Peter Busch Ökologische Lernpotenziale in Beratung und Therapie
VS RESEARCH
Peter Busch
Ökologische Lernpotenziale...
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Peter Busch Ökologische Lernpotenziale in Beratung und Therapie
VS RESEARCH
Peter Busch
Ökologische Lernpotenziale in Beratung und Therapie Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Franz Stimmer
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation Leuphana Universität Lüneburg, 2010
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Verena Metzger / Dr. Tatjana Rollnik-Manke VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Satz und Layout: D.A.S.-Büro Schulz, Zülpich Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17949-0
Für meine Tochter Elena
Geleitwort
Herrn Peter Busch geht es in dem vorliegenden Werk um ein „Neu- und Anderssehen“ (Th. S. Kuhn) von Beratung und Therapie mit dem Ziel, unter Diskussion vorliegender Theorien und Methoden, das (erweiterte) Veränderungspotenzial einer ökologisch fokussierten Beratung auszuloten und zu begründen. BeraterInnen bleiben oft über den Effekt ihrer Arbeit im Ungewissen. Die Frage der Nachhaltigkeit von Beratung steht daher im Zentrum der Untersuchung: Welchen Gewinn haben KlientInnen nach Beendigung ihrer Beratung oder Therapie? Können sie das Wissen und die damals erlebten Veränderungspotenziale selbstständig (oder über eine kurze Auffrischung in der Beratung) in neuen belasteten Situationen reaktivieren? Eine weitere Frage ist, inwieweit die neuen Möglichkeiten, die durch die Beratung erworben wurden, sich präventiv auf das „Leben danach“ auswirken. Die Antwort, die in diesem Werk begründet wird, ist folgende: Neben der Ergründung emotionaler (Tiefen-)Strukturen sind für die Beratung in einer modernen Gesellschaft (individualistische Ethik, horizontale und vertikale Mobilität, Pluralismus, Segmentierung der Lebenswelt usw.) weitere Komponenten für eine gegenwärtige und zukünftige erfolgreiche Beratung notwendig, wenn auch alleine – das wäre ein Missverständnis – nicht ausreichend: Sich-selbst-ähnliches-Lernen, Strategieentwicklung, Motivations- und Willensbildung, Auseinandersetzung mit Fragen der Ethik und Moral sowie der eigenen ökologischen Haltung u. a. Die Verbesserung und Integration des Erwerbs dieser Fähigkeiten als Ziel von Beratung führt zu einem adäquateren Umgang mit der komplexen Realität moderner Gesellschaften. Diese Komponenten als Komplex bezeichnet Peter Busch als „ökologisches Lernpotenzial“. Herr Peter Busch hat ein sehr interessantes, kluges und weiterführendes Werk vorgelegt, in dem es ihm gelungen ist, über das eingangs erwähnte „Neuund Anderssehen“ das erweiterte Veränderungspotenzial einer ökologisch orientierten psycho-sozialen Beratung zu begründen. Damit leistet er einen profunden Beitrag zur bisher nicht ausreichenden, aber umso notwendigeren Diskussion der
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Geleitwort
Entwicklung einer Beratungswissenschaft (Beitrag zur Methodenintegration, ökologisches Kompetenzenmodell, Lernen als wesentliches Element von Beratung). Ein kürzlich erschienener Sammelband, herausgegeben von Heidi Möller und Brigitte Hausinger, hat den Titel „Quo vadis Beratungswissenschaft?“ Dabei wird ja ein wenig unterstellt, dass es diese bereits gäbe. Dem ist nicht so, was in diesem Sammelband auch beklagt wird. Das ist das Eine; das Andere ist, dass es kaum umfassendere Monographien zum Thema Beratung und Therapie oder gar zur Problematik „Beratungswissenschaft“ gibt. Peter Busch hat in dieser Monographie eine bedeutsame Richtung vorgegeben, für die weitere Entwicklung hin zu einer fundierten Beratungswissenschaft. Dabei stellt er die einzelnen theoretischen Bausteine differenziert vor, erarbeitet aber immer auch Querverbindungen zu seinem Thema Beratung und Therapie. Zentral dabei ist wiederum, dass eine ökologisch orientierte Beratung Lernprozesse beinhaltet, die neben der Förderung „emotionaler Intelligenz“ auch und besonders die Vermittlung von Wissen zum Gegenstand hat. Die Arbeit wird dem Ziel, den wissenschaftlichen Erkenntnisstand auf dem untersuchten Gebiet voranzutreiben, in hervorragender Weise gerecht. Zugleich enthält sie jedoch sowohl in der theoretischen Beschreibung relevanter Ansätze in Beratung und Therapie als auch hinsichtlich einer auf die praktische Umsetzung bezogenen Entwicklung eine Vielzahl von Erkenntnissen, die auch für PraktikerInnen in ihrer täglichen und manchmal schwierigen Arbeit von erheblicher Bedeutung sind, dies allerdings unter der Voraussetzung, dass sie bereit sind, sich auf die Komplexität des untersuchten Gegenstandes einzulassen. Das vorliegende Werk von Peter Busch ist gewiss keine leichte Feierabendlektüre. Es verlangt vom Leser ein konzentriertes Mitarbeiten, das Bemühen, sich von der Diskussion verschiedener Wissenschafts- und Lebensbereiche überraschen zu lassen, sowie Ausdauer und die Bereitschaft, in umfassenden und ganzheitlichen Strukturen zu denken. Der Lohn der Mühen freilich ist groß: Der Blickwinkel wird erweitert, bislang in diesen Zusammenhängen für den Beratungs- und Therapiebereich wenig thematisierte Theorien werden (be)greifbar, die Lust am Neuen wird in vielfältiger Weise befriedigt. In diesem Sinne wünsche ich dem Buch von Peter Busch eine weite Verbreitung und viele – auch kritische – LeserInnen, damit vielleicht auch mehr Antworten gefunden werden zu der Frage „Quo vadis Beratungswissenschaft?“. Eine Antwort gibt die Lektüre dieses Buches. Prof. Dr. Franz Stimmer
Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 2009/10 von der Fakultät Bildung der Leuphana Universität Lüneburg als Dissertation angenommen. Die Ergebnisse dieser Arbeit resultieren einerseits aus meiner beruflichen Tätigkeit als Berater, Trainer und Dozent; andererseits aus der damit zusammenhängenden engagierten praktischen und theoretischen Beschäftigung mit den Wechselbezügen im Verhalten sozialer Systeme und den dort ständig stattfindenden Veränderungsprozessen. Mein Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Franz Stimmer, der die Fertigstellung der Arbeit in vielfältigster Weise gefördert hat. Bedanken möchte ich mich auch bei Herrn Prof. Dr. Peter Paulus und Frau Prof. Dr. Maja Heiner für die Erstellung des Zweit- und Drittgutachtens. Ich danke meiner Lebensgefährtin Frau Anke Ende für ihre herzliche und geduldige Unterstützung. Sie hat durch ihr Verständnis, ihre Ermunterungen und wichtige Diskussionen zur Fertigstellung der Arbeit beigetragen. Mein Dank gilt ebenso meiner Familie und meinen Mitarbeitern, die sich mir gegenüber in nicht immer einfachen Schaffensphasen in Geduld übten. Für schnelle und klare Korrekturhilfen bedanke ich mich bei Herrn Dr. Günter Rosengarten, der mir immer wieder gute Hinweise geben konnte. Peter Busch
Inhaltsverzeichnis
Geleitwort ............................................................................................................. 7 Vorwort ................................................................................................................. 9 Inhaltsverzeichnis ............................................................................................... 11 Abbildungsverzeichnis ....................................................................................... 15 Tabellenverzeichnis ............................................................................................ 17 Einleitung............................................................................................................ 19 1 Grundlegungen einer Definition der psychosozialen Beratung als Beispielkonstrukt ....................................................................................... 27 1.1 Disziplinorientierte Definitionen psychosozialer Beratung ................ 28 1.2 Vernetzte Definitionen psychosozialer Beratung ................................ 32 1.3 Systemtheoretische Aspekte psychosozialer Beratung ....................... 37 1.4 Inter- und Transdisziplinarität psychosozialer Beratung..................... 41 1.4.1 Inter- und transdisziplinäre Elemente psychosozialer Beratung................................................................................... 48 2 Ökologische Aspekte für Beratung und Therapie aus der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung ............................................................. 51 2.1 Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung ........................................ 51 2.2 Kriterien der nachhaltigen Entwicklung in einer ökologisch orientierten Beratung und Therapie .................................................... 54 2.3 Zielsetzungen und Aufgabenfelder einer ökologisch orientierten Beratung und Therapie ........................................................................ 61 2.4 Kompetenzerwerb durch offene Lernprozesse .................................... 64 3 Offene Lernprozesse als Voraussetzung für eine ökologisch orientierte Beratung und Therapie ........................................ 67 3.1 Der Lernprozess im Rahmen einer systemisch-konstruktivistischen Perspektive .......................................................................................... 67 3.2 Der Lernprozess im Rahmen der kybernetischen Lerntypenlehre ...... 70
12
Inhaltsverzeichnis
3.3 3.4
Der Lernprozess als strukturelle Koppelung des Menschen mit der Umwelt................................................................................................ 79 Der Lernprozess als strukturelle Koppelung von Affekt und Kognition ..................................................................................... 89 3.4.1 Affekte und ihre Aspekte als Energie- und Steuerungssystem kognitiver Funktionen ................................ 92 3.4.2 Dissipative Strukturen und Fraktale als Grundlage mehrdimensionaler affektiv-kognitiver Prozesse................... 100 3.4.3 Reflexives Lernen mit gleichberechtigter Beteiligung von Emotion und Kognition ......................................................... 111
4 Selbstlernkompetenzen als Grundlage für offene Lernprozesse einer ökologisch orientierten Beratung und Therapie ......................... 117 4.1 Sich-selbst-ähnliches-Lernen ............................................................ 121 4.2 Methodenwissen und Knotenpunktwissen in Beratung und Therapie ..................................................................................... 130 4.3 Genom und Zelle: Kommunikation, Kooperation und Kreativität .... 133 Exkurs: Genom und Zelle als kommunikative, kooperative und kreative Systeme .................................................................... 135 4.4 Lust am Lernen ................................................................................. 139 4.5 Der Aufbau der Relevanzsysteme und die Diskontinuität ihrer Entstehung ........................................................................................ 141 4.6 Antizipation und Sinn ....................................................................... 150 5 Lernpotenziale der Strategieentwicklung in Beratung und Therapie .................................................................................................... 159 5.1 Strategieentwicklung im Rahmen der Adoptions- und Diffusionstheorie............................................................................... 160 5.1.1 Die Innovation in der Wahrnehmung der Übernehmer.......... 162 5.1.2 Der zeitliche Verlauf der Übernahme .................................... 165 5.1.3 Die Kommunikationskanäle .................................................. 169 5.1.4 Soziale Systeme ..................................................................... 171 5.2 Strategische Umsetzung neuer Entwicklungen in soziale Systeme .. 173
