheidung von Subjekt und Objekt in der Negativen Dialektik (1990:163-192).
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Theorie thematisiert.8 Gemeinsam ist den Studien von Adorno (u. a. 1954, 1971, 1972, 1975, 1977a), Horkheimer/Adorno (1987) und Löwenthal (1982a, 1982b) – um nur einige zu nennen –, dass sie Antisemitismus als Fremdbild, als „Gerücht über Juden“ (Adorno 1980: 123) oder als Ensemble von Vorurteilen begreifen und es funktional aus der gesellschaftlich präformierten Psyche des Antisemiten erklären (vgl. dazu: Weyand 2006: 239-242). Das antisemitische Vorurteil bietet dem Antisemiten Orientierung in einer ihm sonst kaum verständlichen Welt. Die fundamentale psychische Leistung des Antisemitismus für den Antisemiten besteht darin, ihn eben dadurch in der sozialen Welt zu stabilisieren und ihm eine „normale“ Existenz zu ermöglichen (im Unterschied zu anderen, gesellschaftlich nicht tolerierten Wahnsystemen). Die fundamentale soziale Leistung des Antisemitismus im Besonderen und des Autoritarismus9 im Allgemeinen besteht darin, ein etabliertes System gesellschaftlicher Herrschaft durch die Verschiebung sozialer Aggressionen zu stabilisieren. Der Hass der Antisemiten treffe die Juden, weil diese für ein „verleugnetes Wunschbild“ (Horkheimer/Adorno 1987: 202) stünden, für die reale Möglichkeit eines „Glückes ohne Macht, des Lohnes ohne Arbeit, der Heimat ohne Grenzstein, der Religion ohne Mythos“ (Horkheimer/Adorno 1987: 209). Im Anschluss an Horkheimer, Löwenthal und Adorno haben insbesondere Detlev Claussen und Zygmunt Bauman die Antisemitismusforschung in der Tradition der Kritischen Theorie weitergeführt. Claussen geht mit Horkheimer und Adorno davon aus, dass der Antisemitismus ein Fremdbild sei und konzentriert sich auf das seiner Auffassung nach von Horkheimer und Adorno vernachlässigte Spezifikum des modernen Antisemitismus im Unterschied zum vormodernen Judenhass. Dieses findet er durch eine Verknüpfung der Marxschen Gesellschaftstheorie mit der psychoanalytischen Theorie Sigmund Freuds. An das Medium ökonomischer Reproduktion der Moderne, das Geld, hefte sich ein aggressiver Affekt, weil es zwischen Begehren und der Befriedigung dieses Begehrens stehe. Weil die Juden aus historischen Gründen „als Repräsentanten des Werts gelten, also des rein Gesellschaftlichen, werden sie zum Spielball des
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Der Terminus Vorurteil in der älteren Kritischen Theorie (in der jüngeren: Alltagsreligion) wird im Sinne von wahnhafter Meinung verwendet (zum Begriff der wahnhaften Meinung vgl. Adorno 1977b und die sechste Antisemitismusthese in Horkheimer/Adorno 1987). Eine wahnhafte Meinung zeichnet sich dadurch aus, dass ihr Träger zu lebendiger Erfahrung, die diese Meinung modifizieren könnte, nicht in der Lage ist und daher den projektiven Gehalt der Meinung nicht reflektieren kann. Vgl. dazu ausführlich: Weyand 2001, Kapitel 3. Unter Autoritarismus wird in der Kritischen Theorie der Wunsch von Individuen verstanden, die Obrigkeit und ihre Taten und Äußerungen nur deshalb zu akzeptieren und wertzuschätzen, weil diese mit der Aura der Macht versehen sind. Dem korrespondiert der Hass auf schwächere Gruppen (vgl. dazu insbesondere die frühe Studie von Horkheimer u. a. 1987).
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Unbewußten“ (Claussen 1987a: 137). Entsprechend begreift Claussen die moderne Gesellschaft als strukturell antisemitisch (vgl. Claussen 1987b: 16). Zunächst ist die These eines strukturellen Antisemitismus vor dem Hintergrund einer Kontinuität öffentlicher antisemitischer Propaganda in allen hoch industrialisierten Regionen mit kapitalistischer Produktionsweise hoch plausibel. Sie kann aber nicht erklären, warum in einigen Staaten der Antisemitismus ausgeprägter als in anderen ist, warum diese Ausprägungen erheblichen historischen Schwankungen unterliegen und warum einige Individuen Antisemiten sind, andere aber nicht. Man kann dies im Rahmen einer Theorie der politischen Kultur zu erklären suchen (Rensmann 2005). Aber auch eine solche Theorie steht natürlich vor dem Problem, kaum erklären zu können, warum einige Antisemiten sind und andere nicht.10 Die aus der Allgemeinheit des Erklärungsmodells folgende Schwierigkeit, nicht mehr angeben zu können, warum nicht alle oder auch nur die Mehrzahl der Gesellschaftsmitglieder antisemitisch eingestellt sind, teilen die genannten Arbeiten mit der an der Marxschen Wertformanalyse orientierten Arbeit von Moishe Postone (Postone 1982). Der Grund dafür ist in einer spezifischen Konstruktion der Beziehung von antisemitischer Semantik und gesellschaftlicher Struktur zu suchen. Die genannten Arbeiten verstehen den modernen Antisemitismus als ein zwar logisch widersprüchliches, psychologisch aber konsistentes Ensemble von Vorurteilen über Juden (Adorno u. a. 1954: 605; Löwenthal 1982 a: 177). Die „Vorurteilsbilder“ (Löwenthal) werden als eine Folge von Besonderheiten der Gesellschaftsstruktur begriffen. Das Modell der Argumentation ist die Marxsche Ideologietheorie. Diese Theorie geht davon aus, dass sich in der Erfahrung eine gesellschaftliche Struktur, das gesellschaftliche Verhältnis von Privateigentümern, falsch als Eigenschaft von Sachen darstellt: Waren scheinen aufgrund einer ihnen innewohnenden Eigenschaft tauschbar zu sein, sie sind aber nicht aufgrund einer ihnen inhärenten Qualität tauschbar, sondern aufgrund einer gesellschaftlichen Struktur (Privateigentum). Diese Verkehrung vollzieht sich nicht im Kopf des Betrachters, sondern in der Sache selbst: „Das Geheimnis der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt“ (Marx 1993: 86). Es ist die gesellschaftliche Struktur selbst, in der sich die Verkehrung von gesellschaftlichem Verhältnis und dinglicher Eigenschaft vollzieht 10 Rensmanns Buch erweckt den Eindruck, dass sich Auseinandersetzungen mit antisemitischem Hintergrund oder Ziel wie Perlen auf dem Faden der politischen Öffentlichkeit Deutschlands aufreihen und dass auch die wissenschaftliche Öffentlichkeit von antisemitischen Akteuren durchsetzt ist. Diese starke Überzeichnung ist eine exakte Folge der oben genannten strukturellen Erklärung von Antisemitismus.
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und die dann als falsches – aber eben: notwendig falsches – Bewusstsein reflektiert wird. Dies ist bei Zygmunt Bauman anders. Bauman hebt ebenfalls auf die strukturelle Verankerung des Antisemitismus in der modernen Gesellschaft ab. Aber er konstruiert die Beziehung von Antisemitismus und Gesellschaftsstruktur nicht in gleicher Weise als eine Beziehung, in der Antisemitismus eine bloße (Postone) bzw. psychisch vermittelte (Adorno, Horkheimer, Löwenthal, Claussen) Reflexion dieser Struktur ist. Bauman begreift den Antisemitismus nicht als Ensemble von Vorurteilen über Juden, er begreift ihn vielmehr als eine Beziehung zwischen dem Selbstbild einer Wir-Gruppe und einem antisemitischen Fremdbild. Zwischen einer Auffassung, die den Antisemitismus als ein Fremdbild begreift, und einer Auffassung, die ihn als Relation zwischen einem Fremd- und einem Selbstbild begreift, besteht auf den ersten Blick nur eine minimale Differenz. Im ersten Fall werden antisemitische Fremdbilder funktional auf die Psyche des Antisemiten und diese auf die gesellschaftliche Struktur bezogen, um den Antisemitismus daraus zu erklären. Im zweiten Fall wird das antisemitische Fremdbild auf das Selbstbild einer Wir-Gruppe bezogen und in seiner Funktionalität daraus erklärt. Das ist auf den zweiten Blick ein Unterschied ums Ganze – die Beziehung von Gesellschaftsstruktur und Semantik wird anders gedacht: Weder die Wir-Gruppe noch die antisemitische konstruierte Fremdgruppe sind unabhängig oder jenseits von dem Verständnis der Wir-Gruppe gegeben. Das heißt: Die Wir-Gruppe wie die Fremdgruppe sind nur in und durch ihre Bezeichnung auf der Ebene der Semantik gegeben, sie sind nicht unabhängig von der Bezeichnung – es gibt kein Kollektiv vor dem Verständnis dieses Kollektivs als Kollektiv. Umgekehrt ist ein Kollektiv mehr und anderes als ein geistiges Gebilde, durch das sich die Angehörigen des Kollektivs miteinander in ihrem Selbstverständnis verbinden. Kollektive verfügen über Traditionen und Verfahren, mit diesen Traditionen umzugehen,11 Symbolsysteme und rituelle Praktiken, in denen sich das Kollektiv als Kollektiv feiert und beschwört, Regeln, die Zugehörigkeit und Ausschluss definieren usw. – alles Seinsweisen, die typischerweise der gesellschaftlichen Struktur zugerechnet werden. Bauman ordnet die Struktur nicht der Semantik vor, sondern versteht sie als wechselseitig durcheinander konstituiert. Das wird in seinen Ausführungen zur Ambivalenz des Judenbilds im modernen Antisemitismus besonders deutlich. Im modernen Antisemitismus gehört der Jude weder „zu uns“ noch zu den anderen. 11 Verfügung über Tradition bedeutet nicht, dass die Geschichte so war, wie der für Geschichtspflege zuständige Teil von Kollektiven sie darstellt, sondern vielmehr, dass Geschichte in dem Deutungsrahmen des Kollektivs gedeutet wird (vgl. exemplarisch Nietzsche 1999). Geschichte ändert sich daher mit der fortschreitenden Gegenwart, aus deren Perspektive sie begriffen wird.
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Er ist nicht Freund und auch nicht Feind, sondern vielmehr ein Drittes, unter „uns“ und doch nicht zu „uns“ gehörig, ein Fremder (im Sinne von Simmel 1987: 764-771; Bauman 1995). Zwar ist Baumans Begriff des Fremden am Ende so weit gefasst, dass das Spezifische des Antisemitismus in dieser Weite konturlos wird, doch ist mit der Einsicht, dass das antisemitische Fremdbild auf ein Selbstbild verweist, ein Weg zu einem anderen Verständnis von Gesellschaftsstruktur und Semantik gewiesen. Betrachtet man die moderne antisemitische Semantik näher, so springt diese Entgegensetzung von „uns“ und den „Juden“ ins Auge. Von Treitschke über Stoecker bis zu Walser ist es „unser Volk“, das bedroht wird (Treitschke), steht „die Judenfrage (…) bei uns in hellen Flammen“ (Stoecker), wird „uns“ eine „geschichtliche Last vorgehalten“ (Walser). Diese Gegenüberstellung von „uns“ und „Juden“ zeichnet auch den vormodernen Judenhass aus. Allein der Inhalt der Gegenüberstellung unterscheidet sich. Kollektive können als Kollektive nur bestehen, wenn sie sich als Kollektive verstehen. Unabhängig von dem Selbstverständnis eines Kollektivs gibt es kein Kollektiv. Dies gilt unabhängig von der Größe und der Art des Kollektivs, also unabhängig davon, ob es sich um eine Familie oder um die Christenheit handelt. „Eine politische oder soziale Handlungseinheit konstituiert sich erst durch Begriffe, kraft derer sie sich eingrenzt und damit andere ausgrenzt, und d. h. kraft derer sie sich selbst bestimmt“ (Koselleck 1989b: 212). Um sich als Gruppe verstehen zu können, müssen die Gruppenmitglieder wissen, was ihre Gruppe als Gruppe von anderen Gruppen unterscheidet. Dazu müssen sie sich von anderen abgrenzen: Jede Konstitution einer Untergruppe der Menschen als Handlungseinheit basiert notwendig auf der Unterscheidung von anderen Untergruppen, durch die das Spezifische bezeichnet wird, das diese Gruppe als Gruppe auszeichnet und von anderen unterscheidet. Kollektive basieren also darauf, dass sie über ein Selbstverständnis und über Regeln verfügen, mit denen sie Zugehörigkeit definieren. Diese Einsicht der begriffsgeschichtlichen Forschung ist nicht nur ein Grund für die konstruktivistische Wende der Nationalismusforschung in den 80er und 90er Jahren des letzten Jahrhunderts (vgl. Anderson 1983; Gellner 1983) gewesen.12 Sie ermöglicht auch ein neues Verständnis der Beziehung von Gesellschaftsstruktur und Semantik. Semantik ist nicht die Reflexion der stabilen Teile der Gesellschaftsstruktur, und die Gesellschaftsstruktur geht der Semantik nicht voran. Es ist nicht, wie noch die ältere Nationalismusforschung annahm, die Nation, die den Nationalismus konstituiert, sondern vielmehr konstituieren sich Nationalismus und eine sich qua rituellen politischen Praxen und Ge12 Im Kern findet sich diese Überlegung allerdings schon bei Renan 1995 angelegt. Zu der – nationalistischen – Ineinssetzung von Volk, Nation und Staat vgl. Hobsbawm 1992: 25-58.
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schichtserzählungen bildende und qua entwickelnder Öffentlichkeit und staatlicher Bildungspolitik verbreiternde Nation wechselseitig. Das wechselseitige Aufeinander-Verwiesen-Sein von Semantik und Struktur entwickele ich nun für den Antisemitismus. Dazu kontrastiere ich den modernen Antisemitismus der vormodernen Judenfeindschaft im Hinblick auf die jeweils charakteristische Beziehung zwischen Fremd- und Selbstbild. Gezeigt wird, dass sich im Übergang zum modernen Antisemitismus die Relation von Fremd- und Selbstbild grundlegend verändert. Diese neue Relation lässt sich auf Veränderungen in der Struktur der gesellschaftlichen Organisation beziehen. In diesem Zusammenhang werde ich darlegen, dass die kalte Aggressivität des modernen Antisemitismus Folge eines Totalausschlusses der Juden in der antisemitischen Semantik ist, der den modernen Antisemitismus vom vormodernen Judenhass unterscheidet. Vorab sei bemerkt, dass ich kein Mediävist bin und die folgende Argumentation vor allem zu einem besseren Verständnis der Beziehung von antisemitischer Semantik und moderner Gesellschaftsstruktur beitragen will.13 2
Die ambivalente Stellung des Juden im modernen Antisemitismus
Die Semantiken des modernen Antisemitismus wie der vormodernen Judenfeindschaft zeichnen sich dadurch aus, das Bild der Juden von einer Wir-Gruppe abzugrenzen und dadurch diese Wir-Gruppe als Gruppe zu profilieren. Was beide wesentlich unterscheidet, sind die semantischen Konstruktionsregeln der Wir-Gruppe und der Gruppe der Juden, gegen die diese Wir-Gruppe profiliert wird. Der vormoderne Judenhass zeichnet das Bild einer christlichen WirGruppe, deren zentrales Selbstverständnis religiös ist. In den Kreuzzügen manifestiert sich das Christentum als eine Handlungseinheit, die sich nicht anders als gegen Heiden und Juden bilden kann. Gäbe es keine Heiden mehr, verlöre die Selbstbeschreibung als Christenheit jeden Sinn. Mit anderen Worten: Der Christ kann nur wissen, was ihn als Teil der Christenheit ausmacht, wenn er weiß, was ihn nicht ausmacht, wenn er also weiß, was ein Heide ist. Zwar besteht zwischen der christlichen Selbstbeschreibung durch judenfeindliche Fremdbeschreibung und Angriffen auf Juden kein kausaler Zusammenhang. Aber es ist klar, dass Angriffe judenfeindliche Fremdbeschreibungen notwendig voraussetzen – und es sind die Juden, die der Radikalisierung der Semantik im Vorfeld der Kreuzzüge als erste zum Opfer fallen (vgl. Poliakov 13 Vgl. zur mediävistischen Antisemitismusforschung den Überblick von Johannes Heil (2004), exemplarisch die ersten vier Bilder in Schoeps/Schlör (2000: 57-95), Poliakov (1979, 1981 und 1989), Rohrbacher/Schmidt (1991).
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1979: 36 ff.).14 Legitimiert wird dies durch den älteren (dazu: Grözinger 2000) Vorwurf des Gottesmordes. Dieser Vorwurf liegt nicht nur am Grunde der Geschichte der christlichen Judenfeindschaft (vgl. Rohrbacher 1991). Vielmehr scheint er für die Etablierung der Christenheit als Christenheit eine konstitutive Funktion gehabt zu haben. Der vormoderne Judenhass kannte neben dem Gottesmord mehrere – über die Jahrhunderte reproduzierte – zentrale Vorwürfe: Ritualmord, Hostienschändung, Brunnenvergiftung (was insbesondere während der Pestepidemie Mitte des 14. Jahrhunderts als Auslöser einer Vielzahl von Pogromen fungierte)15 und Wucher. Alle Vorwürfe, auch der des Wuchers, waren religiös konnotiert (das Zinsverbot für Christen ist ein kirchliches Verbot). Die Christenheit vergewissert sich ihres Christentums, indem sie den Frevel gegen zentrale Glaubensinhalte thematisiert und diese Inhalte als Bestandteil der eigenen Praxis bestätigt. Der Semantik nach sind Juden und Heiden missionierbar und Taufe oder Zwangstaufe zugänglich.16 Das judenfeindliche Fremdbild steht nicht absolut, d. h. es ist nicht unüberwindbar, sondern vielmehr – durch Konversion der Juden – überwindbar. Systematisch lässt ein christliches Selbstbild die Verzeitlichung des Gegensatzes von Christ und Heide bzw. Jude zu – anders, als dies bei Ketzern und Häretikern der Fall ist, die sich dem christlichen Glauben nicht erst zuwenden müssen, sondern sich von ihm abgewandt haben (und von der Inquisition entsprechend behandelt werden). Beide Seiten der Gegensatzpaare Christ – Jude bzw. Christ – Heide unterscheiden sich nach der Art des religiösen Wissens. Die eine verfügt über das wahre Wissen, die andere nicht. Aber ein Problem wird das strukturell erst, wenn der Angehörige der falschen Religion die wahre nicht als die seine anerkennt. Auch wenn das Gegensatzpaar Christ – Jude bzw. Christ – Heide im Sinne von Reinhart Koselleck asymmetrisch ist, d. h. eine Seite über die Wahrheit (und die überlegenen Waffen) verfügt, die andere nicht, so ist es doch in einem Punkt symmetrisch: Beide Seiten sind ausgezeichnet durch – einander ausschließende – religiöse Inhalte.17 In einer Welt religiöser Wahrheit besteht kein Bedarf, den Gegensatz (wahrer Glaube – falscher Glaube) durch einen zweiten Gegensatz zu profilieren, der das religiöse Wissen im Unterschied zum nichtreligiösen Wissen erklärt – es gibt die Trennung von Wahrheit und Religion noch nicht. 14 Mit dem ersten Kreuzzug 1096 beginnen auch massive Judenverfolgungen. Vgl. auch Claussen 1987c: 19 f. 15 Der Vorwurf selbst ist älter: Rohrbacher (1991: 194 f.) berichtet von einem Fall in der Mitte des 12. Jahrhunderts in Böhmen (mit anschließendem Pogrom). 16 Was nicht heißt, dass die Zwangsgetauften nicht anschließend umgebracht wurden. Allerdings war dies nicht der normale Fall, sondern, wie bei den conversos in Spanien, die Ausnahme. 17 Dies gilt in dem Sinne auch für Ketzer und Häretiker, als sie sich zwar im Unterschied zu den Heiden abgewandt haben, aber eben anderen religiösen Inhalten zugewandt.
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Im Unterschied zu den Ketzern, die unter den Christen lebten und die erst mühsam durch inquisitorische Maßnahmen entlarvt werden mussten, hatte der Gegensatz zwischen Juden und Christen neben der schon erwähnten zeitlichen eine – durch christliche Zwangsmaßnahmen hervorgerufene – klare räumliche Struktur: Die Sondergesetzen unterworfenen und insbesondere mit Zunftverbot belegten Juden lebten nicht unter, sondern neben den Christen. Seit dem Vierten Laterankonzil wurden Juden gezeichnet, d. h. (wie die Sarazenen) besonderen Kleiderordnungen unterworfen und ghettoisiert. Die mittelalterlichen Juden lebten im Wortsinn am Rand der Christen. Der religiösen Differenz korrespondiert die räumliche Aussperrung der Juden aus dem christlichen Lebenszusammenhang. Mit der Aufklärung und vollends nach der bürgerlichen Revolution wird die christliche Form des Ausschlusses semantisch zunehmend unmöglich. Mit dem Wandel der Gesellschaftsstruktur wandelt sich auch die Semantik fundamental: „Wir“ sind nicht mehr die Christen, „wir“ sind der Dritte Stand, und der Dritte Stand ist alles, wie es in der berühmten Flugschrift des Abbé Sieyès heißt. Die zur Selbstbeschreibung der Christen erforderliche Fremdbeschreibung der Heiden passt nicht in eine soziale Ordnung, die beide umfasst. Mit der Aufhebung der inneren Stratifizierung und dem Verlust der Privilegien von Adel und Klerus verlieren die religiöse Ausgrenzung der Juden und die damit verbundene rechtliche Diskriminierung ihren Sinn; in ganz Europa werden die Juden emanzipiert.18 Die Opposition gegen die absolutistische Ordnung konkretisiert sich zunächst in der aufklärerischen Idee der Menschheit (vgl. dazu Brunner u. a. 1995: 1079 ff.). „Menschheit“ schließt alle in gleicher Weise ein – und niemanden aus. Die Aufklärung kennt eine Vielzahl von ergreifenden Appellen, im Namen der Menschheit oder des Menschen die religiöse Differenz von Jude und Christ aufzugeben. Lessing beispielsweise lässt seinen Nathan den Tempelherrn mit den Worten beschämen: „(…) Wir haben beide Uns unser Volk nicht auserlesen. Sind Christ und Jude eher Christ und Jude, Als Mensch? Ah! wenn ich einen mehr in Euch Gefunden hätte, dem es genügt, ein Mensch Zu heißen.“ (Lessing 1968: 50)
Die – politische – Identifikation des Dritten Standes mit Menschheit, etwa bei Sieyès, ist logisch ebenso inkonsistent wie die Konstruktion einer Opposition von Menschheit und König und stellt ein Übergangsphänomen dar. „Mensch18 Vgl. zu der Beziehung zwischen Emanzipation und Antisemitismus ausführlich Reinhard Rürup (1987).
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heit“ ist weit mehr als ein politischer revolutionärer Oppositionsbegriff; in ihm verbindet sich ein humanistisches Bildungsideal, das etwa noch in der Marxschen Kritik der Arbeitsteilung fortlebt, mit der spezifisch modernen Vorstellung, dass der Mensch selbst Autor seiner Lebensverhältnisse sei. Aber das Selbstbild „Mensch“ lässt sich nur gegen nichtmenschliche Wesen oder gegen „Unmenschen“ profilieren. Das ist zwar bis in die Gegenwart nicht ungewöhnlich, jedoch – nicht zuletzt wegen der Inkonsistenz – nicht dauerhaft tragfähig.19 Jedenfalls hat sich die semantische Positionierung von Fremdbildern außerhalb der Menschheit („Untermensch“ usw.) nicht als eine dauerhafte Perspektive zur Selbst- und Fremdbeschreibung erwiesen. Das Selbstbild Mensch taugt als Oppositionsbegriff gegen ein religiöses Selbstverständnis, es taugt als Träger revolutionärer Forderungen nach formaler Gleichheit und bürgerlicher Freiheitsrechte, aber es taugt nicht zur Selbstbeschreibung von Handlungseinheiten in der Moderne. Gleichwohl bleibt es – bis heute – als oberste Einheit von Gleichen erhalten, deren Unterteilung die moderne Selbstbeschreibung eröffnet.20 An die Stelle der Christenheit tritt in der Moderne die Nation als Handlungseinheit, ob nun eingebettet in einen religiösen Kontext (christliches Abendland) oder in einen rassistischen Kontext (Arier, Eurasier, Weißer usw.) oder nicht. Die Selbstbeschreibung als Nation leistet die Unterteilung der Menschheit in mehrere, als gleichgeordnet gedachte Handlungseinheiten. Dies ist die Selbstbeschreibung einer segmentär differenzierten politischen Welt, die sich als Staatensystem etabliert, dessen Segmente sich als Nationalstaaten verstehen. Als Massenphänomene etablieren sich nationale Selbstbeschreibungen mit der Herausbildung nationaler Öffentlichkeiten und Bildungssysteme (und der allmählichen Durchsetzung einer Hochsprache gegen regionale und lokale Dialekte), der Entwicklung auf den Nationalstaat bezogener politischer Organisationen und der beginnenden Durchsetzung des allgemeinen Wahlrechts (für Männer) und nicht zuletzt rasanter Verstädterung.21 Wesentlich durch diese Strukturelemente findet eine bestehende nationale Selbstbeschreibung Verbreitung.
19 Dies scheint mir auch für die von Koselleck diskutierte Unterscheidung von Übermensch und Untermensch zu gelten: Diese Unterscheidung spielt zwar im 19. und 20. Jahrhundert eine Rolle, sie ist aber – wie die Identifikation partikularer Gruppen mit „Menschheit“ – inkonsistent, weil sie zugleich eine Gleichheit behauptet und bestreitet. 20 Der Konflikt zwischen universaler (Menschheit) und partikularer (Nation) Selbstbeschreibung wird nirgends deutlicher als in der Phase der Etablierung nationaler Deutungsmuster; vgl. exemplarisch Fichte 1978, insbesondere die fünfte Rede. 21 Der Nationalismus ist natürlich erheblich älter, aber als Massenphänomen, als ein politisches Phänomen der alltäglichen Selbstbeschreibung und des alltäglichen Selbstverständnisses entsteht er erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.
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Der Nationalismus als Selbstbeschreibung drückt zunächst die Einheit eines Kollektivs von Gleichen aus – wie übrigens die Selbstbeschreibung der Christenheit auch –, aber im Namen einer anderen Gleichheit (die im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert de facto noch nicht existiert); einer Gleichheit, die auf formale politische und ökonomische Gleichheit und juristische Gleichbehandlung, eine formale Egalität innerhalb der Wir-Gruppe, zielt. Das nationale Selbstbild hat formal die gleiche Struktur wie das christliche Selbstbild und wie überhaupt jede Gruppensemantik: Damit die Angehörigen einer Nation sich als Teile derselben verstehen können, müssen sie sich von anderen unterscheiden. Die Deutschen gibt es nur, wenn sie sich von den Franzosen unterscheiden. Diese Unterscheidung zeichnet sich durch Symmetrie aus. Die formale Konstruktionsregel der nationalen Handlungseinheiten ist auf beiden Seiten der Unterscheidung die gleiche; selbst wenn nach Auffassung der Nationalisten die eigene Nation besser ist als die andere, so sind doch beides Nationen. Innerhalb dieser Symmetrie ist kein Platz für Juden. Die vormalige, religiös ausbuchstabierte Differenz greift nicht mehr als vorrangige Selbst- und Fremdbeschreibung von Handlungseinheiten. Die Juden sind – nach der Emanzipation – wie die Katholiken und Protestanten Deutsche, Franzosen usw. Mit der Emanzipation ist die klare räumliche und zeitliche Struktur des Gegensatzbildes des vormodernen Judenhasses ungültig geworden: Juden leben nicht mehr neben, sondern unter „uns“. Sie gehören aber nach Auffassung des modernen Antisemitismus nicht zu „uns“ und können aufgrund der nun nicht mehr religiösen, sondern ethnischen Struktur des Gegensatzes auch nicht zu „uns“ gehören. Der moderne Antisemitismus ist gerade nicht symmetrisch strukturiert, d. h. er konstruiert nicht auf beiden Seiten gleiche Einheiten. Ich zitiere exemplarisch aus Treitschkes „Unsere Aussichten“: „Über die Nationalfehler der Deutschen, der Franzosen und aller anderen Völker durfte Jedermann ungescheut das Härteste sagen; wer sich aber unterstand über irgend eine unleugbare Schwäche des jüdischen Charakters gerecht und maßvoll zu reden, ward sofort fast von der gesamten Presse als Barbar und Religionsverfolger gebrandmarkt“ (Treitschke 1987: 111). Für Treitschke – wie für den modernen Antisemitismus insgesamt – gibt es nationale Handlungseinheiten, die Deutschen, die Franzosen und „alle anderen“ Völker.22 Damit ist eine Totalität angesprochen: Außer den genannten 22 Diese nationalen Handlungseinheiten müssen nicht notwendigerweise nur als ethnische Abstammungsgemeinschaften bestimmt sein, sie können – und sind es oft auch – darüber hinaus eingebettet sein in größere Handlungseinheiten, etwa das Abendland. In diesem Fall werden ursprünglich religiös geprägte Kollektivbegriffe wieder aufgenommen und in einem modernen Kontext operationalisiert (ein nur religiös fundierter Antisemitismus spielt im 20. Jahrhundert keine Rolle mehr). Sie können auch in größere Abstammungsgemeinschaften integriert werden. Die Einbettung des auf einem nationalen Selbstbild fundierten Antisemitismus in eine „nordische Rasse“ spielt im ausgehenden 19. Jahrhundert bis Mitte des 20. Jahrhunderts eine herausgehobe-
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gibt es keine Völker. Über diese symmetrische Unterscheidung zwischen Völkern hinaus gibt es noch Juden, die von Treitschke schon in der Wortwahl von allen anderen Völkern unterschieden werden: Juden haben keine „Nationalfehler“, sondern „Schwächen“, die Einheit wird nicht als Volk apostrophiert, sondern als „jüdischer Charakter“. Während die Beziehung zwischen Deutschen, Franzosen und „allen anderen Völkern“ in dem Sinne symmetrisch ist, als die Konstruktionsregel dieser Handlungseinheiten dieselbe ist und auf dieser Grundlage dann unterschiedliche Merkmalsausprägungen konstruiert werden („fleißige Deutsche“ vs. „faule Italiener“, „besonnene Nordländer“ vs. „feurige Südländer“ usw.), ist die Beziehung zwischen „allen Völkern“ und Juden asymmetrisch. Die Juden sind kein Volk. Diese doppelte Unterscheidung zwischen gleichartigen Völkern (Deutschen, Franzosen usw.) einerseits und zwischen allen diesen Völkern und Juden andererseits macht die Grundstruktur des modernen Antisemitismus und seine spezifische Differenz zum vormodernen Antisemitismus aus (vgl. dazu ausführlich: Holz 2006). Der vormoderne Antisemitismus kennt diese doppelte Unterscheidung nicht, er unterscheidet zwischen wahrem und falschem Glauben, nicht aber zusätzlich noch zwischen Glauben und Unglauben. Der asymmetrische Gegensatz von „allen Völkern“ und Juden zeichnet sich durch drei Besonderheiten aus: Er ist erstens im Unterschied zum vormodernen Judenhass zeitlich nicht überwindbar. Man kann die Zugehörigkeit nicht wechseln, wie man durch (Zwangs-)Taufe den christlichen Gott als den wahren Gott anerkennen konnte. Die Aufgabe, „dass unsere jüdischen Mitbürger sich rückhaltlos entschließen Deutsche zu sein, wie es ihrer Viele zu ihrem und zu unserem Glück schon längst geworden sind (…), kann niemals ganz gelöst werden. Eine Kluft zwischen abendländischem und semitischem Wesen hat von jeher bestanden“ (Treitschke 1987:116). Die Differenz zwischen der Wir-Gruppe und Juden ist hier – und das ist typisch und charakteristisch für den modernen Antisemitismus – in die Ewigkeit verlängert, die Grenze zwischen den Gruppen unüberwindbar. Daraus folgt ein grundsätzliches Misstrauen. Assimilieren sich die Juden nicht, wollen sie nicht sein wie „wir“, assimilieren sie sich, obwohl die „Kluft“ unüberbrückbar ist, tun sie dieser Logik nach nur so, als ob sie assimiliert seien. Was im mittelalterlichen Judenhass die Ausnahme war, die Konstruktion einer unüberwindbaren Schranke zwischen Christen und Juden, wird im modernen Antisemitismus zur Regel. Zweitens hat der Gegensatz keine räumliche Struktur. Die mittelalterlichen Juden lebten am Rand der christlichen Lebenszusammenhänge. Mit der Emanzi-
ne Rolle, verliert aber dann an Bedeutung. Auch in diesem Fall indes ist es so, dass ein nationales Kollektiv oder ein Kollektiv mit politischem Anspruch im Zentrum der Selbstbeschreibung steht.
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pation einerseits und der Säkularisierung23 andererseits leben Juden in der Mitte der Wir-Gruppe. Der Verewigung des Gegensatzes durch ethnische Zuschreibungen korrespondiert seine Unsichtbarkeit. Diese Unsichtbarkeit bildet eine Grundlage der Aura der Unheimlichkeit,24 mit der Juden im modernen Antisemitismus umgeben werden. Drittens profiliert das Fremdbild des Juden im modernen Antisemitismus nicht das Volk der Deutschen, wie etwa das judenfeindliche Fremdbild die Christenheit profiliert. Im modernen Antisemitismus werden die Juden als Gegenbild „allen Völkern“ gegenübergestellt. Die Asymmetrie des Gegensatzes führt zu einer spezifischen und für den modernen Antisemitismus charakteristischen Ambivalenz im Judenbild. Als Handlungseinheit sind die Juden einerseits konstruiert wie andere Handlungseinheiten auch, ein Volk „mit so reinem Blute und so ausgesprochener Eigenthümlichkeit“ (Treitschke 1987: 112). Als Gegenbild zu allen anderen Völkern sind sie andererseits dadurch ausgezeichnet, sich konträr zu diesen zu verhalten. Sie zerfleischen sich selbst („fanatische Judenfresser“, Treitschke 1987: 112) und unterlaufen vor allem die nationalistische Gleichung „Volk=Staat=Nation“, indem sie nicht selbst einen Staat bilden,25 sondern in anderen Staaten leben. Im modernen Antisemitismus werden die Juden als Volk gezeichnet, das kein Volk ist. Entsprechend stehen sie für all das, was der nationalstaatlichen Einheit eines Volkes entgegensteht – für einen liberalen Kosmopolitismus wie für einen autoritären Kommunismus, für die Mächte der Zersetzung, das Geld, die Presse, die wissenschaftliche Aufklärung. Die antisemitische Rede von einer „jüdisch-bolschewistischen Wall-Street-Verschwörung“ ist deshalb nicht in sich widersprüchlich, sondern konsistent: Dieses antisemitische Bild vereint alles, was gegen eine nationale Ordnung der Welt steht. Da die Welt in der Semantik des modernen Antisemitismus national geordnet ist, sind die Juden nicht von dieser Welt – kein Volk. Da umgekehrt die Welt national strukturiert und eine andere Strukturierung nicht vorstellbar ist, werden die Juden als Volk vorgestellt, das kein Volk ist. Diese drei Eigentümlichkeiten des modernen Antisemitismus, die Unüberwindbarkeit des Gegensatzes in der Zeit, die Enträumlichung und damit Unsichtbarkeit des Gegensatzes und die asymmetrische Struktur des Gegensatzes (d. h. die Unterscheidung der Juden von „allen Völkern“), reflektieren nicht nur eine gesellschaftliche Struktur, die Stratifizierungen der Sozialstruktur in der forma23 Der Terminus Säkularisierung zur Kennzeichnung der Moderne ist – völlig zu Recht – umstritten. Ich verstehe darunter die fortschreitende Individualisierung von Religion und religiöser Bekenntnisentscheidung und die mehr oder minder starke, in allen Fällen aber fortschreitende Trennung von Staat und Kirche in den westlichen Staaten. 24 Ich verwende den Terminus im Sinne Freuds (vgl. Freud 1978). 25 Die faktische Existenz des Staates Israel hat – bisher – auf die Semantik des Antisemitismus keinen Einfluss. Dies wäre allerdings im Detail einmal genauer zu untersuchen.
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len Gleichheit von „Brüdern“ aufgehoben und an ihre Stelle die Ungleichheit der „Brüderhorden“ gesetzt hat, sie konstituieren sie auch, insofern sie basale Handlungseinheiten, Nationen, erst schaffen. Unüberwindbarkeit, Unsichtbarkeit und Uneindeutigkeit als Folge von Asymmetrie sind der Stoff des modernen Antisemitismus – und es sind Spezifika der Moderne selbst. Unsichtbarkeit und Uneindeutigkeit sind zentrale und von der modernen Kulturkritik immer wieder kritisierte Charakteristika der Moderne. Die weitgehende Austauschbarkeit von Individuen in sozialen Funktionen auch im sozialen Nahbereich stellt ein fundamentales Motiv jugendlicher Opposition dar, die sich mit Zeichen der Differenz, der Authentizität und der Einmaligkeit schmückt. Nicht anders verhält es sich mit dem Wunsch, sich mehr oder weniger eindeutig verorten zu können, wie er etwa in der Suche nach Identität zum Ausdruck kommt und eine Reaktion auf die Uneindeutigkeit eines modernen Lebens darstellt. Die Schärfe und Härte von Gruppenzuschreibungen, die in ähnlicher Weise unüberwindbar sind wie vormoderne Standesschranken und die gerade nach dem Ende des so genannten OstWest-Konflikts erheblich an Relevanz gewonnen haben, können als eine Reaktion auf die Uneindeutigkeiten des modernen Lebens verstanden werden. Jedenfalls fällt auf, dass im modernen Antisemitismus das antisemitische Fremdbild dazu dient, ein Selbstbild zu zeichnen, das vor allem anderen auf Klarheit, Eindeutigkeit und Stabilität setzt. Der Antisemit weiß, wo er steht und mit wem. Die spezifische Art und Weise der Gegenüberstellung von Selbstbild und antisemitischem Fremdbild unterscheidet den vormodernen vom modernen Antisemitismus. Der vormoderne Judenhass mag hasserfüllt und brutal gewesen sein, wenn er sich in Pogromen entladen hat. Der moderne Antisemitismus hingegen ist von Anbeginn an von einer prinzipiellen Ratlosigkeit hinsichtlich der Frage geprägt, was denn mit einem Volk geschehen soll, das unter „uns“ lebt, aber nicht zu „uns“ gehört und auch nie zu „uns“ gehören kann. Eine räumliche Struktur hat der Gegensatz nicht mehr, zeitlich ist er verewigt, sachlich repräsentieren die Juden das Gegenbild zu einer Welt, in der Völker leben, eine nicht nationale Welt, in der nicht eine unreflektierte Tradition dem Handeln das Zepter führt, sondern die bewusste Entscheidung, eine Welt, in der die zersetzende Kraft argumentativer Rede nicht Halt vor nationalen Götzenbildern macht und Kritik zum guten Ton gehört, eine Welt, in der die Last schweißtreibender Arbeit nicht mehr zum zentralen Teil tagumgreifender Notwendigkeiten der materiellen Reproduktion gehört. In diesem Sinne sind „die Juden .. unser Unglück“ (Treitschke 1987: 115), sie stehen für das verhasste Ersehnte oder personifizieren Ambivalenz. Die Personifikation von Ambivalenz in den Juden ist in der Semantik des modernen Antisemitismus strukturell angelegt, d. h. die Folge eines asymmetrisch angelegten Fremdbildes, das in einer dezentrierten Welt das Selbstbild zentriert. Aus dieser zentrierten Welt sind die Juden ausgeschlossen, und zwar,
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anders als im vormodernen Judenhass, vollständig. Der vormoderne Judenhass lässt zeitlich die Konversion, räumlich die Randexistenz zu. Der moderne Antisemitismus schließt in seiner Semantik beide aus; die Struktur des antisemitischen Selbst- und Fremdbilds legt beide Seiten auf Unveränderlichkeit fest, aber die Seite der Juden eben in einem zeitlichen und räumlichen Jenseits „aller Völker“. Ich habe gezeigt, dass die Besonderheit der Semantik des modernen Antisemitismus in einem zeitlichen und räumlichen Totalausschluss der Juden aus der menschlichen Welt besteht, die als eine Welt von Völkern konzipiert wird. Juden stehen für das Andere, den Gegensatz zu einer segmentären Welt der Völker. Da dieses Andere ausgeschlossen ist, in einer in Nationalstaaten segmentierten Welt nicht vorkommt, muss das Gegenbild als Volk gezeichnet werden. Aus der Asymmetrie („alle Völker“ vs. „Juden“) folgt die Ambivalenz (Volk, das kein Volk ist). Dies ist der „reine“ Typus des modernen Antisemitismus. Empirisch wird das Selbstbild einer Wir-Gruppe, gegen das das antisemitische Fremdbild entwickelt wird, häufig in einen breiteren religiösen oder rassistischen Kontext eingebettet. Aber auch in den eingebetteten Varianten bleibt die moderne Struktur, der Totalausschluss, erhalten. Daraus ergeben sich wenig optimistische Annahmen hinsichtlich der Bekämpfung des Antisemitismus. Wir müssen nämlich annehmen, dass der moderne Antisemitismus wenigstens als Semantik bestehen bleibt, solange sich die gesellschaftliche Struktur nicht fundamental verändert. Wenn eine wie immer eingebettete nationale Selbstbeschreibung eine wesentliche Form moderner Selbstbeschreibung kollektiver Handlungseinheiten ist und in dieser Selbstbeschreibung andere nationale Handlungseinheiten gleichsinnig, d. h. nach den gleichen Prinzipien, konstruiert werden, dann können sich Kollektive zwar in dieser Form der Selbst- und Fremdbeschreibung thematisieren, aber dies leistet dann keine umfassende Beschreibung der modernen Welt. Umfassend wird diese Beschreibung – und damit die Verortung – erst in Selbst- und Fremdbeschreibungen, die die Moderne selbst thematisieren. Das leistet nicht nur der Antisemitismus. Aber er leistet es auch und er leistet es vor allem im Kontext der zentralen Selbstbeschreibung der Moderne, der nationalen Selbstbeschreibung. Trotzdem gibt es doch Möglichkeiten, die Verbreitung dieser Semantik in Grenzen und vor allem ihre Umsetzung in Handlungspraxen in Schranken zu halten. Die erste und wichtigste Möglichkeit scheint mir darin zu bestehen, über die Mechanismen der Konstitution von Handlungseinheiten aufzuklären. Eine Bekämpfung des Antisemitismus, die sich auf die antisemitischen Fremdbilder und deren vermutete Funktion für die Psyche der Antisemiten konzentriert, greift entschieden zu kurz, weil sie die zentrale Funktion von Fremdbildern für Selbstbilder unterschlägt. Im Grunde sitzt diese Auffassung selbst einer Semantik auf,
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ohne diese auf die gesellschaftliche Struktur zu beziehen: Der modernen Semantik des Individualismus. Mehr Sinn als die Aufklärung über antisemitische Fremdbilder hat die Aufklärung über Selbstbilder, die durch Abgrenzung vom „Juden“ stabilisiert werden. Literatur Adorno, Theodor W. (1971): Die Freudsche Theorie und die Struktur der faschistischen Propaganda, in: Ders.: Kritik. Kleine Schriften zur Gesellschaft, S. 34-66. Frankfurt a. M. Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1972): Anti-Semitism and Fascist Propaganda, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 8, S. 397-407. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1975): The Stars Down to Earth, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 9.2, S. 7-120. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1977a): Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, S. 555-572. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1977b): Meinung Wahn Gesellschaft, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10.2, S. 573-594. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1980): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. In: Ders., Gesammelte Schriften, Bd., 4. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. (1990): Negative Dialektik. In: Gesammelte Schriften, Bd. 6. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Adorno, Theodor W. u. a. (1954): The Authoritarian Personality, 2 Bde. New York: Wiley. Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max (1987): Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften, Bd. 5, S. 13-290. Frankfurt a. M.: Fischer. Anderson, Benedict (1983): Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London: Verso. Assmann, Aleida/Assmann, Jan (1994): Das Gestern im Heute. Medien und soziales Gedächtnis. In: Merten, Klaus u. a. (1994): 114-140. Bauman, Zymunt (1995): Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit. Frankfurt a. M.: Fischer. Benz, Wolfgang (2006) (Hg.): Jahrbuch für Antisemitismusforschung. Frankfurt a. M./New York: Campus. Bergmann, Werner (1997): Antisemitismus in öffentlichen Konflikten. Kollektives Lernen in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland 1949-1989. Frankfurt a. M./New York: Campus. Bergmann, Werner/Körte, Mona (Hg.) (2004): Antisemitismusforschung in den Wissenschaften. Berlin: Metropol. Braun, Christina von (2006): „Das ‚bewegliche’ Vorurteil.“ Aspekte des internationalen Antisemitismus, Würzburg Brunner, Otto u. a. (Hg.) (1995): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3. Stuttgart: Klett-Cotta. Brunner, Otto u. a. (Hg.) (1992): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7. Stuttgart: Klett-Cotta. Bundesamt für Verfassungsschutz (Hg.) (2005): Neuer Antisemitismus? Judenfeindschaft im politischen und öffentlichen Diskurs. Claussen, Detlev (1987a): Grenzen der Aufklärung. Frankfurt a. M.: Fischer. Claussen, Detlev (1987b): Über Psychoanalyse und Antisemitismus. In: Psyche, Heft 41. Stuttgart: Klett-Cotta.
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Flexible Feindbilder – Antisemitismus und der Umgang mit Minderheiten in der deutschen Einwanderungsgesellschaft Astrid Messerschmidt
Als ausgesprochen flexibel und wandlungsfähig haben sich die antisemitische Ideologie und die aus ihr hervorgehenden Welt- und Selbstbilder immer wieder erwiesen. Insofern ist es auch keineswegs erstaunlich, dass antisemitische Bilder und Praktiken auch heute Anknüpfungspunkte finden. Die folgenden Ausführungen gehen aktuellen Erscheinungsformen von Antisemitismus nach und fragen, wodurch antisemitische Auffassungen in der gegenwärtigen Einwanderungsgesellschaft begünstigt werden. Gefragt wird dabei insbesondere nach Zusammenhängen zwischen Diskriminierungserfahrungen in der Einwanderungsgesellschaft und der Verwendung antisemitischer Stereotype zur Selbstdarstellung. Davon ausgehend sollen Perspektiven entwickelt werden, die es ermöglichen, die eigenen Beziehungen zu einem gesellschaftlich normalisierten Antisemitismus zu reflektieren. Für die Bildungsarbeit werden Zugänge zu einem selbstkritischen und die Heterogenitäten der Beteiligten reflektierenden Umgang mit Antisemitismus vorgestellt. Aktuelle Erscheinungsformen des sekundären Antisemitismus In einer empirisch gestützten Untersuchung zu Artikulationsformen des aktuellen Antisemitismus in heterogenen Jugendszenen kommen insbesondere drei Stereotype zum Ausdruck: „Differenzkonstruktionen, die Juden als vom jeweiligen ‚Wir’ klar zu unterscheidende Gruppe thematisieren; eine problematische Kritik deutscher Erinnerungspolitik sowie eine Kritik israelischer Politik, in der zum Teil Juden generalisierend zugeschrieben wird, sie seien dafür verantwortlich“ (Schäuble/Scherr 2006a: 58). Zugleich treten diese Stereotype in Verbindung mit einer prinzipiellen Ablehnung von Antisemitismus, im Zusammenhang mit einer „moralischen Verurteilung des Holocaust“ auf, sowie mit dem Bekenntnis zu einer „toleranten Haltung gegenüber Juden als Individuen“ (ebd.). Deshalb wenden sich Barbara Schäuble und Albert Scherr gegen einen identifizierenden Umgang mit Antisemitismus, bei dem eindeutig unterschieden wird „zwischen anti-
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semitischen und nicht-antisemitischen Jugendlichen“ (ebd.). Eher geht es darum, widersprüchliche Ausdrucksformen wahrzunehmen, die im Zusammenhang mit „gesellschaftspolitischen und/oder jugendkulturellen Selbstverortungen“ zu betrachten sind (ebd.). Weil die aktuellen Ausdrucksformen des Antisemitismus in erziehungswissenschaftlicher Hinsicht insbesondere in Jugendszenen untersucht werden, entsteht leicht der Eindruck, es handle sich um ein Jugendproblem. Dem ist entschieden zu widersprechen, da in einer solchen Sichtweise wiederum die Tatsache verdrängt wird, dass es um eine gesamtgesellschaftliche Problematik geht. Das Spezifische eines Antisemitismus nach Auschwitz drückt sich aus in der Abwehr der Erinnerung an die NS-Verbrechen, in der Legitimation des Antisemitismus durch Leugnung oder Relativierung des Holocaust sowie in einer Schuldprojektion auf die Juden, die verantwortlich gemacht werden für das, was ihnen angetan wurde, und die als diejenigen angesehen werden, die einen dauernd mit der Erinnerung an Auschwitz belästigen. Zudem werden Juden im Zuge dieser Opfer-Täter-Umkehr für alle möglichen historischen oder aktuellen Untaten verantwortlich gemacht, „um so gleichsam den jüdischen Opferstatus zu entwerten“ (Bergmann 2006: 44). Die Grundstruktur des sekundären Antisemitismus besteht in einem Abwehrverhältnis zum Nationalsozialismus, in dem Versuch, Geschichte dadurch abzuschließen, dass man die Opfer diskreditiert.1 Ilka Quindeau spricht in diesem Zusammenhang von einem „Schuldabwehrantisemitismus“ – „Antisemitismus nicht trotz, sondern wegen Auschwitz“ (Quindeau 2007, S. 162). Darin spiegelt sich ein Umgang mit der NS-Vergangenheit, der noch stark auf Abwehr von Schuld, Schweigen und Verdrängung beruht. Bis in die 1980er Jahre sind diese Praktiken, sich Selbstentlastung durch Fernhalten der Geschichte zu verschaffen, in der bundesdeutschen Gesellschaft vorherrschend gewesen. Nach 1990 transformiert sich der bundesdeutsche Erinnerungsdiskurs von der Abwehr der Schuld hin zu ihrer Anerkennung (vgl. Quindeau 2007: 162). Damit löst sich aber das Problem des Antisemitismus nicht, sondern die gesellschaftlich weitgehend übernommene Verantwortung für die NSVerbrechen fordert wiederum Entlastung. Versprechen kann man sich eine Entlastung zum einen durch eine Erlösungsvorstellung, bei der aus der Übernahme der historischen Verantwortung ein geläutertes Selbstbild hergestellt wird. Zum anderen kann Entlastung durch die „zwanghafte Suche nach jüdischen ‚Tätern’ erfolgen“ (ebd.: 163). Durch das Argumentationsmuster, bei dem den Juden 1
„Der sogenannte sekundäre Antisemitismus ist, weit über Deutschland hinaus, ein europäisches Phänomen geworden. Gerade die Ressentiments gegenüber Juden als ‚privilegierten Opfern’ sind zum Beispiel in Frankreich sehr stark, was aber genauso mit der französischen Geschichte, sprich unaufgearbeiteter Kolonialgeschichte und Zweiter Weltkrieg, wie mit Israelkritik oder Antisemitismus zusammenhängt“ (Eckmann 2005: 107, Hervorh. im Original).
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unterstellt wird, sie „nutzten die Erinnerung an den Völkermord für ihre eigenen Vorteile aus“, erscheint die Erinnerung an die NS-Verbrechen als „Akt der Aggression“ (Pfahl-Traughber 2007: 9). Die Ausprägungen des postnationalsozialistischen Antisemitismus zeigen sich kaum noch in der Gestalt des rassistischen Programms. Allenfalls „neonazistische Teile des Rechtsextremismus“ knüpfen noch an den rassistischen Antisemitismus an (ebd.). Vorherrschend sind Praktiken der Derealisierung der Verbrechensvorgänge, deren Relativierung sowie die im sekundären Antisemitismus vorgenommene Täter-Opfer-Umkehr. Erinnerungsabwehr und Relativierungen historischer Erkenntnisse bedingen sich in diesen Abwehrpraktiken gegenseitig. Ein wirksames Instrument dieser Relativierung besteht darin, „die Opfer von damals als die Täter von heute“ erscheinen zu lassen (Holz 2005: 59). Klaus Holz sieht in dieser „Umkehrung des Verhältnisses von Täter und Opfer (...) den Kern des Antisemitismus nach Auschwitz“ (ebd.). Zwar hat der Antisemitismus nach 1945 seine rassentheoretische Begründung weitgehend verloren, dabei aber nichts von seiner Anziehungskraft eingebüßt (vgl. Bergmann 2004). Strukturell lässt sich nicht von einem „neuen Antisemitismus“ sprechen, eher ist es zu „Verschiebungen in den Thematisierungsanlässen und Motiven“ gekommen (Bergmann 2006: 47). Werner Bergmann weist auf vier Motive in den aktuellen Antisemitismen2 der letzten Jahre hin: erstens eine Form der Kritik an Israel mit „Annäherungen an antizionistisch-antisemitische Positionen“ (ebd.: 33); zweitens ein linker Antisemitismus, der durch die Konflikte im Nahen Osten revitalisiert worden ist und der den „vergangenheitsbezogenen SchuldabwehrAntisemitismus“ ersetzt durch eine Sichtweise Israels als ‚Täter’; drittens ein antirassistischer Antisemitismus, der in Israel die Verkörperung rassistischer Politik sieht; viertens die „Entwicklung einer radikal antijüdischen Haltung in der arabischen Welt“ (ebd.: 34). Motive des linken Antizionismus wie eines rechten Ultranationalismus finden sich bei verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Diese Motivlagen wahrzunehmen, halte ich für sinnvoller, als sich auf Herkunftsidentitäten zu konzentrieren.
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Eine pluralisierte Begrifflichkeit verdeutlicht einerseits die vielfältigen Erscheinungsformen und Artikulationszusammenhänge von Antisemitismus. Andererseits tritt mit der Bezeichnung im Plural die grundlegende ideologische Struktur von Antisemitismus hinter den unterschiedlichen Ausdrucksformen zurück.
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Sichtweisen auf Antisemitismus als Minderheitenproblem Wenn antisemitische Positionen unter marginalisierten Minderheiten artikuliert werden, erscheint die Problematik leicht als spezifisches Gruppenphänomen.3 Die ‚Anderen’ sind in dieser Sichtweise die ‚trouble maker’, denen es an Aufklärung, historischem Bewusstsein und Sensibilität zu mangeln scheint. Diese projektive Lokalisierung von Antisemitismus verfehlt die Gelegenheit, den aktuellen Kontext der Migrationsgesellschaft zu thematisieren. Anstatt die gesellschaftliche Situation in den Blick zu nehmen, die Antisemitismus zu einem vielfältig instrumentalisierbaren Reservoir an Fremd- und Feindbildern macht, wird über „einen Antisemitismus der Migranten“ gesprochen (Stender 2008: 284). Es kommt zu einer „verengten Beobachtungsperspektive“ (ebd.), die sich auf die Identitäten von Minderheiten fokussiert, anstatt die sozialen Verhältnisse in den Blick zu nehmen, innerhalb derer antisemitische Äußerungen Funktionen erfüllen. Eine identifizierende Sicht auf den Antisemitismus als Wesensmerkmal von bestimmen Gruppen in der Gesellschaft produziert „falsche Vereindeutigungen“ (ebd.: 289) und wird der Diversität von Antisemitismus und den vielfältigen Beanspruchungen antisemitischer Muster nicht gerecht. Weil Antisemitismus ideologische Anknüpfungspunkte für marginalisierte Minderheiten bereit hält, bietet sich für den mehrheitsdeutschen Umgang mit sekundärem Antisemitismus eine Gelegenheit, zum einen das Problem jenseits der einheimischen Mehrheitsgesellschaft anzusiedeln. Zum anderen kann ein Antisemitismusverdacht dafür instrumentalisiert werden, die Nichtzugehörigkeit eben dieser „Nicht-ganz-Deutschen“ bestätigt zu sehen. Für die Analyse und den pädagogischen Umgang mit Antisemitismus wirkt sich diese Konstellation fatal aus, weil sie dazu führt, dass der Verdacht die Debatte bestimmt, nicht aber die antisemitischen Bilder und Praktiken selbst. Um dem nicht aufzusitzen, sollte Antisemitismus als Bildungsproblem eingeführt werden, das alle angeht und nicht nur einige Gruppen in der Gesellschaft betrifft. Werden Muslime in Deutschland homogenisierend als eine Gruppe betrachtet, die zu Antisemitismus neigt, dann schwächt das gerade die Position demokratischer Deutsch-Muslime,
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In die Diskussion kam diese Problematik vor allem durch die vom European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia erstellte Studie von Werner Bergmann und Juliane Wetzel, die sich den Ausprägungen von Antisemitismus in der Europäischen Union widmete (vgl. Bergmann/Wetzel 2003). Juliane Wetzel bilanziert hinsichtlich der öffentlichen Debatte um die Ergebnisse der Studie, „dass europaweit das Problembewusstsein für antisemitische Tendenzen generell, aber auch für jene in den Zuwanderergesellschaften geschärft wurde“ (Wetzel 2005: 29). Die Trennung von „generell“ thematisierten antisemitischen Tendenzen und denselben in den „Zuwanderergesellschaften“ halte ich für problematisch.
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die sich gegen Antisemitismus engagieren und eindrucksvolle Projekte entwickelt haben.4 Der Antisemitismus derer, die auch in der dritten Generation immer noch als „Migranten“ bezeichnet werden, knüpft sowohl an den in der deutschen Gesellschaft nach wie vor vorhandenen Antisemitismus an, als auch an Formen von Antisemitismus, wie sie in den Herkunftsländern ausgeprägt werden. Um Antisemitismus politisch und pädagogisch bearbeiten zu können, sind die jeweiligen Bedingungen zu berücksichtigen, unter denen er auftritt. In der gegenwärtigen Einwanderungsgesellschaft gehören zu diesen Bedingungen neben den prekären rechtlichen und sozialen Verhältnissen, unter denen viele Migranten leben, antimuslimische Ressentiments und der Einfluss islamistischer und nationalistischer Gruppen (vgl. amira 2009: 2f). Antisemitische Auffassungen und Praktiken haben vielfältige Ausgangspunkte und erfüllen mehrere Funktionen. Sie eignen sich sowohl zur Provokation und damit zur Differenzmarkierung wie auch zum Erzeugen von Zustimmung und werden auf einem Territorium artikuliert, auf dem die Zugehörigkeiten umkämpft sind und das durch strukturelle Ungleichheiten gekennzeichnet ist. Mit Hilfe von Antisemitismus werden die den Diskriminierungserfahrungen von Minderheiten zugrunde liegenden rassistischen Spaltungen in der Einwanderungsgesellschaft auch von diesen Minderheiten selbst verdrängt zugunsten einer Sichtweise, die Verursacher für die eigene Misere personifizieren und eine spezifische Gruppe dafür verantwortlich machen kann. Eigene Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen können kompensiert werden, wenn die Abwertung auf ‚die Juden’ projiziert wird (vgl. ebd.: 7). Für die Analyse dieser Prozesse kommt es darauf an, die Zugehörigkeitsbegrenzungen und Ungleichheitsstrukturen in den Blick zu nehmen, die in dieser Gesellschaft wirksam sind. Daher kann es nicht darum gehen, sich auf einen spezifischen Antisemitismus der Eingewanderten zu konzentrieren. Diese Sichtweise vertieft nur die Spaltungen, die mit antisemitischen Versatzstücken verhandelt werden. Es geht sowohl darum, sichtbar zu machen, dass es antisemitische Auffassungen unter migrantischen Minderheiten gibt, als auch darum, diese Weltbilder und Fremdbilder, die im Modus des Antisemitismus zum Feindbild werden, im Kontext der bundesdeutschen Gesellschaft zu betrachten. Insofern sind antisemitische Erscheinungsformen auch kein Nachweis für das Scheitern der multikulturellen Gesellschaft, das in der medialen Öffentlichkeit so gerne
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Zu nennen sind beispielsweise die „Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus“ KIgA (www.kiga-berlin.org) und das Projekt „Antisemitismus im Kontext von Migration und Rassismus“ amira (www.amira-berlin.de), die beide in Berlin angesiedelt sind und sich insbesondere mit Bildungsangeboten in der Einwanderungsstadt beschäftigen, die geeignet sind, Antisemitismus entgegen zu treten.
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konstatiert wird.5 Eher werden hier Projektionen bemüht, die sich globalisiert haben und die aus vielfältigen nationalen und kulturellen Hintergründen heraus benutzt werden, um sich die Welt zu erklären oder für die eigenen Marginalisierungserfahrungen Erklärungsmuster zu finden, die es erlauben, sich nicht mit sich selbst auseinander setzen zu müssen. Auf der globalen politischen Bühne fungiert der Nahostkonflikt „als Ticket zur Äußerung der antisemitischen Ressentiments“ (Seidel 2005), begünstigt durch den „Einfluss arabischer Satellitensender“, die Weltverschwörungsphantasien verbreiten und das Publikum mit antisemitischem Bildmaterial versorgen (ebd.). Das Verschwörungstheorem ist ausgesprochen populär und bietet auch jenseits islamistischer Medien jede Menge Stoff für Welterklärungsmuster, mit denen man sich selbst als ‚gut’ und ‚unschuldig’ repräsentieren kann. Um eine antisemitismuskritische Perspektive herauszubilden, ist zunächst anzuerkennen, dass antisemitische Positionen vielfältig eingenommen werden und sich nicht an Herkunftskontexten festmachen lassen. Im Gegenteil zeichnet sich der aktuelle Antisemitismus gerade dadurch aus, dass er verschiedenste politische Lager, kulturelle und nationale Zuordnungen verbindet und soziale Spaltungen überbrückt (vgl. Messerschmidt 2006). Gemeinsam ist den heterogenen Anknüpfungen an antisemitische Ideologieelemente die Neigung, die eigene Handlungsfähigkeit und Verantwortung zu relativieren und sich selbst als Opfer übermächtiger Kräfte darzustellen. Eine Problemsicht, bei der angenommen wird, Antisemitismus sei insbesondere unter ‚bildungsfernen’ und unter ‚muslimischen’ Jugendlichen verbreitet, betrachten Barbara Schäuble und Albert Scherr auf dem Hintergrund ihrer qualitativen Studie (vgl. Schäuble/Scherr 2006b) als „empirisch unhaltbar“ und als „Hindernis für eine angemessene Beschreibung der Problematik“ (Schäuble/Scherr 2006a: 75). Allzu schnell werden in dieser Sichtweise diejenigen Jugendlichen, die als ‚muslimisch’ gekennzeichnet werden, als bildungsfern homogenisiert, was den vielfältigen sozialen Hintergründen keineswegs gerecht werden kann. Antisemitismus und antimuslimischer Diskurs Im Zuge eines sich verstärkenden antimuslimischen Diskurses in der gegenwärtigen bundesdeutschen Einwanderungsgesellschaft wird der kulturalisierte Ras5
„Man muss die Einwanderungsgesellschaft ja nicht künstlich niedlich machen. Aber ich finde trotzdem, dass sie eine der besten Gesellschaftsformen ist. Man kann mit- und voneinander viel lernen. Und man muss aufhören, bestehende Probleme ausschließlich bestimmten Gruppen zuzuschreiben. In Deutschland wird leicht diskutiert über ‚die’ Deutschen oder ‚die’ Türken“ (Doan Akhanli im Interview mit Dirk Eckert in: taz nrw vom 16.11.2006: 4).
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sismus ausgestattet mit Elementen aus dem Repertoire des Antisemitismus. Der Antisemitismusforscher Wolfgang Benz beobachtet: „Die Wut der neuen Muslimfeinde gleicht dem alten Zorn der Antisemiten gegen die Juden“ (Benz 2008: 9). Auf diesem Hintergrund fordert Benz, in Forschung und Bildungspraxis beide Phänomene in den Blick zu nehmen, sowohl die stereotypisierten Feindbilder gegenüber Juden wie gegenüber Muslimen. Beide Phänomene sind auf ihre Gemeinsamkeiten wie auf ihre Unterschiede hin zu betrachten, um eine Relativierung der jeweiligen Diskriminierungspraktiken zu vermeiden. Spaltungen in der deutschen Einwanderungsgesellschaft verlaufen zunehmend zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen, wobei Muslime als potenziell bedrohlich repräsentiert werden. Die deutsche Gesellschaft erscheint dabei wiederum als ursprünglich kulturell homogen, weshalb immer klar zu sein hat, dass „wir“ die Nicht-Muslime sind. In der Art und Weise, wie Muslime in der deutschen Gesellschaft repräsentiert werden, kommen immer mehr Motive zum Ausdruck, die dem Antisemitismus ähneln: Die Vorstellung, die Muslime gehörten nicht zu dieser Gesellschaft dazu, sie seien an äußeren Merkmalen zu erkennen, ihre Absichten seien nicht zu durchschauen, sie stünden in Verbindung mit ausländischen Mächten, sie eigneten sich Grundbesitz an, der ihnen nicht zustehe, sie seien religiös fremd. Der Zusammenhang von Rassismus und Antisemitismus erneuert sich vor dem Hintergrund kulturrassistischer, antimuslimischer Projektionen. Zu beachten bleiben dabei aber die Strukturunterschiede zwischen Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus. Während der Antisemitismus sich als eine Form von Hass gegenüber einer als übermächtig imaginierten und homogenisierten Gruppe exponiert und sich mit einem flexibel einzusetzenden Feindbild ausstattet, funktioniert Rassismus vorwiegend in Form der Verachtung. Im Zuge des Anti-Terror-Diskurses wird aber aus der Verachtung immer mehr eine Angst vor einer bedrohlichen Übermacht bei gleichzeitiger Projektion kultureller Rückständigkeit. Peter Widmann stellt in der rechtsextrem ausgerichteten islamfeindlichen Szene ideologische Elemente fest, die auch für die antisemitischen Projektionen kennzeichnend sind: In der Kombination ergeben diese Elemente ein geschlossenes Weltbild, das sich jeder Kritik entzieht. Eine wichtige Funktion erfüllt darin die „antimoderne Klage über die verlorene Identität“, die sich gegen Liberalisierung, Migration und Globalisierung richtet und moderne Pluralisierungsprozesse als eine Bedrohung nationaler Kultur und Tradition auffasst (Widmann 2008: 53ff). Das „Denken in absoluten Feindschaften“ bildet ein weiteres Element in diesem Weltbild, das einen kulturellen Antagonismus von Orient und Okzident zugrunde legt (ebd: 55). „In diesem Weltkampf figurieren Muslime als das absolut Andere“ (ebd.: 56). Zudem bedient sich die antimuslimische Propaganda der Verschwörungsphantasien, in denen „konspirative Mächte“ verdächtigt werden,
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Europa unter islamische Herrschaft bringen zu wollen (ebd.: 58). Nicht zuletzt ist die aus dem sekundären Antisemitismus bekannte „Neuverteilung historischer Täter- und Opferrollen“ zu nennen, durch die Muslime als die eigentlichen Antisemiten erscheinen, die zudem eine Dominanz gegenüber den Deutschen anstreben.6 Diese ideologischen Elemente beziehen sich auf rechtspopulistische, selbst ernannte „Islamkritiker“ und tauchen im Alltagsrassismus eher fragmentarisch auf. Genau dieselben Elemente werden von islamistischen Antisemiten beansprucht, wobei hier die Rollen so verteilt werden, dass Juden als Feinde der Muslime erscheinen. Gemeinsam ist beiden Phänomenen die Homogenisierung der jeweils Anderen und die Repräsentation der eigenen Gruppe als Opfer dieser Anderen. Kulturrassismus und sekundärer Antisemitismus Um eine angemessene Auseinandersetzung mit dem gegenwärtigen Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft zu erreichen, sind Geschichte und Wirkung von Rassismus und von Antisemitismus zu reflektieren. Hinsichtlich der geschichtlichen Ausprägungen und Begründungen unterscheiden sich Rassismus und Antisemitismus, sind aber zugleich beide Ausdruck von kulturellen Identitätsvergewisserungen und nationalistischen Herrschaftsbestrebungen. Die Positionen des hierarchisch definierten Anderen werden unterschiedlich besetzt, dienen aber jeweils einem überlegenen Selbstbild und der Ausdehnung eigener Macht. Die Kontrastierung von Rassismus und Antisemitismus bezieht sich auf die kolonialen Muster rassistischer Stereotype, die den ‚Anderen’ als unterlegen und minderwertig repräsentieren. Der Kulturrassismus zeigt sich demgegenüber wesentlich flexibler. Gegenwärtig aktualisiert sich hierzulande der Kulturrassismus insbesondere in Form eines ausgeprägten antimuslimischen Ressentiments. Insbesondere dann, wenn es um den Ausbau oder die Errichtung von Moscheen als sichtbaren Zeichen islamischer Präsenz geht, werden antimuslimische Ressentiments aktiviert, die ein Feindbild überlegener und gefährlicher Andersartigkeit zeichnen. Im Hintergrund dieser Entwicklung bleibt die Vorstellung einer kulturell homogenen Nation erhalten, die sich nun am Gegenbild des Islam stabilisiert. Rassismus und Antisemitismus werden zu flexiblen Ressourcen für
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„Der Islam soll als genozidale Religion erscheinen und Muslime damit als die maßgeblichen Judenfeinde in Geschichte und Gegenwart. Aus einem solchen Fremdbild ergibt sich das moralisch sanierte Selbstbild der Deutschen, die so als Opfer an der Seite der Juden stehen“ (Widmann 2008: 63).
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Fremdbilder, Feindbilder und Selbstbilder (vgl. Scherschel 2006).7 Der kulturalisierte Rassismus knüpft an den Antisemitismus an. Auch wenn der moderne Antisemitismus eine biologistische Rassekonzeption beansprucht, um die Juden auch äußerlich fremd zu machen, so sind für die ideologische Begründung ihrer Ausgrenzung und Verfolgung kulturelle Motive im Vordergrund. Sowohl im Kulturrassismus wie im Antisemitismus wird Kultur „statisch konzipiert und erscheint als homogene und verdinglichte Größe“ (ebd.: 55). Die kulturrassistisch und antisemitisch wahrgenommenen ‚Anderen’ werden als bedrohlich repräsentiert, „da ihre kulturellen Lebensweisen als unvereinbar mit jenen der Mehrheitsgesellschaft entworfen werden“ (ebd.: 55f). Anknüpfend an Étienne Balibar verwendet Karin Scherschel für den kulturalisierten Rassismus den Begriff des Neorassismus. Dabei wird der Biologismus durch den Kulturalismus ersetzt, und es werden unvereinbare Differenzen statt Hierarchien behauptet. Erhalten bleiben die Strukturunterschiede zwischen Antisemitismus und gegenwärtigem antimuslimischem Rassismus. Während der Antisemitismus sich als eine Form von Hass gegenüber einer als übermächtig imaginierten und homogenisierten Gruppe exponiert und sich mit einem flexibel einzusetzenden Feindbild ausstattet, funktioniert Rassismus vorwiegend in Form der Verachtung. In Zusammenhang mit dem Anti-Terror-Diskurs wird aber aus der Verachtung immer mehr eine Angst vor einer bedrohlichen Übermacht bei gleichzeitiger Projektion kultureller Rückständigkeit. Für den pädagogischen Umgang mit Rassismus und Antisemitismus kommt es auf dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Entwicklungen darauf an, sowohl die Unterschiede heraus zu arbeiten, als auch zu zeigen, wo sich beide Phänomene überlagern und ähnlich werden. Solange Antisemitismus alltagsweltlich als eine Ausprägung von Rassismus aufgefasst wird, bleibt es erforderlich, die spezifische Ressentiment-Struktur des Antisemitismus aufzuzeigen und diese von den kolonial-rassistischen Bildern zu unterscheiden (vgl. Messerschmidt 2008). Zugleich sind im Zuge kulturrassistisch ausgeprägter antimuslimischer Stimmungsmache Erkenntnisse aus der Antisemitismusforschung aufzugreifen, um verdeutlichen zu können, wie die Projektionen bedrohlicher Andersartigkeit funktionieren. Eine Neugruppierung von Feindbildern erfolgt nach 2001 unter der Prämisse der Abwehr von Terrorgefahren. Im Zuge dessen werden dualistische Gemeinschaftsmodelle reaktiviert, bei denen ein imaginäres ‚Wir’ den als bedrohliches Gegenbild projizierten ‚Anderen’ gegenüber gestellt wird. Den ‚Anderen’, mit denen im bundesdeutschen Diskurs zumeist Muslime gemeint sind, werden 7
Karin Scherschel bezeichnet Rassismus als „flexible symbolische Ressource“. „Flexibilität meint hier, dass der Rassismus je nach Gesellschaftstypus, je nach historischem Zeitpunkt, je nach sozialem Kontext und sozialer Situation unterschiedliche Ausformungen erfährt. Sein Inhalt und die Bedingungen seiner Inanspruchnahme sind variabel“ (Scherschel 2006: 13).