Inhaltsverzeichnis
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6 Lernpotenziale in einem beratungs- und therapieübergreifenden Modell .............................................................. 179 6.1 Das Transtheoretische Modell .......................................................... 180 6.1.1 Methoden der Verhaltensänderung ........................................ 182 6.1.2 Stadien der Veränderung ....................................................... 185 6.1.3 Kritische Anmerkung zu Stadien- und Stufenmodellen......... 193 7 Lernpotenziale der Willensbildung und Motivation ............................. 197 7.1 Das Rubikon-Modell der Handlungsphasen ..................................... 198 7.2 Kurzfassung der Theorie der Handlungskontrolle ............................ 203 7.3 Die Persönlichkeits-System-Interaktionen-Theorie (PSI-Theorie) ... 204 7.3.1 Modulationsannahmen der Systeminteraktionen durch Affekte ......................................................................... 210 7.3.2 Affektregulation und Persönlichkeitsunterschiede ................ 213 7.3.3 Lernpotenzial der PSI-Theorie für Willensbildung und Motivation ............................................................................. 214 8 Lernpotenziale in Welt- und Menschenbildern ..................................... 221 8.1 Subjektives Erleben und objektive Erkenntnis.................................. 222 8.2 Homo oeconomicus, Homo ethicus und Homo politicus .................. 230 8.3 Werteökologie und Homo oecologicus ............................................. 233 9 Förderung ökologischer Kompetenz in Beratung und Therapie ......... 239 9.1 Strategisches Umwelthandeln I als Lehr- und Lernziel .................... 240 9.2 Strategisches Umwelthandeln II als Lehr- und Lernziel ................... 250 9.3 Potenziale strategischen Umwelthandelns für Beratung und Therapie ............................................................................................ 258 10 Modell einer ökologisch ausgerichteten psychosozialen Beratung ...... 261 10.1 Die natürliche relevante Systemumwelt als Entwicklungsmaßstab für die Lern- und Veränderungsgeschwindigkeit eines sozialen Systems ............................................................................................. 264 11 Fazit ........................................................................................................... 269 12 Literatur- und Quellenverzeichnis ......................................................... 273
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4:
Abbildung 5: Abbildung 6: Abbildung 7: Abbildung 8: Abbildung 9: Abbildung 10: Abbildung 11: Abbildung 12: Abbildung 13:
Abbildung 14: Abbildung 15: Abbildung 16: Abbildung 17:
Vielfalt der Beratungslandschaft ............................................... 34 Dimensionen des Begriffes „psychosozial“............................... 35 Dimensionen einer nachhaltigen Entwicklung .......................... 53 Die Kochsche Kurve, entstanden durch die iterative Errichtung eines gleichseitigen Dreiecks auf dem Mittelabschnitt einer jeden Geraden ........................................ 103 Fraktal-chaotische Attraktorlandschaft mit Attraktoren A (Energiesenken) und Repulsoren R (Energiekuppen) ............. 106 Ebenen der Kontrolle der Haustemperatur .............................. 142 Eigenschaften von Innovationen und Auswirkungen auf Adoption und Diffusion ........................................................... 164 Klassifikation der Übernehmer nach dem Zeitpunkt der Adoption ............................................................................ 166 Diffusionskurven im Vergleich ............................................... 168 Die Spirale des Wandels.......................................................... 186 Stadien des Wandels, in denen bestimmte Veränderungsmethoden am wirksamsten sind ........................ 187 Erweitertes Rubikon-Modell der Handlungsphasen ................ 200 Schematische Abbildung wesentlicher Beziehungen zwischen den kognitiven Makrosystemen und ihrer Modulation durch (aufsuchungsbezogenen) positiven und (vermeidungsbezogenen) negativen Affekt ............................. 213 Ziel und Mittel im Strategiekonzept BEST 1 .......................... 243 Horizontaler und vertikaler Vergleich ökologischer Handlungsalternativen ............................................................. 246 Direkter Primärenergieverbrauch eines durchschnittlichen Haushalts ................................................................................. 247 Ziel und Mittel im Strategiekonzept „BEST 2“ – Ziel der optimierten kollektiven Ökobilanz ............................ 253
16
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 18: Zielperspektive strategischen Umwelthandelns ...................... 258 Abbildung 19: Veränderungsgeschwindigkeit sozialer Systeme und der natürlichen relevanten Umwelt ................................................ 265
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Selektionskriterien in Theorie und Praxis psychosozialer Beratung .......................................................................................... 40 Tabelle 2: Inter- und transdisziplinäre Elemente psychosozialer Beratung ..... 49 Tabelle 3: Kompetenzen und Aufgabenfelder einer ökologisch orientierten psychosozialen Beratung................................................................. 63 Tabelle 4: Lerntypen aufgeschlüsselt nach Qualifikationslernen und Identitätslernen im Beratungs- und Therapieprozess .................... 118 Tabelle 5: Lerntypen aufgeschlüsselt nach Qualifikationslernen, Identitätslernen und Sich-selbst-ähnlichem-Lernen im Beratungs- und Therapieprozess ................................................... 129 Tabelle 6: Massenkommunikation und interpersonale Kommunikation ........ 170 Tabelle 7: Gegenüberstellung der Verarbeitungsmodi der hochinferenten (Teil 1) und elementaren (Teil 2) kognitiven Makrosysteme ........ 209 Tabelle 8: Ökologisch orientierte psychosoziale Beratung mit Grundlagen- und Praxiselementen ................................................ 262
Einleitung
Wenn der Wind der Veränderung weht, bauen die einen Mauern und die anderen Windmühlen. (Chinesisches Sprichwort)
Die von Thomas S. Kuhn nachgezeichnete Struktur wissenschaftlicher Revolutionen besteht weniger in einem Hinzufügen zu bisher Bekanntem, als vielmehr in einem Neu- und Anderssehen des schon betrachteten Gegenstandes (vgl. 1999: 104). Die vorliegende Arbeit beschränkt sich zumeist auch auf das Neuund Anderssehen in der Form, dass sie verschiedene Theorien und Methoden aus konstruktivistischen, (sozial-)pädagogischen, psychologischen, soziologischen, biologischen und ökologischen Wissenschaftsdisziplinen nutzt, um das erweiterte Veränderungspotenzial einer ökologisch ausgerichteten Beratung und Therapie darzustellen.1 Ausgangspunkt der Überlegungen für diese Arbeit war, was langfristig wirksame, also nachhaltige Veränderungsprozesse für Klienten2 aus Beratung und Therapie bedeuten und was sie beinhalten. Es wurde überlegt, von welchem Wissen, welchen Emotionen und welchen durchlebten Veränderungen Klienten noch nach 10 oder 15 Jahren in der Form profitieren können, dass sie dieses Wissen bei Bedarf zur erneuten Selbstveränderung wieder einsetzen würden, gegebenenfalls auch ohne einen Berater oder Therapeuten zu konsultieren. Von diesem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit im Sinne einer langfristigen Wirksamkeit war der Schritt zu einer ökologischen Ausrichtung von Beratung und Therapie angesichts bevorstehender gravierender Veränderungen in unserer Umwelt (Kli1
2
Die Thematisierung und Verwertung dieser Theorien und Methodenansätze kann bis zu einem gewissen Grad als eklektizistisch bezeichnet werden. Hier wird der Begriff nicht nur positiv gesetzt im Sinn, dass ein mehr an Informationen ein mehr an Verständnis und Entwicklung mit sich bringen kann, sondern eine ökologische Betrachtung unserer natürlichen und sozialen Umwelt setzt eine eklektizistische Beschreibung geradezu voraus. Bezüglich der geschlechterspezifischen Schreibweise ist anzumerken, dass aus Gründen der besseren Lesbarkeit hier das generische Maskulinum benutzt wird. Selbstverständlich sind damit immer beide Geschlechter im gleichen Ausmaß angesprochen.
P. Busch, Ökologische Lernpotenziale in Beratung und Therapie, DOI 10.1007/ 978-3-531-92754-1_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Einleitung
mawandel) nicht weit. Deutlich wurde auch, dass im Rahmen veränderter Umweltanforderungen und einer gesamtgesellschaftlich zunehmenden Wissenskomplexität neben den eher „klassischen“ Beratungs- und Therapieinhalten, wie z. B. die emotionale Aufarbeitung traumatischer Erfahrungen, andere Komponenten notwendig sind, die den adäquaten Umgang mit einer komplexer werdenden Realität ermöglichen. Zu diesen Komponenten gehören nach Auffassung des Autors die Themen Lernen, Strategieentwicklung, Motivations- und Willensbildung, Persönlichkeitsveränderung, Auseinandersetzung mit Werten, Ethik, Weltund Menschenbildern sowie eine Auseinandersetzung mit der Frage der eigenen ökologischen Haltung in der Welt. Diese Themen werden in dem Begriff „ökologisches Lernpotenzial“ zusammengefasst. Die vorliegende Arbeit beschreibt die Möglichkeiten einer Integration von diesen in Beratung und Therapie. Lernen und Ökologie werden innerhalb der aktuellen Theorie- und Praxisdiskussion in Beratung und Therapie im Verhältnis zu ihrer Thematisierung in der gesellschaftlichen Realität nachrangig behandelt. Entsprechend stehen an der gesellschaftlichen Schnittstelle zu einer seit einigen Jahren verstärkten ökologischen Wahrnehmung unserer Umwelt auch für Beratung und Therapie die Themen Lernen und Ökologie neu auf der Agenda. In Beratung und Therapie geht es um eine (Neu-) Interpretation des Menschen, ihn aus einer ökologischen Sichtweise in einer stärkeren Vernetzung mit seiner natürlichen und sozialen Umwelt zu sehen und ihm ein entsprechendes Wissen zu vermitteln, das ihm zu einer ökologischen Einstellung zu dieser Umwelt verhilft. Zudem ist im Rahmen der Entwicklung unserer Wissensgesellschaft vor allem im Zusammenhang mit ökologischen und neuro- resp. sozio-biologischen Erkenntnissen in allen gesellschaftlichen Bereichen seit Jahren ein Anstieg der Komplexität zu beobachten. Es werden aber nur in Teilbereichen gesellschaftlichen Lebens Versuche unternommen, mit dieser Komplexität adäquat umzugehen.3 Vor diesem Hintergrund kann für Beratung und Therapie, provokant formuliert, gesagt werden: „Normale“ Beratung und Therapie reichen in der bisherigen Form nicht mehr aus. Hier ist es notwendig, Lernen anzubieten, denn viele Menschen wissen viel zu wenig. Damit wird nicht nur Wissen für eine verstärkte ökologische Ausrichtung, sondern auch die Vermittlung eines Wissens gefordert, wie Lernen und Selbststeuerung funktionieren. Der Fokus liegt zunehmend weniger auf einer partiellen
3
Aus dem Beratungsbereich soll hier die Organisationsberatung (z. B. Fatzer 2005) hervorgehoben werden.