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Zivilisationsdefizite bescheinigt, worin ein klassisch koloniales Muster zu erkennen ist. Sie werden aufgefordert, diese durch Anpassung an den fortgeschrittenen Stand der hiesigen Demokratie auszugleichen. In diesem Zusammenhang kann man gegenwärtig von einem demokratischen Rassismus sprechen. Er dient einem Selbstbild als gefestigter Demokratie, wobei die Aufarbeitung des Nationalsozialismus als ein Markenzeichen dafür angesetzt wird. Die ausgesprochen diskontinuierlich verlaufene Geschichte bundesdeutscher Erinnerungsarbeit erscheint als eine Erfolgsgeschichte, wenn sie zur nationalen Selbststilisierung beansprucht wird (vgl. Messerschmidt 2007). Antirassistischer Antisemitismus Antisemitismus wird aktuell vor allem im Zusammenhang des Nahostkonflikts auch für antirassistische Argumentationen eingesetzt. Insbesondere in linken, sich selbst als antirassistisch verstehenden Kreisen wird „den Juden“ eine rassistische Politik gegenüber den Palästinensern vorgeworfen. Auf dieser Folie findet eine Transformation von Erklärungsmustern für Rassismen statt, bei der ein übermächtiger, im Hintergrund agierender Gegner ausgemacht wird, dem, weil er so unsichtbar und unfassbar ist, nun eine Identität verpasst wird (vgl. Ensinger 2008). En passant werden dabei Juden pauschalisierend mit den Israelis identifiziert und sowohl erstere wie letztere kollektiv vereinnahmt. Sichtbar wird ein antirassistischer Antisemitismus im Zusammenhang mit Opferkonkurrenzen und dem Bedürfnis, Ursachen für weltpolitische Probleme dadurch festzumachen, dass dichotome Muster von gut und böse, von Opfern und Tätern angelegt werden. Antisemitismus wird dabei zu einer Form der Rebellion, die als „Antisemitismus ‚von unten’“ bezeichnet werden kann (Stender 2008: 289) und in dieser Hinsicht keineswegs eine neue Erscheinung ist. Eine zentrale Funktion erfüllt darin der Anspruch auf den Opferstatus, wobei implizit Judentum mit einer pauschalen Beanspruchung der Opferrolle gleichgesetzt und Juden unterstellt wird, sie hätten das Opfersein quasi gepachtet. Es handelt sich hier also um ein Opferklischee, das von den antisemitisch Diskriminierten auf die rassistisch Diskriminierten verschoben wird. Eine Auseinandersetzung mit den Erfahrungen, die damit verbunden sind, zum Opfer gemacht worden zu sein, bleibt aus, wenn sich die Debatte auf die Legitimität von Opferrollen fokussiert. „Die Wahrnehmung von Antisemitismus und Rassismus als zwei einander gegenüber stehende Themen, deren Behandlung sich gegenseitig ausschließt, zeigt auch, dass der Status als ‚Opfer’ eine Ressource im Kampf um Anerkennung und die Einforderung von Rechten ist“ (amira 2009: 9). Angesichts ideologischer Instrumentalisierungen des Opferstatus sind rassismuskritische Ansätze herausgefordert, sich mit
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Antisemitismus zu befassen. Umgekehrt können antisemitismuskritische Konzepte nicht ohne die Reflexion gegenwärtiger Erfahrungen mit Rassismus auskommen. Monique Eckmann stellt den antirassistisch argumentierenden Antisemitismus in einen Zusammenhang mit einer seit den 1970er Jahren existierenden „ideologische(n) Strömung, in der Zionismus und Rassismus gleichgesetzt werden“ (Eckmann 2005: 103).8 Anstatt sich mit den komplizierten Problemen und Hintergründen des Nahostkonflikts auseinander zu setzen, wird dieser instrumentalisiert, um einen linken Antirassismus zu pflegen. Aufgrund dieser Praktiken, Antirassismus mit antisemitischen Ressentiments auszustatten, beobachtet Eckmann eine „gespaltene Antirassismusbewegung“ (ebd.). Auch das antirassistische Engagement muss in Zukunft ohne eindeutige Identität auskommen. Es fördert das Nachdenken, wenn man sich nicht mehr so sicher sein kann, durch eine bestimmte Zuordnung automatisch auf der ‚richtigen’ Seite zu stehen. Für die antirassistische Bildungsarbeit wie für die Rassismusforschung ergeben sich neue Herausforderungen. Wolfram Stender charakterisiert die Situation als eine „ungewohnte Konfrontation“ von Rassismus- und Antisemitismusforschung (Stender 2008: 284). Die Auseinandersetzung mit den Verflechtungen von Rassismus und Antisemitismus verlangt, sich von einem Bild zu verabschieden, in dem Migranten immer nur als Objekte und nicht als Subjekte von Diskriminierung und Ausgrenzung wahrgenommen werden (vgl. ebd.). Auch diejenigen, die selbst von rassistischen und kulturalisierenden Diskriminierungen betroffen sind, können an antisemitische Muster anknüpfen, um komplexe Verhältnisse zu vereinfachen. Weil antisemitische Stereotype als jederzeit aktualisierbares Material im kollektiven Gedächtnis zur Verfügung stehen, werden sie von verschiedenen Seiten eingesetzt, um Erklärungsmuster für eigene Probleme zu finden. In der Situation erfahrener Diskriminierungen von Minderheiten in der Einwanderungsgesellschaft dient Antisemitismus diesen der Verschiebung des Gegners, der dann nicht die Mehrheitsgesellschaft ist, sondern etwas Drittes, etwas, das von zwei Seiten als fremd markiert wird, von der Seite der Dominanzgesellschaft wie von ihren Minderheiten. Oder aber das Objekt des Antisemitismus wird mit der Mehrheitsgesellschaft identifiziert, indem Juden eine privilegierte Zugehörigkeit unterstellt wird und Kämpfe anderer Minderheiten um Zugehörigkeit damit kontrastiert werden. Mit Antisemitismus lässt sich über die gesellschaftlichen Spaltungen hinweg, die durch Rassismus strukturiert sind, ein gemeinsamer Feind ausmachen oder aber dieser Feind wird identisch mit der 8
Deutlich wurde dies beispielsweise bei der „Weltkonferenz gegen Rassismus“ im südafrikanischen Durban 2001, wo einige sich als links verstehende Gruppen den Juden vorwarfen, „die Opferposition zu monopolisieren“ und „Israel zum Inbegriff des Bösen, sprich von Kapitalismus und Imperialismus“ stilisierten (Eckmann 2005: 102).
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Dominanzgesellschaft. Der antisemitisch markierten Gruppe wird Macht unterstellt, während eine rassistische Markierung eher durch die Zuschreibung von Defiziten erfolgt. „Antisemitische Machtphantasien und Verschwörungstheorien haben zur Folge, dass Juden als übermächtig wahrgenommen werden, was immer ihnen auch geschieht“ (Eckmann 2006: 221). Dadurch wird es besonders schwierig, antisemitische Diskriminierungserfahrungen in pädagogischen Prozessen angemessen zu reflektieren. Die pädagogische Thematisierung von Diskriminierung war bisher meistens mit der Kritik an verachtenden und abwertenden Bildern des ‚Anderen’ verbunden. Eine antisemitismuskritische Bildungsarbeit ist demgegenüber herausgefordert, die Projektionen der Überlegenheit einer Reflexion zugänglich zu machen. Ansatzpunkte für die Reflexion von gegenwärtigem Antisemitismus in der Bildungsarbeit Für den pädagogischen Umgang mit Antisemitismus bedarf es einer Aufmerksamkeit dafür, dass mit antisemitischen Äußerungen Zugehörigkeiten und Erfahrungen der Nichtzugehörigkeit verhandelt werden, allerdings oftmals nicht explizit, sondern vermittelt über die Abwehr bestimmter Geschichtsdiskurse und durch das Einnehmen von Gegenpositionen gegenüber den Auffassungen derer, die zur „Dominanzkultur“ gehören (Rommelspacher 1995). Auf diesem Hintergrund plädieren Schäuble und Scherr für Bildungsangebote, „die sich an Grundsätzen einer reflektierten interkulturellen Pädagogik bzw. einer kritischen Diversity-Perspektive orientieren“ (Schäuble/Scherr 2006a: 64) und „die an der Lebenssituation und den Erfahrungen, auch den Benachteiligungs- und Diskriminierungserfahrungen der Jugendlichen ansetzen (…)“ (Schäuble/Scherr 2006b: 73). Im Zusammenhang von Diskriminierungserfahrungen kommt es zu einer „Vervielfachung miteinander konkurrierender Opferidentitäten und daran geknüpfter Anerkennungsforderungen“ (Fechler 2005: 189). Sollen diese nicht zur Rechtfertigung antisemitischer Haltungen heran gezogen werden, bedarf es einer expliziten Thematisierung dieser Erfahrungen wie auch der Frage, warum antisemitische Erklärungsmuster dafür aufgegriffen werden und durch welche Quellen diese zur Verfügung stehen. Es bedarf also einer doppelten Perspektive sowohl auf die Situation derer, die antisemitische Versatzstücke benutzen, wie auch auf die medialen Quellen, aus denen diese geschöpft werden. Ungleichheitsverhältnisse in der Einwanderungsgesellschaft geben einen Boden ab für projektive und identifizierende Erklärungsmuster, die die Situation vereinfachen. Sie begünstigen die Anknüpfung an antisemitische Muster, taugen aber nicht zur Ursachenerklärung, weil damit ein „verkürztes Verständnis von Antisemitismus
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als scheinbar rationale Reaktion auf gesellschaftliche Marginalisierung“ zugrunde gelegt würde (Seidel 2005), das geeignet ist, Verständnis für antisemitische Äußerungen und Praktiken auszudrücken. Die ideologische Struktur des Antisemitismus würde damit ausgeblendet zugunsten einer sozialpsychologischen Herleitung. Zwar sollte der soziale Kontext, in dem antisemitische Artikulationen verankert sind, thematisiert werden. Gleichzeitig ist es aber erforderlich, darauf zu achten, dass dabei nicht die antisemitische Problematik selbst dethematisiert wird. Wenn antisemitische Ressentiments geäußert werden, sollten diese auch zum Thema werden, anstatt reflexartig über etwas Anderes, dahinter Liegendes zu sprechen. Antisemitische Äußerungen sind in einer Ideologie der Ungleichheit verankert, was nicht heißen muss, dass alle, die ‚einen blöden Spruch’ über Juden oder über Israel machen, sich mit dieser Ideologie identifizieren. Sie sollten aber die Chance haben zu erfahren, in welchem historischen und gesellschaftlichen Zusammenhang ihre Äußerungen und Sichtweisen stehen und dazu angeregt werden, darüber nachzudenken und diese Muster in Frage zu stellen. Die pädagogische Arbeit steht vor einer doppelten Anforderung: weder den Antisemitismus unter einigen muslimischen Gruppen auszublenden, indem er als Ausdruck sozialer Benachteiligung dargestellt wird, noch die Ausgrenzungspraktiken in der deutschen Einwanderungsgesellschaft zu verfestigen, indem Antisemitismus als ein Problem muslimischer Minderheiten angeprangert wird. Eine antisemitismuskritische Bildungsarbeit ist mit vielfältig verzweigten Besetzungen von Antisemitismus konfrontiert, die es erfordern, den eigenen gesellschaftlichen Kontext als das Terrain anzuerkennen, auf dem dieselben aktivierbar sind. Zu diesen vielfältig ausgeprägten Anknüpfungen an antisemitische Denkweisen gehört aktuell insbesondere das „Feindbild Israel“, das zu einem Bestandteil muslimischen Selbstverständnisses geworden ist (Müller 2008: 98). Jochen Müller sieht diese Erscheinung im Zusammenhang mit einem „dominierende(n) Opferdiskurs“, der als Reflex auf eigene Marginalisierungserfahrungen auftritt. „Attraktiv dürfte daran sein, dass er u. a. eine Erklärung und Rechtfertigung für die aktuelle Situation bietet, in der sich viele Jugendliche arabischer und muslimischer Herkunft in Deutschland sehen“ (ebd.).9 Der Nahostkonflikt wird dabei zu einer „Projektionsfläche für eigene Erfahrungen mit Rassismus, Marginalisierung und Perspektivlosigkeit in der deutschen Gesellschaft“ (ebd.: 99). Um mit der antisemitischen Instrumentalisierung einer komplexen Problematik umgehen zu können, bedarf es einerseits der Berücksichtigung und Anerkennung der realen Erfahrungen von muslimischen Jugendlichen in Deutschland, andererseits ist eine Unterscheidung von Erfahrung und Ideolo9
Wolfram Stender spricht von „Interpretationen der gegenwärtigen Lebenssituation“, für die antisemitische Ideologiefragmente verarbeitet werden, im Sinne einer hochgradig projektiven Verarbeitung von Ausgrenzungserfahrungen (Stender 2008: 288).
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gie erforderlich, um die Infragestellung und Reflexion antisemitischer Behauptungen überhaupt zu ermöglichen. Welche Voraussetzungen sind zu schaffen, um in einer offenen Lernatmosphäre anerkennen zu können, dass es Antisemitismus in dieser Gesellschaft gibt und dass Juden Erfahrungen von Diskriminierung und Verachtung machen? Schäuble und Scherr verlangen von der Bildungsarbeit, die vielfältigen Artikulationsformen in den Blick zu nehmen und einer Analyse zugänglich zu machen, um den Kontext zu reflektieren, in dem Antisemitismus aktualisiert wird (vgl. Schäuble/Scherr 2006a: 58ff). Dabei kommt es darauf an, Äußerungen, die antisemitische Muster transportieren, in die gegenwärtige Landschaft antisemitischer Projektionen einzuordnen und sie damit nicht lediglich als persönliche Überzeugung desjenigen/derjenigen aufzufassen, der/die das gesagt hat, sondern in ihnen auch den Ausdruck gegenwärtiger Diskurse und dominanter Weltbilder zu sehen. Konzentriert sich eine pädagogische Arbeit, die beansprucht, Antisemitismus entgegen zu treten, auf moralische Verurteilungen, wird sie ihre Zielgruppen kaum erreichen, sondern eher reservierte Haltungen erzeugen. Die Problematik erscheint dann in Form einer Bezichtigung und nicht als ein allgemeines gesellschaftliches Problem, von dem auch die pädagogisch Handelnden sich nicht frei sprechen können. Wenn Antisemitismus in pädagogischen Settings zum Ausdruck kommt, so ist das eine Widerspiegelung dessen, was gesellschaftlich gerade abläuft. Ein pädagogischer Umgang mit dem Problem erfordert genau diese Kontextualisierung. Wer spricht auf welchem Resonanzboden? Der kontextualisierende Zugang bringt ins Spiel, dass es hier um ein gesamtgesellschaftliches Problem geht, das aufzunehmen und als solches zu bearbeiten ist. Folglich haben pädagogisch Handelnde und Professionelle in Lehr-Lernsituationen ihr eigenes Involviertsein in das Problem zu reflektieren. Antisemitismus ist emotional besetzt, besonders in einer Gesellschaft, die „untrennbar mit den Tätern von Auschwitz verbunden bleibt“ (Fechler 2005: 192). Empörung und das Bedürfnis, gegen das Gesagte vorzugehen, liegen nahe und sind legitim. Dennoch führt ein Ansatz der Bekämpfung pädagogisch nicht besonders weit und vertieft meist nur die Abwehr oder bestätigt das Bild, das das Gegenüber bereits von „den“ Pädagogen hat, die immer alles besser wissen und einem doch nichts sagen können. Wie kann so auf antisemitische Aussagen reagiert werden, dass eine Kommunikation entsteht, in der Klärungen möglich sind? Dafür wird es erforderlich sein, die eigenen Emotionen nicht auf mein Gegenüber übertragen zu wollen, also nicht zu erwarten, dass Andere dasselbe empfinden wie ich selbst. Mit diesem Zutrauen in die Selbstreflexion sind aber noch keine pädagogischen Auswege aus den Schwierigkeiten in der Auseinandersetzung mit Antisemitismus gefunden. Dies könnte nur dann erwartet werden, wenn die pädagogisch Handelnden jenseits antisemitischer Auffassungen und Bilder zu positionieren wären,
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also auf der Seite derer, die mit einem kritischen Bewusstsein für die Problematik ausgestattet wären. Damit würde ignoriert, dass pädagogisches Involviertsein in das Problem auch in Form der „inneren Resonanz“ gegenüber antisemitischen Äußerungen zum Ausdruck kommt, eine „mehr oder weniger intensiv gefühlte Zustimmung“ (ebd.: 193) gegenüber dem Gesagten. Wenn antisemitische Muster artikuliert werden, stoßen Pädagog/innen eben auch auf Verwandtschaften und Ähnlichkeiten mit dem eigenen Denken, mit eigenen Weltbildern und Erklärungsmustern. Bernd Fechler spricht von „unaufgearbeiteten Schuldgefühlen“ und „unbewussten Ambivalenzen“, durch die Pädagog/innen Gefahr laufen, „ihren Kampf mit den Schatten der eigenen Vergangenheit projektiv an ihren jugendlichen Adressaten auszutragen“ (ebd.: 192). Teilnehmende in Bildungskontexten werden somit instrumentalisiert und geraten selbst in eine Dynamik des Abwehrens und Dethematisierens, weil ihnen das Problem des Antisemitismus als ein äußeres erscheinen muss – ihnen angetragen von pädagogisch Handelnden, die selbst kaum in die Lage gekommen sind, ihre eigene Beziehung dazu zu reflektieren. Die gesellschaftliche Bedeutung von Antisemitismus kann aber erst erfahrbar werden, wenn die Problematik in pädagogischen Kontexten als eine repräsentiert wird, von der sich auch die Lehrenden nicht lossagen können. Involvierte Perspektiven Pädagogisch Handelnde selbst können sich nicht außerhalb davon positionieren, sondern befinden sich in Strukturen und gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen Antisemitismus wirksam ist. Ilka Quindeau beschreibt diese strukturelle Verankerung in Form einer „Ubiquität des Antisemitismus als einer in unserer Kultur tief verwurzelten Vorurteilsstruktur, an der wir alle unausweichlich partizipieren“ (Quindeau 2007: 160). Solange Antisemitismus „das Problem der Anderen“ ist, kann man sich leicht empören und sich auf eine „Position moralischer Überlegenheit zurückziehen“ (ebd.). Diese distanziert-überlegene Position ist pädagogisch-praktisch fatal und bildungstheoretisch unkritisch. In Kontexten des Lehrens und Lernens erzeugt diese Position Abwehr bei den Teilnehmenden, da sie sich angegriffen fühlen müssen, während die Lehrkraft außerhalb des Problems zu stehen scheint. Wird dagegen das eigene Involviertsein als strukturelles und auch persönliches verdeutlicht, können antisemitismus-kritische Lernprozesse eine neue Dynamik finden. Zugleich sollten verschiedene Perspektiven auf dieses Involviertsein eröffnet werden, auch die Perspektive derer, die durch antisemitische Praktiken diffamiert und angegriffen werden. Darin liegt vielleicht ein am meisten vernachlässigter Aspekt, und das betrifft auch meine eigene Ausei-
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nandersetzung, die selbst aus einer eingeschränkten, hegemonial nicht-jüdischen Perspektive erfolgt. Viele der im deutschen Kontext entwickelten Überlegungen zum pädagogischen Umgang mit Antisemitismus sind aus Erfahrungen mit nicht-jüdischen Teilnehmenden entwickelt worden und bleiben in dieser Hinsicht einseitig. Auch die Bedenken, dass es bei der Auseinandersetzung mit Antisemitismus zu einer anklagenden Haltung kommen könnte, spiegeln diese Einseitigkeit. Dennoch ist es wichtig, um das Problem der Abwehr eines vermuteten Angeklagtwerdens zu wissen – also sich für die pädagogische Arbeit klar zu machen, welche Befürchtungen bei vielen Teilnehmenden bestehen, wenn Antisemitismus zum Thema wird. Die Bereitschaft, anzuerkennen, dass es Antisemitismus in dieser Gesellschaft gibt und dass die am Lernprozess Beteiligten selbst ein Teil davon sind, wird gefördert, wenn die Erarbeitung der Problematik nicht in Form von Bezichtigung und Beschuldigtwerden erfahren wird.10 Anknüpfend an die aus der Reflexion und Kritik antirassistischer Bildungsarbeit entwickelte „rassismuskritische Perspektive“ (Mecheril 2004, 205), bei der die strukturelle Eingebundenheit in rassistische Strukturen11 sichtbar gemacht wird, kann für die Auseinandersetzung mit Antisemitismus versucht werden, eine antisemitismuskritische Perspektive einzunehmen und damit eine Bildungspraxis zu entwickeln, deren Akteur/innen sich bewusst sind, selbst in die Geschichte und die gegenwärtigen Formen von Antisemitismus involviert zu sein, die Teil der Gesellschaft sind, in der sie leben (vgl. Messerschmidt 2009: 169ff). Für den rassismuskritischen Ansatz kommt es darauf an, die eigene Beziehung zum Rassismus zu thematisieren und der „eigenen Weißen Dominanzposition“ gewahr zu werden (Elverich/Reindlmeier 2006: 51). Deutlich ist dabei, dass auch hier die Perspektive der weißen Mehrheitsgesellschaft eingenommen ist, um deren Selbstreflexion es geht. Deshalb wiederholt auch ein rassismuskritischer Ansatz die Dominanzstrukturen, in denen die Präsenz von Nicht-Weißen nicht vorgesehen ist – ein Dilemma, das als solches anzuzeigen, aber nicht einfach aufzulösen ist. Auch dieser auf die Kritik des Antisemitismus übertragene Ansatz bleibt innerhalb der dominierenden antisemitischen Struktur, denn er ignoriert die Präsenz derer, die von antisemitischer Diskriminierung getroffen werden und die die gesellschaftlichen Spaltungen in Juden und Nichtjuden all10 „Es liegt jedoch ein gewaltiger Unterschied darin, ob diese (antisemitischen, A.M.) Äußerungen ich-synton sind, d.h. sich mit bewussten Überzeugungen und Einstellungen verbinden, ob jemand seine Vorurteile für richtig hält oder sie vielleicht unbedeutend, irrelevant findet oder ob jemand über seine eigenen Äußerungen erschrickt. Ich halte es nun für eine zentrale Aufgabe unserer politischen Kultur, dieses Erschrecken möglich zu machen“ (Quindeau 2007: 161). 11 Gabi Elverich und Karin Reindlmeier sehen Rassismus als „gesellschaftliches Strukturprinzip“ (Elverich/Reindlmeier 2006: 27), in dem „subjektive(.) Denk- und Handlungsweisen, gesellschaftliche(.) Strukturen und soziale(.) Bedeutungen“ in einem Wirkungszusammenhang stehen, wobei sie für die Bildungspraxis einfordern, die drei Ebenen zu unterscheiden (ebd.: 31).
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täglich erfahren. Erst wenn diese Ausblendung thematisiert wird, kann eine kritische Haltung gegenüber Antisemitismus entwickelt werden, um eine gesellschaftliche Normalität in den Blick zu nehmen, die selbstverständlich von jüdischer Nicht-Präsenz ausgeht. Literatur amira (2009): „Du Opfer! Du Jude“ – Antisemitismus und Jugendarbeit in Kreuzberg, Dokumentation der amira-Tagung am 16.09.2008 im Stadtteilzentrum Alte Feuerwache, Berlin-Kreuzberg. www.amira-berlin.de/Material/Publikationen/54.html Benz, Wolfgang (2008): Vorwort zum Jahrbuch für Antisemitismusforschung 17, Berlin: Metropol: 9-14. Benz, Wolfgang (Hrsg.): Jahrbuch für Antisemitismusforschung 17, Berlin: Metropol. Bergmann, Werner (2006): Erscheinungsformen des Antisemitismus in Deutschland heute. In: Fritz Bauer Institut et.al. (Hrsg.) (2006): 33-50. Bergmann, Werner (2004): Auschwitz zum Trotz. Formen und Funktionen des Antisemitismus in Europa nach 1945. In: Braun et. al. (2004) (Hrsg.): 117-141. Bergmann, Werner/Juliane Wetzel (2003): Manifestations of Anti-Semitism in the European Union – First Semester 2002 – Synthesis Report EUMC. Wien. Braun, Christina von et.al. (Hrsg.) (2004): Das ‚bewegliche’ Vorurteil. Aspekte des internationalen Antisemitismus. Würzburg: Königshausen und Neumann. Broden, Anne/Paul Mecheril (IDA) (Hrsg.): Re-Präsentationen. Dynamiken der Migrationsgesellschaft. Düsseldorf: IDA. Brosch, Matthias/Michael Elm/Norman Geißler/Brigitta Elisa Simbürger/Oliver von Wrochem (Hrsg.): Exklusive Solidarität. Linker Antisemitismus in Deutschland. Berlin: Metropol. Eckmann, Monique (2006): Rassismus und Antisemitismus als pädagogische Handlungsfelder. In: Fritz Bauer Institut et. al. (Hrsg.) (2006): 210-232. Eckmann, Monique (2005): Antisemitismus im Namen der Menschenrechte? Migration, europäische Identitäten und die französische Diskussion. In: Loewy (Hrsg.) (2005): 101-120. Elverich, Gabi/Karin Reindlmeier (2006): „Prinzipen antirassistischer Bildungsarbeit“ – ein Fortbildungskonzept in der Reflexion. In: Elverich et.al. (2006): 27-62. Elverich, Gabi/Annita Kalpaka/Karin Reindlmeier (Hrsg.): Spurensicherung. Reflexion von Bildungsarbeit in der Einwanderungsgesellschaft, Frankfurt a.M./London: IKO-Verlag. Ensinger, Tami (2008): Linke Projektionen. Zum pädagogischen Umgang mit Antisemitismus unter besonderer Berücksichtigung des Antisemitismus von links. Göttingen. Fechler, Bernd (2005): Antisemitismus im globalisierten Klassenzimmer. Identitätspolitik, Opferkonkurrenzen und das Dilemma pädagogischer Intervention. In: Loewy (Hrsg.) (2005):181-206. Fritz Bauer Institut/Jugendbegegnungsstätte Anne Frank (Bernd Fechler/Gottfried Kößler/Astrid Messerschmidt/Barbara Schäuble) (Hrsg.) (2006): Neue Judenfeindschaft? Zum pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus, Frankfurt/M.: Campus Verlag. Holz, Klaus (2005): Die Gegenwart des Antisemitismus. Islamistische, demokratische undantizionistische Judenfeindschaft. Hamburg: Hamburger Edition. Loewy, Hanno (Hrsg.) (2005): Gerüchte über die Juden. Antisemitismus, Philosemitismus und aktuelle Verschwörungstheorien. Essen: Klartext Verlag. Mecheril, Paul (2004): Einführung in die Migrationspädagogik. Weinheim: Beltz Verlag. Messerschmidt, Astrid (2009): Weltbilder und Selbstbilder. Bildungsprozesse im Umgang mit Globalisierung, Migration und Zeitgeschichte. Frankfurt/M.: Brandes und Apsel.
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Islamistischer Antisemitismus Phänomen und Forschungsstand Klaus Holz und Michael Kiefer
Der Antisemitismus, der in der arabischen bzw. muslimischen Welt vertreten wird, ist in allen wesentlichen Aspekten ein Import aus Europa. Der moderne europäische Antisemitismus wurde nur an eine islamistische Semantik angepasst, was keine grundlegenden Veränderungen erforderte. Mit der Reislamisierung von Teilen der muslimischen Bevölkerungen und der damit verbundenen fundamentalistischen Zuspitzung von Religion in Europa wurde diese Variante des modernen Antisemitismus zurück nach Europa importiert. Diese Behauptung kann sowohl historisch (1.) als auch systematisch (2.) belegt werden. Danach werden wir die jüngsten Entwicklungen seit der 2. Intifada darstellen (3.), den derzeitigen Forschungsstand skizzieren und abschließend dringend notwendige Forschungen einfordern (4.). 1 1.1
Geschichte des Antisemitismus bis zur 2. Intifada Geschichte des Antisemitismus im arabischen Raum
Der Antisemitismus ist eine genuin moderne Weltanschauung mit antimoderner Stoßrichtung.1 Es ist offensichtlich, dass sich die antisemitische Weltanschauung nur indirekt und in wesentlichen Teilen überhaupt nicht aus den Heiligen Texten des Christentums oder des Islam ableiten lässt. Vielmehr entsteht der Antisemitismus als eine Weltanschauung, die die neue, ebenfalls von Europa übernommene Leitideologie des Nationalismus2 durch die Konstruktion eines internationalen, universalistischen Feindes absichert. In diesem Feind wird die moderne Gesellschaft in ihren bedrohlichen Aspekten personifiziert. Exakt wegen diesen 1
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Wir verwenden für die Kapitel über die Geschichte und die Semantik des Antisemitismus unsere ausführlicheren Darstellungen in Michael Kiefer, Antisemitismus in den islamischen Gesellschaften. Der Palästina-Konflikt und der Transfer eines Feindbildes, 2002, Düsseldorf: FGK; Klaus Holz, Die Gegenwart des Antisemitismus. Islamistische, demokratische und antizionistische Judenfeindschaft, 2005, Hamburg: Hamburger Edition. Fred Halliday,The Middle East in International Relations. Power, Politics and Ideology, S. 193ff., 2005, Cambridge: Cambridge University Press.
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Qualitäten wurde der europäische Antisemitismus im arabischen Raum attraktiv. Er wurde im 20. Jahrhundert importiert, weil durch die (Ent)Kolonialisierung und die Modernisierungsprozesse im arabischen Raum Bedarf an einer solchen Welterklärung entstand. Selbstverständlich wurde der Antisemitismus dabei variiert. Aber in den Grundzügen blieb es beim Alten. Die traditionale, religiös begründete Judenfeindschaft, die im Islam ihre Anfänge in Kämpfen zwischen jüdischen Stämmen und Mohammeds Gefolgschaft in Medina nimmt, bildet wie in Europa einen Hintergrund für die Entwicklung des modernen Antisemitismus. Dieser Transformationsprozess aber wird nur in Europa zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert vollzogen, während in der islamischen Welt der moderne Antisemitismus als entwickelte Weltanschauung im 20. Jahrhundert übernommen und an die dortigen Gegebenheiten angepasst wird. Die Geschichte des arabischen Antisemitismus ist hauptsächlich an zwei Entwicklungen gebunden: Einerseits an die Wandlung kollektiver Selbstverständnisse während der letzten Phasen der europäischen Vorherrschaft und der Entkolonialisierung, andererseits an die Entstehung des Palästina-Konfliktes. Beide Entwicklungen werden als eng verbunden wahrgenommen, da die jüdische Besiedlung, zunehmend ab den 1920er Jahren, ihrerseits als Kolonialisierung im Schutze der britischen Mandatsmacht verstanden wird. Als Reaktion darauf entwickelte sich eine palästinensische Nationalbewegung, die analog zur Entwicklung in anderen arabischen Gebieten die Bildung eines Nationalstaates anstrebte. Ein Teil dieser Bewegungen und Parteien, wie zum Beispiel die in Syrien gegründete Baath-Partei oder der Nasserismus in Ägypten, waren entschieden panarabisch, erstrebten also einen einheitlichen arabischen Nationalstaat. Der erste bedeutende arabische Antisemit, der Mufti von Jerusalem Amin alHusaini, wurde um 1930 die maßgebliche Autorität der palästinensischen Nationalbewegung. Es ist weder überraschend noch in islamischen Traditionen begründet, dass der Mufti an einer engen Kooperation mit dem Nationalsozialismus interessiert war.3 Beide beriefen sich auf dieselben antisemitischen Quellen – insbesondere die „Protokolle der Weisen von Zion“ – und hatten mit Großbritannien, dem Bolschewismus und den Juden gemeinsame Feindbilder. Folglich begeisterte sich ein Teil der antikolonialen Bewegungen gegen Großbritannien bzw. Frankreich für den Nationalsozialismus. In Damaskus zum Beispiel war in den späten 30er Jahren die Parole zu hören: „Nein Monsieur, nein Mister, Gott im Himmel, Hitler auf Erden.“ Sie drückt nicht nur die prodeutsche und prona3
Zu zeitgenössischen widerstreitenden Strömungen siehe die Artikel in Gerhard Höpp, Peter Wien und René Wildangel (Hg.), Blind für die Geschichte? Arabische Begegnungen mit dem Nationalsozialismus, 2005, Berlin: Klaus Schwarz.
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zistische Parteinahme in der Konkurrenz der europäischen Großmächte, sondern auch die Verbindung religiöser und säkularer Orientierungen aus. Nach der Niederschlagung des militanten Aufstandes von 1936-39 in Palästina durch die britische Mandatsmacht wurde die Kooperation zwischen Nationalsozialisten und arabischen Nationalisten und Antisemiten enger - vor allem durch den schon genannten Jerusalemer Mufti. Heinrich Himmler schrieb 1943 an den Mufti, die nationalsozialistische Bewegung habe „schon immer mit besonderer Sympathie den Kampf der freiheitsliebenden Araber, vor allem in Palästina, gegen die jüdischen Eindringlinge“ verfolgt.4 Der Mufti selbst war ab 1941 im deutschen Exil und war u.a. an der Aufstellung der muslimischen 13. SSGebirgsdivision beteiligt, die aus muslimischen Freiwilligen in BosnienHerzegowina gebildet wurde. Diese SS-Division war an der Ermordung der jugoslawischen Juden beteiligt. In derselben Zeit fanden bis zur Staatsgründung Israels mehrere antijüdische Pogrome mit Hunderten von Toten in verschiedenen arabischen Ländern statt. Für die Ausbreitung und Vertiefung des arabischen Antisemitismus hatte die Entwicklung in den 30er und 40er Jahren weitreichende Folgen. Statt dem sich allmählich entfaltenden jüdisch-arabischen Konflikt eine eigenständige politische Deutung zu geben, erlaubte der europäische Antisemitismus eine ideologische Deutung des Konfliktes als übergeordnete und existentielle Konfrontation mit den Juden. Schon seit den 20er Jahren wurden vermehrt antisemitische Texte aus Europa publiziert. Das spezifisch nationalsozialistische Gedankengut verlor aber bald an Einfluss. Im Kalten Krieg orientierten sich die arabischen Nationalstaaten überwiegend an der Sowjetunion bzw. an Ideologien eines dritten Weges zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Für den Antisemitismus aber bedeutete dies keinen grundlegenden Wandel. Die rassistischen Aspekte des nationalsozialistischen Antisemitismus, die im arabischen Kontext generell von geringer Bedeutung sind, traten zugunsten des Nationalismus und des stalinistisch geprägten, antizionistischen Antisemitismus zurück, während parallel dazu das Verständnis der arabischen Nation(en) sozialistisch aufgeladen wurde. Trotz aller Veränderungen, die dies bedeutete, ist auch der stalinistische Antizionismus nur eine Variante des modernen Antisemitismus, der die wesentlichen Strukturen des Antisemitismus bewahrt.5 Nun wird der weltweite Feind als jüdisch-bourgeoiser, zionistisch-imperialistischer, jüdisch-amerikanischer Gegner verstanden. Zwar sprach man oft nur von Zionisten, meinte aber doch die Juden, sprach von Sozia4 5
Kiefer, Antisemitismus, a.a.O., S. 78 Siehe hierzu Klaus Holz, Nationaler Antisemitismus. Wissenssoziologie einer Weltanschauung, Kap. 7, 2001, Hamburg: Hamburger Edition.
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lismus, legitimierte damit aber die Diktatur von Parteien in Nationalstaaten, sprach vom Klassenkampf, sah den Klassengegner aber im jüdisch-amerikanischen Imperialisten. Der heute dominierende antisemitische Antizionismus beerbt diese Variante, löst sie allerdings von der stalinistischen Ideologie. Der antizionistische Antisemitismus schließt eine Leugnung oder Relativierung der Shoah ein, indem er eine Wesensgleichheit und Zusammenarbeit von Nazismus und Zionismus behauptet. Die Zionisten „standen auch hinter dem Zweiten Weltkrieg, in dem sie immensen Nutzen aus dem Handel mit Kriegsgütern zogen und die Etablierung ihres Staates vorbereiteten“.6 Dementsprechend ist Israel nicht der Staat der Überlebenden, sondern Resultat einer zionistischen Verschwörung.7 In den 70er Jahren gewannen islamistische Bewegungen an Bedeutung und erzielten mit der islamischen Revolution im schiitischen Iran ihren ersten durchschlagenden Erfolg. Bis zu diesem Zeitpunkt spielten islamistische Kräfte im Palästina-Konflikt praktisch keine Rolle. Die PLO war säkular und sozialistisch orientiert, bekam nun aber um 1980 allmählich ernste Konkurrenz durch die sich formierenden palästinensischen Muslimbrüder, aus denen zu Beginn der ersten Intifada 1987 die Hamas hervor ging. Diese kämpften zunächst nicht gegen Israel, sondern gegen die PLO, deren Sozialismus und säkularer Nationalismus die angeblich authentische, seit alters her geprägte muslimisch-traditionale Identität bedrohte. Der Konflikt zwischen PLO und Hamas ist symptomatisch für den Umbruch der Leitideologien in der arabischen Welt. Beide richteten sich in der Tradition der antikolonialen Befreiungsideologien gegen die westlich-kapitalistische Vorherrschaft. Diese werde aber, so die Hamas und generell die Islamisten, von einheimischen Regimen und Parteien durchgesetzt. Ein Beispiel hierfür war das vom Westen, auch von Israel gestützte Schah-Regime im Iran. Die Islamisten verstehen sich dementsprechend als revolutionäre Bewegungen, die die arabischen Nationalstaaten von ihrem gottlosen, westlich korrumpierten Wege abbringen wollen. Sie wollen vorwärts-zurück zu einer muslimischen Identität, die vom Westen und dem Zionismus mit Hilfe „einer riesigen Armee von Agenten […] 6 7
Charta der Hamas, Art. 22. Die Charta zitieren wir nach der englischen Übersetzung (www.thejerusalemfund.org/carryover/documents/charter.html vom 20.01.05). Zur weitverbreiteten Leugnung des Holocausts siehe Omar Kamil, Araber, Antisemitismus und Holocaust. Zur Rezeption der Shoah in der arabischen Welt, 2003, in: analyse und kritik, Heft 473 und 474; Götz Nordbruch, Leugnung des Holocaust in arabischen Medien, in: Wolfgang Benz (Hg.), Jahrbuch für Antisemitismusforschung, Bd. 10, S. 184-203, 2001, Frankfurt am Main: Campus.
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muslimischer Abstammung“ bedroht werde.8 Die vermeintliche Rückbesinnung auf die eigenen religiösen und politischen Wurzeln gewinnt ihre Attraktivität aus der Dynamik der Modernisierung, die sich in der arabischen Welt wie überall in Verwerfungen, Ungleichzeitigkeiten und sozialen, ökonomischen, politischen und psychologischen Krisen auswirkt, und aus dem Scheitern des westlichen Nationalismus und Sozialismus als Heilmittel für die postkoloniale Desintegration der arabischen Staaten, die meist Produkte des Kolonialismus sind. Tatsächlich jedoch ist diese Rückbesinnung keine Rückkehr zu einem ursprünglichen, authentischen Islam, sondern eine religiös inspirierte Konstruktion von Traditionen zu gegenwärtigen politischen Machtansprüchen.9 In diesem Kontext ist auch die weitreichende Modifikation der Feindbilder zu bewerten. Bis in die späten siebziger Jahre hinein sahen Teile der islamistischen Bewegungen in Ägypten, Syrien und anderen Ländern die eigenen Regime, also innere Feinde, als Hauptfeinde an. Erst das Friedensabkommen von Camp David 1976, die Islamische Revolution im Iran 1979 und der Libanonkrieg 1982 führten zu einer Neubestimmung und Erweiterung der Feindbilder. Hauptfeind wurde nun Israel und die von den „zionistischen Kräften“ dominierte USA, also äußere Feinde. Konsequenzen hatte dieser Kurswandel zunächst im Libanon, wo die neu gegründete ultramilitante schiitische Hizbollah mit schweren Terroranschlägen gegen US-amerikanische und israelische Ziele in Erscheinung trat. Wenige Jahre später (1987) folgte die Gründung der Hamas, deren Militanz sich zunehmend und im Gegensatz zu ihrer Vorläuferorganisation gegen Israel richtete.
1.2
Geschichte des islamistischen Antisemitismus in Deutschland
Wie wir bereits angedeutet haben, ist der islamistische Antisemitismus ein Phänomen, das sich sukzessiv in den islamischen Ländern und in den Ländern mit einer großen muslimischen Minorität ausbreitet. Von dieser keineswegs abgeschlossenen Entwicklung wurde auch eine Reihe von islamistischen Organisationen erfasst, deren Tätigkeitsfeld sich auf die Bundesrepublik erstreckt. Der folgende Überblick beschränkt sich auf die Organisationen, die in der hiesigen 8
9
Said Qutb, „Unser Kampf gegen das Judentum“, S. 104, in: Ronald L. Nettler, Past Trials and Present Tribulations. A Muslim Fundamentalist Speaks on the Jews, in: Michael Curtis (ed.), Antisemitism in the Contemporary World, S. 97-106, 1986, London. Vgl. Gerda Bohmann, Radikaler Islamismus. Beharrlicher Traditionalismus oder Aufbruch in die Moderne? Eine historisch-genetische Provokation, in: Ulrich Wenzel, Bettina Bretzinger und Klaus Holz (Hg.), Subjekte und Gesellschaft. Zur Konstitution von Sozialität, S. 323-343, 2003, Weilerswist: Velbrück.
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islamischen Öffentlichkeit eine bedeutende Rolle einnehmen bzw. einnahmen. Fokussiert werden vor allem die türkischen Organisationen, die teilweise einen erheblichen Einfluss auf die türkischen Migranten ausüben. Zahlreiche antisemitische Äußerungen hat es in den 80er und 90er Jahren vor allem im Kontext der Milli-Görü-Bewegung gegeben, die seit Ende der 70er Jahre in Deutschland aktiv ist und die derzeit die mit Abstand größte Organisation des politischen Islam in Deutschland ist. Die heutige Islamische Gemeinschaft Milli Görü e.V. (IGMG), auf deren lange und komplizierte Entwicklungsgeschichte nicht weiter eingegangen werden soll, unterhält in mehreren europäischen Ländern 514 Moscheegemeinden. Hinzuzurechnen sind zahlreiche Sport-, Jugend- und Frauenvereine. Die Gesamtzahl aller angeschlossenen Vereine beträgt ca. 2200.10 Die IGMG hat derzeit ca. 87 000 Mitglieder.11 Die Gemeindegröße wird auf 230 000 Personen geschätzt. Nach Thomas Lemmen zeigt bereits die Selbstbezeichnung Milli Görü12 in welchem politischen Kontext sich die Organisation versteht. Der Name Milli Görü verweist auf einen Buchtitel und das politische Konzept des türkischen Islamistenführers Necmettin Erbakan, der seit Jahrzehnten unter wechselnden Bezeichnungen die islamistische Partei in der Türkei führt.13 Neben dem programmatischen Titel gab es eine Reihe von inhaltlichen und organisatorischen Verbindungen, die deutlich machen, dass es sich bei der IGMG lange Zeit um die „Auslandsorganisation der politischen Bewegung von Necmettin Erbakan handelte“.14 So wurden z. B. im Jahr 1995 von Milli Görü erhebliche Geldbeträge in Europa für Erbakans Wahlkampfkampagne in der Türkei eingesammelt. Weitere Unterstützung erhielt der Islamistenführer durch fast alle damaligen 10 IGMG – Islamische Gemeinschaft Milli Görüs, Wir über uns, (Selbstdarstellung), unter: http:// www.igmg.de/index.php?module=ContentExpress&func=display&ceid=6 (06.05.09). 11 Die Mitgliederzahlen der IGMG werden von den Verfassungsschutzbehörden deutlich niedriger angesetzt. Der NRW-Verfassungsschutzbericht beziffert im Jahresbericht 2003 die Zahl der Mitglieder auf 26 500. Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.): Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen über das Jahr 2003, Düsseldorf 2004, S. 113. 12 Früher wurde Milli Görü mit „nationale religiöse Sicht“ übersetzt. Heute bevorzugt die IGMG die Übersetzung „monotheistische Ökumene“. Vgl. unter: http://www.igmg.de/index.php? module=ContentExpress&func=display&ceid=6 (7.7.2004). 13 Erbakans Partei firmierte zunächst unter dem Titel MSP (Nationale Heilspartei). Sie wurde 1980 verboten. 1983 gründete Erbakan die Refah-Partei (Wohlfahrtspartei) und entwickelte das Parteiprogramm Adil Düzen (Gerechte Ordnung). Nach den Wahlen 1995 stellte die Wohlfahrtspartei mit Erbakan für ein Jahr den Ministerpräsidenten. 1998 wurde die Wohlfahrtspartei wegen ihrer antilaizistischen Orientierung verboten. Als Nachfolgeorganisation trat nun die FaziletPartei (Tugendpartei) in Erscheinung. Sie wurde ebenfalls im Juni 2001 verboten. Aktuell führt Erbakans Partei den Titel Saadet-Partei (Partei der Glückseligkeit). 14 Thomas Lemmen, Islamische Vereine und Verbände in Deutschland, Bonn, 2002, S. 46.
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Mitglieder der IGMG-Führung, die den Wahlkampf in der Türkei unterstützten.15 Als weiteres Indiz kann die personelle Verschränkung der IGMG-Führung mit der Erbakan-Partei angeführt werden.16 Aufgrund der Verbindungen zur politischen Bewegung des Islamistenführers Erbakan wird die IGMG seit einigen Jahren durch die Verfassungsschutzbehörden der Länder und des Bundes überwacht. Necmettin Erbakan vertritt neben vagen islamistischen Zielvorstellungen einen antizionistischen Antisemitismus, der sein politisches Wirken bis in die Gegenwart wie ein roter Faden durchzieht. Bereits in seiner programmatischen Schrift „Gerechte Ordnung“ (Adil Düzen) aus dem Jahr 1991, der Grundlage der Milli Görü-Ideologie, heißt es: „Der Zionismus ist ein Glaube und eine Ideologie, dessen Zentrum sich bei Banken der New Yorker Wallstreet befindet. Die Zionisten glauben, dass sie die tatsächlichen und auserwählten Diener Gottes sind. Ferner sind sie davon überzeugt, dass die anderen Menschen als ihre Sklaven geschaffen wurden. Sie gehen davon aus, dass es ihre Aufgabe ist, die Welt zu beherrschen. Sie verstehen die Ausbeutung der anderen Menschen als Teil ihrer Glaubenswelt. Die Zionisten haben den Imperialismus unter ihre Kontrolle gebracht und beuten mittels der kapitalistischen Zinswirtschaft die gesamte Menschheit aus. Sie üben ihre Herrschaft mittels imperialistischer Staaten aus.“17 Ähnliche Äußerungen, in denen der Zionismus oder ganz allgemein die Juden zum Hauptfeind der türkischen Islamisten erhoben werden, fanden und finden sich auch in der türkischsprachigen Tageszeitung Milli Gazete, die von den Verfassungsschutzbehörden als „Sprachrohr der IGMG“ angesehen wird.18 So schrieb Mehmet Sevket am 24. Mai 2002 in der Milli Gazete: „In unserem Land gibt es zwei Sorten Menschen. Auf der sichtbaren Seite sehen sie aus wie Muslime und Türken. Auf der Rückseite der Medaille sind sie Juden. Sie bringen ihre eigenen inkompetenten Personen in die wichtigsten Ämter und Stellen und vergreifen sich an den Einkünften der Türkei“.19 Ähnlich lautende Anwürfe gab es auch in jüngster Vergangenheit. So erschien am 13. März 2009 ein Artikel in
15 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Islamistischer Extremismus in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1999, S.36. 16 Lemmen, a.a.O., S. 46. 17 Zit. n. Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Islamistischer Extremismus in Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1999, S. 40f. 18 http://www.im.nrw.de/sch/582.htm (05.05.2009) 19 Zit. n. Claudia Dantschke, Islamistischer Antisemitismus, unter: http://www.zdk-berlin.de/webzdk/seitenzdk/pdf/Islamismus_und_Antisemitismus.pdf (18.02.2006).
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Milli Gazete, in dem der Vorwurf erhoben wurde, das Land werde von Kryptojuden regiert.20 Von diesen und ähnlichen Äußerungen hat sich die IGMG-Führung in den letzten Jahren mehrfach distanziert, obwohl Erbakan an seinen antisemitischen Überzeugungen festhält. Weiterhin gilt Erbakan als Mentor und wichtige Integrationsfigur der Milli Görü-Bewegung, die nach wie vor auch in Deutschland über einen erheblichen Einfluss verfügt. So gab er z .B. am 24. August 2003 der Nachrichtenagentur Habervakti ein Interview, in dem er seinen Verschwörungsphantasien erneut freien Lauf lies: „Die arbeiten daran, Groß-Israel zu gründen und die Welt zu beherrschen, den Salomon Tempel wieder zu erbauen und sich ihr gelobtes Land zwischen Nil und Euphrat zu verwirklichen. Zur Realisierung dieses Aberglaubens plant Israel die gewaltsame Unterdrückung.“21 Radikale antisemitische Positionen vertrat vor allem die im Dezember 2001 vom Bundesminister des Innern verbotene islamistische Organisation "Der Kalifatsstaat" (Hilafet Devleti), auch Verband der islamischen Vereine und Gemeinden e. V. (ICCB) genannt, der zum Zeitpunkt seines Verbots bundesweit ca. 1100 Mitglieder hatte. Der ICCB war 1984 als Abspaltung aus der Vereinigung der neuen Weltsicht in Europa e. V. (AMGT) hervorgegangen. Der Kalifatsstaat propagierte den revolutionären Sturz der türkischen Regierung und die Errichtung einer islamischen Republik. Vorbild war die Islamische Revolution im Iran 1979. Seit dem Tod des charismatischen ICCB-Führers Cemaleddin Kaplan 1995 sorgten vor allem interne Auseinandersetzungen für eine Radikalisierung der Organisation, die in der Ermordung des „Gegenkalifen“ Ibrahim Sofu ihren Höhepunkt fanden. Der ICCB vertrat seit seiner Gründung einen ultramilitanten Antisemitismus. Verbreitet wurde dieser hauptsächlich über die verbandseigene Zeitung Ümmetii Muhammed. So ist in einer Ausgabe zu lesen: „Der Jüngste Tag wird solange nicht kommen, bis es keinen einzigen Juden mehr gibt.“ An anderer Stelle heißt es: „Der Jüngste Tag wird erst dann anbrechen, wenn auch der letzte Jude von der Bildfläche verschwunden ist“.22 In einer weiteren antisemitischen Publikation des Verbandes, die bei einer Durchsuchung der Vereinsräume gefunden wurde, werden die Juden schließlich als der zentrale Feind des Islam postuliert, der hinter all den anderen Feinden steckt: „Es gibt die Hauptfeinde des Islam: 20 http://www.milligazete.com.tr/makale/yahudiden-cumhurbaskani-basbakan-olmuyormus117958.htm (14.04.2009) 21 Zit. n. ebd. 22 Zit. n. Deutscher Bundestag, Drucksache 14/4530, S. 82.
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Kommunismus, Kemalismus und Demokratie! Diese drei Feinde, geführt durch die gleiche Zentrale, d.h. die zionistische Zentrale, starteten in drei Fronten einen Angriff auf die Religion und die Moral...Jawohl! Der Jude hat systematisch versucht, durch diese Diktatoren die gläubigen Muslime zu unterdrücken, ihre Glaubensgefühle absterben zu lassen.“23 Unter den türkischen Organisationen sollte auch der Verband der islamischen Kulturzentren e.V. (VIKZ) erwähnt werden, der ca. 315 Gemeinden mit ca. 21000 Mitgliedern unter seinem Dach vereinigt. Eine Beschreibung des Verbandes ist schwierig, da er selbst keine Periodika herausgibt. Immer wieder massiv kritisiert wurde der Verband in den vergangenen Jahren aufgrund seiner Nähe zur Süleymanc-Bruderschaft, die jedwede laizistische Ordnung ablehnt und nur den Koran und die von ihm bestimmte Scharia anerkennt. Ende der 70er Jahre musste der VIKZ erstmals eine negative Berichterstattung über die Vereinsaktivitäten hinnehmen. Ausgelöst wurde diese durch eine Reihe von nationalistischen, antichristlichen und antisemitischen Hetzartikeln, die in der Zeitschrift Anadolu 1979/80 erschienen. In einem dieser Artikel war z. B. von den „dreckigen Antlitzen der Judendiener“24 die Rede. Verantwortlich zeichneten für diese Artikel Imame der Islamischen Kulturzentren und auch der damalige Vorsitzende des VIKZ Tülüyolu.25 Nachdem der Deutsche Gewerkschaftsbund eine umfangreiche Dokumentation zu den publizistischen Aktivitäten der Imame vorgelegt hatte, wurde Tülüyolu vom damaligen Leiter des VIKZ Kermal Kaçar entlassen.26 Seitdem gibt sich der Verband betont unpolitisch und ist nicht mehr mit antisemitischen Äußerungen aufgefallen. Neben den genannten türkischen Organisationen gibt es in Deutschland auch eine Reihe von kleineren Vereinigungen, die dem Umfeld der sunnitischen Muslimbrüderschaft oder dem schiitisch-islamistischen Spektrum zuzurechnen sind. Die seit Jahrzehnten international agierende Muslimbrüderschaft ist in Deutschland mit zwei Zweigen vertreten. Bereits im Jahr 1960 wurde die Islamische Gemeinschaft in Deutschland e.V. (IGD) gegründet. Sie ist in München ansässig und steht nach Auskunft der Verfassungsschutzbehörden unter dem Einfluss der ägyptischen Muslimbrüderschaft. 1981 spaltete sich das Islamische Zentrum Aachen (Bilal-Moschee) ab. Beide Gruppen geben sich in der Öffentlichkeit 23 Zit. n. http://www.verfassungsschutz-bw.de/kgi/islam_orgs_kalifat.htm (05.05.2009). 24 Zit. n. Ursula Spuler-Stegemann, Muslime in Deutschland, 3. Aufl., Freiburg 2002, S. 134. 25 Dantschke/Seidel/Yildrim, Politik im Namen Allahs, S. 84, unter: http://www.ceyhun.de/download/politik_im_namen_allahs.pdf (05.05.2009). 26 Vgl. ebd.
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moderat. Das Islamische Zentrum Aachen bot jedoch bis zum Jahr 1996 die antisemitische Hetzschrift „Die Protokolle der Weisen von Zion“ in arabischer Übersetzung zum Kauf an.27 Weitaus radikaler als die vorgenannten Organisationen, die der Muslimbruderschaft nahe stehen, ist der in Deutschland seit 1982 tätige IBP (Islamischer Bund Palästina). Der IBP verstand sich in den ersten Jahren seines Bestehens als Vertretung der palästinensischen Muslimbruderschaft. Seit Beginn der ersten Intifada im Jahr 1987 begreift sich der IBP jedoch als Deutschlandvertretung der Hamas. Der IBP, der ca. 200 Mitglieder hat, führt jährlich Kongresse durch, zu denen bekannte Vertreter der Muslimbruderschaft aus Tunesien, Ägypten, Sudan und Jordanien eingeladen werden. Ein Teil der IBP-Aktivisten vertritt wie ihre Mutterorganisation in Palästina einen radikalen Antisemitismus, der in der Vergangenheit teilweise auch auf öffentlichen Veranstaltungen proklamiert wurde. Z. B. hing nach Angaben des Nachrichtenmagazins Focus im Dezember 1995 auf einer Großveranstaltung in der TU Berlin ein Transparent mit der Parole: „Juden, wir werden euch vertreiben mit unseren Gewehren und Selbstmordkommandos“.28 Zum militanten Zweig der Islamisten müssen auch die in Deutschland lebenden Hizbullah-Anhänger und die Aktivisten der Union islamischer Studentenvereine (UISA) gerechnet werden. Die UISA wurde bereits in den 60er Jahren gegründet und versteht sich seit der islamisch-schiitischen Revolution im Iran 1979 als Dachorganisation der regimetreuen iranischen Studenten im Ausland. In den letzten Jahren sah es die Organisation als eine ihrer Hauptaufgaben, den sogenannten „Jerusalemtag“ (al-quds-Tag) zu organisieren. Dieser Gedenktag wurde ursprünglich vom iranischen Revolutionsführer Khomeini 1979 ins Leben gerufen, um an die fortdauernde Besetzung der heiligen Stätten in Jerusalem durch Israel zu erinnern. Aus diesem Anlass finden seit Jahren weltweit Demonstrationen statt, seit 1996 auch in Berlin. An ihnen nehmen Islamisten verschiedener Nationalitäten teil, darunter auch Türken, Iraker, Afghanen und Libanesen. Auf den mitgeführten Transparenten werden der „Tod Israels“ und die „Befreiung von der zionistischen Besatzung“ gefordert.29
27 Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.), Islamismus – Instrumentalisierung der Religion für politische Zwecke, S. 12, unter: www.im.nrw.de/inn/doks/vs/islam.pdf (06.05.2009). 28 Zit. n. Spuler-Stegemann, S. 62. 29 Vgl. Kiefer, a.a.O., S. 132f.
Islamistischer Antisemitismus 2
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Antisemitische Semantik
Nach dieser Übersicht über die Geschichte des älteren islamistischen Antisemitismus und über die in Deutschland aktiven Organisationen bestimmen wir im nächsten Schritt systematisch, was unter islamistischem Antisemitismus zu verstehen ist. Wir verstehen unter Antisemitismus nicht ein mehr oder minder zusammenhangsloses Bündel antijüdischer Vorurteile, sondern eine in sich kohärente Weltanschauung. Ihre Kohärenz wird durch ein Set an semantischen Mustern gewährleistet, die an verschiedene Leitideologien variierend angepasst werden können.30 Die Muster sind deshalb im islamistischen wie im arabischsäkularen Antisemitismus weitgehend dieselben und reproduzieren den aus Europa übernommenen Antisemitismus. Vier dieser Muster sind im gegenwärtigen Zusammenhang besonders prägend. Als exemplarische Quellen verwenden wir die Charta der Hamas, die 1988 formuliert wurde und bis heute unverändert gültig ist, von Said Qutb „Unser Kampf gegen die Juden“31 sowie die iranische Fernsehserie „Zahras blaue Augen“.32
2.1
Antimoderne Gemeinschaftsideologie
Jeder Antisemitismus erhebt eine umfassende Klage gegen die moderne Gesellschaft und gegen die Zerstörung der angeblich traditionellen, harmonischen und authentischen Lebensformen. Dabei werden die Juden insbesondere für den Materialismus, die „Geldwirtschaft“ und eine amoralische Verrohung verantwortlich gemacht. In den Worten von Said Qutb: „Hinter der Doktrin des atheistischen Materialismus steckte ein Jude; hinter der Doktrin der animalistischen Sexualität steckte ein Jude und hinter der Zerstörung der Familie und der Erschütterung der geheiligten Beziehungen in der Gesellschaft steckte ebenfalls ein Jude.“33 Gemeint sind damit Karl Marx, Sigmund Freud und Emile Durkheim, deren Lehren 30 Zur Rekonstruktion antisemitischer Semantik und zum Nachweis der im Folgenden dargestellten Muster für Europa siehe Holz, Nationaler Antisemitismus. 31 „Unser Kampf gegen das Judentum“ von Said Qutb ist nur in Teilen ins Englische übersetzt. Die Auszüge finden sich in Ronald L. Nettler, Past Trials and Present Tribulations. A Muslim Fundamentalist Speaks on the Jews, in: Michael Curtis (ed.), Antisemitism in the Contemporary World, London 1986, S. 97-106. Qutb (1906–1966) war einer der wichtigsten Ideologen der ägyptischen Muslimbruderschaft, die primär gegen die „falschen Muslime“ im Inneren der islamischen Gesellschaften kämpfte. Er agitierte für einen politischen Islamismus und gegen die herrschenden Regime im arabischen Raum. Nasser ließ Qutb 1966 in Ägypten hinrichten. 32 „Zahras blaue Augen“, Drehbuch und Regie von Ali Derakhshni, wurde von Sahar TV in sieben Teilen von Dezember 2004 bis Januar 2005 erstmals ausgestrahlt. Auf die Verbreitung dieses Filmes gehen wir im 4. Abschnitt näher ein. 33 Qutb, a.a.O, S. 103.
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angeblich die religiösen, ökonomischen, sexuellen und familialen Grundlagen der islamischen Lebensgemeinschaft zerstören. Solche antimodernen Klagen können je nach zeitlichem Kontext auf eine Vielzahl von Themen ausgeweitet werden. So können zum Beispiel die abstrakte Kunst, die Frauenemanzipation und das großstädtische Leben für die Moderne stehen, denen eine in der „Volksseele“ verwurzelte Kunst, die patriarchale Familie und die dörfliche Gemeinschaft entgegengestellt werden. In „Zahras blaue Augen“ wird eine palästinensische Familie gezeigt, die emotional und moralisch integriert ist. Der Großvater ist weise, der Bruder tapfer, die Enkelin vertrauensvoll. Die Enkelin, Zahra, wird von einem „zionistischen“ General entführt, um ihre Augen dem behinderten und blinden Sohn des Generals, Theodor, einpflanzen zu lassen. Nachdem dies gelang, wird keine Familienszene gezeigt, kein mit seinem Sohn spielender Vater. Vielmehr feiert der General mit anderen Militärs und nimmt die partielle Heilung seines Sohnes zum Anlass, einen totalen Besitzanspruch zu erheben. „ Dieses Land und alles, was sich darauf befindet, gehört alleine uns. […] Die Augen, die Herzen der palästinensischen Araber und sogar der [palästinensischen] Christen sind wie Früchte auf den Bäumen in unserem Obstgarten.“34 Die Organe der Palästinenser, seien sie muslimisch oder christlich, werden zu einem beliebigen Produkt erklärt, das zur Vernutzung frei gegeben ist. Dieser totale Machtanspruch kennt keine emotionalen oder moralischen Grenzen. Dem gemäß zerrüttet die Moderne oder die Globalisierung eine organisch gewachsene, moralisch integrierte und authentische Lebensform. Tatsächlich handelt es sich dabei um moderne Erfindungen einer vormodernen heilen Welt. Der Antimodernismus ist eine moderne Ideologie, die eine Vergangenheit als Gegenbild zur Gegenwart erträumt. Dies gilt auch für den Islamismus. Er erfindet ein vergangenes, goldenes Zeitalter, das er der korrupten, gottlosen Gegenwart entgegen setzt. Die Moderne – von Geld über Presse bis zu Sexualmoral und Kunst – wird im Antisemitismus als Phänomen verstanden, hinter dem die Juden stecken und durch die sie „unsere“ angeblich traditionale Lebensweise zerrütten. In der antimodernen Klage treffen sich Antisemitismus und Islamismus. Dementsprechend macht Qutb eine „antagonistische jüdische Macht“ für den Niedergang der islamischen Welt im Allgemeinen und für die Modernisierungsprozesse, denen Ägypten unter Nasser ausgesetzt war, im Besonderen verantwortlich.
34 Zit. n. http://memri.de/uebersetzungen_analysen/2005_01_JFM/iran_sahar_24_02_05.html (06.05.2009). Die Übersetzung wurde überprüft an Hand des bei Memritv abrufbaren Serienausschnitts: http://www.memritv.com/ (15.03.2005).
Islamistischer Antisemitismus 2.2
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Macht und Verschwörung
Damit hängt ein zweites Merkmal des modernen Antisemitismus, die angebliche jüdische Macht, eng zusammen. Genauer: Im Antisemitismus personifizieren die Juden die zentralen modernen Machtmittel und die Medien der modernen Gesellschaft. Sie verkörpern das Geld, die Börse, das Finanzkapital, die Presse. Dadurch verfügen die Juden angeblich über eine weltumspannende Macht, durch die sie alle Völker, Religionen und Kulturen bedrohen. Dieses Phantasma der jüdischen Macht führt im Antisemitismus dazu, jedes nur erdenkliche und als verwerflich beurteilte historische Ereignis den Juden zur Last zu legen. Entscheidend hierfür ist die Personifikation von Macht. Denn dadurch erscheint ein historisches Ereignis oder der soziale Wandel generell als eine absichtsvolle, geplante Tat, für die ein namhaft zu machender Täter verantwortlich ist. Aus anonymen, sozialstrukturellen Prozessen werden Verschwörungen, die im Verborgenen angezettelt wurden. Die Hamas etwa erklärt, dass die Juden durch ihren Reichtum in der Lage sind, die „Weltmedien“ zu beherrschen und „Revolutionen in verschiedenen Teilen der Welt anzustacheln“. Sie steckten „hinter der Französischen Revolution und hinter den kommunistischen Revolutionen“, ebenso hinter dem I. Weltkrieg, „um das islamische Kalifat auszulöschen. […] Sie standen auch hinter dem II. Weltkrieg, in dem sie immensen Nutzen aus dem Handel mit Kriegsgütern zogen und die Etablierung ihres Staates vorbereiteten“.35 Diese macht- und verschwörungstheoretische Rhetorik entnehmen die Islamisten offensichtlich nicht dem Koran, sondern den Grundtexten des europäischen Antisemitismus. „Ihre Machenschaften wurden in den Protokollen der Weisen von Zion geplant und ihr gegenwärtiges Verhalten ist der beste Beweis für das, was dort gesagt wurde.“36 Bei den „Protokollen der Weisen von Zion“ handelt es sich um den wohl einflussreichsten antisemitischen Text im 20. Jahrhundert überhaupt, der im Umfeld der zaristischen Geheimpolizei fabriziert wurde und seit den 20er Jahren in riesiger Zahl weltweit vertrieben wird. Denn die Protokolle bringen diesen Grundzug auf den Punkt: Eine angebliche jüdische Geheimregierung plant in ihren Sitzungen die nächsten Schritte auf dem Weg zur Weltherrschaft und zur Unterwerfung aller Völker. Da „der Jude“ im Verborgenen agiert, spannt er andere ein, um seine Machenschaften zu exekutieren.
35 Charta der Hamas, Art. 22. 36 Charta der Hamas, Art. 32.
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2.3
Der Dritte
Hieraus ergibt sich ein drittes, nicht minder wesentliches und generelles Merkmal. Der Antisemitismus hat eine dreigliedrige Struktur. Erstens gibt es die jeweilige Wir-Gruppe, also zum Beispiel die Muslime oder die Deutschen. Im Antisemitismus sind die Wir-Gruppen immer partikulare Gruppen, die in aller Regel als Volk, Rasse und/oder Religionsgemeinschaft konzipiert werden. Solche partikularen Gruppen sind notwendigerweise nicht singulär. Völker, Rassen und Religionen gibt es nur im Plural. Dem deutschen Volk steht zweitens das französische gegenüber, den Ariern die Slawen, den Muslimen die Christen. In solchen Gegensatzpaaren werden zeitgenössische Feindschaften und Konkurrenzen festgehalten, wie sie u.a. für den Nationalismus typisch sind. Mit dem Antisemitismus aber kommt etwas Drittes hinzu: Die Juden werden gerade nicht in der gleichen Weise wie die Franzosen, Slawen oder Christen als anderes Volk, als andere Rasse oder andere Religion konzipiert, sondern als Träger einer weltumspannenden, verborgenen Macht, die nicht nur die Weltherrschaft anstrebt, sondern die Unterschiede zwischen allen Völkern, Rassen und Religionen zersetzen will. Dieser Figur des Dritten entsprechend verkörpern die Juden den Internationalismus und werden sowohl vom „kapitalistischen Westen als auch vom kommunistischen Osten“ unterstützt. „Sie regten die Errichtung der Vereinten Nationen und des Sicherheitsrates an, um […] die Welt mit Hilfe ihrer Mittelmänner zu beherrschen.“ Letztlich ist das Ziel der „jüdischen“ Bestrebungen, alle unsere partikularen Identitäten aufzulösen. „Der Jude“ als Dritter transzendiert, bedroht und zersetzt die binäre Unterscheidung zwischen uns und den anderen, dank derer die partikularen Gruppen-Identitäten konstruiert werden. „Der Jude“, so zum Beispiel der französische Antisemit Édouard Drumont 1886, „der Jude ist von einem unerbittlichen Universalismus.“37 Bei Drumont ist darunter vor allem die Französische Revolution, die Aufklärung, der Liberalismus und der Kapitalismus zu verstehen, die die angeblich seit alters her bestehenden Traditionen, Sitten und Wirtschaftsweisen der Franzosen, aber auch der Deutschen zersetzen. Sein deutscher Zeitgenosse Stoecker ergänzte die Sozialdemokratie, etwas später wurden der Kommunismus und der Amerikanismus hinzugefügt. Alle diese „Ismen“ stehen in politischer, ökonomischer und kultureller Hinsicht für eine dynamische, sich permanent verändernde Moderne, die wie das Geld oder McDonalds nicht an dieser oder jener Grenze halt macht.
37 Édouard Drumont, La France Juive, Essai d´histoire contemporaine, S. 58, 2 Bde, 1886, Paris: Marpon und Flammarion.
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In der antisemitischen Weltanschauung findet man regelmäßig nicht nur die Sorge um die eigene Wir-Gruppe. Vielmehr wird auch anderen Völkern, Rassen und Religionen bescheinigt, vom „Juden“ bedroht zu sein. In „Zahras blaue Augen“ werden, wie schon zitiert, auch die Christen von „den Zionisten“ bedroht. Dementsprechend heißt es in der Charta der Hamas, dass die Juden die kommunistische Revolution gegen die Russen gemacht hätten und überdies aufgrund ihres Reichtums in der Lage waren, „die Macht über die imperialistischen Völker zu gewinnen und diese zu veranlassen, viele Länder zu kolonialisieren“. Zudem könne der Rest der Welt davon ausgehen, dass nach der „zionistischen“ Eroberung des gesamten arabischen Raumes „der Jude“ sich andere Weltgegenden unterwerfen werde. Entsprechend müsse der Kampf gegen den „Weltzionismus“ (Hamas) oder „den internationalen Juden“ (Hitler) weltweit geführt werden. Dieses antisemitische Muster impliziert, dass der Zionismus kein Nationalismus sein kann, der auf die Bildung und Legitimation eines „normalen“ Nationalstaates aus ist. Israel wird vielmehr als eine Bastion der jüdischen Machtbestrebungen, sei es als „imperialistisches Bollwerk“ oder als „Hochschule ihrer internationalen Lumpereien“, verstanden.38 Ein „gesunder“, im Boden und in Traditionen wurzelnder jüdischer Nationalismus und Nationalstaat ist im Antisemitismus undenkbar. Dementsprechend sagte der Drehbuchautor von „Zahras blaue Augen“: „Theodor symbolisiert Israel“.39 Das gelähmte, blinde „Zionistenkind“ ist nur lebensfähig, weil ihm die Organe Zahras eingepflanzt werden. Für sich selbst, das ist die Quintessenz der antisemitischen Figur des Dritten, wären die Juden nicht lebensfähig. Sie brauchen „uns“, im Film die Organe der Muslime und der Christen, um „uns“ auszubeuten, so wie der Parasit ohne den Wirt nicht leben könnte. Daraus ergibt sich eine verblüffende Konsequenz: Da „der Jude“ in die Position des Dritten gerückt wird, ist der moderne Antisemitismus genuin trans-national, trans-rassisch bzw. trans-religiös und im gleichen Atemzug und aus dem gleichen Grund heraus national, rassisch bzw. religiös. Dies vermeintliche Paradox hat zu großen Verwirrungen und Ungereimtheiten in geläufigen Antisemitismustheorien geführt, weil häufig der eine gegen den anderen Aspekt ausgespielt wurde, anstatt ihre konstitutive Zusammengehörigkeit in der Figur des Dritten zu begreifen. Der Antisemitismus ist national, rassisch bzw. religiös, je nachdem wie er die eigene Wir-Gruppe definiert. Er ist trans-national, trans-rassisch bzw. 38 Adolf Hitler, Warum sind wir Antisemiten? Rede auf einer NSDAP-Versammlung, 1920, in: Sämtliche Aufzeichnungen 1905-1924, hrsg. v. Eberhard Jäckel und Axel Kuhn, S. 190, Stuttgart: DVA. 39 Zitiert nach http://memri.de/uebersetzungen_analysen/2005_01_JFM/iran_sahar_24_02_05.html.
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trans-religiös, weil er die Juden als Weltfeind imaginiert und sie nicht als „normale“ Nation, Rasse oder Religion versteht. Beides zusammen aber bedeutet, die Welt aus Sicht der eigenen Wir-Gruppe zu beschreiben, also von einer Mehrzahl an Völkern, Rassen bzw. Religionen auszugehen, und diese Ordnung der Welt – und nicht nur die Existenz der eigenen Gruppe – im Juden bedroht zu sehen.
2.4
Nation und Religion
Wir haben bislang so getan, als wäre es kein bedeutsamer Unterschied, ob der Antisemitismus mit einem nationalistischen, rassistischen oder religiösen Selbstbild verbunden ist. Er ist bedeutsam, gleichwohl nur sekundär. Trotz der gebotenen Kürze hoffen wir deutlich gemacht zu haben, dass weite Teile der antisemitischen Weltanschauung nur geringe Modifikationen erfordern, sollen die Selbstbilder von nationalen auf religiöse Semantiken umgestellt werden. Der Grund hierfür ist schlicht, dass der Antisemitismus ein umfassendes „Zerrbild der Gesellschaftstheorie“ (Reinhard Rürup) anbietet, das die Modernisierung von der Ökonomie über die Familie bis zur Kunst beklagt und als jüdische Machenschaften erklärt. Zudem wird „der Jude“ in die Position des Dritten gerückt, die alle Identität, sei sie säkular oder religiös, in Zweifel zieht. Insofern sind diese Zerrbilder nahezu unabhängig von der nationalen bzw. religiösen Definition der Selbstbilder. Das gilt zum Beispiel für weite Teile der Charta der Hamas, die offensichtlich von den „Protokollen der Weisen von Zion“, einem säkularen Text, inspiriert sind und diesen auch ausdrücklich nennen. Hinzukommt, dass im islamisierten Antisemitismus Religion und Nation nicht in jedem Einzelfall, aber in der Regel verbunden werden. So bezeichnet sich die Hamas als Flügel der „weltweiten Organisation“ der Muslimbrüder, fügt aber hinzu: Die Hamas „ist eine eigenständige palästinensische Bewegung (…), die dafür kämpft, dass das Banner Allahs über jeden Zentimeter von Palästina aufgepflanzt wird.“ Weiter heißt es: „Irgendeinen Teil Palästinas aufzugeben, bedeutet, einem Teil der Religion abzuschwören; der Nationalismus der Hamas ist Teil ihres Glaubens.“40 Die Hamas ordnet sich also einerseits in eine globale islamische Widerstandsbewegung ein, beansprucht aber als palästinensischislamische Widerstandsbewegung zugleich die Hoheit über ein bestimmtes Territorium. Palästina, das Land, der Boden wird zu etwas Heiligem erklärt, typisch für radikalere Spielarten des Nationalismus. 40 Charta der Hamas, Art. 2, 6, 13.
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Diese Kombination einer islamisch-universalistischen und einer palästinensischpartikularen Identität der Hamas ist keineswegs eklektisch, synkretistisch oder inkohärent. Vielmehr können sowohl säkulare als auch religiöse Gruppendefinitionen transnationaler Prägung mit nationalen Volksdefinitionen kohärent verbunden werden. Großgruppen wie zum Beispiel die Muslime oder die Araber können in sich in (befreundete, verwandte, fair konkurrierende) Untergruppen untergliedert werden. So spricht die Hamas von „drei Kreisen: dem palästinensischen, dem arabischen und dem islamischen. Jeder dieser Kreise muss seine Rolle in Kampf gegen den Zionismus spielen und hat Pflichten zu erfüllen. Es wäre ein riesiger Fehler und ein entsetzlicher Akt der Ignoranz, irgendeinen dieser drei Kreise zu missachten.“41 Diese drei Kreise formen wie übereinanderwachsende Zwiebelringe die Identität „der Palästinenser“. Sie sind wie die Ägypter Muslime und Araber, unterscheiden sich aber von diesen in der Volkszugehörigkeit.42 In antisemitischen Texten wird typischerweise die nationale Identität „dem Juden“ vorrangig entgegen gesetzt. Im Fall der Hamas ist dies anders. Die Hamas zielt vorrangig auf die Integration der palästinensischnationalen und der islamischen Bestimmung, während die arabische in den Hintergrund gerückt wird. Die palästinensische und die islamische Bestimmung werden klar und kohärent verzahnt. Einerseits wird die palästinensische Nation, wie zitiert, unmittelbar zu einem konstitutiven Aspekt der Religion des „palästinensischen Volkes“ erklärt, andererseits werden alle Muslime auf den Kampf gegen den Zionismus eingeschworen. „Da unsere Feinde islamisches Land besetzen, wird der Jihad eine Pflicht, die alle Muslime bindet.“43 Der politische und praktische Vorteil dieser doppelten Bestimmung ist beträchtlich: Die Hamas erhebt stellvertretend für die Palästinenser einen Souveränitätsanspruch, der andere Muslime und Araber wie zum Beispiel die ägyptische, syrische oder jordanische Regierung in aller Freundschaft ausschließt, zugleich aber alle darauf verpflichtet, die „Befreiung Palästinas“ im Namen des Islams zu ihrer Sache zu machen.
41 Charta der Hamas, Art. 13. 42 Natürlich ist es möglich, nur eine oder zwei dieser Bestimmungen zu verwenden (oder weitere hinzuzufügen) und zum Beispiel die nationalen Unterschiede als Resultat des Kolonialismus zu kritisieren und stattdessen eine säkulare oder islamische panarabische Nation auszurufen. Siehe hierzu Bassam Tibi, Vom Gottesreich zum Nationalstaat. Islam und panarabischer Nationalismus, 1987, Frankfurt a.M.: Suhrkamp. 43 Charta der Hamas, Art. 15.
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Solche Verschachtelungen von Identitätsbestimmungen findet man allenthalben im modernen Antisemitismus.44 „Die Juden sind nicht bloß durch ihre Religion von uns verschieden, sondern sie bilden zugleich eine besondere Nationalität und eine besondere Rasse. Sie sind durch diese drei Eigenschaften (Religion, Nationalität und Rasse) in einem Gegensatz zu allen Völkern der Welt; sie nehmen diesen gegenüber eine Sonderstellung ein.“45 Der Autor dieser Zeilen, Theodor Fritsch, gilt gemeinhin als säkularer, geradezu anti-christlicher Antisemit rassistischer Prägung. Der Nationalismus, der bei Fritsch wenigstens so wichtig wie der Rassismus ist, wäre hinzuzufügen. Aber dies hat Fritsch keineswegs davon abgehalten, auch religiöse Argumente gelegentlich zu verwenden, ebenso wenig wie umgekehrt der angeblich religiöse Antisemit Adolf Stoecker, vierter Hofprediger des Kaisers, auf den Nationen- und Rassenbegriff verzichten mochte. Eben so wenig zutreffend ist es, den islamistischen Antisemitismus nur als religiösen zu begreifen. Ein solches falsches Urteil plausibilisiert das nicht minder falsche Urteil, der islamistische Antisemitismus sei, weil islamisch, vom europäischen wesentlich verschieden. Die vier dargelegten semantischen Muster zeigen, dass der islamistische Antisemitismus eine Variation des europäischen ist. 3 3.1
Ausbreitung des Antisemitismus seit der zweiten Intifada Mediale Präsentation der 2. Intifada
Die massenwirksame Verbreitung des Antisemitismus begann in den arabischen Ländern bereits in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts. Antisemitische Deutungsmuster des Palästinakonflikts waren vor allem in den einzelnen kriegerischen Etappen des Nahostkonflikts (1956, 1967, 1973 und 1982) ein wichtiger Bestandteil der bis in die siebziger Jahre nationalistisch ausgerichteten antiisraelischen Propaganda der arabischen Regime. Solche Deutungen wurden zumeist in Zeitungen, Büchern und anderen Printmedien verbreitet, deren Rezeption – bedingt durch Vertriebssysteme und Auflagezahlen – zumeist regional beschränkt blieb. In den 90er Jahren erlebten der Nahe Osten und der gesamte Mittelmeerraum eine tiefgreifende, geradezu revolutionäre Umgestaltung der Medienlandschaft. 44 Siehe bezüglich Nation, Rasse und (christlicher) Religion Holz, Nationaler Antisemitismus, bzgl. Nation und (islamischer und christlicher) Religion Holz, Die Gegenwart des Antisemitismus, S. 37-53. 45 Thomas Frey (i.e. Theodor Fritsch), Das ABC der Sozialen Frage, Kleine Aufklärungs-Schriften Nr.1, o. J. (1892), Leipzig; zit. n. Benz, Was ist Antisemitismus?, a.a.O., S. 99.
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Die Entwicklung des Internets und des Satellitenfernsehens, vor allem der kometenhafte Aufstieg von Al Dschasira und anderer Sender sorgten für neue Formen der Berichterstattung und bislang nicht gekannte Zuschauerquoten im gesamten Vorderen Orient. Durch diese Entwicklung veränderte sich auch die mediale Präsentation des Palästinakonfliktes. Die sogenannte 2. Intifada, die durch den „Tempelbergbesuch“ Ariel Scharons am 28. September 2000 ausgelöst wurde, war von Beginn an ein Medienereignis, dessen Bilder oftmals zu manipulativen, propagandistischen Zwecken missbraucht wurden.46 Dieser Sachverhalt zeigte sich geradezu exemplarisch bereits am zweiten Tag des Aufstandes. Am Morgen des 30. September 2000 versammelt sich an einer Straßenkreuzung im Gazastreifen eine palästinensische Menschenmenge, um zu protestieren. Fernsehteams, Fotografen und Reporter zahlreicher Nachrichtenagenturen sind ebenfalls anwesend. Ziel des Protests ist ein israelischer Militärposten, der mehrfach von Demonstranten mit Steinen und Brandsätzen angegriffen wird. Immer wieder wird auch geschossen. Gegen Mittag ist Jamal al-Dura mit seinem 12 Jahre alten Sohn Mohammed auf dem Nachhauseweg. Auf der Kreuzung geraten sie unter Beschuss. Beide suchen erfolglos Deckung. Mohammed versteckt sich ängstlich hinter seinem Vater und sinkt dann von tödlichen Kugeln getroffen zu Boden. Festgehalten wird die Szene von einem palästinensischen Kameramann, der für France 2 arbeitet. Noch am Abend wird die redaktionell bearbeitete Szene in Nahost, Europa und Amerika ausgestrahlt. Die Aussage ist klar: Palästinensische Demonstranten werfen Steine, israelische Soldaten schießen, dabei wird ein kleiner, unbeteiligter Junge getötet. Spätere Untersuchungen zeigen, dass die Beweislage keineswegs so eindeutig ist. Die ballistischen Fakten und die Auswertung des Videomaterials sprechen für eine andere Version. Dennoch wird die Szene unendlich oft wiederholt und das filmisch festgehaltene Sterben des kleinen Jungen entwickelt sich für Millionen Menschen in der islamischen Welt zum ultimativen Symbol für die Grausamkeit des jüdischen Staates. Die Bedeutung der Bilder kann kaum überschätzt werden. Mehrere arabische Staaten geben in der Folgezeit Briefmarken mit einem Portrait des Jungen heraus. Plätze und Straßen von Irak bis Marokko werden nach dem Namen des Jungen umbenannt.47 Die Welle der Empörung erfasst auch viele Muslime in Europa. Es kommt zu zahlreichen Demonstrationen und Kundgebungen. Aufsehen erregte vor allem am 7. Oktober 2000 eine gewalttätige Demonstration in Essen. Dort zogen unter dem Motto „Kindermörder Israel“ zwei46 Die folgenden Ausführungen beziehen sich hauptsächlich auf die Präsentation des Palästinakonflikts in den Programmen der arabischen und iranischen Fernsehsender, die über Satelliten zu empfangen sind. Darstellungen in den Printmedien werden nicht berücksichtigt. 47 James Fallows, Wer erschoss Mohammed al Dura?, in: Die Weltwoche, 29/03.
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hundert muslimische Demonstranten vor die jüdische Gedenkstätte und warfen mit Pflastersteinen und Gehwegplatten mehr als 30 Fenster ein.48 Die Bilder von Mohammeds Sterben bildeten im Nahen Osten den Auftakt zu einer teilweise außerordentlich verzerrten und einseitigen Berichterstattung über den palästinensischen Aufstand, in der selbst renommierte und um Sachlichkeit bemühte Sender gelegentlich jedwede journalistische Verantwortung vermissen lassen. So berichtete z.B. der Fernsehsender Al Dschasira, der mittlerweile geschätzte 120 Millionen Menschen mit seinen Programmen erreicht, im April 2002 aus dem vom israelischen Militär belagerten Präsidentenpalast. Die Korrespondentin Schirin Abu Aquila ist dort ebenfalls eingeschlossen und berichtet hörbar übermüdet und betroffen von der dramatischen Lage im Präsidentenpalast. Kurz vor Ende der Sendung hören die Zuschauer Explosionen im Hintergrund. „Die israelische Armee versucht unsere Büroräume zu stürmen“, berichtet sie mit kaum zu überbietender Dramatik. „Wie alle Palästinenser werden auch wir standhaft bleiben.“49 Mit dieser Aussage verlässt Abu Aqila die Beobachtungsposition des Journalisten und erklärt sich zum Kombattanten. Diese Form des parteiischen Journalismus findet bei den Konsumenten großen Anklang. Ein paar Tage später trugen Demonstranten in Kairo und der jemenitischen Hauptstadt Sanaa nicht nur Bilder vom palästinensischen Präsidenten Arafat sondern auch Bilder der Al Dschasira-Korrespondentin Abu Aqila.50 Als hochproblematisch muss auch die Präsentation des Palästinakonflikts auf zahlreichen islamischen Websites angesehen werden. Von herausragender Bedeutung ist das international stark frequentierte Internetportal „islamonline“, für das der umstrittene Predigerstar Scheich Al Karadawi verantwortlich zeichnet. Das Portal präsentiert seit dem März 2008 eine neue Website mit dem Titel „Palestinian Holocaust Museum“. Im Zentrum der Präsentation stehen Bilder von getöteten Kindern, deren propagandistische Instrumentalisierung alle bislang gültigen Grenzen der Konflikt- und Kriegsberichterstattung überschreitet.51 Systematische Hetze in der Berichterstattung über den Palästinakonflikt findet sich vor allem beim libanesischen Fernsehsender Al-Manar, bei dem die Terrororganisation Hizbollah die ideologischen Leitlinien des Fernsehprogramms bestimmt. Al-Manar, gegründet 1991, gehört mittlerweile zu den fünf wichtigsten arabischsprachigen Fernsehprogrammen und erreicht schätzungsweise 10 Mil48 49 50 51
Pascal Beucker, Prozess gegen Brandstifter beginnt, in: Tageszeitung vom 7.03.2001 Zit. n. Amr Hamzawi, Der Ton wird rauer, in: Berliner Zeitung vom 18.04.2002 Ebd. http://www.palestinianholocaust.net/English/In_Depth/GazaHolocaustMuseum/topic_01/ a_01.shtml (14.04.2008)
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lionen Menschen, darunter auch viele arabophone Migranten in Westeuropa. Die Berichterstattung zu Palästina und zur Intifada, die einen erheblichen Teil der Sendezeit in Anspruch nimmt, ist reinste Propaganda. Geschickt zusammen geschnittene Bildsequenzen zeichnen das Bild vom barbarischen israelischen Soldaten, der junge Männer verprügelt und auf unschuldige spielende Kinder schießt. Flankiert werden solche Bilder von einem ideologischen Vokabular, das die Existenz Israels negiert. Stattdessen ist die Rede vom „zionistischen Feind“, vom „zionistischen Gebilde“ oder von der „Regierung des so genannten hebräischen Staates“.52
3.2
Antisemitische Fernsehserien und deren Verbreitung
In der antiisraelischen Propaganda einiger islamistisch beeinflusster Fernsehsender war und ist der Antisemitismus wesentlicher Bestandteil. Antisemitismen finden sich in Unterhaltungsshows und Telenovelas ebenso wie in den Nachrichtenformaten. Auf diesem Gebiet tut sich insbesondere der bereits erwähnte Sender Al-Manar hervor. Neben oberflächlich islamisierten antisemitischen Stereotypen greift der Sender auch direkt auf die Klassiker des modernen europäischen Antisemitismus zurück. So zeigte Al-Manar im Jahr 2003 die mit erheblichem Aufwand in Syrien produzierte dreißigteilige Fernsehserie Asch-Schatat (Die Diaspora), die auf der antisemitischen Hetzschrift „Die Protokolle der Weisen von Zion“ basiert. Die filmische Umsetzung lässt keine Scheußlichkeit aus. In der 20. Episode werden die Zuschauer z. B. Zeugen eines vorgeblichen Ritualmordes, den Juden an einem christlichen Kind begehen, um aus seinem Blut Matzen zu backen. In einer anderen Folge wird ein „talmudisches Strafgericht“ inszeniert. Dem Verurteilten wird vorgehalten, er habe ein Verhältnis zu einer nichtjüdischen Frau unterhalten. Zur Strafe wird ihm die Nase zugehalten und der Mund wird mit siedendem Blei gefüllt. Anschließend wird ihm ein Ohr abgeschnitten und der Hals aufgeschlitzt.53 Selbst unverdächtig wirkende Frauenmagazine werden für antisemitische Stimmungsmache genutzt. Ein beeindruckendes Beispiel hierfür lieferte auf dem Höhepunkt der Intifada im Jahr 2002 der saudi-arabische Sender Iqra TV, der ebenfalls in Europa empfangen werden kann. In einer offensichtlich gestellten
52 Eva Eusterhus, Maggi-Reklame zwischen Haß und Mord. Der Sender Al-Manar wirbt für den Terror – Europa und Arabien schauen zu, in: Die Welt vom 14.04.2005. 53 Auszüge der Serie dokumentiert Memritv unter: http://www.memritv.org/Search.asp?ACT=S5&P1=15&P3=8 (26.02.06)
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Interviewszene befragt eine jugendlich wirkende Moderatorin (M) das dreijährige ägyptische Mädchen Basmallah (B) nach ihrem Verhältnis zu den Juden: M: Wie heißt du? - B: Basmallah M: Wie alt bist du? - B: Drei und halb. M: Kennst du dich mit den Juden aus? - B: Ja. M: Magst du sie? - B: Nein. M: Warum magst du sie nicht? - B: Weil... M: Weil sie was sind? - B: Sie sind Affen und Schweine. M: Weil sie Affen und Schweine sind? Wer hat das gesagt? - B: Unser Gott. M: Wo hat er das gesagt? B: Im Koran. M: Was machen die Juden? - B: Die Pepsi-Firma. M: (lacht) Du weißt von dem Boykott.54
Neben dieser plumpen antisemitischen Propaganda gibt es ab dem Jahr 2004 auch spezielle, auf die Intifada zugeschnittene Serienformate, die für alle Altersklassen die „Grausamkeit“ des israelischen „Besatzungsregimes“ darzustellen versuchen. International erfolgreich sind in diesem neuen Segment die Produktionen iranischer Fernsehsender. An erster Stelle ist hier die siebenteilige Serie „Zahras blaue Augen“ zu nennen, die vom iranischen Sender Sahar TV1 produziert und von Dezember 2004 bis Januar 2005 ausgestrahlt wurde. Die Reihe spielt in der von Israel besetzten Westbank und erzählt die fiktive Geschichte des israelischen Generals Yitzak Cohen. In der ersten Folge hält Cohen einen Vortrag über die in Israel gemachten Fortschritte im Bereich der Organverpflanzung. In einer späteren Sequenz ist dann zu sehen, wie als UN-Mitarbeiter verkleidete Soldaten eine palästinensische Schule besuchen. Angeblich wollen sie dort die Kinder zu ihrem eigenen Wohle auf Augenkrankheiten untersuchen. Tatsächlich aber suchen sie Kinder, deren Augen als Organspende für Israelis dienen sollen. So benötigt Cohens Sohn Theodor, der krank im Rollstuhl sitzt, dringend neue Augen. In der letzten Folge wird das kleine palästinensische Mädchen Zahra, die ihrem Großvater mit Gewalt entrissen wurde, ins Krankenhaus gebracht. Dort werden ihr die Augen entnommen und diese werden umgehend dem kranken Theodor eingepflanzt. Zwischenzeitlich haben Zahras Lehrer und ihr Bruder Ismail von dem grausamen Organraub erfahren und sie beschließen ein Selbstmordattentat gegen den General, das Ismail durchführen soll. Nach der Operation kann Theodor wieder sehen und Yitzak Cohen feiert anlässlich der Heilung seines Sohnes ein Fest. Hierbei hält er folgende Festrede: „Ich habe euch heute zu dieser Feier eingeladen. Es ist aber nur die Vorfeier für das große Fest, das wir feiern werden, wenn wir alle Länder zwischen Nil und Euphrat beherrschen und das 54 Das ganze Interview ist in der Druck- und Filmversion zu finden unter: http://www.memritv.org/Search.asp?ACT=S5&P1=15&P3=3# (27.02.2006).
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schwarze Gold besitzen. Und jetzt ...: Viele von euch haben mich – teils sogar in kritischem Ton – gefragt, wie wir denn die Augen eines palästinensischen Mädchens benutzen könnten, um die Augen meines Sohnes Theodor zu heilen. Nun werde ich all eure Fragen beantworten: Dieses Land und alles, was sich darauf befindet, gehört alleine uns. Uns steht all das zu. Wir nehmen zurück, was einst den Juden gehörte. Die einzigen, die vom Geschenk Gottes an die Juden profitieren dürfen, sind wir und niemand sonst. Wir werden dieses Geschenk mit niemandem teilen – die Augen, die Herzen der palästinensischen Araber und sogar der [palästinensischen] Christen, sind wie Früchte auf den Bäumen in unserem Obstgarten. Wir werden diese Früchte genießen, wie wir wollen. Keiner darf uns im Wege stehen und sich an unserem Hab und Gut bereichern.“55
Unmittelbar nach der Ansprache steuert Ismail das mit Sprengstoff beladene Auto in das Haus des Generals und bringt es zur Detonation. Der Bruder opfert heroisch sein eigenes Leben, um die Schwester zu rächen und um den „zionistischen“ Machtanspruch zu bekämpfen. Bezüglich der verwendeten Antisemitismen bietet „Zahras blaue Augen“ eine neue Qualität. In der Serie Asch-Schatat und auch in anderen Produktionen erscheinen die Juden unter anderem noch als merkwürdig gekleidete Ritualmörder, die das Blut ihrer Opfer für mittelalterliche Rituale verwenden. Die Bilder sind unzweifelhaft der Bildsprache des europäischen Antisemitismus entnommen, die spätestens am Ende des 19. Jahrhunderts ausbuchstabiert vorlag. Unmittelbare Bezüge zum Palästinakonflikt gibt es nicht. „Zahras blaue Augen“ hingegen spielt in der Gegenwart des Palästinakonflikts. Im Mittelpunkt steht das Schicksal von aufrichtigen und gutherzigen Palästinensern in der Westbank. Ihr Leben und das Leben ihrer Kinder werden von einer brutalen israelischen Soldateska bedroht. Die so gesetzte Rahmenhandlung nimmt bewusst Anschluss an die mediale Präsentation der Intifada, in deren Zentrum oftmals vermeintliche Gräueltaten des israelischen Militärs stehen. Wie in der Berichterstattung der Nachrichtenformate rückt die Serie das gepeinigte, unschuldige Kind in den Mittelpunkt. Doch der israelische Aggressor will das Kind nicht einfach nur töten, er braucht die gesunden Organe des palästinensischen Kindes für seine eigene, nicht überlebensfähige Nachkommenschaft, die blind und bewegungsunfähig an den Rollstuhl gefesselt ist. Wirkungsvoller kann eine antisemitische Botschaft wohl kaum inszeniert werden. Israel ist in der Sichtweise der iranischen Autoren und Produzenten von Sahar TV kein normaler Staat. Israel und die Juden erscheinen in „Zahras blaue Augen“ als parasitäre Gebilde, die nur überleben können, wenn sie sich einer intakten und gesunden Gemeinschaft bemächtigen und diese als Ressource missbrauchen. Genau diese zutiefst antisemitische Grundbotschaft will die Serie vermitteln. 55 Zit. n. http://memri.de/uebersetzungen_analysen/2005_01_JFM/iran_sahar_24_02_05.html (06.05.2009).
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3.3
Rezeption außerhalb der arabischen Welt
Der Organraub aktualisiert nicht nur den (christlichen) Ritualmordvorwurf. Der Organraub in „Zahras blaue Augen“ zeigt den Machtanspruch „der Juden“, der nicht einmal vor den Körpern kleiner Kinder halt macht. Sie werden zur Ressource entwürdigt, die „der parasitäre Jude“ für sein Überleben vernutzt. Hieß es früher, die Juden würden uns das Blut aussaugen, so steht nun der Organraub für die totale Bedrohung durch „den Juden“. Diese Aktualisierung klassischer antisemitischer Muster hat mittlerweile auch das türkische Mainstreamkino erreicht. In „Kurtlar Vadisi Irak“ („Tal der Wölfe“), einer zehn Millionen Dollar teuren türkischen Kinoproduktion, gibt es eine Szene, die zeigt, wie ein jüdischer Arzt irakischen Opfern die Nieren entnimmt, um sie an Krankenhäuser in New York, London und Tel Aviv zu verschicken. Gesehen wurde die türkischsprachige Fassung des Films mittlerweile von mehr als 4 Millionen Zuschauern in der Türkei und ca. 400 000 Zuschauern in Deutschland.56 Die meisten Zuschauer in und außerhalb der Türkei nehmen keinen Anstoß an der Arztszene. Folgt man der Sichtweise der beiden Drehbuchautoren Raci Sazmaz und Bahadir Özdener, dann hat die Darstellung der Organentnahme, die von einem jüdischen Mediziner durchgeführt wird, mit Antisemitismus nichts zu tun. Beide bekunden, sie hätten keine Vorurteile und man reiße einzelne Szenen aus dem „Gesamtzusammenhang“.57 Offensiver argumentierte der Produzent von Zahras blaue Augen, Ahmad Mir-Alawi. Seiner Meinung nach ist „die Geschichte eine Sammlung von Fakten“.58 „Zahras blaue Augen“ erzielte eine bislang nicht bekannte Verbreitung. Bereits die Erstausstrahlung konnte in arabischer Fassung auch in Europa empfangen werden. Nachdem dieser Sachverhalt durch MEMRI TV Monitor Projekt bekannt gemacht wurde, reagierten die Aufsichtsbehörden in Frankreich umgehend und nahmen am 22. Februar 2005 den Sender vom Netz. Die Serie fand jedoch so viel Anklang, dass sich nun andere Anbieter um die Ausstrahlungsrechte bemühten. Erfolgreich in dieser Sache war der islamistische türkische Fernsehsender TV5, der bereits im Juni 2005 im Primetime-Bereich eine türkisch synchronisierte Fassung unter dem Titel „Filistinli Zehra`nin Gözleri“ ausstrahlte.59 Damit wurde erstmals eine erwiesenermaßen antisemitische Serienproduktion 56 Reinhard Mohr, „Tal der Wölfe“ – Buddha und Gandhi gegen die Ungläubigen, unter: http://www.spiegel.de/kultur/kino/0,1518,403976,00.html (06.05.2009). 57 Zit. n. ebd. 58 Zit. n. Memri: Spezial Dispatch vom 24. Februar 2005, „Zahras blaue Augen“ – Frankreich verbietet iranischen TV – Sender. 59 Der Programmhinweis von TV5 befand sich noch lange im Netz unter: http://www.tv5.com.tr/program.asp?id=131 (01.03.2006)
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aus iranischen Studios einem sehr großen türkischen Publikum vorgestellt. Die Reichweite des Senders ist übrigens nicht auf die Türkei begrenzt. Das Programm von TV5 ist europaweit zu empfangen und erhält im Umfeld der MilliGörü-Bewegung sehr viel Zuspruch. Die Resonanz war offenbar so groß, dass die Serie auch auf anderen Wegen dem Publikum zugänglich gemacht wurde. Mittlerweile ist die türkisch synchronisierte Fassung als DVD auf dem Markt erhältlich. In Deutschland kann sie unter anderem bei dem deutschen Internetanbieter Sevde Shop erworben werden.60 Wer kein Geld ausgeben möchte, kann „Zehra`nin Gözleri“ auch kostenlos im Internet downloaden. Anbieter ist die türkische Website Ankebut.net. Interessenten können sich dort auch darüber informieren, wie die bisherigen Zuschauer die Serie beurteilen. Unter den weit mehr als 100 Mails, die zumeist große Zustimmung signalisieren, finden sich auch viele Zuschriften aus Deutschland, Frankreich, Holland und anderen europäischen Ländern.61 Die Verbreitungsgeschichte von „Zahras blaue Augen“ zeigt exemplarisch, dass inzwischen antisemitische Fernsehproduktionen mit Erfolg auch in Europa im Umfeld migrantischer Muslime ausgestrahlt und vermarktet werden können. Die für das Satellitenfernsehen zuständigen nationalen Aufsichtsbehörden in Europa haben hierauf nur einen geringen Einfluss. So konnte das Sendeverbot für Sahar TV, das von der französischen Aufsichtsbehörde verhängt wurde, lediglich die Verbreitung über den Satelliten Hotbird stoppen.62 Die erneute Ausstrahlung von „Zahras blaue Augen“ über den türkischen Sender TV5 im Juni 2005, die gleichfalls in ganz Europa zu empfangen war, konnte dadurch jedoch nicht verhindert werden. TV5 sendet über TürkSat 2A.63 Die Betreibergesellschaft dieses Satelliten arbeitet auf der Grundlage türkischen Rechts. Einflussmöglichkeiten für die Europäer gibt es faktisch nicht. Auch andere Verbotsverfügungen wie das jüngste Sendeverbot der niederländischen Regierung, das am 26. Januar 2006 für AlManar und erneut für Sahar TV1 ausgesprochen wurde, sind faktisch unwirksam. Al-Manar sendet auch über außereuropäische SAT-TV Anbieter wie ArabSat, der von einer saudischen Gesellschaft betrieben und kontrolliert wird. Deren Programm kann mit einer größeren Satellitenschüssel auch in Europa empfangen werden. Selbst wenn es gelänge, wirksame europaweite Verbotsverfügungen zu erreichen, bliebe immer noch das Internet als Verbreitungsmedium. 60 Bestellbar ist die DVD unter: http://www.sevde-shop.de/assets/s2dmain.html?http://www.sevdeshop.de/501566960b0104301/50156696fb0b4440d.html (01.03.2006). Im Februar 2006 war die Nachfrage so groß, dass die Serie vorübergehend nicht geliefert werden konnte. 61 Die E-Mails finden sich unter: http://www.ankebut.net/index.php?catID=9999&id=3844 (01.03.2006) 62 Sahar TV, 23. Februar 2005 63 Angaben zu den Frequenzen finden sich unter: http://www.tv5.com.tr (05.05.2009)
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Außenstehende Beobachter zeigen sich gegenwärtig über das Ausmaß der Verbreitung antisemitischer Stereotype im türkischsprachigen Fernsehen und Kino sehr überrascht. Bislang galt die Türkei als ein Land, in dem antisemitische Ansichten nur von einer kleinen Minorität vertreten werden. Seit einigen Jahren beobachten Experten jedoch einen gravierender Wandel. So wies der Wissenschaftler und Publizist Ihsan Dai in einem Interview mit der liberalen türkischen Tageszeitung Radikal am 28. Februar 2005 darauf hin, dass die antisemitische Propaganda in der Türkei seit kurzem an Boden gewänne. Zu befürchten sei, dass sich national-reaktionäre Kreise um Milli Görü, Dritte-Welt-Aktivisten, Kemalisten, linksgerichtete Kreise und Teile des Staats und der Sicherheitsbehörden antisemitische Verschwörungstheorie zu eigen machen und gemeinsam ein einheitliches, antisemitisches Feindbild etablieren.64 4 4.1
Forschungsstand Vorliegende Publikationen
Die ersten größeren Untersuchungen zur Genese und Ausbreitung des Antisemitismus in den arabisch-islamischen Gesellschaften erschienen bereits in den 70er und 80er Jahren.65 Nach wie vor als Standardwerke gelten die Studien des USamerikanischen Nahostwissenschaftlers Bernard Lewis und des israelischen Historikers Yehoshafat Harkabi, die in großen Linien die historischen, religiösen und sozialen Entstehungsbedingungen des Antisemitismus vor dem Hintergrund der einzelnen Phasen des Palästinakonflikts darstellen und analysieren.66 In den Folgejahren wurden diese Studien durch zahlreiche weitere Arbeiten ergänzt, die aus historischer, islamwissenschaftlicher, soziologischer und psychologischer Perspektive Facetten der Thematik erfassen und bearbeiten.67 Zur grundsätzlichen Darstellung des Verhältnisses von Islam und Judentum sind ebenfalls bereits in den 80er Jahren umfangreiche Studien erschienen. An erster
64 Eine Übersetzung und Zusammenfassung des Interviews findet sich unter: http://www.memri.de/uebersetzungen_analysen/2005_02_AMJ/eu_tuerkei_13_05_05.html 65 Eine ausgezeichnete Darstellung der zur Thematik vorliegenden Literatur findet sich bei Götz Nordbruch, Antisemitismus als Gegenstand islamwissenschaftlicher und Nahost-bezogener Sozialforschung, in: Bergmann/Körte (Hg.), Antisemitismusforschung in den Wissenschaften, Berlin 2004. 66 Yehoshafat Harkabi, Arab Attitudes to Israel, Jerusalem 1972 und Bernard Lewis, Semites and Anti-Semites. An Inquiry into Conflict and Prejudice, New York 1986. 67 Eine Auflistung der wichtigsten Arbeiten findet sich bei Nordbruch.
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Stelle zu nennen ist hier die Arbeit von Lewis68, die detailreich das Zusammenleben von Muslimen und Juden in den traditionellen islamischen Gesellschaften beleuchtet. Die frühen Konflikte der entstehenden islamischen Gemeinde mit den jüdischen Stämmen in Medina und deren Darstellung im Koran analysiert die Arbeit des Religionshistorikers Johan Bouman.69 Die Studie zeigt auf, dass es im Koran ein interpretationsbedürftiges Nebeneinander von wohlwollenden und ablehnenden Äußerungen zum Judentum gibt. Darüber hinaus wird deutlich, dass gerade die judenfeindlichen Äußerungen des Korans vor dem Hintergrund des Palästinakonflikts eine islamspezifische Konfliktbetrachtung ermöglichen, in der die Juden als die historischen Widersacher des Islam erscheinen können. Zahlreiche aussagekräftige Studien, die den Zusammenhang von Islamismus und Antisemitismus untersuchten, erschienen ab Ende der 80er Jahre. Die Studien von Emmanuel Sivan, Roland Nettler, Jeffry Kenney, Esther Webmann, Martin Kramer und anderer Wissenschaftler vermitteln einen grundlegenden Einblick in den Konstruktionsprozess islamistischer Ideologien.70 Darüber hinaus bieten sie für Ägypten, Palästina, Libanon, Syrien und andere Länder eine Übersicht über die Verbreitung antisemitischer Stereotype in Literatur, Medien, Flugschriften, politischen Programmen und Predigten.
4.2
Erkenntnislücken
Wie bereits dargestellt, führte die rasche Entwicklung des Satellitenfernsehens im Mittelmeerraum und der Ausbau des Internets zu neuen Formen der Medienpräsentation des Palästinakonflikts. Im Zuge dieser Entwicklung entstanden ab 2000 auch neue, mit Antisemitismen angereicherte Sendeformate, die über die bereits genannten Sender in Europa zu empfangen waren und sind. In welchem Ausmaß diese Sendungen von in Europa lebenden muslimischen Migranten rezipiert werden, ist faktisch unbekannt, da bislang keine Mediennutzungsanalysen im Feld der migrantischen Muslime durchgeführt wurden. Ebenso ist nicht 68 Bernard Lewis, Die Juden in der islamischen Welt, München 1987. 69 Johan Bouman, Der Koran und die Juden. Die Geschichte einer Tragödie, Darmstadt 1990. 70 Emmanuel Sivan, Islamic Fundamentalism, Antisemitism and Anti-Zionism, in: Michael Curtis (ed.), Antisemitism in the Contemporary World, Westview, 1986, Roland Nettler, Past Trials and Present Tribulations: A Muslim Fundamentalist Speaks on the Jews, in: Curtis (Hg.), Jeffry Kenney, Enemies Near and Far: The Image of the Jews in Islamist Discours in Egypt, In: Religion, Nr. 24 (1994), Esther Webman, Anti-Semitic Motifs in the Ideology of Hizballah and Hamas, Tel Aviv 1994, Martin Kramer, The Jihad against the Jews, in: Commentary 98/4 (1994), Gudrun Krämer (Hg.), Antisemitism in the Arab World, in: Die Welt des Islams Vol.46, Nr 3, 2006.
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bekannt, in welchem Ausmaß antisemitische Einstellungen bei muslimischen Migranten verbreitet sind und welche sozialen, religiösen oder psychologischen Faktoren eine Ausbreitung begünstigen bzw. verhindern. Auch hierzu wurden bislang in keinem westeuropäischen Land großangelegte empirische Untersuchungen durchgeführt, die gesicherte Aussagen ermöglichen. Zu dieser Problematik liegen bislang lediglich kleinere Studien und Erfahrungsberichte aus dem schulischen Umfeld vor, die unisono zeigen, dass der Antisemitismus seit dem Jahr 2000 bei muslimischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund in den großen urbanen Lebensräumen zugenommen hat.71 Eingeschränkte Einblicke in diese Problematik bietet lediglich die mit großem Aufwand durchgeführte Untersuchung des französischen Soziologen Michel Wieviorka und seines Teams, das über einen Zeitraum von zwei Jahren alle Formen des in Frankreich auftretenden Antisemitismus untersuchte.72 Wieviorka konstatiert in Bezug auf die muslimischen Migranten das Vorhandensein eines „globalen Antisemitismus“, der sich als ein affektiver Reflex auf den Nah-OstKonflikt deuten lässt und sich aus den altbekannten antisemitischen Verschwörungsphantasien nährt. Darüber hinaus gäbe es milieuspezifische Antisemitismen, die ihre Ursachen in den prekären Lebensbedingungen haben. Nach wie vor aber bleibt unklar, mit welchen Ideologiefragmenten vorhandene antisemitische Deutungsmuster verknüpft werden. Außerordentlich bedeutsam ist diesbezüglich die Frage, ob der Antisemitismus mit islamistischen Vorstellungen verbunden wird bzw. ob dieser im Kontext der islamischen Tradition verortet wird. Um diese Fragen beantworten zu können, müssen die antisemitischen Judenbilder als Gegenbilder zu Selbstbildern analysiert werden. Welche Rolle spielt die Selbst-Identifikation als Muslim für die Bereitschaft zur Judenfeindschaft? Überbrückt die muslimische Selbst-Identifikation die sonstigen Differenzen zwischen den migrantischen Gruppen und trägt zu einem einheitlichen, globalen Antisemitismus islamistischer Ausprägung bei? Ergibt sich hieraus die Neigung, sich mit den Palästinensern zu identifizieren? Oder ist das Bild des „unterdrückten und kämpfenden Palästinensers“ anziehend, weil sich in ihm 71 Demokratiegefährdende Phänomene. Antisemitismus / islamischer Antisemitismus. Interviews mit Jugendlichen in Freizeiteinrichtungen des Bezirks Friedrichshain/Kreuzberg, Alice-Salomon-Hochschule 2005. Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus: Antisemitismus in Kreuzberg entgegentreten!, Berlin 2004. Im Internet zu beziehen als PDF unter: http://www.kigaberlin.org/modules.php?op=modload&name=News&file=article&sid=26 (10.03.2006). Amadeo Antonio Stiftung (Hg.), „Die Juden sind Schuld“. Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft am Beispiel muslimisch sozialisierter Milieus, Berlin 2009. 72 Michel Wieviorka, La Tentation antisémite. Haine des Juifs dans la France d'aujourd'hui, Paris 2005.
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dramatisch die Lage migrantischer Bevölkerungsgruppen spiegelt, denen die sozioökonomische Gleichstellung und kulturelle Anerkennung mehr oder minder verweigert wird? Insgesamt gilt es zu konstatieren, dass wir über die Ausbreitung des islamisierten Antisemitismus, die seit der 2. Intifada unter muslimischen Migranten in den westeuropäischen Staaten verstärkt zu beobachten ist, nur wenig wissen. Angesichts zahlreicher warnender Stimmen aus Schulen und Jugendeinrichtungen, die von einer erheblichen Zunahme antisemitischer Ansichten bei muslimischen Schülern mit Migrationshintergrund berichten, ist dies ein unhaltbarer Zustand. Gezielte Strategien gegen diese besorgniserregende Entwicklung lassen sich nur auf der Grundlage präziser Analysen entwickeln. Seit Jahren werden solche Studien aus wissenschaftlichen Fachkreisen immer wieder gefordert. Geldgeber fanden sich bislang nicht, da sie anscheinend die politische Brisanz scheuen, die den Forschungsergebnissen – wie auch immer sie ausfallen – eigen wäre. Diese falsche Zurückhaltung dient weder der Eindämmung der in der Mehrheitsbevölkerung weit verbreiteten antiislamischen, antitürkischen und antiarabischen Vorurteile noch der Bekämpfung des Antisemitismus, sei er islamistisch, christlich oder säkular.
Feindbild Juden. Zur Funktionalität der antisemitischen Gemeinschaftsideologie in muslimisch geprägten Milieus Claudia Dantschke
„Es ist unserer Gesellschaft mittlerweile in Fleisch und Blut übergegangen, überall jüdischen Einfluss zu vermuten und diverse Verschwörungstheorien zu erfinden, in denen ,der Jude‘ immer der Übeltäter ist“, hieß es in der Petition „Null-Toleranz gegen Antisemitismus“, die die sozialistische türkische Zeitschrift „Birikim“ im Oktober 2004 veröffentlichte. Diese Petition hatten sowohl muslimische als auch nicht-muslimische Intellektuelle unterzeichnet.1 Ihsan Dagi, Professor für Internationale Beziehungen an der Technischen Universität des Nahen Ostens in Ankara, sprach deshalb sogar von einem „neuen [nationalen] Bündnis“ und der „Suche nach einer neuen nationalen Einheit in der Türkei“. Im Interview mit der linksliberalen Zeitung „Radikal“ erklärte Dagi die Funktionalität des türkischen Antisemitismus: Dieser diene dazu, „Einheit und Homogenität“ herzustellen. „Sie sagen: Seht her, unter uns gibt es Leute, die gegen uns konspirieren. Trotz aller Differenzen zwischen uns müssen wir uns dagegen zusammenschließen – gleich ob wir Kemalisten sind oder aus dem religiösen oder linken Lager kommen.“2 Die Grundlage dieser „nationalen Einheitsideologie“, so Dagi, seien Gerüchte über die Sabetaisten und Dönme. Als „Sabetaisten“ (Sabetaycilar), „Dönme“ (die Gedrehten, Konvertiten) oder „Krypto-Juden“ werden die Nachfahren der osmanischen Juden bezeichnet, die entweder freiwillig oder gezwungenermaßen zum Islam konvertierten. Dabei wird auf die Geschichte des selbsternannten jüdischsephardischen Messias Sabetai Zwi angespielt, der 1666 vom osmanischen Sultan gezwungen wurde, zum Islam überzutreten. Ihnen wird unterstellt, nur pro forma Muslime und Türken zu sein. „In unserem Land gibt es zwei Sorten Menschen. Auf der sichtbaren Seite sehen sie aus wie Muslime und Türken. Auf der Rückseite der Medaille sind es Juden. Sie bringen ihre eigenen inkompetenten 1 2
Birikim (Türkei), Oktober 2004, zitiert nach: MEMRI Special Report - 13. Mai 2005, „Türkische Intellektuelle kritisieren Antisemitismus in türkischen Medien“. MEMRI Special Report - 13. Mai 2005
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Personen in die wichtigsten Ämter und Stellen und vergreifen sich an den Einkünften der Türkei – verdammt seien sie“, formulierte es der islamistische Agitator Mehmet Sevket Eygi am 24. Mai 2002 in der türkischen Tageszeitung „Milli Gazete“, dem Sprachrohr der weltweiten Milli Görüs-Bewegung. Während die „Dönme“ bei den Islamisten herhalten müssen als Beleg für eine jüdische Unterwanderung des Islam mit dem Ziel, diesen langfristig von innen heraus zu zerstören, gelten sie den türkischen Nationalisten, ob rechts oder links, als Unterwanderer der türkischen Nation und deren Souveränität. Dabei spielt es keine Rolle, ob die angegriffenen und als „Dönme“ oder „Sabetaisten“ charakterisierten Personen aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft tatsächlich jemals jüdische Vorfahren hatten – die Zuschreibung als solche ist ausreichend. So musste Can Paker, Generaldirektor der Firma „Henkel-Türkei“ und Vorsitzender der „Stiftung für wirtschaftliche und soziale Studien in der Türkei – TESEV“ im Frühjahr 2006 öffentlich auf Unterstellungen reagieren, er sei ein „Sabetaist“, also ein „heimlicher Jude“: „Ich verfolge diese Behauptungen, aber ich nehme sie nicht ernst, denn diejenigen, die diese Behauptung aufstellen, nehmen sie selbst nicht ernst.“3 Auch in den türkischen und muslimischen Gemeinden in Deutschland sind diese Stereotype verbreitet und virulent. So war auf der Buchmesse einer Berliner Moscheegemeinde Mehmet Sevket Eygis antisemitisches Verschwörungsbuch „Jüdische Türken oder Sabetaisten“ (Yahudi Türkler yahut Sabetaycilar) ebenso erhältlich wie das pseudo-wissenschaftliche Werk „Efendi – Das große Geheimnis der weißen Türken“ (Efendi – Beyaz Türklerin Büyük Sirri) des eher dem linken Spektrum zuzuordnenden Populärhistorikers Soner Yalcin. In diesem Werk konstruiert Yalcin einen Einfluss der Sabetaisten auf die türkische Modernisierung. Im Frühjahr 2007 erlebte die Türkei den ersten Höhepunkt der aktuellen Krise, die das Land in zwei Lager spaltet: das konservativ religiöse und das säkular nationalistische. Die vorgezogenen Wahlen im Juli 2007 waren ein Ausdruck dieser Krise. Vor diesem Hintergrund erlebte das gerade erschienene Buch „Kinder des Moses“ (Musa'nin Cocuklari) des säkular nationalistischen Autors Ergün Poyraz wahre Rekordauflagen. In diesem Buch behauptet Poyraz, der türkische Ministerpräsident und Vorsitzende der islamisch-konservativen AKP, Tayyib Erdogan, und seine Frau seien gar keine frommen Muslime, sondern in Wirklichkeit jüdische Agenten, die die Türkei für ihre amerikanischen Auftraggeber verkaufen würden. 3
Siehe unter anderem Portal der türkischen Rechtsextremisten: www.milliyetciler.de/haberoku435/paker-sabetay-iddialarini-cevapladi.
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Der Führer der islamistischen Milli-Görüs-Bewegung, Necmettin Erbakan, meinte ebenfalls, die bevorstehende Wahl würde über „Sein oder Nichtsein“ der Türkei entscheiden. Während sein Weg, der „Milli-Görüs-Weg“, der ganzen Menschheit den „rechten Weg zur Glückseligkeit“ weise und demzufolge das Gute sei, so Erbakans Wahlempfehlung, wäre der rassistische, imperialistische Zionismus das Böse. Denn dieser Zionismus sei das Zentrum, das alle 200 Länder der Welt kontrolliere. Die Muslime hätten elf Jahrhunderte lang geherrscht, so Erbakan, „doch unglücklicherweise haben in den letzten drei Jahrhunderten die Kinder Israels diese Menschenmassen an sich gerissen. Jetzt kontrollieren sie die Welt, in der wir leben“.4 Damit spielt Erbakan auf die Moderne und deren Produkt, die Republik Türkei als demokratischer, laizistischer Nationalstaat an. Diese Entwicklung stellt er als jüdische Konspiration zur Beherrschung der Welt dar. Er funktionalisiert damit ein klassisches antisemitisches Stereotyp, um sein islamistisches Gesellschaftskonzept als einzige Alternative für das Überleben der Türkei zu begründen. Diese wenigen Beispiele zeigen die klassische Funktionalisierung des Antisemitismus, wie sie Klaus Holz in seinem Buch „Die Gegenwart des Antisemitismus“ beschrieben hat. Holz entwickelt dabei das Konzept von der Figur des „Dritten“: Auf der Basis einer vorgegebenen Gemeinschaftsidentität – sei es eine Religion, eine konstruierte „Rasse“ oder ein Volk bzw. eine Nation – wird eine „WirGruppe“ konstruiert, der die jeweilige „Fremdgruppe“ gegenüber steht. Es entsteht eine Dualität, hier bestehend zunächst in einer Art nationalem Bündnis von säkularen rechten und linken Nationalisten mit konservativen Muslimen und Islamisten, die sich als Nation und Volk gegenüber den anderen Nationen und Völkern abgrenzen. Als sich die innenpolitische Situation zuspitzt, wird sie transformiert in die beiden sich gegenüber stehenden Lager: säkularnationalistisch vs. religiös-konservativ und islamistisch. „Mit dem Antisemitismus aber“, schreibt Holz, „kommt etwas Drittes hinzu: Die Juden werden gerade nicht in der gleichen Weise wie die Franzosen, Slawen oder Christen als anderes Volk, als andere Rasse oder andere Religion konzipiert, sondern als Träger einer weltumspannenden, verborgenen Macht, die nicht nur die Weltherrschaft anstrebt, sondern die Unterschiede zwischen allen Völkern, Rassen und Religionen zersetzen will“. „’Der Jude’ als Dritter transzendiert, bedroht und zersetzt die binäre Unterscheidung zwischen ‚uns und den anderen’, dank derer die partikulare Gruppen-Identität konstruiert wird“, so Holz.
4
Zitiert nach: Antisemitism and the Turkish Islamist ‘Milli Gorus’ Movement: Zionists/Jews ‘Bacteria’,’Disease’, http://memri.org/bin/articles.cgi?Page=archives&Area=sd&ID=SP169907
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Antisemitismus in der Ideologie des Islamismus Im Gesamtspektrum muslimisch sozialisierter Milieus wird diese „binäre Unterscheidung zwischen uns und den anderen“ nur von einem Teil der Menschen auf der Grundlage der Religion konstruiert. Schließlich ist das oft unter der Kollektiv-Bezeichnung „Muslime“ gefasste Milieu extrem heterogen. Hinzu kommt, dass sich das Teilmilieu, welches sich primär religiös definiert, erneut aufspaltet in verschiedene, sich auch gegenseitig abgrenzende Konfessionen, Strömungen und Ideologien. In Deutschland umfasst das Teilmilieu der „fundamental religiös“ orientierten Muslime etwa 40 Prozent der insgesamt „3,4 Millionen Muslime“, so die Studie „Integration und Integrationsbarrieren von Muslimen in Deutschland“, die Prof. Dr. Peter Wetzels und Katrin Brettfeld (Universität Hamburg) im Auftrag des Bundesinnenministeriums Ende 2007 veröffentlichten. Etwa 14 Prozent aller Muslime in Deutschland definieren dagegen ihre Gemeinschaftsidentität nicht nur auf Grundlage der Religion, sondern zudem politisch-ideologisch. Sie sympathisieren mit islamistischen Gesellschaftsvisionen. Kernpunkt dieser islamistischen Ideologie, die den Islam zur Grundlage einer „perfekten und gerechten Gesellschaftsordnung“ und damit zur gesellschaftspolitischen Alternative für das 21. Jahrhundert deklariert, ist die Ablehnung der „politischen Moderne“, der auf der Trennung von Staat und Religion basierenden Gesellschaftssysteme wie der Demokratie. Während diese als Folge von Aufklärung und Französischer Revolution (1789) entstandenen Gesellschaftssysteme auf der Souveränität des Menschen beruhen, verfügt im islamistischen Konzept der Mensch lediglich über die Autorität, die von Gott offenbarten Vorgaben im Diesseits umzusetzen. Der Souverän ist und bleibt Allah. Die Trennung von Staat und Religion bildet deshalb den Kernwiderspruch der Systeme. Aus ihm leiten Islamisten die Überlegenheit ihrer Gesellschaftsutopie ab. Dabei machen sie sich die religiöse Vorstellung eines unfehlbaren Gottes zu nutze und zementieren ein biologistisches Menschenbild, wonach der Mensch ohne göttliche Führung schutzlos seinen eigenen Begierden, Wünschen und Trieben ausgeliefert sei. Demzufolge muss ein Gesellschaftssystem, das auf einer Trennung von Staat und Religion basiert, also nicht nach den Vorgaben der unfehlbaren Gottheit, sondern nach den Vorgaben des fehlbaren Menschen konstituiert ist, im Kern fehlbar, unmoralisch, dekadent und dem Untergang geweiht sein. Alle negativen Erscheinungen dieser von Menschen geschaffenen heutigen Welt, wie Ausbeutung, Unterdrückung, Dekadenz und Ungerechtigkeit, werden nach islamistischer Lesart als logische Konsequenz der Säkularisierung dargestellt und das Bild einer „alles zerstörenden Moderne“ gezeichnet. Der Antisemitismus erfüllt im islamistischen Milieu, das die Religion zum allein identitätsstiftenden Merkmal und zur Grundlage einer politisch-ideo-
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logischen Weltanschauung macht, eine klar zu beschreibende Funktion: Der religiös definierten „Wir-Gruppe“ stehen die religiösen Gemeinschaften Judentum und Christentum als Fremd- bzw. monotheistische, abrahamitische Konkurrenzgruppen gegenüber. In der Abgrenzung von diesen Fremdgruppen erfolgt die Konstruktion der partikularen Gruppen-Identität. Die Aufwertung der eigenen Gruppe erfolgt durch Herabsetzungen der Religionen Judentum und Christentum. Von der politischen Moderne bedroht werden aber sowohl die „WirGruppe“ als auch die beiden Fremdgruppen. Die Moderne zersetzt nämlich die „binäre Unterscheidung“ und damit auch die Identität der eigenen Gruppe. Als Erfinder und Träger dieser Moderne – und hier kommt die Funktion des Antisemitismus zum Tragen – gilt der „gottlose Jude“: „Der Jude, der Gott leugnet und die Menschen von Gott entfernen will, um sie beherrschen zu können“, so eine inzwischen klassische islamistische Darstellung. Diese Stereotype sind stark durch den europäischen antimodernistischen klerikalen Antijudaismus des 19. Jahrhunderts geprägt und fanden über christliche Gemeinden im Osmanischen Reich Eingang in den islamischen und vor allem in den islamistischen Diskurs. Nach dem Christentum sei nun „der Islam“ an der Reihe, „entmachtet zu werden“, und deshalb müsse der Trennung von Staat und Religion im Islam mit aller Entschiedenheit widerstanden werden. „Der Jude“ als „geheime Macht hinter der Moderne“, der „Zersetzer des Christentums und demnächst des Islam“ bedroht also nicht nur die eigene Gemeinschaft, sondern auch die zur Abgrenzung des „Wir“ nötigen „Fremdgruppen“, darunter auch das religiöse Judentum. Diesen „Juden“ als „Dritter“ (K. Holz) finden islamistische Ideologen im Zionismus, der modernen säkularen jüdischen Nationalbewegung, verkörpert im Staat Israel. Im orthodoxen antizionistischen Judentum sehen islamistische Gruppen hingegen ebenso wie im orthodoxen Christentum einen Bündnispartner – schließlich sind diese in analoger Weise von der Moderne bedroht. Angesichts dieser Funktionalität des Antisemitismus für den Islamismus lässt sich nicht in pauschaler Weise von einem religiösen, also muslimischen Antisemitismus sprechen, sondern von einem islamisierten oder islamistischen. Das Rekurrieren islamistischer Agitatoren auf die religiösen Quellen des Islam, Koran und Sunnah, steht dieser Diagnose nicht entgegen, werden dabei doch vor allem die Stellen herausgesucht, in denen vom ketzerischen und frevelnden „Juden“ die Rede ist. Inzwischen gilt „der Jude“ als Prototyp des Frevlers, was sich im Bild „Söhne von Affen und Schweinen“ niederschlägt: Die in den islamischen Quellen eigentlich allen Frevlern zugedachte göttliche Strafe, in Affen und
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Schweine umgewandelt zu werden, wird nun, in der Auseinandersetzung mit der Moderne, zur Markierung des „Juden“ als Gottesleugner. Antisemitismus im Kontext anderer Identitäten und Ideologien Die Mehrheit der sunnitischen Muslime türkischer Herkunft definiert ihre Gemeinschaftsidentität jedoch nicht nur auf rein religiöser Grundlage, sondern folgt der sogenannten türkisch-islamischen Synthese. Diese Richtung manifestiert sich in unterschiedlichen religiösen und politischen Organisationen, einige davon haben eine türkisch-islamistische Agenda. Die türkisch-islamische Synthese verbindet die sunnitisch-hanefitische Islaminterpretation mit einem ethnisch und/oder kulturell definierten Panturanismus/Panturkismus. Die Gemeinschaftsidentität bildet sich demzufolge nicht nur auf der religiösen Grundlage (Gemeinschaft aller Muslime), sondern ist gekoppelt an das Verbindende der Turkvölker.5 Je nach Strömung findet eine unterschiedliche Gewichtung des religiösen oder des ethnisch bzw. kulturellen Aspektes statt. Bei den rechtsextremen „Grauen Wölfen“ liegt die Betonung auf dem nationalistisch-völkischen Aspekt. Der Islam, ob sunnitischer oder schiitischer Prägung, hat hier eher eine kulturelle als eine wirklich religiöse Bedeutung. Die extremste Betonung beider Komponenten in Form eines islamistischen Religionsverständnisses gekoppelt an eine völkische Glorifizierung des Türkentums findet sich bei der religiösen Abspaltung der „Grauen Wölfe“, der „Alperen-Bewegung“. Entsprechend dieser völkischen bzw. national-religiösen Definition der „Wir-Gruppe“ wurden Juden, vor allem die Juden in der Türkei, aufgrund der ethnischen, sprachlichen und religiösen Andersartigkeit zunächst zur Fremdgruppe, ebenso wie Armenier, Griechen, Kurden und Aleviten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich hier jedoch ein Wandel vollzogen: Auch im türkischen Diskurs werden die Juden immer weniger als anderes Volk konzipiert, sondern rücken, wie Holz es formuliert, in die Rolle einer die Weltherrschaft anstrebenden Macht, die alle Völker und Nationen zu einer identitätslosen Masse verrühren will. Der Antisemitismus erfüllt hier vor allem die Aufgabe, die postnationale Moderne, die Globalisierung und die Überwindung der auf ethnisch-kultureller Homogenität 5
Im späten 19. Jahrhundert entstandene Nationalbewegung auf der Grundlage der kulturellen (einschließlich der Religion Islam) und sprachlichen Ähnlichkeiten und Gemeinsamkeiten der Turkvölker vom Balkan über Anatolien, Mittelasien, Sibirien bis China mit dem Wunsch der Zusammenführung aller Turkvölker in einem Staat. Später wurden neben linguistischen auch ethnische („rassische“) Zusammenhänge konstruiert. Dem Panturkismus entsprechen hauptsächlich der Panarabismus im arabischen Kulturkreis und der Paniranismus im persisch-iranischen Kulturkreis.
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fußenden Nationalstaatsideologie als jüdische Verschwörung zu brandmarken. Er bedient sich dazu „des Juden“ in allen Formen und Stereotypen – sei es als Zionist, als feindliches Volk oder als Religion. Sowohl im türkischen als auch im arabischen Milieu gibt es zudem zahlreiche säkulare linke Gruppen, von denen einige, oft sind es nur kleine Grüppchen, einer linksradikalen (Maoisten, Trotzkisten) oder linksnationalistischen Ideologie folgen. Die Differenzierung zwischen „Wir“ und „die Anderen“ verläuft hier entlang der Klassenfrage (Kapitalisten/Imperialisten und Proletariat). Zum Proletariat, also der „Wir-Gruppe“, zählen Juden ebenso wie Muslime, Türken, Araber sowie die Länder der „Dritten Welt“, also auch Staaten, deren Bevölkerungen mehrheitlich muslimisch geprägt sind. Die Gegengruppe sind das transnationale Kapital, der globale Imperialismus und deren Hauptträger, die USA. Israel als imperialistischer Außenposten und die jüdische Nationalstaatsbewegung, der Zionismus, verstanden als „imperialistische, nationalistische und rassistische“ Ideologie, werden für einige dieser Gruppen jedoch zur Metapher des Bösen schlechthin: Hier wird die transnationale kapitalistische Finanzwirtschaft für die ausbeuterische Globalisierung und Unterdrückung verantwortlich gemacht und mit antisemitischen Stereotypen assoziiert – etwa jenem vom reichen Juden und der jüdischen Lobby, die die Finanzmärkte und Massenmedien beherrschten. Auch diese Gruppen werden meist unter der Rubrik „Muslime“ geführt, der von ihnen artikulierte Antisemitismus speist sich jedoch aus areligiösen linken Ideologien. Die hier beschriebenen unterschiedlichen Gemeinschaftsidentitäten in muslimisch sozialisierten Milieus treffen in ihrer Absolutheit sicher nur auf einen Teil der „3,4 Millionen Muslime“ in Deutschland zu. Die Mehrheit dieser Menschen dürfte allenfalls Berührungspunkte bzw. Affinitäten in die eine oder andere Richtung haben und von bestimmten Diskursen mehr geprägt und beeinflusst sein als von anderen. Dabei spielen die Lebenswirklichkeiten und die Debatten in der Mehrheitsgesellschaft samt deren ideologischen Strömungen eine zusätzliche zentrale Rolle. In ihnen geht es unter anderem um soziale und gesellschaftspolitische Aspekte (z.B. mentale, politische, soziale Diskriminierungserfahrungen, Identitätsdiskurse, kulturalistische Zuschreibungen, Opfererfahrungen usw.) Bei Migranten/innen palästinensischer und libanesischer Herkunft kann auch die persönliche Betroffenheit vom Nahost-Konflikt – etwa in Form von Gewalt- und Verlusterfahrungen auch unter Bekannten und Verwandten – ideologisiert werden und so in antisemitische Überzeugungen münden. Für eine adäquate Auseinandersetzung mit antisemitischen Positionen von „Muslimen“ ist es deshalb
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wichtig herauszufinden, welchem Milieu, welcher Ideologie und welchem Einflussbereich sie entstammen.6 Literatur Amadeu Antonio Stiftung Berlin (Hrsg): „Die Juden sind schuld“ - Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft am Beispiel muslimisch sozialisierter Milieus. 2009, Berlin Holz, Klaus: Die Gegenwart des Antisemitismus: Islamistische, demokratische und antizionistische Judenfeindschaft, 2005 , Hamburger Edition Holz, Klaus : Neuer Antisemitismus? – Wandel und Kontinuität der Judenfeindschaft. Vortrag auf dem Symposium des Bundesamtes für Verfassungsschutz zum Thema „Neuer Antisemitismus? Judenfeindschaft im politischen und im öffentlichen Diskurs“, 2005
Literaturempfehlungen Guttstadt, Corry, (2008): Die Türkei, die Juden und der Holocaust, Verlag Assoziation A, Berlin/Hamburg Kertzer, David I., (2004): Die Päpste gegen die Juden: Der Vatikan und die Entstehung des modernen Antisemitismus, List Tb. Kiefer, Michael, (2002): Antisemitismus in den islamischen Gesellschaften, Ggp Media on Demand Laqueur, Walter, (2008): Gesichter des Antisemitismus: Von den Anfängen bis heute, Propyläen Lewis, Bernard, (2004): Die Juden in der islamischen Welt: Vom frühen Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert (Taschenbuch), Beck
6
Siehe auch „Die Juden sind schuld“ – Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft am Beispiel muslimisch sozialisierter Milieus. Konzept und Redaktion: Claudia Dantschke, ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH Berlin; Hrsg.: Amadeu Antonio Stiftung Berlin, Januar 2009
Zugehörigkeiten rechtfertigen und von Juden und Israel sprechen Nikola Tietze
Zugehörigkeitskonstruktionen zum Islam gelten weithin als Ausdruck für Abgrenzung von den allgemeinen gesellschaftlichen Beziehungen in Deutschland und den politischen Normen, die diese Beziehungen regeln. Die Beobachtung, dass Muslime antisemitische Haltungen vertreten und antisemitische Handlungen begehen, wird als unmissverständlicher Beweis für diese Abgrenzung betrachtet. Die Konzentration der bundesrepublikanischen Staatsvertreter und Öffentlichkeit auf die Abgrenzung der Muslime, die mitunter auch als Herausbildung von parallelgesellschaftlichen Strukturen denunziert wird (vgl. Schiffauer 2008), verstellt jedoch meines Erachtens den Blick auf die normative Tätigkeit der Muslime und lässt ihre Zugehörigkeitskonstruktionen zu Abbildungen von quasi naturgegebenen Verhaltens- sowie Einstellungsmustern gerinnen, die keinen positiven Bezug zu freiheitlichen Grundrechten, demokratischen Gesellschafts- und Pluralismusordnungen kennen. Der folgende Beitrag nimmt derartige Einschätzungen zum Anlass, Zugehörigkeitskonstruktionen zum Islam im Hinblick auf die Allgemeinwohlvorstellungen und Wertmaßstäbe zu untersuchen, die die Gemeinschaftsimaginationen von Muslimen in der Bundesrepublik in sich einschließen. Eine besondere Aufmerksamkeit kommt dabei den Bildern über Juden und Israel zu, die die Muslime in der Rechtfertigung ihrer Zugehörigkeitskonstruktionen aufrufen. Es geht mit anderen Worten im Folgenden darum, die normative Tätigkeit aufzudecken, die in Zugehörigkeitskonstruktionen zum Islam oder zum palästinensischen Nationalismus zum Ausdruck kommt und gleichzeitig aus ebendiesen Zugehörigkeitskonstruktionen hervorgeht. Ausgangspunkt ist die empirische Beobachtung, dass Zugehörigkeitskonstruktionen für Personen, die sich als Muslime oder Palästinenser beschreiben, in der Bundesrepublik die Schule durchlaufen haben und dementsprechend im bundesrepublikanischen Normengefüge sozialisiert worden sind, keine Selbstverständlichkeit darstellen. Weder begreifen die Muslime und Palästinenser ihre Zugehörigkeit als feststehendes Wesensmerkmal ihrer Person noch akzeptieren sie eine Zuordnung von außen zur Gemeinschaft oder Gruppe der Muslime, die ihnen Familiemitglieder, andere Muslime, Lehrer, Arbeitgeber oder Medien auferle-
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Nikola Tietze
gen. Sie verstehen ihre Zugehörigkeit vielmehr als den Ausdruck einer persönlichen Entscheidung, mit der sie sich Handlungsoptionen und eine Sicht auf die Welt erarbeiten (vgl. Tietze 2001), und versuchen, ihre Partikularität als eine eigenständige Auseinandersetzung mit gesellschaftlich angebotenen Ideen und Interessen zu behaupten. Lediglich eine bestimmte Form von Zugehörigkeitskonstruktionen – im Folgenden als physisgerechtfertigte Zugehörigkeitskonstruktionen bezeichnet – bildet in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Im weiteren Verlauf des Beitrags wird dieser Unterschied ausführlicher erläutert. Die fehlende Selbstverständlichkeit von Zugehörigkeit und Zuordnung wird in den Rechtfertigungen deutlich, die Muslime und Palästinenser ihren Zugehörigkeitskonstruktionen geben. Diese Rechtfertigungen beruhen auf vielfältigen und heterogenen Allgemeinwohlvorstellungen, das heißt Ordnungsvorstellungen für die gemeinschaftlichen und allgemein gesellschaftlichen Beziehungen, und bringen entsprechende Wertmaßstäbe zur Geltung. Von diesen ausgehend ordnen Personen, die Zugehörigkeit konstruieren, Hierarchien, Autoritätsverteilung und Zuschreibungen ein und zu, die etablierte Gemeinschaftsorganisationen (etwa islamische Vereine, aber auch die islamische Lehre und Orthopraxie) geltend machen und allgemeingesellschaftliche Verhältnisse (etwa ökonomische und bildungsstrukturelle Bedingungen, rechtliche Statusfragen und bundesrepublikanische Selbstverständnisdebatten) festlegen. Im Zuge dessen bewerten und beurteilen sie überdies etablierte Statusordnungen und angewendete normative Standards. Insofern artikulieren Zugehörigkeitskonstruktionen eine normative Tätigkeit (vgl. Dubet 2008), denn sie beruhen auf Ein- und Zuordnungen von Dingen und anderen Personen sowie Bewertung und Beurteilungen von Normen, die in einer Gemeinschaft oder der Gesellschaft zur Anwendung kommen (vgl. Boltanski/Thévenot [1991] 2007, Honneth 2008). Der erste Teil des Beitrags versucht, diese normative Tätigkeit im Hinblick auf ihre normativen Prinzipien – die Rechtfertigungsprinzipien der Zugehörigkeitskonstruktionen – zu differenzieren. Im Zuge der Ein- und Zuordnung von Dingen und anderen Personen und im Zuge der Bewertungen und Beurteilungen von Normanwendungen kommen die Muslime in bestimmten Zusammenhängen auf Juden oder Israel zu sprechen, was im zweiten Teil dieses Beitrags in den Blick genommen wird. Dabei steht die Frage im Vordergrund, welche Wertmaßstäbe ein solches Sprechen von Juden oder Israel zum Ausdruck bringt und in welchem Verhältnis es zur Rechtfertigung einer Zugehörigkeitskonstruktion steht. Das, was über Juden oder Israel gesagt oder nicht gesagt wird, gibt – so die zugrunde gelegte Hypothese – einen Hinweis auf die Maßstäbe, die die jeweils herausgestellte Partikularität ausprä-
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gen. Es veranschaulicht die Rechtfertigungsprinzipien einer Zugehörigkeitskonstruktion und die Allgemeinwohlvorstellungen, die mit selbiger einhergehen. Die empirische Grundlage für die Ausführungen auf den nachstehenden Seiten bilden verschiedene Fallstudien, die zwischen 2004 und 2007 in muslimischen Organisationen und Initiativen in Hamburg und palästinensischen Kultur- und Stadtteilvereinen in Berlin durchgeführt worden sind (vgl. Tietze 2006). Im Mittelpunkt dieser Studien stand die Frage nach den Gemeinschaftsimaginationen der befragten Muslime und Palästinenser – Gemeinschaftsimaginationen, die im Rahmen von nicht direktiven Interviews erhoben wurden. Die Interviews wurden als Erzählungen über die jeweils imaginierte Gemeinschaft betrachtet. Sie wurden zunächst einzeln daraufhin untersucht, welche Allgemeinwohlvorstellungen ein Befragter oder eine Befragte mit der jeweils imaginierten Gemeinschaft verbindet, wie in seinen oder ihren Augen die sozialen Beziehungen zwischen Gemeinschaftsmitgliedern und in der Gesellschaft im Allgemeinen geordnet werden sollten. Daraus wurden dann die Wertmaßstäbe abgeleitet, mit denen er oder sie die Beziehungen zwischen Personen innerhalb und außerhalb der Gemeinschaft bewertet und beurteilt. In einer Gesamtschau auf alle Gemeinschaftserzählungen sind dann Allgemeinwohlvorstellungen und Wertmaßstäbe nach ihren grundlegenden normativen Prinzipien geordnet worden, die ebenfalls aus den Interviews herausgearbeitet worden sind. Sie sind als Rechtfertigungsprinzipien der Zugehörigkeitskonstruktionen verstanden worden, die erlauben, die vielfältigen und heterogenen Allgemeinwohlvorstellungen und Wertmaßstäbe der Befragten zu differenzieren. I
Rechtfertigungsprinzipien von Zugehörigkeitskonstruktionen
Der Lektüre und Interpretation des empirischen Materials zufolge rechtfertigen die Befragten – jenseits von gemeinschaftsspezifischen Begründungen der Zugehörigkeiten (etwa die Praxis islamischer Lebensregeln oder die geteilte Erinnerung an die Vertreibung der Palästinenser) – imaginierte Gemeinsamkeiten und Bindungen mit gemeinschaftsunspezifischen normativen Prinzipien (vgl. Tietze 2008). Ein Befragter oder eine Befragte gründet also seine oder ihre Vorstellungen darüber, wie die gemeinschaftlichen und allgemeingesellschaftlichen Verhältnisse idealiter geordnet sein sollten, und die Wertmaßstäbe, mit denen er oder sie etablierte Normen bewertet und beurteilt, auf bestimmte Prinzipien, egal ob er oder sie sich dabei als Muslim oder Palästinenser versteht, die islamische Glaubenslehre oder den palästinensischen Nationalismus in den Vordergrund stellt. Die normativen Prinzipien organisieren die zu beobachtenden Allgemein-
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wohlvorstellungen und damit einhergehenden Ordnungsvorstellungen für Gemeinschaft und Gesellschaft und begründen entsprechende Wertmaßstäbe in der Bewertung und Beurteilung angewendeter Normen. In der systematisierenden Analyse der Interviews lassen sich sechs Prinzipien unterscheiden: Genius-, Wurzel-, Solidarität-, Leistung-, Respekt- und Physis-Prinzip. Unabhängig davon, ob eine Zugehörigkeitskonstruktion auf islamische oder palästinensische Inhalte zurückgreift, wird sie mit einem oder einer Kombination dieser Prinzipien gerechtfertigt. Wie sehen die Allgemeinwohlvorstellungen und Wertmaßstäbe, die Genius-, Wurzel-, Solidaritäts-, Leistungs-, Respekt- und Physis-Prinzip hervorbringen, im Einzelnen aus?
Genius-Prinzip Einige Befragte führen die Gemeinsamkeiten und Bindungen, die sie beschreiben, auf die begnadete Vollkommenheit des Islam oder Einzigartigkeit der palästinensischen Sache zurück. Einem Muslim der Untersuchungsgruppe zufolge tritt die wahre und einzigartige Schaffenskraft der Umma (Gemeinschaft der Muslime) im Goldenen Zeitalter vor Augen, in der Epoche des Propheten und der ersten sogenannten rechtgeleiteten Kalifen. Ein Palästinenser wiederum betont den außerordentlichen Charakter palästinensischer Herzlichkeit und Gastfreundschaft, die in seinen Augen über einfache gesellschaftliche Konventionen hinausweise und die politischen und historischen Verhältnisse überrage. Zugehörigkeitskonstruktionen wie die beiden angedeuteten finden ihre Rechtfertigung im Prinzip des Genius. Sie bauen auf einem – in der Regel nicht-kommunizierbaren und außernatürlichen – Apriori auf. Dieses Apriori begründet eine begnadete Ordnung der Dinge in der Welt und der Beziehungen zwischen Gemeinschaftsmitgliedern sowie zu außergemeinschaftlichen Dritten. Die begnadete Ordnung kommt laut den Personen, die solche Zugehörigkeiten konstruieren, in individuellen Haltungen im Hinblick auf die allgemeingesellschaftlichen Verhältnisse zum Ausdruck und drängt auf die Verwirklichung innergemeinschaftlicher Potentiale. Geniusgerechtfertigte Zugehörigkeitskonstruktionen verankern tendenziell die Schaffenskraft und Vollkommenheit der imaginierten Gemeinschaft in einem verlorenen Paradies, das keinen Bezug zu gesellschaftlicher Praxis besitzt. Sie gleichen rückwärtsgewandten Utopien. Infolgedessen wird die begnadete Ordnung, die die Muslime und Palästinenser in ihren Gemeinschaftserzählungen ausgestalten, zu einem Alternativentwurf zu den vorgefundenen Strukturen in einer Zugehörigkeitsgruppe einer- und sozialen Ungleichheitserfahrungen und
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politischen Bedingungen andererseits. Die Transzendenzkraft dieser Alternativentwürfe ist für Personen, die geniusgerechtfertigte Zugehörigkeitskonstruktionen herausstellen, so groß, dass in ihren Augen die gesellschaftliche und staatliche Anerkennung der geltend gemachten Partikularität belanglos wird, denn solche Anerkennungsformen beruhen auf Kompromissen und beziehen sich auf Praxis. Die Radikalität der Alternativentwürfe verhindert gewissermaßen, dass die begnadete Ordnung und ihre Wertmaßstäbe in Organisationen und Auseinandersetzungen mit Dritten konkretisiert werden.
Wurzel-Prinzip Die Allgemeinwohlvorstellung ändert sich, wenn nicht Inspiration und Einzigartigkeit einer begnadeten Ordnung im Vordergrund stehen, sondern der Respekt einer Herkunft und die Bewahrung eines entsprechenden Kollektivs. In diesem Fall gestalten die Befragten Familienordnungen aus und rechtfertigen ihre Zugehörigkeitskonstruktionen mit dem Prinzip der Wurzeln. Sie stützen sich auf Regeln und Alters-, Geschlechter- und Genealogiehierarchien und setzen auf das Erlernen traditionsbewährter Lebensformen. In dieser Hinsicht artikulieren Wurzel-Kollektive ein normatives Interesse an der Erinnerung und Vermittlung von lebenspraktischen Regeln, Sitten, Traditionen und historischen Erfahrungen. Viele Berliner Palästinenser etwa definieren die Zugehörigkeit zur palästinensischen Gemeinschaft mit der Fähigkeit, die Vertreibungsgeschichte erzählen zu können. Das imaginierte Kollektiv geht maßgeblich aus dem Anliegen hervor, die Erinnerung daran zu sichern. In vergleichbarer Weise dazu heben Muslime der Untersuchungsgruppe ihr Interesse an der Einhaltung von islamischen Dogmen, zum Beispiel dem regelmäßigen Beten, dem Fasten während des Ramadans und Regeln islamischer Geschlechterordnung, hervor. Die Regeleinhaltung erwirkt und bewahrt in ihren Augen die Umma, die Gemeinschaft der Muslime. Die herausragende Rolle, die Erinnerung und Regeln einnehmen, zeigt neben anderem, dass wurzelgerechtfertigte Verbundenheit nicht mit einer solchen zu verwechseln ist, die ihre Rechtfertigung im Physis-Prinzip findet, welche weiter unten noch ausgeführt wird. Die imaginierte Verbundenheit bedarf nicht bloß der Naturalisierung der Dinge, sondern überdies der Aneignung von Wissen und Regeln. So erklärt zum Beispiel ein Student aus Hamburg, dass man den Islam lernen müsse, auch wenn man in einer muslimischen Familie aufwachsen würde. Mit fortgeschrittenem Lebensalter werde man zu einem immer besseren Mitglied der Gemeinschaft.
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Wurzelgerechtfertigte Erziehung und Identitätswahrung beziehen sich auf die Erfahrung von Diskontinuitäten und normativen Asymmetrien in der außergemeinschaftlichen Umgebung. Diese Erfahrungen bestimmen das, was die Familienordnung zu erhalten und zu schützen sucht. Den Zugehörigkeitskonstruktionen werden Umgestaltungen, Wandel und Umbrüchen entgegengehalten – sowohl in innergemeinschaftlicher Perspektive als auch im Hinblick auf Entwicklungen in der Gesellschaft und staatliche Entscheidungen. Sie markieren jedoch keinen Bruch mit dem Umfeld des imaginierten Kollektivs und artikulieren keine grundlegenden Alternativen. Personen, die wurzelgerechtfertigte Zugehörigkeit zum Ausdruck bringen, meinen, aufgrund ihrer Lebenspraxis und mithilfe ihres Engagements positiv auf die Gesamtgesellschaft einzuwirken oder, wie es ein Berliner Palästinenser formuliert hat, diese „gesund“ zu halten.