Einleitung
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Einzelfallhilfe, sondern darauf, das Lernen in den eigenen sozialen und ökologischen Bezügen zu lernen. Diese Arbeit beruht im Wesentlichen auf der systemischen und systemtheoretischen beziehungsweise konstruktivistischen Theoriebildung. Dieses hat zwei Gründe: Zum einen benötigt die zunehmende Komplexität ökologischer und damit verbundener menschlicher Entwicklung eine Theorie, die verschiedene praktische und theoretische Systeme miteinander in Bezug setzen kann, zum anderen ist für Beratung und Therapie das Thema Lernen besonders aus der konstruktivistischen Sichtweise von Interesse, da Systemtheorien und Konstruktivismus einen integrativen Ansatz des Lernens anbieten, der der Komplexität vernetzten Wissens aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen gerecht werden kann. Entsprechend wird Lernen vor diesem Hintergrund sowohl betrachtet als auch analysiert und folgt damit der Behauptung von Ernst von Glasersfeld, „daß die Grundsituationen des Lehrens und Lernens sowie der Kommunikation eine konstruktivistische Auffassung des Wissens verlangen, und >...@, daß eine derartige Auffassung des Wissens zu einer konsistenten und widerspruchsfreien Epistemologie ausgebaut werden kann“ (1987: 136). Das dieser Arbeit zugrunde liegende Verständnis konstruktivistischer Theoriebildung stellt sich folgendermaßen dar: Konstruktivismus wird konsequent als eine Beobachtertheorie der zweiten Ordnung und somit als eine Beobachtung von Beobachtung verstanden. Der Konstruktivismus kann beispielsweise auf der epistemologischen Ebene der zweiten Ordnung zum Thema machen, warum spezifische Kommunikationsmuster in sozialen Systemen erfolgreich sind und andere nicht. Dieses entspricht der genuin konstruktivistischen Perspektive: Man beobachtet, wie beobachtet wird; man macht das Beobachten selbst zum Gegenstand von Beobachtungen, man untersucht, wie spezifische Kommunikationsmuster ihre individuellen Interpretationen in Kognition und Emotion der Beteiligten finden. In dieser Form verstandener Konstruktivismus ist auch keine Relativierung der Realität erster Ordnung, wie es manche Formen des radikalen Konstruktivismus implizieren und auch tun. Er akzeptiert, dass bestimmte Normen, moralische Standards und Maximen das Resultat einer komplexen historischen Entwicklung sind, die die menschliche Entwicklung prägt. Wir als Menschen, die sich in ihrer Umwelt bewegen, sind Beobachter erster Ordnung und alltägliche Realisten, für die der Tisch, an dem wir sitzen, real ist. Die Realität des Tisches ist nicht verschwunden, wenn wir die Augen schließen. Eine (wissenschaftliche) Position, die immer an der Wirklichkeit des Wahrgenommenen zweifelt, wie es einige (ra-
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Einleitung
dikale) Konstruktivisten taten und tun, ist auf der Ebene der Alltagsrealität kontraproduktiv (vgl. Schmidt 2002: 176 ff.). Wegen solcher zum Teil divergierenden Interpretationen von Konstruktivismus und radikalem Konstruktivismus wird in dieser Arbeit der Standpunkt eines „integrativen“ Konstruktivismus vertreten, der die These von der kognitiven Autonomie des Einzelnen mit der Annahme einer sozialen Geprägtheit des Menschen verknüpft (vgl. ebd.: 167). Mit dieser und der Sichtweise, dass die Ökologie Lebewesen in ihrer Umwelt sowie die Beziehung von Lebewesen untereinander beschreibt, korrelieren die Ansätze der systemischen Erziehungswissenschaft (vgl. Huschke-Rhein 1998, 2003; Reich 2005), die in Anlehnung zum sozialen Konstruktivismus (vgl. Gergen 2002) und zu ökologisch-konstruktivistischen Ansätzen (vgl. Bronfenbrenner 1981, Blin 1994) im Sinne des integrativen Konstruktivismus für ökologisch orientierte Lernprozesse in Beratung und Therapie relevant sind. Besonders eine ökologisch ausgerichtete Beratung und Therapie hat es mit Antizipation und Lernprozessen auf eine unbekannte und ungewisse Zukunft hin zu tun. Entsprechend stellt sich als zentrale Aufgabe von Beratung und Therapie der Aufbau von Selbstorganisation der Klienten dar, der als nicht-linearer, manchmal lebenslanger Prozess über Phasen von Abbrüchen, Turbulenzen und Neukonstruktionen verstanden wird. Die emotional-kognitive wie auch die soziale Wirklichkeit des Menschen werden am angemessensten mit Begriffen wie „Selbstorganisation“, „Dynamik“ und „Nichtlinearität“ beschrieben. Für ökologisch ausgerichtete Beratung und Therapie bedeutet das einerseits, Vorstellungen von zielgerichteter und gesteuerter Veränderung von Menschen aufzugeben und stattdessen Beratungs- und Therapieprozesse so zu gestalten, dass die Rahmenbedingungen für konstruktive Selbstorganisationsprozesse bereitgestellt werden (vgl. von Schlippe & Kriz 2004). Andererseits reicht die Bereitstellung der Rahmenbedingungen für konstruktive Selbstorganisationsprozesse für ökologische Einstellungs- und Veränderungsprozesse nicht mehr aus. Nicht nur Klienten von Beratung und Therapie, sondern Menschen generell benötigen ein Wissen, das sie zu „richtigem“ ökologischen und sozialen Handeln anregt, um mögliche Eingriffe in die natürliche und soziale Umwelt „viabel“ („passend“ im Sinn von überlebensfähig, vgl. von Glasersfeld 1987: 82) zu gestalten, verantwortlich im Sinne nachhaltigen Wachstums. Dieses Wissen kann nur über die Kenntnis des strukturellen Aufbaus und der Veränderungsprozesse von natürlichen und sozialen Systemen (Bateson, Maturana & Varela, Ciompi u. a.) erworben werden, was wiederum einerseits das Lernen von erheblich größeren Wissensmengen impliziert und andererseits
Einleitung
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bedeutet, Lernen zu lernen, d. h. für sich selbst zu begreifen, wie man lernt und wie man mit Hilfe des Erlernten Veränderungsprozesse durchführt. Beide Prozesse implizieren eine Steigerung der Komplexität. Als Beispiel für den Einsatz einer ökologischen Orientierung in Beratung und Therapie dient in dieser Arbeit die psychosoziale Beratung als eine im Beratungsalltag häufig vorzufindende Beratungsmethode, deren Definitionen und Begrifflichkeiten für einen exakten wissenschaftlichen Zugriff allerdings sehr verschwommen sind. Entsprechend wird im 1. Kapitel zunächst unter Einbeziehung verschiedener Definitionen der psychosozialen Beratung konstatiert, dass es dafür keine eindeutige Definition gibt und es wird der Versuch einer theoretischen Grundlegung unternommen, um ein tragfähiges Konstrukt für die weitere Darstellung zu errichten. Im 2. Kapitel erfolgt eine ökologische Einbettung von Beratung und Therapie unter Einbezug der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung (vgl. Stoltenberg & Michelsen 1999). Das Modell der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung wurde wegen der Nutzung des Kompetenzbegriffes mit seiner optimalen Anpassungsfähigkeit für Beratung und Therapie für zu entwickelnde und zu erreichende ökologische Lernziele ausgewählt. Anhand von Beispielen wird dokumentiert, wie sich dieses ökologische Kompetenzmodell des Lernens mit den Begrifflichkeiten psychosozialer Beratung vernetzen lassen. Eingeführt wird in diesem Kapitel auch der Begriff des „offenen Lernprozesses“. Mit Hilfe dieses Begriffes lassen sich Veränderungsprozesse sowohl für langfristig nachhaltige ökologische Ziele als auch relevante Lernprozesse des Beratungs- und Therapieprozesses darstellen. Im 3. Kapitel werden Lernprozesse aus systemisch-konstruktivistischer Sichtweise als Prozesse der evolutionären Selbstorganisation beschrieben. Im Rückgriff auf Klassiker systemisch-konstruktivistischer Forschung wird Lernen im Rahmen der kybernetischen Lerntypenlehre (vgl. Bateson 1985) als strukturelle Koppelung des Menschen mit der Umwelt (vgl. Maturana & Varela 1987) und als strukturelle Koppelung von Affekt und Kognition unter Einbeziehung fraktaler Strukturen (vgl. Ciompi 2005) diskutiert. Wesentliche Aussagen dieses Kapitels bilden ab, dass reflexives Lernen, die Sichtweise der strukturellen Koppelung zwischen Lernendem und Umwelt, der Einbezug der ständig vorhandenen Verknüpfung von Emotionen und Kognitionen und die allen Entwicklungsprozessen zu Grunde liegenden sich selbst ähnlichen Strukturen die wichtigsten Grundlagen für Veränderungsprozesse in Beratung und Therapie sind.
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Einleitung
Im 4. Kapitel wird der Prozess des Lernens in Beratung und Therapie weiter ausgeführt. Mit Hilfe der Begriffe Selbstlernkompetenz und „Sich-selbst-ähnlichem-Lernen“ wird verdeutlicht, wie sich emotional-kognitive Lernprozesse in Beratung und Therapie vollziehen und wie dieses Wissen von jedem Beteiligten gelernt werden kann, um es unmittelbar und gegebenenfalls zu einem anderen Zeitpunkt produktiv für sich einzusetzen. Daneben werden in diesem Kapitel weitere eng mit evolutionärem Lernen zusammenhängende Themen erörtert. Dieses sind sozio- resp. neuro-biologische Prozesse der Zellveränderung, die Lust am Lernen, die Erzeugung von Relevanzsystemen und der Aufbau von Antizipation und Sinn. Mit Kapitel 4 ist der erste Teil der Arbeit, der den Nachweis einer starken Gewichtung reflexiven Lernens und Neulernens im Hinblick auf eine ökologisch orientierte Beratung und Therapie erbringen soll, abgeschlossen. Ein Nebeneffekt ist der Beginn der Definition eines ökologisch orientierten psychosozialen Beratungsmodells, das als Beispiel dient. Der zweite Teil der Arbeit befasst sich mit dem vorhandenen Veränderungspotenzial in einer ökologisch ausgerichteten Beratung und Therapie. Die Umsetzung der beschriebenen Lernpotenziale ist intensiv mit den Beteiligten in Beratung und Therapie verknüpft. Es geht um die Frage, wie weit und wie genau will ein Klient seinen Veränderungsprozess u. a. auch in eine ökologische Richtung steuern und wie groß ist seine Motivation und die seines Beraters oder Therapeuten für diese Veränderungsprozesse. Im 5. Kapitel wird mit Hilfe der Diffusionstheorie (vgl. Rogers 1995) dargestellt, wie aus einem Beratungs- und Therapieprozess heraus strategisch gehandelt werden kann. Das Ziel des Einsatzes einer Strategie in einer ökologisch ausgerichteten Beratung und Therapie ist das schnellere und tragfähigere Verankern antizipierter Zukünfte in soziale Systeme. Im 6. Kapitel dient das Transtheoretische Modell (vgl. Prochaska et al. 1997, 2003) dazu aufzuzeigen, dass neben Beratung und Therapie das Lernpotenzial für selbst durchgeführte Veränderungen groß ist. Das Aufzeigen dieser Möglichkeiten der Veränderung ohne professionelle Hilfe sollte ein notwendiger Bestandteil von Beratung und Therapie sein. Eine Vernetzung mit ökologischen Inhalten ist problemlos möglich. Im 7. Kapitel wird die Notwendigkeit beschrieben, Prozesse der Willensbildung und Motivation in ökologisch ausgerichteten Beratungs- und Therapieprozessen zu thematisieren und zu integrieren. Insbesondere wird die PSI-Theo-
Einleitung
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rie (vgl. Kuhl 2001) dargestellt, da sie sich mit Formen systemisch-konstruktivistischen Lernens wie „Sich-selbst-ähnlichem-Lernen“ verbinden lässt, neuro-biologische Forschungsergebnisse integriert und einen interessanten Blickwinkel zum Abbau emotionaler Hemmungsstrukturen eröffnet. Im 8. Kapitel wird das ökologische Lernpotenzial von Welt- und Menschenbildern für Beratung und Therapie beschrieben. Dieses Kapitel dient der Anregung, in Beratungs- und Therapieprozessen das Thema Menschenbild besonders in ökologischer Hinsicht zu thematisieren und zu integrieren. Im 9. Kapitel wird dargestellt, dass sowohl individuelles, ökologisch praktisches Handeln im Alltag wie auch kollektives Handeln als Lernstruktur in Beratungs- und Therapieprozesse einbezogen werden kann. Grundlage hierfür ist ein zweistufiges ökologisches Bildungskonzept (Bilharz & Gräsel 2006), das hier für die Anwendung in Beratungs- und Therapieprozessen transferiert wird. Im 10. Kapitel wird beispielhaft für Beratung und Therapie das ausgereifte Modell einer ökologisch orientierten psychosozialen Beratung vorgestellt. Außerdem wird thematisiert, wie hoch die Lern- und Veränderungsgeschwindigkeit sozialer Systeme im Verhältnis zu einer sich permanent wandelnden natürlichen Umwelt sein sollte. Abschließend werden in einem Fazit die erreichten Ergebnisse dargestellt und bewertet. Ein Ausblick eröffnet weitere Perspektiven für eine Integration ökologischen Lernpotenzials in Beratung und Therapie.
1 Grundlegungen einer Definition der psychosozialen Beratung als Beispielkonstrukt
Um die Nutzung ökologischer Wissensinhalte und beratungs- und therapierelevanter Ziele und Strukturen eingehender und verständlicher darstellen zu können, wird als Illustrationsbeispiel eine der bekanntesten, aber auch vielschichtigsten Formen der Beratung, die psychosoziale Beratung, gewählt. Im folgenden Kapitel wird zunächst die bestehende Vielfältigkeit und damit Unklarheit hinsichtlich einer Definition der psychosozialen Beratung beschrieben, um dann unter Zuhilfenahme einer systemisch-konstruktivistischen Theoriebildung der Sozialpädagogik/-arbeit die Grundlegung einer Definition der psychosozialen Beratung vorzustellen. Der Begriff „psychosoziale Beratung“ wird mittlerweile seit über zwei Jahrzehnten von verschiedenen Professionen selbstverständlich genutzt, ohne jedoch eindeutig beschrieben oder definiert zu sein. Er steht häufig im Zusammenhang mit professioneller Hilfe bei problembelasteten Erlebnissen in der individuellen Lebensumwelt, die mit mehr oder weniger intensiven psychischen Krisenzuständen korrelieren. Nach diesem Verständnis zielt psychosoziale Beratung traditionell auf die Lösung von psychischen und/oder sozialen Problemen der Ratsuchenden und ist somit besonders in der Sozialpädagogik/-arbeit wie auch in der Pädagogik die vorherrschende Beratung, wobei alternierend psychologische oder (sozial-)pädagogische Elemente im Vordergrund stehen. Zudem wird der Begriff auch von verschiedenen Berufsgruppen mit unterschiedlichen Standesinteressen (z. B. Psychotherapeutengesetz 1999)4 für ihre jeweiligen Interessen, Belange und Zielgruppen vereinnahmt. Im Folgenden werden nach der Darstel-
4
Das Psychotherapeuten-Gesetz, das am 1. Januar 1999 in Kraft trat, hat einen neuen Berufsstand geschaffen. Es stellt Psychologen und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten erstmals ärztlichen Therapeuten gleich.
P. Busch, Ökologische Lernpotenziale in Beratung und Therapie, DOI 10.1007/ 978-3-531-92754-1_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1 Grundlegungen einer Definition der psychosozialen Beratung als Beispielkonstrukt
lung und Diskussion bisheriger Definitionen psychosozialer Beratung erste Schritte zur Grundlegung einer eigenen Definition der psychosozialen Beratung vorgestellt.
1.1 Disziplinorientierte Definitionen psychosozialer Beratung Beispielhaft stehen die folgenden Definitionsversuche für die Schwierigkeit, psychosoziale Beratung grundsätzlich zu beschreiben. Es zeigt sich deutlich das grundlegende Problem verschiedener Wissenschaftsdisziplinen, die mit psychosozialer Beratung, Beratung und Psychotherapie zu tun haben oder an deren Entwicklung arbeiten. Jede Disziplin rekurriert in ihre jeweilige Definition zunächst auf die eigenen Therapie- und Beratungsansätze, auf das diesen zugrunde liegende Menschenbild, auf die Problemlagen der zu beratenden Klienten etc. Entsprechend wird psychosoziale Beratung je nach professionellem und disziplinspezifischem Standort sowohl als pädagogische Bildungschance wie auch als alltags- und lebensweltorientierte Bewältigungshilfe in der Sozialpädagogik/ -arbeit oder als therapeutische Intervention tiefenpsychologischer Verfahren in klinisch- und medizinisch-psychologischen Handlungsfeldern verstanden. Typische Vertreter der Psychotherapie wie Stumm und Pritz (2000: 569) vereinnahmen den Begriff psychosoziale Beratung wie folgt: Psychotherapie ist ein Heilverfahren zur Behandlung von psychosozial bedingten psychischen bzw. psychosomatischen Erkrankungen, Störungen bzw. Leidenszuständen, hat aber auch präventive bzw. emanzipatorische, entwicklungs- und gesundheitsfördernde Funktion.
Im zweiten Teil dieser Definition, deren Grundidee im Prinzip richtig ist, werden wichtige Funktionen psychosozialer Beratung, die eigentlich weitgehend (sozial)pädagogischen Handlungsfeldern entsprechen, in Beziehung zum Tätigkeitsfeld Psychotherapie gesetzt, beziehungsweise werden hier per definitionem zu einem Teilbereich der Psychotherapie gemacht. Schnoor (2006: 14 f.) beschreibt psychosoziale Beratung als ein sich in Entwicklung befindliches Praxisfeld mit unterschiedlichen theoretischen Bezügen, methodischen Konzepten, Settings und Institutionen. Sie fasst vorrangig für die
1.1 Disziplinorientierte Definitionen psychosozialer Beratung
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Sozial- und Rehabilitationspädagogik aus den aktuellen Definitionen5 herausgearbeitete gemeinsame Kennzeichen zusammen: In einer psychosozialen Beratung wird Menschen geholfen, die in ihrem psychischen und sozialen Wohlbefinden eingeschränkt sind und denen es allein nicht gelungen ist, ihr Problem mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zufrieden stellend zu lösen. Der Form nach ist Beratung also eine zwischenmenschliche Hilfe, die auf einem helfenden Beziehungsangebot beruht und sich als sozialer Interaktions- bzw. Kommunikationsprozess [...] vollzieht.
Das Ziel einer Beratung ist der Versuch, einem problembehafteten oder desorientierten Klienten eine Orientierungs-, Planungs-, Entscheidungs- und Bewältigungshilfe zu geben. Im Sinne einer Hilfe zur Selbsthilfe soll die Handlungsfähigkeit des Klienten zur Bewältigung eines aktuellen Problems erhöht werden. Dies geschieht u. a. mit Hilfe von Reflexionen über die Ursachen der aktuellen Problemlagen, um zu einer Neubewertung und Strukturierung der Situation zu kommen. Unterstützt wird die Entwicklung von Kompetenzen und Selbststeuerungsfähigkeiten zur Bewältigung der anstehenden Aufgaben. Vom Umfang beschränkt sich psychosoziale Beratung in der Regel auf wenige Gespräche, was eine Konzentration auf ein klar abgegrenztes Problemfeld erfordert. Hierzu ist das Beratungsangebot in verschiedenen Institutionen bereits vielfältig spezialisiert. Nach Schnoor enden hier die Bereiche eines psychosozialen Beratungsangebotes, die einheitlich beschrieben werden können, da es sowohl hinsichtlich der Problemstellungen als auch der unterschiedlichen methodischen Ansätze, mit denen diese bearbeitet werden, eine große Spannweite gibt. Stimmer (2006: 103 ff.) beschreibt Beratung für die Sozialpädagogik/-arbeit als Interaktionsmedium von zentraler Bedeutung und fokussiert diese im Rahmen der „klinischen Sozialen Arbeit“6 auf den Begriff der psychosozialen Therapie. Für die klinische Soziale Arbeit und die Clinical Social Work in den USA gilt es, ihre eigenständige Entwicklung als Methoden der Sozialen Arbeit in Verbindung mit Nachbardisziplinen (Psychologie, Medizin, Psychotherapie, Psychiatrie etc.) weiterzuführen und die Anwendung der Methoden bei ihren Klienten aller Lebensalter, die unter Konflikten oder Störungen leiden, die sich sozial 5
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Schnoor bezieht sich auf Dietrich 1983; Pallasch 1995; Pallasch, Mutzek & Reimers 1996; Hackney & Cormier 1998; Nestmann, Engel & Sickendiek 1999; Straumann 2001; Nestmann, Engel & Sickendiek 2004. In Anlehnung an die „Clinical social work“ in den USA.
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1 Grundlegungen einer Definition der psychosozialen Beratung als Beispielkonstrukt
und/oder psychisch und/oder somatisch manifestieren, zu gewährleisten. Psychosoziale Therapie verbindet individuums- und lebensweltbezogenes Handeln, es geht um die Integration therapeutischer Elemente bei gleichzeitiger Öffnung des Denkens und Handelns in Richtung lebensweltlicher Bezüge. Die Orte psychosozialer Therapie sind in den meisten Fällen Institutionen (medizinische und psychiatrische Kliniken, Fachkliniken für Suchtkranke, Rehabilitationseinrichtungen), in denen Sozialpädagogen mit anderen Professionen (Medizinern, Psychologen, Pflegekräften etc.) praktizieren oder in Zukunft praktizieren könnten. Stimmer sieht die psychosoziale Therapie als „Komplementärmedium“ im Sinne einer wechselseitigen Ergänzung und Bereicherung mit dem Medium Beratung in der Sozialpädagogik/-arbeit an. Als wesentliche Perspektiven für den Begriff der psychosozialen Beratung sind einerseits die Einbeziehung somatischer (biologischer) Störungen und andererseits die klare Integration lebens- und alltagsweltlicher Bezüge hervorzuheben. Großmaß (2004: 89 ff.) versucht, die „historisch und systematisch“ enge Verbindung von Psychotherapie und psychosozialer Beratung aufzuzeigen, was sie am Verlauf eines Beratungsgespräches und anhand einzelner Beratungssituationen aufzeigt. Beide beschäftigen sich mit emotionalen Belastungen und Konflikten ihrer Klientel. Hat ein Beratungsgespräch begonnen oder eine psychotherapeutische Behandlung angefangen, dann findet in beiden Fällen ein professionelles Gespräch über die seelische Verfassung, die persönliche Vorgeschichte oder über die aktuelle Konfliktsituation statt. Auch bei genauem Hinsehen lassen sich hier häufig kaum Unterschiede zwischen den beiden Interventionsformen feststellen. In beiden Bereichen wird mit vergleichbaren Methoden-Sets7 gearbeitet und es sind, wenn auch mit unterschiedlicher Gewichtung, dieselben Berufsgruppen vertreten: Ärzte, Psychologen und (Sozial-) Pädagogen. Darüber hinaus stellt Großmaß aber auch Unterschiede der beiden Interventionsformen fest, wenn nicht nur ein einzelnes Gespräch, sondern das Gesamtsetting, Räumlichkeiten, Zugang, Alltagsnähe, Fokussierung der Themen und Finanzierung betrachtet werden. So handelt es sich bei der Psychotherapie um einen Bestandteil der medizinischen Versorgung. Diagnose und Anamnese einer Störung zu kennen, ist erforderlich, wenn eine professionelle psychotherapeutische Behandlung durchge7
Großmaß bezieht sich hier im Wesentlichen auf die GründerInnen verschiedener Therapie- und Beratungsschulen: Freud (1856-1939), Adler (1870-1937), Rogers (1902-1987), Perls (18931970), Minuchin (*1921) und Cohn (*1912).