Solidaritätsprinzip Zugehörigkeitskonstruktionen, die das Ideal solidarischer Gemeinschaftsbeziehungen pointieren, zielen wie die Wurzel-Rechtfertigungen auf Kollektivbewahrung. Sie artikulieren jedoch keine Familienordnungen, sondern gestalten Brüderlichkeitsordnungen aus. Diese Brüderlichkeitsordnungen besitzen ihre Leitideen in Gleichheit und Pflicht. Sie zielen auf die Herstellung innergemeinschaftlicher Homogenität – einer Homogenität, die Anstrengung, Aufopferung und Leistung braucht, einen Kraftaufwand darstellt, wie ein Hamburger Muslim erklärt. Sie kommen in ausgeprägter Weise im Begriff „Gemeinde“ zum Ausdruck, den die Mehrheit der befragten Hamburger Muslime gebraucht, um ihre Zugehörigkeitsgruppe zu beschreiben und im gesellschaftspolitischen Leben der Bundesrepublik zu verorten. Die in Vereinen organisierten Berliner Palästinenser benutzen den Gemeindebegriff ebenfalls. Einige von ihnen haben sich zu einer Föderation mit dem Namen „palästinensische Gemeinde Berlin – Brandenburg e.V.“ zusammengeschlossen und versuchen so, ihrem Wunsch Ausdruck zu verleihen, am öffentlichen Leben der Bundeshauptstadt teilzunehmen. Der Gemeindebegriff bindet die Vorstellung von und die Forderung nach innerem Zusammenhalt an eine Ordnung, die die Brüderlichkeitsgefühle strukturiert, Pflichten setzt und Autorität legitimiert.
Leistungsprinzip Zugehörigkeitskonstruktionen, die mit dem Leistungsprinzip gerechtfertigt werden, stellen individuellen Einsatz, Verdienste und besondere Fähigkeiten heraus.
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Die Befragten gestalten in diesem Fall Konkurrenzordnungen aus. Gemeinschaftswissen, -qualitäten und -fertigkeiten werden als Kompetenzen formuliert und bewertet, was den entsprechenden Gemeinschaftserzählungen einen vorwärts drängenden und unruhigen, zuweilen nervösen Charakter gibt. Ähnlich wie solidaritätsgerechtfertigte machen leistungsgerechtfertigte Zugehörigkeitskonstruktionen Kraftaufwand und Produktivität zu zentralen Ordnungsmaßstäben. Im Gegensatz zu ersteren zielen Kraftaufwand und Produktivität jedoch nicht nur auf die Herstellung inneren Zusammenhalts, sondern stellen Kriterien dar, die zu gleichen Maßen inner- und außergemeinschaftliche Normanwendung bewerten. Anstrengung, Verdienst und Qualität besitzen daher eine universelle Stoßrichtung. Ein Berliner Palästinenser zum Beispiel betont in diesem Sinn, dass die Palästinenser im Hinblick auf Bildungsleistungen Vorreiter in der arabischen Welt seien. Erziehungsbeflissenheit und Bemühungen um generelles Wissen und Kenntnisse charakterisieren seinen Worten zufolge die Gemeinsamkeiten der Palästinenser und zeichnen sie demgemäß innerhalb der allgemeinen gesellschaftlichen Beziehungen aus. Die islamischen Bildungseinrichtungen und Initiativen, von denen die Hamburger Muslime berichten, haben ihren Gemeinschaftserzählungen zufolge das Ziel, Spiritualität und Intellektualität der Muslime den allgemeinen gesellschaftlichen Anforderungen entsprechend auszubilden. Leistungsgerechtfertigte Zugehörigkeitskonstruktionen thematisieren allgemeingesellschaftlich etablierte Hierarchien sozialer und kultureller Wertschätzungen. Sie rufen Vergleichskategorien auf, die außerhalb des imaginierten Kollektivs plausibel, relevant und anerkannt sind. Dergestalt streben sie danach, den subalternen Status zu widerlegen, dem die Befragten ihren Erfahrungen zufolge als Nachkommen ausländischer Arbeitnehmer zugeordnet werden. Das Ziel der Partikularitätsaffirmation ist eine Gleichbehandlung im Hinblick auf die Anwendung des Verdienst- und Leistungsprinzips, das für die allgemeine gesellschaftliche Verteilung von Gütern, Status und Hierarchiepositionen als gemeingültig betrachtet wird.
Respekt-Prinzip Zugehörigkeitskonstruktionen, die mit dem Prinzip ‚Respekt’ gerechtfertigt werden, binden Individualität und Kollektivität zusammen. Die befragten Muslime und Palästinenser lassen die Imagination ihrer Bindungen und Gemeinsamkeiten aus dieser Verflechtung hervorgehen. Insofern thematisieren sie Vielfalt, nicht Einheit. Sie gestalten Anerkennungsordnungen aus, mit denen die Freiheit von
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Einzelpersonen bemessen wird. Die Regeln dieser Ordnungen sind situationsgebunden und Gegenstand permanenter Überprüfung. Der Anerkennungsordnung liegt eine immer wieder von neuem durchzuführende Klärung von Bedeutung und Wert der Gemeinschaftsregeln, Traditionen, Erinnerung, Sitten etc. zugrunde. Insofern begründen persönliche Ideen und Bedürfnisse das Zusammengehörigkeitsgefühl, und nicht etwa die Praxis bestimmter Lebensregeln und Gedenktage. Die Betonung des Subjektiven in den respektgerechtfertigten Zugehörigkeitskonstruktionen macht die Bindung an das imaginierte Kollektiv in den Augen der Personen, die das Respekt-Prinzip aufrufen, zu einem Ausdruck persönlicher Freiheit und persönlichen Ethos.
Physis-Prinzip Das Physis-Prinzip lässt Zugehörigkeit aus natürlicher Beschaffenheit, biologischen Merkmalen, geographischen oder klimatischen Faktoren hervorgehen. Physisgerechtfertigte Zugehörigkeitskonstruktionen bringen infolgedessen Abstammungsordnungen zur Geltung, die ähnlich wie Familienordnungen Herkunft und Kollektivbewahrung zu zentralen In- und Exklusionskriterien machen. Im Unterschied zu den wurzelgerechtfertigten Zugehörigkeitskonstruktionen gestalten sie jedoch innergemeinschaftliche Wesensgleichheit aus. Diese Wesensgleichheit ist eine passive, von der Natur der Dinge auferlegte Gleichheit, die der verpflichtenden, immer wieder aufs neue herzustellenden Gleichheit in einer solidaritätsgerechtfertigten Brüderlichkeitsordnung entgegensteht. In der Binnenperspektive wird physisgerechtfertigte Zugehörigkeit nicht konstruiert, sie ist einfach da. Sie kommt ohne den Bezug auf eine Zugehörigkeitspraxis oder bestimmte Erfahrungen aus. Personen, die ihre Zugehörigkeit als naturgegeben verstehen, erdulden sowohl die inner- als auch die außergemeinschaftlichen Verhältnisse, Hierarchien und Ungleichheiten. In dieser Hinsicht unterscheiden sich physisgerechtfertigte Zugehörigkeitskonstruktionen grundlegend von den oben dargestellten Konstruktionen, durch die Personen eine Zugehörigkeit zu einer persönlichen Entscheidung machen und die sie als Auseinandersetzungen mit Ideen und Interessen herausstellen. II
Von Juden und Israel sprechen
Die Befragten versuchen, die Partikularität ihrer imaginierten Gemeinsamkeiten, Einverständnisse und Bindungen herauszustellen, wenn sie ihre Allgemeinwohlvorstellungen für inner- und außergemeinschaftliche Beziehungen und entspre-
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chende Wertmaßstäbe darlegen und beschreiben. Sie akzentuieren in ihren Zugehörigkeitskonstruktionen Alterität, die sie gegenüber etablierten und angewendeten Normen innerhalb von Gemeinschaftsorganisationen und bezüglich staatlicher Ordnung sowie gesellschaftlicher Beziehungen in der Bundesrepublik setzen. In diesem Zusammenhang vergleichen und differenzieren sie Dinge, andere Personen und Normen miteinander und kommen dabei unter Umständen auf Juden und Israel zu sprechen. Ein solches Sprechen nimmt je nach Rechtfertigungsprinzip der Zugehörigkeitskonstruktionen eine andere Form an und stellt Juden und Israel je nach Rechtfertigungsprinzip in einen anderen Bedeutungszusammenhang.
Genius-Prinzip Geniusgerechtfertigte Zugehörigkeitskonstruktionen etablieren eine absolute Differenz zu Gesellschaft und Staat in Deutschland. Die begnadete Ordnung bringt infolgedessen eine uneingeschränkte und bedingungslose Alterität hervor, die den geniusgerechtfertigten Zugehörigkeitskonstruktionen einen hermetischen Charakter gibt, Vergleiche mit anderen Gruppen in der Einwanderungsgesellschaft ausschließt und sich staatlicher Regelung zu entziehen versucht. In solchen Sinnzusammenhängen reden die Muslime nicht über Israel, sprechen jedoch über Juden – und zwar als außergemeinschaftliche Andere ohne weiteren Belang oder als differente Gläubige mit innergemeinschaftlicher Relevanz. Im ersten Fall, in dem Juden als außergemeinschaftliche Andere betrachtet werden, sind sie nicht weiter erwähnenswert. Die begnadete Ordnung wird als eine muslimische Ordnung gedacht, deren Vollkommenheit und Inspiration die außergemeinschaftliche Umwelt marginal werden lässt. Im zweiten Fall, in dem Juden eine innergemeinschaftliche Relevanz besitzen, liegt der Konzeption von Genialität ein umfassendes Verständnis religiösen Glaubens zugrunde. Folgendes Zitat gibt ein Beispiel dafür: „[D]ie Umma [die Gemeinschaft der Gläubigen, NT] besteht nicht nur aus Muslimen. Wenn man eine Gemeinschaft bildet, auch mit Christen oder Juden oder sonstigen Gruppierungen, dann ist das eine Gemeinschaft. Und wenn diese Gemeinschaft sich gegenseitig respektiert und [man] sich nicht gegenseitig einen Dolch in den Rücken […] steckt […], dann ist [das] für mich auch Umma.“ In den geniusgerechtfertigten Zugehörigkeitskonstruktionen der Berliner Palästinenser kann Israel einen Bezugspunkt in den Utopien darstellen, die die begnadete Ordnung zu beweisen versuchen. In diesem Fall vertreten die Befragten Gemeinschaftsvorstellungen, die dem politischen Modell ‚zwei Nationen, ein
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Staat’ entsprechen. Juden und Muslime stehen hier also weniger für bestimmte religiöse als vielmehr für nationale Glaubenseinstellungen, das heißt für unterschiedliche Nationalgemeinschaften, die im Interesse an staatlicher Regelung der gesellschaftlichen Beziehungen untereinander zu Partnern werden, denn, so die Formulierung eines Berliners: „Die Juden sind unsere Cousins, schon von der Religion her.“
Wurzel-Prinzip Wurzelgerechtfertigte Zugehörigkeitskonstruktionen werden in eine relationale Differenz zur außergemeinschaftlichen Umwelt gesetzt, und nicht in eine absolute, die – wie im Fall von geniusgerechtfertigten Zugehörigkeitskonstruktionen – unabhängig von Entwicklungen in Gesellschaft und Staat inspiriert wäre. Die Alterität bleibt also auf eine vermittelnde gesellschaftliche Praxis bezogen, etwa auf Verhandlungen mit Vertretern des öffentlichen Lebens. Dementsprechend reden die Hamburger Muslime, die wurzelgerechtfertigte Zugehörigkeitskonstruktionen zum Ausdruck bringen, über Juden, wenn sie zum Beispiel Initiativen des interreligiösen Dialogs beschreiben. Die Berliner Palästinenser thematisieren in ihren Wurzel-Rechtfertigungen Juden als Gruppe, die im Hinblick auf die Eigengruppe eine differente Herkunft, Erinnerung und divergierende Erziehungsinteressen besitzt. Die relationale Ausprägung der Alterität, die wurzelgerechtfertigte Zugehörigkeitskonstruktionen zum Ausdruck bringen, schließt das Bedürfnis mit ein, sich mit den Juden über die gegenseitigen Differenzen auszutauschen. Ein Berliner Palästinenser, der ein Praktikum in einem Berliner Stadtteilverein macht, erklärt in diesem Sinne: „[Ich möchte] ein Projekt mit jüdischen und palästinensischen Kindern machen, dass [s]ie sich […] verstehen und miteinander diskutieren. Das wäre schön, weil es ziemlich viele jugendliche Kinder [gibt], die beleidigen einfach so Juden. Das finde ich nicht okay. Also, man sollte die Juden auch respektieren, das ist auch eine Religion.“ An einer anderen Stelle seiner Gemeinschaftserzählung berichtet der junge Mann: „Wir hatten zwei jüdische Lehrer, also die hatten gar nichts gegen mich. Die haben mich auch gefragt: ‚Was bist du für eine Nationalität?’ Ich habe denen alles erzählt, wir haben uns unterhalten. Wir kamen eigentlich ziemlich gut klar.“ In Wurzel-Rechtfertigungen palästinensischer Zugehörigkeitskonstruktionen bestätigt die Beschreibung der Alterität von Juden die eigene Partikularität. Israel wiederum kommt dann zur Sprache, wenn die Befragten Erfahrungen von Diskontinuität und ungleicher Normanwendung herausstellen. Ein Palästinenser beschreibt zum Beispiel, dass auf internationalen Volkstanzwettbewerben israe-
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lische Tanzgruppen Tänze vorführen, die sie von den Palästinensern geklaut hätten. Ein anderer beklagt, dass in Berliner Schulen die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung nicht thematisiert werden dürfe, die Gründung Israels hingegen behandelt würde.
Solidaritätsprinzip Im Fall von Rechtfertigungen, die das Solidaritätsprinzip aufrufen, konturiert der postulierte Zusammenhalt des imaginierten Kollektivs die Differenz gegenüber der außergemeinschaftlichen Umgebung. Ein in die imaginierte Gemeinschaft hinein gerichteter Blick bestimmt die Differenz gegenüber Gesellschaft und Staat. Solidaritätsgerechtfertigte Zugehörigkeitskonstruktionen bewerten insofern außergemeinschaftliche Verhältnisse nach den Bedürfnissen und Maßstäben der Anforderungen, die das eingeklagte Brüderlichkeitsgefühl stellt. Juden kommen in solchen Sinnzusammenhängen als Mitglieder einer anderen Gemeinde zur Sprache: einer anderen konfessionellen Gruppe in der Bundesrepublik im Fall der befragten Muslime, einer anderen kulturellen Gruppe in der Stadt Berlin im Fall der befragten Palästinenser. Das Thema ‚Israel’ verschwindet aus den Gemeinschaftserzählungen. Eine besondere Bedeutung besitzen das Sprechen über Juden für die solidaritätsgerechtfertigten Zugehörigkeitskonstruktionen der befragten Muslime. Sie ziehen die jüdische Gemeinde als eine Vergleichsgröße heran, die ihnen erlaubt, religionspolitische Gleichberechtigung innerhalb Deutschlands geltend zu machen und zu fordern. In diesem Rahmen machen die Muslime die Juden zu Partnern, etwa bei der Schächtfrage oder auch der Diskussion über religiöse Kopfbedeckung – zu Partnern, die mitunter für ihre mangelnde Solidarität kritisiert werden.
Leistungsprinzip In leistungsgerechtfertigten Zugehörigkeitskonstruktionen erwirkt die Affirmation von Verdiensten und Fähigkeiten eine relationale Alterität. Diese gibt den leistungsgerechtfertigten Zugehörigkeitskonstruktionen einen partizipativen Charakter. Die Befragten wollen in diesem Fall keine Alternativen zur Geltung bringen, die mit etablierten Ordnungen in der Einwanderungsgesellschaft in Deutschland brechen. Die muslimische Alterität „ermutigt“ den Worten einer Hamburger Muslimin zufolge zum Mitmachen in der Gesellschaft. Im Willen zum Mitmachen liegt jedoch ein Einspruch gegen Ungerechtigkeiten, die die Befragten mit leistungsgerechtfertigten Zugehörigkeitskonstruktionen herauszu-
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stellen versuchen. Im Rahmen der geltend gemachten Konkurrenzordnung können Juden oder Israel sowohl von den Muslimen als auch den Palästinensern zur Sprache gebracht werden. Sie stellen in diesem Fall Vergleichsgrößen neben anderen für die Bemessung von Produktivität, Verdiensten und Anstrengungen dar und dienen dazu, die negativen Wertschätzungen zu kritisieren, die in der Bundesrepublik der muslimischen und palästinensischen Kollektivimagination entgegengebracht werden.
Respekt-Prinzip In respektgerechtfertigten Zugehörigkeitskonstruktionen verschwimmen die Grenzen zwischen Innen und Außen. Im Vordergrund steht die Achtung individueller Partikularität, die die Unterscheidung zwischen Innen und Außen überragt. Alterität geht in den Rechtfertigungszusammenhängen, die das RespektPrinzip begründet, aus einem grundsätzlichen Zurückweisen von Vereinheitlichung hervor. Die Muslime und Palästinenser, die respektgerechtfertigte Zugehörigkeitskonstruktionen zum Ausdruck bringen, betrachten infolgedessen Juden als Andersgläubige und Israelis als andere Staatsbürger, denen im Sinne der Anerkennungsordnung Respekt gebührt, die aber gleichzeitig und zu gleichen Maßen dazu aufgerufen sind, die Regeln der Anerkennungsordnung zu achten. In diesem anerkennenden und fordernden Respekt, der in solchen Zugehörigkeitskonstruktionen deutlich betont wird, liegt eine Forderung nach gleicher Anerkennung für die eigene, die muslimische oder palästinensische, Partikularität. Die im Folgenden paraphrasierte Kritik eines Berliner Palästinensers an der bundesdeutschen Erinnerungskultur führt dies implizit vor Augen: Der Befragte beobachtet bei deutschen Politikern, Lehrern und in den Medien einen Anspruch auf die Definitionsmacht über das, was die richtige und gute Erinnerung ist. Die Deutschen sind laut seiner Formulierung „immer die Oberlehrer“, wenn es um die Geschichte der Shoah und den Antisemitismus gehe. „Und das nervt“, denn dieses Oberlehrerverhalten beruhe auf einer Verschiebung der Verantwortung auf Palästinenser, Araber und Muslime, was die Glaubwürdigkeit des Erinnerungsethos an sich in Frage stelle.
Physis-Prinzip Physisgerechtfertigte Zugehörigkeitskonstruktionen machen Alterität zu etwas Naturgegebenen und ordnen den Differenzen im Hinblick auf das außergemeinschaftliche Umfeld einen absoluten Wesenszug zu. In derselben Weise, wie in
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der Binnenperspektive Zugehörigkeit nicht konstruiert werden kann oder muss, ist auch Alterität schlechterdings da. Sie ist infolgedessen passiv und existiert den Erfahrungen mit Gesellschaft und subjektiven Bedürfnissen zum Trotz. Die Abstammungsordnung entzieht, wie die begnadete Ordnung, die Alterität dem individuellen Einflussvermögen. Im Unterschied zu jener macht sie jedoch keine geniale Schaffenskraft geltend. Passivität, Verschlossenheit und fehlende Inspiration lassen vielmehr die physisgerechtfertigte Alterität wie eine still gestellte Bewegung oder arretierte Erregung erscheinen. Die befragten Hamburger Muslime lehnen die Rechtfertigung mit dem PhysisPrinzip für ihre Zugehörigkeitskonstruktionen weitestgehend ab. Sie verstehen die Differenzen zwischen der Umma und anderen Gemeinschaften nicht als naturgegeben, sondern als Ausdruck von religiöser Lebenspraxis, also von Handlung. Unter den befragten Berliner Palästinensern finden sich hingegen mehrere Personen, die ihre eigene Zugehörigkeit mit der Physis rechtfertigen und ihre Alterität gegenüber Dritten als Ausdruck ethnischer Unterschiede beschreiben. Einige unter ihnen transformieren dabei den Islam und die arabische Sprachkultur in quasi genetische Vektoren exklusiver Volkszugehörigkeit. Dies hat zur Konsequenz, dass sie den Nahost-Konflikt als einen Kampf zwischen den „Juden“ und „arabischen Muslimen“ fassen. Die Antagonisten sind kulturräumlich verstandene Völker, die mithilfe essentialisierender Kriterien imaginiert werden. Ausgehend von einer solchen, kulturräumlich begründeten Volkszugehörigkeitskonzeption sind alle diejenigen, die diese Konzeption nicht teilen, Juden. In dieser Hinsicht ist zum Beispiel der Direktor der Berliner Schule, auf die eine der Befragten geht, „ein Jude,“ denn er habe ihr – so die Erklärung – aufgrund des islamischen Kopftuchs, das sie trägt, verboten, am Sportunterricht teilzunehmen. Ihre Empörung über dieses Verbot erläuternd, fügt sie hinzu: „Und jetzt habe ich noch einen Judenlehrer in Geschichte und Erdkunde. Der erzählt auch über die Juden, dass die Juden Recht haben […], Palästina zu zerstören. Und dass das ihnen gehört.“ Ein solches verschwörungstheoretisches und antisemitisches Sprechen von Juden geht dem empirischen Material zufolge aus Empörungsgefühlen in Bezug auf die Disqualifizierung des eigenen, palästinensischen Kollektivs in der Öffentlichkeit oder das Schweigen über Palästina im Berliner Schulunterricht hervor. Es ist der Ausdruck dafür, in der eigenen Zugehörigkeitskonstruktion und der davon abgeleiteten Alterität gefangen und dadurch von der außergemeinschaftlichen Umwelt ausgeschlossen zu sein. Die Befragten verfestigen insofern mit den physisgerechtfertigten Beschreibungen ihrer eigenen Partikularität die Stigmatisierung und Diskriminierung in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die sie erfahren.
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Alle untersuchten Zugehörigkeitskonstruktionen spiegeln den Umgang der Befragten mit erfahrenen Ungleichheiten und gesellschaftlichen sowie politischen Hierarchien wider. Dabei ist ein verschwörungstheoretisches und antisemitisches Sprechen von Juden und Israel keine zwangsläufige Dimension der Gemeinschaftsimaginationen, wie die skizzierten Alteritätsausprägungen zeigen, die die Zugehörigkeitskonstruktionen hervorbringen. Lediglich Befragte, die physisgerechtfertigte Zugehörigkeitskonstruktionen herausstellen, bringen auf diese Art und Weise Juden und Israel zur Sprache. Die übrigen reden über Juden und Israel in Bezug auf Institutionen und Normen, die die religionspolitischen Verhältnisse in Deutschland, etwa die Garantie der Religionsfreiheit und die staatliche Anerkennung sowie öffentliche Achtung von Religionsgemeinschaften, Aufenthaltsbestimmungen und Staatsangehörigkeitsrecht in der Bundesrepublik, deren Geschichte, die darin zentrale Bedeutung des Nationalsozialismus sowie die Vernichtung der Juden betreffen. Dabei thematisieren sie Stigmatisierungen, etwa durch die öffentliche Debatte über und staatliche Maßnahmen zur Sicherheit vor Terror im Namen des Islam, und Diskriminierungen, zum Beispiel im Hinblick auf Rechtsansprüche und Zugangsbedingungen zu Arbeitsplätzen und Bildungsabschlüssen. Das Sprechen von Juden und Israel bringt in diesem Zusammenhang zum Ausdruck, wie die befragten Muslime und Palästinenser mit bundesrepublikanischen und islamischen beziehungsweise palästinensischen Institutionen und Normen arbeiten, um ihre jeweilige Partikularität zu rechtfertigen und gleichzeitig Ungleichheiten und ungerechte Verteilungen herauszustellen. Man mag ihre Positionen und Haltungen in diesem Zusammenhang ablehnen oder teilen, jedoch kann man sie nicht per se als Ausdrucksformen einer immigrations- oder muslimspezifischen Konstellation des Antisemitismus delegitimieren und dergestalt die normative Tätigkeit der Muslime und Palästinenser in der Bundesrepublik insgesamt aus der Auseinandersetzung über die normativen Standards der Regelung von Gesellschaftsbeziehungen ausschließen. Ihr Sprechen von Juden und Israel und ihre Zugehörigkeitskonstruktionen insgesamt bauen auf Rechtsansprüchen, institutionalisierten Ordnungsmustern und Ideen auf, die das gesellschaftliche Leben in der Bundesrepublik prägen. In manchen Fällen rufen sie solche überdies als Garanten für die geforderte Anerkennung ihrer Alterität auf. Insofern ist es meines Erachtens ein Fehler, Zugehörigkeitskonstruktionen zum Islam oder zum palästinensischen Nationalismus ausschließlich als Abgrenzungsversuche von den allgemeinen gesellschaftlichen Beziehungen in Deutschland und den politischen Normen, die diese Beziehungen regeln, zu verstehen. Solche Zugehörigkeitskonstruktionen zeigen vielmehr, wie in der Affirmation einer Alterität etablierte Institutionen und Normen bewertet und beurteilt werden und dadurch letztendlich eine kritische Bestätigung erfahren.
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Literatur Boltanski, Luc/Thévenot, Laurent (2007): Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft [1991]. Hamburg: Hamburger Edition. Dubet, François (2008): Ungerechtigkeiten. Zum subjektiven Ungerechtigkeitsempfinden am Arbeitsplatz [2006]. Hamburg: Hamburger Edition. Honneth, Axel (2008): Verflüssigungen des Sozialen. Zur Gesellschaftstheorie von Luc Boltanski und Laurent Thévenot. In: Westend. Neue Zeitschrift für Sozialforschung 5/2, S. 84-103. Schiffauer, Werner (2008): Parallelgesellschaften. Wie viel Wertekonsens braucht unsere Gesellschaft? Für eine kluge Politik der Differenz. Bielefeld: transcript Verlag. Tietze, Nikola (2001): Islamische Identitäten. Formen muslimischer Religiosität junger Männer in Deutschland und Frankreich. Hamburg: Hamburger Edition. Tietze, Nikola (2006): Gemeinschaftsnarrationen in der Einwanderungsgesellschaft. Eine Fallstudie über Palästinenser in Berlin, in: Fritz-Bauer Institut, Jugendbegegnungsstätte Anne Frank (Hg.), Neue Judenfeindschaft? Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus. Jahrbuch 2006 zur Geschichte und Wirkung des Holocaust, Frankfurt a.M.: Campus, 2006, S. 80-102. Tietze, Nikola (2008): Zinedine Zidane. Dribbelkunst sub- und transnationaler Zugehörigkeit gegen nationalstaatliche Einheitsverteidigung. In: Gabriele Klein/Michael Meuser (Hg.): Ernste Spiele. Zur politischen Soziologie des Fußballs. Bielefeld: transcript Verlag, S. 59-85.
Teil II Der Antisemitismus der Gegenwart: Empirische Forschung und sozialpädagogische Praxis
Formen pädagogischer Intervention im Horizont wahrgenommener Antisemitismen. Perspektiven für die Aus- und Weiterbildung von Jugendpädagoginnen1 Heike Radvan
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Ausgangssituation und methodisches Vorgehen
Der vorliegende Artikel beschäftigt sich mit der Frage, wie in der offenen Jugendarbeit mit gegenwärtigen Erscheinungsformen von Antisemitismus umgegangen wird.2 Das Forschungsinteresse selbst geht auf Praxiserfahrungen zurück: Praktikerinnen der Bildungs- und Jugendarbeit berichteten in der Amadeu Antonio Stiftung von antisemitisch konnotierten Äußerungen Jugendlicher und zeigten sich hinsichtlich des pädagogischen Umgangs mit diesem sozialen Phänomen verunsichert. Diese Wahrnehmung wurde von gesellschaftlichen Entwicklungen flankiert: Parallel zur Zunahme antisemitischer Einstellungen in den Jahren 2002/033 stellte sich die Frage, wie Pädagogen im Rahmen der Aus- und Weiter1
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Der Einfachheit halber wird die weibliche und männliche Form in Bezug auf Personen oder Gruppen abwechselnd verwendet, wenn das Geschlecht nicht eindeutig feststeht. Dieser Umgang bietet sich an, da keine geschlechtsspezifischen Aussagen getroffen bzw. Vergleiche vorgenommen werden, auch vereinfacht sich so die Syntax (vgl. Meuser/Nagel 2003: 483). Des Weiteren wird das (Kunst-)Wort Jugendpädagoge verwendet: Gemeint sind Fachkräfte, die in der offenen Jugendarbeit pädagogisch tätig sind. Dies schließt sowohl Personen ein, die über einen pädagogischen Berufsabschluss verfügen, als auch diejenigen, die in der Praxis ohne fachspezifische Ausbildung tätig sind. Der Beitrag basiert auf Ergebnissen eines Dissertationsprojektes, das den Arbeitstitel „Beobachtung und Intervention im Horizont pädagogischen Handelns. Eine empirische Studie zum Umgang mit Antisemitismus in Einrichtungen der offenen Jugendarbeit“ trägt und an der Freien Universität Berlin im Fachbereich Erziehungswissenschaften angesiedelt ist. Betreut wird die Arbeit von Prof. Dr. Arnd-Michael Nohl und Prof. Dr. Christoph Wulf. Die Studie wurde durch das Stipendienprogramm der Alice-Salomon-Fachhochschule Berlin im Zeitraum 2004 bis 2007 gefördert. Ergebnisse der Einstellungsforschung dokumentieren für 2002/2003 eine Zunahme antisemitischer Einstellungen. Angesichts eines langfristigen Trends, der seit 1946 auf eine langsame, aber kontinuierliche Abnahme antisemitischer Vorurteile verweist (vgl. Bergmann 2004: 26), gelten diesbezügliche Schwankungen als anlassbezogen und werden oftmals als Periodeneffekt klassifiziert (vgl. Bergmann 2008). Bergmann argumentiert auch, dass eine ablehnende Haltung, was die Übernahme von Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen betrifft, die sich in
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bildung unterstützt werden können, um Antisemitismus als Problematik des alltäglichen professionellen Handelns zu reflektieren und eigene Handlungsmöglichkeiten zu entwickeln und zu erproben. In diesem Kontext entstand auch die empirische Untersuchung, die diesem Beitrag zugrunde liegt. Aus praxeologischer Perspektive wird das implizite, handlungspraktische Wissen4 von Jugendpädagoginnen, die im Berufsalltag mit antisemitischen Äußerungen, Einstellungen oder Handlungen konfrontiert sind, untersucht. Der Fokus richtet sich auf die Perspektiven der pädagogisch Tätigen, auf ihre Beschreibung und Deutung der beruflichen Handlungspraxis. Die zentralen Forschungsfragen lauten: Wie nehmen die Interviewten die Problematik wahr, wie beschreiben sie ihr Handeln in Situationen, in denen sie auf Antisemitismus reagieren? In den Blick geraten die Beobachtungshaltung(en) und Interventionsform(en) der Jugendpädagoginnen, die Handlungsspielräume gestalten, spezifische Optionen eröffnen oder verschließen. Mithilfe leitfadengestützter Interviews wurden 21 Sozialpädagogen befragt, die in Berliner5 Einrichtungen der offenen Jugendarbeit arbeiten und im direkten Kontakt mit den Jugendlichen stehen.
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spezifischen Items abzeichnet, perspektivisch dazu führen könne, dass Antisemitismen zunehmend offen geäußert werden und es im öffentlichen Diskurs zu einer Verringerung antisemitischer Vorurteilsrepression komme könne (vgl. ebd.). In Anlehnung an Karl Mannheim wird in der praxeologischen Wissenssoziologie eine Unterscheidung zwischen kommunikativem und konjunktivem Wissen vorgenommen (vgl. hier und im Folgenden Bohnsack 2007: 187–205). Konjunktives, praktisches Wissen entsteht auf Grundlage gleichförmigen handlungspraktischen Erlebens innerhalb eines Milieus. Die Angehörigen eines Milieus verstehen sich auf der Basis dieser gleichartigen, aber nicht unbedingt gemeinsamen Erlebnisse unmittelbar, sie bilden einen gemeinsamen, so genannten konjunktiven Erfahrungsraum (vgl. Mannheim 1980: 217–225). Dabei sind Milieus keine einheitlichen Gebilde, in ihnen überlagern sich immer mehrere Erfahrungsdimensionen, wie geschlechts-, migrations-, generations-, bildungs-, schichtspezifische. Ein Außenstehender kann Wissen über ein Milieu bzw. eine ihm unbekannte Gruppe nur erwerben, indem er in eine interpretative bzw. kommunikative Beziehung zu einer Person tritt, die der entsprechenden Gruppe angehört: Diese Form des erworbenen Wissens wird als kommunikatives oder theoretisches Wissen bezeichnet. Während Letzteres reflexiv zugänglich ist und sich auf dieser Ebene sprachlich vermitteln lässt, ist es nicht unmittelbar möglich, das konjunktive Wissen, das im Verlauf eines Sozialisationsprozesses quasi natürlich, in ›lebendigen Zusammenhängen‹ erworben wurde, zu explizieren. Aufgrund dessen wird das konjunktive auch als implizites Wissen bezeichnet. Die praxeologische Wissenssoziologie ist auf die Rekonstruktion des Herstellungsprozesses (modus operandi) von Sinnkonstruktionen gerichtet. Eine genetische, auf die Funktion gestellte, Analyseeinstellung korrespondiert mit einem vorübergehenden Einklammern des Bedeutungsgehaltes von Texten. Es geht nicht darum, was wahr oder falsch sei, im Vordergrund steht, wie Sinn produziert wird. Die Erhebung wurde aus Gründen der Vergleichbarkeit auf die Stadt Berlin begrenzt, wobei die Übertragbarkeit der Ergebnisse uneingeschränkt bleibt, sie stehen nicht notwendigerweise im Zusammenhang mit den Bedingungen in dieser Großstadt. Abzugrenzen sind sie jedoch aufgrund der unterschiedlichen Strukturbedingungen von Jugendarbeitsangeboten im ländlichen
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Die öffentliche Kommunikation zum Thema Antisemitismus ist moralisch strukturiert. In den Nachkriegsgesellschaften DDR und BRD wurden antisemitische Äußerungen tabuisiert, Bergmann/Erb (1986) sprechen diesbezüglich von einer Kommunikationslatenz. Die im Zuge der Untersuchung interviewten Jugendpädagoginnen standen auf besondere Weise vor dem Problem, sich entsprechend der Kriterien sozialer Erwünschtheit zu äußern. Der Strukturaufbau der Interviews sollte dieser Schwierigkeit etwas entgegensetzen: So zielte die Eingangsfrage nicht auf das Thema Antisemitismus, sondern vielmehr darauf, Erzählungen über die alltägliche Arbeit in der jeweiligen Einrichtung zu evozieren. Die Interviewten erhielten Raum für eigene Relevanzsetzungen, erst im zweiten Teil der Erhebung wurde das Thema Antisemitismus Gegenstand des Interviews. Die dokumentarische Methode der Interpretation (für anwendungsorientierte Darstellungen vgl. u. a. Bohnsack 2007; Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl (Hg.) 2001; Nohl 2006a) lag der Auswertung der empirischen Daten zugrunde, da sie die impliziten, habitualisierten Wissensbestände der Interviewten in den Blick zu nehmen und zu rekonstruieren ermöglicht. Mit der Interpretation wurden die Interviews nicht nur daraufhin rekonstruiert, welche Themen in ihnen angesprochen wurden, sondern auch analysiert, wie, d.h. in welchem (Orientierungs-)Rahmen die Themen von den Jugendpädagoginnen bearbeitet wurden. Bei dieser Auswertung kommt dem Vergleich zwischen den Interviews eine besondere Bedeutung zu, da nur so solche typischen Formen der Beobachtung und Intervention herausgearbeitet werden können, die quer zu den einzelnen Fällen liegen und über verschiedene Fälle hinweg zu finden sind. Die weiter unten rekonstruierten Erfahrungen und Orientierungen beruhen also auf den entsprechenden Darstellungen mehrerer interviewter Personen. Die Studie basiert auf einer Begriffsdefinition, die Antisemitismus als Phänomen beschreibt, welches unabhängig vom Dasein und Verhalten von Juden existiert und funktioniert, kurz: „Antisemitismus ist das Gerücht über die Juden“ (Adorno 2001: 200). Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein abstraktes Phänomen, sondern um eine soziale Ausgrenzungs- und Diskriminierungspraxis, die sich gegen konkrete Personen richtet. Historisch und ideologiekritisch betrachtet, dienen antisemitische Aussagen und Deutungen dazu, komplexe soziale Probleme scheinbar verständlich und mit einer Schuldzuweisung an Juden zu erklären. Seit dem 19. Jahrhundert dient Antisemitismus als Welterklärungsformel „für die nicht verstandenen Entwicklungstendenzen der bürgerlichen Gesellschaft“ (Rürup 1975: 91). Die Rekonstruktion des empirischen Materials zielt darauf, Strukturen des Sprachgebrauchs der Interviewten zu erkennen und herauszuarbeiten, Raum. Eine Generalisierung der Untersuchungsergebnisse ist in diesem Fall nicht unmittelbar gegeben.
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wie im Sprechen Sinn hergestellt und vermittelt wird. Als sensibilisierendes Vorwissen wurden u. a. die Untersuchungen von Holz zur antisemitischen Semantik (vgl. Holz 2001) herangezogen. Er versteht „die antisemitische Weltanschauung als in sich strukturierte Kommunikationen, die zwar in Kontexten situiert sind, deren Struktur aber in den Texten selbst und nicht in den Kontexten (re)produziert wird“ (Holz 2001: 23). Wurden im vorangehenden Passus Anlässe sowie theoretische Ausgangspunkte der Untersuchung thematisiert, soll es im Folgenden um die empirische Studie und ihre Ergebnisse gehen (2), um abschließend zum Thema Praxisrelevanz zurückzukehren (3). 2
Beobachtungs- und Interventionsformen der Professionellen: zentrale Untersuchungsergebnisse
Auf Basis der Identifizierung typischer Beobachtungs- und Interventionsformen, die sich dem Prinzip des Kontrastierens verdanken, eröffnet die Arbeit einen Einblick in die Handlungspraxis von Jugendpädagogen. Es wird rekonstruiert, auf welch unterschiedliche Art und Weise die Interviewten (berufsspezifisch und insbesondere im Kontext Antisemitismus) beobachten – anders ausgedrückt: die soziale Wirklichkeit wahrnehmen und gestalten – und mit ihrem Gegenüber, den Jugendlichen, interagieren. In typisierender Absicht kann zwischen einer stereotypisierenden und einer immanenten Beobachtungs- und Interventionsform sowie dem Typus einer rekonstruktiven Beobachtungshaltung, die mit Interventionen verbunden ist, die als reflexiv und praxeologisch bezeichnet werden können, unterschieden werden. Die Art und Weise, in der die Jugendpädagoginnen beobachten, ist tief in ihre Handlungspraxis eingeschrieben bzw. habitualisiert. In ihren Interventionen greifen sie auf verschiedene Methoden und Strategien zurück, wobei der Beobachtungsform die Funktion des impliziten, handlungsleitenden Wissens zukommt. Während bestimmte Beobachtungsweisen Handlungsspielräume eröffnen, führen andere Formen dazu, Handlungsmuster einzuspuren und zu verfestigen, wobei sich die Handlungsoptionen verringern. Diese beschreibbaren Wahrnehmungsstrukturen und -unterschiede werden nun näher erläutert. Eine stereotypisierende Beobachtung zeigt sich in einem generalisierenden Aussageduktus; Pädagoginnen reden hier von der lebensweltlichen (Erfahrungs-) Ebene abgehoben, sie verwenden abstrakte, theoretisierende Argumentationen. Die Darstellung bleibt losgelöst von den kommunikativen und konjunktiven Sozialbeziehungen (vgl. Anm. 4) der Jugendlichen. Dies zeigt sich u. a. in einem Reden über die Jugendlichen, das Wertungen und stereotype Zuschreibungen
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enthält. So stellt eine Pädagogin die Besucher der Einrichtung anhand folgender Aussage vor: „det sind allet ausländische Jugendliche [ ], die sind jetzt, ach würd‘ ick sagen, alle so Balkan“. Pädagogen beziehen sich auf einzelne, ausgewählte Zugehörigkeitsdimensionen, die essentialisch verwendet werden. Generalisierende Formulierungen werden mit mehrdimensionalen, kausalgenetischen – im Besonderen ethnisierenden – Zuschreibungen verbunden, die Werturteile implizieren. Diese Strukturmerkmale, die einer spezifischen Form des pädagogischen Blicks zugrunde liegen, verschränken sich mit der Wahrnehmung von Antisemitismen: Im empirischen Material zeigt sich eine Sprachverwendung, die strukturelle Ähnlichkeiten zu Texten, die als antisemitisch bezeichnet werden, erkennen lassen. Behauptet wird hier nicht, dass es sich um ausgearbeitete antisemitische Semantiken handelt, deren Strukturen Holz anhand historischer Texte ausarbeitet (vgl. Holz 2001) – vielmehr werden in alltagssprachlichen Kontexten Fragmente verwendet. Dass dies unabhängig von bzw. trotz einer antiantisemitischen Absicht geschieht, steht im Zusammenhang mit der stereotypisierenden Beobachtungshaltung: Die Darstellung wird hier in Richtung Abstraktion, Generalisierung, Ethnisierung, Dichotomisierung eingespurt. In den theoretischen Erklärungen der Interviewten finden sich dichotome Gruppenkonstruktionen, die Anschlüsse an verschwörungstheoretische Perspektiven eröffnen. Unterschieden wird zwischen ‚guten Juden‘/‚schlechten Juden‘, einfachen Menschen/mächtigen jüdischen oder staatlichen Institutionen, zwischen ‚Deutschen‘/ ‚Juden‘ Diese Differenzsetzungen gehen mit Zuschreibungen von Raffgier, Rachsucht und Macht einher; verschwörungstheoretische Unterstellungen, Personifizierungen und die Forderung nach einem Schlussstrich unter die Diskussion nationalsozialistischer Täterschaft kennzeichnen die stereotypen Darstellungen. Auch der Versuch einer ökonomischen Erklärung für historischen und gegenwärtigen Antisemitismus birgt antisemitisch konnotierte Zuschreibungen (u.a. „jüdische Lobby in USA“, jüdische Kapitalisten/Arbeitgeber versus einfache Menschen/Arbeitnehmerinnen). Ein komplementäres Selbstbild – Holz arbeitet den Zusammenhang zwischen antijüdischem Fremd- und nationalem Selbstbild heraus (vgl. ders. 2001: 237–247) – lässt sich rekonstruieren: Das Selbstbild als ›Deutscher‹ wird vor dem Hintergrund einer (implizit) positiv beurteilten Wir-Gruppen-Konstruktion transparent. Die stereotype Wahrnehmungsdisposition verschränkt sich mit einer instruierenden pädagogischen Interventionshaltung und einer hierarchischen Vorstellung bezüglich der pädagogischen Beziehung. Im Vordergrund steht der Rekurs auf das (eigene) theoretische Wissen, das an die Jugendlichen im Sinne von richtigen Antworten kommunikativ bzw. strategisch (zur Differenzierung kommunikatives/strategisches Handeln vgl. Habermas 1981, 1988) vermittelt wird. Entsprechend der rekonstruierten Beobachtungsform kommt es hier zur Repro-
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duktion antisemitischer Bilder und Mythen. So schließt die folgende Aussage, die im Kontext einer Argumentation über eine Instrumentalisierung der Erinnerung an den Holocaust durch Überlebende steht, Figuren des sekundären Antisemitismus6 ein: „det muss endlich ’ne jesunde, ’n gesunder Umgang und ne Öffentlichkeit hin, um eben nich’ die Masse der Juden zu verunglimpfen, sondern sagen, es ist, weeß ich jetzt, denk’ an Bloomberg, es ist Bloomberg und nich’ die Juden, es is’ der Konzern, der is’ et, weeßte oder es is’ die jüdische Gemeinde, die uns hier ausbluten lassen will“.
Der Versuch des Differenzierens („wir“ vs. „Juden“) verbleibt auf der Ebene von Gruppenkonstruktionen. Unter Verwendung nationalsozialistischer Begriffe werden „der jüdischen Gemeinde“ und „dem Konzern“ unlautere Interessen im Kontext von Entschädigungszahlungen unterstellt. In Abgrenzung zu dieser Typik konnte eine immanente7 Beobachtungs- und Interventionsform rekonstruiert werden: Die Interviewten nehmen die kommunikativen Äußerungen des Gegenübers in den Blick. Im Vergleich zur stereotypisierenden Beobachtung verbleibt die Darstellung also nicht vollständig losgelöst vom Gegenüber. Jugendpädagoginnen beziehen sich auf die Jugendlichen, indem der Sinngehalt des Gesagten bzw. das wörtlich Vermittelte rekapituliert wird. Hier zeigt sich eine Wahrnehmungsdisposition, die Anklänge an das in der ethnologischen Forschung beschriebene Phänomen des going native8 findet: Päda6
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Der Begriff sekundärer Antisemitismus beschreibt eine Form des Antisemitismus, die sich nach dem Ende der nationalsozialistischen Judenvernichtung – ›wegen Auschwitz‹ – herausbildete. Er rekurriert auf den Versuch, die für die Tätergesellschaft belastenden Folgen den Opfern anzulasten (vgl. Rommelspacher 1995: 45ff.). Eine Bedingung des sekundären Antisemitismus liegt in der mangelnden Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus innerhalb der deutschen Tätergesellschaft begründet. Mit der Bezeichnung ›immanent‹ lässt sich an ein Begriffsverständnis Karl Mannheims anknüpfen, das dieser in seiner Auseinandersetzung mit der geisteswissenschaftlichen Methodenlehre entwickelte. Er bezeichnet ein weit verbreitetes Vorgehen wissenschaftlichen Denkens als immanent, das „eine jede historisch-soziologische oder sonstwie ›genetische‹ Fragestellung aus[schließt] und […] durch ein ausschließliches Sichversenken in die Strukturprobleme des vorgefundenen wissenschaftlichen Denkens methodologische Einsichten gewinnen [will]“ (Mannheim 1980: 161). Mannheims Begriffsverständnis lässt sich durchaus auf das pädagogische Handeln anwenden. In pädagogischen Situationen ist aus praxeologischer Perspektive von Bedeutung, in welcher Form konjunktive und kommunikative Sozialbeziehungen der Jugendlichen in den Blick geraten. Eine ›immanente Beobachtungsform‹ zeichnet sich primär durch einen Bezug auf das kommunikative Wissen aus, konjunktive Wissensbestände geraten mit dieser Wahrnehmungsdisposition aus dem Blick. Pädagoginnen beziehen sich auf verschiedene Weise auf kommunikative Äußerungen der Jugendlichen, so lässt sich zwischen einem ›Rekurs‹ auf kommunikative Äußerungen und einem ›Versenken in den Sinngehalt‹ des Gesagten differenzieren. Im Artikel steht die letztgenannte Wahrnehmungsdisposition zur Debatte. Im empirischen Material dokumentiert sich der Verlust eines fremden Blicks in sozialen Situationen, die von Vertrautheit und dem Wunsch nach Harmonie geprägt sind. In der ethnologi-
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gogen bauen eine verständnisorientierte Nähe zum Gegenüber auf, wobei die wahrgenommenen Äußerungen nicht nur sinnverstehend nachvollzogen werden. Vielmehr bemühen sich die pädagogischen Akteure, die betreffenden Äußerungen auch in den eigenen Sprachgebrauch zu integrieren. So stellt eine Pädagogin die Jugendlichen, mit denen sie arbeitet, im Interview mit folgender Aussage vor: „wir haben Kurden auch einige Kurden so türkische, det hör’n se ja nich‘ gern aber von der türkischen Seite und [ ]na aber wie gesagt allet Kurden ja ick möchte det betonen, det is ihnen sehr wichtig“. In der Aussage dokumentiert sich eine Wahrnehmung und Anerkennung der Selbstbezeichnung der Jugendlichen durch die Pädagogin. Problematisch wird dieser Umgang jedoch, wenn die Bezeichnungen unkritisch übernommen werden, sie mutieren auf diesem Wege zu ethnisierenden Zuschreibungen. Es kommt zu einer totalen Identifizierung9, wobei vielfältige Erfahrungshintergründe der Jugendlichen selbst und damit verbundene Handlungsoptionen ausgeklammert werden. Im Kontext des Themas Antisemitismus kommt es im Zusammenhang dieser als immanent bezeichneten Beobachtungsform zu kommunikativen Interventionen, in deren Verlauf stereotypen Aussagen selten sinnvoll widersprochen wird bzw. widersprochen werden kann. So reagiert eine Pädagogin auf die Aussage, dass „Israelis äh Juden kleine Kinder umbringen“, mit der Formulierung „guck´ mal und bringt doch nicht jeder“. Die unvollständige Äußerung scheint sich auf den Sinngehalt der Aussage zu beziehen und könnte, sinnvoll zu Ende geführt, lauten: ‚und bringt doch nicht jeder Israeli äh Jude kleine Kinder um‘. Im Zuge eines verständnisorientierten Zugangs und auf der Basis von Differenzkonstruktionen zwischen ‚guten‘ und ‚schlechten‘ Juden erfahren stereotype Vorstellungen – in diesem Falle das
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schen Forschung wird dieses Phänomen auch als ‚going native‘ bezeichnet. Von traditionellen ethnografischen Ansätzen, in denen sich Forschende einem bislang unbekannten Kulturfeld existenziell nähern, unterscheidet Hitzler das Vorgehen des soziologischen Ethnografen. Analytische Distanz und ein methodisch kontrolliertes Fremdverstehen zielen darauf ab, im modernen Alltag einen fremden Blick herzustellen und zu etablieren (vgl. Hitzler 2000: 19). Eine von Vertrauen und Interesse gerahmte Nähe kann Einsichten in andere Lebenswelten ermöglichen und so eine Vielfalt von Interpretationsmöglichkeiten liefern. Gleichzeitig jedoch geht eine unreflektierte, intersubjektive Nähe mit der Gefahr einher, dass der analytische Blick verstellt wird, der ein Interpretieren von Handlungsverläufen möglich macht und Kennzeichen professionellen Handelns ist. Riemann problematisiert den Verlust einer Einstellung der Fremdheit, die Erkenntnisbildungsprozesse in Fallbesprechungen unter Sozialarbeiterinnen behindert (vgl. ders. 2003: 249f.). Eine totale Identifizierung liegt dann vor, wenn eine Zugehörigkeit zu einer lediglich vorgestellten Gemeinschaft formuliert und damit keine Verbindung zu eigenen milieubezogenen Erfahrungen hergestellt wird oder wenn lediglich eine Dimension vielfältiger Milieuerfahrungen thematisiert wird (vgl. Nohl 2006b: 230). Der Jugendliche wird in der Wahrnehmung, Beobachtung und Kommunikation auf diesen einen Aspekt seiner Milieudimensionen reduziert. Gleichzeitig geht dieser Prozess mit einer Zuordnung zu einer vorgestellten Gemeinschaft einher, er wird insofern zum ›Kurden‹ gemacht.
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Bild des jüdischen Kindesmörders – letztlich eine Bestätigung. Im empirischen Material zeigt sich ein Vorgehen, mit dem Pädagoginnen intendieren, generalisierenden, judenfeindlichen Aussagen zu begegnen, indem ‚Differenzierungen‘ eingefordert werden. Diesen Interventionen liegt die Idee zugrunde, dass judenfeindliche Aussagen widerlegt werden können, wenn auf die Existenz ‚anderer‘ bzw. ‚guter Juden‘ verwiesen oder auf abstrakte Gebilde Bezug genommen wird (‚israelische Politik‘, ‚israelische Armee‘). Als strukturelles Element zeigt sich fallübergreifend ein affirmativer Bezug auf die Konstruktionen vorgestellter Gemeinschaft(en)10 seitens der Besucherinnen. Indem sich Pädagogen bestätigend auf den objektiven Sinngehalt des Gesagten beziehen und den Konstruktionen zustimmen, spuren sich Wege der Kommunikation ein, die der Differenzkonstruktion vom ‚Juden‘ als ‚dem Anderen‘ vom Prinzip her nichts entgegenhalten: Judenfeindliche Aussagen werden vielmehr festgeschrieben und bestätigt. Konstrukte vorgestellter Gemeinschaft werden dichotom gegenübergestellt (Wir/ Juden) sowie Binnendifferenzierungen (gute/schlechte Juden) vorgenommen. In den Darstellungen finden sich Formen der Personalisierung (israelische Armee/ Besatzer) und die Strukturelemente der Symbolisierung, Abstraktion, Generalisierung und Depersonalisierung (Juden/israelische Politik). Diese Form der immanenten Beobachtung und Intervention schließt ein berufsspezifisches Rollenverständnis ein, das Vorstellungen einer symmetrischen Kommunikation und egalitären Beziehung zwischen Pädagogen und Jugendlichen einschließt. Diese Haltung wird nicht strategisch eingesetzt, um den Kontakt mit den Jugendlichen zu gestalten, sie bildet vielmehr die Basis des beruflichen Handelns. Ähnlich wie Jugendpädagogen, die immanent beobachten, beziehen sich auch Interviewte, deren Beobachtung als rekonstruktiv bezeichnet wird, auf die kommunikativen Äußerungen des Gegenübers. Sie verbleiben jedoch nicht auf der immanenten Ebene der Aussagen, eingenommen wird vielmehr eine genetische Suchhaltung, die nach Funktionen und Kontexten fragt, in der die Aussagen für 10 Benedict Anderson definiert vorgestellte Gemeinschaften mit Bezug auf die Entstehung von Nationen Ende des 18. Jahrhunderts, indem er sich im Sinne eines Unterscheidungskriteriums auf zwischenmenschliche, gruppenhafte Beziehungen bezieht, die im Alltag miteinander gelebt werden: „In der Tat sind alle Gemeinschaften, die größer sind als die dörflichen mit ihren faceto-face-Kontakten, vorgestellte Gemeinschaften“ (Anderson 1996: 15). Arnd-Michael Nohl spezifiziert dieses Begriffsverständnis entlang der Unterscheidung zwischen kultureller Repräsentation und Milieu (vgl. ders. 2006b: 146f.). In Übereinstimmung mit Anderson bezeichnet auch er vorgestellte Gemeinschaften als Konstruktionen, denen jeglicher Erfahrungsbezug fehlt. Für ihn entstehen vorgestellte Gemeinschaften jedoch nicht ausschließlich im Kontext einer nicht vorhandenen gemeinsam erlebten Geschichte der Gruppenmitglieder: Neben die face-to-faceKontakte, die fehlen, tritt die ausbleibende gleichartige Erfahrung. Ob eine Gemeinschaft vorgestellt ist oder nicht, entscheidet sich hier anhand eines übergreifenden konjunktiven Erfahrungsraumes, in dem die Mitglieder gleichartige Erfahrungen machen oder eben nicht.
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die Jugendlichen stehen. Insofern ähnelt eine rekonstruktive Beobachtung dem Vorgehen eines empirischen Forschers, der sich auf die Suche nach dem impliziten Gehalt und der Funktion eines Textes begibt. Deutlich wird dies in einem differenzierenden und detaillierten Gebrauch von Sprache, der sich beispielsweise in der folgenden Aussage einer Pädagogin zeigt: „was sehr wohl eine Rolle spielt, ist wir Araber und die Deutschen, also, dass ich dann mich mit denen hinsetze und sage, wo bist du geboren (.) in Berlin (.) ja, ich nicht, du bist mehr Berliner als ich, also da noch mal zu thematisieren, na ja, du lebst hier in Deutschland und du bist eigentlich Berliner, und nicht die Berliner und wir, sondern du gehörst dazu, und dies du gehörst dazu ist teilweise eine Verantwortung, teilweise aber auch ein ähm gar nicht dazu gehören wollen und dann wieder doch dazu gehören wollen, na ja, Identitätsfindung, die werden zu Hause auch oft sagen, ich bin Deutscher, und dann auf der Straße sagen sie, ich bin Araber, sich von keinem was sagen lassen wollen“.
Zu erkennen ist ein von Anerkennung und Verständnisinteresse geprägter Umgang mit dem Gegenüber. Die wahrgenommenen Selbstbezeichnungen der Jugendlichen („wir Araber“) übernimmt die Interviewte nicht in den eigenen Sprachgebrauch, sie analysiert diese vielmehr als Ausdruck einer totalen Identifizierung (vgl. Anm. 9). Ein Interesse an den Plausibilisierungen und Motiven der Jugendlichen selbst zeichnet sich ab, im weiteren Verlauf des Interviews zeigt sich, inwiefern diese Haltung es ermöglicht, einen von Vertrauen geprägten Zugang herzustellen und ein Infragestellen identifikatorischer Aussagen zu initiieren. Grundsätzlich unterscheidet sich eine rekonstruktive Beobachtung von den anderen typischen Beobachtungsformen dadurch, dass die Interviewten neben der kommunikativen Äußerung des Gegenübers auch dessen alltagsweltliches Erleben in den Blick nehmen. Diese Form der Beobachtung eröffnet grundsätzlich zwei Wege, welche in der Intervention beschritten werden können, wobei die kommunikative und die alltagspraktische Handlungsebene gleichermaßen berührt werden. Im Vollzug einer Intervention vermitteln Pädagoginnen keine (letzten) Antworten im Sinne eines wahren Wissens an die Jugendlichen (wie es Pädagogen tun, deren Beobachtung als stereotypisierend bezeichnet wurde). Sie hinterfragen das Gesagte, indem sie kommunikative Aussagen oder alltagspraktische Erfahrungen des Gegenübers als Gegenhorizonte aufrufen, die im Widerspruch zu den Handlungen oder Äußerungen stehen, die als problematisch wahrgenommen werden. So konfrontiert ein Pädagoge einen Jugendlichen, der seine Absicht äußert, Selbstmordattentäter werden zu wollen und dies mit einer palästinensischen Herkunft und Opferidentität begründet, mit Aussagen, die der Jugendliche in einem anderen Kontext äußerte: „ich hab‘ Bezug genommen, als wir in Münster äh auf der Reise waren, die haben nicht gesagt, die sind coole Araber, sondern die hab’n gesagt, wir sind coole Neuköllner oder so was, wenn
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Heike Radvan sie mit Mädels zum Beispiel irgendwie geflirtet hab’n oder angemacht hab’n, ja hier ist alles voll Scheiße, die U-Bahn ist Scheiße, bei uns in Neukölln alles gut und alles besser“.
Er stellt den Aussagen des Jugendlichen, die er als ideologisch überformt wahrnimmt, die konkrete Alltagsrealität entgegen: „im Libanon ist das nich‘ so, im Flüchtlingslager hier und da, es is‘ nicht so und dein Leben ist hier, es geht um deine Zukunft und das hat mit dem äh Leiden und Krieg äh da wenig zu tun, es geht um deine Perspektive und es geht um dich“.
Der Pädagoge lässt sich nicht auf Diskussionen über ideologische Überzeugungen ein, in deren Verlauf er sich selbst in stereotype Argumentationen verstricken könnte, er verpflichtet den Jugendlichen auf dessen Alltagserfahrungen. Dieses Vorgehen wird als praxeologische Brechung bezeichnet. Ein detailliertes Beobachten der alltagspraktischen Handlungs- und Erfahrungsebene und der kommunikativen Äußerungen von Jugendlichen sowie eine (auf die Funktion von Aussagen gerichtete) Analysehaltung eröffnen den Pädagoginnen, deren Beobachtungshaltung als rekonstruktiv bezeichnet werden kann, die Möglichkeit, dem Geltungsanspruch stereotyper und ideologischer Aussagen erfahrungsnah zu widersprechen. Darüber hinaus kann mithilfe universalistischer Positionierungen11 antisemitischen Aussagen bzw. den zugrunde liegenden Differenzkonstruktionen widersprochen werden. Wenn darauf verwiesen wird, dass „die Gier [ ] allen Menschen zu eigen“ ist, „ich das überhaupt nicht toll fände, wenn irgendein Mensch brennt“ oder der Coca Cola-Geschmack unabhängig von einer Gruppenzugehörigkeit der Hersteller besteht, steigen Pädagoginnen aus der Differenzkonstruktion vom ‚Juden‘ als ‚dem Anderen‘ aus. Eine distanzierte, analytische Beobachterposition korrespondiert hier mit einem Verständnis von Antisemitismus als (Differenz-)Konstruktion. Die Art und Weise, wie die Jugendlichen in den Blick geraten, verschränkt sich – ebenso wie anhand des ersten und zweiten Typus gezeigt – mit der pädagogischen Haltung: Eine Beobachtung kommunikativer und konjunktiver Sozialbeziehungen geht mit Positionen einher, die im Rahmen der Anerkennungspädagogik diskutiert werden. Jugendlichen wird wertschätzend und positiv begegnet, sie werden unterstützt, Handlungsspielräume zu nutzen. Hier zeigt sich ein 11 Universalistische Perspektiven beziehen sich auf die Menschheit als Gesamtheit. Tugendhat versteht Universalismus als „primär moralische Kategorie. Es erscheint als kulturelle Errungenschaft, dass es Gebote und insbesondere Verbote gibt, die die Menschheit als ganze betreffen, von denen wir niemanden meinen, ausschließen zu dürfen“ (Tugendhat zitiert nach Griese 2006: 296). Die Interviewten nutzen Vorstellungen von übergreifenden Charakteristika des Menschseins (anthropologischer Universalismus), um Differenzsetzungen vom ›Juden‹ als dem ›Anderen‹ zu begegnen.
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Verständnis pädagogischen Handelns, das darauf zielt, Lern- und Bildungsprozesse12 zu begleiten. Jugendpädagogen arbeiten sich in das milieuspezifische und kommunikative Erfahrungswissen von Jugendlichen ein, wobei sie sich einen Zugang zu Einstellungen und zum Verhalten erarbeiten, das auf habitualisierter Ebene – nicht auf der Ebene des kommunikativen Wissens – liegt. Dies erscheint gerade im Vergleich zu einer weit verbreiteten Annahme der politischen Bildungsarbeit interessant, der zufolge Einstellungsänderungen primär mittels theoretischer Wissensvermittlung zu ermöglichen sei. Wissenssoziologisch inspirierte Lern- und Bildungstheorien gehen hingegen von der Annahme aus, dass Einstellungsänderungen nicht ohne weiteres zu erreichen sind, da sie vielmehr auf der Ebene des inkorporierten Wissens stattfinden bzw. beginnen.13 Ein strategischer Umgang zeigt sich sowohl hinsichtlich der Kommunikation als auch bezüglich der Asymmetrie pädagogischer Beziehung. An emanzipatorischen Werten orientiert, unterstützen rekonstruktiv beobachtende Jugendpädagogen das Gegenüber im Prozess der Meinungsbildung und -äußerung, ohne das soziale Phänomen Antisemitismus aus dem Blick zu verlieren. Essentialisierende Selbstbeschreibungen und generalisierte Aussagen über den anderen werden infrage gestellt, das Problematische daran plausibilisiert sowie alternative Deutungen angeboten. Pädagoginnen nehmen eine ›Rolle‹ ein, die in Anlehnung an Giesecke an ein professionelles Verständnis erinnert, das den Pädagogen als Gesprächsleiter vorstellig werden lässt (vgl. ders. 1964: 158), wobei die Standortgebundenheit der Jugendlichen sowie pädagogische Zielsetzungen Beachtung finden. Pädagoginnen simulieren eine symmetrische Beziehung, man könnte auch sagen, sie täuschen diese vor. In kontrovers verlaufenden Diskussionen arbeiten sie mit rhetorischen Figuren und artikulieren Fragen, die das Gegenüber zum Nachdenken anregen oder Irritationen erzeugen sollen. Diesem Vorgehen liegt ein implizites Wissen darüber zugrunde, dass Einstellungs- oder Meinungsänderungen nicht unmittelbar ablaufen oder durch eine instruierende, insistieren12 Allgemein kann unter Bildung ein auf das ganze Leben bezogener Entwicklungsprozess eines Menschen verstanden werden. Winfried Marotzki beschreibt Bildung als „Veränderung der Konstruktionsprinzipien der Weltaufordnung“ (ders. 1990: 41), was eine Änderung des Selbstverhältnisses des Subjektes beinhaltet (vgl. ebd.: 43). Während mit Lernprozessen das Mehren von Wissen und Können innerhalb eines Orientierungsrahmens verstanden werden kann, beinhaltet ein Bildungsprozess vielmehr die Transformation dieses Rahmens (vgl. Nohl 2005: 221; Marotzki 1990: 32ff.). 13 Anschließen lässt sich hier an Christoph Wulf’s Arbeiten zum Begriff der Mimesis. Auch er verortet Einstellungen auf der Ebene praktischen Wissens; deren Entstehung bzw. Aneignung als Prozesse mimetischen Lernens rekonstruiert werden (vgl. Wulf 2001: 140-149). Als mimetisches Lernen wird das Anähneln an eine andere Person, das Kopieren eines Vorbildes gesehen, wobei es immer um eigenständige, kreative Prozesse des Nachschaffens geht, die als performative Darstellungen und Inszenierungen gelten können (vgl. Gebauer/Wulf 1998, 1992).
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de Vermittlung des ‚richtigen Wissens‘ möglich werden. Vielmehr bedarf es eines Zugangs zu den Funktionen, die diese Äußerungen für die Jugendlichen erfüllen, um Veränderungen oder Irritationen zu initiieren. Im Zusammenhang mit einer rekonstruktiven Beobachtungshaltung können dialogische Gespräche Kommunikationswege jenseits der Konstruktionslogik antisemitischer Semantik eröffnen. 3
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Mit den skizzierten Ergebnissen lassen sich nicht nur Defizite pädagogischen Handelns lokalisieren, fokussiert werden nun diejenigen Strategien, die Antworten geben auf die Frage nach dem Wie des pädagogischen Umgangs mit Antisemitismen. Hieran anknüpfend soll diskutiert werden, welche Handlungskompetenzen Jugendpädagogen im Rahmen der Aus- und Weiterbildung sinnvoll vermittelt werden können. Die Ergebnisse aktualisieren Forderungen aus dem Fachdiskurs, in dem für eine Integration qualitativer Forschungsmethoden in die Aus- und Weiterbildung der Jugend- bzw. Sozialpädagoginnen plädiert wird (vgl. Müller/Schmidt/Schulz 2005; Lindner 2000; Jakob/Wensierski (Hg.) 1997; Oevermann 2000; Schütze 1993, 1994; Völter 2008; Nohl 2006b). Für das pädagogische Handeln im Umgang mit wahrgenommenem Antisemitismus ist festzustellen, dass eine rekonstruktive Beobachtungshaltung mit der Möglichkeit einhergeht, (alternative) Handlungsspielräume anzuzeigen, die nicht losgelöst vom kommunikativen und konjunktiven Wissen der Jugendlichen verbleiben. Im Kontext einer mehrperspektivischen, milieubezogenen Beobachtung begegnen Interviewte ideologisch überformten Aussagen, indem sie das Gegenüber auf alltagspraktische Relevanzen verpflichten. Da Pädagogen sich auf den Alltag der Jugendlichen beziehen, signalisieren sie nicht nur im Sinne einer Pädagogik der Anerkennung, dass sie deren Erfahrungen ernst und wahrnehmen. Nachdruck erhalten ihre Argumentationen gerade dadurch, dass sie auf konkretes Erleben der Jugendlichen verweisen und auf milieuspezifische Handlungsoptionen aufmerksam machen (praxeologische Brechung). Mit dieser Strategie gerät zudem der konstruierte Charakter stereotyper Bilder und ideologischer Äußerungen in den Fokus, wird deren Unverbundenheit zur alltagsweltlichen Erfahrungsebene deutlich. Antisemitismen wird also nicht abstrakt oder moralisch überformt im Sinne von Belehrung begegnet, vielmehr wird eine Such- und Analysehaltung eingenommen: Pädagoginnen richten den Blick auf die möglichen Funktionen der Äußerungen, die sie als antisemitisch wahrnehmen. Diese Analysehaltung ist mit der Einstellung rekonstruktiv Forschender zu vergleichen, die nach dem impliziten und dem
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dokumentierten Sinn des Gesagten suchen. Im Kontext des pädagogischen Umgangs mit wahrgenommenem Antisemitismus erhält diese Analyseeinstellung eine zusätzliche Bedeutung. Vor dem Hintergrund, dass antijüdische Fremdbilder für Wir-Gruppenkonstruktionen und Selbstbilder verschiedene Funktionen erfüllen14, ist es aus pädagogischer Perspektive angezeigt, sich immer zugleich mit dem präsentierten Selbstbild der Personen zu beschäftigen, die sich antisemitisch äußern. In Reaktion auf antisemitische Aussagen ist es weitgehend sinnlos, ›über Juden‹ zu reden, da dies korrespondenztheoretisch15 betrachtet, antisemitische Beiträge liefert, wie das empirische Material zeigt. Dass eine rekonstruktive Beobachtungshaltung nicht immer Wissen über den konstruierten Charakter antisemitischer Mythen und ihren konstitutiven Bezug zum Selbstbild einschließt, illustrieren die Untersuchungsergebnisse ebenso. Hier könnte ein sinnvolles Reflexionsangebot bzw. eine Analysegrundlage für das praktische Handeln im Kontext von Aus- und Weiterbildung anknüpfen: Reflektieren Pädagogen über die Genese von Antisemitismen und begeben sie sich mithilfe eines rekonstruktiven Blicks auf die Suche nach den möglichen Funktionen der Äußerungen für die sprechenden Personen, so lässt sich ein pädagogischer Umgang erwarten, der die Jugendlichen mit ihren Plausibilisierungen und milieubezogenen Erfahrungen im Kontext des wahrgenommenen Antisemitismus in den Blick nimmt. Anhand der Ergebnisse wird deutlich, dass ein phänomenrekonstruierender Zugang zum kommunikativen Wissen den Ausstieg aus antisemitischen Differenzkonstruktionen ermöglichen kann. Jugendlichen werden Alternativen zu antisemitischen Deutungen angeboten, das Selbst- und Weltverständnis sowie Handlungsspielräume können eine Erweiterung erfahren. Eine inhaltliche Positionierung verschränkt sich in der rekonstruktiven Beobachtungshaltung mit theoretischem Wissen über Antisemitismus und menschenrechtsorientierten Werthaltungen: Diese Haltungen lassen sich grundlegend am differenzierten Gebrauch und Umgang mit Sprache erkennen. Theoretisches Wissen über Antisemitismus darf 14 Aus einer allgemeinen Perspektive verweist u.a. Alois Hahn auf diesen Zusammenhang (vgl. ders. 2000: 15 ff.). Zur Interdependenz von antisemitischem Fremdbild und nationalem Selbstbild/Wir-Gruppenkonstruktion vgl. Holz 2001. 15 Holz bezeichnet diejenigen wissenschaftlichen Ansätze als korrespondenztheoretisch, die antisemitische Vorurteile in einen Zusammenhang mit angeblichen Eigenschaften, Besonderheiten und dem Verhalten von ‚Juden‘ stellen und Antisemitismus auf Interaktionen zwischen ›Juden‹ und ‚Nichtjuden‘ zurückführen. Auch wenn in der Antisemitismusforschung einzelne korrespondenztheoretische Erklärungen diesen grundlegenden projektiven Charakter von Antisemitismus partiell aus dem Blick verlieren (zur Kritik vgl. Holz 2001: 62–71), so liegen dennoch kaum wissenschaftliche Arbeiten vor, die in dem Sinne antisemitisch argumentieren, dass sie eine Mitverantwortung von ‚Juden‘ am Entstehen und Auftreten des Antisemitismus unterstellen.
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jedoch nicht als isolierte Antwort auf die Frage nach dem Umgang mit Antisemitismus betrachtet werden, grundsätzlich muss der pädagogische Zugang mitbedacht werden: Wird theoretisches Wissen von der Überzeugung flankiert, über das ›richtige Wissen‹ zu verfügen, prägt dies nicht nur den Umgang mit den Jugendlichen, sondern mündet in eine generalisierende, stereotypisierende Form der Beobachtung und Intervention. In ihren Reaktionen auf wahrgenommenen Antisemitismus orientieren sich rekonstruktiv Beobachtende nicht an der Vermittlung ihrer persönlichen Position, sondern sie suchen nach dem Sinn, der die Aussagen des Gegenübers fundiert und setzen hier an. Mit universalistischen Positionen kann antisemitischen Differenzkonstruktionen widersprochen werden, Konstruktionen vom ›Juden‹ als ›dem Anderen‹ werden auf diesem Wege obsolet. Aus der Weiterbildungsperspektive scheint es sinnvoll, die Bebachtungshaltung und einen sensibilisierten Umgang mit Aussagen und Konstruktionen gemeinsam zu vermitteln: Eine belastbare anti-antisemitische Position geht mit einem Verständnis über die Herstellungsprozesse antisemitischer Konstruktionen einher. Die Beschäftigung mit Strukturen antisemitischer Semantik kann als übergreifender Lerngegenstand betrachtet werden, der Reflexionen über Differenz- und Gruppenkonstruktionen, Konstruktionen vorgestellter Gemeinschaften, Prozesse der Selbst- und Fremdzuschreibung oder totale Identifizierung anregt. Gerade weil sich die Beobachtungshaltungen als habitualisiertes Handlungswissen zeigen, das themenübergreifend zugrunde liegt, scheint es angebracht, Rassismen, Ethnisierungs- und Kulturalisierungsprozesse, rechtspopulistische Meinungen etc. einzubeziehen. Die Typenbildung illustriert, dass neben der Vermittlung von theoretischem Wissen über das Thema Antisemitismus in der Aus- und Weiterbildung von Jugendpädagogen das Wie des pädagogischen Handelns und die Beziehungsarbeit im Vordergrund stehen sollte. Synergien ergeben sich, wenn das Erlernen rekonstruktiver Methoden der Sozialforschung an Fragen des pädagogischen Bezugs gekoppelt wird: Gelingt dies, ist zu erwarten, dass sich eine neugierige Analysehaltung mit einer distanzierten Beobachterposition verbindet, die den Äußerungen des Gegenübers nicht mit vorschnellen Wiederholungen, Entgegnungen oder Wertungen begegnet. Ein vorübergehendes Einklammern der Geltung von Aussagen ermöglicht Reflektionen über die potenzielle Funktion des Gesagten. Anerkennungspädagogische Aspekte sowie ein strategischer Umgang mit der Asymmetrie in pädagogischen Beziehungen, die jedoch nicht mit Kritikoder Distanzlosigkeit zu verwechseln sind16, scheinen förderlich. Gleichzeitig 16 Zu ähnlichen Empfehlungen kommt Köttig im Rahmen einer Studie, in der pädagogische Situationen in der offenen Jugendarbeit mit rechtsextrem orientierten Mädchen untersucht werden (vgl. Köttig 2004). Das Einüben in eine methodische Haltung der Fremdheit (Schütze) könne das
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scheint es angemessen, Potenziale jugendpädagogischen Handelns, die mit der Beobachtungs- und Interventionsform, der pädagogischen Haltung und den strukturellen Bedingungen pädagogischer Situation korrespondieren, im Rahmen von Fort- und Weiterbildung zu thematisieren. Relevanz erhalten milieuspezifische und phänomenrekonstruktive Beobachtungen, sollen Lern- und Bildungsprozesse unterstützt werden. Ziel wäre es, ein professionelles Verständnis als Lernhelfer (vgl. Giesecke 1989: 105ff.) zu etablieren, das emanzipatorische Ansätze integriert und von der Selbsttätigkeit und den Potentialen der Lernenden ausgeht. Die Verschränkung zwischen pädagogischer Haltung und Kommunikationsformen ist dem empirischen Material und den Analysen zu entnehmen: Für den Verlauf pädagogischer Handlungen im Kontext wahrgenommenen Antisemitismus ist es bedeutsam, wie Pädagoginnen mit den Jugendlichen kommunizieren. Dass strategische Kommunikation (im Sinne Habermas’), die u.a. Antworten im Sinne des von den Pädagogen formulierten, unkritisierbaren ›richtigen Wissens‹ befördert, inhaltliche Auseinandersetzungen der Jugendlichen blockiert, zeigen die Ergebnisse. Aus- und Weiterbildungsangebote können auch hier ansetzen: Pädagogen können in Fort- und Weiterbildung ein dialogisch gerahmtes Vorgehen entwickeln. Ein vorübergehendes Einklammern der Geltung von Aussagen ist nicht nur angesichts der Suche nach deren Funktion angezeigt, sondern auch hinsichtlich des kommunikativen Umgangs. Es eröffnet Handlungsspielräume für Sozialarbeiterinnen und die Option, auf Antisemitismus jenseits stereotyper oder immanenter Formen der Intervention zu reagieren. Anschließen lässt sich hier an ein professionelles Verständnis von Pädagogen als Gesprächsleiter (vgl. Giesecke 1964: 158), wobei sachliche Implikationen und persönliche Motive im Gespräch abzuwägen sind: Jugendliche werden unterstützt, eine „vernünftige, das heißt begründete und somit auch wieder mitteilbare Entscheidung zu treffen“ (Giesecke 1964: 159). Ein konkreter Thematisierungs- und Reflexionsbedarf, wie heutigen Antisemitismen aus pädagogischer Perspektive begegnet werden kann, ergibt sich, werden Gedenkstättenfahrten oder Begegnungsprojekte, die in der offenen Jugendarbeit in Reaktion auf gegenwärtige Antisemitismen realisiert werden, genauer betrachtet. Ohne die Ausführungen der Interviewten detailliert zu rekapituAufrechterhalten einer professionellen Distanz zu den Jugendlichen unterstützen, die, wird eine verständnisorientierte Annäherung an die Klientinnen favorisiert, aus dem Blick gerät. Hervorgehoben wird eine abwartend-beobachtende, auf das Verstehen gerichtete Haltung, die auch den Handlungsdruck verringern kann: „Als leitendes Prinzip tritt damit zunächst das VerstehenWollen anstelle des Handeln-Müssens“ (vgl. ebd.: 376). Die Autorin betont zudem die Bedeutung kontinuierlicher Reflexionen beruflichen Handelns, die Notwendigkeit einer begleitenden Supervision sowie die Erarbeitung eines Standpunktes hinsichtlich der politischen Meinungsäußerungen der Klientel (vgl. ebd.: 377f.).