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führt werden soll. Nähe zum Lebensalltag spielt nicht notwendigerweise eine Rolle, die thematische Fokussierung ist am Individuum orientiert und folgt der Verflechtung von Diagnose und Behandlungsziel, die Finanzierung erfolgt wie bei anderen ärztlichen Leistungen patientenbezogen über die zuständigen Versicherungsträger. Wer Psychotherapie in Anspruch nimmt, fühlt sich krank und belastet und in wesentlichen Lebensfunktionen gestört. Psychosoziale Beratung dagegen wird im Umfeld sozialer Systeme und Bewegungen wie „Erziehung, Bildung, Gesundheitsvorsorge, Frauengleichstellung, interkultureller Konfliktlösung etc.“ angeboten. Die thematische Fokussierung entsteht durch den Kontext der Kultur oder des sozialen Systems, dem die Beratungseinrichtung zugeordnet ist. Ressourcenorientierung und Nähe zum Lebensalltag sind angestrebte Ziele. Die Finanzierung erfolgt meistens durch die öffentliche Hand, weniger häufig durch die nutzende Klientel selbst. Wer psychosoziale Beratung in Anspruch nimmt, hat Orientierungsbedarf in bestimmten Bereichen des persönlichen Lebens und sucht aktiv nach Unterstützung. Entsprechend formuliert Großmaß: Psychosoziale Beratung bezeichnet ein professionelles psychosoziales Handeln, das Orientierungshilfe bei der Klärung individueller Probleme bietet, die aus sozialen Anforderungen entstehen und den persönlichen, intimen Bereich der Person betreffen und irritieren. Beratung beruht auf der Freiwilligkeit ihrer Inanspruchnahme. Arbeitsmittel sind unterschiedliche Ebenen der Kommunikation von der Information über Sachverhalte über die Bereitstellung von pragmatischen Tipps bis zu Selbstmodifikationsangeboten und psychotherapeutischen Interventionen (ebd.: 100).
Im weiteren Vergleich von Psychotherapie und psychosozialer Beratung zieht Großmaß einen präzisen Trennstrich bei dem Begriff psychische Erkrankung, für deren Heilung ausschließlich die gesetzlich legitimierten Berufsgruppen (Psychotherapeutengesetz 1999) zuständig sind. Psychotherapie wird hier im Rückgriff auf psychoanalytische Konzepte und deren Weiterentwicklung8 als „Heilung durch Kommunikation“ (Großmaß 2004: 94) und psychosoziale Beratung im Rückgriff auf lebensweltliche Kontexte (Thiersch 1986) und Krisenbewältigung als „(Neu-)Orientierung durch Kommunikation“ (ebd.: 97) gesehen.
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Objekttheorie: Kernberg 1961; Ich-Psychologie resp. Narcissmus-Theorie: Kohut 1981.
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Professionell psychosozial arbeiten wiederum beide „Disziplinen“: Psychotherapie bezeichnet ein professionelles psychosoziales Handeln, das als Teil des medizinischen Systems psychische Störungen und psychosomatische Erkrankungen mit psychologischen Mitteln – und d. h. interaktiv – behandelt (ebd.: 97)
und psychosoziale Beratung bezeichnet ein professionelles psychosoziales Handeln, das Orientierungshilfe bei der Klärung individueller Probleme bietet, die aus sozialen Anforderungen entstehen (ebd.: 97).
Auch Großmaß löst nicht das Definitions- und Abgrenzungsproblem (psychosozialer) Beratung und (Psycho-)Therapie, sie arbeitet mit dem verbreiteten Modell, das die leichten und mittleren Störungen dem Bereich psychosozialer Interventionen (z. B. Beratung als Sachorientierung und Beziehungsklärung) und die schweren Störungen dem Bereich (psycho-) therapeutischer Verfahren (Therapie als Heilung) zuschreibt. Entsprechend bleibt die Begriffsbildung für Beratung und Therapie abhängig von disziplinär und professionell unterschiedlichen Interpretationsmustern (vgl. Thiersch 2004: 119). Als Fazit der bisherigen Ausführungen wird festgehalten, dass professionelle psychosoziale Beratung jenseits aller Methoden, Schulen und gesetzlichen Vorgaben als eine Dimension von Beratung und Therapie anzusehen ist, die zielorientiert die Lebenswelt und das Alltagshandeln ihrer Klienten mit einschließt.
1.2 Vernetzte Definitionen psychosozialer Beratung In diesem Sinne, aber die Definitionsmöglichkeiten des Begriffes erweiternd, formuliert Reichel: Psychosoziale Beratung im formal engen Sinn verstehen wir als professionell ausgeübte (und teilweise gesetzlich geregelte) Tätigkeit, in der Berater mit anderen Menschen (Klienten) an komplexen Themen und Problemen arbeiten, die den Menschen in seinem Denken, Fühlen und Handeln als Mitmenschen betreffen.
Im „formal weiten Sinn“ wird psychosoziale Beratung als „Oberbegriff für verschiedene professionell ausgeübte (und teilweise gesetzlich geregelte) Tätigkeiten“ verstanden, in denen Beratung im oben beschriebenen Sinn stattfindet. Solche Tätigkeiten sind etwa Psychotherapie, Familienberatung, Supervision,
1.2 Vernetzte Definitionen psychosozialer Beratung
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Coaching, Organisationsentwicklung, Mediation, Lebensberatung, Berufsorientierung u. a. (2005: 19). Die Arbeitsfelder psychosozialer Beratung zeichnen sich durch Beratungsformen aus, die Bewusstheit und Reflexion beim Klienten fördern, unabhängig von den unterschiedlichen Berufsgruppen, die in diesen tätig sind. Im formal weiten Sinn wird der Begriff der psychosozialen Beratung zu einem hilfreichen Sammelbegriff, unter dem Reichel eine „Beratungslandschaft“ versteht, die sich in einer ständigen Bewegung und Weiterentwicklung befindet. In dieser Beratungslandschaft orientiert sich Reichel pragmatisch an der herrschenden Realität der Beratungsangebote und schließt auch unkonventionelle und wissenschaftlich nicht legitimierte Berufsbezeichnungen und -tätigkeiten wie „Heiler“ und „Meister“ (hiermit sind spirituelle oder esoterische (Führungs-) Personen gemeint,9 die häufig auch als Berater tätig sind, deren Rolle aber derzeit nicht professionell reflektiert oder geregelt ist) ein. Die Formulierung, Auswahl und grafische Darstellung der verschiedenen Beratungsfelder (s. Abb. 1) trägt eine gewisse Zufälligkeit in sich, die beabsichtigt ist, um einerseits die Vielfalt von Beratungsangeboten zu zeigen und andererseits die Thematisierung grenzüberschreitender Aspekte zu ermöglichen (vgl. ebd.: 23). In der bereits beschriebenen erweiterten Sichtweise formuliert Reichel auch die Definition des Begriffes psychosozial: „Wir verstehen psychosozial hier als Benennung des untrennbaren Zusammenhangs zwischen dem Denken und Fühlen des Menschen einerseits und seiner existenziellen mitmenschlichen Bezogenheit andererseits“ (ebd.: 19). Dieses idealtypische Postulat des „untrennbaren Zusammenhanges“ greift Brunner (2006) auf und definiert die Dimensionen der Begriffe „Psycho“ und „Sozial“, um diese im Rahmen einer versuchten Metaformulierung mit dem Beratungsbegriff zu verknüpfen. Psychosoziale Beratung wird hier als Versuch einer Metaformulierung der Beratung verstanden, der sich jenseits von wissenschaftlichen Disziplinen, verschiedenen Berufsgruppen, konkreten Handlungsfeldern, spezifischen Settings und therapeutisierenden Anleihen befindet. Gleichzeitig werden diese Inhalte als
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Prochaska und Norcross gehen für die USA von einer Zunahme spiritueller und religiöser Einflüsse in der Psychotherapie und Beratung aus: „Psychotherapy systems may be gradually losing their personalities but they are getting back their souls“ (2003: 556).
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Psychosoziale Beratung Ehe-, Familie, Erziehungs-Beratung
Psychotherapeut Coach
Arzt/Ärztin Psychosoziale Dienste
Supervision Organisationsentwicklung
Sozialarbeiter und pädagogen
Lebensberater
BeratungslehrerIn
MediatorIn Priester, PfarrerIn
Suchtberatung Andere spezielle Beratungsstellen
Online-Beratung Hotlines „Heiler“ „Meister“
Abbildung 1: Vielfalt der Beratungslandschaft (vgl. Reichel 2005: 23)
Abstraktionen (sozial-) pädagogischer, psychologischer und therapeutischer Begrifflichkeiten und Handlungsfelder zu einer „Ganzheitlichkeit“ geführt, die ein Arbeiten in einem (noch) nicht strukturierten Feld, integrative Ansätze und offene Lernprozesse ermöglichen. Nachteile sind hier der hohe Abstraktionsgrad und ein, wie bereits erwähnt, eventueller unreflektierter Eklektizismus, der durch Begrifflichkeiten, die selbst unklar10 sind, beziehungsweise die immer verschiedenen Aspekte von Beratung betonen, gefördert wird. Trotz dieser Nachteile kommt die Weiterentwicklung psychosozialer Beratung nicht um eine vernetzte Perspektive herum. Eine solche Perspektive bietet
10
Als Beispiel mag der Begriff „Psycho“ in seinen heutigen wissenschaftlichen und alltagssprachlichen Bedeutungen dienen, der in seiner originären Übersetzung aus dem griechischen Psyche (Name eines schönen jungen Mädchens in der griechischen Mythologie) „Hauch, Atem, Seele“ bedeutet. (Lucius Apuleius 125. n. Chr. – um 170. n.Chr.: Amor und Psyche).
1.2 Vernetzte Definitionen psychosozialer Beratung
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Einheit Denken/Fühlen/Handeln
Existenzielle Bezogenheit auf andere
psycho
sozial
Abbildung 2: Dimensionen des Begriffes „psychosozial“ (nach Brunner 2006: 25)
der angloamerikanische Begriff des Counseling beziehungsweise der Counseling Psychology, in der Beratung interdisziplinär und ohne wissenschaftsdisziplinäre Grenzen diskutiert wird und in dem traditionelle Beratungszugänge (wie psychoanalytische, kognitiv-behaviorale historische, personenzentrierte ...) und neuere innovative Beratungsansätze (feministische, narrative, multikulturelle, konstruktivistische, integrative ...) miteinbezogen werden. Parallel werden historische und kulturelle Ursprünge, soziale, professionspolitische und -kritische Aspekte und die Fragen von Macht, Moral und Ethik in der Beratungspraxis thematisiert (vgl. McLoad 2004). In einem vernetzten Modell kann auf Diskurse unterschiedlicher Disziplinen und auf die Entwicklung unterschiedlicher Handlungsfelder zurückgegriffen werden, um traditionelle und innovative Elemente zu verbinden. Ein vernetztes Modell von Beratung speist sich bisher vornehmlich aus sozialwissenschaftlichsoziologischen, philosophischen, psychologischen und pädagogischen Ansätzen und Orientierungen. Nach Nestmann, Engel und Sickendiek (2004: 42) entfalten die folgenden drei Ansätze ein Veränderungs- und Innovationspotenzial für eine vernetzte Beratungsperspektive: 1.
2.