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lieren, lässt sich zusammenfassend festhalten, dass der Dimension Geschichte/ Gegenwart Rechnung getragen werden muss und Antworten auf die Frage entwickelt werden müssen, wie der Gegenwartsbezug im historischen Lernen so hergestellt werden kann, dass die Jugendlichen mit ihren Wissensbeständen über den Holocaust und ihren Alltagserfahrungen einbezogen werden. Dass biografische Zugänge eine Auseinandersetzung initiieren können, die nicht auf abstrakter Ebene verbleibt, sondern historisches Wissen nachvollziehbar vermittelt und Positionierungen in der Gegenwart ermöglicht, wird im gedenkstättenpädagogischen Fachdiskurs unterstrichen (vgl. u.a. Kuhls 1996; Kiesel u.a. 1997; Fechler u.a. 2000). Hier lässt sich auch in der offenen Jugendarbeit ansetzen, erste Erfahrungen über die Arbeit mit Jugendlichen mit Migrationshintergrund liegen vor.17 Es wird nicht grundsätzlich bezweifelt, dass die Auseinandersetzung mit historischem Antisemitismus sinnvoll sein kann, um eine Thematisierung heutiger Äußerungen bzw. Einstellungen zu rahmen. Allerdings ist es unabdingbar, historische und gegenwärtige Erscheinungsformen differenziert zu betrachten und den Blick auf die Jugendlichen in ihrem biografischen Gestern und ihrem Hier und Jetzt zu integrieren. Ähnliches ist angesichts von Begegnungsprojekten zu konstatieren: Hier geht es ebenfalls um Reflexionen über Grenzen und Gefahren der Begegnungspädagogik, die mit der Intention durchgeführt werden kann, heutigen Antisemitismen auf dem Wege des Kontaktes mit Juden entgegenzutreten. Werden Begegnungen als unvermittelte Antwort auf antisemitische Äußerungen initiiert und wird angenommen, dass der direkte Kontakt mit Juden Antisemitismus ›beseitige‹, so handelt es sich um ein Vorgehen, das den grundsätzlichen Strukturen des Antisemitismus ›aufsitzt‹. Das heißt nicht, dass Begegnungsprojekte unsinnig sind, vielmehr geht es um eine kritische Reflexion des Konnexes Antisemitismus/konkretes Handeln von Juden. Begegnungen, die im Sinne einer Pädagogik kollektiver Zugehörigkeiten (vgl. Nohl 2006b) Räume des Kennen Lernens gestalten, eröffnen den Zugang zu zuvor unbekannten Milieus, können interkulturelle Lernprozesse18 befördern und letztlich Teil einer Antwort auf heutige Antisemitismen sein. Dem pädagogischen Handeln dürfen jedoch keine Wirkungser17 Über Ergebnisse einer laufenden Untersuchung mit dem Arbeitstitel „‘...und man kann sie doch für NS-Geschichte interessieren!‘“ berichtete Elke Gryglewski im Forschungskolloquium des Zentrums für Antisemitismusforschung am 14. November 2007. 18 Im Sinne interkulturellen Lernens kann kommunikatives Wissen über ein zuvor unbekanntes Milieu erworben sowie der Umgang mit Milieufremden eingeübt werden. Darüber hinaus ist es möglich, dass im Zuge eines handlungspraktischen Miteinanders neue Orientierungen entstehen: In diesem Fall wäre von interkulturellen Bildungsprozessen die Rede. Nohl weist auf die Notwendigkeit hin, arrangierte soziale Begegnungen so auszurichten, dass zumindest eine Übereinstimmung als auch eine Differenz hinsichtlich verschiedener Milieudimensionen unter den Teilnehmenden vorliegen (vgl. 2006b: 233).
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wartungen gemäß der Kontakthypothese19 zugrunde liegen. Vielmehr folgen die Interventionen einem Verständnis, das Anerkennungserfahrungen sowie Klärungsprozesse kollektiver Zugehörigkeiten fokussiert, die es letztlich erlauben, ein Selbstbild zu entwerfen, das projektive Elemente suspendieren kann. Abschließend lässt sich festhalten, dass Angebote der Aus- und Weiterbildung neben Perspektiven, die sich auf das praktische Können im Zusammenhang mit der Beobachtungsform und der pädagogischen Haltung beziehen, theoretische Wissensvermittlung sowie die Klärung der eigenen Position zum Antisemitismus beinhalten sollten. Anschließen lässt sich hier an ein integratives Bildungsverständnis im Weiterbildungsbereich Sozialer Arbeit, das „Elemente des kognitiven Lernens, des praktischen Könnens und der wertbestimmten emotionalen Grundhaltungen“ (Peter 2002: 134) berücksichtigt. Weiterbildungsangebote in der Sozialen Arbeit zielen auf Reflexionsmöglichkeiten im Kontext der Vermittlung wissenschaftlichen Wissens sowie auf Prozesse der „Habitualisierung von angemessenen Handlungsroutinen, berufsethischen Haltungen und Einstellungen“ (ders. 2002: 128). Insofern geht es um Zugänge zum handlungspraktischen und kommunikativen Wissen von Pädagoginnen. Hinsichtlich der Aneignungsprozesse von Wissen – also die Frage, wie Angebote der Aus- und Weiterbildung zum Thema Antisemitismus didaktisch aufbereitet werden sollten, um anvisierte Ziele zu erreichen – bleiben Ansätze einer Ermöglichungsdidaktik zu berücksichtigen (vgl. Griese 2009: o.S.): Neues Wissen wird von den Teilnehmenden dann angeeignet oder adaptiert, als es sich anschlussfähig an bereits vorhandenes erweist und Prinzipien der Selbsttätigkeit einschließt. Für die Praxis der Fort- und Weiterbildung scheint das Arbeiten am konkreten Fall geeignet. Pädagoginnen haben hier die Möglichkeit, über das eigene Handeln zu reflektieren, Handlungsalternativen zu erproben und in Bezug zu setzen mit pädagogischen Fragestellungen sowie angeeignetem Wissen zum Thema Antisemitismus (vgl. Radvan 2008).
19 Die Kontakthypothese stammt aus der sozialpsychologischen Vorurteilsforschung, bereits Allport (vgl. 1954: 261–282) thematisiert den Zusammenhang von Gruppenkontakten und dem Abbau von Vorurteilen. Es wird angenommen, dass Vorurteile und Stereotypen auf mangelndes Wissen oder Ignoranz gegenüber ethnischen Minderheiten zurückzuführen seien. Auch wenn eine Vielzahl sozialpsychologischer Untersuchungen die Hypothese bestätigt, kann deren universaler Anspruch angezweifelt werden (vgl. Zick 1997: 115). So sind neben den Faktoren Kontakt und Wissensvermittlung weitere Kontextbedingungen zu beachten, die Einfluss auf die Ausprägung von Vorurteilen nehmen (vgl. ebd.: 115f.). Obwohl die Kontakthypothese verschiedentlich modifiziert wurde, liegen die Grundannahmen nach wie vor ex- oder implizit verschiedenen Forschungs- und Praxisprojekten zugrunde (vgl. ebd.: 117).
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„Antisemitismus – ein Problem unter vielen“. Ergebnisse einer Befragung in Jugendclubs und Migrant/innen-Organisationen Gabriel Fréville, Susanna Harms und Serhat Karakayal
Der Berliner Stadtteil Kreuzberg ist in den letzten Jahren des Öfteren durch Berichte über Antisemitismus unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund in die Schlagzeilen geraten. Das Projekt „amira – Antisemitismus im Kontext von Migration und Rassismus“ ist daher im Herbst 2007 angetreten, um Wege für die offene Jugendarbeit zu finden, kritisch mit Antisemitismus unter diesen Jugendlichen umzugehen, ohne sich dabei stigmatisierender Klischees über Migrant/ innen zu bedienen. Entstanden ist „amira“ im Kontext der Beratungsarbeit der „Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus Berlin (MBR)“, einem weiteren Projekt des Vereins für Demokratische Kultur. Gemeinsam mit dem Antidiskriminierungsnetzwerk Berlin des Türkischen Bunds Berlin-Brandenburg hat die MBR Akteur/innen im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg zum Umgang mit demokratiegefährdenden Einstellungen – nicht nur, aber auch in Migrant/innen-Communities – beraten. Dazu gehörte unter anderem das Thema Antisemitismus, das verschiedene Jugendfreizeiteinrichtungen im Bezirk beschäftigt(e). Um deren Bedarf an pädagogischen Methoden und Konzepten zum Umgang mit diesem Problem nachzukommen, wurde das Projekt amira entwickelt. Aus dieser Konstellation ergibt sich auch der Zuschnitt unserer Zielgruppe: Der offene Bereich der Kreuzberger Jugendclubs wird fast ausschließlich von Jugendlichen mit (zumeist türkischem, kurdischem und arabischem) Migrationshintergrund frequentiert. Um uns ein genaueres Bild der Lage zu verschaffen, haben wir bis zum Sommer 2008 mehr als 40 Gespräche mit Mitarbeiter/innen aus Jugendeinrichtungen im
Der Artikel wurde der Broschüre „’Du Opfer!’ – ‚Du Jude!’ Antisemitismus und Jugendarbeit in Kreuzberg. Dokumentation der amira-Tagung am 16.09.2008 im Stadtteilzentrum Alte Feuerwache, Berlin-Kreuzberg“ entnommen, die im Dezember 2008 vom Verein für Demokratische Kultur in Berlin e.V. (VDK) und amira – Antisemitismus im Kontext von Migration und Rassismus herausgegeben wurde. Er wurde für diesen Sammelband leicht überarbeitet.
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Bezirk und mit Vertreter/innen von Migrant/innen-Organisationen geführt. Bei den Jugendclubs handelte es sich sowohl um kommunale Einrichtungen als auch um Einrichtungen freier Träger, bei den Migrant/innen-Selbstorganisationen in erster Linie um sich als säkular verstehende und als „türkisch“, „kurdisch“ oder „arabisch“ definierende Vereine, die zum Teil selbst Jugendarbeit betreiben. Die Bandbreite der Organisationen reichte vom Frauen- oder Sportverein bis hin zur politischen Interessensvertretung. Zudem haben wir mit einigen Einrichtungen aus angrenzenden Feldern gesprochen, beispielsweise einem Berufsqualifizierungsprojekt für junge Menschen oder einem Projekt für schuldistanzierte Kinder und Jugendliche. Wir wollten wissen, wie denn diejenigen Einrichtungen und Vereine, die mit den Jugendlichen arbeiten und deren Lebenswelten kennen, die Situation einschätzen. Dabei ging es uns auch darum, Migrant/innen-Organisationen und Jugendarbeiter/innen in die Problembeschreibung einzubinden, um im Anschluss an die Erhebung mit ihnen gemeinsam Konzepte und Ansätze im Umgang mit Antisemitismus zu entwickeln. Die Ergebnisse und insbesondere die Thesen, die wir aus dem Wissen der Akteur/innen entwickelt haben, sind nicht in erster Linie an die politische oder wissenschaftliche Öffentlichkeit gerichtet, sondern vorwiegend an eben jene Praktiker/innen, ohne die eine nachhaltige Auseinandersetzung mit Antisemitismus in diesem Feld nicht gelingen kann. Zu betonen bleibt zum einen, dass wir keine Befragung der Jugendlichen selbst durchgeführt haben, sondern mit den Mitarbeiter/innen oder Leiter/innen von Vereinen und Einrichtungen gesprochen haben. Die Aussagen über Typen und Verbreitungsgrade von Antisemitismus sind daher durch die Wahrnehmung der Befragten gefiltert. Zum anderen sprechen wir zwar stellenweise vereinfachend von „Kreuzberger Jugendlichen“, die Ergebnisse der Befragung beziehen sich jedoch auf diejenigen Jugendlichen, die die kommunalen bzw. kommunal geförderten Jugendeinrichtungen besuchen. Jugendliche, die von diesen nicht erreicht werden (beispielsweise Jugendliche, die stattdessen Angebote der Jugendarbeit von islamistischen Organisationen nutzen), fallen daher aus dem Fokus der Betrachtung. Die Jugendlichen, über die wir im Zeitraum von Herbst 2007 bis Sommer 2008 mit Vertreter/innen aus über 40 Jugendeinrichtungen und Migrant/innen-Organisationen in Berlin-Kreuzberg gesprochen haben, sind mit spezifischen Lebensbedingungen konfrontiert, die anders sind als die von herkunftsdeutschen Jugendlichen. Alle Interviewpartner/innen benennen die signifikant prekäre Situation dieser Jugendlichen und ihrer Familien, die zu einem wesentlichen Teil auf
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eine strukturelle und alltägliche Ausgrenzung als Folge integrationspolitischer Versäumnisse und rassistischer Mechanismen zurückzuführen sei. Sprachliche Defizite, chronische psychosomatische Erkrankungen bis hin zu physischer Überforderung, Perspektivlosigkeit, Frust, Leistungsverweigerung und Schulabbruch, niedrige Ausbildungs- und Berufschancen, Gewalt in Wort und Tat, Kriminalität und Gefängnisaufenthalte werden als Probleme genannt, die den Alltag migrantischer Jugendlicher in diesem Bezirk prägen. Gefragt haben wir in den Gesprächen beispielsweise auch nach der Rolle, die Themen wie Herkunft, Religion oder Rassismus (sowohl eigene Diskriminierungserfahrungen als auch Rassismen untereinander) spielen. Der Fokus unserer Ergebnispräsentation liegt jedoch auf drei Themenbereichen: den Erscheinungsformen von Antisemitismus1, dem pädagogischen Umgang damit und der Frage, wie mit dem spannungsgeladenen Konfliktfeld von Rassismus und Antisemitismus umzugehen sein könnte. Antisemitismus unter Kreuzberger Jugendlichen mit Migrationshintergrund Die Ergebnisse unserer Befragung lassen sich in einer guten und einer schlechten Nachricht zusammenfassen. Die schlechte – wenn auch nicht überraschende – zuerst: Es gibt unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund in Kreuzberg und vergleichbaren Stadtteilen antisemitische Äußerungen und in Einzelfällen auch gewalttätige Vorfälle. Es handelt sich dabei – auch das ist kaum verwunderlich – um ein Problem unter verschiedenen anderen, mit denen Jugendarbeiter/innen und Migrant/innen-Organisationen im Hinblick auf die Jugendlichen konfrontiert sind.
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Gemäß unserer Arbeitsdefinition umfasst Antisemitismus alle Einstellungen, Aussagen und Handlungen, die sich gegen tatsächlich oder vermeintlich jüdische Menschen und Institutionen richten, weil sie jüdisch sind bzw. dafür gehalten werden. Diese Feindschaft drückt sich in vielfältigen Formen und Varianten aus, die sehr wandlungsfähig sind. Gemeinsam ist ihnen, dass Juden und Jüdinnen als einheitliches „Anderes“ konstruiert werden, dessen Eigenschaften, Einstellungen und Handlungsweisen sich vom Rest der Gesellschaft unterscheiden und das als Gefahr für den sozialen Zusammenhalt wahrgenommen wird. Auch wenn Antisemitismus und Rassismus viele Gemeinsamkeiten haben, weist der Antisemitismus gleichzeitig auch Eigenschaften auf, die ihn von rassistischen Einstellungen unterscheiden. So werden, um hier nur einen Aspekt zu nennen, die Juden/Jüdinnen im Antisemitismus mit Hilfe von Verschwörungstheorien nicht als unterlegenes, sondern übermächtiges Kollektiv imaginiert.
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Die gute Nachricht ist: Die meisten Kreuzberger Jugendeinrichtungen und auch die meisten Migrant/innen-Organisationen, mit denen wir gesprochen haben, wissen um dieses Problem. Sie sind – und das unserer Einschätzung nach über reine Lippenbekenntnisse hinausgehend – offen dafür, gemeinsam mit uns und mit anderen an diesem Thema zu arbeiten. Wie groß ist das Problem? Wie eben schon vorausgeschickt wurde, gibt es unter den Jugendlichen im Bezirk Probleme mit Antisemitismus. Einzelne Einrichtungen berichten von kontinuierlichen, großen Problemen. Andere beobachten bei „ihren“ Jugendlichen eher unterschwellige antisemitische Einstellungen, die bei bestimmten politischen Ereignissen (z.B. Eskalationen im Nahostkonflikt oder die Anschläge vom 11. September 2001) oder auch an religiösen Feiertagen wie Ramadan offen zu Tage treten – „dann brennt’s“, formuliert es eine Einrichtungsleiterin. Nur in dreien der 16 Jugendclubs in Kreuzberg, mit denen wir gesprochen haben, wurden keine antisemitischen Äußerungen beobachtet, zwei davon sind Mädcheneinrichtungen. Doch auch in den Clubs, die häufig mit Antisemitismus konfrontiert sind, gibt es in der Regel auch Jugendliche – und seien es auch nur einzelne – die differenziertere Haltungen zu Juden und Jüdinnen haben, die in Gruppendiskussionen Gegenpositionen beziehen und die Interesse an Themen wie Antisemitismus, Nationalsozialismus oder Israel zeigen. Da wir uns im Folgenden stärker auf die Frage konzentrieren werden, welche Jugendlichen sich wann, wie und warum antisemitisch äußern, ist es uns wichtig, dies hier zu betonen. Welche Erscheinungsformen und thematischen Kontexte gibt es in den Clubs? „Du Jude“ ist in vielen Einrichtungen ein häufig benutztes Schimpfwort, das dort die meisten Jugendlichen benutzen, das „zum guten Ton gehört“ und Teil ihrer Jugendsprache ist. Es gibt unter den Jugendarbeiter/innen allerdings unterschiedliche Einschätzungen dazu, welchen Gehalt, welche Bedeutung und welche Funktion dieses Schimpfwort für die Jugendlichen besitzt. Am weitesten verbreitet unter den Jugendlichen – und darüber besteht weitgehend Einigkeit – sind jedoch eindeutig Ressentiments gegenüber Juden/Jüdinnen, die in Verbindung mit Israel und dem Nahostkonflikt stehen bzw. auf diesen
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Konflikt zurückgeführt werden. Antiisraelische Äußerungen, die von den meisten Jugendlichen unterschiedslos auf alle Jüdinnen und Juden generell übertragen werden, kennen alle Kreuzberger Jugendeinrichtungen und alle Migrant/innenVereine, mit denen wir gesprochen haben. Der Nahostkonflikt stellt somit den wichtigsten thematischen Kontext für antisemitische Äußerungen der Jugendlichen dar. Andere Themen, die antisemitische Aussagen rahmen, sind die global politischen Verhältnisse und Konflikte, meist in Verbindung mit antiamerikanischen Haltungen. Berichtet wird von antisemitischen Verschwörungstheorien, die sowohl unter Jugendlichen als auch unter Erwachsenen verbreitet sind. Demnach sollen Juden/Jüdinnen wahlweise das deutsche Fernsehen, die USA oder gleich die ganze Welt kontrollieren, und sie werden für die unterschiedlichsten Dinge verantwortlich gemacht – vom eigenen Unglück bis hin zu den Anschlägen vom 11. September 2001 und seinen Folgen oder dem Tsunami im Jahre 2004. „Klassisch“ antisemitische Stereotype scheinen unter den Kreuzberger Jugendlichen weniger stark verbreitet zu sein. Am häufigsten wird noch das Stereotyp vom „reichen“ und „geschäftstüchtigen Juden“ genannt. Diese Zuschreibung kann auch anerkennend gemeint sein, wenn, wie uns zum Beispiel berichtet wurde, ein Jugendlicher nach einem jüdischen Studenten sucht, um mit ihm ein Internetcafé aufzumachen, weil er sich davon einen wirtschaftlicher Erfolg versprach. Interessant ist, dass religiös begründeter Antisemitismus unter den Jugendlichen eine weniger große Rolle zu spielen scheint, als dies oft vermutet wird. Zwar gibt es Jugendliche, die ihre Ablehnung gegenüber Juden und Jüdinnen religiös untermauern, diese scheinen jedoch in der Minderheit zu sein. Es überwiegen dagegen identitäre Kontexte und Begründungszusammenhänge, die mit den Themen Heimat, Herkunft und Nation verknüpft sind. Antisemitische Äußerungen der Jugendlichen bleiben in der Regel auf einer verbalen, meist wenig ideologisierten (Sprüche-)Ebene, hinter der kein großes eigenes Engagement steht. Auf Nachfrage können die Jugendlichen ihre Aussagen meist nicht näher erläutern, häufig sei ihnen auch die Bedeutung ihrer Aussagen gar nicht bewusst. Nur bei einer geringeren Anzahl scheinen sich antisemitische Einstellungen zu geschlossenen, ideologisch gefestigten Weltbildern verdichtet zu haben.
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In einzelnen Einrichtungen bzw. in ihrer direkten Umgebung gab es jedoch auch massive Beleidigungen oder gar tätliche Angriffe auf jüdische Passant/innen bzw. jüdische Einrichtungsmitarbeiter/innen. Dass dies relativ selten geschieht, ist sicherlich auch darauf zurückzuführen, dass die Jugendlichen wenig Berührungspunkte mit Juden/Jüdinnen und damit mit potentiellen Opfern antisemitischer Gewalt haben. Doch derartige antisemitische Übergriffe in den Kiezen haben dazu geführt, dass Bezirke wie Kreuzberg für manche Jüdinnen und Juden zu Angst-Räumen geworden sind, in denen sie sich lieber nicht als jüdisch zu erkennen geben wollen. Vor der Auswahl geeigneter pädagogischer Strategien sollte eine möglichst genaue Analyse der jeweiligen Zielgruppe stehen. Hier wären geeignete Kriterien und Instrumente hilfreich, deren Entwicklung eine Aufgabe für amira sein könnte. Fragen nach dem Grad der Verdichtung und Ideologisierung antisemitischer Einstellungen spielen dabei eine wichtige Rolle. Um gleichzeitig einschätzen zu können, ob und in welchem Maße die Jugendlichen bzw. ihr direktes Umfeld in antidemokratische Organisationen wie bspw. die sogenannten „Grauen Wölfe“ eingebunden sind, sind jedoch sehr umfassende und detaillierte Kenntnisse notwendig. Deshalb ist es wichtig, derartige Expertisen zu bündeln und für die Jugendarbeit nutzbar zu machen. Geschlechtsspezifische Unterschiede Antisemitismus scheint bei Jungen und Mädchen unterschiedlich bzw. unterschiedlich stark ausgeprägt zu sein – ein Ergebnis, das sich nicht nur in unserer Befragung, sondern auch in vielen Umfragen und Studien findet. Dennoch ist der Aspekt der Geschlechtsspezifik gerade in der jüngeren Forschung zu aktuellem Antisemitismus ein wenig beleuchtetes Thema. Einzelne Jugendeinrichtungen berichten zwar, dass bei ihnen Mädchen mit ähnlich aggressiven Äußerungen wie die Jungen auffallen. So gab es beispielsweise einen Vorfall, als eine Erzieherin mit einer Mädchengruppe ins Jüdische Museum fahren wollte. Bereits auf dem Hinweg riefen die Mädchen in der U-Bahn auf Arabisch „Tod den Juden“, so dass die Kollegin sich genötigt sah, die Maßnahme abzubrechen. In der Regel jedoch werden Mädchen von unseren Gesprächspartner/innen als weniger oder gar nicht antisemitisch wahrgenommen. Wenn sie sich antisemitisch äußern, dann meist weniger aggressiv als Jungen. Von einigen wird dies auf
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geschlechtsspezifische Unterschiede zurückgeführt, in denen sich eine traditionelle Geschlechterrollenverteilung widerspiegelt: Im Gegensatz zu ihren männlichen Altersgenossen seien viele Mädchen insgesamt zurückhaltender, interessierten sich wenig für Politik und hätten nicht gelernt, ihre Meinung zu äußern. Doch bedeutet dies, dass Mädchen wirklich weniger antisemitisch eingestellt sind als Jungen, oder äußern beide Gruppen antisemitische Einstellungen nur auf eine unterschiedliche Art und Weise, die ihren gesellschaftlich zugeschriebenen Rollen entspricht? Diese These, die u. a. von Birgit Rommelspacher aufgestellt wurde, finden wir überzeugend, aber am Beispiel des aktuellen Antisemitismus noch nicht ausreichend belegt. In den bisherigen pädagogischen Ansätzen zur Bearbeitung von Antisemitismus haben diese wichtigen Fragen unserer Ansicht nach zu wenig Berücksichtigung gefunden. Wir denken jedoch, dass die pädagogische Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen ein fruchtbarer Zugang auch für die Dekonstruktion von Antisemitismus sein kann. Dies bedeutet u.a., Mädchen überhaupt genauer in den Blick zu nehmen und für sie spezifische Angebote zu entwickeln. Herkunftsspezifische Einflüsse und Unterschiede In den Jugendeinrichtungen wird Antisemitismus vor allem als Problem wahrgenommen, das von Jugendlichen mit arabischem bzw. palästinensischem Hintergrund ausgeht. Unter ihnen ist das Feindbild „Israelis = Juden“ häufig stark ausgeprägt und äußert sich in Hasstiraden, die in massiven Gewalt-, Mord- und Selbstmordattentat-Phantasien gipfeln können und die wohl als die unmittelbar bedrohlichsten Manifestationen von Antisemitismus angesehen werden müssen. Türkisch- und kurdischstämmige Jugendliche dagegen, die neben arabischstämmigen Jugendlichen mehrheitlich in den Kreuzberger Clubs vertreten sind, werden von den Jugendarbeiter/innen meist als weniger antisemitisch beschrieben. Vertreter/innen von Migrant/innen-Organisationen berichten jedoch, dass Antisemitismus auch in den türkischen und kurdischen Communities verbreitet sei, wenngleich er meist nicht offen geäußert werde. Da die einzelnen, aus dem gleichen Herkunftsland bzw. der gleichen Herkunftsregion stammenden Gruppen äußerst divers sind, werden immer auch gegenteilige Einflüsse von dort benannt: bspw. Sympathie und Anerkennung für Jüdinnen und Juden von kurdischer Seite, weil diese sich in einer feindlichen arabischen
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Umwelt behauptet und erfolgreich ihren eigenen Staat gegründet hätten; traditionell gute, nachbarschaftliche Beziehungen zwischen syrischen Kurd/innen und Juden; die engen türkisch-israelischen Beziehungen auf staatlicher Ebene etc. Und auch unter libanesisch- bzw. palästinensischstämmigen Migrant/innen gibt es selbstverständlich unterschiedliche politische Positionierungen zum Konflikt im Besonderen und zu Israelis bzw. Juden und Jüdinnen im Allgemeinen. In den Jugendeinrichtungen sind die Jugendlichen-Gruppen in der Regel gemischt, woraus sich spezifische Dynamiken ergeben können: So kommt es vor, dass die antiisraelische Haltung arabischstämmiger Jugendlicher auch auf andere migrantische Jugendliche als attraktives Identitätsangebot wirkt und diese sich deshalb mit ihnen solidarisieren. Israelfeindlichkeit und Antisemitismus können so zum „gemeinsamen Nenner“ zwischen Jugendlichen unterschiedlicher Herkunft werden, die sich sonst zuweilen untereinander entlang ethnischnationalistischer Linien bekämpfen. Es wird beispielsweise aber auch beobachtet, dass in gemischten Gruppen antisemitische Äußerungen kurdischstämmiger Jugendlicher von Jugendlichen mit einem anderen Hintergrund in Frage gestellt werden. Unseres Erachtens gilt es im Hinblick auf herkunftsspezifische Einflüsse und Unterschiede einerseits, genauer zu differenzieren und keine einfachen, einseitigen Zuschreibungen vorzunehmen. Andererseits ist es wichtig, migrantische Jugendliche und Erwachsene nicht zu re-ethnisieren und allein herkunftsspezifische Einflüsse für ihre Einstellungen verantwortlich zu machen. Mindestens genauso wichtig ist es, ihre in Deutschland gemachten Erfahrungen und Prägungen sowie mögliche Wechselwirkungen mit einzubeziehen – in Bezug auf die in Deutschland geborenen Jugendlichen sollte hier der Schwerpunkt liegen. Für die Entwicklung pädagogischer Angebote bedeutet dies zum einen, die herkunftsspezifischen Faktoren in der Herausbildung des Antisemitismus zu reflektieren und zum anderen, die Heterogenität der Einflüsse und der identitären Bezüge als Ressource anzuerkennen, positive Elemente zu stärken sowie Widersprüche dazu zu nutzen, antidemokratische Einstellungen in Frage zu stellen. Dies könnten neben den bereits erwähnten ambivalenten Zugängen aus kurdischer Perspektive z.B. auch Geschichten der Rettung von Jüdinnen und Juden durch muslimische Araber/innen während der Shoah sein oder die Erfahrungen und Lebensrealitäten arabischer Jüdinnen und Juden, die auf unterschiedliche Weise von Rassismus und Antisemitismus gleichermaßen betroffen sind.
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Welche Ursachen, Einflüsse und Motive stehen hinter antisemitischen Einstellungen der Jugendlichen, und welche Funktionen erfüllen sie? Die Motivationen von Jugendlichen, sich antisemitisch zu äußern, sind vielfältig und müssen je nach Mensch und nach Situation differenziert werden. Es ist – auch für die Wahl der pädagogischen Mittel – wichtig, Folgendes zu unterscheiden: Will ein/e Jugendliche/r in bestimmten Situationen beispielsweise die – insbesondere herkunftsdeutschen – Jugendarbeiter/innen provozieren, ihre Grenzen austesten und/oder ihre Aufmerksamkeit erlangen? Kann seine/ihre Äußerung als Gesprächsaufforderung an die Umwelt verstanden werden? Oder ist es sein/ihr Ziel, andere mit verfestigten und ideologisierten Feindbildern zu beeinflussen? Nach Einschätzung unserer Gesprächspartner/innen werden antisemitische Äußerungen von den Jugendlichen häufig unreflektiert von anderen übernommen. Die wichtigste Rolle scheint dabei die Tradierung durch Eltern und Familie zu spielen. Auch Peer Groups und andere soziale Umfelder spielen bei der Vermittlung antisemitischer Haltungen eine Rolle – „es scheint hier im Kiez dazuzugehören, ein negatives Bild über Israelis und Juden zu haben“, so formuliert es ein Jugendarbeiter. Ebenso häufig wie der Einfluss der Familie werden von unseren Interviewpartner/innen antisemitische Einstellungen auf die Beeinflussung der Jugendlichen durch Medien mit antisemitischen Inhalten, insbesondere das arabische Satellitenfernsehen, zurückgeführt. Als weitere Ursache wird – allerdings weniger häufig – der Einfluss von Imamen oder Hodschas genannt. Und auch der Antisemitismus der Mehrheitsgesellschaft, vermittelt z.B. durch Lehrer/innen, wird in einzelnen Fällen als Quelle angeführt. Viele unserer Gesprächspartner/innen, insbesondere aus den Migrant/innenOrganisationen, sehen die schlechte soziale und ökonomische Stellung der Jugendlichen mit Migrationshintergrund, ihre mangelhafte Integration sowie die fehlende Chancengleichheit als wichtige, wenn nicht zentrale Ursache für antisemitische Einstellungen an. Vor diesem Hintergrund kann Antisemitismus die Funktion haben, eigene, von der Mehrheitsgesellschaft ausgehende Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen durch die Abwertung und Ausgrenzung anderer – hier: der Juden/Jüdinnen – zu kompensieren. Von einer Interviewpartnerin wurde beispielhaft eine antiislamische und rassistische Stimmung nach dem 11. September angeführt, auf die Antisemitismus eine Abwehrreaktion darstellen könne. Dass jedoch Forderungen nach Integration und Chancengleichheit die einzige Antwort auf Antisemitismus unter migrantischen Jugendlichen
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sein können, denken wir nicht – schließlich gibt es ihn ebenso unter Herkunftsdeutschen mit hohem Bildungsgrad und Sozialstatus. Die eben genannten Faktoren deuten darauf hin, dass eine weitere wesentliche Funktion antisemitischer Äußerungen die Herstellung und Stabilisierung von Identität und von Gruppenzugehörigkeit ist – sei es in einem nationalen, ethnisch-kulturellen oder religiösen Sinne. Antisemitische Einstellungen werden von den Befragten immer wieder in Verbindung mit anderen Ungleichwertigkeitsideologien gebracht: Manche Jugendliche, die antisemitische Positionen vertreten, lehnen beispielsweise generell andere Kulturen ab, tragen untereinander ethnisierte Konflikte aus, sind sexistisch und homophob. Schließlich führen verschiedene Interviewpartner/innen antisemitische Einstellungen unter den Jugendlichen auch darauf zurück, dass diese in der Regel wenig über das Judentum wissen und selbst keine Juden und Jüdinnen kennen. Somit fehle ihnen praktisch ein – im besten Fall auf eigenen Erfahrungen beruhendes – Korrektiv zu ihren Vorurteilen. Auch wenn dies von unseren Gesprächspartner/innen in der Regel nicht explizit benannt wurde, erfüllen antisemitische Einstellungen – insbesondere in Form von antisemitischen Verschwörungstheorien – eine weitere wichtige Funktion: Sie helfen dabei, sich eine immer komplexer und undurchschaubarer erscheinende Welt mit einer einfachen Antwort zu erklären: „Die Juden sind schuld“ - diese Erklärung schafft nicht nur Orientierung, Überschaubarkeit und Sicherheit, sondern bietet gleichzeitig eine Legitimation für eigene Ohnmachtsgefühle sowie die Möglichkeit, sich von der eigenen Verantwortung für eine Veränderung zumindest der persönlichen Situation zu entlasten. Uns erscheint es sinnvoll, zur Bearbeitung unterschiedlicher Erscheinungsformen des Antisemitismus unterschiedliche Ansätze und Methoden zu entwickeln. Da die verschiedenen Unterphänomene natürlich oft gleichzeitig in den Einstellungen der Jugendlichen existieren sowie einander überlagern, kann eine Kombination unterschiedlicher Herangehensweisen notwendig sein. Ebenso halten wir es für sinnvoll, für die unterschiedlichen Motive und Funktionen, die hinter solchen Einstellungen und Äußerungen stehen, unterschiedliche Bearbeitungsformen zu finden. Dies kann auch heißen, nicht direkt an den Erscheinungsformen zu arbeiten, sondern sich auf eine Bearbeitung der Motive und Funktionen zu konzentrieren.
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Bedarfe und Lösungsansätze Aus der komplexen Gemengelage der Konflikte und Lebensbedingungen migrantischer Jugendlicher ergeben sich grundsätzlich hohe Anforderungen an die Pädagog/innen, die sich bemühen, ihre Klientel darin zu unterstützen, einen Platz in der Gesellschaft zu finden und demokratische Werte zu leben. So herausfordernd diese Aufgabe ohnehin ist, so gestaltet sie sich hinsichtlich der Bearbeitung antisemitischer Einstellungen und Phänomene noch schwieriger. Kein Wunder, dass angesichts dieser Komplexität sowohl von Seiten der Jugendarbeiter/innen als auch der Vertreter/innen von Migranten-Organisationen verschiedene Bedarfe geäußert wurden: x
Interne Fortbildungen zum Themenkomplex Antisemitismus sowie zur Geschichte und Gegenwart des israelisch-palästinensischen Konflikts. x Argumentationstrainings oder Methoden wie die Kollegiale Fallberatung zur gemeinsamen Entwicklung von Handlungsstrategien – Hier kann bereits auf einen Fundus von Erfahrungen zurückgegriffen werden, die in unterschiedlichen Situationen gesammelt wurden. x Möglichst niedrigschwellige, nicht kognitive Methoden mit engem lebensweltlichem Bezug zur Bearbeitung von Antisemitismus, die zum Beispiel im Umgang mit tradierten Stereotypen oder mit (irrationalem) Hass unterstützen. x Spezifische Ansätze für den pädagogischen Umgang mit palästinensischen Jugendlichen, deren individueller und tradierter Geschichte sowie daraus erwachsenden Opferdiskursen und ihren antisemitischen Bearbeitungsformen.
Dass diese Entwicklung keineswegs bei Null anfangen muss, wird in verschiedenen Beispielen und Anregungen aus der Praxis deutlich, die von unseren Interviewpartner/innen genannt wurden. Als Maßnahmen gegen Antisemitismus, die über das Gespräch hinaus gehen, wurden handlungsorientierte Methoden empfohlen, die an jugendtypischen Interessen ansetzen und niedrigschwellig sind. Die meistgenannten Vorschläge sind – neben dem Einsatz theater-, musik- oder medienpädagogischer Methoden – dem Feld der interkulturellen bzw. interreligiösen Begegnung zuzuordnen: Muslimisch geprägte Jugendliche sollten jüdische Jugendliche kennen lernen, eine jüdische Einrichtung besuchen oder nach Israel reisen. Des Weiteren wurden Erkundungen der eigenen Lebenswelt genannt, um mit der örtlichen Vielfalt
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(auch jüdischen Lebens) vertraut zu werden, oder Besuche in KZ-Gedenkstätten, um Empathie mit Jüdinnen und Juden als ausgegrenzte und verfolgte Minderheit zu fördern. Es gibt jedoch diverse Einwände gegen die Annahme, dass Wissensvermittlung über jüdisches Leben und Begegnungen zum Abbau von Antisemitismus beitragen. Inwiefern diese Ansätze tatsächlich zum Abbau von Vorurteilen beitragen können, bleibt noch zu klären. In einem Punkt war sich ein Großteil der Akteur/innen, mit denen wir gesprochen haben, einig: um die Nachhaltigkeit aller Bemühungen zu vergrößern, ist die Einbindung der Eltern bzw. relevanter Bezugs- und Sozialisationsinstanzen unabdingbar. Hiermit verbundene Schwierigkeiten wie Zeitknappheit, andere Prioritäten, Berührungsängste und Verständigungsschwierigkeiten auf beiden Seiten sind zwar eine große, aber keine unlösbare Aufgabe, wenn nur die nötigen Zugänge geschaffen werden. Als vielversprechende Wege wurden aufsuchende Angebote genannt sowie Kooperationen mit Einflussträger/innen und Vorbildern aus dem politischen, wirtschaftlichen, religiösen, kulturellen oder sportlichen Bereich. Sehr erfreulich ist, dass die interviewten Migrant/innen-Organisationen im Rahmen ihrer Möglichkeiten durchweg Unterstützung anbieten. Politische Bedingungen für eine gelingende Bearbeitung von Antisemitismus in Kreuzberg Anerkennung und Integration Von sehr vielen Interviewpartner/innen, insbesondere von Vertreter/innen der Migrant/innen-Organisationen, wird als Grundlage für eine gelingende Bearbeitung von Antisemitismus angesehen, dass die Stigmatisierung, Ausgrenzung und Diskriminierung der migrantischen Communities benannt wird. Die Bekämpfung von Antisemitismus und anderen menschenverachtenden Einstellungen könne nur gelingen, wenn Migrant/innen nicht mehr nur als „Problemverursacher“ angesehen werden oder, wie es ein Interviewpartner ausdrückte, „als Figuren, die die Probleme lösen sollen – aber die Probleme werden nicht gemeinsam gelöst“. Die derzeitige Situation führe dazu, dass die Mehrheitsgesellschaft von vielen Migrant/innen tendenziell nicht als Dialog-Partner, sondern allein als eine gegnerische Instanz gesehen wird, die Forderungen an sie richtet. Eine Folge davon kann sein, dass auch die Schule als ein „Arm des Staates“ gesehen wird. Eine Gesprächspartnerin ging sogar soweit daraus abzuleiten, dass die Thematisierung von Antisemitismus in einer Institution wie der Schule zum Scheitern verurteilt sei. Umso wichtiger scheint vor diesem Hintergrund die Rolle von Jugendarbeit und Migrant/innen-Organisationen sein.
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Opferkonkurrenz Hier schließt an, was wir als „Opferkonkurrenz“ bezeichnen. In der Wahrnehmung migrantischer Jugendlicher (aber auch Erwachsener) gibt es eine ungleiche Behandlung von Antisemitismus und Rassismus: „Das pauschale In-SchutzNehmen von Israel und der Holocaust führen zu einer Gegenreaktion, so dass gesagt wird, warum wird immer nur das Unrecht an den Juden und nicht das Unrecht an den Palästinensern oder den Moslems zum Thema gemacht“, so ein stellvertretendes Zitat. Die Wahrnehmung von Antisemitismus und Rassismus als zwei einander gegenüberstehende Themen, deren Behandlung sich scheinbar gegenseitig ausschließt, zeigt auch, dass der Status als „Opfer“ eine Ressource im Kampf um Anerkennung und die Einforderung von Rechten ist. Werden Migrant/innen (insbesondere mit muslimischem Hintergrund) auch als Diskriminierende und nicht nur Diskriminierte angesehen, scheint dieser Status – auf einer politisch-diskursiven Ebene – infrage gestellt zu sein. Doch Opfer von Rassismus zu sein heißt nicht, dass man nicht selbst rassistisch oder antisemitisch sein kann. Wir schlagen deshalb vor, von einer Gegenüberstellung von Antisemitismus und Rassismus Abstand zu nehmen und diese stattdessen als Probleme wahrzunehmen, die alle betreffen – unabhängig von der eigenen, unmittelbaren Betroffenheit. Einen Schritt auf dem Weg dahin, diese Erkenntnis in die politische Praxis umzusetzen, würde die Entwicklung eines gemeinsam formulierten demokratischen Leitbilds darstellen, das als Basis für ein gemeinsames Vorgehen aller Akteur/innen gegen Antisemitismus und Rassismus dienen kann. Abschließende Bemerkungen Migrant/innen-Organisationen benötigen Ressourcen und Angebote Die Tatsache, dass unsere Gesprächspartner/innen aus den Reihen der Migrant/innen-Organisationen das Problem oft anerkennen, aber nicht systematisch dagegen vorgehen, hängt auch damit zusammen, dass bei den Organisationen vordringlich soziale und (aufenthalts-) rechtliche Fragen bearbeitet werden. Es ist zwar richtig zu verlangen, dass die Organisationen sich im Kampf gegen Antisemitismus engagieren. Sie benötigen dafür aber auch die entsprechenden Ressourcen sowie konkrete Kooperationsmöglichkeiten, wie amira sie im Rahmen des Projekts anbietet.
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Die Bearbeitung von Antisemitismus als Lernchance und Querschnittsaufgabe Die große Herausforderung, Antisemitismus pädagogisch zu begegnen, lässt sich auch positiv beschreiben: Antisemitismus ist ein Thema für die Jugendarbeit und andere pädagogische Kontexte, weil sich mit ihm viele andere Themen verknüpfen lassen, die für Jugendliche von Bedeutung und von Interesse sind. Einen großen Stellenwert haben hier sicherlich die komplizierten Fragen nach Identität und Zugehörigkeit, aber z.B. auch Fragen danach, wie eigentlich die globalisierte Gesellschaft funktioniert und welche Rolle der oder die Einzelne darin spielt. Und gleichzeitig bietet der Antisemitismus – wie wir schon angemerkt haben – unterschiedliche Möglichkeiten, ihn zu bearbeiten, weil mit ihm verschiedene Erscheinungsformen, Funktionen und Motive verbunden sind. Da Pädagog/innen häufig die Erfahrung machen, dass ein direktes Thematisieren von antisemitischen Einstellungen meist nicht allzu viel fruchtet, glauben wir, dass gerade bei migrantischen Jugendlichen der Umweg über die thematischen Kontexte antisemitischer Äußerungen viel versprechender ist. So könnte die Auseinandersetzung mit Antisemitismus zu einer Querschnittsaufgabe werden: Wenn qualifizierte Pädagog/innen bei der Bearbeitung unterschiedlicher Themen und in unterschiedlichen Bereichen überlegen, wie sie – dort, wo es möglich und sinnvoll ist – das Thema Antisemitismus einbinden können.
„das kommt jetzt wirklich nur aus der muslimischen Welt“. Antisemitismus bei Schülern in der Wahrnehmung von Lehrern und Schulsozialarbeitern – Zwischenergebnisse aus einem Forschungsprojekt Guido Follert und Wolfram Stender
In der explorativen Phase des noch nicht abgeschlossenen Forschungsprojekts Antisemitismus bei Jugendlichen im Kontext von Migration und sozialer Exklusion führten wir1 im Sommer 2008 sieben Gruppendiskussionen mit Jugendlichen und acht Einzelinterviews mit Lehrer/innen und Schulsozialarbeiter/innen an Haupt- und Realschulen einer norddeutschen Großstadt durch. An zwei Gruppendiskussionen nahmen jeweils 10 Schülerinnen und Schüler der Klassenstufe 6, an vier Gruppendiskussionen jeweils 8 bis 10 Schülerinnen und Schüler der Klassenstufen 9 und 10 teil. Da wir u.a. die uns plausibel erscheinende, von Barbara Schäuble und Albert Scherr vertretene These2 einer migrationsbedingten, auf unterschiedlichen Differenzkonstruktionen basierenden Pluralisierung antisemitischer Äußerungsformen im lokalen Raum empirisch prüfen wollen, wählten wir – die Künstlichkeit herkunftsbezogener Sortierungen in Kauf nehmend – die Gruppen so aus, dass sie sich nach Herkunftskontexten unterschieden (jugendliche Spätaussiedler, Jugendliche mit türkischem und arabischem Migrationshintergrund, einheimische Jugendliche). Zur Kontrastierung führten wir ein Gruppeninterview mit jugendlichen Mitgliedern der Liberalen Jüdischen Gemeinde in einer norddeutschen Großstadt durch. Die Gruppendiskussionen dauerten zwischen einer und anderthalb Stunden und fanden in den Freizeiträumen der Schulen bzw. in einem Raum der Liberalen Jüdischen Gemeinde statt; die Einzelinterviews dauerten durchschnittlich eine Stunde und wurden in den Büros der Schulsozialarbeiter bzw. in Lehrerzimmern durchgeführt. In allen Gruppendiskussionen wurde über jugendkulturelle Selbstverortungen, Zugehörigkeitsfragen, Einstellungen zu Religionen und über Diskriminierungserfahrungen an und außerhalb von Schulen gesprochen. Thema war auch, 1 2
Neben den Verf. nahmen Wibke Bremer, Gertraud Hollegha und Mihri Oezdogan an der Durchführung und Auswertung der Interviews und Gruppendiskussionen teil. Siehe dazu den Beitrag von Stender in diesem Band.
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was die Jugendlichen über Juden denken und wie sie die Bedeutung des – wie uns die Jugendlichen bestätigten – an Schulen weit verbreiteten Schimpfwortes „Du Jude!“ einschätzen. In den Gesprächen zeigte sich, dass das Sprechen über Juden zwar durchweg von antisemitischen Stereotypen durchsetzt ist, die meisten Jugendlichen diese aber eher synkretistisch und fragmentarisch reproduzierten und in der großen Mehrheit keineswegs einer konsistenten antisemitischen Weltanschauung folgten. Lediglich in einer Gruppendiskussion, die wir mit Jugendlichen aus der ehemaligen Sowjetunion führten, wurden antisemitische Positionen in brutaler Offenheit vertreten, verknüpft mit einem rigiden autoritären Konventionalismus, der auch die Äußerungen zu allen anderen Gesprächsthemen strukturierte. Die – mit wenigen Ausnahmen – in Deutschland geborenen Jugendlichen mit türkischem und arabischem Herkunftshintergrund wie auch die autochthonen Jugendlichen bewiesen demgegenüber eine deutlich höhere Sensibilität für die offiziellen anti-antisemitischen Kommunikationsregeln, was sich u.a. in einem beim Thema „Juden“ eher ausweichenden und abwehrenden Gesprächsverhalten zeigte. Die jugendlichen Mitglieder der Liberalen Jüdischen Gemeinde – mehrheitlich Kinder sogenannter jüdischer Kontingentflüchtlinge3 – berichteten über antisemitische Diskriminierungserfahrungen an Schulen, betonten allerdings, dass Diskriminierungen eher selten von den „muslimischen“ Mitschülern ausgingen. Diese wurden, vermittelt über den gemeinsamen Migrantenstatus und den damit verknüpften Ausgrenzungserfahrungen, eher als „Verbündete“ wahrgenommen. Wenn es zu antisemitisch motivierten Diskriminierungen an Schulen komme, dann – so berichteten uns diese Jugendlichen – durch autochthone, meistens extrem rechts orientierte Mitschüler oder durch Lehrer. Augenfällig war die Diskrepanz zwischen den Wahrnehmungen der Schüler und denen der Lehrer und Schulsozialarbeiter. Während in allen Gruppendiskussionen von antisemitischen Vorfällen (z. B. Angriffe auf jüdische Mitschüler, antisemitische Schmierereien, pronazistische Äußerungen von rechtsextrem orientierten Schülern, Ärger mit den Lehrern wegen antisemitischer Äußerungen im Unterricht, antisemitische Äußerungen von Lehrern gegenüber jüdischen Mitschülern) und der häufigen Verwendung des Schimpfworts „Du Jude!“ an den Schulen berichtet wurde, lassen sich bei den von uns interviewten Lehrern und Schulsozialarbeitern zwei Darstellungsstrategien unterscheiden. Entweder bestritten sie, dass es antisemitische Äußerungen bei Schülerinnen und Schülern überhaupt gibt, und verneinten auch, dass das Schimpfwort „Du Jude!“ im Sprachgebrauch der Schüler vorkommt („’Du Jude!’ habe ich noch nicht gehört. Ich wüsste auch gar nicht, ob wir hier irgendwelche Juden haben.“, „’Du Jude!’ gibt es hier nicht, aber ‚Du Christ!’ – das höre ich als Schimpfwort.“ u.ä.). Oder 3
Zur jüdischen Migration aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland vgl. Kessler 2003.
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sie reagierten in spezifischer Weise alarmistisch, indem sie den Antisemitismus als ausschließliches, allerdings hoch virulentes Problem der „muslimischen Schüler“ darstellten. Auffällig war dabei, dass die eher zu autoritären Optionen an ihrer Schule neigenden, die „Überfremdung“ der Schule beklagenden Lehrer die bagatellisierende Darstellungsvariante vertraten, während die sich selbst als „weltoffen“ und „interkulturell engagiert“ präsentierenden Lehrer und Schulsozialarbeiter die alarmistische Variante verfolgten und dabei die massenmediale Inszenierung eines „muslimischen Antisemitismus“ z. T. bis in einzelne Formulierungen hinein alltagssprachlich reproduzierten.4 In der folgenden Analyse von Sequenzen aus zwei Interviews wird dies sehr deutlich. Die Vermutung, dass das dichotomische, den Antisemitismus auf die als muslimisch „Geanderten“5 projizierende Deutungsmuster der – wie wir sie nennen möchten – „engagierten Alarmisten“ auch die Funktion einer entlastenden Erfahrungsabwehr übernimmt, bestätigt sich, wenn man es – wie wir es abschließend tun werden – mit antisemitischen Äußerungen aus einer Gruppendiskussion mit nicht-muslimischen Schülern und Schülerinnen konfrontiert.
„wissen wir schon gar nicht mehr, wie wir hinterherkommen sollen.“ Interview mit der Schulsozialarbeiterin O. Zum Zeitpunkt des Interviews arbeitet O. seit einigen Jahren als Schulsozialarbeiterin an einem Haupt- und Realschule umfassenden Schulzentrum einer norddeutschen Großstadt. Der Anteil an Kindern und Jugendlichen mit sog. Migrationshintergrund an der Schule liegt zwischen 60 und 70 Prozent. Der folgenden Sequenz sind Ausführungen zu den Arbeitsfeldern und zum spezifischen Kompetenzprofil der Schulsozialarbeit an Hauptschulen sowie zu jugendkulturellen Ausdrucksformen an der Schule und im Stadtteil vorausgegangen. Die Sequenz beginnt mit der Frage des Interviewers nach politischen Äußerungsformen von Jugendlichen an der Schule. Er verweist dabei auf extrem rechte jugendkulturelle Gruppierungen in einem angrenzenden Stadtteil, auf die auch O. an anderer Stelle des Interviews bereits hingewiesen hat. O. bestätigt dies, betont allerdings, dass an ihrer Schule rechtsextreme Äußerungsformen keine Rolle 4
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Dies sticht ins Auge, wenn man die Darstellungen der „engagierten Alarmisten“ mit Beiträgen aus Printmedien zum Thema „muslimischer Antisemitismus in Deutschland“ vergleicht, z.B. mit dem in Spiegel-SPECIAL im Frühjahr 2008 erschienenen Beitrag ‚Die Juden auslöschen’ Hasspropaganda im Namen des Islam: Schon Kleinkinder werden indoktriniert von Matthias Küntzel. Es handelt sich hier um Prozesse des „Othering“ in der pädagogischen Praxis; die Jugendlichen werden durch kulturalisierende, genauer: muslimisierende Zuschreibungen zu „Anderen“ gemacht; das hässliche Wort des „Geanderten“ soll dies zum Ausdruck bringen; vgl. Kalpaka 2009.
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spielten. Zwar höre sie in den höheren Klassen schon einmal gegen „Ausländer“ gerichtete „Sprüche“ von Herkunftsdeutschen. Dies sei „aber eher selten“, „weil wir da ja auch gegen vorgehen“ – eine Formulierung, die O. so oder ähnlich im Gespräch mehrfach benutzt und die ihr hohes Engagement für eine demokratische Schulkultur unterstreicht. Um die Frage des Interviewers zu beantworten, nimmt O. dann zunächst eine Präzisierung vor: „Politisch, also äh würd ich sagen, sind jetzt die Aussagen nicht un(-) nicht von den Jugendlichen, den Kindern und Jugendlichen, aber sie haben ja alle nen politischen Hintergrund. Also wenn die mir sagen, äh: Die Amerikaner sind scheiße, weil die jetzt irgendwie im Nah(-) ähäh im Irak eingefallen sind, oder so. Und der ... die ganzen, da hatten wir ja ganz... Also in der Zeit hatten wir richtig viele Konflikte. Weil die einfach sich alle bedroht gefühl-. Die haben alle was gegen Moslems und so, also das war ganz schlimm.“
Mit der Präzisierung „nicht politisch, sondern politischer Hintergrund“ wird zugleich eine Differenzlinie zwischen „Wir“ und „Die“ gezogen und der Fokus auf eine bestimmte Gruppe von Schülern gerichtet. Bleibt beim „Wir“ zunächst offen, wer genau gemeint ist – die Gruppe der Schulsozialarbeiter? die Gruppe der Schulsozialarbeiter und der Lehrer? die Gruppe der Herkunftsdeutschen an der Schule? die Gruppe aller Nicht-Muslime an der Schule? –, wird die Fremdgruppe klar markiert: „Weil die einfach sich alle bedroht gefühl-. Die haben alle was gegen Moslems und so.“ Gemeint sind nicht die „Kinder und Jugendlichen“ der Schule insgesamt, sondern die aus O.s Sicht „muslimischen“ Kinder und Jugendlichen. „Wir“ hatten „richtig viele Konflikte“, weil „die“ sich „alle“ bedroht fühlten. Der Anlass dieses Bedrohungsgefühls der Fremdgruppe wird ebenfalls benannt. Es ist der Krieg zwischen dem Irak und den USA. Vor dem Hintergrund des Irakkriegs nimmt O. eine Gruppenbildung innerhalb der Schülerschaft wahr, die durch eine starke Gefühlsbindung an den Irak gekennzeichnet ist. „Alle“ „muslimischen Kinder und Jugendlichen“ an ihrer Schule identifizieren sich mit dem „Irak“ und geraten aus Anlass des Krieges in eine affektive Regression, die zu einem partiellen Realitätsverlust führt: Als der Irak von den USA angegriffen wurde, „fühlten“ „die“ sich „alle“ „bedroht“, obwohl sie doch objektiv gar nicht bedroht waren. Deutlich wird, dass die Dichotomisierung von Eigen- und Fremdgruppe bei O. entlang des Gegensatzpaars muslimisch und nicht-muslimisch verläuft. Die Fremdgruppe wird mit dem Etikett „muslimisch“ markiert, und wenn man bis zu dieser Stelle irgendetwas über die Wir-Gruppe sagen kann, dann eben, dass sie nicht muslimisch ist. O. betont im Weiteren, dass dies die eigentlichen „politischen Themen“ an der Schule sind. Tatsächlich aber hat sie bisher nur ein Thema angesprochen: den anlassbezogenen Anti-Amerikanismus der „muslimischen“ Schüler und Schülerinnen. Sie fährt dann mit einem zweiten Beispiel fort:
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„Ähm, das sind politische Themen, die sich äußern. Wir hatten dann das jetzt gerade vor ein paar Monaten ganz stark, als die Türkei in ... nach Kurdistan – wie auch immer, wenn’s das nun auch nicht gibt, heißt es ja so – äh, äh eingefa(-), ja es gibt es ja, im Grunde sind sie ja einmarschiert noch mal. Und da gab es ganz viel Hass und Wut. Und die gucken zu Hause ja diese Nachrichtensender, die ganze Zeit halt auf arabisch, also die gucken ja Al-Dschasira.“
Es geht jetzt um Konflikte zwischen Schülern mit türkischem und kurdischem Herkunftshintergrund aus Anlass der Militärschläge der Türkei gegen die kurdische Unabhängigkeitsbewegung im Herbst 2007. Auf den ersten Blick unvermittelt schließt sich die Aussage an, dass „die“ „zu Hause“ „die ganze Zeit“ „diese Nachrichtensender“ „auf arabisch“ schauen. Was haben die „arabischen Nachrichtensender“ mit dem Konflikt zwischen „türkischen“ und „kurdischen“ Schülern in Deutschland zu tun? Da kaum anzunehmen ist, dass diese Schüler alle „arabisch“ sprechen, und da auch nicht anzunehmen ist, dass O. nicht weiß, dass „türkische“ und „kurdische“ Schüler eher selten über diese Sprachkompetenz verfügen, handelt es sich hier um eine Fehlleistung von hoher Aussagekraft. In ihr tritt die muslimisierende Logik in O.s Rede zum ersten Mal deutlich hervor. Die Botschaft lautet: Es ist die Propaganda der arabischsprachigen Nachrichtensender – namentlich Al-Dschasiras, eines Senders also, der in der westlichen Öffentlichkeit ein stark anti-amerikanisches und pro-islamistisches Image hat –, die in den „muslimischen“ Familien „den Hass und die Wut“ schürt, und dieser „Hass“ wird dann von den „muslimischen“ Kindern und Jugendlichen in die Schule getragen, und deshalb haben „wir“ hier „richtig viele Konflikte“. Durch die mittels der „arabischen Nachrichtensender“ manipulierten und aufgehetzten „muslimischen“ Schüler – gleichgültig ob „türkisch“ oder „kurdisch“ – dringt eine fremde und gefährliche Macht in „unsere“ Schule ein, der „wir“ wenig entgegenzusetzen haben, weil sie sich „unserer“ Kontrolle entzieht. Als der Interviewer – die Inkonsistenz in O.s Rede aufgreifend – fragt, wer da die ganze Zeit arabische Nachrichtensender schaue, erläutert O.: „Also die Araber bei uns gucken, aus Libanon hatten wir viele. Da war auch ... als in Libanon Krieg war, waren die auch alle durch den Wind und äußern das auch, ne.“
„Die alle“ – das sind für O. „Türken“, „Kurden“ und nun auch noch „Araber“, also Großgruppen unterschiedlicher Herkunft und mit ganz unterschiedlichen Zugehörigkeitsbezügen, die aber von O. einem Oberbegriff untergeordnet werden: die „muslimischen Kinder und Jugendlichen“. Ungeachtet der Frage, ob die herkunftsbezogenen Zuschreibungen, die O. vornimmt, zutreffend sind – die meisten „muslimischen“ Schüler, von denen O. spricht, sind in Deutschland geboren und aufgewachsen und antworten, wie wir in den Gruppendiskussionen erfahren konnten, auf Herkunftsfragen keineswegs eindeutig –, lokalisiert O. das „Zuhause“ dieser Schüler nicht dort, wo sie zumeist geboren sind und wohnen
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und leben, sondern weit außerhalb von Deutschland. Auf die Frage des Interviewers, was diese Kinder denn äußern, sagt sie: „Ja, dass sie Ängste haben um ihre, um ihr Zuhause, ne“. Hier ist es nicht der Irakkrieg und auch nicht der türkisch-kurdische Konflikt, sondern der Libanonkrieg im Jahr 2006, der O. vor Augen steht. Und doch sind es wieder „die Amerikaner“, die laut O. von den „muslimischen“ Schülern als Schuldige ausgemacht werden: „aber dann sagen die: Hätten die Amerikaner da und da nicht das gemacht, dann wär das jetzt gar nicht so weit gekommen“. Da es sich tatsächlich aber um einen Konflikt zwischen der Hisbollah und Israel und nicht den USA handelt, fragt der Interviewer, ob sich die Abneigung der Schüler auch gegen Israel richtet. Und genau an dieser Stelle scheint er einen Nervenpunkt bei O. getroffen zu haben: „Israel, Juden, oh Gott, ganz bö-, oh, ganz böse, da“, bricht es aus ihr heraus. Was da so „ganz böse“ ist, erläutert O. sodann am Beispiel einer Schülerin, die als kleines Kind mit ihren Eltern aus dem Libanon nach Deutschland gekommen ist und die O. „eigentlich total super“ findet: „Also, da, da ist eine Schülerin, die ich absolut schätze, die trägt auch Kopftuch und ist ... streng arabisch, mus-, Liban(-), also muslimisch erzogen, aus dem Libanon. Und die find ich eigentlich total super, aber. Die macht alles mit, ist engagiert, macht alles mit, ja. Und die ... ist, die will sich auch befreien von Zuhause langfristig.“
Genau dieser „Befreiungswille“, der sich gegen die „strenge muslimische Erziehung“ richtet, macht sie für O. so sympathisch. Die Schülerin hat bereits jetzt Eigenschaften aus O.s Wir-Gruppe angenommen. Sie macht alles mit und ist engagiert. „Langfristig“, so die Prognose, wird sie sich „von Zuhause befreien wollen“. Und doch gibt es da einen Irritationspunkt, an dem sich ein Abgrund zwischen O. und der Schülerin auftut: „Aber die hat ... im Unterricht, da hab’ ich es das erste Mal mitbekommen, weil mir das eine Lehrerin gesagt hat, mal gesagt: ‚Ich würde mich auf jeden Fall umbringen, also Selbstmordattentat machen, also für mein Land.’ Und das fand ich schon mal erschreckend.“
Erschreckend sind für O. die zwei Gesichter der Schülerin. Einerseits ist sie engagiert, aktiv und offen, dann aber entpuppt sie sich als fanatische potentielle Selbstmordattentäterin mit antisemitischem Motiv. „Und dann hat die mal bei uns gesessen, gesessen im Büro und dann sagte sie irgendwie lax, irgendwas war mit den ... also das Schimpfwort Jude gibt es bei uns, wird auch von Teilen immer öfter benutzt, finde ich und äh da müssen wir .. also wissen wir schon gar nicht mehr, wie wir hinterherkommen sollen. Also außer, dass wir mal in ne Klasse gehen und übers Thema reden. Viele wissen auch in der Fünften noch gar nicht, warum das jetzt ein Problem ist, Jude zu sagen so als Schimpfwort.“
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Wieder nimmt die Rede eine assoziativ-sprunghafte Dynamik an. Bei dem Versuch, auf die Frage eine Antwort zu finden, was bezogen auf Israel an ihrer Schule so „ganz böse“ ist, erinnert sich O. an eine für sie besonders erschreckende Aussage einer „muslimischen“ Schülerin, unterbricht sich dann aber mit der dramatischen Zuspitzung: „also das Schimpfwort Jude gibt es bei uns“, und zwar in einem Maße, dass „wir schon gar nicht mehr wissen, wie wir hinterherkommen sollen“. Wie schon bei der von außen in die Schule eindringenden Macht mit Namen Al-Dschasira scheinen die Schulsozialarbeiter nun auch von der rasanten Verbreitung des Schimpfwortes „Du Jude!“ überrollt zu werden, ohne noch zu wissen, wie sie die Kontrolle über das Geschehen wieder zurückgewinnen können. Es scheint sich da etwas zu verselbständigen, auf das die Schulsozialarbeiter noch keine Antwort gefunden haben. „Ich hab das Gefühl, dass, wenn man nicht aufpasst, (...) dass sich das auch verselbständigt. Weil ich’s jetzt immer öfter gehört hab. Das hab ich vor ein paar Jahren nicht gehört. Und das kann mit diesen Konflikten, denk ich schon ... ich glaube nicht, dass das zurückzuführen ist auf unsere Vergangenheit so direkt, sondern dann doch eher auf das Problem zwischen Israel und, und, äh, und den, äh, Palästina und, äh, so. Denk ich mal.“
Und dieses „das“, was sich da „verselbständigt“, begegnet O. auch in der „muslimisch erzogenen“ Schülerin in aufreizender Art und Weise, wie sich im Weiteren zeigt. O. kommt wieder auf die ihr durch eine Lehrerin übermittelte Aussage zurück, dass sich die Schülerin „auf jeden Fall“ für ihr Land in Form eines Selbstmordattentats umbringen würde: „Und die hat dann bei uns gesessen, haben wir mit ihr darüber geredet, ... und haben wir gesagt: ‚ja, das mit den Juden, das ist jetzt natürlich ein Problem, das kann man ... Du weißt ja, die Vergangenheit und damals mit Hitler.’“
Um der Schülerin klar zu machen, warum ihr bis zum Selbstmord reichender Wille, für „ihr Land“ gegen Israel zu kämpfen, ein Problem sei, thematisiert O. nicht etwa den Nahostkonflikt, sondern rekurriert auf die deutsche „Vergangenheit und Hitler“. Die Schülerin reagiert darauf in einer Weise, die sie für O. eigentlich ja gerade sympathisch macht: mit einer Provokation. Bei dieser Provokation allerdings ist für O. Schluss mit dem sonst von ihr emphatisch vertretenen pädagogischen Anspruch, ein gleichberechtigtes Miteinander zwischen Schülern und Sozialpädagogen zu praktizieren: „Da sagt sie: ‚Ja, hat Hitler gut gemacht.’ Und dann haben wir gesagt: ‚Moment mal, ne, Punkt, Punkt, Punkt, so das kannste hier so überhaupt nicht.“ O. greift zum Mittel der klaren Grenzsetzung, die allerdings – nach allem, was bisher gesagt wurde – sich keineswegs nur auf die pronazistische und offen antisemitische Provokation der Schülerin bezieht: „Punkt, Punkt, Punkt.“ Endlich muss hier einmal ein „Punkt“ gesetzt werden
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gegen den durch Al-Dschasira von früh bis spät geschürten „Hass“, gegen die rasante Verbreitung des Schimpfworts „Du Jude!“ und gegen die zum Selbstmordattentat bereite Feindschaft gegen Israel. O. bietet hier ihre ganze Positionsmacht gegenüber der Schülerin auf, um der anti-antisemitischen Norm deutscher Nachkriegsdemokratie noch einmal Geltung zu verschaffen, wohlwissend, dass sie längst nicht mehr die Kontrolle über das Geschehen hat: „wissen wir schon gar nicht mehr, wie wir hinterherkommen sollen“. Doch O. findet – zumindest in diesem Gespräch – einen Weg, wie sie das Heft des Handelns wieder in die Hand bekommt. Sie wechselt das Thema: „Solche Themen kommen schon an, klar. Also nur nicht so oft, und diese Kinder, die jetzt diese Sprüche machen: Du Jude ... oder die ... wir arbeiten das in einer Klasse auch grade auf mit diesen Bozkurts und den Türken.“
Wieder ist die Rede merkwürdig inkonsistent. Was arbeitet O. da mit den Schülern auf? Ist es die Bedeutung des Schimpfworts „Du Jude!“, die sie am Beispiel der „Grauen Wölfe“ (Bozkurtlar) thematisiert? Sind es die Schimpfwörter von „türkischen Kindern“ gegenüber „kurdischen“ Mitschülern, die sie aufarbeitet? Dies bleibt unklar. Für O. in ihrer Rolle als Schulsozialarbeiterin aber ist der Sprung in dieser Sequenz von fast existenzieller Qualität. Nur durch ihn nämlich gelingt es ihr, Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen. Im Unterschied zu dem in O.s Wahrnehmung um sich greifenden „muslimischen Antisemitismus“ an ihrer Schule weiß sie für den türkisch-kurdischen Konflikt, was zu tun ist – auch wenn der Ansatz interkultureller Pädagogik, den sie hier präsentiert, etwas hausbacken daherkommt: „Also, wir wollen da einen Türk(-), also meine türkische Kollegin, die sucht jetzt einen Kurden, und wir wollen zusammen da reingehen ... und wir machen aber jetzt noch mal interkulturelles Frühstück, das jeder von seinem Land erzählt.“
Nimmt man die gesamte Sequenz, so wird das Deutungsmuster erkennbar, in dem sich O.s Rede organisiert. Auffallend war zunächst, dass O. bei der Frage nach politischen Äußerungsformen aus der Gesamtheit aller Schüler und Schülerinnen nur eine Gruppe einfällt: die „muslimischen Kinder und Jugendlichen“. Ihnen schreibt sie zunächst anti-amerikanische und dann auch antisemitische Äußerungen in erheblichem Umfang zu: „Israel, Juden, oh Gott, ganz bö-, oh, ganz böse da.“ Damit einher geht eine klare Dichotomisierung. Die muslimischen Schüler sind nicht Teil der Eigengruppe, sondern bilden eine Fremdgruppe. Während für die Eigengruppe ein geschichtlich belehrter anti-antisemitischer Konsens grundlegend ist, den es im Konfliktfall zu verteidigen gilt, tragen die „muslimischen“ Schüler einen Antisemitismus in die Schule, der mit dem Nah-
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ostkonflikt zu tun hat. Wir haben es nach O. mit einem Antisemitismus zu tun, der von außen kommt. Er wird über arabischsprachige Massenmedien – „die ganze Zeit Al-Dschasira“ – in die Haushalte der „muslimischen Familien“ getragen, und die „muslimischen Kinder“ tragen ihn dann weiter in die Schule. Mit diesem schlichten Erklärungsmodell erweist sich O. als gut informierte Schulsozialarbeiterin. Sie hinterfragt nicht die aus Anlass weltpolitischer Ereignisse forcierten Fremd- und Selbstethnisierungen der Schüler, sondern gibt das alltagssprachlich wieder, was ihr durch die Medien, aber auch durch Teile der pädagogischen Fachliteratur vorgegeben wird: das kulturalisierende Deutungsmuster eines „muslimischen Antisemitismus“ schon bei Kindern und Jugendlichen. Durch dieses die Realität verzerrende Deutungsmuster kommt wieder Ordnung ins beängstigende Durcheinander des „globalisierten Klassenzimmers“ (Fechler).