Sozialpädagogische Orientierungen liefern z. B. Kontextualisierungsrahmen, die verhindern, dass sich Beratung zusammenhanglos in eigenen Settings reproduziert. Diese Beratungsperspektiven stehen in einer Tradition, in der vor allem individuelle und soziale Lebenslagen und Lebenswelten und die Komplexität und Multidimensionalität von Anforderungen und Problemlagen in den Blick der Beratung kommen. Gemeindepsychologische Ansätze mit ihren Präventions-, Netzwerk- und Empowermentperspektiven liefern vielfältige Anknüpfungspunkte für Beratung, die über eine eigene kontextualisierte Form des Helfens und Unterstützens hinaus die persönlichen, sozialen und politischen Ressourcen
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3.
1 Grundlegungen einer Definition der psychosozialen Beratung als Beispielkonstrukt
unserer Lebensführung und Lebensbewältigung in den Mittelpunkt der Förderung rücken. (Sie tragen wesentlich dazu bei, den Beratungsfokus immer stärker auch auf Gruppen, Beziehungsnetze, Organisationen und Gemeinwesen zu lenken). Die angloamerikanische Diskussion im Rahmen der Begriffe Counseling/ Counseling Psychology verweist wie erwähnt bereits seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts auf die explizite Vorrangigkeit einer ressourcenbezogenen statt pathologiezentrierten Sichtweise und auf ein präventiv vorsorgendes und edukativ entwicklungsbezogenes Professionsverständnis gegenüber den Logiken von Heilung und Wiederherstellung.
Weiteres Veränderungs- und Innovationspotenzial liegt auch in der Betrachtung von Mikroprozessen. Narrativ orientierte Beratungsmodelle können Neues zu beraterischen Grundhaltungen und Methodenentwicklungen beitragen. Konstruktivistische Modelle haben direkten Einfluss auf eine veränderte methodische und Beziehungsgestaltung des Beratungsprozesses. Die Frage nach der Bedeutung von Gleichheit und Diversifikation liefert Ansätze zum reflektierten Umgang mit Problemen der Beziehung zwischen Beratern und Ratsuchenden. Welche Rolle spielen kulturelle Zugehörigkeiten, Geschlecht, Lebensalter, sozialer Status, z. B. im Hinblick auf Werthaltungen oder Macht und Einfluss in der Beziehung? Berater und ihre Klienten werden berücksichtigen müssen, dass sie vermehrt mit Unsicherheit, Unvorhersagbarkeit, Nichtwissen, Vieldeutigkeit und Paradoxien umgehen müssen und dass Sicherheit, Vorhersagbarkeit, Planbarkeit und Eindeutigkeit in allen Lebensentwürfen abnehmen. Beratung changiert zwischen der Herstellung und Förderung von Orientierung, Klarheit, Planungssicherheit, Entscheidungszuversicht sowie prognostizierbaren Handlungserfolgen zum einen und dem Wissen um das Schwinden von generellen und überdauernden Sicherheiten und stringenten Prognostizierbarkeiten zum anderen (die eben hierzu eigentlich erforderlich wären). Beratung wird und muss Wege finden, sich dem „chancenreichen Dilemma“ der Zukunft zu stellen (ebd.: 42 f.).
1.3 Systemtheoretische Aspekte psychosozialer Beratung
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1.3 Systemtheoretische Aspekte psychosozialer Beratung Im Folgenden werden zur Vertiefung und Weiterentwicklung einer vernetzten Sichtweise und zur Grundlegung einer eigenen Definition der psychosozialen Beratung systemtheoretische Konzepte miteinbezogen, die als wissenschaftstheoretische Orientierung ermöglichen, was anderen Disziplinen in dieser Form nicht möglich ist: die Öffnung der Wahrnehmung über System- und Disziplingrenzen hinaus. Hiermit wird es möglich, die „Einheit des Menschen“ (Alice Salomon) in den Mittelpunkt zu stellen. Kleve (2003: 88 ff.) schlägt im Rahmen der Entwicklung einer postmodernen Theorie Sozialer Arbeit vor, für deren Theorie- und Professionsentwicklung die Theorie selbstreferentieller Systeme von Luhmann (1987) anzuwenden, um der in Theorie und Praxis disziplinübergreifenden Ausgestaltung der Sozialpädagogik/-arbeit gerecht zu werden. Dieser Ansatz wird im Folgenden neben Ansätzen inter- und transdisziplinärer Kommunikationstheorien für die Grundlegung einer Definition der psychosozialen Beratung genutzt, wobei sich zeigt, dass sich in der Theorieentwicklung von Pädagogik, Sozialpädagogik/-arbeit und psychosozialer Beratung viele gemeinsame Elemente finden. Die Theorie selbstreferentieller Systeme erlaubt, was psychosoziale Beratung zur Theoriebildung benötigt: heterogene, aber zusammenhängende Ebenen des Menschlichen, den Organismus (biologisches System), die Psyche (psychisches System) und das soziale System (Interaktion, Organisation, Funktionssystem, Gesellschaft) mit homogenen Begriffen zu beschreiben.11 Damit wäre ein Instrumentarium vorhanden, das es der psychosozialen Beratung ermöglicht, verschiedene Bereiche ihrer Tätigkeit transdisziplinär vergleichbar und verbindbar darzustellen und zu systematisieren. Hierzu bietet sich die funktionale Analyse als wissenschaftstheoretische Methode der Systemtheorie an, die es erlaubt, grundsätzlich Verschiedenartiges nach einheitlichen, nämlich nach funktionalen Kriterien, zu untersuchen. Die Methode der funktionalen Analyse erlaubt es, verschiedenartige Systeme unter dem Fokus der Funktionalität zu beobachten. Funktionalität heißt in diesem Zusammenhang, dass ein System oder spezifische Systemzustände von Organismen, Psychen und Sozialsystemen strukturelle Lösungen von funktionalen systemischen Anforderungen beziehungsweise Problemen sind. Vorhandenes 11
Für Definitionen und Explikationen des Begriffsapparates systemtheoretisch-konstruktivistischen Denkens siehe Bardmann & Lamprecht 1999 und Lindemann 2006.
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wird als kontingent, gleichzeitig auch als anders möglich betrachtet und Verschiedenes wird damit vergleichbar. Als Beispiel kann ein Discobesuch mehrerer Jugendlicher dienen. Die Verhaltensmuster der Jugendlichen bei ihrem Discobesuch werden als verschiedene funktionale Äquivalente betrachtet. Ein Beobachter – außerhalb dieses sozialen Systems stehend – erkennt mehrere Funktionen wie Partnersuche, Kontaktanbahnung, spielerisch-unverbindliche Selbstdarstellung, Ausprobieren von Erwachsenenrollen, Erzeugung eines „Wir-Gefühls“ für die Clique usw. Es werden Normen reproduziert, Werte geteilt, es findet eine Art „Fest“ im Sinne einer „organischen“ Solidarität statt, eben ein Integrationsprozess. Der Beobachter kann diese Verhaltensmuster funktional als Integrationsleistung für das soziale System analysieren. Die Funktionsanalyse geht davon aus, dass die strukturellen Lösungen von funktionalen Systemproblemen selbst zum Problem werden können und dass es daher des Einsatzes von alternativen, von funktional äquivalenten, strukturellen Lösungen bedarf. Ein funktionales Äquivalent, gleichzeitig aber ein Folgeproblem aus dem Verhalten der Jugendlichen könnte sein, dass jemand in der Gruppe zuviel Macht erhält und dadurch leichtere Möglichkeiten der Kontaktanbahnung zum anderen Geschlecht hat. Die Frage bei einer funktionalen Systemanalyse bezieht sich auf die folgenden Fragen, zum einen, auf welche Fragen reale Zustände eine Antwort geben und für welche Probleme sie eine Lösung sind, und zum anderen, welche alternativen Antworten diese Fragen ebenfalls beantworten oder welche funktional äquivalenten Lösungen bezüglich der funktionalen Probleme ebenfalls möglich sind. Hinsichtlich des gegebenen Beispiels stellt sich z. B. die Frage, ob das Problem „Ein Jugendlicher erhält zuviel Macht“ zur Bestandserhaltung des Gesamtsystems beiträgt, wenn das Hauptproblem des Gesamtsystems als „Bestandserhaltung“ definiert wird. Wird das Hauptproblem des Gesellschaftssystems jedoch anders definiert, z. B. als Reduktion von Komplexität oder als Suche von Kommunikationsanschluss an andere Cliquen, dann müsste untersucht werden, inwieweit der Discobesuch als Integrationsfunktion des sozialen Systems hierzu einen Beitrag liefert (vgl. Kleve 2003: 116 f.). Obwohl die Funktionsanalyse eher professionell, also bei der praktischen Lösung von Problemen in der psychosozialen Beratung hilfreich sein kann, ermöglicht sie auch bei einer wissenschaftlichen Definition den Blick auf das Gemeinsame des Verschiedenen. Unter diesem Blickwinkel des Gemeinsamen des Verschiedenen beanspruchen Mühlum, Bartholomeyczik & Göpel für eine Sozialarbeitswissenschaft, dass sich diese „nicht auf die akademischen Richtungskämpfe beschränken
1.3 Systemtheoretische Aspekte psychosozialer Beratung
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kann“, sondern eine eigenständige Leistung vollbringen soll, denn dann liegt ihre eigentliche Aufgabe – nicht „in der weiteren Differenzierung (als Einzelwissenschaft)“, sondern „in ihrer Integrationsleistung [...], ob als ,Integrationswissenschaft‘, ,transdisziplinäre Wissenschaft‘ oder ,Querschnittswissenschaft‘“ (1997: 241, zit. nach Kleve 2003: 117). Diese Integrationsleistung ist auch für eine Grundlegung einer Definition der psychosozialen Beratung zu fordern. So vereinigt psychosoziale Beratung unterschiedliche professionelle Perspektiven aus Theorie, Praxis und verschiedenen Bezugsdisziplinen. Die Beratung verlangt die Einnahme einer mehrseitigen, einer ambi- beziehungsweise polyvalenten Perspektive, die unterschiedliche Begriffssysteme, Logiken und Denkweisen kombiniert. Häufig sind in der psychosozialen Beratung rechtliche, sozio-ökonomische, biologische, psychische, emotionale und beziehungsdynamische Dimensionen miteinander zu verbinden. Dieses Phänomen der Ambivalenz sprengt den herkömmlichen Rahmen der Theorie/Praxis-Differenz und des modernen Wissenschaftsverständnisses als Trennung von Theorie und (professioneller) Praxis. Soziologisch betrachtet wird erkennbar, dass Theorie und (professionelle) Praxis zwei operational verschiedenartig sich ausdifferenzierenden Sozialsystemen zugerechnet werden können (vgl. Stichweh 1992, in Kleve 2003: 110). Die Theorie wird dem gesellschaftlichen Funktionssystem Wissenschaft und die (professionelle) Praxis den davon differenzierten anderen Funktionssystemen, etwa der Wirtschaft, der Politik, dem Recht, der Pädagogik, der Religion, der Sozialen Arbeit/Sozialpädagogik oder eben der Beratung zugeschrieben. In dieser sozialstrukturellen Differenzierung von Theorie und Praxis wird die Praxis üblicherweise als professionelle Praxis, als Profession bewertet, die das von der Wissenschaft durch Forschung und Theoriebildung bereit gestellte Wissen (lediglich) anwendet. Es wird also zwischen Wissenschafts- und Anwendungssystem unterschieden. In dieser von Luhmann (1977) formulierten soziologischen Betrachtung wird deutlich, dass sich die jeweiligen wissenschaftlichen von den jeweiligen professionell-praktischen innersystemischen Organisationsstrukturen und den darauf bezogenen Handlungsund Kommunikationsprozessen grundsätzlich unterscheiden. „Man kann sagen: Wissenschaftssystem und Anwendungssystem haben je eigene Relationen zwischen Struktur und Prozess ausdifferenziert“ (ebd.: 323, zit. n. Kleve 2003: 110). Diese unterschiedlichen Ausdifferenzierungsbewegungen von wissenschaftlichen und professionell-praktischen Handlungs- und Kommunikationsprozessen