„das kommt nicht von Deutschen, ne gar nicht, also das ist gar kein Thema, das kommt jetzt wirklich nur aus der muslimischen Welt.“ Interview mit der Lehrerin A. Frau A. arbeitet zur Zeit des Interviews seit drei Jahrzehnten als Lehrerin an der Schule, an der auch die Schulsozialarbeiterin O. tätig ist. Die beiden Interviewer sprechen mit A. zunächst über das spezifische Kompetenzprofil von Lehrern an Hauptschulen, fragen dann nach den aktuellen Herausforderungen an der Schule, nach jugendkulturellen Ausdrucksformen, auch nach der Verbreitung und Bedeutung des Schimpfworts „Du Jude!“. Ihre Schule, so berichtet A., sei „im Grunde so eine typische Vorstadtschule“: „Hoher Prozentsatz an Ausländern, aber oder ehemals, also mit Migrantenhintergrund, aber viele, die hier leben, haben schon so ‘nen sozialen Aufstieg äh genommen. Das heißt, es wird hier sehr viel gebaut von Türken, von ähm russisch, ehemals russischen Mitbürgern ähm, also wir haben ganze Siedlungen hier.“
Der „soziale Aufstieg“ der „Türken“ oder „ehemals russischen Mitbürger“ mache sich auch bei den Schülern in positiver Hinsicht bemerkbar. „Also ich kenne Schulen, da wird anders gesprochen, da wird anders mit den Lehrern umgegangen.” Allerdings müsse insgesamt festgehalten werden, dass „die Hauptschule auch sozial immer mehr eingeknickt ist”. Gerade diese sozial eingeknickte Schulform verlangt den Lehrenden viel ab; dies zumal, da Politik und auch institutionalisierte Wissenschaft keine wirksame Unterstützung bieten. „Also ich denke, gerade an der Hauptschule muss man, ähm – ja, ne Begabung mitbringen, Lehrer zu sein.” Hinzu kommen neben dem fachlichen Wissen unverzichtbare sozi-
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alpädagogische und insbesondere interkulturelle Kompetenzen, welche allerdings im Bildungsgang zum Hauptschullehrer wenig oder gar nicht vermittelt werden. Die lange Berufserfahrung von A. sei ihr entscheidender Vorteil. Durch die Praxis sei sie interkulturell kompetent geworden: „In den Jahren, einfach, ich bin zweiunddreißig Jahre an der Schule, und das ist natürlich nen Vorteil. Es wurden immer mehr Schüler, die von außen kamen, und ich hab natürlich auch dadurch ja einfach mehr gewusst wie, ich bin langsam da reingewachsen. Aber wenn jetzt einer von draußen kommt, der sich jetzt selber nie mit anderen Kulturen auseinander setzen musste, ist das ausgeschlossen. (...) Also ich muss einfach verstehen, was andere Völker und andere Kulturen, äh, für eine Messlatte haben, um miteinander umzugehen. Das heißt: Stolz, das ist Respekt, das ist auch Umgang Frauen/Männer, Umgang mit Hierarchien.“
Aufgrund ihrer reichen Erfahrung und „vielleicht ‘nen bisschen Mut und Selbstbewusstsein“ sei sie auch weiterhin in der Lage, den Kontakt zu den „von außen“ gekommenen Familien zu wahren bzw. mühsam und gegen Widerstände aufzubauen. Anders als viele Kollegen tätige sie noch „typische Hausbesuche“ und habe keine „Angst, in die Familien zu gehen“. Deutet sich schon in dieser Passage die stark kulturalisierende Wahrnehmungsform von A. an, so ist es für den weiteren Verlauf des Interviews überaus charakteristisch, dass für die Beschreibung der gegenwärtigen Situation an der Schule die Vielfalt der sozialen und kulturellen Herkunftsbezüge der Schüler und Schülerinnen so gut wie keine Rolle spielt. Vielmehr manifestiert und intensiviert sich sukzessive eine monotone dichotome Struktur, welche der deutschen Eigengruppe die „ganz andere Welt“ zuerst der „Türken“ und schließlich der auch diese einbegreifende der „Moslems“ gegenüberstellt. Und deutlich wird auch, dass A.s angstfreie Expeditionen in jene „ganz andere Welt“ in Form von „typischen Hausbesuchen“ wie auch ihre Wahrnehmung der Schüler und Schülerinnen durch ein Set eng umrissener Klischees strukturiert sind. Fragen der Interviewer nach besonderen gegenwärtigen Problemlagen an der Schule werden von A. konsequent mit Verweis auf eine spezifische Fremdgruppe beantwortet. Typische Konflikte in der Zusammenarbeit mit den Familien der Schülerschaft? „Es gibt mit türkischen Eltern Konflikte, die typisch sind (...).“ A. situiert ihre umfangreiche und exzeptionelle Arbeit mit den Familien in einem problematisch-widersprüchlichen Gelände. Einerseits sei es möglich, produktiven Kontakt insbesondere zu den Müttern herzustellen: „Hab ich aber die Frau erwischt, hab ich mich mit der irgendwo geeinigt, und wenn es über die Küche, über das Essen ist, dann hab ich den Vater auch, dann werd’ ich auch eingeladen zu Hause.“
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Andererseits fehlt das Potential für Kooperation und Integration auf Seiten der „türkischen“ Mütter oftmals ganz, da Analphabetismus und familiäre Kasernierung dieser Mütter dominieren: „Da kommen Mütter, die können nicht lesen und nicht schreiben. Sehr viel haben wa diese Mütter hier.” Auch die Frage nach auffälligen Entwicklungen von Jugendstilen und Jugendkulturen bei den Schülern wird mittels der gleichen speziellen Ethnisierung beantwortet. Da ist zunächst die Sprache: „Also einmal ähm muss man einfach mit der Sprache beginnen. Die Sprache hat sich vereinfacht, und wir sagen immer, es ist ähm son Türkenjargon geworden.“ Liquidation von Artikeln, verschlechternde Modifikation der Grammatik: „So [lacht] entsteht eine andere Sprache. (…) und das Irre ist, dass ähm die deutschen Kinder auch diese Sprache aufnehmen und als Slang benutzen.“ Dieses „Irre“ wird allerdings auf Seiten der deutschen Kinder auch als adoleszente „Kreativität“ ausgewiesen, als ein „bisschen kreativ[er]“ Versuch, sich von der Elterngeneration abzugrenzen, verlangt aber dennoch nach andauernden korrektiven Interventionen der Lehrerin. Zum anderen die „Mode“: Es sind „zum Beispiel türkische Schüler, die so extreme Mode eher aufnehmen, eher annehmen. Also die Mädchen figurbetonter hier in der Schule erscheinen, was sie ja später nicht mehr dürfen, aber die Jungen also dies, diese Käppi und Rambo ähm Outfits haben.“
Mit dem Rambo-Outfit der türkischen Jungs korrespondiert – im Zuge der Einführung des zentralen ideologischen Etiketts „muslimisch“ in die Narration – das von A. als demonstrativ sexuell bis tendenziell sexuell-aggressiv und „unheimlich“ geschilderte Outfit der „Mädchen aus muslimischen Ländern“. Einmalig erfolgt hier eine Differenzsetzung in Form eines gegenwartsbezogenen Vergleichs der „muslimischen“ Mädchen mit den ebenso konsequent als „russisch“ markierten Mädchen: „Manche sind mit Kopftuch auch sehr körperlich, andere haben dadurch natürlich dann auch noch, noch unheimlich enge T-Shirts, unheimlich ausgeschnitten und bauchfrei, Absätze und ähm stark Augen geschminkt. [Dagegen] sind diese russischen Mädchen, die kommen und sind sehr schick gekleidet oder haben ne, ne körperliche Ausstrahlung, aber haben nicht dieses, ja, wie soll ich mal sagen [lacht], jetzt fällt mir der Ausdruck schwer [lacht], ist nicht so’n anbaggern.“
Bei den „russischen Mädchen“ dominiere vielmehr eine passivische und bittendeinladende „Ausstrahlung“, „ja, es ist einfach so’n präsent sein und guckt mich mal an, ich bin schön“. Die aktive bis aggressive Darstellung „muslimisch“weiblicher Körperlichkeit als erster und zweiter Haut hingegen wirkt – analog dem „Türkenjargon“ – inhibitiv bis massiv störend in die Schule hinein: „Die anderen, die so, ooch, man kriegt sie ja auch gar nicht im Unterricht zur Arbeit.”
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Eine schubartige Intensivierung und Radikalisierung erfährt die muslimisierende Fremdgruppenkonstruktion, die hier aufgewachsene Jugendliche um keinen Preis als hiesige Jugendliche zu akzeptieren vermag, als das Gespräch sich dem Thema eventueller antisemitischer Enunziationen in der Schülerschaft zuwendet. Ja, es gebe Antisemitismus an der Schule, und er sei präzise verortbar. Zur Gruppe der „Moslems“ gehöre der Antisemitismus als Exklusivmerkmal: „das kommt nicht von Deutschen (aha), ne gar nicht, also das ist gar kein Thema, das kommt jetzt wirklich nur aus der muslimischen Welt.“ Wie schon die Schulsozialarbeiterin O. nimmt auch die Lehrerin A. Antisemitismus als eine Gefahr wahr, die wie die „Moslems“ von außen kommt, ja genauer: von den „Moslems“ „in unsere Welt“ hineingetragen wird. Auffallend ist an dieser Stelle das Hinübergleiten von der Institution Schule zu überinstitutionellen Kollektivkategorien. A. redet zuerst von „den Deutschen“ und „der muslimischen Welt“ – womit einerseits sowohl die „deutschen“ Jugendlichen als auch die „Deutschen“ überhaupt im Sinne der Mehrheitsgesellschaft gemeint sein können, andererseits die „muslimischen“ Schüler und deren Familien, aber auch „Muslime“ überhaupt – und übernimmt sogleich das Konstrukt eines Antisemitismus, der zum Wesensmerkmal des Islam avanciert. Die situative Doppeldeutigkeit der Rede von den „Deutschen“ und der „muslimischen Welt“ bezieht an dieser Stelle das sprechende Subjekt, also A., in die Zu- bzw. Abschreibungen von Antisemitismus mit ein. Diese hinsichtlich der Mehrheitsgesellschaft, der „deutschen“ Schülerschaft und implizit dem sprechenden Subjekt externalisierende Problemwahrnehmung wird im nächsten Satz sofort wieder auf schulisches Terrain refokussiert. Der Antisemitismus an der Schule erscheint als der der „muslimischen“ Schüler und stellt ein unifizierendes Band unter den als „muslimisch“ klassifizierten Subgruppen dar: „Ob das Türken sind, ob das ähm ganz schlimm bei den Libanesen, ganz schlimm bei den Irakern, also, aber Libanesen find ich eigentlich noch stärker. Aber sind sich alle ganz einig, dass se ‘nen Problem mit den Juden haben, unreflektiert, die wissen gar nicht, was dahintersteht. Das wird so übernommen von den Eltern, die im Grunde auch nicht, nicht ahnen, aber die sehen natürlich auch ihre Sender ... Al-Dschasira. Und da wird ja starke Hetze betrieben”
Ähnlich wie in der Darstellung der Schulsozialarbeiterin O. haben wir es laut Lehrerin A. mit einem von arabischen Massenmedien via Familie in die „muslimischen“ Schüler eingepflanzten Antisemitismus zu tun. Hinzukommt bei A. das Verführungsmotiv: weder die „muslimischen“ Schüler noch deren Eltern wissen, „was dahintersteht“. „Im Grunde“ sind sie Opfer einer permanenten Propaganda: „Es ist ja ne Propaganda, die funktioniert. Also diese Sender, diese arabischen Sender werden ja nur gesehen, ne. Das darf nicht verkannt werden. In der ganzen Familie läuft der Sender von früh bis spät.“
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Wie eine Reminiszenz an die exkulpative Legende vom Volksempfänger, der in jedem deutschen Haushalt die NS-Propaganda in die ahnungslosen Köpfe der Volksgenossen brachte, liest sich diese Passage. Die angebliche antisemitische Aggression der „muslimischen“ Familien wird auf die unheimliche Macht des arabischen Propagandasenders zurückgeführt – „der Sender läuft von früh bis spät“ – und enthebt so die manipulierten Schüler wie Eltern der Verantwortung – „die wissen gar nicht, was dahintersteht“. Was dahintersteht, bleibt allerdings auch bei A. im Dunkeln. Auf die sich an diese Passage anschließende Frage eines Interviewers, wie es denn mit antisemitischen Aussagen von Schülerseite gerade im Geschichtsunterricht bestellt sei und wie pädagogisch damit umzugehen sei, antwortet A. mit einer initialen Ausweichbewegung: „Das ist aber wirklich ne Frage, also, die möchte ich auch mal mit meinen Kollegen besprechen.“ Um dann doch ausführlich fortzufahren: „Wir haben hier ja immer noch Geschichte auf dem Lehrplan, und auch noch unsere Französische Revolution und was danach so kommt, Aufklärung. Ähm. Die Kinder, die wir jetzt haben, die neunundneunzig Prozent, die ich im letzten Jahr hatte, ausländische Kinder, die wussten gar äh nicht, was ‘nen Indianer ist, zum Beispiel. (I1: hm; I2: Indianer?) Indianer, jaja. Also die kommen aus ner ganz andern, ganz andern Welt, aus einem anderen geschichtlichen Kulturkreis, der mit dem, was wir hier lernen, gar nichts gemein hat, und die kriegen auch keine Unterstützung durchs Elternhaus, weil die auch gar nichts wissen. Und Geschichte ist für mich eigentlich so‘n Fach, was ich zwar unterrichten muss, aber was ich sehr stiefmütterlich behandle, und ich mache viel Mittelalter, und erkläre, welche Rolle hat wer gespielt oder wie hat man gelebt, getauscht oder was auch immer, dann kann man das sehr wohl vergleichen mit der Türkei auf dem Lande, dann kommen nämlich die Kinder und sagen, ach bei mir, bei meiner Oma ist das genauso, aber die haben nen Fernseher [lacht], also das ist dann so schön, und dann kann man so diesen Bogen wirklich ganz, ganz schön schließen, und ich glaube, so müssen wir auch arbeiten. Und dann müssen die Lehrpläne auch überarbeitet werden. Dringend überdacht werden.“
Mit der Anreicherung der Narration durch weitere Ideologeme gewinnt die Rede zugleich eine assoziativ-sprunghafte Dynamik. Im laufenden Interview stellt Interviewer 2 sein Irritiertsein dar, die er am Bild des Indianers festmacht: „Indianer?“ Was aus A. herausbricht, sind Auto- und Heterostereotype aus dem Dunstkreis der Muslimenfeindschaft als einer neuen ideologischen Formation6. 6
Wie andere Formen des Ideologischen ist auch Muslimenfeindschaft als Moment im Prozess einer sich modernisierenden modernen Gesellschaft zu begreifen. Das, was sich nach 1989/90 in weiten Teilen Europas manifestiert, ist nicht identisch mit der „Türkengefahr vor Wien“ oder dem Orientalismus. Gleichwohl gibt es Kontinuitäten und nachträgliche Rückgriffe auf Altes. Gesellschaftlich markiert allerdings der Zerfall bzw. die ökonomische Liquidierung der autoritärrealsozialistischen ‚Zweiten Welt’ und das Dysfunktional-Werden der entsprechenden kollektiven Abwehrformationen einen Transformationspunkt im ideologischen Prozess, in dem die Muslimenfeindschaft eine strukturbildende Funktion übernimmt.
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Struktiv wirkt der verzerrend-schiefe Bezug auf „Europa“ bzw. die „westliche Zivilisation”, die „Aufklärung” und die europäischen Revolutionen. Bei A. wird die Französische Revolution germanifiziert – „unsere Französische Revolution“. „Aufklärung“ wird zu einem Grenzmarker zwischen Eigenem und Fremdem und damit zum ethnisierten ideologischen Kampfbegriff (vgl. Bielefeldt 2007: 19f.). In dieser ideologischen Verwendung gerinnt „Aufklärung“ zugleich temporal. Deutschland bzw. Europa haben die Aufklärung hinter sich, die „muslimische Welt“ wird gleichgesetzt mit Prä-Aufklärung – in der Diktion von A.: anatolisches „Mittelalter“ plus Television. Das Maximum an Verfremdung der „Muslime“ hängt am psychischen Operantwerden der neu in die Rede eingeführten Ideologeme. Die mehrheitlich in Deutschland aufgewachsenen Schüler kommen nunmehr aus „ner ganz andern, ganz andern Welt”. Die Projektion von Prä- und Post-Aufklärung auf weltgesellschaftliche Großräume und -gruppen, die A. hier vornimmt, entspricht dem klassischen kolonialen Muster, in dem die Eigengruppe als fortschrittlich und zivilisiert, die „Anderen“ hingegen als zurückgebliebene Wesen wahrgenommen werden, die an die Entwicklungsstufe westlicher Zivilisation überhaupt erst herangeführt werden müssen. Wichtiger an dieser Textpassage scheint uns aber, dass A.s projektive Operation der Plausibilisierung und Rechtfertigung der – so unsere These7 – sekundär-antisemitischen Externalisierung des gesellschaftlichen Problems des Antisemitismus im Phantasma „Moslem“ dient. Die Anheftung des Stigmas ‚unaufgeklärtes Mittelalter’ an weltgesellschaftliche Großräume und -gruppen verknüpft sich mit dem Motiv einer religiös motivierten Judenfeindschaft, eines – in Analogie zum christlichen Antijudaismus konstruierten – muslimischen Antijudaismus. Zugleich sichern sich die verdinglichend-projektive Verwendung von „Aufklärung“ als Kampfbegriff und der Antisemitismus-Vorwurf an die Adresse der „Moslems“ hinsichtlich des Autostereotyps „Deutsche“ wechselseitig ab. Für diese Konstruktion müssen allerdings einige ‚Kunstgriffe’ vorgenommen werden. Notwendig ist zunächst die Ausblendung der Dialektik der Aufklärung bis hin zur fast völligen Indienststellung der Vernunft für die Zwecke des antisemitischen Genozids; notwendig dazu ist ferner das Nichterwähnen des Französischen Thermidors und der etatistischen Einverleibung der Menschenrechte durch die Installation der bürgerlichen Gesellschaft und die spätere radikalste Verneinung der Menschenrechte in Auschwitz; notwendig dazu ist schließlich ein Begriff der modernen Geschichte, der nicht konstitutiv kontaminiert ist durch rassistisch-koloniale Gewaltpraxen, wie sie beispielsweise die von A. erwähnten „Indianer“ an sich erfahren mussten.8 7 8
Siehe dazu den Beitrag von Stender in diesem Band. Geradezu exemplarisch reproduziert A. hier den von Astrid Messerschmidt analysierten „demokratischen Rassismus“; vgl. Messerschmidt in diesem Band.
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Auf die Frage, ob im Geschichtsunterricht neben dem Mittelalter auch die jüngere Geschichte, z. B. auch die Vernichtung der europäischen Juden im Nationalsozialismus, behandelt werde und ob es darüber auch zur einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus komme, winkt A. ab. Zwar setze man durchaus Filmmaterial ein, das die Vernichtung der Juden zeige, aber zu einer Verhaltensänderung bei den „muslimischen Schülern“ führe dies nicht: „Es ist trotzdem so, dass in der nächsten Minute wieder gesagt wird, ja aber die Juden, die sind die Bösen. Die wollen uns auch vernichten. Und wenn wir da nicht für sorgen, dass die..., dann machen die’s.“
Pädagogik stoße hier definitiv an eine Grenze. Worin diese Grenze aber besteht, ist für A. längst klar beantwortet. Es ist die essentialistisch bestimmte Grenze zur „muslimischen Welt“, die als unvereinbar mit der „deutschen“ vorgestellt wird und sich folgerichtig in Deutschland zu einer „Parallelwelt“ entwickelt hat: „Es ist eine Parallelwelt eindeutig. Es ist eine Parallelwelt.“ A. inszeniert sich im gesamten Interview als interkulturell kompetente, weltoffene und couragierte Pädagogin, die sich – im Unterschied zu ihren Kollegen und Kolleginnen – mutig auch in die „fremde Welt“ der „Muslime“ begibt. Doch was sie da erlebt, lässt einen gruseln: tiefstes Mittelalter, brutale Männerherrschaft, Analphabetismus der Frauen und zu allem auch noch ferngesteuerte antisemitische Propaganda von früh bis spät. Wird die Wir-Gruppe als aufklärt, demokratisch und weltoffen vorgestellt, so stellt die „muslimische“ Fremdgruppe das genaue Gegenteil dar. Das Deutungsmuster des „muslimischen Antisemitismus“ besteht bei A. aus einer Kombination von kulturrassistischen und sekundär-antisemitischen Motiven. Antisemiten sind immer die Anderen. Diese Anderen bleiben aber nicht amorph, sie lassen sich in dem kulturrassistischen Modell von A. klar benennen: „das kommt jetzt wirklich nur aus der muslimischen Welt“.
„das sind so, tut mir leid, das sind Scheißmenschen“ Gruppendiskussion mit Haupt- und Realschülern der 9. und 10. Klassenstufe Im deutlichen Widerspruch zu den Ausführungen der Pädagoginnen stehen die antisemitischen Invektiven, die uns in der Diskussion mit einigen ihrer Schüler begegnen. Es handelt sich um eine Gruppe von Jugendlichen im Alter von 15 bis 18 Jahren (zwei junge Frauen und sechs junge Männer), die bis auf eine Ausnahme alle ihre frühe Kindheit in verschiedenen Nachfolgestaaten der ehemali-
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gen Sowjetunion verbrachten und im Kindergarten- oder Grundschulalter mit ihren Eltern als so genannte Spätaussiedler nach Deutschland kamen. Da das Gespräch einen Tag nach dem Endspiel „Spanien gegen Deutschland“ der Fußball-Europameisterschaft 2008 stattfindet, geht es zunächst um eine Einschätzung dieses Ereignisses. Gleichwohl in der Gruppe „natürlich“ die russische Nationalmannschaft mit Abstand den höchsten Sympathiewert genießt9, stehen die Jugendlichen mehrheitlich auf der Seite Spaniens, weil „die Deutschland, ehrlich, die haben Deutschland auseinander genommen einfach“. Der hohe Stellenwert „Russlands“ wird auch in der anschließenden Erörterung der für die Jugendlichen wichtigsten Gruppenzugehörigkeiten deutlich.10 Im Unterschied zu den anderen Gruppendiskussionen, die wir an den Schulen führten und in denen nationale Zugehörigkeiten nur selten erwähnt, dafür lokale Identifizierungen häufig betont wurden, wird von sieben der acht Jugendlichen dieser Gruppe neben der „Familie“ und den „Freunden“ das „Herkunftsland“ als wichtigste Zugehörigkeit genannt – übrigens auch von den beiden jungen Frauen, die im weiteren Verlauf des Gesprächs die homophoben und sexistischen Äußerungen der jungen Männer schweigend über sich ergehen lassen und sich nur äußerst sporadisch an der Diskussion beteiligen, allerdings in ihrer Mimik eher Zustimmung als Ablehnung zu dem Gesagten erkennen lassen. Anhand von Bildmaterial zu Musikgruppen sprechen die beiden Interviewer mit den Jugendlichen zunächst über Musikrichtungen und jugendkulturelle Kleidungs- und Ausdrucksstile. Während Gruppen wie Tokio Hotel, US5 oder Lexington Bridge als „Emos“ und „schwul“ abgetan werden, findet Rap, insbesondere in der Variante des Gangsta-Rap, die größte Zustimmung: „das ist halt so, dass da meistens ausgedrückt wird, was zu uns passt“. Keine andere Musikrichtung kommt
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So „natürlich“, wie sie in dem Gespräch behaupten, ist dies allerdings keineswegs, da die – wie im Weiteren noch deutlich wird – starke Identifizierung mit „Russland“ im Kontext der Marginalisierung begriffen werden muss, die diese Jugendlichen in Deutschland erlebt haben und noch erleben. Im frühen Kindesalter mit ihren Eltern als „deutsche Volkszugehörige“ (nachzuweisen durch Merkmale wie „Abstammung“, „Sprache“, „Erziehung“ und „Kultur“) nach Deutschland gekommen, werden sie hier mit dem Stigmaterminus „Russe“ konfrontiert, den sie nicht selten als Identitätsmerkmal übernehmen und gegen die Mehrheitsgesellschaft wenden, auch wenn sie z. T. gar nicht in Russland geboren sind. Deutlich wird in dem Gespräch, dass „Zugehörigkeit“ die Qualität einer subjektiven Entscheidung hat, die stark von Erfahrungen der NichtZugehörigkeit abhängt (vgl. Melter 2006: 40; Mecheril 2003). Zur spezifischen Zugehörigkeitsund Identitätsproblematik der alles andere als homogenen Gruppe der jugendlichen „Spätaussiedler“ vgl. Strobl/Kühnel 2000; Gostomski 2006; Dietrich 2006. 10 Die Einstiegsphase des Gesprächs gestalteten wir in Anlehnung an das „Persönlichkeitsmolekül“ aus dem Programm „Eine Welt der Vielfalt“ (Bertelsmann Forschungsgruppe Politik 2002). Die Teilnehmer/innen trugen auf einem Blatt die sozialen Gruppen ein, zu denen sie sich als zugehörig definieren. Anschließend begründeten sie ihre Wahl. Zum Reflexionspotential des „Persönlichkeitsmoleküls“ vgl. Kalpaka 2006: 117ff.
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dem vom Stigma des unerwünschten Immigranten geprägten Lebensgefühl dieser Gruppe näher: J 2: „Manche Lieder, wenn man die hört, muss man an das denken, was man selber erlebt hat.“11
Wichtig ist ihnen allerdings die Authentizität der Rapper, was sich besonders deutlich in ihrem Urteil über Bushido zeigt, dessen „Ghettoexistenz“ bloß vorgetäuscht sei: J 6: „Ich mag ihn nicht, weil er macht immer dieselben Beats, er macht immer diese Songs. Er ist, er ist ein Gymnasialschüler gewesen. Er ist brav aufgezogen worden. Er hatte immer ein gutes Leben, und dann singt der irgendwas von Ghetto, Alter, von Ghetto.“ J 5: „Also früher habe ich ihn gemocht. Da habe ich gedacht, also voll geil der. Aber dann habe ich so erfahren, wie das in Wirklichkeit ist. Weil er ist eigentlich wirklich so braves Kind. Er hatte immer Geld. Also er war nie so pleite ... und, und er singt von: er war pleite und bin jetzt eigentlich hochgestiegen sozusagen ..., ja, und ich hatte nie ne richtige Ausbildung. Er palavert voll.“
Gangsta-Rap ist für die männlichen Jugendlichen dieser Gruppe aus deshalb attraktiv, weil er ihrem an Härte und Kampf orientierten Männlichkeitsideal entspricht. Gefühle zu zeigen wird als „schwul“ attribuiert. Der Gegenbegriff zu „schwul“ oder „Schwuchtel“ ist „Russe“. In ihm können sich die männlichen Jugendlichen wieder erkennen. Deutlich ist das Bild des „Russen“ für sie ein Männerbild, mit dem sie sich positiv identifizieren. Auch in der Präferenz für einen bestimmten Kleidungsstil zeigt sich dies: J 1: „Hier, die Schuhe, die der anhat. Die sind am geilsten.“ J 6: „Ja, der ist geil.“ J 1: „Der sieht voll wie’n Russe aus.“ J 6: Lederjacke, gerade Hose, ganz normale Schuhe.“ J 1: „Ja, der sieht korrekt aus. Wie ein Russe.“ I 1: „Zieht sich so ein Russe an?“ J 4: „Ja.“ J 6: „Ja.“ J 5: „Ja. Die meisten haben so Lederjacke, eigentlich.“ J 6: „Und Glatze.“
Auch in der Vorbildfunktion Putins, dem im Unterschied zum Rapper Bushido Authentizität zuerkannt wird, kehrt das Männlichkeitsideal wieder. Putin ist 11 In den hier wiedergegebenen Interviewausschnitten werden die Interviewer mit dem Buchstaben I (I1 und I2) bezeichnet. Den Teilnehmer/innen an der Gruppendiskussion wurden je nach Geschlecht die Kürzel M1 und M2 (für Mädchen) und J1 ff. (für Jungen) zugewiesen.
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schlau, kein Schwätzer und ein sehr guter Kämpfer. „Er“ hat „Russland“ wieder „hochgebracht“. Für das gruppencharismatische Wir-Ideal12 dieser Jugendlichen ist Putin unverzichtbar: I 1: „Putin?“ J 3: „Ja, ein sehr schlauer Mann.“ J 5: „Ja, sehr. Er ist sehr schlau, und was mir wirklich an ihm gefällt: er ist nicht einer von diesen ganzen Leuten, die einfach sagen: ‚Ja, ich versteh schon alles über den Krieg, ... und obwohl sie nicht mal selbst da waren. Putin war in der russischen Spezialeinheit. Er weiß wirklich, wie man kämpft. Er ist ein sehr guter Taktiker, ... deswegen kann er sehr gut kämpfen. Er ist wirklich ein sehr schlauer Mann, und ich finde auch, er hat Russland wirklich hochgebracht auch. Ich hab wirklich gesehen, wie er kämpft auch. Äh, er macht sogar die gleiche Kampfsportart, die ich früher gemacht hab.“
Verkörpert der „Krieger“ Putin für die männlichen Jugendlichen das Männlichkeitsideal „Russe“ in vollkommener Weise und ist „Russland“ für die Gruppe insgesamt ein zentraler Gemeinschaft stiftender Bezugspunkt, so prüfen die Interviewer im Weiteren, welche Fremdbilder das Selbstbild der Wir-Gruppe der Jugendlichen profilieren, wie insbesondere die Abgrenzung von „Muslimen“ und „Juden“ beschaffen ist.13 Das Gespräch wechselt zum Thema Religionen. Den Jugendlichen wird ein Bild gezeigt, auf dem eine Moschee zu sehen ist. Die erste Assoziation ist „Türken“. „Muslime“ sind für diese Jugendlichen „Türken“: J 1: „Moschee? Türken.“ J 6: „Türken! Moslems.“
Dann folgt eine deutlich abwertende, das Motiv vom „Parasiten“ variierende Abgrenzung: J 3: „Jeden Tag Richtung Mekka beten und Richtung Sozialamt.“ J 5: „Ja.“ I 1: „Was haltet ihr von Moslems?“ J 5: „Ähm.“ J 6: „Gar nichts.“ J 3: „Ich hab’ nichts mit denen zu tun, gar nichts.“
12 Zum Begriff des Gruppencharismas in der Etablierten-Außenseiter-Figuration vgl. Elias / Scotson 1993: 44f. 13 Als Stimuli verwendeten wir großformatige Fotos, die wir für diesen Gesprächsabschnitt aus „Toleranz-Bilder: Fotobox für die politische Bildung“ (Schröer/Nazarkiewicz 2002) entnahmen. Das erste Foto zeigt die Mannheimer Moschee aus der Vogelperspektive; das zweite Foto zeigt orthodoxe Juden auf dem Gelände des ehemaligen jüdischen Friedhofs in Hamburg-Ottensen, die die Baumaßnahmen für ein geplantes Einkaufszentrum auf dem Grundstück verhindern wollen.
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Dies wird allerdings im nächsten Schritt relativiert. Im deutlichen Unterschied – wie wir sehen werden – zu ihrem Urteil über Juden, fällt die Einschätzung zu Muslimen differenzierter aus. Da man im gleichen Stadtteil lebt, auf dieselbe Schule geht, gemeinsame Erfahrungen macht, bilden sich auch Freundschaften, wenn auch nur auf einem eher oberflächlichen Niveau14: J 6: „Also es kommt darauf an ... Nein, also ich will jetzt nicht sagen: Alle Moslems sind scheiße, oder so. Es gibt viele von... ich habe auch Freunde, die sind Moslems, aber ... okay, nicht richtige Freunde, wo man jetzt richtig helfen würde und so. Aber wenn ich über die Straße gehe: Hey! Den kenn’ ich. Alles klar. Dies und das. Und ich find’ eigentlich voll dumm, dass die kein Schweinefleisch essen [lacht], weil die verpassen so was [lacht]. Ohne Scheiß! Das schmeckt doch gut.“
Die Tatsache, dass es dennoch häufiger zu Konflikten mit den „türkischen“ Mitschülern kommt, wird in einer Art völkerkundlicher Alltagstheorie auf die Gemeinsamkeit von Temperamentseigenschaften zurückgeführt: J 5: „Ja weil, ich finde besonders Russen und Türken, weil ... ich geb’ zu, das sind Völker, die sind sehr aggressiv. Wirklich, ich geb’ auch zu, Russen zum Beispiel sind ... und Türken sind sehr aggressiv. Und zwei aggressive Völker, das ist wirklich...“ J 3: „Bin nicht stolz drauf.“ J 5: Das is’ so Plus und Minus, so: tsst-tsst, und irgendwann ... bämm! Irgendwann platzt das.“ J 6: „Bämm!“ (Kickt in die Luft)
Zwar machen sich die Jugendlichen über die religiösen Eigenheiten ihrer „türkischen“ Mitschüler lustig und grenzen sich von diesen ab. Im Unterschied aber zum muslimisierenden Blick ihrer Lehrerin A., die – wie gezeigt – die „Türken“ dem Oberbegriff „Moslems“ unterordnet und diesen als asymmetrischen Gegenbegriff zu den „Deutschen“ profiliert, ist es hier genau umgekehrt: die „Moslems“ sind primär „Türken“ und als solche den „Russen“ ähnlich. Deutlich wird eine Art verbindender Konkurrenz zwischen den beiden Gruppen, die darin gipfelt, dass „Russen“ und „Türken“ die gleichen „aggressiven“ Weseneigenschaften zugesprochen werden, die notwendig zum Zusammenstoß führen müssen. Zugleich aber mildert die konstruierte Wesensgleichheit zwischen „Russen“ und „Türken“ die Muslimenfeindlichkeit der Jugendlichen ab. Im Unterschied zu der Lehrerin A. und tendenziell auch der Schulsozialarbeiterin O. ist jedenfalls nicht zu erkennen, dass der Islam für sie die Funktion eines Feindbildes hat. Die als „Türken“ identifizierten „Muslime“ bilden vielmehr ein symmetrisch konstruier-
14 Die Relevanz des unmittelbaren Interagierens mit Jugendlichen türkischer Herkunft für die Ausgestaltung muslimenfeindlicher Stereotype bei jugendlichen Spätaussiedlern wird auch von Gostomski (ders. 2006) hervorgehoben.
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tes nationales Gegenbild zum Selbstbild „Russe“, das sogar – wenn auch oberflächliche – Freundschaften erlaubt. Ganz anders verhält es sich mit dem Fremdbild „Jude“. Als ihnen ein Bild gezeigt wird, auf dem orthodoxe Juden in traditioneller Kleidung, mit Kopfbedeckung, Bart und Schläfenlocken zu sehen sind, ruft dies bei den Jugendlichen bis in die körperliche Mimik hinein Ekel hervor. Auffallend ist, dass sie ihr vernichtendes Urteil durch ihre angeblich zahlreichen, schlechten Erfahrungen mit Juden untermauern, gleichwohl ihre Erfahrungsbasis – wie sich gegen Ende der Sequenz zeigt – wohl eher sehr schmal ist. Es scheint auf den ersten Blick so, dass wir es hier mit dem in Salomon Korns „Kraftdreieck des Antisemitismus“ (vgl. Markovits 2008: 208) beschriebenen ‚klassischen’ Antisemitismus zu tun haben, der aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion in die Europäische Union einsickert. Jedenfalls ist von „Kommunikationslatenz“ bei diesen Jugendlichen nichts zu spüren. Offen tragen sie ihr judenfeindliches Ressentiment vor. Antisemitismus scheint bei ihnen die Qualität einer relativ natürlichen Weltanschauung zu haben, die ihnen von ihren Eltern und Großeltern vermittelt wurde: I1: „Und kennt ihr die?“ J 6: „Weiß nich’.“ J 1: „Arische oder so, ne?“ J 3: „Sind das diese hier?“ (deutet mit einer Handbewegung Schläfenlocken an) I 1: „Was meinst du?“ J 3: „Na diese hier ...“ (wiederholt die Handbewegung) J 1: „Hab’ keinen Plan.“ J 6: „Was sind’n das für welche?“ J 5: „Juden. Das sind Juden.“ J 2: „Iiih!“ I 1: „Schlimmer als Moslems?“ J 2: „Ja. Total!“ J 6: „Ich hasse Juden!“ J 1: „Können Sie bitte weitermachen. Das ist irgendwie...“ I 1: „Warum sind die schlimmer als Moslems?“ J 5: „Das kann ich gar nicht sagen. Die sind so gierig und so hinterhältig. Das sind so, ich weiß nicht, das sind so Leute, wir haben so eine in der Klasse, ich weiß nicht, man redet so, und dann kommt sie, so äääähh [kreischendes Geräusch]. Sie mischen sich immer ein. Sie geiern, wirklich. Ich dachte erst, das stimmt nicht, das sind nicht alle. Aber wirklich: 99,999999 unendlich, die geiern halt so. Wirklich. Um jeden kleinen verfickten Cent. Die geiern wirklich. Ja, das ... ich weiß nicht, ich finde das wirklich nicht normal so.“ J 6: „Ja! Auch einmal, Dingsda, ... also wir standen dahinten, und dieser von diesem Mädchen, XY, ihr Bruder oder Cousin oder so, keine Ahnung. Ich stand dahinten und A. macht so sein Portemonnaie auf und fallen ihm so 5 Cent runter. Und er kommt voll so, Alter, hebt es wieder auf und steckt es in seine Tasche.“ I 1: „Ihr meint also, die sind richtig geizig?“ J 5: „Ja, aber jetzt wirklich.“ J 3: „Nein, man kann ja nicht dagegen was sagen. Man muss es erlebt haben. Also man muss die näher kennen lernen.“
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I 2: „Und M1, M2 – habt ihr auch die gleichen Erfahrungen gemacht?“ J 5: „Habt ihr auch Juden in der Klasse?“ M 2: „Nein.“ M 1: „Mhm.“ J 3: „Aber B. ist doch einer, oder?“ I 1: „Du sagst: Man muss es erlebt haben?“ J 3: „Ja, ich hab ... ich habe sozusagen acht Jahre mit denen in mein Haus gewohnt. Darum, ich weiß, wie die ticken.“ J 5: „Mit Juden? Ich wohne auch noch mit Juden.“ J 2: „Ey, da kannst du dich doch angesteckt haben.“
Das Bild, das Juden zeigt, evoziert Ekel, Hass und destruktive Impulse bei den Jugendlichen. Für sie scheinen Juden das Objekt eines tief sitzenden Hassaffektes zu sein.15 Die unmittelbare Anschauung scheint ihnen zu bestätigen, was sie schon vorher wussten: alle Juden sind „gierig und hinterhältig“. Tatsächlich sind, so unser Eindruck, diese Jugendlichen in hohem Grade erfahrungsrenitent. Ihre Affektstruktur blockiert die Erfahrungsfähigkeit und führt zu einem fast vollständigen Ausfall der Reflexion. Das projektive Feindbild vom Juden bestimmt ihre Wahrnehmung auch der Alltagssituation in der Schule. Da sie ihr Ressentiment offen äußern, sind Konflikte mit dem pädagogischen Schulpersonal unvermeidlich: I 1: „Kennt ihr das Schimpfwort ‚Du Jude’?“ J 3: „Ja.“ J 6: „Ja. Das habe ich mal auf einen Zettel gemalt und der Klassenlehrerin gezeigt und, und dann habe ich fast Klassenkonferenz bekommen.“ I 1: „Du hast Ärger bekommen, weil die Lehrerin das mitgekriegt hat?“ J 6: „Ja, Mann! Ich hatte Mathematik und hatte meinen Block draußen liegen lassen, und sie dachte, ich hatte da Spickzettel so drunter gemacht. Und dann hat sie meinen Block durchgeguckt, und dann hat sie das gesehen. Ich hatte so Judensterne gemalt, und dann hat sie das meinem Vater gezeigt. Und mein Vater hat sich kaputt gelacht.“ I 1: „Und was machen die Lehrer, wenn die das hören?“ J 5: „Die übertreiben voll.“ I 1: „Ja?“ J 3: „Scheiße, ja!“ J 5: „Jude? Guuut!“ [ironischer Tonfall, Jubelgeste] J 1: „Eintrag ins Zeugnis ... dass ich rechtsradikal bin ... dies und das.“ I 1: „Aber das seid ihr gar nicht?“ J 1: „Nein, nein.“ J 6: „Nein.“
Während sich die Jugendlichen von den Lehrern ungerecht behandelt fühlen, können sie sich des Rückhalts bei ihren Eltern sicher sein. Sie sind nicht „rechtsradikal“, sondern sie geben nur das wieder, was sie zu Hause gehört und gelernt 15 Zur psychischen Genese des antisemitischen Hassaffektes vgl. Pohl in diesem Band.
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haben. Über die Reaktionen der Lehrer sind sie überrascht und empört: „die übertreiben voll“. Sollen sie für das bestraft werden, womit sie aufgewachsen sind, was in ihrer Familie selbstverständlich und ganz gewöhnlich ist? Im Grunde genommen – so kann man die Schüler verstehen – fehlt den Lehrern interkulturelle Kompetenz. Denn der Hass gegen die Juden, so zeigt die folgende Sequenz, gehört nach Ansicht der Schüler zu ihrer Alltagswelt, ist ganz „normal“ und überhaupt nicht das, wofür ihre Lehrer es halten: ein Tabubruch. Würden sich die Lehrer auch nur ein wenig um ein Verständnis ihrer „Kultur“ und „Herkunft“ bemühen, dann – so kann man die Schüler verstehen – würden sie anders reagieren und sie nicht ausgrenzen: J 3: „Ich bin damit aufgewachsen. Kann auch nichts dagegen machen...“ J 5: „Womit denn? Ich bin auch damit aufgewachsen. Ich leb’ auch ...“ J 3: „... mit diesem Hass!“ J 5: „... meine Eltern auch, die mögen auch nicht, weil in Russland da sind so’n paar auch so Juden. Man merkt das gleich: das sind Russen und das sind Juden. Man merkt das voll, sie geiern und ... ich weiß nicht, das sind so, tut mir leid, aber das sind so Scheißmenschen. Wirklich.“ J 3: „Ich würde fast sagen, alle Russen hassen Juden.“ J 1: „Russen muss nicht sein, aber alle Kasachen hassen Juden. Meine Eltern haben mir so was erzählt so. Über die Juden, wie die früher waren.“ J 2: „Mein Vater hat mich voll gegen die aufgehetzt.“ J 6: „Mein Opa auch. Wir sitzen so in Bus. Leute steigen so ein. Er packt mich so und dann [flüstert]: ‚Juden!’“ I 1: „War das in Kasachstan noch?“ J 6: „Hä?“ I 1: „Weil du gerade gesagt hast ... Hast du das in Kasachstan erlebt?“ J 6: „Ja.“ J 1: „Ja, ich auch.“ J 3: „In Russland is’s genauso schlimm.“ I 1: „Aha. Und ihr habt hier in der Schule auch Juden?“ J 2: „Ja!“ J 5: „Ja, die sind hier überall.“ J 1: „[lacht] Eine Familie – die ganze Schule.“ J 5: „Ey, eine Familie. Das war eine Familie. Aber ü-ber-all.“ J 1: „Die sind wie die Ameisen.“ I 1: „Überall? Meint ihr, die haben zu viel Macht?“ J 6: „Ha! Ha! [lacht] Puh, einen Moment...“ J 5: „Ich weiß nicht. Vielleicht die Geldmacht, aber...“ J 3: „Eigentlich noch nich’ mal.“ J 5: „Obwohl Geld ist ja eigentlich Macht.“ J 2: „Geld ist Macht.“
In dem deutlich nationalistisch orientierten, kollektiven Narzissmus der Gruppe („Russland“), ihrer homophoben Identifizierung von Männlichkeit und Härte („Schwuchteln“) und ihrem offenen und geradezu ‚klassischen’ Antisemitismus
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(„Juden sind Scheißmenschen“) präsentiert sich das autoritaristische Syndrom in voller Blüte. Die Frage ist nur, wo kommt es her. Die Jugendlichen betonen, dass sie damit aufgewachsen sind, dass Antisemitismus in ihren Familien über Generationen tradiert worden ist und dass der Judenhass so zum festen Bestandteil ihres Gemeinschaft stiftenden Privatglaubens, ihrer Alltagsreligion16 geworden ist. Es sind Jugendliche, die seit früher Kindheit in Deutschland leben, hier Erfahrungen als Außenseiter gemacht haben (und machen) und sich in einer prekären Balance zwischen Integration und Ausgrenzung bewegen. Ihre Situation unterscheidet sich darin nur wenig von den migrantischen Jugendlichen, die als „muslimisch“ markiert werden. Da Antisemitismus keine Frage der Nationalität, der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit ist, darf seine soziale und psychologische Genese auch bei „Aussiedler“-Jugendlichen nicht auf den Herkunftskontext reduziert werden. Sie muss im Kontext ihrer von sozialen Deprivationen und rassistischen Ausgrenzungen geprägten Alltagserfahrungen begriffen werden.17 Es ist kaum anzunehmen, dass „die Bitterkeit, nicht anerkannt zu sein, mit negativer Identität behaftet und irgendwie ‚der Böse’ zu sein“ (Lapeyronnie 2005: 41), bei der psychischen und sozialen Genese des Judenhasses dieser Jugendlichen keine Rolle spielt. Anstatt aber an die konkrete Lebenssituation und die Erfahrungen der Jugendlichen anzuknüpfen, reagieren die Lehrer auf die antisemitischen Invektiven ihrer Schüler mit moralischer Empörung und Sanktionen. Zu einer Besinnung oder gar Reflexion führt dies bei den Jugendlichen nicht. Sie fühlen sich falsch verstanden und ungerecht behandelt, wie sie ohnehin das Gefühl haben, nicht wirklich dazuzugehören und insbesondere von den Lehrern diskriminiert zu werden. Nicht auszuschließen ist, dass die Reaktion der Lehrer zu einer Verhärtung der antisemitischen Einstellung der Schüler führt. In den Interviews mit Lehrern und Schulsozialarbeitern derselben Schule haben wir von diesen Konflikten nichts erfahren. Stattdessen wurde entweder bestritten, dass es Antisemitismus an der Schule gibt, oder behauptet, dass dieser „nun wirklich nur aus der muslimischen Welt kommt“. Beides trifft – wie die hier dargestellte Gruppendiskussion zeigt – nicht zu. Wie es zu diesen „Fehlwahrnehmungen“ sowohl bei den Schülern als auch bei den Lehrern und Schulsozialarbeitern kommt, ist eine offene Frage für die Forschung, die gerade erst begonnen hat.18 Noch wissen wir fast nichts darüber, 16 Zum Begriff der Alltagsreligion vgl. Claussen 2000 sowie den Beitrag von Stender in diesem Band. 17 Die Forschungslage ist hier genauso desolat wie für die Gruppe der als muslimisch markierten Jugendlichen. Gleichwohl der Zentralrat der Juden in Deutschland verschiedentlich auf die hohe Virulenz des Antisemitismus in der Gruppe der Aussiedler hingewiesen hat, gibt es bislang keine einzige qualitative oder quantitative empirische Studie zu diesem Thema. 18 Mit Blick auf das Interviewmaterial scheint es uns evident, dass hier eine psychoanalytisch orientierte Forschung notwendig ist. Durchweg stießen wir „auf Sachverhalte der subjektiven
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wie sich Alltagsantisemitismen unter den Bedingungen globalisierter Gesellschaftsverhältnisse zusammensetzen. Unklar ist auch, welches Ausmaß und welche Qualität antisemitische Stereotype bei Jugendlichen haben, wie sich dies nach sozialen Milieus, sozialen Lebenslagen, auch nach Geschlecht und eventuell Herkunftskontexten unterscheidet. Klar ist nur, dass wir den Darstellungen der Experten und Expertinnen aus der pädagogischen Praxis misstrauen sollten, wenn es um Antisemitismus geht. Sie sind Teil des Problems: „Da sie sich in der Regel nur wenig mit der eigenen Familiengeschichte und der damit verbundenen Tradierung von Einstellungen, mit unaufgearbeiteten Schuldgefühlen und mit unbewussten Ambivalenzen auseinander gesetzt haben, laufen sie als Pädagogen Gefahr, ihren Kampf mit den Schatten der eigenen Vergangenheit projektiv an ihren jugendlichen Adressaten auszutragen.“ (Fechler 2006: 199) Das Dilemma, das sich daraus für die pädagogische Intervention ergibt, müsste im Zentrum auch der konzeptionellen Diskussion über antisemitismuskritische Bildungsarbeit stehen. Das pädagogische Fachpersonal selber steht vor der Schwierigkeit, nicht antisemitisch zu sein. Um dieser Schwierigkeit zumindest gewahr werden zu können, müssten Formen der antisemitismuskritischen Selbstreflexion im pädagogischen Handlungszusammenhang institutionalisiert werden.19 Ein angstbesetzter Anti-Antisemitismus aber, der zwischen Bagatellisierung und Dramatisierung hilflos hin und her schwankt, hat weder etwas mit pädagogischer Professionalität zu tun, noch vermag er der Erosion antisemitischer Kommunikationslatenz etwas entgegen zu setzen. Literatur Adorno, Theodor W. (1997): Schuld und Abwehr, in: Ders., Gesammelte Schriften: 9.2, Frankfurt/M.: 121 – 324 Bertelsmann Forschungsgruppe Politik (Hg.) (2002): Eine Welt der Vielfalt – Moderationshandbuch, Gütersloh Bielefeldt, Heiner (2007): Das Islambild in Deutschland. Zum öffentlichen Umgang mit der Angst vor dem Islam, Berlin Claussen, Detlev (2000): Aspekte der Alltagsreligion. Ideologiekritik unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen (Hannoverschen Schriften 3), Frankfurt/M. Gostomski, Christian Babka von (2006): In Vorurteilen gegenüber türkischen Jugendlichen vereint? Eine desintegrationstheoretisch geleitete Längsschnittanalyse zur Entwicklung von Einstellungen gegenüber türkischen Jugendlichen bei Jugendlichen deutscher Herkunft und AussiedlerMeinung und Meinungsbildung, die durch ihren Widerspruch zur objektiven Realität, ihren irrationalen Charakter, geradezu den Gebrauch solcher [psychoanalytischer; gf/ws] Begriffe herbeizitierten. Sie erheischten gleichsam von sich aus psychoanalytische Interpretation.“ (Adorno 1997: 136) 19 Die kollegiale Fallberatung, wie sie von der Amadeu Antonio Stiftung angeboten wird, scheint uns hier eine mögliche und ausbaufähige Methode; vgl. den Beitrag von Radvan in diesem Band.
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Jugendlichen mit Daten des IKG-Jugendpanels 2001 – 2003 (Dissertation), http://bieson.ub.unibielefeld.de/volltexte/2006/870 Dietrich, Katharina (2006): Junge Spätaussiedler/innen im Spannungsfeld zwischen Rassismuserfahrungen und eigenen Rassismen. Empirisch untersucht in qualitativen Interviews mit jungen Menschen aus Russland und Kasachstan, http://www.idaev.de/interkulturelle_oeffnung.htm Elias, Norbert/John L. Scotson (1993): Etablierte und Außenseiter, Frankfurt/M. Fechler, Bernd (2006): Antisemitismus im globalisierten Klassenzimmer. Identitätspolitik, Opferkonkurrenzen und das Dilemma pädagogischer Intervention, in: Fritz Bauer Institut/ Jugendbegegnungsstätte Anne Frank (Hg.), Neue Judenfeindschaft. Perspektiven für den pädagogischen Umgang mit dem globalisierten Antisemitismus, Frankfurt/New York: 187 – 209 Kalpaka, Annita (2006): „Parallelgesellschaften“ in der Bildungsarbeit – Möglichkeiten und Dilemmata pädagogischen Handelns in ‚geschützten Räumen’, in: Dies./Gabi Elverich/Karin Reindlmeier (Hg.), Spurensicherung – Reflexion von Bildungsarbeit in der Einwanderungsgesellschaft, Frankfurt/London: 95 – 165 Kalpaka, Annita (2009): Institutionelle Diskriminierung im Blick – Von der Notwendigkeit, Ausblendungen und Verstrickungen in rassismuskritischer Bildungsarbeit zu thematisieren, in: Wiebke Scharathow/Rudolf Leiprecht (Hg.), Rassismuskritik Bd. 2: Rassismuskritische Bildungsarbeit, Schwalbach/Ts.: 25 – 40 Kessler, Judith (2003): Beispiel Berlin: Jüdische Migration aus der ehemaligen Sowjetunion seit 1990, http://www.berlin-judentum.de/gemeinde/migration.htm Lapeyronnie, Didier (2005): Antisemitismus im Alltag Frankreichs, in: Journal für Konflikt- und Gewaltforschung, Jg. 7, H. 1: 28 – 49 Markovits, Andrei S. (2008): Amerika, dich hasst sich’s besser. Antiamerikanismus und Antisemitismus in Europa, Hamburg Melter, Claus (2006): Rassismuserfahrungen in der Jugendhilfe: eine empirische Studie zu Kommunikationspraxen in der Sozialen Arbeit, Münster Mecheril, Paul (2003): Prekäre Verhältnisse: über natio-ethno-kulturelle (Mehrfach-)Zugehörigkeit, Münster Schröer, Andreas/Kirsten Nazarkiewicz (2002): Toleranz-Bilder: Fotobox für die politische Bildung (2., aktualisierte Aufl.), Gütersloh Strobl, Rainer/Wolfgang Kühnel (200): Dazugehörig und ausgegrenzt: Analysen zu Integrationschancen junger Aussiedler, Weinheim
Antisemitismus in extrem rechten jugendkulturellen Szenen David Begrich und Jan Raabe
In den zurückliegenden zwanzig Jahren hat sich eine extrem rechte Jugendkultur entwickelt, die ein hohes Maß an kultureller Integrationsfähigkeit aufweist. Diese Entwicklung eröffnet rechten Ideologien und ihren politischen Akteuren neue Wege, Jugendliche zu erreichen. Sieht man von bündischen Traditionsbeständen ab, welche den Habitus der Hitlerjugend zu konservieren suchten, so mangelte es der extremen Rechten nach 1945 an einem jugendspezifischen Sozialisationsangebot für den Nachwuchs aus ihrem Milieu. Die extreme Rechte profitierte von der Modernisierung der politischen Kultur der Ära nach 1968 erst mit großem Zeitverzug. Eine jugendspezifische Modernisierung setzte erst Mitte der 1970er Jahre ein, als sich Teile der damals noch politisch diffusen Punkbewegung unter dem Einfluss der National Front in Großbritannien der extremen Rechten zuwandten. Ihre rassistischen und nationalistischen Standpunkte drückten sie jedoch weiterhin, wie bei Musikern üblich, mittels ihrer Songtexte aus. Um Bands wie Skrewdriver, deren Frontmann Ian Stuart Donaldson zu einer der Ikonen des RechtsRock wurde, formierte sich eine ganze Jugendkultur. Musik mit englisch gesungenen Texten, die der Tätergeneration als „undeutsch“ oder schlicht als „Niggermusik“ galt, traf das rebellische Lebensgefühl von Jugendlichen. Dazu kamen dann Texte, die in Parolen und Schlagworten Ideologieelemente der extremen Rechten aufgriffen und emotional vermittelten. Donaldson selbst formulierte dies rückblickend auf die Entstehungsgeschichte des Rechtsrock so: „Musik ist das ideale Mittel, Jugendlichen den Nationalsozialismus nahe zu bringen.“1 In den ab dieser Zeit entstandenen RechtsRock-Texten finden sich dem Nationalsozialismus entlehnte Topoi wie „Rasse“ und „Vaterland“ im Songrepertoire wieder. Bereits in den Texten von Skrewdriver spiegeln sich zu Beginn der 1980er rassistische Klischees: „I stand watch my country, going down the drain. We are all at fault, we are all to blame! We’re letting them takeover, we just let ‘em come. Once we had an Empire, and now we’ve got a slum! White Power –
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Donaldson, Ian Stuart in dem Film „Lieder der Verführung“. Vgl. Käfer, Karl-Heinz (Regie und Buch): Lieder der Verführung (Doku/ZDF/Arte), 1994.
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for England! White Power – today!“2 Der Text verknüpft eine Problembeschreibung des sozialen Niedergangs mit dem Thema Migration und bietet als Lösung Rassismus und Segregation an. Auch Antisemitismus ist schon zu dieser Zeit zu finden. So singt die Band auf dem gleichen Tonträger im Lied Free my land folgende Zeilen: „Once a nation, and now we’re run by Jews! We want our country back now!“3 Der Bezug zum Nationalsozialismus drückte sich z.B. in lyrischen Zitaten aus wie der Liedzeile „for they still march in spirit with us“4, die in dem Lied Hail the new dawn von 1984 zu finden ist. Diese bezieht sich auf die Zeile „marschier’n im Geist in unseren Reihen mit“ aus dem „Horst Wessel Lied“, einem frühen SA-Lied, welches später zur Hymne der NSDAP avancierte. Entstand der RechtsRock musikalisch aus dem Punk, so fand er doch schnell in der Skinheadbewegung seine Anhängerschaft. Der Habitus der Skinheads wies eine Disposition für die Inszenierung von Maskulinität, Gewalt und anti-intellektuellem Affekt auf, deren jugendkulturelle Reichweite im Verlauf der 1980er Jahre zunahm. Jugendkultur und extrem rechte Ideologie gingen hier eine Symbiose ein. Es entwickelte sich eine über rechte Zeichen, Symbole und Inhalte zusammengehaltene extrem rechte Lifestylekultur neuen Typs, deren Charakteristikum darin bestand, extrem rechte Einstellungen mit einer modernen jugendkulturellen Ausdrucksform zu verbinden. Die politisierte Musik lieferte den Soundtrack für fremdenfeindliche Gewalt. Der Haarschnitt und die Bekleidung der Skinheads ästhetisierte zugleich die ausgeübte Gewalt. Konzerte konstituierten die Gemeinschaft, welche als „Kameradschaft“ politisiert wurde. Das rauschhafte Erlebnis von Stärke und Masse verfestigt das Gefühl von Zusammenhalt und Zugehörigkeit. Während die Aufmärsche diese Funktion offen im politischen Bereich übernehmen, findet bei den Konzerten eine Bestätigung der eigenen extrem rechten Weltanschauung als Freizeitvergnügen statt. Die Zugehörigkeit wird dabei von den Szenemitgliedern zumeist nicht einfach als eine politische empfunden, sondern als eine gelebte Gemeinschaft. Die Bindung an diese ist gerade dadurch besonders stark, dass extrem rechte Jugendliche in ihren rechten Cliquen signifikant mehr Zeit verbringen als Anhänger anderer Jugendkulturen.5 Rechte Clique und die rechte Musik waren und sind wichtige Einflüsse für die Herausbildung einer eigenen Identität und einer politischen Einstellung für rechte Jugendliche. Die Skinheads, als deren Jugendkultur, wurden das neue Synonym für Neonazismus. Sie waren die wesentliche Mobilisie-
2 3 4 5
Skrewdriver: White Power. Auf: White Noise Records, England, 1983 Skrewdriver: Free my land. Auf: White Power. White Noise Records, England, 1983 Skrewdriver: Hail the new dawn. Auf: Hail the new dawn. Rock-o-Rama, Köln, 1984 Bormann, Stefan: Soziale Arbeit mit rechten Jugendcliquen, Wiesbaden: VS- Verlag 2005
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rungsressource der fremdenfeindlichen Pogrome und Gewalttaten der 1990er Jahre.6 Anhand einiger ausgewählter Beispiele sollen im Folgenden jene inhaltlichen und symbolischen Elemente des Antisemitismus dargestellt werden, die im RechtsRock besonders verbreitet sind. Klingender Antisemitismus Die Texte des Rechtsrock transportieren seit Beginn der 1980er Jahre klassische Stereotype des Antisemitismus. Dazu zählt sowohl die Leugnung als auch die Verherrlichung des Holocaust. Darüber hinaus bedienen sich diese Texte antisemitischer Ressentiments wie der des Bildes des raffgierigen, verschlagenen Spekulanten. „Juden raus, Juden raus! Eine solch hohe Zahl ist gelogen, seit 1945 werden wir betrogen (…) Die Juden sind alle noch am Leben. Wehrt euch, ihr habt die Wahl. (…) Deutschland erwache, Juda verrecke!“7 sang die aus Norddeutschland stammende Band Kraftschlag schon 1989 in ihrem Song Gaskammerlüge. Während Kraftschlag den Holocaust leugnet, geht die Arnsberger Band Weisse Wölfe im Lied Unsere Antwort 2002 zur Drohung über: „Wartet ihr Brüder, jetzt kommt die Rache! Juda verrecke und Deutschland erwache! Und haben wir die alleinige Führung, dann weinen viele doch nicht vor Rührung! Für unser Fest ist nichts zu teuer, 10.000 Juden für ein Freudenfeuer! Unsere Antwort Zyklon B!“8 Der Antisemitismus im RechtsRock nimmt nicht nur retrospektiv auf den Nationalsozialismus Bezug, sondern aktualisiert antisemitische Ressentiments vor dem Hintergrund der vorgefundenen politischen Situation: „Es ist bekannt in aller Welt, dass der Jude nicht viel von Arbeit hält. Lieber nimmt er die Entschädigungsmoneten, zum Bau von neuen Atomraketen. So entstand über Jahre dort unten am Meer, eine Supermacht mit riesigem Heer. Alle Welt hat sich verschrieben den Protokollen, die dafür sorgen, dass die Juden kriegen, was sie wollen“9, sang die Brandenburger Band Hassgesang im Song Israel und transportiert so das Bild der ‘jUSA’, also der angeblich von den Juden gesteuerten und in deren Interesse handelnden Vereinigten Staaten. Es finden sich dutzende Lieder, die antisemitische Stereotype variantenreich verbreiten. Es sind die aus der Anonymität heraus agierenden Bandprojekte, die den Holocaust leugnen 6 7 8 9
Zur Entwicklung des RechtsRock vgl.: Dornbusch, Christian; Raabe, Jan (Hg.) RechtsRock. Bestandsaufnahme und Gegenstrategien. Unrast Verlag, Münster 2002 Kraftschlag: Übungsraum Tape, o.O., 1989 Weisse Wölfe: Weisse Wut, Dänemark, 2002 Hassgesang: B.Z.L.T.B. CD, USA, 2003
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oder verherrlichen. Andere Bands hingegen mäßigen sich aus Furcht vor Repression und verbreiten ‚nur’ antisemitische Vorurteile. Antisemitische Weltformel: „ZOG“ Politische Codes dienen der extremen Rechten zur Konstituierung der Gemeinschaft nach innen und der Feinderklärung nach außen. Seien es nun Bekleidungsmarken, Buchstabenkombinationen wie die für „Heil Hitler“ stehende „88“ oder andere Symbole, die einen ästhetischen oder politischen Bezug zum Nationalsozialismus aufweisen. Die jugendkulturelle Chiffre „ZOG“ gehört nicht zu den nach außen weithin bekannten Erkennungsmerkmalen der neonazistischen Szene. Doch innerhalb der politischen Binnenkommunikation stellt der Terminus „ZOG“ einen Schlüsselbegriff des extrem rechten Antisemitismus dar, der in Songtexten und politischen Stellungnahmen der neonazistischen Szene Niederschlag findet. „ZOG, die Macht des Antimenschen, die geheime Macht, die die Welt regiert. Bekämpft den ewigen Feind, bevor das letzte freie Volk krepiert. ZOG, die Macht des Antimenschen, Parasiten in Menschengestalt. Raus mit diesen Zionisten, Volksgenossen, es ist soweit“10, sang die aus Meppen stammende Band Stahlgewitter im Song „ZOG“.
Abb.1 Frontcover der CD „Rock gegen ZOG“ der Band Landser, 2002
10 Stahlgewitter: ZOG. Auf: Die Deutschen kommen. o.O., 1998
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Abb. 2 Ausschnitte des Booklet der CD „Niemals“ der Gruppe Stimme der Vergeltung, 2008
„ZOG“ steht für die Abkürzung „Zionist Occupation Government“. Diese Chiffre meint eine angebliche jüdische Macht im Hintergrund, quasi eine geheime Weltregierung, die andere Regierungen und weltweit agierende Organisationen als Marionetten ihrer Interessen dirigiert. Geprägt wurde die Chiffre Mitte der 1980er Jahren durch die neonazistische Gruppe Aryan Nation in den USA. Es waren Bücher wie The Turner Diaries (1996) des US-amerikanischen Neonazis William L. Pierce, deren Gegenstand eine antisemitische Verschwörung ist, welche den Begriff popularisierten. Inzwischen avanciert der Terminus „ZOG“ international im jugendkulturell geprägtem Teil des Neonazismus zu einem ideologischen Schlüsselbegriff. „Überall auf der Welt toben schmutzige Kriege. Nationen, die nicht spuren, werden bombardiert. Besiegen, besetzen und dann umerziehen, die Völker bluten, das Kapital kassiert. Sie lügen und sie hetzen, alles läuft nach Plan, für die neue Weltherrschaft wird alles getan“11, singt die Band Stahlgewitter im Lied „ZOG II“ und beschreibt damit das vermeintliche Wirken der „ZOG“. Nahezu alle Vorgänge, die Neonazis als gegen sich gerichtet wahrnehmen, werden summarisch einer zionistischen Verschwörung zugeschrieben, deren Wirkungsmacht sich ganz unmittelbar realisiere. Diese verschwörerungstheoretische Projektion ist jedoch nicht auf staatliche Institutionen, etwa polizeiliche Repression gegen die extrem rechte Szene, begrenzt. Ihre besondere Perfidie liege, so die Argumentationslogik, im Zusammenwirken von Akteuren, die auf den ersten Blick gegensätzliche Interessen verfolgten. Doch nur jene, die 11 Stahlgewitter: ZOG II. Auf: Germania über alles. Chemnitz, 2003
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nicht den Manipulationen der „ZOG“ erlägen, seien fähig, diese zu erkennen. Auch wenn „die Macht“ hinter allem „Bösen“ vermutet wird, so wird sie doch klassisch als die „Hintergrundmächte der Hochfinanz“12 beschrieben. „Dank UNO und NATO stehen ihnen Tür und Tore offen“, heißt es weiter. Gerade internationale Organisationen, deren Profil die Globalisierung und das Kräftespiel der Machtinteressen spiegeln, werden als Werkzeuge von „ZOG“ identifiziert. Die Konstruktion einer omnipräsenten, alles kontrollierenden Metainstanz „ZOG“ suggeriert, dass die (lokalen) Regierungen nicht mehr zum Wohle der eigenen Bevölkerung regieren, sondern ‚fremden’ Interessen unterstehen und ausschließlich diesen dienen. Diese Dichotomie des ‚Wir hier unten’ gegen ‚Die da oben’ verknüpft antidemokratische Ressentiments mit einer antisemitischen Verschwörungstheorie. Innerhalb derer werden komplexe gesellschaftliche Konflikte personalisiert, simplifiziert und mit negativen Zuschreibungen versehen. Es ist gewiss nicht übertrieben, die Vorstellung all dessen, was Neonazis unter „ZOG“ verstehen, mit jenem filmischen Narrativ gleichzusetzen, den der Film Matrix symbolisierte: eine allgegenwärtige Macht, die in sämtliche Lebensbereiche steuernd eingreift. Das Kürzel „ZOG“ modernisiert antisemitische Stereotypen in jugendkultureller Form. Es stellt eine antisemitische Weltformel bereit, die alle Grausamkeiten der Welt zu erklären vermag. Im Rechtsrock wird der Kampf gegen die „Zionisten“ als Teil des Endkampfes gegen ein politisches Weltsystem imaginiert, dessen Existenzgrund in der Herrschaftssicherung der Juden zu suchen sei. Verbunden ist damit die implizite Aufforderung zur Vernichtung der Juden. Ausdifferenzierung und Ausweitung Zum Ende der 1990er Jahre hatte die extrem rechte Skinheadszene den Zenit ihrer jugendkulturellen Reichweite überschritten. Allerdings diffundierten einige ihrer Stilmittel und Inhalte in den Mainstream der Jugendkultur bzw. in andere Jugendkulturen, wo sie weiterhin mit rechten und fremdenfeindlichen Einstellungen assoziiert wurden13. Seitdem hat sich die Genrevielfalt extrem rechter jugendkultureller Identitätsangebote so erweitert, dass es innerhalb nahezu jeder jugendkulturellen Szene eine rechte Substruktur gibt, welche die Integrationsfä12 Ebenda. 13 Hier ist vor allem die sogenannte Bomberjacke oder die Bekleidung der Marke Lonsdale zu nennen, die zunächst vor allem auf die Skinheadszene beschränkte Accessoires darstellten und in den späten 1990er Jahren weite Verbreitung unter Jugendlichen fanden, teilweise unter Verlust ihrer Symbolkraft
Antisemitismus in extrem rechten jugendkulturellen Szenen
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higkeit und Attraktivität rechter jugendkultureller Sozialisationsangebote insgesamt erhöht. Form und Bezug des Auftretens antisemitischer Topoi sind jedoch differenziert zu bewerten. Black Metal Der Name des musikalischen Genres ist schon seine inhaltliche Selbstbeschreibung, die dunkle Seite der Existenz. Die Beschäftigung mit Satanismus, Krieg und den Niederungen des menschlichen Charakters waren Themenfelder, welche die musikalisch aus dem Hard-Rock entstandene Szene prägten. Was Ende der 1980er noch mit einem Augenzwinkern als große Pose vertreten wurde, wandelten norwegische Black-Metal Bands wie Burzum Anfang bis Mitte der 1990er Jahre in Ideologie. Die Mitglieder der Band sagten nicht nur der Kirche den Kampf an, sondern brandschatzten tatsächlich vierundvierzig Kirchen. Berühmt wurde einer der Köpfe dieser Szene, Kristian ‘Varg’ Vikernes, Bandleader von Burzum, jedoch vor allem, weil er einen ehemaligen Freund und Musikerkollegen ermordete. Die Szene bekam Beachtung, wurde hier doch nicht nur geredet, sondern gehandelt.14 In der großen, misanthropisch orientierten Black-Metal-Szene fanden seitdem, nicht zuletzt durch Vikernes, rechte bis extrem rechte Inhalte Eingang. Die Faszination an Zerstörung und Untergang und der Bezug auf eine vermeintlich ‚natürliche’, ‚artgemäße’ Religion, das Heidentum, sind dabei die zentralen Anknüpfungspunkte rechter Ideologie an die allgemeinen Einstellungsmuster der Black-Metal-Szene. Die Ablehnung und der Kampf gegen das als „raum- und artfremd“ definierte „Judäo-Christentum’ bildet dabei den ideologischen Kern. „Wir marschieren in eine neue Zeit, die uns von Juden und Christen befreit“15, kreischt der Sänger der sächsischen Band Magog im Song Feuer in der Dunkelheit ins Mikro. Die Band Magog gehört zur Szene des sogenannten NationalSocialist-Black-Metal (NSBM). Offen antisemitische Beispiele wie dieses lassen sich viele finden. Die Thüringische Band Totenburg zeigt auf dem Cover ihres Tonträgers Weltmacht oder Niedergang eine brennende Synagoge. Die CD Asgardsrei der wohl bekanntesten deutschen Band des NSBM, der Band Absurd, erschien angeblich auf dem Label IG-Farben Produktion.
14 Dornbusch, Christian; Killguss, Hans-Peter: Unheilige Allianzen. Black Metal zwischen Satanismus, Heidentum und Neonazismus. Unrast Verlag, Münster 2005 15 Magog: Feuer in der Dunkelheit. Auf: Magog, o.O. 2001
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„Amalek“, der „Todfeind“ Betrachtet man das Auftreten der extrem rechten Black-Metal Bands, so ist dieses genau wie die Musik oftmals primitiv, roh und gewalttätig. Diese Szene jedoch für oberflächlich und unwissend zu erklären, wäre unzutreffend. So ist der Name der sächsischen Black-Metal Band Amalek gewiss mit Bedacht gewählt und setzt eine identifizierende Rezeption voraus. Denn in der jüdischen Religionsgeschichte sind die Amalekiter das Synonym für die Todfeinde Israels. In Psalm 83 Vers 5 der hebräischen Bibel heißt es über die Amalekiter: „Sie sprechen: ‘Kommt, wir wollen sie vertilgen, dass sie kein Volk mehr seien, dass des Namens Israel nicht mehr gedacht werde!‘“16 In der jüdischen Überlieferungsgeschichte entwickelte sich der Topos der Amalekiter zur Chiffre der Judenfeindschaft schlechthin. Bei den „Amalekitern“ handelt es sich nach Überlieferung des Alten Testaments17 um ein mit den Hebräern in vorstaatlicher Zeit auf dem Gebiet Kanaans konkurrierendes Nomadenvolk, dem in der Bibel räuberische Eigenschaften zugeschrieben werden. Das Alte Testament verzeichnet mehrere Perikopen, in denen von kriegerischen Auseinandersetzungen des Volkes Israel mit den Amalekitern die Rede ist. Im Buch Samuel18 wird berichtet, dass König Saul einen Krieg gegen die Amalekiter führte, der mit deren Vernichtung endete. In der innerjüdischen Reflexion des Antisemitismus wurde dieser mit den Amalekitern assoziiert. So schreibt der jüdische Gelehrte Emil Fackenheim: „Torarollen zu vernichten war ein Lieblingssport der Amaleks vom Mittelalter bis zum Holocaust.“19 In der Geschichte der extremen Rechten spielt die Rezeption der Amalekiter als Feinde der Juden eine nicht unbedeutende Rolle. So nimmt die 2002 gegründete Black-Metal-Band Amalek in ihren Selbstzeugnissen auf dieses Synonym der Todfeindschaft gegen Juden explizit positiv Bezug. Auf die Frage der Herkunft des Bandnamens antwortete diese im Interview mit dem Fanzine Declaration of War: „Wir wählten den Namen aber aus anderen Gründen, weil das Wort Amalek für jene steht, die gegen das heimatlose Völkchen und ihre Handlanger kämpfen bzw. sich deren Tyrannei widersetzen. Auch wird es von dem besagten Völkchen als das abgrundtief Böse angesehen! Denn Amalek bzw. Amalekiter sind und waren ihre Hauptfeinde.“20 Im Interview mit dem extrem rechten Maga16 Vgl. Evangelische Hauptbibelgesellschaft Berlin (Ost) Hrsg.: Lutherbibel (Revidierter Text) Berlin, 1984; Psalm 83, Vers 5-7 17 Exodus 17; 8-16 18 1. Samuel; 15 19 Vgl. Fackenheim, Emil L.: Was ist Judentum. Eine Deutung für die Gegenwart. Berlin, 1999, S. 151 20 Vgl. Declaration of War No.1, S. 29, o. J.; o.O.
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zin Volkswille geht die Band noch weiter und übersetzt Amalekiter nicht mehr nur mit „Talbewohner“, sondern mit „Herrenvolk“21. Die positive Bezugnahme auf die Todfeinde der Juden verknüpft sie mit dem antisemitischen Topos des „heimatlosen Völkchen und ihre Handlanger“.22 Der Vorwurf, die Juden seien im Sinne des Ethnopluralismus nicht nur anders als andere Völker, sondern ihren Eigenschaften nach heimatlos und ohne Ort, macht sie zu einer Art Anti-Volk, dem jede Existenzberechtigung entzogen wird. Die Band Amalek definiert sich selbst hingegen als „Pure German Black Metal“23 mit „heidnisch-patriotischen Texten“.24 „Sicher fühlt man sich beim Spielen dieser Art von Musik zusammen mit den Texten in diese vergangenen Tage zurückversetzt. In einer Zeit, wo noch das Recht des Stärkeren zählte, wo jeder selbst um das Überleben seiner Sippe und seines Volkes kämpfen musste und den Göttern jener Respekt gezollt wurde, wie es heute schon längst vergessen ist.“25 „Heidentum“ wird hier als eine Religion definiert, welche eine “rassische“ Kontinuität und „arteigene“, von Natur aus feststehende Eigenschaften transportiert. Auf den Bildern zum Interview präsentieren sich die Bandmitglieder stilgerecht in schwarzer Kleidung, mit Schwertern, martialischen Nietenarmbändern und mit diabolisch erscheinender Gesichtsbemalung. Im Unterschied zum Begriff „ZOG“ fand der Begriff Amalek nicht breiteren Eingang in die Sprachwelt der extrem rechten Szene.26 Seine antisemitische Konnotation bedarf der kontextuellen Dechiffrierung. Diese versteckte positive Bezugnahme auf radikale Feindschaft gegenüber den Juden versteht nur, wer den religionsgeschichtlichen Deutungsrahmen herzuleiten weiß. Hardcore In den Texten des Genre der Hardcore-Musik, jener schnellen und harten amerikanischen Variante des Punk, wird im politisch-moralischen Tonfall Gesellschaftskritik geäußert, indem der als verlogen empfundenen Moral der Gesellschaft ihr tatsächlicher Zustand entgegen gehalten wird. Heute bedienen auch neonazistische Bands dieses Genre. Es war der Hass, die Wut und die maskuline Körperlichkeit, die z.B. das Tanzen eher wie eine Schlägerei aussehen ließ, wel21 22 23 24 25 26
Vgl. Volkswille No.14, S. 6 (Guben, 2005) Vgl. Declaration of War a.a.O. Ebenda Ebenda Ebenda Zwar erschienen in den Jahren 2000 und 2004 zwei Sampler mit dem Titel „Amalek“ auf dem Label des NPD-Bundesvorstandsmitgliedes Torsten Heise, in deren Rezeption der Titel jedoch kaum Beachtung fand
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che diese Szene für die extreme Rechte interessant machte. Als die eindeutige Besetzung mit linken Inhalten zurückging, besetzten die Vertreter der extremen Rechten sofort auch dieses Feld. Der Einzug des Hardcore ist für die Entwicklung der extrem rechten Jugendkultur von besonderer Bedeutung, da mit dieser Musik auch eine radikale Änderung des Erscheinungsbilds einherging. Kapuzenpullover, Piercings, Basecaps und gefärbte Spitzbärte zogen in die Szene ein und ‘modernisierten’ das Erscheinungsbild. Inhaltlich knüpften die Hardcore-Bands zwar an der Vorstellung einer untergehenden Gesellschaft an, kombinierten diese aber mit der Ideologie des Nationalsozialismus. Der Antisemitismus ist dabei omnipräsent, wie eines der frühen prägenden Alben der US-Band Blue Eyed Devils zeigt, das den Titel Holocaust 200027 trägt. Autonome Nationalisten Die „Autonomen Nationalisten“ stellen eine eigenständige, wiewohl enteignete Form eines faschistischen Vergemeinschaftungsangebots dar. Ihr Auftreten innerhalb des Kerns der extrem rechten Szene erweitert noch einmal das Spektrum der jugendkulturellen Identitätsangebote der extremen Rechten um eine weitere Option. Diese ‘modernisiert’ die jugendkulturellen Ausdrucksformen des Kerns des organisierten Neonazismus. Ihre Agitationsfelder sind nicht mehr die neonazistischen Identitätsthemen wie die geschichtspolitische Rehabilitation des Nationalsozialismus, sondern deren Transformation in Formen des extrem-rechten Anti-Amerikanismus, des Anti-Kapitalismus und der Globalisierungskritik. Die so genannten „Autonomen Nationalisten“ stellen auf den ersten Blick eine detaillierte Kopie der linken Autonomen dar. Sie enteignen den aggressivrevoltierenden Habitus und den kulturellen Code der linken Autonomen und versehen diesen mit eigenen Inhalten. Dabei werden Symbole aus der linksalternativen Jugendkultur antisemitisch aufgeladen. Das dort in den 1980er und 1990er Jahren gern getragene ‘Palituch’, bei dem es sich um eine ehemals traditionelle Kopfbedeckung des Nahen Ostens handelt, wurde durch die Identifikation der Linken mit den Forderungen der Palästinenser politisiert. Die Kufiya findet bei den Autonomen Nationalisten aus eben diesen Gründen der Identifikation Verwendung: ihre Parteinahme für die Palästinenser speist sich eindeutig aus antisemitischen Motiven nach dem Motto „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“.
27 Blue Eyed Devils: Holocaust 2000, USA, 1998
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Die Button-Kultur Sie sind ungefähr so groß wie eine Ein-Euro-Münze und dürften vielen noch aus den 1980er Jahren bekannt sein: die Buttons. Die damals zumeist mit dem „Peace“-Zeichen oder der Anti-AKW-Sonne bedruckten Anstecker tragen das Bekenntnis seines Trägers nach außen. Sie sind die preiswerte Variante der Anstecknadel und fanden in diversen Jugendkulturen eine weite Verbreitung. In der extremen Rechten trugen Skinheads sie schon früh auf der Bomberjacke, sei es nun mit dem Motiv einer England-Flagge oder auch nur der Parole ‘Skinheads Spaß’. Seit Mitte der 1990er Jahre verschwanden die Buttons mehr und mehr aus dem Erscheinungsbild der extrem rechten Jugendkultur. Erst seit den Aufkommen der Autonomen Nationalisten erleben sie eine Renaissance. Allerdings mit Motiven, die sich in ihrer Ästhetik und ihren Aussagen deutlich von ihren Vorgängern unterscheiden. Angeboten werden die Buttons auf den Treffen der rechten Szene, auf Konzerten oder Sommerfesten, aber natürlich auch in den ca. hundert bundesweit existierenden Webshops, welche sich auf den Vertrieb der Ausstattung der extrem rechten Jugendkultur spezialisiert haben.
Abb. 3 Button mit antisemitischen Motiven sind in der extrem rechten Jugendkultur weit verbreitet.
„Smash ZOG“ und „jUSA“ Wie sich der Stil der Autonomen Nationalisten generell an dem der „Linken“ orientiert, so finden sich bei den Buttons Motive, die als solche bekannt sind, von den Autonomen Nationalisten jedoch in einen neuen Kontext gesetzt wer-
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den. Motive wie der kleine Junge oder der Vermummte mit der Zwille, die früher mit dem Slogan “Zerschlagt Nazibanden“ angeboten wurden, tragen jetzt die Aufschrift „Fuck ZOG“. Die englische Sprache hat sich dabei in diesem Bereich der Szene auf den Buttons durchgesetzt, so heißt es zum Bild einer die Ketten zerreißenden Faust „Break the chains of Zion“. Eine moderne Übersetzung der Aufforderung zur Brechung der jüdischen Macht oder der sog. „Zinsknechtschaft“. Die jugendkulturellen Abkürzungen der extremen Rechten sind auf den Buttons allgegenwärtig „NS vs ZOG 88:0“ propagiert ein weiterer, welcher als Motiv den abgerissenen Kopf einer Comicfigur zeigt, die durch ein Tor geschossen wird. Aufgeschlüsselt wird hier der Kampf der Nationalsozialisten gegen das „Zionist Occupied Government“ beschrieben. Beziehungsreich stehen die Zahlen für den angeblich überragenden Sieg der Nazis durch den Punktestand von „88:0“. Der in der extremen Rechten verbreitete Anti-Amerikanismus ist in Buttonform zu kaufen: „Fuck jUSA“ ist auf diesem zu lesen. Die wahren Machthaber in den USA, so legt dieser Button nahe, sind jene an der Ostküste der USA vermuteten Juden, welche angeblich durch ihre Position an der dortigen Börse über Macht und Einfluss verfügen. „Fuck Israel“ steht auf einem anderen Button. Hierfür bedient er sich der Ikonographie des Emblems der Firma Coca Cola, womit die antisemitische Aussage noch in den Kontext eines amerikanischen ‚Kulturimperialismus’ gerückt wird. Statt des Aufdrucks „Enjoy your life“ steht hier „Enjoy the hamas“ zu lesen. Die antisemitischen Verschwörungstheorien rund um den Terroranschlag auf das World Trade Center finden sich ebenso dargestellt. Das Bild eines in den Twin Tower einschlagenden Flugzeuges ist mit dem Kommentar „Take a flight to the world trade´s, to visit the j..nited states“ versehen. Dass nicht direkt „jewnited“ geschrieben wird, dient einzig der Selbststilisierung. Bringt es doch zum Ausdruck, dass nicht einmal ihr Name ungefährdet benannt werden kann. In der Szene jedoch weiß man über die Bedeutung des Buttons, der in letzter Konsequenz die Aufforderung zum Terroranschlag beinhaltet. Mainstream Wer Kontakt zu Schülern hat, wird jedoch feststellen, dass eben jene rechte Musik den größten Verbreitungsgrad hat, die nicht an eine Jugendkultur gebunden ist, sondern im Schlagersound, als Kinderlied oder Evergreen daherkommt. CDs wie die 1997 veröffentlichte 11 deutsche Stimmungslieder der Zillertaler Türkenjäger haben bis heute die größte Reichweite. Es sind Melodien, die viele kennen
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und leicht ins Ohr gehen. Bei den Zillertaler Türkenjägern liegt man dann allerdings nicht mehr am „norddeutschen Strand“, sondern am „arischen Strand“ und Udo Lindenbergs Sonderzug fährt nicht mehr nach Pankow, sondern nach Mekka. Wenn Lehrer sich wundern, dass sie aus den Ohrstöpseln ihrer Schüler die Melodie der Vogelhochzeit hören, dann können sie sich sicher sein, dass hier nicht „Ein Vogel wollte Hochzeit machen in dem grünen Walde“ erklingt, sondern dass der Text des gehörten Liedes mit dem Titel In Belsen lautet: „In Belsen, in Belsen, da hängn se an den Hälsen. Fidiralala, fidiralala, fidiralalala. In Buchenwald, in Buchenwald, da machen wir die Juden kalt. Fidiralala, fidiralala, fidiralalala.“28 Eine jugendkulturelle Zuschreibung ist bei den Hörern dieser Musik nicht mehr gegeben. Der RechtsRock tritt also sowohl in anderen musikalischen Genres als auch in anderen jugendkulturellen Codes auf. Er ist Teil des Mainstreams geworden. Die Arbeit mit antisemitischen RechtsRocktexten in Fortbildungen für pädagogische Multiplikator/innen In den vergangenen Jahren haben Bildungsträger wie Miteinander e.V. an Schulen und Jugendfreizeiteinrichtungen eine Vielzahl von einführenden Fortbildungen angeboten, die in erster Linie das Ziel verfolgten, pädagogische Multiplikator/innen für die Erscheinungsformen der jugendkulturellen extremen Rechten und deren Wandlungsfähigkeit zu sensibilisieren. Dies stieß von Beginn an auf die Schwierigkeit, dass bei der Zielgruppe der Fortbildungen kein soziologisches oder auch nur exemplarisches Wissen über die gruppendynamischen, entwicklungspsychologischen Funktionsmechanismen jugendkultureller Szenen im Allgemeinen und der extrem rechten Jugendkultur im Besonderen vorhanden ist. Daher rührt die nicht selten anzutreffende Ansicht, jugendkulturelle Szenen wiesen als Ausdrucksform eines Lebensgefühls Jugendlicher per se einen politischextremistischen Charakter auf. Diese Annahme speist sich aus der Wahrnehmung von jugendkulturellen Szenen als im Spektrum zwischen non-konform bis gewalttätig angesiedelt. Den jugendkulturellen Orientierungen Heranwachsender treten Lehrer/innen mit einer generellen Skepsis gegenüber, die in der Fortbildungsarbeit zu differenzieren ist, um sie auflösen zu können. Dies gelingt, indem die Teilnehmer/innen an ihre eigenen jugendkulturellen Orientierungen erinnert werden, die bei ihrer Elterngeneration auf wenig Verständnis stießen. Um jedoch nicht nur abstrakt über die extrem rechte Jugendkultur zu dozieren, braucht es eine praxisnahe Vermittlung, die auf Fallbeispiele zurückgreift. In 28 Kommando Freisler: In Belsen. Auf: Geheime Reichssache. O.O. 2003
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diesem Rahmen erscheint die didaktische Analyse von RechtsRock-Texten, welche die enge Verknüpfung zwischen primär emotionaler jugendkultureller Identität und der Aneignung extrem rechter Ideologieelemente verdeutlicht, zunächst sinnvoll. Das folgende Beispiel eines antisemitischen Textes der Rechts Rock-Band Faustrecht zeigt jedoch, welche gegenteilige Wirkung die Verwendung von RechtsRocktexten dort nach sich zieht, wo ein demokratischer Konsensus der Fortbildungsteilnehmer vorausgesetzt ist, der als solcher gar nicht besteht. Faustrecht: Die Macht des Kapitals Sie besitzen unsere Wirtschaft und kaufen unsere Seelen, sind schon längst imstande uns unser Land zu stehlen. Haben die Macht und Gelder, um die Richtung zu diktieren. Es sind nicht mehr Politiker, die unsere Länder führen! Die Macht des Kapitals ist der Feind der freien Welt, das Schicksal aller Völker, unterjocht von ihrem Geld! Die Macht des Kapitals – so verschlagen, raffiniert, die unsere Völker knechtet, getrieben von Habgier! Sie zerstören die Grundlagen, auf denen jedes Volk erwuchs, schüren Hass und Zwietracht, ihre Welt ist nur Betrug! Die Völker dieser Erde erfüllen für sie nur einen Zweck – sie schamlos auszubeuten, unser Blut ist ihr Profit! Die Macht des Kapitals ist der Feind der freien Welt, das Schicksal aller Völker, unterjocht von ihrem Geld! Die Macht des Kapitals – so verschlagen, raffiniert, die unsere Völker knechtet, getrieben von Habgier! Sie züchten einen Menschen, der entwurzelt und naiv, der leicht ist zu beherrschen, da sein Geist ist primitiv! Die ältesten Kulturen, die die Menschheit hervorgebracht werden durch Macht- und Geldgier langsam dahingerafft!29
Textinterpretation Die Einstiegsfrage, mit der die Inhalte des Textes zu erschließen sind, lautet: Welche offenkundige Personifikation meint das Personalpronomen „sie“? Dies gelingt, wenn jene Eigenschaften, die dem Pronomen zugeordnet sind, im Zusammenhang entschlüsselt werden. Die Sprache des Textes nimmt Bezug auf antisemitisch konnotierte Termini, welche die Bilder des Textes beschreiben, ohne sie begrifflich zu nennen: die Blutsauger um des Profits willen, raffinierte Verschlagenheit, um die Gier nach Geld zu befriedigen. Es sind diese negativen
29 Faustrecht: Die Macht des Kapitals. Auf: Klassenkampf. O.O. 2002. Das erstmals 2002 auf einer CD der Band veröffentliche Lied erreichte seinen hohen Verbreitungs- und Bekanntheitsgrad, da es ab 2005 auf mehreren Varianten der von der NPD im Rahmen ihrer Wahlkämpfe kostenlos in hohen Auflagen verteilten 'Schulhof'-CDs enthalten war und vom Medienserver der NPD kostenlos heruntergeladen werden konnte. Das Lied war sogar auf einer 2008 in der Schweiz erschienenen Version der Schulhof-CD vertreten
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Zuschreibungen, über welche die antisemitische Assoziationskette hergestellt ist, die dem Rezipienten eine Deutung nahe legt, wer mit „sie“ gemeint ist. Schon der erste Vers der ersten Strophe gebraucht jedoch ein Sprachbild, dessen inhaltliche Verknüpfung nicht über schlagwortartige Verben funktioniert. Das angesprochene Motiv des Seelenkäufers, der mit Geld nicht nur Ware erkauft, sondern zugleich seinem als Opfer stilisierten Gegenüber die Seele, das Wesen seiner selbst nimmt, ankert sowohl in Grimms Märchen als auch in Richard Wagners Oper Der fliegende Holländer. Nicht zuletzt findet sich das Motiv in der antisemitischen Rezeption des Jud Süß, welches der gleichnamige NSFilm zur Perfidie des rassistischen Antisemitismus gestaltet. Eine klassische Wiedergabe des Musters von Verschwörungstheorien hingegen spiegelt der Vers, in dem davon die Rede ist, es seien nicht Politiker, „die unsere Länder führen“.30 Dies variiert jene, welche die eigentliche Macht ausübten, seien nicht sichtbar und agierten als Verschwörung mit weitreichenden Plänen und Zielen im Hintergrund als ‘Strippenzieher’ oder Marionetten-Spieler. Als Beleg dafür wird in der extrem rechten Szene auf die so genannten „Protokolle der Weisen von Zion“ ebenso Bezug genommen, die dann im Hinblick auf internationale Gremien aktualisiert werden. Die letzte Strophe verdient Beachtung, da sie den bisherigen Motiven ein weiteres hinzufügt. Die Rede von der Entwurzelung des Menschen fußt in der extremen Rechten auf jenen antimodernen Ressentiments, von denen bereits die Sprache der völkischen Bewegung durchtränkt ist. Die Entwurzelung durch die moderne Massengesellschaft geht dabei mit Werte- und Kulturverfall ebenso einher, wie mit dem Bild des wurzellosen Judentums als nomadischer Wüstenreligion.31 Dass die „ältesten Kulturen [....] durch Macht- und Geldgier langsam dahingerafft“32 werden, ist im Text Ausdruck des extrem rechten Ethnopluralismus, der die Wertschätzung einer Kultur an sich nur in Form einer autarken Koexistenz vorstellt und multikulturelle Gesellschaften ablehnt. Die Auffassung, die als amerikanisch apostrophierte globale Massenkultur trage die Verantwortung für die Zerstörung der „ältesten Kulturen“, wird nicht nur in der extremen Rechten mit Begriffen wie „Coca Cola Imperialismus“ belegt. Der hier wiedergegebene Songtext greift somit auf antisemitische Motive aus unterschiedlichen historischen und kulturellen Kontexten zurück und führt diese zusammen. Dabei wechseln sich offen antisemitisch assoziierte Sprachbilder mit solchen ab, die nur dann verständlich sind, wenn sie entschlüsselt werden. Um auf seine Hörer plausibel zu wirken, braucht es kein detailliertes ideen30 Ebd. 31 Weissmann, Karlheinz: Druiden, Goden, weise Frauen. Zurück zu Europas alten Göttern. Freiburg, Herder Verlag 1991, S. 12 ff. 32 Faustrecht, Ebdenda
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geschichtliches Verständnis der intendierten inhaltlichen Zuschreibungen des Textes. Plausibilität erlangt der Text, wie zu zeigen sein wird, über die Ansprache vorhandener Ressentiments, die mit extrem rechten Ideologieelementen verknüpft sind.
Abb. 4: Stereotyp der „Hakennase“, Ausschnitte des Booklet der CD „Klassenkampf der Gruppe Faustrecht, 2002
Grenzen didaktischer Textarbeit in Lehrerfortbildungen Dieser Songtext wurde von uns in Lehrerfortbildungen zunächst mit der Absicht verwendet, die darin zu Tage tretenden antisemitischen Codes würden durch die Lehrer/innen dechiffriert und wären dadurch als Demonstrationsbeispiel antisemitischer Inhalte in RechtsRock-Texten geeignet. Der Song wurde den Lehrer/innen als Hörprobe mit dem Auftrag angespielt, die antisemitischen Implikationen des Textes zu erarbeiten. Bei der anschließenden am Text orientierten Auswertung des Songs stellte sich jedoch oftmals der gegenteilige Effekt der intendierten Absicht der Decodierung ein. Gleich in mehreren Fortbildungen äußerten die teilnehmenden Lehrer/innen affektive Zustimmung zu der antikapitalistischen Phraseologie, die den Text durchzieht. Die Meinungsäußerungen reichten von einem ‘die falschen Leute, die das richtige sa-
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gen’ bis zu vollkommener Zustimmung eines ‘Es stimmt doch, dass in der heutigen Welt das Kapital über alles bestimmt’. Somit ist bei den Lehrer/innen nur die antikapitalistische Deutungsebene des Textes abrufbar. Der Deutung, dass der Text mit antisemitischen Stereotypen arbeitet und diese zum Teil analog der NS-Terminologie verwendet, mochten die Teilnehmer/innen zumeist nicht zustimmen. Eine darauf hinweisende Frage erschien ihnen abwegig. Als Antisemitismus gilt ihnen eine ausschließlich an historische Ereignisse gebundene Form des Judenhasses. Motivveränderungen und Aktualisierungen im Hinblick auf Themen wie Globalisierung werden nicht als antisemitisch interpretiert. Die zuerst zitierte Äußerung muss als Ausdruck eines typisch sozial- und kontexterwünschten Verhaltens der Teilnehmer/innen interpretiert werden, denen ihre Teilnahme an einer Fortbildung, die sich kritisch mit Erscheinungsformen der extremen Rechten auseinandersetzt, ein Verhalten nahe legt, zustimmende Äußerungen zu extrem rechten Einstellungen zu Gunsten des imaginierten Konsensus zu unterlassen. Die an zweiter Stelle zitierte Einstellung bricht jedoch mit diesem unausgesprochenen Gruppenkonsens und reproduziert und verstärkt bei den Lesern bzw. Hörern eben jene Ressentiments, welche der Text auf der Ebene eines affektiven rechten Antikapitalismus anspricht. So greifen Lehrer/innen, die ihre prägende politische Sozialisation in der DDR erfuhren, auf ein Arsenal vulgärmarxistischer Termini zurück, die zu einer dichotomen Vereinfachung gesellschaftlicher Widersprüche führen, in denen sich ihre Ressentiments in einer personifizierten Auffassung vom Kapital als Quelle allen gesellschaftlichen Übels unreflektiert spiegeln. In dem Moment, in dem die Lehrer/innen den Text auf Befragen hin als politisch ‘eher links’ verorten, entfaltet der Appell des Textes an die Ressentiments seiner Hörer seine von der Band beabsichtigte Wirkung. Die offenbarte Zustimmung der pädagogischen Rezepient/innen zu extrem rechten Ideologieelementen im Gewande populärer Kapitalismuskritik im Angesicht der Finanz- und Wirtschaftskrise wird hier evident. Um diese Wirkung zu erzielen, muss der Antisemitismus im Text der Band Faustrecht nicht offen ausgesprochen oder gar als solcher erkannt werden. Im Gegenteil: seine affektive Rezeption funktioniert gerade, weil er nicht erkannt wird. Somit ging die pädagogisch-didaktische Verwendung des Textes von der falschen Annahme eines kritisch-reflexiven Umgangs mit extrem rechten Inhalten aus, was selbstredend mit der Zielintention der Fortbildung kollidiert. Die nachfolgenden Diskussionen zwischen den Referenten der Fortbildung und den Teilnehmer/innen erbrachte, dass Letztere sich zwar formal klar von der extremen Rechten distanzieren, jedoch im Falle einer Form der lebenswelt- und mentalitätsnahen Ansprache ihrer Ressentiments mit Zustimmung reagieren.
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Insgesamt ist festzustellen, dass codierte antisemitische Stereotypen nur dann als solche identifiziert werden, wenn sie explizit genannt werden. Die Übersetzungsleistung, dass der Text antisemitische Klischees nutzt, diese aber nicht benennt, bringen unserer Erfahrung nach Lehrer/innen in einer Fortbildungssituation nur dort auf, wo die Impulsfragen der Referenten dies als Erarbeitungsziel deutlich erkennen lassen. Daher liegt der Schluss nahe, sich auch und gerade im Rahmen von Einführungsfortbildungen zum Thema extrem Rechte nicht auf die deskriptive Ebene der Phänomenologie der jugendkulturellen extremen Rechten zu beschränken. Statt dessen müssen die Teilnehmer/innen über die Arbeit an Fallbeispielen, die der Realität ihres Arbeitsalltags entnommen sind, in die Lage versetzt werden, inhaltlich zu diskutieren und zugleich die zu Gebote stehenden Optionen pädagogischen Handelns zu prüfen. Ziel muss es dabei sein, bei den Fortbildungsteilnehmer/innen eine kritische Reflexion der eigenen Wahrnehmungs- und Ressentimentstrukturen im Hinblick auf antisemitische Stereotype zu initiieren. Fazit Wie gezeigt ist Antisemitismus in wechselnden Bezugsrahmen und historischen Kontexten extrem rechter Jugendkultur virulent. Von den Jugendlichen selbst wird diese Ideologie oder dessen Fragmente als nicht explizit ‘politisch’ eingeordnet, sondern findet sich in ihren lebensweltlichen Alltag eingebettet. Durch diese Verankerung im Alltag mittels des Mediums Musik erreichen die ideologischen Statements eine hohe Präsenz, deren Reichweite über die von Propagandaschriften weit hinausgeht. Für die Jugendlichen ergibt sich eine Plausibilität der dargebotenen extrem rechten oder antisemitischen Inhalte oft über ihre scheinbare geschlossene Deutung der sozialen Realität. Dieses Phänomen ist problematisch, da pädagogische Multiplikator/innen oftmals keinen Zugang zu den Lebens- und Sinnwelten dieser Jugendlichen haben. Dargelegt wurde jedoch ebenso, dass es sich als solches nicht um ein Jugendproblem handelt, denn oftmals teilen die Erwachsenen und auch pädagogische Fachkräfte inhaltlich die angesprochenen Ressentiments. Es reicht also nicht aus, in der Multiplikator/innenfortbildung auf Information und Sensibilisierung zu setzen. Vielmehr geht es um eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den dargebotenen Inhalten vor dem Hintergrund des Welt- und Menschenbildes der handelnden pädagogischen Akteure.
Handlungsbedingungen einer Pädagogik gegen Antisemitismus im globalisierten Klassenzimmer Mirko Niehoff
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Statt einer Einleitung: ein Gespräch unter mehreren
A: „Antisemitismus ist eine Form des Rassismus. Im Sinne einer Pädagogik gegen Antisemitismus sind Konzepte aus der nicht-rassistischen und interkulturellen Bildungsarbeit völlig ausreichend.“ B: „Antisemitismus und Rassismus sind nicht identisch. Daher sind auch spezifische pädagogische Ansätze notwendig.“ C: „Aber in der Regel ist es doch so, dass gegenwärtige Äußerungen gegen Juden bloße Reaktionen auf die ungerechte Politik des Staates Israel sind.“ B: „Das hieße ja, Israel und die Juden selbst trügen die Schuld am Antisemitismus. Die Umkehr von Tätern und Opfern ist ein judenfeindliches Stereotyp.“ A: „Wieso judenfeindliches Stereotyp? Ich habe nichts gegen Juden, aber das, was die Israelis mit den Palästinensern machen, das ist unmenschlich.“ C: „Genau, schließlich verhalten sich die Israelis gegenüber den Palästinensern nicht viel anders, als sich die Nazis gegenüber den Juden verhalten haben. Aber so etwas darf man ja in Deutschland nicht sagen, sonst wird man gleich als Antisemit beschimpft. Dabei gibt es auch Juden, die Israel kritisieren.“ B: „Wer antisemitische Stereotype benutzt und durch derartige Vergleiche den Holocaust relativiert, der darf sich über solche Vorwürfe nicht wundern.“ C: „Aber der Vorwurf des Antisemitismus dient doch meistens dazu, jede Kritik am Staat Israel zu unterdrücken.“ B: „Niemand verbietet Kritik am israelischen Staat und seiner Politik. Man muss aber unterscheiden, ob Israelkritik legitim oder antisemitisch ist.“ C: „Für die selbsternannten Verteidiger Israels ist doch jede Kritik am jüdischen Staat gleich antisemitisch!“ D: „Also das Kernproblem ist doch dies: Jede Kritik an Israel dient den Islamfaschisten, und die sind schließlich selbst Antisemiten!“ C: „Moment mal! Wenn sich hier jemand faschistisch verhält, dann sind es doch die Juden, nicht die Muslime!“ A: „Wieso jetzt ‚die Juden’? Ich dachte, wir reden über den Staat Israel?“
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C: „Naja, der Staat Israel und die Juden, das lässt sich doch kaum trennen. Schließlich definiert sich Israel als ein ‚jüdischer Staat’, begreift sich also selbst als kollektiver Jude. Wenn Araber oder andere Moslems ‚die Juden’ als ihre Feinde bezeichnen, dann meinen sie den Staat Israel. Also ist dies nicht antisemitisch, sondern antizionistisch und übrigens auch legitim.“ B: „Wenn es aber bloß um den Staat Israel geht, warum werden dann Juden auf der ganzen Welt angegriffen und stereotyp diffamiert?“ C: „Es ist nun einmal so, dass die Juden die Palästinenser unterdrücken. Die Opfer von damals werden zu den Tätern von heute. Und die Deutschen ergreifen für Israel und die Juden Partei, weil sie sich schuldig fühlen.“ B: „Da deuten Meinungsumfragen aber auf etwas anderes hin: So wird in Deutschland kein anderer Staat als so bedrohlich empfunden, wie der Staat Israel.“ D: „Gleichzeitig finden es aber viele ‚politisch korrekte’ Deutsche schon verwerflich, auch türkische oder arabische Jugendliche wegen Antisemitismus zu kritisieren, weil das angeblich rassistisch sei.“ A: „Richtig daran ist doch, dass der generelle Antisemitismusvorwurf gegen die muslimische Minderheit dem eigenen Rassismus eine moralische Berechtigung zu geben scheint. Solche Zuschreibungen schaffen eine vermeintliche Eindeutigkeit, mit deren Hilfe man sich leicht aus der Verantwortung stehlen kann. Nicht irgendein Antisemitismus unter muslimischen Migranten, sondern deren rassistische Diskriminierung, soziale Ausgrenzung und Perspektivlosigkeit innerhalb der Mehrheitsgesellschaft sind die wirklich brennenden Themen, die angegangen werden müssen.“ C: „Mehr noch! Die meisten der jugendlichen Migranten, die sich antisemitisch äußern, tun dies doch nur, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Darin drückt sich auch ihr Kampf um Anerkennung und Identität aus.“ B: „Wenn es dabei nur um Aufmerksamkeit und Anerkennung geht, warum werden dann ausgerechnet die Juden angefeindet?“ D: „Der Grund dafür ist der Islam selbst, weil dieser sich gegen die Juden richtet.“ B: „Die islamische Religion an sich ist nicht judenfeindlich! Außerdem ist Antisemitismus auch nicht auf eine bestimmte Gruppe zu reduzieren. Schließlich finden sich Formen von Antisemitismus auch in der Mitte der Gesellschaft, und auch auf Seiten der politischen Linken.“ A: „Echte Linke können gar nicht antisemitisch, sondern allenfalls antizionistisch sein.“ B: „Falsch! Viele Linke pflegen einen Antizionismus, dessen Motive und Erscheinungsformen durchaus antisemitisch sind. Natürlich gilt dies nicht für alle Linken.“
Handlungsbedingungen einer Pädagogik
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C: „Stimmt, denn es gibt ja auch Linke, die nicht nur bedingungslos israelsolidarisch sind, sondern gleichzeitig islamophob.“ D: „‚Islamophobie’ ist ein Kampfbegriff, der vor allem den islamischen Fundamentalisten dazu dient, jede Kritik am Islam und an den Feinden Israels zu verhindern. Eine Folge davon ist, dass Antisemitismus und antimuslimischer Rassismus bloß unterschiedslos als zwei Seiten einer Medaille erscheinen.“ B: „Aber gibt es nicht tatsächlich strukturelle Ähnlichkeiten zwischen Judenfeindschaft und Islamfeindlichkeit? Und sollte man dies nicht einmal mit wissenschaftlichen Methoden untersuchen? Ein Vergleich muss ja nicht auf eine Gleichsetzung hinauslaufen, sondern könnte auch die Unterschiede herausarbeiten.“ 2
Quo vadis? Versuch einer Ordnung
Das vorangestellte Gespräch unter mehreren ist fiktiv, weniger jedoch wegen seiner Inhalte als vielmehr hinsichtlich der Konstellation. Schließlich sind die global geführten Diskurse zum Antisemitismus und angrenzenden Themenfeldern nicht nur durch sachlich fundierte, sondern auch durch verkürzte, einseitige und ideologisch aufgeladene Positionierungen geprägt. So finden sich in der Fachliteratur, in Internetforen, in Tageszeitungen und Wochenzeitschriften zu den Themen Antisemitismus, Rassismus, Islam, Israel, Nahost-Konflikt etc. etliche der im fiktiven Gespräch verhandelten Positionen wieder – auch wenn man ausschließlich deutschsprachige Literatur heranziehen würde. Es mag daher nicht verwundern, dass einige dieser Positionen auch unter Jugendlichen zu hören sind. Politische Bildung, die hier ansetzen will und in Referenz auf den Beutelsbacher Konsens das Kontroverse aus Wissenschaft und Politik auch im Unterricht kontrovers erscheinen lassen will, bedarf zunächst einmal einer sachlichen Einordnung der konträren Positionen. Um eines diskursiven Klimas politischer Bildung willen gilt es emotional-affektive Positionierungen auf Sachlichkeit zu überprüfen, das Irrationale vom Rationalen zu trennen, die stereotypen Deutungsmuster zu identifizieren, Pauschalisierung durch Differenzierung zu ersetzen sowie die Polarisierungen zu ordnen. Im Sinne der Konkretisierung von Handlungsbedingungen einer zeitgemäßen Anti-Antisemitismusarbeit geht es zuerst um eine Präzisierung von Begriffen. Diesbezüglich erscheint insbesondere die Frage nach dem Zusammenhang von Antisemitismus und Rassismus bedeutend. Eine Beantwortung dieser Frage soll im Folgenden versucht werden, um sodann exemplarisch adäquate Optionen einer zeitgemäßen Anti-Antisemitismusarbeit im globalisierten Klassenzimmer aufzuzeigen.
246 2.1
Mirko Niehoff Mit nicht-rassistischer Bildungsarbeit gegen Antisemitismus?
Als Gegenstand politischer Bildung – zumal in der Schule – taucht Antisemitismus bis heute vor allem im Kontext historisch-politischer Bildung zum Nationalsozialismus und Holocaust auf. Mit Blick auf Auschwitz als einen zeitlosen und gleichsam unentbehrlichen Gegenstand politischer Bildung ist dies zweifellos richtig. Gleichwohl sind die Grenzen der historisch-politischen Bildung zur Kenntnis zu nehmen. So konstatiert etwa der Antisemitismusexperte Gert Weißkirchen (SPD): „Wir beschäftigen uns mit dem Holocaust, auch um damit antisemitische Ideen zu bannen. Aber es funktioniert nicht!“ (Rafael 2006). Was aber funktioniert dann? Ist im Sinne einer zeitgemäßen Anti-Antisemitismusarbeit die stärkere Implementierung gängiger Konzepte der nicht-rassistischen und interkulturellen Bildungsarbeit zu fordern? Oder gilt es eher eigenständige Ansätze und Konzepte zu konzeptionalisieren? A priori sind diese Fragen sicherlich nicht eindeutig zu beantworten. Dennoch zeugen in jüngerer Zeit unterschiedliche außerschulische Initiativen, Publikationen und Fortbildungsveranstaltungen davon, dass letztere Annahme Konjunktur hat. Durchgesetzt hat sich diese Perspektive indes noch nicht. Noch immer wird in pädagogischen Diskussionen, Programmen und Ansätzen im Bereich der Prävention von Vorurteilen und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit das Thema Antisemitismus nur selten explizit erwähnt, und dies aus unterschiedlichen Gründen. Einer dieser Gründe stellt sicherlich ein Verständnis von Antisemitismus dar, das diesen als spezifische Form des Rassismus begreift. Als absurd oder referenzlos sind derartige Annahmen nicht zu bezeichnen, und dafür sprechen vor allem drei Argumente: Erstens existieren in den auf Rassismus, Rechtsextremismus und Antisemitismus bezogenen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen durchaus unterschiedliche Perspektiven. So sei es grundsätzlich möglich, antisemitische Haltungen als „eine Spielart des Rassismus“ zu betrachten (Memmi 1987: 72), da auch der Antisemitismus auf mit Macht- und Herrschaftsverhältnissen verknüpften biologischen und kulturalistischen Differenzsetzungen im Sinne einer Wir/Sie-Unterscheidung beruhe. Zweitens könne das Phänomen Antisemitismus aus einer historischen Perspektive nicht gänzlich vom Rassismus isoliert betrachtet werden, schließlich seien Antisemitismus und Rassismus vor dem Hintergrund der im 19. Jahrhundert aufkommenden geschichtsphilosophischen und sozialdarwinistischen Rassentheorien sowie der völkischen Ideologien eine enge Verbindung eingegangen, in deren Kontext den ‚Juden’ per se negativ definierte ‚Rasseeigenschaften’ zugeschrieben wurden. Drittens schließlich bleibe die Jugendforschung bisher die Antwort weitgehend schuldig, ob sich unter Schülerinnen und Schülern das konstruierte Juden-Bild von anderen konstruierten Fremdbildern derart maßgeblich unterscheide, dass es
Handlungsbedingungen einer Pädagogik
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gerechtfertigt wäre, einer Anti-Antisemitismusarbeit abzusprechen, mit Ansätzen aus der nicht-rassistischen Bildungsarbeit adäquat und zielgenau arbeiten zu können. Auch neuere qualitative Studien bringen diesbezüglich nicht die zu wünschenden Eindeutigkeiten hervor. So sprechen sich beispielsweise Barbara Schäuble und Albert Scherr in Referenz auf Interviews mit Jugendlichen aus heterogenen Jugendszenen einerseits für „eine Integration der pädagogischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus in den Kontext einer weitreichenden Diversity-, Social Justice- und Menschenrechtspädagogik“ aus. Schließlich würden Jüdinnen und Juden „durchgängig als eine vom jeweiligen ‚Wir’ der Eigengruppe unterscheidbare soziale Gruppe mit besonderen Eigenschaften“ benannt (Schäuble/Scherr 2006: 52). Andererseits können sich derartige Differenzsetzungen aber auch mit Markierungen aus dem Arsenal tradierter antisemitischer Stereotypen kombinieren, wie etwa die vom reichen und mächtigen, weil klugen ‚Juden’. Hier scheint für die beiden Forscher nun der „bloße Rückgriff auf gängige Programme der Diversity-, Social Justice- und Menschrechtspädagogik (…) nicht hinreichend“ und es bedarf „einer Ergänzung der vorliegenden Konzepte um die Auseinandersetzung mit antisemitismusbezogenen Inhalten“ (ebd.: 53). Derartige Uneindeutigkeiten, die sich aufgrund vielfältiger Möglichkeiten politischer Bildung in der Praxis zwar gegenseitig ergänzen können, sind nüchtern betrachtet dennoch Widersprüche, die die Frage nach einem adäquaten Konzept im Sinne einer Anti-Antisemitismusarbeit nur eingeschränkt beantworten. Widersprüchliches lässt sich wie erwähnt auch in der Theorie-Diskussion finden. So kritisierte etwa Hannah Arendt (2001; Original 1951) die Einordnung des Antisemitismus in xenophobe und andere Vorurteilsstrukturen, wie sie Gordon W. Allport (1971) vornahm. Allport, der ohne eine spezielle Definition von Antisemitismus, diesen als differentia specifica gruppenbezogener Vorurteile begreift, wird von manchen Antisemitismusforschern sekundiert. Für Dietmar Sturzbecher und Ronald Freytag ist der Antisemitismus ein „gewöhnliches Vorurteil mit einer ungewöhnlichen Geschichte“ (Sturzbecher/Freytag 2000: 9f.). Dem widerspricht beispielsweise Henryk M. Broder, indem er den Antisemitismus nachdrücklich als Ressentiment und nicht als Vorurteil bezeichnet. Die Begründung liefert er gleich mit: „Ein Vorurteil zielt auf das Verhalten eines Menschen, ein Ressentiment auf dessen Existenz“ (Broder 2008: 2). Die dem Antisemitismus innewohnende Vernichtungsdrohung unterscheide diesen von anderen Formen der Diskriminierung von Gruppen. Ähnliches impliziert auch Moishe Postone, wenn er nach der qualitativen Besonderheit des Antisemitismus fragt. Entgegen der Annahme von Antisemitismus als Rassismus sans phrase, sei das Spezifische des modernen Antisemitismus und insbesondere des Holocaust so lange unerklärlich, „wie der Antisemitismus als bloßes Beispiel für
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Vorurteil, Fremdenhass und Rassismus allgemein behandelt wird“ (Postone 2005: 177). Was aber ist das genuin Spezifische am Antisemitismus? Unterscheidet sich der Antisemitismus tatsächlich vom Rassismus? Dazu ein kurzer, exemplarischer Exkurs in die analytische Antisemitismusforschung, die sich mit den Grundstrukturen des Phänomens auseinandergesetzt hat. Beim Antisemitismus handelt es sich um eine Ideologie, um eine reaktionäre Denkform. Reaktionär ist die Denkform dergestalt, dass im Antisemitismus eine Revolte in Form einer „Klage gegen die moderne Gesellschaft und gegen die Zerstörung der angeblich traditionellen, harmonischen und authentischen Lebensformen“ (Holz 2005: 23) zu identifizieren ist. In diesem Zusammenhang äußert sich unter anderem ein Angriff auf das Abstrakte, etwa in Form des Ressentiments gegen das (vermeintlich) unproduktive, internationale Finanzkapital. Die Wechselwirkungen und Abhängigkeiten zwischen dem Produktionskapital und dem Finanzkapital im Räderwerk des Kapitalismus werden ausgeblendet – so ist z.B. die kapitalistische Produktion ohne Kreditsystem gar nicht möglich. Postone konkretisiert den Angriff auf das Abstrakte im Rahmen einer materialistischen Gesellschaftsanalyse in Bezugnahme auf Karl Marx’ Begriff des (Waren-)Fetischismus (Postone 2005: 182ff.). Ähnlich wie die Ware in eine konkrete und eine abstrakte, wertbezogene Dimension unterschieden werden könne, werde im fetischisierten Antikapitalismus auch die kapitalistische Gesellschaft in zwei getrennte Formen unterschieden: „Die Produktion, wie die Industrie, stehe für das Konkrete, für die Arbeit; das Geld hingegen, die Börse und die Wertform für das Abstrakte, für das, was das Kapital und den Kapitalismus eigentlich (aber eben fälschlicherweise) charakterisiere. Dass die mehrwertschaffende Produktion die eigentliche Basis kapitalistischer Produktion und Ausbeutung sei, werde von den Gesellschaftsmitgliedern nicht erkannt“ (Frindte 2006: 167). Kapitalismus werde in der antisemitischen Tradition nicht seinem Wesen nach erfasst; die fetischisierte Kapitalismuskritik bleibe in den Erscheinungsformen der gesellschaftlichen Verhältnisse befangen. „Kapital selbst – oder das, was als negativer Aspekt des Kapitalismus verstanden wird – wird lediglich in der Erscheinungsform seiner abstrakten Dimension verstanden: als Finanz- und zinstragendes Kapital“ (Postone 2005: 187). Die fetischisierte Kapitalismuskritik bleibe allerdings nicht beim Angriff auf das Abstrakte stehen, sondern personalisiere diese in der Figur des Juden. Dadurch werden schwer durchschaubare und als Bedrohung empfundene Krisen und Umbrüche, wie beispielsweise die Zirkulationssphäre oder auch die Erosionen traditioneller sozialer Hierarchien oder Urbanisierungs- und Liberalisierungsprozesse, in der Weise (vermeintlich) begreiflich, als die Verantwortlichkeit für die gesellschaftlich vermittelten Prinzipien den Juden zugeschrieben werden kann. Jedwede Bedrohungen, „die von anonymen,
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unfassbaren Mächten ausgehen, vom Geld, vom Kapital, vom Weltmarkt, erhalten jetzt ein Gesicht: es ist die Bedrohung durch das ‚Weltjudentum’“ (Heinrich 2004: 192). Hier deute sich nach Postone ein systemartiger Charakter des Antisemitismus an, der eine Welterklärung für sich beanspruche (Postone 2005: 179) – wobei Heinrich darauf hinweist, dass keine direkte Zwangsläufigkeit zwischen dem Warenfetisch und Auschwitz bestehe (Heinrich 2004: 192). Die Wahl der Juden als Projektionsfläche war derweil keineswegs zufällig oder gar vom reellen Handeln der Juden bestimmt. Der tradierte Antijudaismus, der den Juden bereits die Macht unterstellte, Gottes Sohn getötet zu haben, der Ausschluss der Juden von handwerklicher Arbeit im Mittelalter und damit einhergehend die langlebige Assoziationen von Jude und Geld, ebenso die Gleichzeitigkeit der jüdischen Emanzipation und die Periode der Durchsetzung der liberalkapitalistischen Wirtschaftsordnung, rückten die Juden in den Fokus der antisemitischen Kritik. Fern einer materialistischen Gesellschaftsanalyse leistet Klaus Holz durch Rekonstruktion der national-antisemitischen Semantik einen fundierten und theoretisch überzeugenden Beitrag hinsichtlich spezifischer Charakteristika des Antisemitismus. Holz analysiert unterschiedliche Quellen und geht von einem Begriff aus, der den Antisemitismus als spezifische Semantik versteht, „in der ein nationales, rassisches und/oder religiöses Selbstbild mit einem abwertenden Judenbild einhergeht“ (Holz 2005: 10). Holz setzt sich also unter anderem mit der Analyse von Fremd- und Selbstbildern zur Erklärung des Antisemitismus auseinander. In den antisemitischen Quellen lassen sich demnach eine Reihe von antisemitischen Zuschreibungen finden, die nicht als xenophobe Semantiken zu bezeichnen sind. Dazu gehören nach Holz neben den Zuschreibungen vom mächtigen, geheimnisvollen, verschwörerischen und zersetzenden ‚Juden’ auch die des wurzellosen, heimatlosen und internationalen ‚Juden’. Anhand der Regel Identität vs. Nicht-Identität begründet Holz die Differenz zwischen Antisemitismus und Xenophobie. Der ‚Jude’ bleibe der binären Unterscheidung zwischen eigenen Gemeinschaften, eigener kollektiver Identität einerseits und fremden partikularen Gemeinschaften andererseits äußerlich und stelle diese mithin als großer „Antagonist aller Wir-Gruppen“ in Frage (Holz 2005a: 7): „Die identitätslogische Konstruktion der Nation findet im ‚Juden’ nicht die andere Identität, sondern den Feind nationaler Identität überhaupt“ (Holz 1998: 15). Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Die im Antisemitismus genuin enthaltene generalisierbare Vorurteilsstruktur, die auf einer binären Unterscheidung in Eigen- und Fremdgruppen beruht, unterscheidet den Antisemitismus nicht wesentlich vom Rassismus. Der Umstand indes, dass der Antisemitismus Ausdruck eines personalisierenden Verständnisses komplexer gesellschaftlicher Verhältnisse ist, was ihn zum umfassenden ideologischen Welterklärungsmodell
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werden lässt, sowie die darin enthaltene Konstruktion vom abstrakten, verschwörerischen, internationalen, mächtigen und klugen ‚Juden’, unterscheidet ihn sehr wohl vom Rassismus. Schließlich steht dem sozial konstruierten rassistischen Fremdbild, das sich in der Regel von oben nach unten artikuliert, also von einer Unterlegenheitsannahme der Fremdgruppe ausgeht, ein konstruiertes antisemitisches Fremdbild gegenüber, das von einer unkontrollierbaren und alles bedrohenden und zersetzenden Macht und somit von einer Höherwertigkeit der Fremdgruppe ausgeht. Daher verwundert es auch nicht, dass der Antisemitismus in seiner Konsequenz das Existenzrecht aller Juden bekämpft, was ihn qualitativ vom gewöhnlichen Vorurteil unterscheidet. Dabei ist dem Antisemitismus eine erstaunliche Inkonsistenz immanent, kann der ‚Jude’ doch als Kapitalist, Kommunist oder Faschist, als Volk aber nicht als Nation, als bewundernswert und verachtenswert zugleich imaginiert werden. Letzthin lässt sich festhalten, dass es im Sinne einer Pädagogik gegen Antisemitismus nicht nur auf die klassischen Konzepte der antirassistischen Bildungsarbeit zurückgegriffen werden kann. Der Antisemitismus basiert in ungleich höherem Maße auf Projektionen und erfordert daher, von einem normativen Standpunkt aus gesehen, spezifische Ansätze. Diese These ist auch unter Berücksichtigung der aktuellen Erscheinungsformen des Antisemitismus grundsätzlich zu verifizieren, schließlich sind diese in ihren Strukturen den altbekannten ähnlich.
2.2
Aktuelle Erscheinungsformen des Antisemitismus
Im Zuge der zweiten Intifada im Jahr 2000 kam es zu einem deutlichen Anstieg antisemitischer Vorfälle in weiten Teilen Westeuropas. Wesentlich vor diesem Hintergrund entwickelte sich in Wissenschaft und Publizistik in der folgenden Zeit eine äußerst kontrovers geführte Debatte, in der es um die Frage nach einem Neuen Antisemitismus geht. Zunächst ging es um eine Präzisierung dessen, was denn das Neue ausmache. Nach Klaus Holz könne man beispielsweise nicht von einem neuartigen Antisemitismus in dem Sinne sprechen, dass sich die Grundmuster der antisemitischen Semantik verändert hätten. Es müsse vielmehr davon ausgegangen werden, dass „die hergebrachten Strukturen des Antisemitismus an die veränderte weltgeschichtliche Lage angepasst“ worden seien (Holz 2005: 11). Dies bedeute auch, dass beispielsweise der in muslimisch geprägten Gesellschaften virulente Antisemitismus im Wesentlichen ein Export aus Europa sei, der lediglich an die islamistische Semantik angepasst wurde (Holz 2005: 15ff.). Dieser Annahme widerspricht Matthias Küntzel, indem er auf eine spezifisch antijüdische Lesart des Korans verweist und Klaus Holz vorwirft, den Stellen-
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wert der antijüdischen Direktiven des Koran zu vernachlässigen (Küntzel 2006). Inzwischen dürfte sich die These von Klaus Holz weitgehend durchgesetzt haben (vgl. etwa Kiefer 2007: 84) Gleichwohl ist die Frage nach dem Antisemitismus in muslimisch geprägten Ländern sowie unter muslimisch sozialisierten Migrantinnen und Migranten in Europa eine wesentliche im Kontext der Auseinandersetzung um den Neuen Antisemitismus. Im Mittelpunkt stehen die Fragen nach Ausmaß und Bewertung dieses Antisemitismus. Während einerseits die Zuspitzung des Nahost-Konfliktes auch dadurch erklärt wird, dass auf arabischer Seite antisemitische Bebilderungen benutzt würden, wird dieser Antisemitismus andererseits „im Wesentlichen als temporäres Nebenprodukt des realen Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern, und, in Bezug auf Westeuropa, als Ergebnis sozialer und ethnischer Spannungen in Ländern, die vom Judenhass und Islamophobie nicht frei sind“ begriffen (Rabinovici et al. 2004: 10). Darüber hinaus werden die Debatten um den Neuen Antisemitismus von der Frage nach dem Antisemitismus in der Linken geprägt. In diesem Zusammenhang kommt neben einer regressiven, verkürzten und/oder personalisierenden Kapitalismuskritik insbesondere dem antiimperialistischen Antizionismus eine Bedeutung zu. So vertritt Thomas Haury die These, dass der Antiimperialismus als diffuser Grundkonsens innerhalb der Linken eine zentrale Ursache des antisemitischen Antizionismus sei (Haury 2004: 103). Insbesondere der ausgeprägte Manichäismus und die positiven Bezüge auf Volk und Nation seien strukturell antisemitisch. In diesem Kontext werden sodann die Palästinenser als das konkrete, bodenständige Volk betrachtet, dem die Zionisten (Juden) als abstraktes Volk und künstliche Nation gegenübergestellt werden. Andere Stimmen hingegen vertreten mit Nachdruck die Position, man müsse zwischen Antisemitismus und Antizionismus deutlich unterscheiden (vgl. etwa Judt 2004: 44ff.). Ebenso müsse die Auswirkung des Nahost-Konfliktes „auf das Bewusstsein und Unterbewusstsein der Beteiligten und Betroffenen“ stärker in den Blick genommen werden, schließlich sei in Referenz dessen weniger der Antisemitismus als vielmehr eine „Art von Kriegsrassismus“ das Motiv etwa für Übergriffe von französischen Muslimen auf französische Juden (Bunzl 2008: 140f.). Diese beiden Themenfelder im Kontext der Debatten um einen Neuen Antisemitismus machen eines deutlich: die exponierte Bedeutung des NahostKonflikts. Nahezu alle wesentlichen Diskussionen um den aktuellen Antisemitismus berühren mehr oder minder den realen Konflikt. Daher mag es auch nicht verwundern, dass der Bezugsrahmen Nahost-Konflikt ganz explizit als das Neue am aktuellen Antisemitismus beschrieben wird (Rabinovici et al. 2004: 10). In diesem Zusammenhang wird argumentiert, es käme zu einer zunehmenden Verbreitung (strukturell) antisemitischer Israelfeindschaft, die sich lediglich als Kritik tarne und in unterschiedlichen nationalen, ethnischen, religiösen und poli-
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tischen Zusammenhängen virulent sei. Kritiker dieser Argumentation wenden hingegen ein, dass ein derartiger Fokus benutzt würde, um jegliche Kritik am Staat Israel zu stigmatisieren. In diesem Sinne sei der Begriff des Neuen Antisemitismus ein politisches Propagandainstrument. Zudem sei die Benennung der muslimisch geprägten Minderheiten in Europa als Tätergruppen rassistisch konturiert und fördere lediglich deren weitere Stigmatisierung. Solcher Kritik zum Trotz hat das European Monitoring Centre on Racism and Xenophobia (EUMC) im Jahr 2005 eine detaillierte, praxisorientierte und in Fachkreisen zwar nicht gänzlich unkritisierte, dennoch weithin akzeptierte Arbeitsdefinition von Antisemitismus veröffentlicht, die explizit auch antisemitische Israelkritik beinhaltet. Demnach liege Antisemitismus unter anderem dann vor, wenn dem Staat Israel das Existenzrecht abgesprochen würde und wenn man an Israel andere Maßstäbe und Verhaltensansprüche anlege, als an andere demokratischen Staaten. Um Antisemitismus handle es sich außerdem auch dann, wenn Symbole und Bilder des tradierten Antisemitismus zur Charakterisierung des Staates Israel verwendet, wenn die Politik Israels mit dem Nationalsozialismus verglichen und/oder Juden kollektiv für Handlungen des Staates Israel verantwortlich gemacht würden (vgl. EUMC 2005). Die aktuellen Formen des Antisemitismus in Bezug auf den NahostKonflikt werden in ihrer vielfältigen Weise im Wohnzimmer und auf der Straße, im Internet und auf Schulhöfen wiedergegeben. Daher scheint es bedeutsam, den Nahost-Konflikt als einen wesentlichen Ausgangspunkt von Überlegungen hinsichtlich der Konzeptionalisierung einer zeitgemäßen Pädagogik gegen Antisemitismus in der Schule genauer zu betrachten.
2.3
Der Nahost-Konflikt im globalisierten Klassenzimmer
Ob der Nahost-Konflikt als Ursache, Folge, Vorwand, Projektionsfläche oder Katalysator von Ressentiments angesehen werden muss, ist grundsätzlich umstritten. Zweifelsfreie Eindeutigkeiten sind auch hier a priori kaum anzunehmen, schon allein aufgrund der Heterogenität der Trägergruppen. Gleichwohl ist die Rolle des Konfliktes im Zusammenhang von Ressentiments zu belegen, schließlich gibt es allein in Deutschland unzählige Beispiele, die dies dokumentieren. Da wären zum Beispiel Rechtsextremisten, die offen oder subtil den Holocaust leugnen und unter der Überschrift „Solidarität mit Palästina“ Sympathien zum iranischen Präsidenten Ahmadinedschad und anderen Feinden Israels bekunden; radikale Linke, die eine „Zerstörung des zionistischen Staates Israel“ fordern, da dieser „von seiner Natur aus ein künstliches Gebilde ist“ (Haury 2004: 108); Politiker und andere Personen des öffentlichen Lebens, die die Juden als „Täter-
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volk“ beschreiben oder Verständnis für Selbstmordattentate auf israelische Zivilisten bekunden; Jugendliche mit muslimisch geprägtem Migrationshintergrund, die auf Demonstrationen „Tod Israel“ und „Judenschweine“ rufen; Querschnittsbürger, die Israel als die größte Bedrohung für den Weltfrieden begreifen und zu 51,2% einem direkten Vergleich Israels mit dem NS-Regime eher oder voll zustimmen (Heyder/Iser/Schmidt 2005: 151); aber eben auch Webmaster und Internetnutzer, die unter dem Banner einer Israelsolidarität gegen eine angebliche „Islamisierung Europas“ agitieren. Diese Beispiele sind gewiss verkürzende Schlaglichter. Es ist fast überflüssig zu erwähnen, dass sich nur wenige deutsche Politiker antisemitisch äußern, dass nicht jeder Linker Antizionist ist, dass nicht jede explizit israelsolidarische Person eine Nähe zu rassistischem Gedankengut nachzusagen ist und dass auch ganz gewiss nicht jeder Jugendliche mit muslimisch geprägtem Migrationshintergrund über antisemitische Ressentiments verfügt. Gleichwohl können all diese Beispiele nicht zuletzt auch im Bedingungsfeld einer politischen Bildung zum Nahost-Konflikt im globalisierten Klassenzimmer bedeutend werden. Was aber ist das globalisierte Klassenzimmer? Um eines gleich voran zu stellen: das globalisierte Klassenzimmer impliziert grundsätzlich eine heterogen zusammengesetzte Schülerschaft. Es soll durch diesen Terminus nicht eine Perspektive suggeriert werden, die sich auf eine spezifische Gruppe fokussiert. Gemeint sind ethnisch und religiös unterschiedlich zusammengesetzte Klassen, die letztlich vor allem auf zurückliegende und gegenwärtige Migrationsbewegungen zurückzuführen sind. Im Einwanderungsland Deutschland prägen „Migrantinnen und Migranten“ seit mehreren Generationen die Stadtbilder und den Charakter der Gesellschaft. Konsequenterweise sind die Klassenzimmer davon nicht ausgenommen. So waren etwa im Jahre 2006 an öffentlichen Schulen in Berlin laut Amt für Statistik Berlin-Brandenburg 28 % der Schülerinnen und Schüler nichtdeutscher Herkunftssprache (Berliner Integrationskonzept 2007: 129). Berücksichtigt man in diesem Zusammenhang die unterschiedliche Bevölkerungszusammensetzung in einzelnen Stadtteilen, dann ergeben sich mitunter noch deutlichere Veränderungen in der Klassenzusammensetzung. In einigen Berliner Stadtteilen liegt der Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund bei zum Teil deutlich über 50% an der jeweiligen Gesamtschülerschaft – rund 40 Berliner Schulen haben einen Anteil von über 80%. Wie in vielen Teilen Deutschlands machen auch hier muslimisch geprägte Jugendliche die größte Gruppe unter den Migrantinnen und Migranten aus. Vor diesem Hintergrund konzentriere ich mich im Folgenden neben herkunftsdeutschen Jugendlichen vorrangig auf Jugendliche aus Familien mit muslimisch geprägtem Migrationshintergrund.
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Nun stellt sich zunächst die Frage, wie sich Jugendliche zum Nahost-Konflikt positionieren. Entsprechend der oben angeführten unterschiedlichen Perspektiven auf den Nahost-Konflikt kann auch in Bezug auf Jugendliche angenommen werden, dass sich diese zwischen sachlich-reflektierten und rationalen Perspektiven einerseits und stereotypen, manichäischen und irrationalen Perspektiven andererseits bewegen. Im Sinne einer Pädagogik gegen Antisemitismus steht dabei hinsichtlich der herkunftsdeutschen Jugendlichen unter anderem die Frage nach Stereotypen aus dem nationalen und sekundären Antisemitismus im Vordergrund, bei muslimisch geprägten Jugendlichen hingegen die spezifische Frage nach dem Einfluss des islamisierten Antisemitismus sowie die Frage nach der Bedeutung von judenfeindlichen Einstellungen und Positionierungen im Rahmen von religiösen, nationalen oder ethnischen Identitätskonstruktionen, die vielfach selbst von Diskriminierung und Stigmatisierung seitens der Mehrheitsgesellschaft betroffen sind. Die diesbezügliche Jugendforschung steht hier noch immer vor einem Desiderat. Wir können gegenwärtig also auf keine umfassenden, neueren repräsentativen wissenschaftlichen Studien zurückgreifen, die diese Fragen beantworten. Dennoch gibt es einige Jugendstudien zum Antisemitismus unter Jugendlichen. Die meisten nehmen sich auch der Thematik des NahostKonfliktes an. Eine der ältesten, aber repräsentativsten, ist eine vergleichende Länderstudie mit dem Titel „Antisemitismus in Brandenburg und Nordrheinwestfalen 1996“ (Sturzbecher/Freytag 2000: 76ff.). In jeweils landesrepräsentativen Umfragen gingen die Daten von insgesamt rund 4600 Jugendlichen ein. Als antisemitisch wurde hier definiert, wer eine „eher hohe“ oder „hohe“ Zustimmung hinsichtlich der vier Indikatoren „‚antisemitische Vorurteile’, ‚judenfeindliche sozio-emotionale Einstellungen’, ‚Bereitschaft zur aktiven Diskriminierung von Juden’ und ‚Abwehr der historischen Verantwortung gegenüber den Juden’“ angab (Sturzbecher/Freytag 2000: 104). Interessant dabei ist, dass die Forscher ihre Items zum Nahost-Konflikt weder den „antisemitischen Vorurteilen“ noch den „judenfeindlichen sozio-emotionalen Einstellungen“ zuordnen. Stattdessen trennen sie diese mittels der Kategorie „Israelfeindschaft“ theoretisch wie methodisch von ihrem Arbeitsbegriff Antisemitismus ab. Mit Verweis auf die von der EUMC erarbeitete Arbeitsdefinition von Antisemitismus – die im Vergleich zur Studie jüngeren Datums ist – muss den Forschern an dieser Stelle ein unscharfes Vorgehen vorgeworfen werden. Schließlich arbeiten sie etwa mit dem Item „Dieses Land [Israel] hat sehr viel versteckten Einfluss in der Welt“, ohne eine Zustimmung zu diesem bereits als antisemitisch einzustufen. So mag es dann auch nicht verwundern, wenn konstatiert wird: „Antisemitische Jugendliche stimmen in der Regel antiisraelischen Parolen zu“ (ebd.: 124). Barbara Schäuble und Albert Scherr betonen im Zusammenhang der Durchführung von Gruppeninterviews in heterogenen Jugendszenen unter anderem, dass der Nah-
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ost-Konflikt als Rahmung antisemitischer Deutungen fungiert, wobei die Grenze zwischen Israelikritik und Antisemitismus unklar sei (Scherr/Schäuble 2006: 60f.). Sina Arnold hat sich im Rahmen ihrer auf narrativen Leitfrageninterviews beruhenden qualitativen Studie mit der „Wahrnehmung des Nahostkonfliktes unter „Jugendlichen mit palästinensischen bzw. libanesischen Hintergrund“ auseinandergesetzt. Für die Studie wurden zwischen 2004 und 2007 14 Jugendliche im Alter von 14 bis 20 Jahren in Berlin interviewt. Der Nahost-Konflikt werde demnach als häufigste Begründung für einen ‚Hass gegenüber Juden’ vorgebracht. Zwar konnten einige Jugendliche auf Nachfrage zwischen Juden in Berlin und Israelis differenzieren, dennoch komme es mitunter zu manichäischen Bewertungen, in deren Kontext Juden grundsätzlich als „böse“ und Araber als „nett“ markiert und identifiziert würden. In diesem Zusammenhang werde Israel durchweg negativ charakterisiert, wobei tradierte Stereotype bemüht würden. Gleichzeitig sei unter den befragten Jugendlichen wenig fundiertes Wissen über den Nahost-Konflikt vorhanden (Arnold 2007: 17). Zweifellos sind derartige Ergebnisse nicht repräsentativ und daher als vorläufige Arbeitsergebnisse anzusehen. Gleichwohl werden hier Tendenzen deutlich, die von Lehrerinnen und Lehrern sowie von Akteurinnen und Akteuren aus zivilgesellschaftlichen Projekten sekundiert werden. So verweist beispielsweise Bernd Fechler im Zusammenhang mit politischer Bildung auf „leidenschaftlich geführte Debatten über den Nahostkonflikt, in denen es […] auch zu drastischen Manifestationen von Judenhass kommt“ (Fechler 2006: 190). Peter Wagenknecht von den Bildungsbausteinen gegen Antisemitismus verweist ganz grundsätzlich auf Stimmen, die sich israelkritisch positionieren und derweil in besorgniserregender Größenordnung latent oder offen antisemitisch argumentieren (Wagenknecht 2006: 273ff.). Sowohl Bernd Fechler als auch Peter Wagenknecht stützen sich auf Erfahrungswerte aus der pädagogischen Arbeit mit globalisierten Jugendgruppen oder Schulklassen im vorgenannten Sinne. Wenngleich aktuelle Erscheinungsformen des Antisemitismus unter muslimisch geprägten Menschen virulent sind, verkehrt es die gesellschaftliche Realität vollends, wenn man das Problem auf eine wie auch immer konstruierte nationale, ethnische oder religiöse Gruppe beschränkt. Zum einen würde dadurch das Problem verkürzt, schließlich ist der Antisemitismus ein gesamtgesellschaftliches Phänomen. Zum anderen ist es unangemessen, von den muslimischen Jugendlichen als einer einheitlichen Gruppe zu sprechen. Diese Jugendlichen verfügen über vielfältige Bezüge, Identitäten, politische Einstellungen und Familiennarrationen, die unterschiedliche Auswirkungen auf das Sprechen und Urteilen über Jüdinnen und Juden sowie über die aktuellen thematischen Katalysatoren und Projektionsflächen des aktuellen Antisemitismus haben. Dennoch muss
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eine zeitgemäße Anti-Antisemitismusarbeit im globalisierten Klassenzimmer spezifische Emotionen und Kontexte im Auge behalten, die durch Jugendliche mit muslimisch geprägtem Migrationshintergrund in den Unterricht getragen werden können. Zunächst einmal wäre schon viel gewonnen, wenn man ihnen eine gewisse Anerkennung vermittelte, anstatt ihnen mit reflexhafter Abwehr oder Stigmatisierung zu begegnen. Die Themen und Emotionen der Jugendlichen gilt es aufzugreifen und in den Lernprozess zu integrieren, auch um die Partizipation der Jugendlichen an diesem zu ermöglichen. Jenseits von Dramatisierung und Verharmlosung sollten antisemitische Denkmuster und Positionierungen auch unter Teilen der Migrantinnen und Migranten angesprochen werden. Die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA e.V.) arbeitet seit fünf Jahren in diesem Sinne. 3
Anti-Antisemitismusarbeit konkret: Die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA)
3.1 Erfahrungen aus fünf Jahren KIgA Im Folgenden werden Überlegungen und Ansätze der „Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus“ (KIgA) dargestellt. Die KIgA wurde bereits Ende 2003 gegründet und gehört somit den ersten zivilgesellschaftlichen Initiativen, die sich dem aktuellen Antisemitismus in der Einwanderungsgesellschaft aus einer pädagogischen Perspektive angenommen haben. Die Initiative entstand unter anderem als Reaktion auf die Wahrnehmung von antisemitischen bzw. antisemitisch konnotierten Positionierungen im unmittelbaren sozialen Umfeld der Gründungsmitglieder. Und da die KIgA, der Name lässt es vermuten, von Kreuzbergerinnen und Kreuzbergern im Berliner Stadtteil Kreuzberg gegründet wurde, und dieser Bezirk bekanntlich von Migrantinnen und Migranten sehr stark mitgeprägt wird, subsumiert der Begriff „soziales Umfeld“ neben Angehörigen der so genannten Mehrheitsgesellschaft auch Erwachsene und Jugendliche mit muslimisch geprägtem Migrationshintergrund. Zum Selbstverständnis der KIgA gehört es seit jeher, dass Menschen mit unterschiedlicher Herkunft gemeinsam dem Antisemitismus in seinen vielfältigen Erscheinungsformen pädagogisch präventiv entgegenwirken. Derweil geht es stets um ein grundsätzliches Engagement gegen den Antisemitismus in unserer Gesellschaft, was ganz explizit die Rolle und Verantwortung der Mehrheitsgesellschaft betont. Seit Gründung der Initiative wurde mit unterschiedlichen Zielgruppen gearbeitet. So wurden Ansätze im Sinne einer Anti-Antisemitismusarbeit sowohl für die außerschulische Bildungsarbeit als auch für die schulische Bildungsarbeit in
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unterschiedlichen Niveaustufen konzeptionalisiert. Überdies arbeitet die KIgA mit Multiplikatorinnen und Multiplikatoren und versucht, diese im Rahmen von Lehrerfortbildungsseminaren und anderen Formen der Weiterbildung und Qualifizierung theorie- wie praxisbezogene Kompetenzen an die Hand zu geben, sodass die Pädagoginnen und Pädagogen sich befähigt fühlen, selbstständig im Sinne einer zeitgemäßen Anti-Antisemitismusarbeit arbeiten zu können. Parallel zu den oben skizzierten Ergebnissen und Erfahrungen stellt der NahostKonflikt auch im Rahmen der KIgA-Arbeit ein zentrales Themenfeld dar, das es bei einer präventiven Anti-Antisemitismusarbeit zu bearbeiten gilt. Nach unseren Erfahrungen bestehen immer dann hohe Aufladungs- und Anschlussmöglichkeiten für antisemitische Denk- und Deutungsmuster, wenn ‚die Juden’ als Israelis wahrgenommen oder mit dem Staat Israel identifiziert und der Staat Israel gleichzeitig als unterdrückend und aggressiv beschrieben wird. Dies gilt grundsätzlich für alle Jugendlichen. Dennoch mag es nicht verwundern, dass unterschiedliche Lebensverhältnisse, Familiennarrationen, Informationsquellen, Sozialisationen und Identitäten zu divergierenden Bezügen auf den Konflikt führen können. So kann beispielsweise angenommen werden, dass ein mehrheitsdeutscher Gymnasiast über andere Begründungen und Motive hinsichtlich einer Positionierung und eines Urteils auf den Nahost-Konflikt verfügt, als ein Jugendlicher aus einer palästinensischen Flüchtlingsfamilie ohne gesicherten Aufenthaltsstatus in Deutschland. Wiederum andere Bezüge dürften jeweils bei linken oder rechten sowie bei religiösen oder atheistischen Jugendlichen eine Rolle spielen. Entsprechend der Bevölkerungszusammensetzung vieler Schulklassen im Westteil Berlins hat sich die KIgA im Kontext ihrer Arbeit mit gemischten Gruppen in den vergangenen Jahren besonders auf die Arbeit mit muslimisch geprägten Jugendlichen konzentriert. Grundsätzlicher Ausgangspunkt unserer pädagogischen Arbeit ist zunächst die Auslotung von Querschnittsbezügen unter den unterschiedlichen Jugendlichen. In Referenz auf die vielfältigen Erfahrungen aus der Praxis der KIgA ist dabei zunächst einmal bedeutend, dass die meisten der Jugendlichen – also auch solche, die in den öffentlichen Diskursen als muslimisch sozialisiert beschrieben werden, oder die sich selbst als Muslim oder Muslima beschreiben – nicht antisemitisch argumentieren und sich auf unsere Bildungskonzepte weitgehend vorbehaltlos einlassen. Andererseits kommt es immer wieder auch zu fragmentarischen antisemitischen Positionierungen einzelner Jugendlicher, die Auswirkungen auf größere Gruppen von Jugendlichen haben können. Der Antisemitismus kommt also unter den Jugendlichen nur äußerst selten in kritikimmunen Weltbildern daher. Deshalb scheint auch eine pädagogische Intervention gegen antisemitische Versatzstücke und Fragmente nicht obsolet.
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In Bezug auf den Nahost-Konflikt ist grundsätzlich von einer starken Präsenz des Konfliktes im Bewusstsein der Jugendlichen auszugehen. In der Regel sind die individuellen Bezüge weniger wissensbasiert als vielmehr affektivemotional, vor allem bei muslimisch geprägten Jugendlichen. Wie erwähnt, kann der Konflikt als Rahmung antisemitischer Fragmente gesehen werden. Immer wieder kommt es zum Beispiel zu manichäischen Bewertungen, in deren Kontext Juden grundsätzlich das Böse und die Palästinenser und/oder die Muslime im Allgemeinen das Gute repräsentieren. Interessant ist, dass die israelische Politik meist vorrangig als antipalästinensische Politik wahrgenommen wird. Vor diesem Hintergrund wird immer wieder Gerechtigkeit gefordert. Die Gerechtigkeitsperspektive ist ohnehin eine dominante Perspektive, die selbstverständlich auch eine Berechtigung hat. Mitunter jedoch kann diese Perspektive in eine antisemitische umschlagen bzw. mit antisemitischen Versatzstücken versehen werden. So berichten Jugendliche aus Familien mit muslimisch geprägtem Migrationshintergrund immer wieder von der Wahrnehmung einer grundsätzlichen Palästinasolidarität und gleichzeitig von einem tendenziell eher judenfeindlichen Konsens innerhalb ihrer lebensweltlichen Bezugsgruppen und -räume. Hier spielen auch spezifische Informationsquellen eine Rolle, nicht zuletzt auch radikal-islamische Internetseiten und Fernsehsender, die via Satellit empfangen werden können. Auch nach unserer Erfahrung sind antisemitische Fragmente unter muslimisch sozialisierten Jugendlichen häufig in Zusammenhang mit konkreten Erfahrungen in der Mehrheitsgesellschaft zu sehen. Dennoch können diese Erfahrungen das Problem nicht hinreichend erklären, denn den Antisemitismus ausschließlich als Ausdruck und Folge einer prekären sozialen und ökonomischen Stellung vieler Migrantinnen und Migranten zu sehen, greift zu kurz. Gleichwohl kann der Nahost-Konflikt als Projektionsfläche für Marginalisierungserfahrungen der Jugendlichen in der deutschen Mehrheitsgesellschaft dienen. Persönlich erfahrene Diskriminierung, Perspektivlosigkeit und Deprivation können in einer Identitätssuche münden, die durch die Konstruktion einer ethnisch fundierten muslimischen Identität befriedigt werden kann. Ein negatives Judenbild kann identitätsstiftend wirken bzw. Zugehörigkeiten und Nicht-Zugehörigkeiten verbindlich machen. In diesen Zusammenhang sind auch virulente Opferkonkurrenzen einzuordnen. Wiederholt beklagen einzelne Jugendliche, dass in ihren Augen überproportional häufig die Opferrolle von Juden thematisiert würde, während man über schwierige Situationen von Muslimen hinwegsehe. Häufig geäußert wird darüber hinaus die Wahrnehmung eines angeblichen weltweiten Kampfes der westlichen Gesellschaften gegen Muslime bzw. gegen den Islam.