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1 Grundlegungen einer Definition der psychosozialen Beratung als Beispielkonstrukt
Tabelle 1: Selektionskriterien in Theorie und Praxis psychosozialer Beratung (adaptiert nach Kleve 2003: 111) Theorie
Praxis
Disziplin
Profession
Wissenschaftssystem
Anwendungssystem
„Wahrheit“ als Medium
„Wirksamkeit“ und/oder „Angemessenheit“ als Medium
Universitäten, Fachhochschulen, Beratungs- und Therapieausbildungen/-fortbildungen, Praxis der psychosozialen Beratung
werden beispielsweise zu fassen versucht, indem man Wissenschaft als eine Kommunikationsform begreift, die sich durch das Medium der „Wahrheit“ strukturiert, während die professionelle Praxis ihre Kommunikationen an dem Prinzip der „Wirksamkeit“ beziehungsweise „Angemessenheit“ ausrichtet (Merten 1997: 113, zit. n. Kleve 2003). Diese je eigenen kommunikativen Bezüge machen eine einfache Interaktion zwischen Wissenschaft und Praxis unwahrscheinlich. Es ist zu kurz gegriffen, sich vorzustellen, die Praxis wende die Theorien an, die die Wissenschaft bereitstellt. Beide, Wissenschaft und Praxis, haben je eigene, je spezifische und differente Selektionskriterien, die das Handeln und Kommunizieren leiten, so dass wissenschaftliche Theorien in der Praxis in einer von der Wissenschaft nicht determinierbaren Weise verwendet werden (s. Tabelle 1). Systemtheoretisch formuliert gehören Wissenschaft und Praxis zwei miteinander zwar strukturell gekoppelten, aber operational differenten Systemen an, die ihre Umwelten nach jeweils anderen (eigenen) Kriterien beobachten und dementsprechend die jeweiligen Umweltkomplexitäten anders (eigenständig) reduzieren. Für psychosoziale Beratung wird die Differenz zwischen Wissenschafts- als Wahrheitssystem und Anwendungs- als Wirksamkeitssystem z. B. dort am anschaulichsten, wenn die Lehrinhalte relevanter Studiengänge wie Sozialpädagogik/-arbeit, Pädagogik und Psychologie und die Ausbildungsangebote verschiedener Beratungs- beziehungsweise Therapieschulen und die in der Praxis stattfindenden psychosozialen Beratungen jeweils mit ihren unterschiedlichen organisatorischen Mitgliedschaften, Rollen und Personen betrachtet werden. Es wäre z. B. zu überprüfen, ob sich in der Bundesrepublik Deutschland an einer Universität, Hochschule oder Fachhochschule ein Studiengang oder Teilstudien-
1.4 Inter- und Transdisziplinarität psychosozialer Beratung
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gang, der in seiner Konzeption die Anforderungen einer profunden psychosozialen Beratungsarbeit mit den Erfordernissen der herrschenden sozialen Realität verknüpft, findet. Hier wird noch einmal die ambivalente Zwischenstellung psychosozialer Beratung in den zwei beschriebenen Handlungssystemen deutlich, die einerseits nicht dem herrschenden Wissenschaftsverständnis entspricht, andererseits in der Praxis psychosozialer Beratungsarbeit die orientierenden Selektionskriterien von Theorie als Medium der Wahrheit und Praxis als Medium der Wirksamkeit/ Angemessenheit ununterscheidbar werden lässt. Ebenso macht es die hier aufscheinende Ambivalenz psychosozialer Beratung unmöglich, dass sie sich wie andere Professionen eindeutig praktisch und theoretisch identifiziert, sie bleibt eine Profession der Vielfalt, der Pluralität, der Heterogenität und der Komplexität, die es nahe legen, diese Ambivalenzen mit einzubeziehen und zu nutzen.
1.4 Inter- und Transdisziplinarität psychosozialer Beratung Psychosoziale Beratung entzieht sich ebenso wie Sozialpädagogik/-arbeit den klaren Differenzierungen zwischen Theorie und Praxis der klassischen Moderne und fordert mit ihrer disziplinübergreifenden Ausrichtung die Hinwendung zu postmodernen Wissenschaftsdiskursen oder zu neueren Diskursen, die die Eingebundenheit des Menschen in seine natürliche Umgebung und seine grundlegende Weltzugehörigkeit stärker reflektieren, wie dieses z. B. in der Entwicklung der Nachhaltigkeitswissenschaften stattfindet. Diesen Zusammenhang einer grundlegenden Weltzugehörigkeit thematisiert Welsch (2004: 37 f.) aus philosophischer Sicht hinsichtlich des Wandels von der Moderne über die Postmoderne hin zu einem neuen, noch unbekannten Paradigma: Heute aber scheint eine Revision stattzufinden, die an die Wurzel [der Moderne (P.B.)] geht. Sie betrifft noch die tiefste Prämisse der menschlichen Auffassung der Moderne. Diese hatte auf der Annahme beruht, dass Mensch und Welt von ganz unterschiedlicher Seinsart seien (res cogitans versus res extensa), dass wir Menschen im Grunde eine andere Ordnung als die der Welt verkörpern und dass deshalb all unsere Brückenschläge zur Welt nur nach unserer Art erfolgen und nur zu einer Welt nach Menschenart führen können. Kant zufolge können wir uns immer nur auf Gegenstände beziehen, die a priori schon durch unsere Erkenntnisformen bestimmt sind. Folglich begegnen wir allenthalben menschgeprägten Erscheinungen. Die Welt ist im Grunde ein gigantisches Humantheater. Letztlich haben wir es immer nur mit
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uns selbst zu tun. Das ist das grundlegende Axiom der modernen Denkweise: „Der Mensch ist der einzigartige Begriff, von dem man ausgehen und auf den man alles zurückführen muss“ (Diderot 1755, zit. n. Welsch 2004: 38).
Heute deutet sich gegenüber dieser modernen Annahme einer genuinen Weltfremdheit des Menschen („der Mensch gegen den Rest der Welt“) ein Paradigmenwechsel an. Das Bewusstsein einer grundsätzlichen Verbundenheit des Menschen mit der Welt bricht sich Bahn. Die wesentlichen Anstöße dazu kommen von der Evolutionstheorie, Hirnforschung und der künstlichen Intelligenz. Sie gebieten eine radikale Revision der alten, auf Exklusivität und Zentralität des Menschen setzenden Anthropologie. Heute sehen wir, dass wir Menschen von weiter herkommen als vom Menschen und dass evolutionäre und prähumane Einschreibungen uns zum größten Teil ausmachen12 – noch unsere kulturellen Leistungen basieren auf ihnen. Dadurch entzieht die neue Anthropologie jedem Anthropozentrismus den Boden. Sie sprengt den anthropozentrischen Kokon der Moderne. Das alte Bild einer Mensch-Welt-Opposition wird von dem neuen einer grundlegenden Weltzugehörigkeit des Menschen abgelöst. Nicht „homo humanus, sondern homo mundanus ist die zutreffende Bestimmung des Menschen“ (Welsch 2004: 83 f.). Neben der bereits dargestellten, systemtheoretischen Orientierung können Inter-, Trans- und Multidisziplinarität13 als Wissenschaftsdiskurs für die Humanund Sozialwissenschaften die Eingebundenheit des Menschen in seine natürliche Umgebung und seiner grundlegenden Weltzugehörigkeit anders reflektieren und eben auch eine Hilfestellung zur Grundlegung einer psychosozialen Beratungsdefinition sein. Eine präzise Begriffsklärung von Inter-, Trans- und Multidisziplinarität stellt Brand (2000: 14, in Godemann 2005: 86) vor:
12 13
Siehe unten unter Kapitel 3 die Ausführungen zur Erkenntnistheorie Maturanas und Varelas, ebenso in Kapitel 8 die Ausführungen zum Welt- und Menschenbildern. Im Rahmen dieser Arbeit können nicht alle Aspekte und Probleme der begrifflichen Diskussion zu Inter- und Transdisziplinarität sowie zu Multidisziplinarität und den damit zusammenhängenden Forschungsfragen dargestellt werden. Die Human- und Soziawissenschaften stehen vor der Herausforderung, Wissen zu schaffen, das der Komplexität heutiger Problemlagen gerecht wird und das sozial verteilte Wissen mit einbezieht. Diese Aufgabe impliziert, Lehre und Forschung integrativ zu organisieren und beides gesellschaftlich einzubetten. Eine ständig erweiterte Übersicht zu dieser Thematik mit Literaturhinweisen und Diskussionsbeiträgen bietet www.interdisciplinarity.ch an.
1.4 Inter- und Transdisziplinarität psychosozialer Beratung
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Disziplinäre Forschung bezieht sich auf Probleme, die aus der jeweiligen Disziplin erwachsen. Multidisziplinäre Forschung bezieht sich auf ein quer zu den Disziplinen liegendes Thema, dessen verschiedene Teilaspekte von unterschiedlichen Fachdisziplinen mit ihren jeweiligen Methoden bearbeitet werden. Die Teilergebnisse können verknüpft werden, um verschiedene Facetten des Themas abzubilden. Interdisziplinäre Forschung bezieht sich hingegen auf ein gemeinsames Problem, das mehrere Disziplinen berührt und eine Schnittstelle bildet. Der Erkenntnisgewinn wird dabei nicht durch eine „bloße Zusammenstellung disziplinärer Partikularitäten“ (Mittelstraß 1987: 155) erreicht. Stattdessen werden durch die Integration verschiedener disziplinärer Perspektiven, Theorien und Methoden neue Wissensstrukturen aufgebaut. Zudem können die in der gemeinsamen Problemauseinandersetzung und -lösung gewonnenen Erkenntnisse in die jeweilige Disziplin zurückgespiegelt werden. Interdisziplinarität wird so u. a. zum Medium der Selbstreflexion für die jeweilige Disziplin. Damit liegt der Mehrwert im Aufbau neuer vernetzter Wissensstrukturen und in der Erweiterung des Problemwahrnehmungsvermögens der disziplinär arbeitenden Wissenschaftler und in deren Sensibilisierung für die Leistungen und Grenzen ihrer Disziplin. Transdisziplinäre Forschung bezieht sich auf wissenschaftsexterne Problemfelder, die durch die Zusammenarbeit von Wissenschaftlern mit Mitarbeitern aus den jeweiligen Praxisfeldern gelöst werden können.