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3.2 Ansätze der KIgA im Sinne einer Anti-Antisemitismusarbeit am Beispiel des Nahost-Konfliktes Eine Pädagogik gegen Antisemitismus steht vor einem Problem, so sie sich zum Anspruch nimmt, alle existierenden Bezüge in ihren heterogen zusammengesetzten Klassen angemessen aufgreifen und in den konkreten Lernprozess integrieren zu wollen. Da dieser Anspruch in der Institution Schule nur schwerlich zu erfüllen ist, gilt es zunächst Querschnittslernziele auszuloten, die in der Arbeit mit unterschiedlich geprägten Jugendlichen bedeutend sind. Da dem Antisemitismus über soziale, kulturelle und geographische „Grenzen“ hinweg eine Grundstruktur immanent ist und die Erscheinungsformen entsprechend ähnlich sind, ist dies grundsätzlich praktikabel. Was aber können derartige Querschnittslernziele in Referenz auf den Nahost-Konflikt sein? Zunächst einmal geht es um die Ermöglichung eines rationalen Blickes auf den Konflikt, also um eine Perspektive, die frei ist von antisemitischen Stereotypen bzw. Denk- und Deutungsmustern. Auf der Lernzielebene bedeutet dies konkret, dass manichäische Täter-Opfer-Schemata in der Deutung des NahostKonfliktes irritiert und kritisch hinterfragt werden sollten – schließlich lässt sich der ohnehin sehr komplizierte Konflikt mittels eines Gut-Böse-Schemas gar nicht angemessen verstehen. Es scheint also erforderlich, ein Gespür für die Komplexität und die Widersprüchlichkeiten zu entwickeln, die sich im NahostKonflikt manifestieren, und Formen von Kollektivierungen und Identitätskonstruktionen zu problematisieren. Diese können sich beispielsweise in homogenisierenden Darstellungen von den Israelis, den Juden, den Arabern oder auch in einer prinzipiellen Gleichsetzung von Israel und Juden äußern. Hier kann die Vielfalt und Pluralität der israelischen und auch der palästinensischen und arabischen Gesellschaft verdeutlicht werden. Mithin geht es um eine Eigenverantwortung des Denkens und Handelns. So der Unterricht auf eigenverantwortliches rationales und reflektiertes Analyse- und Beurteilungsvermögen zielt, bietet sich längerfristig die Möglichkeit, die Lernenden mit der Fähigkeit auszustatten, selbständig Kritik an verdinglichenden, personalisierenden und verkürzten Urteilen äußern zu können (Niehoff 2009). Hier kommt der politischen Urteilsfähigkeit eine Schlüsselbedeutung zu. Die Gesellschaft für Politikdidaktik und politische Jugend- und Erwachsenenbildung (GPJE) definiert die politische Urteilsfähigkeit als die Fähigkeit, „politische Ereignisse, Probleme und Kontroversen sowie Fragen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung unter Sachaspekten und Wertaspekten analysieren und reflektieren zu können“ (Detjen 2004: 48). Da politische Urteile unabhängig von ihrem Inhalt im Dialog begründbar sein sollten, sind die ihnen zugrunde liegenden Bewertungskategorien offen zu legen (vgl. Massing 1997: 120). Den dazu notwendigen Rück-
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griff auf entsprechende politische Kategorien und Urteilskriterien können die Schülerinnen und Schüler im Kontext eines auf kategoriale Bildung zielenden Unterrichts erlernen. Im Mittelpunkt eines solchen Unterrichts stehen Kategorien, wie Menschenwürde, Problem und Konflikt, Rechtslage, Beteiligte, Interessen, Ideologie, Geschichtlichkeit, Machtverhältnisse, Lösungsentwürfe, Koalitions- und Kompromissmöglichkeiten. Als Instrumente der Analyse und des Urteils schließen diese Kategorien Gegenstände auf und reduzieren deren Komplexität, ohne unzulässig zu verkürzen. Die Gefahr von dichotomen Bewertungen hinsichtlich gesellschaftlicher, politischer und/oder sozio-ökonomischer Konflikte soll durch einen erlernten Umgang mit differenzierten Kategorien minimiert werden. Durch die Arbeit mit handlungsorientierten Methoden (z.B. Rollenspielen) sind etwa Beurteilungskategorien herauszuarbeiten, die es im Nachgang ermöglichen, bestimmte (politische) Sachlagen (z.B. eine antisemitische Deutung des Nahost-Konfliktes oder ressentimentgeladene Welterklärungen) rational widerlegen zu können. Nebenbei können eigene Projektionen reflektiert werden. Je mehr Kategorien den Schülerinnen und Schülern zur Verfügung gestellt werden, um diese in der Urteilsbildung und deren Begründung zu berücksichtigen, „desto qualifizierter, komplexer und differenzierter ist das politische Urteil“ (Weinbrenner 1997: 76). Nun gibt es in heterogen zusammengesetzten Klassenzimmern aber selbstverständlich auch spezifische Bezüge, die sich markant voneinander unterscheiden. In der Arbeit mit muslimisch geprägten Jugendlichen sind hier die Phänomene zu benennen, die aus Konstruktionen muslimischer Kollektividentitäten, aus spezifischer Mediennutzung, aus unmittelbarer persönlicher und familiärer Betroffenheit sowie aus der prekären sozialen Stellung dieser Jugendlichen in der deutschen Mehrheitsgesellschaft herrühren. Was daraus zunächst einmal nur folgen kann, ist eine Pädagogik der Anerkennung, nicht eine der Stigmatisierung. Aber eben auch eine Pädagogik, die Probleme wahrnimmt und die Ursachen nicht auf Monokausalitäten verkürzt. Es geht um einen ehrlichen und vorurteilsfreien Ansatz gegenüber den muslimisch geprägten Jugendlichen und ihren Perspektiven. Wird dies den Jugendlichen direkt oder indirekt nachvollziehbar vermittelt, dann hat man gute Chancen, auch Lernwiderstände zu minimieren – gerade solche im Hinblick auf das Sprechen und Urteilen über Juden und die thematischen Projektionsflächen und Katalysatoren des aktuellen Antisemitismus. In diesem Sinne ist auch eine Arbeit mit multiperspektivischen Lerngegenständen zu fordern. Multiperspektivität, verstanden als eine Möglichkeit, den Schülerinnen und Schülern unterschiedliche Perspektiven auf ein historischpolitisches Ereignis aufzuzeigen, bietet die Möglichkeit, nicht nur mit Quellen einer hegemonialen, oft national verengten Perspektive zu arbeiten, sondern auch andere Sichtweisen kennen zu lernen (Georg/Niehoff/Demirel 2009: 232). Im
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Sinne der Multiperspektivität haben wir im Rahmen der KIgA sowohl bei der Thematisierung des Konfliktes selbst, als auch bei der Thematisierung von hiesigen Sichtweisen gearbeitet. So stellen wir beispielsweise im Kontext eines von uns eigens entworfenen Quizspiels Fragen und liefern Antworten zu unterschiedlichen Ereignissen in der Geschichte des Nahost-Konfliktes, in deren Zusammenhang nicht nur binäre Sichtweisen und kollektivierende Identitätskonzepte problematisiert, sondern auch vielfältige Perspektivwechsel ermöglicht werden. Diese Form der Perspektiverweiterung wird durch die Integration verschiedener ausgewogener, lebensnaher und zielgruppenadäquater Perspektiven aus Deutschland sekundiert. So arbeiten wir in Schulklassen mit einem hohen Anteil an Schülerinnen und Schülern mit muslimisch geprägtem Migrationshintergrund unter anderem mit einem Filmbeispiel, das der Frage nachgeht, inwiefern der Nahost-Konflikt auf den Alltag und das Selbstverständnis palästinensischer und jüdischer Jugendlicher in Berlin zurückwirkt. Überdies arbeiten wir in der KIgA mit einem weiteren erfolgreichen Ansatz. Bei den Durchführungen unserer Unterrichtseinheiten in Klassen mit hohem Anteil an Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund gehen wir selbst mit einem herkunftsheterogenen Team in die Klassen. Dieser Ansatz kann die Chancen auf eine als solche wahrgenommene Interventionsberechtigung erhöhen.
3.3
Zusammenfassung und Ausblick
Die KIgA bearbeitet die aktuellen Projektionsflächen und thematischen Katalysatoren des Antisemitismus derart, dass gängigen antisemitischen Deutungen und Positionierungen präventiv entgegengewirkt wird. Auf der allgemeinen Lernzielebene ist der KIgA im Sinne einer Anti-Antisemitismusarbeit weniger an einem bloßen Erkennen und Einordnen konkreter antisemitischer Stereotype als vielmehr an Wissen und Fähigkeiten gelegen, die vor antisemitischen Denkund Deutungsmustern immunisieren sollen. Kritikfähigkeit, Analyse- und Urteilskompetenz, Empathie sowie immer auch die Vermittlung von historischpolitischem Wissen sind dabei wesentliche Ziele. All dies wird mittels lebensnaher und interessanter Modellkonzepte umgesetzt, die sich nicht nur mit dem Nahost-Konflikt im Sinne einer zeitgemäßen Anti-Antisemitismusarbeit beschäftigen, sondern auch mit Themen wie Nationalismus, islamistischer Antisemitismus oder Antisemitismus im Kontext von Ökonomiekritik und Welterklärung. Meist werden jeweils eigenständige sechsstündige Unterrichtseinheiten entwickelt, die Raum für handlungsorientierte Methoden zulassen und in Projekttagen an Schulen umgesetzt werden können.
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Es steht leider nicht zu erwarten, dass der Antisemitismus in absehbarer Zeit in die Geschichtsbücher verbannt werden kann. Daher ist die Arbeit zur Sensibilisierung gegenüber antisemitischen Denk- und Deutungsmustern stetig fortzuführen und auszubauen. Notwendig ist dazu nicht nur eine Implementierung innovativer Ansätze, sondern auch eine perspektivische, die Planungssicherheit verbessernde Förderung entsprechend qualifizierter Projekte (vgl. Georg/Niehoff/Demirel 2009: 233). Hier sind nicht nur institutionelle Unterstützung von konkreten Trägern, sondern auch der Ausbau und die Ermöglichung von sozialwissenschaftlicher und erziehungswissenschaftlicher Jugend- und Erwachsenenforschung erforderlich, da diese unabdingbare Voraussetzungen für eine adäquate und zielgenaue pädagogische Intervention in einem derart komplexen Themenfeld sind. Ferner ist die wissenschaftliche und pädagogische Beschäftigung auch in Themenfeldern auszubauen, die gewisse Berührungspunkte mit dem Antisemitismus aufweisen, wozu exemplarisch auf das antiamerikanische oder auch auf das islamfeindliche Ressentiment verwiesen sei. Denn eines ist klar: eine engstirnige Präventionsarbeit greift immer zu kurz. Daher sollten auch nicht-rassistische, auf Diversity zielende und/oder Menschenrechts-Ansätze eine zeitgemäße Anti-Antisemitismusarbeit stets sekundieren. Literatur AG Antifa/Antira im StuRa der Uni Halle (Hrsg.) (2004): Trotz und wegen Auschwitz. Nationale Identität und Antisemitismus nach 1945. Münster: Unrast Verlag. Allport, W. Gordon (1971): Die Natur des Vorurteils. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Arendt, Hannah (2001): Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München, Zürich: Piper. Arnold, Sina (2007): Die Wahrnehmung des Nahostkonflikts bei Jugendlichen mit palästinensischem bzw. libanesischem Hintergrund und ihr Zusammenhang mit Identitätskonstruktionen: http://www.amira-berlin.de/service/get_file?file=Pal%C3%A4st.liban._Jugendliche_und_NOK.pdf [06.03.2009]. Berliner Integrationskonzept 2007 „Vielfalt fördern – Zusammenhalt stärken“ (2007): www.berlin. de/lb/intmig/integrationskonzept.html [06.03.2009]. Broder, Henryk M. (2008): Antisemitismus ohne Antisemiten (gekürzt und erweitert): http://www.bundestag.de/ausschuesse/a04/anhoerungen/anhoerung14/stellungnahmen_sv/st ellungnahme_08.pdf [01.03.2009]. Bunzl, John / Senfft, Alexandra (Hrsg.) (2008): Zwischen Antisemitismus und Islamophobie. Vorurteile und Projektionen in Europa und Nahost. Hamburg: VSA Verlag. Bunzl, John (2008): Spiegelbilder – Wahrnehmung und Interesse im Israel-Palästina-Konflikt. In: Bunzl/Senfft (2008): 127-144. Detjen, Joachim (2004): Politische Urteilsfähigkeit – eine domänenspezifische Kernkompetenz der politischen Bildung. In: GPJE (2004): 44-58. European Monitoring Center on Racism and Xenophobia (EUMC) (2005): Working Definition on Antisemitsm. http://fra.europa.eu/fraWebsite/material/pub/AS/AS-WorkingDefinitiondraft.pdf [01.03.2009].
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Chancen und Grenzen von jüdisch-nichtjüdischen Begegnungen1 als pädagogischer Ansatz gegen Antisemitismus2 Michal Kümper und Susanna Harms
Seit Beginn des 21. Jahrhunderts, als viele europäische Länder eine Zunahme antisemitischer Straf- und Gewalttaten zu verzeichnen hatten, ist der aktuelle Antisemitismus verstärkt in den Blick politischer und wissenschaftlicher Debatten gerückt. Fast genauso lange beschäftigen sich Pädagog/innen mit der Frage, mit welchen Ansätzen, Konzepten und Methoden dem Antisemitismus in seinen unterschiedlichen zeitgenössischen Erscheinungsformen, mit denen sie in ihrem Arbeitsalltag konfrontiert werden, wirkungsvoll begegnet werden kann. Hintergrund dessen ist, dass sich viele Pädagog/innen von antisemitischen Äußerungen Jugendlicher überfordert fühlen und unsicher sind, wie sie darauf reagieren sollen – häufig insbesondere dann, wenn es um migrantische Jugendliche geht, die von Medien, Politik und Wissenschaft in den letzten Jahren als „neue Trägergruppe“ von Antisemitismus entdeckt wurden. Ein Ansatz, der in diesem Kontext immer wieder genannt wird, ist die Begegnung mit Juden und Jüdinnen. Das Interesse nicht nur generell am Judentum, sondern auch an solchen Begegnungen, ist in den letzten Jahren merklich gestiegen; jüdische Gemeinden sowie Institutionen wie die Jüdische Oberschule oder das Jüdische Museum Berlin erhalten diesbezüglich zahlreiche Anfragen von Schulen und anderen (pädagogischen) Institutionen. Dahinter steht die Erfahrung der Praktiker/innen, dass der größte Teil der Jugendlichen in ihren Einrichtungen, die sich negativ über Jüdinnen und Juden äußern, keine jüdischen Menschen kennt und nichts über jüdisches Leben, über jüdische Kultur und Religion weiß. 1
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In diesem Text wird bewusst der Begriff „jüdisch-nichtjüdische Begegnung“ verwandt, anstatt, wie ansonsten üblich, „deutsch-jüdische“ oder „christlich-jüdisch(-muslimische) Begegnung“, weil wir diese Formulierungen für zu unscharf und irreführend erachten. Zwar ist auch nicht eindeutig, was „jüdisch“ und was „nichtjüdisch“ ist, doch erscheint uns dieser Ausdruck am neutralsten und unproblematischsten. Dieser Artikel basiert auf einem Text, der für eine Handreichung zu jüdisch-nichtjüdischer Begegnung des Projekts „amira – Antisemitismus im Kontext von Migration und Rassismus“ erstellt wurde. Zum Projekt vgl. den Artikel von Gabriel Fréville, Susanna Harms und Serhat Karakayal in diesem Band.
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Und es verbindet sich damit die Annahme, dass Vorurteile und antisemitische Stereotype durch solche Begegnungen abgebaut werden können. Viele Pädagog/innen und andere Multiplikator/innen fühlen sich jedoch selbst unsicher, wenn es um das Judentum sowie vor allem um Begegnungen mit Jüdinnen und Juden geht, da auch sie keine alltäglichen Kontakte mit jüdischen Menschen gewohnt sind. Aufgrund der deutschen Geschichte können sich gerade Herkunftsdeutsche oft nicht ohne eigene Befangenheiten auf solche Begegnungen einlassen. Es existieren möglicherweise auch bei den Pädagog/innen eigene (unbewusste) stereotype Bilder über Juden, die das Herangehen an ein solches Projekt beeinflussen. Zudem liegt bisher faktisch keine pädagogische bzw. wissenschaftliche Literatur zu diesem Feld vor, die jüdisch-nichtjüdische Begegnungen praktisch und/oder theoretisch reflektiert, ihre kurz- und langfristige Wirkung untersucht und somit praktische Hilfestellungen für pädagogische Fachkräfte leistet. In diesem Beitrag sollen daher Möglichkeiten und Grenzen dieses Ansatzes kritisch hinterfragt sowie einige Anregungen für die Durchführung von Begegnungen nichtjüdischer Jugendlicher mit jüdischen Jugendlichen bzw. Jugendgruppen oder auch jüdischen Erwachsenen in einem pädagogischen Kontext gegeben werden. Was sind die Rahmenbedingungen jüdisch-nichtjüdischer Begegnungen, und vor welchen Herausforderungen stehen sie? Was sollte bei der Durchführung von Begegnungsprojekten bedacht werden, und welche Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit jüdischem Leben bieten sich an, wenn direkte Begegnungen nicht realisiert werden können? Und schließlich: Welchen Beitrag können Begegnungen mit Jüdinnen und Juden zum Abbau von Antisemitismus leisten? Wer begegnet wem? Zunächst muss man sich die Frage stellen, wer die Menschen sind, die einander begegnen sollen. Auf der einen Seite steht eine Gruppe von nichtjüdischen Jugendlichen, Schüler/innen einer Klasse, eine Gruppe aus einem Jugendclub o.ä., Gruppen, die sich ganz unterschiedlich zusammensetzen können. Es kann sich dabei um Jugendliche mehrheitsdeutscher Herkunft handeln, aber auch um Jugendliche mit migrantischem Hintergrund oder um gemischte Gruppen, in denen Schüler/innen verschiedener kultureller Herkunft versammelt sind. Unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund, insbesondere mit arabisch-palästinensischer bzw. muslimischer Herkunft, sind die Vorbehalte gegenüber Jüdinnen und Juden des Öfteren stark bzw. werden teilweise offener geäußert als von
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herkunftsdeutschen, und so wird auch ihr Bedarf an Begegnungsprojekten von pädagogischen Fachkräften oft als sehr hoch eingeschätzt. Auf der anderen Seite soll möglichst eine jüdische Ansprechperson stehen, ein Jude, eine Jüdin oder eine Gruppe jüdischer Jugendlicher. Das sieht zunächst vielleicht einfacher aus, weil es homogener und eindeutiger zu sein scheint, doch der Schein trügt. Auch diese Seite kann eine sehr heterogene und vielschichtige Zusammensetzung aufweisen, ebenso wie die nichtjüdische Seite. So sind auch die in diesem Artikel wie selbstverständlich benutzten Bezeichnungen wie muslimisch, jüdisch, christlich, Migrationshintergrund, mehrheitsdeutsch etc. problematisch. Sie vereinfachen, sind zunächst einmal nicht näher definiert und werden dazu benutzt, um Menschen einer bestimmten Kategorie zuzuordnen, ihnen ein Etikett zu verpassen und einer Gruppe zuzuweisen, die wir meinen zu kennen und unter der wir uns etwas Bestimmtes vorstellen. Jede/r von uns verbindet mit diesen Begrifflichkeiten bestimmte stereotype Bilder, die in unserer Gesellschaft mit Wertungen behaftet sind. Dadurch werden diese Menschen in Schubladen gepresst, eingeengt und auf diese Bilder reduziert. Diese Begrifflichkeiten werden dazu benötigt, um komplexe Sachverhalte auf eine verständlichere Art und Weise darzustellen. Aber gerade bei einer Begegnung und ihrer Vorbereitung sollte man sich Gedanken über diese selbstverständlich verwandten Begrifflichkeiten machen und die dahinter stehenden Bilder, die gesellschaftlichen Kontexte sowie das damit verbundene Welt- und Menschenbild hinterfragen. Handelt es sich dabei um Selbstoder Fremdwahrnehmungen, um Selbst- oder Fremdzuschreibungen? Dabei sollte man auch zu klären versuchen, wer man selbst ist und wer die „Anderen“, die man treffen möchte, was „Andere“ in einem sehen mögen und was man selbst in „Anderen“ sieht. Wer sind „wir“, als Gruppe, und wer ist jeder einzelne von uns? Sind „wir“ beispielsweise „Deutsche“, „Ausländer/innen“, „Türk/innen“, „Araber/innen“, „Palästinenser/innen“, „Libanes/innen palästinensischer Herkunft“? Oder „in Deutschland aufgewachsen“, „Deutsche ausländischer Herkunft“ oder „in Deutschland lebende Ausländer/innen“, „Deutsch-Türk/ innen“ oder „deutsch sozialisierte Türk/innen“, „kurdischstämmige Deutsche“, „Ägypter/innen mit deutschem Pass“, keines davon oder eine Mischung aus alledem? Wer bestimmt eigentlich, wer wir sind, was wir sind, wer wir zu sein haben? Wer hat die Deutungsmacht über uns und unsere Identität? Wir selbst? Die „Anderen“, die Umwelt, die Familie, die Lehrer/innen und Erzieher/innen, eine Mischung aus allem? Durch was wird unsere Persönlichkeit geformt und bestimmt? Durch unsere Nationalität, unsere ethnische Herkunft oder doch durch
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das Land, in dem wir aufwachsen?3 Und was bedeutet es, wenn wir in mehreren Gesellschaften gelebt haben oder uns sogar gleichzeitig in verschiedenen bewegen? Wodurch werden wir geprägt? Durch unsere Familie, Tradition, Religion? Oder eher das Umfeld, in dem wir uns bewegen, unsere Freunde, Klassenkamerad/innen, Lehrer/innen und Erzieher/innen usw.? Beim Nachdenken über diese Fragen wird klar, dass jede Gruppe auch in sich sehr heterogen ist und jede einzelne Person innerhalb der eigenen Gruppe verschiedene Persönlichkeitsfacetten besitzt sowie unterschiedliche Anteile und Selbst- und Fremdbilder in sich trägt. Dieser Reflexionsprozess ist sehr wichtig, um die scheinbar klaren Fronten „Wir“ und „die Anderen“ aufzubrechen und eine Offenheit gegenüber der Begegnung zu generieren. Auch der Versuch in diesem Artikel, die beiden Gruppen zu beschreiben, ist nur ansatzweise möglich, da auch hier ständig mit Vereinfachungen sowie mit stereotypen Beschreibungen und Begrifflichkeiten operiert werden muss. Auch bei einer Begegnung besteht letztendlich die Gefahr, Simplifizierungen, Stereotype und Klischees zu kreieren und zu verfestigen. Wer ist die jüdische Seite? Auch das ist nur auf den ersten Blick scheinbar einfach zu beantworten. Wen stellen sich die Pädagog/innen, die die Begegnung organisieren, als Gegenüber vor, wen die nichtjüdische Gruppe? Wen möchte man als Gesprächspartner/in haben? Wer oder was sind überhaupt Jüdinnen und Juden? Das ist den Beteiligten meist gar nicht klar, und es herrschen oft sehr diffuse Bilder von Jüdinnen und Juden in den Köpfen vor. Tatsächlich ist diese Frage nicht leicht zu beantworten, da es unterschiedliche Definitionen davon gibt, wer Jüdin bzw. Jude ist. Laut der Halacha, dem jüdische Religionsgesetz, ist es allein eine Person, die entweder von einer jüdischen Mutter geboren wurde oder juristisch korrekt zum Judentum übergetreten ist. Doch die Realität sieht sehr viel komplexer und komplizierter aus. Es gibt eine große Bandbreite von jüdischen Identitäten und von Menschen, die sich selbst als jüdisch definieren oder als jüdisch angesehen werden bzw. die sich auf irgendeine Weise, manchmal auch in Abgrenzung zum Judentum, positionieren. Ist jemand jüdisch, der oder die Mitglied einer jüdischen Gemeinde ist, oder eine Person, die im weitesten Sinne jüdischer Abstammung ist oder aber die sich selbst als jüdisch definiert? Jemand, der oder die nach jüdischer Tradition lebt oder jemand, der oder die Religion kritisch gegenübersteht? Oder einfach ein 3
Selbstverständlich wird die Identität durch weitere Parameter geprägt wie Geschlecht, sexuelle Orientierung, soziales Milieu etc. Diese sollen hier aber keine weitere Erwähnung finden, da sie für die weitere Argumentation von untergeordneter Bedeutung sind.
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Mensch, der sich selbst als jüdisch ansieht? Beim Versuch zu klären, wer authentisch das Judentum verkörpern kann, stellt sich wiederum die Frage, ob eine Selbst- oder eine Fremdzuschreibung zugrunde gelegt wird. Diese Fragen sollten im Vorfeld einer Begegnung reflektiert werden, zunächst von den Organisator/ innen und der pädagogischen Begleitung, anschließend aber auch von der gesamten Gruppe. Das kann zum Beispiel im Rahmen einer Diskussion über die eigene Identität geschehen. Die besondere Situation in Deutschland Aufgrund der Geschichte stellt sich in Deutschland die Situation der jüdischen Minderheit völlig anders dar als in einigen anderen westeuropäischen Ländern wie England und Frankreich oder auch in den USA, wo jüdisches Leben in der Gegenwart eine Selbstverständlichkeit ist. Dazu stellen Jüdinnen und Juden rein demografisch in unserer Gesellschaft eine verhältnismäßig kleine Gruppe dar. Neben einer sehr langen Tradition der Judenfeindschaft wirkt die Geschichte des Nationalsozialismus und der Shoah bis heute fort. Auch wenn die Jugendlichen heute meist schon der dritten oder vierten Generation angehören, ist dieses Thema weiterhin in den Köpfen virulent und dadurch relevant und wird bei nahezu allen potenziellen Begegnungen zwischen jüdischen und nichtjüdischen Menschen eine Rolle spielen. Diese Überlegungen sollten bei der Planung und Vorbereitung einer solchen Begegnung berücksichtigt werden. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte und der bis heute speziellen und sensiblen Situation von Jüdinnen und Juden in Deutschland gibt es auf beiden Seiten bestimmte Befindlichkeiten und Sensibilitäten, die beachtet und reflektiert werden sollten. Juden werden hierzulande und insbesondere durch die Darstellung im Geschichtsunterricht immer noch fast ausschließlich als Opfer wahrgenommen, als passiv leidende Objekte der Geschichte. Deshalb ist ein wichtiges Ziel, dies zu ändern und Jüdinnen und Juden als handelnde Subjekte der Geschichte und der Gegenwart kennenzulernen. Außerdem ist bei vielen Jugendlichen immer wieder die Vorstellung anzutreffen, Juden seien eine ausgestorbene Spezies, die zwar in der Vergangenheit existiert hat, die es aber heute, zumindest in Deutschland, nicht mehr gäbe. Vielen ist nicht bewusst, dass es auch heute noch Jüdinnen und Juden gibt und dass das Judentum eine lebendige Kultur, Religion und Tradition ist, die im Hier und Heute gelebt wird, sich weiterentwickelt und aktuell ist. Gerade deshalb sind Jugendliche oft neugierig darauf, „richtige“, „echte“, „authentische“ Jüdinnen und Juden zu treffen.
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Doch bei allem Interesse und aller Neugier auf Seiten der Jugendlichen darf nicht übersehen werden, dass für nichtjüdische Menschen eine Begegnung mit Jüdinnen und Juden in Deutschland auch heute noch nichts Alltägliches ist, sondern einen Ausnahmecharakter besitzt, was durchaus gemischte Gefühle hervorruft. Bei Jugendlichen mehrheitsdeutscher Herkunft kann dabei die Vergangenheit zum Problem werden. Auch wenn es sich bei diesen Jugendlichen meistens um Angehörige der dritten oder vierten Generation nach der Shoah handelt, die mit gleichaltrigen Jugendlichen mit jüdischem Hintergrund zusammentreffen, kann es einen unbewussten Subtext geben, der sich auf die Vergangenheit der beiden Herkunftsgruppen bezieht. Oft nehmen Jugendliche, mehr oder weniger bewusst, eine Abwehrhaltung gegenüber Jüdinnen und Juden ein, weil sie in ihnen die Vertreter einer bestimmten Gruppe sehen, der sie die Rolle einer gesellschaftlichen Moralinstanz zuschreiben. Sie argwöhnen, von ihnen mit der deutsch-jüdischen Vergangenheit konfrontiert zu werden und dafür pauschal schuldig gesprochen zu werden. Das kann unter Umständen in eine Weigerung münden, sich überhaupt mit der Geschichte zu beschäftigen, was sich auch auf das gesamte Themengebiet Judentum und jüdische Geschichte ausdehnen kann. Dieser Faktor kann auch die unmittelbare Begegnung mit einer jüdischen Person unterschwellig prägen, manchmal eher unbewusst und auf den ersten Blick gar nicht wahrnehmbar, selbst wenn das neuralgische Thema Vergangenheit gar nicht direkt angesprochen wird. Dennoch können solche Subtexte den Verlauf einer Begegnung negativ beeinflussen. Für die zwar möglicherweise in Deutschland sozialisierten Jugendlichen mit migrantischem Hintergrund stellt sich die Situation bei einer solchen Begegnung oft etwas anders dar. Gerade für Jugendliche arabisch-palästinensischer oder muslimischer Herkunft sind Begegnungen mit Jüdinnen und Juden zuweilen besondere Herausforderungen mit einer anders gelagerten Problematik. Ein Unterschied liegt in ihrem Verhältnis zur deutschen Geschichte: Diese Jugendlichen identifizieren sich häufig nicht so stark mit Deutschland, als dass sie die Geschichte dieses Landes als die ihre adaptieren oder zumindest als für sich relevant wahrnehmen könnten. Das kann dazu führen, dass sie keinen Sinn darin sehen, sich überhaupt mit der deutschen Geschichte und insbesondere mit der Geschichte des Nationalsozialismus und der Shoah auseinanderzusetzen. Ein weiterer Unterschied liegt darin, dass insbesondere für Jugendliche mit palästinensischem oder arabischem Hintergrund der Nahostkonflikt ein wichtiges Thema darstellt, das ihr Verhältnis zu Jüdinnen und Juden prägt und bei einer Begegnung eine viel größere Rolle für sie spielt als bei ihren mehrheitsdeutschen
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Altersgenoss/innen. Manche weigern sich, sich mit dem Nationalsozialismus und der Shoah zu beschäftigen, weil sie aufgrund des Nahostkonflikts Jüdinnen und Juden nicht als Opfer sehen und behandelt wissen wollen. Interessant ist, dass diese Betrachtungsweise zwar einen Unterschied zu herkunftsdeutschen Jugendlichen konstituiert, aber gleichzeitig auch eine Parallele aufweist: Mehrheitsdeutsche Jugendlichen sehen Jüdinnen und Juden zwar vornehmlich als Opfer, während Jugendliche mit arabischem Hintergrund Jüdinnen und Juden als Täter/innen im Nahostkonflikt wahrnehmen. Auf der anderen Seite treffen sich alle Jugendlichen in dem Punkt, dass sie Jüdinnen und Juden nicht (mehr) als Opfer sehen möchten. Die einen aus Gründen der Schuldabwehr, die anderen, weil sie innerlich nicht zulassen wollen, dass diejenigen, die (vermeintlich) Palästinenser/innen Unrecht zufügen, selbst Opfer sein können.4 Hinzu kommt, dass Jugendliche arabischer Herkunft oft das Gefühl haben, das Leid der Palästinenser/innen werde besonders hier in Deutschland nicht gesehen oder anders bewertet als anderswo, weil die Deutschen immer noch mit ihrer Schuld aus dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt seien. Sie hegen den Verdacht, dass Deutsche deshalb von vornherein Partei für Israel bzw. „die Juden“ ergreifen und deshalb auch eine Begegnung, die von mehrheitsdeutschen Pädagog/innen initiiert und durchgeführt wird, nicht ausgewogen und fair ablaufen könne. Dieser Verdacht steht oft unausgesprochen im Raum und kann eine Begegnung mit Jüdinnen und Juden – die häufig mit Israelis gleichgesetzt werden – belasten. Zudem können Unsicherheiten, Ängste, Befangenheit und andere starke Gefühle gerade bei dieser Klientel eine hohe Hemmschwelle darstellen, die zunächst schwer zu überwinden ist. So sind viele Jugendliche durch die negative und einseitige Darstellung von Jüdinnen und Juden in arabischen Medien und entsprechende Ansichten in ihren Familien voreingenommen und fürchten, durch eine Begegnung in Loyalitätskonflikte zu geraten. Solche Gedanken und Gefühle sollten auf jeden Fall ernst genommen und im Vorfeld besprochen werden. Bilder vom „Anderen“ Neben den aufgezeigten Konfliktlinien muss bei der Vorbereitung einer Begegnung beachtet werden, dass auf beiden Seiten Bilder übereinander vorhanden sind, Bilder von der „Wir-Gruppe“ und von der Gruppe „der Anderen“, die ein offenes Aufeinanderzugehen erschweren können. Bedingt durch die lange Geschichte des christlichen Antijudaismus und des Antisemitismus in Deutschland 4
Dabei sollte nicht übersehen werden, dass auch mehrheitsdeutsche Jugendliche zunehmend den Nahostkonflikt als Projektionsfläche nutzen
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ist im kulturellen Gedächtnis eine große Bandbreite von Ressentiments, Vorurteilen und stereotypen Bildern über Jüdinnen und Juden verankert, die sich auch bei Kindern und Jugendlichen wieder finden. Diese Bilder unterscheiden sich bei Jugendlichen unterschiedlicher kultureller Herkunft in der Regel kaum. Auch verschwörungstheoretisches Denken ist häufig anzutreffen – nicht nur, aber auch bei Jugendlichen mit arabischem und türkischem Hintergrund, da solche Theorien in den Herkunftsländern ihrer Familien populär sind und von dort über die Medien auch in Deutschland verbreitet werden Auch auf jüdischer Seite können Vorbehalte, Ressentiments und vorgefertigte Bilder über „die Anderen“ in den Köpfen präsent sein. So mögen sich beispielsweise Schüler/innen der Jüdischen Oberschule in Berlin bestimmte, zum Teil negativ gefärbte Bilder von Gleichaltrigen aus dem Berliner Bezirk Neukölln5 machen, die meist aus Unwissenheit, Unsicherheit und Ängsten entstehen. Sie werden insbesondere Jugendlichen arabisch-muslimischer Herkunft entgegengebracht und rühren unter anderem aus dem Nahostkonflikt her. Dabei spielt oft die Befürchtung eine Rolle, als Juden für die Politik israelischer Regierungen gegenüber den Palästinenser/innen verantwortlich gemacht zu werden und deshalb antisemitischen Angriffen ausgesetzt zu sein. Zusätzlich können rassistische Stereotype vorhanden sein, wie sie u.a. auch in der deutschen Mehrheitsgesellschaft verbreitet sind. Zu all den genannten Aspekten, die bei der Organisation einer jüdischnichtjüdischen Begegnung zu beachten sind, gibt es auch grundsätzliche, theoretische Erwägungen, die man nicht aus dem Blick verlieren sollte. Auch wenn Begegnungen in den letzten Jahren zunehmend an Bedeutung gewonnen haben und von pädagogischer Seite damit große Hoffnungen verbunden werden, birgt dieses Konzept nicht nur Vorteile, sondern durchaus auch Gefahren. So weisen Wissenschaftler/innen immer wieder auf die Gefahr hin, dass vorhandene Bilder nicht nur nicht verschwinden, sondern unter Umständen sogar verstärkt werden. Denn wenn die Person, der man begegnet, tatsächlich dem Klischee entspricht oder als unsympathisch empfunden wird, dann kann die Antipathie ungewollt verstärkt werden. Andererseits kann es auch passieren, dass das Gegenüber als Ausnahme von der Regel wahrgenommen wird, das keinen Rückschluss auf „die Juden“ als Gruppe zulässt.
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Neukölln muss im medialen und öffentlichen Diskurs über gewaltbereite Jugendliche mit Migrationshintergrund immer wieder exemplarisch als Synonym einer misslungenen Integrationspolitik und ihrer negativen Auswirkungen herhalten.
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Begegnungen aus jüdischer Perspektive An dieser Stelle soll die Perspektive von Jüdinnen und Juden beleuchtet werden, die bisher bei solchen Projekten meist nicht ausreichend berücksichtigt worden ist. Weiter oben wurde bereits danach gefragt, wer denn die jüdische Seite überhaupt ist oder sein kann. Hier soll nun die Frage aufgeworfen werden, welches Interesse Jüdinnen und Juden eigentlich an einem solchen Begegnungsprojekt haben könnten. Warum sollten sie sich an einer solchen Initiative beteiligen? Was könnte für sie daran wichtig sein? Was könnte ihre Motivation sein und welchen Gewinn können sie daraus ziehen? Anders als bei Nichtjüdinnen und -juden sind Begegnungen für jüdische Menschen keine Ausnahmeerscheinung. Während es für Erstere ein aufregendes Erlebnis sein mag, zum ersten Mal im Leben „echte Juden“ zu sehen, sind Begegnungen mit nichtjüdischen Menschen für Letztere alltäglich und stellen eine Normalität dar. Bei jüdischen Menschen sind also das Interesse und das Bedürfnis, in einem organisierten Rahmen Nichtjuden und -jüdinnen zu treffen, erst einmal weniger ausgeprägt als umgekehrt. Die Beweggründe, dennoch an einer solchen Begegnung teilzunehmen, können so vielfältig sein, wie es die Gruppe der Juden und Jüdinnen selbst ist. Zum einen kann ein Bedürfnis vorhanden sein, etwas von der eigenen Kultur, Religion, Geschichte und Lebensweise zu vermitteln. Zum anderen kann auch die Hoffnung eine Rolle spielen, durch Engagement und den Einsatz der eigenen Person zum Abbau von Vorurteilen im Allgemeinen und Antisemitismus im Besonderen beizutragen. Ein weiteres Moment kann die Neugier darstellen, Menschen mit einem anderen Hintergrund kennen zu lernen, um dadurch eigene Sichtweisen zu hinterfragen und den eigenen Horizont zu erweitern. Bei jüdischen Jugendlichen kann das Motiv eine Rolle spielen, sich in einem sicheren Rahmen mit anderen, insbesondere Jugendlichen mit arabischmuslimischem Hintergrund zusammenzusetzen und ins Gespräch zu kommen. Dabei können dann auch schwierige Themen zur Sprache kommen, die sonst eher ausgeklammert werden. Zwar haben auch jüdische Jugendliche oft Kontakt zu Nichtjuden und -jüdinnen, vor allem, wenn sie allgemeine Schulen besuchen. Viele von ihnen achten aber darauf, bestimmte Bereiche wie etwa ihre jüdische Identität, die deutsch-jüdische Geschichte oder Israel nicht zu thematisieren, weil sie Angst vor Zurückweisung oder Anfeindungen haben. Außerdem gibt es meist wenig Kontakt zu Jugendlichen mit muslimischem Hintergrund. So ist z.B. bei den Schüler/innen der Jüdischen Oberschule in Berlin zu beobachten, dass sie
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relativ unter sich bleiben. Hinzu kommt die Tatsache, dass in einer Stadt wie Berlin der Aktionsradius von Jugendlichen meist auf den eigenen Stadtteil beschränkt bleibt. So berichten beispielsweise Schüler/innen der Jüdischen Oberschule, die sich im Bezirk Mitte befindet, dass sie so gut wie keine Berührung mit Jugendlichen aus anderen Bezirken haben. Schüler/innen mit arabischem oder türkischem Hintergrund aus dem angrenzenden Nachbarbezirk Kreuzberg oder aus Neukölln, nur wenige U-Bahn-Minuten entfernt, erschienen ihnen wie aus einer anderen Welt, zu der sie keinen Zugang hätten. Deshalb können solche Begegnungen unsichtbare Barrieren durchbrechen und ganz neue Möglichkeiten und Horizonte eröffnen. Gerade diese zuweilen als Isoliertheit empfundene Situation sowie Ängste vor Anfeindungen, persönliche Sensibilitäten und schlechte Erfahrungen machen eine solche Begegnung für Jüdinnen und Juden oft zu einer schwierigen Angelegenheit. Deshalb ist es wichtig, auf diese Empfindungen Rücksicht zu nehmen. Ein weiteres Problem liegt darin, dass bei jüdisch-nichtjüdischen Begegnungen für die jüdische Seite leicht eine Art „Zoosituation“ entstehen kann, die von Jüdinnen und Juden immer wieder als ein Grund dafür angegeben wird, solche Situationen zu meiden. Sie fühlen sich angestarrt wie seltene Tiere und als Vertreter/innen ihrer „Spezies“ vorgeführt oder sogar missbraucht. Dies kann jedoch durch entsprechende Rahmenbedingungen verhindert werden. So sollte man die Begegnung so gestalten, dass beide Seiten einander Interesse sowie Offenheit entgegenbringen und man sich auf Augenhöhe begegnen kann. Beide Gruppen sollten sich aktiv einbringen und vielleicht sogar gemeinsam an etwas arbeiten oder etwas gestalten können, damit nicht nur die eine die andere bestaunt.
Organisatorische Hinweise Ein organisatorisches Problem für jüdisch-nichtjüdische Begegnungen liegt in der Demografie. Jüdinnen und Juden stellen in Deutschland mit einem Anteil von ca. 0,1% an der Gesamtbevölkerung eine verschwindend kleine Minderheit dar. Offiziell sind ca. 120.000 Jüdinnen und Juden in den Jüdischen Gemeinden registriert, und im Zentralrat der Juden in Deutschland sind 23 Landesverbände mit insgesamt 107 Gemeinden organisiert.6 Obwohl die Anzahl der Mitglieder der jüdischen Gemeinden, die vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis 1990 fast konstant bei 30.000 lag, inzwischen wieder stark gestiegen ist und das Gemein-
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Vgl. http://www.zentralratdjuden.de/de/topic/5.html (Stand 16.06.2009).
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deleben aufblüht, kann der Bedarf an Gesprächspartner/innen von jüdischer Seite nicht gedeckt werden. Die größten Gemeinden befinden sich in Berlin mit ca.12.000, in München mit ca. 9.000, in Düsseldorf mit ca. 7.500 und in Frankfurt mit über 7.000 Mitgliedern. Bei den meisten Gemeinden handelt es sich um Einheitsgemeinden, unter deren Dach unterschiedliche religiöse Ausrichtungen nebeneinander existieren. Daneben haben sich in den 1990er Jahren noch einige kleinere Gemeinden und Kulturvereine gebildet, die sich als progressiv bzw. liberal verstehen. Dazu kommt noch eine größere, schwer schätzbare Anzahl von Jüdinnen und Juden ohne Gemeindezugehörigkeit, die vom Religionswissenschaftlichen Medien- und Informationsdienst e.V. mit 90.000 angegeben wird.7 Im Vergleich dazu leben in Deutschland ca. 3,5 Millionen Muslime.8 Deshalb kann es schon aufgrund der Zahlenverhältnisse nicht ganz leicht sein, eine solche Begegnung zu initiieren. Neben den demografischen Besonderheiten stellt sich die Frage, wer auf jüdischer Seite als kompetente/r Gesprächspartner/in in Frage kommt und wo man eine solche Person finden kann. Zusätzlich zu der Frage, wer überhaupt jüdisch ist und wen man sich als jüdische/n Gesprächspartner/in vorstellt, steht man also vor dem Problem, wer als Ansprechpartner/in geeignet ist. Nicht jede Jüdin und jeder Jude ist aufgrund ihrer bzw. seiner Zugehörigkeit prädestiniert, über jüdische Religion, Kultur und/oder Geschichte Auskunft zu geben, oder über Themen wie den Nationalsozialismus oder den Nahostkonflikt zu reden und als Gegenüber für eine Begegnung zu fungieren. Genauso wenig wie jeder Mensch mit christlichem oder muslimischem Hintergrund sind jüdische Menschen per se Expert/innen für ihre Religion. Deshalb muss man sorgfältig auswählen, wer für solch ein nicht immer leichtes Unterfangen in Frage kommt. Trotzdem muss man nicht unbedingt ein Diplom in Judaistik und Pädagogik besitzen, um an einer Begegnung gewinnbringend teilnehmen zu können. Je nach Anliegen und Interessenslage der Gruppe muss entschieden werden, was für eine Art von Gesprächspartner/in sinnvoll sein kann. Noch gibt es Überlebende der Shoah, die gegebenenfalls als Gesprächspartner/innen in Frage kommen können, bei denen man aber besonders genau prüfen muss, ob eine Konfrontation mit problematischen Jugendlichen sinnvoll und zumutbar erscheint. Bei der Begegnung zwischen Jugendgruppen stellt sich die Situation anders dar. Auch von ihnen wird zum Teil erwartet, dass sie Expert/innen für das Judentum seien, und es kann eine überraschende Erfahrung für Pädagog/innen und Jugend7 8
Vgl. http://www.remid.de/remid_info_zahlen.htm (Stand 16.06.2009). Vgl. ebd.
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liche sein festzustellen, dass das Judentum vielleicht eine viel kleinere Rolle im Leben der jungen Jüdinnen und Juden spielt als angenommen bzw. dass Judentum nicht ausschließlich als Religion definiert wird.9 Ansprechpartner für die Suche nach geeigneten Gesprächspartnern können jüdische Institutionen vor Ort sein. An erster Stelle sind hier die Jüdischen Gemeinden zu nennen, aber auch weitere Institutionen wie der Zentralrat der Juden in Deutschland mit Sitz in Berlin, die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (Frankfurt am Main), jüdische Sport- oder Kulturvereine oder jüdische Schulen kommen dafür in Frage. Allerdings sollte man beachten, dass diese Institutionen meist nicht in der Lage sind, allen Anfragen nachzukommen. Außerdem sind diese zunächst einmal für innerjüdische Belange zuständig und haben aufgrund der schwierigen Situation in Deutschland oft mit existenziellen Problemen zu kämpfen. Deshalb fehlen vielen Gemeinden die Kapazitäten, auf Bedürfnisse von außen zu reagieren und alle Wünsche nach Dialog und Austausch zu erfüllen. Daneben können nichtjüdische Einrichtungen, die sich mit verwandten Themen beschäftigen, wie Museen zur Geschichte des Judentums, Gedenkstätten, historische Vereine, Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammenarbeit etc. als Anlaufstellen dienen. Praktische Überlegungen für die Durchführung von jüdisch-nichtjüdischen Begegnungen Bei den Verantwortlichen für die Planung einer jüdisch-nichtjüdischen Begegnung sollte bei der Vorbereitung die eigene Auseinandersetzung mit dem Thema an erster Stelle stehen. Diese Reflexion sollte sich an den oben genannten Fragestellungen orientieren. Ein solcher Selbstklärungsprozess ist wichtig, um die Qualität und den Erfolg eines Begegnungsprojekts zu gewährleisten. Zunächst muss überlegt werden, ob und unter welchen Umständen eine Begegnung überhaupt sinnvoll und für alle Beteiligten gewinnbringend sein kann. Dazu ist es notwendig, dass ein Zusammentreffen auf freiwilliger Basis stattfindet sowie von Interesse, Offenheit und der Bereitschaft getragen wird, eigene Sichtweisen in Frage zu stellen. Die (gegenseitige) Einschätzung über „die Anderen“ sollte nicht zu extrem und zu negativ sein. Es muss daher im Vorfeld abgeschätzt werden, bei wie vielen 9
Zu den Kriterien für die Auswahl einer Jugendgruppe als Gegenüber siehe „Praktische Überlegungen für die Durchführung von jüdisch-nichtjüdischen Begegnungen“.
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Jugendlichen solche Ansichten vorhanden sind und wie viel Rückhalt diese in der Gesamtgruppe besitzen. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass lauthals geäußerte extreme Einstellungen nicht per se ein Ausschlusskriterium sein müssen. Vielmehr gilt es zu eruieren, bei wie vielen Jugendlichen in der Gruppe solche Sichtweisen vorherrschen, wie tief diese tatsächlich verankert sind und ob man darüber ins Gespräch kommen kann. Oft werden solche Äußerungen „einfach nur so“ wiedergegeben, ohne dass sich dahinter ein verfestigtes antisemitisches oder verschwörungstheoretisches Weltbild verbirgt, dienen der Provokation, sollen eigene Ängste und Unsicherheiten kaschieren oder das eigenen Ego und Prestige stärken. Wenn man zu dem Schluss gekommen ist, dass eine Begegnung unter diesen Voraussetzungen möglich ist, dann sollte man die Auswahl des Gegenübers sorgfältig vornehmen. Dabei ist darauf zu achten, dass die Begegnung soweit wie möglich „auf Augenhöhe“ stattfinden kann. Die beiden Gruppen sollten möglichst einen gleichen oder zumindest ähnlichen ökonomischen und sozialen Status sowie ein vergleichbares Bildungsniveau besitzen, vom Alter her nicht zu weit auseinander liegen und in einem ausgewogenen Zahlenverhältnis zueinander stehen. Dies ist wichtig, um eine gute, ausgewogene Ausgangsbasis herzustellen. Da dies aus organisatorischen Gründen oft schwer zu arrangieren ist (s.o.), bietet sich unter Umständen ein/e erwachsene/r Gesprächspartner/in als Alternative an. Eine gründliche Vorbereitung ist eine wichtige Grundlage für eine gelungene Begegnung. Beide Gruppen sollten sorgfältig auf das Kennenlernen vorbereitet werden, um sich innerlich aufeinander einstellen zu können. Die Vorbereitung sollte sowohl eine inhaltliche, auf die rationale Ebene zielende Komponente in Form eines Wissensinputs enthalten, als auch einen emotionalen Anteil. Je nach potenziellem Gegenüber, Thema und Ziel der Begegnung sollte vor dem Treffen zu relevanten Themen, die die andere und die eigene Gruppe betreffen, gearbeitet werden. In Frage kommen Themen wie z.B. jüdische und muslimische Geschichte, Religion und Kultur, die Geschichte des Antisemitismus, des Nationalsozialismus und der Shoah sowie die Geschichte des Nahostkonflikts. Die Jugendlichen erwerben so Grundkenntnisse, auf deren Basis sie dann ins Gespräch kommen können. Sie sollten sich vorher schon innerhalb ihrer jeweiligen Gruppe mit diesen Inhalten diskursiv auseinandergesetzt haben, dazu angeregt werden, sich weiter mit diesen zu beschäftigen und eigene Fragen zu formulieren, die bereits im vorhinein den Gesprächspartner/innen übermittelt werden können. Die Fragen können aber auch gesammelt und dann bei der Begegnung gestellt werden. Fakten über den Hintergrund des jeweiligen Gegenübers, eine Diskussion
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über die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Jugendlichen, Probleme wie eigene Diskriminierungserfahrungen, Fragen nach ihrer Identität sowie Gespräche über Vorstellungen, Gedanken und Gefühle über die potenzielle Begegnung und deren Reflexion können ebenfalls als Vorbereitung dienen. Es ist wichtig, dass die Begegnung durch eine gute Moderation begleitet wird. Eine erfahrene und für beide Seiten akzeptable Person, die mit dem kulturellen und gesellschaftlichen Hintergrund beider Seiten vertraut sein sollte, sollte als Vermittlerin und eventuell sogar als Integrationsfigur fungieren. Eventuell können auch zwei Personen das Gespräch leiten, wobei es sich dann anbietet, jeweils eine Person auszuwählen, die von einer der beiden Seiten respektiert wird. Die Moderation sollte das Gespräch einleiten, Regeln für das soziale Miteinander aufstellen bzw. die idealerweise vorher gemeinsam mit den Jugendlichen erarbeiteten Regeln noch einmal formulieren und das Gespräch bzw. das Miteinander moderieren. So kann es beispielsweise sinnvoll sein, das Gespräch in thematische Blöcke zu untergliedern. Es ist empfehlenswert, zunächst die für die Jugendlichen brisantesten Themen auszuklammern und die Jugendlichen sich erst einmal zwanglos kennen lernen zu lassen. Nachdem sie einander als reale Personen gesehen haben, miteinander vertraut geworden sind und nicht mehr nur als Bilder und Projektionsflächen existieren, kann man auf dieser Grundlage auch heikle Themen wie den Nahostkonflikt in Angriff nehmen. Inhaltlich gilt es im Allgemeinen, möglichst bei den Gemeinsamkeiten und nicht bei den Differenzen anzusetzen. Zum Beispiel können bei Gruppen, in denen viele Jugendliche mit muslimischem Hintergrund vertreten sind, die Religionen Judentum und Islam besprochen werden, die Teilnehmenden sich gegenseitig dazu befragen und dabei Berührungspunkte und Ähnlichkeiten herausarbeiten. Die Erfahrung, zunächst unvermutete zahlreiche Parallelen zu entdecken, kann zu Überraschung und zu einer Öffnung führen, Spaß machen und schnell gemeinsamen Gesprächsstoff herstellen. Je nach Zusammensetzung der Gruppen können Themen wie Migration, Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen, Identität, Kultur, Herkunft oder Familie für beide Gruppen relevant sein. Dabei lassen sich gemeinsame Erfahrungshorizonte erschließen, die auch auf andere Gemeinsamkeiten lenken können, welche Jugendliche im gleichen Alter verbinden. Dabei ist es wichtig, einen Raum für eine Auseinandersetzung auf persönlicher Ebene zu schaffen. Ein reiner Austausch von Informationen und Fakten auf einer sachlich-rationalen Ebene reicht nicht aus. Das notwendige Faktenwissen über die eigene und die „fremde“ Kultur sollte ergänzt werden durch eine echte per-
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sönliche Begegnung. Die Teilnehmenden sollten Meinungen, Gedanken und Gefühle äußern und darüber offen miteinander sprechen können. Wenn sich einmal Emotionen Bahn brechen sollten, ist es Aufgabe der Moderation, diese aufzufangen, zu kanalisieren und in ruhigere Bahnen zu lenken, ohne dabei das Mitteilungsbedürfnis, die Gesprächsbereitschaft und den Dialog „abzuwürgen“. Bei einer Begegnung muss gewährleistet sein, dass auf die Bedürfnisse und Befindlichkeiten aller Teilnehmenden eingegangen wird und dass die Jugendlichen vor (verbalen) Angriffen geschützt sind. Alle sollten das Gefühl haben, in einem geschützten Raum offen ihre Gedanken und Gefühle aussprechen zu können, ohne von vorneherein negativen Zuschreibungen oder sogar Anwürfen oder Übergriffen ausgesetzt zu sein. Dabei sollte man überlegen, was den Teilnehmenden der Begegnung zuzumuten ist. So sollten beispielsweise Shoahüberlebende nicht mit einer Gruppe rechtsradikaler Jugendlicher konfrontiert werden. Eine Bereitschaft zum offenen und ehrlichen Dialog und Kennenlernen muss auf beiden Seiten gleichermaßen vorhanden sein. Insgesamt sollte ein möglichst integrativer Ansatz verfolgt werden. Da die meisten Gruppen heterogen sind, ist darauf zu achten, dass bei einer Begegnung nicht neue Ein- bzw. Ausschlüsse entstehen. So kann es beispielsweise geschehen, dass in Gruppen, in denen einige Schüler/innen mit muslimischem Hintergrund sind und der Focus auf dem Vergleich Judentum-Islam liegt, sich Schüler/innen anderer Konfessionen ausgeschlossen fühlen. Ebenso können sich konfessionell nicht gebundene oder areligiöse Schüler/innen beim Thema Religion allgemein nicht angesprochen fühlen. Deshalb muss man genau darauf achten, dass man alle Anwesenden gleichermaßen einbindet. Um einen möglichst intensiven Kontakt herzustellen, empfiehlt es sich, die beiden Gruppen gemeinsam aktiv werden zu lassen, indem man ihnen beispielsweise eine Aufgabe stellt, die sie gemeinsam lösen sollen. Nach dem ersten Kontakt, meist einem Gespräch, bei dem sich die Jugendlichen gegenseitig „beschnuppern“ können, ist es günstig, wenn sie zusammen an etwas arbeiten, einen Workshop machen, an einem Projekttag teilnehmen oder auf eine andere Weise in einen äußeren Rahmen eingebunden sind. Die Erfahrung zeigt, dass sich die Gruppen dann recht schnell mischen und hinter den gemeinsamen Zielen, dem sich entwickelndem Ehrgeiz und dem Spaß die vermeintlich trennenden Elemente rasch in den Hintergrund treten. Diese Methode begünstigt auch die Herstellung eines Miteinanders auf Augenhöhe und vermindert den „Zooeffekt“. Dadurch wird eine Gegenseitigkeit und Gleichheit geschaffen, die vor allem für die jüdische Seite sehr wichtig ist. So kann auch diese von einer Begegnung wirklich
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profitieren und sich als gleichberechtigter und aktiver Teil der Begegnung fühlen und muss nicht den Eindruck haben, nur angestarrt und als Objekt benutzt zu werden. Dies kann erweitert werden, indem man den gemeinsamen Rahmen zeitlich ausdehnt, z.B. durch eine gemeinsame Reise, ein Workcamp oder ein längerfristiges Projekt. Wenn die Teilnehmenden eine Weile miteinander leben und auskommen müssen, ist eine Intensivierung des gegenseitigen Kennenlernens möglich. Mögliche Alternativen zu jüdisch-nichtjüdischen Begegnungen Wie bereits beschrieben, stößt die Organisation von Begegnungen mit jüdischen Jugendlichen oder Erwachsenen an praktische und zum Teil auch pädagogische Grenzen. Wenn sich zeigt, dass eine „echte“, eine direkte Begegnung nicht möglich oder aber nicht sinnvoll ist, bieten sich stattdessen folgende Alternativen an.
Deutsch-israelischer Jugendaustausch Naheliegend ist für viele Pädagog/innen die Durchführung einer deutschisraelischen Begegnung als Alternative – anscheinend sogar oft naheliegender als eine Begegnung mit Jüdinnen und Juden vor Ort. Denn häufig wird ein deutschisraelischer Jugendaustausch als Maßnahme durchgeführt, ohne vorher überhaupt in Erwägung gezogen zu haben, ein Zusammentreffen mit deutschen Jüdinnen und Juden zu ermöglichen. Da eine Begegnung mit israelischen Jugendlichen jedoch von ganz anderen Voraussetzungen geprägt ist und bei ihr somit in der Regel ganz andere Dynamiken entstehen, kann sie nur sehr begrenzt als Ersatz für Begegnungen mit jüdischen Deutschen bzw. hier lebenden Jüdinnen und Juden dienen. Es handelt sich dabei nicht um ein Zusammentreffen zweier Gruppen, die im gleichen Land unter gleichen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen aufwachsen, auch wenn sie von diesen in unterschiedlicher Weise betroffen und geprägt sein mögen und/oder über weitere nationale oder kulturelle Bezüge verfügen können, sondern für jeweils eine der beiden Seiten um einen Besuch auf gänzlich fremdem Terrain. Die Jugendlichen aus Deutschland und aus Israel wachsen in unterschiedlichen Ländern auf unterschiedlichen Kontinenten auf,10 sprechen unterschiedliche 10 Dies gilt natürlich nicht für alle in Deutschland lebenden Jugendlichen, beispielsweise für Jugendliche mit arabischem bzw. palästinensischem Hintergrund mit eigener Migrationserfahrung.
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Sprachen und haben oft Probleme damit, sich in einer gemeinsamen Sprache wie Englisch zu verständigen. Ebenso werden in dieser Konstellation ganz andere Themen relevant, die in Verbindung mit den jeweiligen staatlichen Systemen und Gesellschaften stehen. Doch auch die Beschäftigung mit Themen wie der Shoah verlaufen in der Regel mit (jüdisch-)israelischen Jugendlichen anders, da diese aufgrund ihrer Kontextbedingungen eine andere Perspektive darauf besitzen und andere Erfahrungen im Umgang mit der Geschichte machen, als es jüdische Jugendliche in Deutschland tun. Im Zentrum deutsch-israelischer Austausch- und Begegnungsprojekte steht meist nicht die jüdische Kultur, Religion und Lebenswelt, da in einem Land, in dem Jüdischsein – zumindest aus jüdischisraelischer Sicht – eine selbstverständliche Normalität darstellt, für viele säkulare Israelis ihre jüdische Identität im Alltag oft keine große und bewusst thematisierte Rolle spielt. Noch weniger ein Thema stellt Judentum und jüdische Identität für palästinensisch-israelische Jugendliche dar, die ebenso in der israelischen Gruppe vertreten sein können. Stattdessen fokussieren sich die Gespräche bei deutsch-israelischen Begegnungen in der Regel auf den israelisch-palästinensischen Konflikt, von dem die israelischen (und ggf. palästinensischen) Jugendlichen – anders als in Deutschland lebende jüdische Jugendliche – unmittelbar betroffen sind und dadurch eine andere Sicht darauf haben. Selbstverständlich lassen sich auch zwischen israelischen und deutschen Jugendlichen, ob mit oder ohne Migrationshintergrund, auf zwischenmenschlicher Ebene viele Gemeinsamkeiten finden. Durch die unterschiedlichen Sozialisationsund Lebensbedingungen dürften jedoch die Differenzen von den meisten Austausch-Teilnehmer/innen als viel gravierender wahrgenommen und so ein „Wir“ und „Ihr“ befördert werden. Wichtig ist in unserem Kontext bei der Organisation deutsch-israelischer Begegnungen in jedem Fall, dass diese nicht dazu beitragen dürfen, einer Gleichsetzung von „Juden“ und „Israelis“ Vorschub zu leisten, wie sie auch unter Jugendlichen weit verbreitet ist – denn damit befördert man nicht nur antisemitische Denkmuster, sondern blendet zudem auch die Existenz nichtjüdischer Minderheiten in Israel und jüdischer Menschen in Deutschland aus.
Besuch von Museen, Gedenkstätten und historischen Orten Eine weitere Alternative zu einer persönlichen Begegnung mit Jüdinnen und Juden kann ein Besuch in einem Museum oder einer Gedenkstätte darstellen. Zudem kann es nicht nur eine alternative, sondern auch eine zusätzliche Möglichkeit sein, die mit einer Begegnung gut kombiniert werden kann. Der Besuch einer solchen Institution kann vor oder nach oder im Zuge einer
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Begegnung stattfinden. Dabei besteht z.B. die Chance, den Besuch zur Vorbereitung, u.a. auch mit schwierigen Gruppen zu nutzen, um sich dem Thema erst einmal behutsam anzunähern. So kann man zunächst einmal einen intellektuellen Input geben, grundlegende Informationen vermitteln und auf rationaler Ebene Missverständnisse klären. Bei problematischen Gruppen kann aber auch der Fall auftreten, dass ein Museumsbesuch erst nach einer persönlichen Begegnung und dem Abbau der Hemmschwelle überhaupt möglich wird. Ein Beispiel hierfür ist das Jüdische Museum Berlin (JMB). Obwohl eine Kulturstiftung des Bundes und damit in der Trägerschaft des deutschen Staates, wird das JMB meist als jüdische Institution wahrgenommen. Es hat sich seit seiner Eröffnung 2001 gezeigt, dass ihm immer mehr eine Stellvertreterrolle zugewiesen wird. Die Lücke, die sich durch den Mangel an Gelegenheit auftut, in Deutschland „echte“ Jüdinnen und Juden zu treffen, wird nun teilweise vom JMB gefüllt. Das führt aber oft zu Missverständnissen, weil viele Menschen meinen, dass sie dort endlich „richtige Juden“ sehen und in Kontakt mit authentischem Judentum kommen. So fungieren das JMB und seine Mitarbeiter/innen in starkem Maße als Projektionsfläche für „das Jüdische“ bzw. „Jüdischkeit“ in Deutschland. Wenn Menschen merken, dass das JMB ihren Erwartungen nicht entspricht und ihren Wunsch nicht erfüllen kann, kann das zu Enttäuschung und Abwendung führen. Eine persönliche Begegnung kann und will das JMB aber gar nicht leisten; das entspricht nicht seinem Selbstverständnis. Das JMB sieht seine Aufgabe darin, jüdische Geschichte, Kultur und Religion in Deutschland zu zeigen und zu vermitteln. Trotzdem können solche Bedürfnisse zum Teil im JMB aufgefangen und kanalisiert werden. Außerdem besteht die Möglichkeit, in Einzelfällen Gesprächspartner/innen zu vermitteln. In letzter Zeit hat das JMB vermehrt versucht, selbst jüdisch-nichtjüdische Begegnungen zu initiieren.
Arbeit mit Materialien und Medien Wenn eine zwischenmenschliche Begegnung mit Jüdinnen und Juden nicht realisierbar sein sollte, können Pädagog/innen stattdessen auch auf Filme, Arbeitsmaterialien und Bücher zurückgreifen, die nicht allein über das Judentum als Religion, sondern vielmehr über aktuelles jüdisches Leben informieren. Diese können und sollten auch zur Vorbereitung einer Begegnung genutzt werden. Leider ist ihre Anzahl nicht allzu groß. Dennoch gibt es einige Materialien und Medien, die – mehr oder weniger gut – dazu geeignet sind, einen Einblick in das Leben
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von heute in Deutschland lebenden jüdischen Menschen zu geben und so Vorurteilen und stereotypen Bildern entgegen zu wirken.11 Besonders ansprechend für Jugendliche ist sicherlich das Medium Film. Der Großteil der wenigen vorliegenden Dokumentationen, die versuchen, aktuelles jüdisches Leben in seiner Vielfalt zu präsentieren, ist jedoch nicht als pädagogisches Material konzipiert und dementsprechend nicht speziell auf junge Menschen zugeschnitten. Dies führt unter anderem dazu, dass die Filme häufig relativ lang sowie inhaltlich und sprachlich recht anspruchsvoll sind. Dadurch sind sie nicht für alle Zielgruppen – insbesondere auch jüngere und/oder sogenannte bildungsbenachteiligte Jugendliche – gleichermaßen einsetzbar. In der Regel ist der Blick, den diese Filme auf jüdisches Leben werfen, ein Blick von außen, der zuweilen auch (einzelne) stereotype Bilder über Juden reproduziert. Die Informationen aus Filmen, die bereits vor mehreren Jahren veröffentlicht wurden, sind an einigen Stellen veraltet, und diese Produktionen vermitteln zudem durch ihre stärkere Fokussierung auf die Vergangenheit eine gewisse Schwere, was sie für nichtjüdische Jugendliche nicht so leicht zugänglich macht. Trotz solcher Schwächen finden sich in diesen Filmen aber genügend Szenen und Ausschnitte, die – der jeweiligen Zielgruppe entsprechend ausgewählt – wertvolles Arbeitsmaterial auch für den pädagogischen Kontext liefern. Jüdisch-nichtjüdische Begegnungen – eine wirksame Strategie gegen Antisemitismus? Jüdisch-nichtjüdische Begegnungen sollen – genauso wie interkulturelle Begegnungen im Allgemeinen – Vorurteile und stereotype Bilder abbauen, indem Jugendliche oder Erwachsene im direkten Kontakt mit „den Anderen“ die Erfahrung machen, dass diese in der Regel nicht dem entsprechen, was tradierte Bilder und Klischees vermitteln. Das Kennenlernen dieser „Anderen“ ermöglicht es, ein realistischeres Bild von ihnen zu gewinnen. Das Gegenüber soll als Mensch „wie du und ich“ mit eigenen Gefühlen, Wünschen und Ängsten erfahren werden, der oder die nicht mehr so einfach abgelehnt oder gar gehasst werden kann. In der Begegnung können die Teilnehmenden Gemeinsamkeiten zwischen sich und „den Anderen“ entdecken, welche die Differenzen auf- oder vielleicht sogar überwiegen, und dies nicht allein anhand gleicher Interessen und Hobbies oder gemeinsamer altersspezifischer Themen. So sind beispielsweise muslimische 11 Eine Zusammenstellung solcher Titel, die hinsichtlich ihrer Einsetzbarkeit im pädagogischen Kontext kommentiert werden, findet sich in der Handreichung zu jüdisch-nichtjüdischer Begegnung des Projekts „amira – Antisemitismus im Kontext von Migration und Rassismus“.
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Jugendliche im Rahmen jüdisch-nichtjüdischer Begegnungen häufig überrascht, wie viele Ähnlichkeiten der Islam und das Judentum aufweisen, und nichtjüdische Jugendliche mit Migrationshintergrund nähern sich jüdischen Jugendlichen möglicherweise beim Sprechen über ähnliche Erfahrungen von Diskriminierung und Ausgrenzung an. Insbesondere die Begegnung mit einer Gruppe von Menschen aus einer „anderen Kultur“ kann zudem deutlich machen, dass diese Gruppe in sich sehr heterogen ist und es angesichts dieser inneren Vielfalt nicht zulässig ist, in Pauschalisierungen von ihr zu sprechen. Inwieweit solche Begegnungen allerdings grundsätzliche und langfristige Einstellungsveränderungen bewirken können, ist schwer überprüfbar und bislang wissenschaftlich nicht belegt. Erkenntnisse aus dem Feld des interkulturellen Lernens sowie der Vorurteilsforschung verweisen jedoch darauf, wie tief verwurzelt und wie schwer überwindbar Vorurteile, Stereotype und Feindbilder im Menschen sind – und dies trifft auf antisemitische Bilder und Ressentiments mit ihrer langen Geschichte sicherlich nicht weniger als auf rassistische und andere Einstellungsmuster zu. „Mein Kumpel Ali, der ist okay, aber Türken als solche mag ich trotzdem nicht“ – dieses vom Rassismus bekannte Phänomen der „Ausnahme von der Regel“ beispielsweise lässt sich sicherlich auch im Kontext antisemitischer Denkweisen finden. Im schlechtesten Fall können interkulturelle Begegnungen sogar dazu führen, dass vorhandene Vorurteile nicht abgebaut, sondern bestätigt oder sogar verstärkt werden. Denn wenn die Person, der ich begegne, tatsächlich dem überlieferten Klischee entspricht oder als unsympathisch wahrgenommen wird, dann kann eine bereits vorhandene Antipathie ungewollt verstärkt werden. Vorgeprägte Einstellungsmuster und verinnerlichte Stereotype führen häufig zu einer selektiven Wahrnehmung der „Anderen“, bei der Informationen, die den bereits existierenden Bildern und Vorurteilen nicht entsprechen, ausgeblendet werden und stattdessen eine Fokussierung auf das „Bekannte“ stattfindet. So mag dann beispielsweise die eine Jüdin, die im Rahmen einer Begegnung kennen gelernt wurde und die tatsächlich über einen hohen sozio-ökönomischen Status verfügt, anschließend als aus dem eigenen Erfahrungskontext stammendes Beispiel dafür herhalten, dass „die Juden“ reich seien – auch wenn dies auf den Rest der Gruppe nicht zutrifft. Wie bereits aufgezeigt wurde, besteht die Gefahr, im Kontext von Begegnungen Ein- und Ausschlüsse unter anderem durch das Festhalten an einem starren Kulturbegriff zu reproduzieren. Worin besteht eine „Kultur“ überhaupt, wie lässt sie sich von anderen „Kulturen“ abgrenzen, und wer definiert diesen Begriff? Wer
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wird einer bestimmten „Kultur“ zugeordnet und wer nicht, wer kann sie gegenüber anderen repräsentieren? Diese Fragen können sich bei interkulturellen Begegnungen nicht nur theoretisch, sondern auch ganz praktisch stellen, beispielsweise wenn es darum geht, wer überhaupt an der Begegnung teilnehmen bzw. wem die eigene Gruppe begegnen soll und welche Themen behandelt werden sollen. In der Regel handelt es sich bei den Teilnehmenden ja um gemischte, heterogene Gruppen, in denen ganz unterschiedliche Identitätskonzepte, Bezüge und Interessen vertreten sind. Damit sich keine/r der Beteiligten ausgeschlossen fühlt, sollten diese auch inhaltlich in möglichst großem Maße repräsentiert sein. Anderenfalls drohen beispielsweise bei jüdisch-nichtjüdischen Begegnungen, die interreligiöses Lernen – bei multikulturellen Gruppen häufig über das Judentum und den Islam – in den Mittelpunkt stellen, nichtreligiöse Jugendliche sowie Angehörige anderer Religionen herauszufallen. Damit Begegnungen nicht kontraproduktiv wirken, sollte eine (selbst-)kritische Auseinandersetzung mit kulturalisierenden und stereotypisierenden Zuschreibungen und ihren gesellschaftlichen und politischen Kontexten daher möglichst Bestandteil eines jeden Begegnungsprojekts sein – und dies nicht nur von Seiten der Jugendlichen, sondern auch der Pädagog/innen selbst. Bedacht werden sollte im Hinblick auf jüdisch-nichtjüdische Begegnungen auch, dass bestimmte Ebenen des Antisemitismus – insbesondere die der Verschwörungstheorien – eine Dimension besitzen, die über Vorurteile hinausgeht und durch Begegnungen mit Jüdinnen und Juden vermutlich nur schwerlich in Frage zu stellen ist. Wer sich die Welt mit Hilfe einer „jüdischen Weltverschwörung“ erklärt, verspricht sich davon Orientierung und Sicherheit in einer immer komplexer und undurchschaubarer erscheinenden Welt, gibt den vermeintlichen „Verschwörern“ die Schuld für die eigene Ohnmacht, die demgegenüber empfunden wird, und entledigt sich gleichzeitig der Verantwortung für eine Veränderung der persönlichen und politischen Situation. Einer derart umfassenden psychosozialen Funktionalität, die zudem kulturell tief in unserer Gesellschaft und den sie bildenden Individuen verankert ist, lässt sich nicht allein durch Begegnungen mit jüdischen Menschen begegnen – hierfür sind umfassendere Konzepte der politischen Bildung (und anderer Disziplinen) erforderlich. Vor diesem Hintergrund sollte die nichtjüdisch-jüdische Begegnung als pädagogischer Ansatz zum Abbau von Antisemitismus keinesfalls verworfen, aber gleichzeitig auch in ihrer Wirksamkeit nicht überschätzt werden. Mitentscheidend für den Erfolg solcher Begegnungen sind in jedem Fall die Umstände ihres Zustandekommens, eine fundierte Vorbereitung, ihr Ablauf und ihre Nachbereitung. Gleichzeitig empfiehlt es sich, diesen Ansatz mit anderen
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Konzepten zu kombinieren und in einen längeren Prozess der Auseinandersetzung mit Antisemitismus sowie dem Judentum und jüdischem Leben in Geschichte und Gegenwart, aber auch mit übergreifenden Themen wie Diskriminierung, Ausgrenzung und sozialer Ungleichheit einzubinden.
Autorinnen und Autoren Begrich, David, Dipl.Gemeindepädagoge, Bildungsreferent in der Arbeitsstelle Rechtsextremismus bei „Miteinander – Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt e.V.“, Magdeburg. Dantschke, Claudia, wissenschaftliche Mitarbeiterin der ZDK Gesellschaft Demokratische Kultur gGmbH Berlin. Follert, Guido, M.A., Sozialpsychologe, Mitarbeiter bei SuPA GmbH – SuchtPsychiatrische Ambulanz Hannover, Lehrbeauftragter an der Leibniz Universität Hannover und an der Fachhochschule Hannover. Fréville, Gabriel, Diplom Sozialpädagoge/Sozialarbeiter, Mitarbeiter im Projekt „amira - Antisemitismus im Kontext von Migration und Rassismus“ des Vereins für Demokratische Kultur in Berlin e.V., Berlin. Harms, Susanna, Politologin; Mitarbeiterin im Projekt „amira - Antisemitismus im Kontext von Migration und Rassismus“ des Vereins für Demokratische Kultur in Berlin e.V., Berlin. Holz, Klaus, Dr. habil., Generalsekretär der Evangelischen Akademien in Deutschland e.V., Berlin. Karakayali, Serhat, Dr., Soziologe, Leiter des Projektes „amira - Antisemitismus im Kontext von Migration und Rassismus“ des Vereins für Demokratische Kultur in Berlin e.V., Berlin. Kiefer, Michael, Dr. phil., M.A., Islamwissenschaftler in Erfurt und Düsseldorf. Kümper, Michal, M.A., Geisteswissenschaftlerin und Pädagogin, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Philosophischen Fakultät der Universität Potsdam, pädagogische Mitarbeiterin der Bildungsabteilung des Jüdischen Museums Berlin. Messerschmidt, Astrid, Dr. phil., Erziehungswissenschaftlerin, Professorin für Allgemeine Pädagogik an der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe.
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Autorinnen und Autoren
Niehoff, Mirko, pädagogischer Leiter der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA e.V.), Berlin. Pohl, Rolf, Dr. phil., Professor für Sozialpsychologie am Institut für Soziologie und Sozialpsychologie an der Leibniz Universität Hannover. Raabe, Jan, Dipl. Sozialpädagoge, Referent beim „Verein Argumente & Kultur gegen Rechts e.V.“, Bielefeld. Radvan, Heike, Dipl. Sozialpädagogin, Mitarbeiterin bei der Amadeu Antonio Stiftung, promoviert am Fachbereich Erziehungswissenschaften der FU Berlin. Stender, Wolfram, Dr. phil., Professor für Soziologie an der Fachhochschule Hannover. Tietze, Nikola, Dr., Soziologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hamburger Institut für Sozialforschung, Hamburg. Weyand, Jan, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie, Universität Erlangen-Nürnberg.