Aus den aufgeführten Begriffsdefinitionen ist ersichtlich, dass es in Forschung, Lehre und Praxisumsetzung zwangsläufig zu verschiedenen Schwierigkeiten kommen muss, wenn diese Anforderungen umgesetzt werden. Godemann (2005: 87 ff.) beschreibt im Rahmen der Nachhaltigkeitsforschung die Notwendigkeiten und Möglichkeiten inter- und transdisziplinärer Kooperationen, die ebenso für eine entsprechende Entwicklung der Grundlegungen einer psychosozialen Beratungstheorie gelten. Problembereiche inter- und transdisziplinärer Kooperation sind Kommunikationsschwierigkeiten, da eine gemeinsame Sprache fehlt, das Begriffsrepertoire nicht einheitlich verwendet wird und zudem mit unterschiedlichen Bedeutungen besetzt wird. Disziplinäres Fachwissen, Werte, Normen und Wissenschaftlichkeitskriterien der jeweiligen Disziplinen können zu Ziel- und Wertkonflikten führen. Einzeldisziplinen nehmen für sich den objektiven Erkenntnis-
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1 Grundlegungen einer Definition der psychosozialen Beratung als Beispielkonstrukt
gewinn in Anspruch und sind nur schwer für andere Disziplinen zu öffnen. Durch Verständnisprobleme kann es zu Missverständnissen kommen oder es gibt keine Bereitschaft, sich auf andere Sichtweisen einzulassen. Für inter- und transdisziplinäre Zusammenarbeit existieren keine eigenen Methoden, was zu einem Methodenproblem führen kann, wenn jede Disziplin ein eigenes Methodenspektrum bereit- und daran festhält (vgl. Defila & Di Giulio 1999, in Godemann 2005: 88). Zentrales Ziel eines jeden inter- und transdisziplinären Dialogs ist der Versuch, unter den beteiligten Akteuren Fachwissen auszutauschen und Verständigung zu erreichen. Erforderlich ist, das jeweilige andere Wissen in die eigene Wissensstruktur zu integrieren und ein neues, mit Wissen aus anderen Disziplinen vernetztes Wissen entstehen zu lassen. Es soll kein einfacher Wissenstransfer entstehen, sondern ein gemeinsamer kognitiver Bezugsrahmen der beteiligten Akteure. Diese Prozesse der Wissensintegration sind von eminenter Wichtigkeit, da ohne ein gemeinsam geteiltes Verständnis zentraler Begriffe und ihrer Zusammenhänge bei einem inter- und transdisziplinären Dialog weder Wissen ausgetauscht noch neue Erkenntnisse gewonnen werden können. Clark (1996; Clark/Brennan 1991) stellt das Hinarbeiten auf einen gemeinsam geteilten Bezugsrahmen („grounding“) in das Zentrum seiner Kommunikationstheorie, wobei er als Vergleich ein Walzer tanzendes Pärchen nutzt, das sich in den Einzelaktionen („joint actions“) gut abstimmen muss, um den Tanz glanzvoll zu Ende zu bringen. Das Beispiel dient der Verdeutlichung, dass die Abstimmung des jeweiligen Wissens zentral ist, da Verständigung nur in einem gemeinsam geteilten Bezugsrahmen stattfinden kann („common ground“), d. h. wenn eine gemeinsam geteilte Schnittmenge des Wissens existiert: “Two people‘s common ground is, in effect, the sum of their mutual, common or joint knowledge, beliefs and suppositions“ (Clark 1996, zit. n. Godemann 2005: 88). In der Auseinandersetzung über inter- und transdisziplinäre Dialoge betont diese Theorie das Wissen der Gesprächspartner und die Annahmen über das Vorhandensein von diesem bei dem(n) Interaktionspartner(n) als zentrale Größe für das Gelingen von Kommunikation. Der Erfolg der Verständigung hängt davon ab, inwieweit die Gesprächspartner darüber informiert sind, wer über welches Wissen verfügt. Die Grundlage jedes inter- und transdisziplinären Kooperationsvorhabens ist daher die Abstimmung der gemeinsamen Wissensbasis. Ein weiterer, nicht einfach zu strukturierender Aspekt ist die ExpertenLaien-Kommunikation (ELK), die bei inter- und transdisziplinären Kooperationen durch Wissensasymmetrien gekennzeichnet ist, die aufgrund der Zusam-
1.4 Inter- und Transdisziplinarität psychosozialer Beratung
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menarbeit von Experten unterschiedlicher Fachgebiete, die in anderen Wissenschaftsgebieten Laien sind oder auch in der Zusammenarbeit mit nicht wissenschaftlich legitimierten Laien in Praxisprojekten zustande kommen. Die psychologische Forschung zur Experten-Laien-Kommunikation konzentriert sich auf die Verständigungsproblematik von Gesprächssituationen im Alltag, die sich aus den unterschiedlichen Wissenshintergründen der Beteiligten im Rahmen eines Dialogs ergeben. In Erweiterung des Ansatzes von Bromme14 können im Rahmen inter- und transdisziplinärer Kooperationen wissenschaftlich legitimierte Laien (d. h. wissenschaftliche Experten in einer Disziplin sind Laien in den ihnen fremden Disziplinen) und wissenschaftlich nicht legitimierte Laien (d. h. nicht systematisch wissenschaftlich ausgebildete Laien) unterschieden werden, der Experte dagegen verfügt nicht nur über ein breites Wissen in diesem Gebiet, sondern häufig auch über institutionelle Rahmenbedingungen zur Lösung spezifischer Probleme. Ein entscheidender Punkt ist, dass Experten nicht nur über mehr Wissen in ihrem Fach verfügen, sondern ihr disziplinspezifisches Wissen über das Thema auch anders strukturiert ist als das Wissen des Laien. Aufgrund unterschiedlicher Erfahrungen und Konstituierungen von Wissensbeständen unterscheiden sich die Auffassungen von Personen und ihre Auffassungen über bestimmte Sachverhalte, ihre Deutungsmuster von Ereignissen und Situationen. Es besteht in diesem Kommunikationsprozess die Herausforderung, dass Verständigung zwischen Personen erreicht werden muss, die bezogen auf den Gegenstand der Kommunikation systematisch unterschiedliche wissenschaftliche Perspektiven und/oder alltagsweltliche Sichtweisen mitbringen. Neben den unterschiedlichen Wissensinhalten ist der Prozess, in dem das Wissen ausgebildet wird, von zentraler Bedeutung. Bromme, Jucks & Rambow (2003, zit. n. Godemann 2005: 90) beschreiben diesen als „Enkulturation in eine Expertengemeinschaft“, womit neben dem Erwerb des Fachwissens auch der Erwerb der Methoden des Denkens und Problemlösens, der Kommunikationsweisen etc. dieser Disziplin eine zentrale Rolle spielen. Es entsteht eine Art „Tunnelblick“, der den Blick für andere Sichtweisen einengt. Das im Rahmen wissenschaftlicher Sozialisation erworbene Bezugssystem ist komplex und viel-
14
Nach Bromme (2000) und Bromme, Jucks & Rambow (2003) kann die Kommunikation im Rahmen eines inter- und transdisziplinären Dialogs, d. h. zwischen Personen mit unterschiedlicher fachlicher Ausbildung, als Kommunikation zwischen Experten und Laien bezeichnet werden.
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1 Grundlegungen einer Definition der psychosozialen Beratung als Beispielkonstrukt
schichtig, größtenteils unbewusst und Grundlage eines als selbstverständlich wahrgenommenen Bestandteils der Wahrnehmung. Dieses Wissen ist implizit und muss zu dem Teil externalisiert werden, der einem möglichen Dissens den Boden entzieht, besonders gegenüber nicht wissenschaftlich ausgebildeten Laien. Entsprechend ist die Intention in einer ELK nicht, das Wissensniveau des Laien (egal ob wissenschaftlich legitimiert oder nicht) im Laufe der Zeit dem Wissensniveau des Experten anzugleichen, sondern das Ziel ist ein allseitiger Informationsaustausch über Fachwissen und der damit zusammenhängenden Denk-, Problemlösungs- und Kommunikationsstrukturen, um zu es ermöglichen, dass von allen Seiten eine informationsbasierte Entscheidung getroffen werden kann. Bezogen auf die Konstituierung inter- und transdisziplinärer Projektteams zur Bearbeitung von Fragestellungen aus dem Themenbereich psychosozialer Beratung heißt das, Experten mit unterschiedlichen fachlichen Hintergründen und bei Bedarf auch Klienten psychosozialer Beratung nehmen zugleich den Status als Experte ihrer jeweiligen Disziplin wie auch den des Laien ein. Die Zuschreibung der Experten- und Laienrollen ist je nach Thema variabel und kann im Verlauf des Gespräches entsprechend wechseln. Dieses kann im Rahmen des oben beschriebenen „groundings“ stattfinden. Der Anspruch an die Beteiligten eines inter- und transdisziplinären Dialogs ist hoch. Die Fähigkeit zur Perspektivübernahme stellt sich hier als eine zentrale kognitive Kategorie heraus. Perspektiven stellen Meinungen, Einstellungen, Werte und insbesondere eine kognitive Struktur dar, die mit den unterschiedlichen Erfahrungen und Wissensbeständen von Personen verbunden sind. Perspektivenübernahme kann verstanden werden als ein Prozess des Begreifens einer Person vor ihrem spezifischen Hintergrund. Die Gesprächspartner sollten eine Vorstellung von dem gedanklichen Bezugsrahmen ihres Gegenübers entwickeln. Die Übernahme der Perspektive des Gegenübers setzt zwei mentale Prozesse voraus: Zum einen muss ein Konzept von Fremdperspektive vorhanden sein, d. h. es muss anerkannt werden, dass eine Person eine andere Perspektive auf dasselbe hat. Zum anderen muss der Denkprozess stattfinden, der die Perspektive des anderen quasi simuliert und antizipiert. Erst wenn beides gegeben ist, kann von einer Perspektivenübernahme gesprochen werden. Im Rahmen inter- und transdisziplinärer Kommunikation kann es hier aufgrund der Zusammenarbeit von Praxisakteuren und Vertretern unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen – wie bereits erwähnt – zu eklatanten Wissens-
1.4 Inter- und Transdisziplinarität psychosozialer Beratung
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asymmetrien kommen. Die Asymmetrien können sich verstärken, wenn Experten mit unterschiedlichen Denk- und Arbeitsstrukturen wissenschaftliches Wissen austauschen, dass generell einen höheren Komplexitätsgrad aufweist. Forschungen von Rambow (2000) und Nückles (2001) haben ergeben, dass Experten sich häufig verbal in ihr Fachwissen vertiefen und damit die Aufnahmekapazität der Laien überfordern. Ebenso zum Scheitern verurteilt ist der Versuch, laienverständlicher zu kommunizieren, also das „Fachchinesisch“ durch die Übersetzung von Fachausdrücken aufzulösen. Der Verzicht auf einige Begriffe oder das Arbeiten mit Wort-zu-Wort-Übersetzungen reicht nicht aus. Experten überschätzen häufig das Wissen über fachspezifische Sachverhalte und vermuten bei Laien ein Wissen, das in dieser Form nicht vorhanden ist. Allgemein besteht die Tendenz, dass sich Menschen hinsichtlich der Verbreitung einzelner Wissenselemente verschätzen. Beim Alltagswissen besteht die Neigung, sich am eigenen Wissensstand zu orientieren, wenn es darum geht, das Wissen des Gesprächspartners einzuschätzen. Die „soziale Erwünschtheit des Wissens“, also das Problem des Vortäuschens von Expertenwissen, kann zu Fehleinschätzungen des Wissensstandes führen. Dies ist der Fall, wenn Laien Fachbegriffe als bekannt angeben. Es ist wahrscheinlich, dass die Rolle der sozialen Erwünschtheit bestimmter Wissensbestände einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert in Kommunikationssituationen im inter- und transdisziplinären Kontext einnimmt. Hier treffen auch teilweise verschiedene wissenschaftliche Traditionen aufeinander und das Image von Professionen fließt in diese Annahmen mit ein. Ebenso gehen hier auch Machtstrukturen in die Kommunikationsstrukturen mit ein, da Gleichberechtigung in solchen Strukturen häufig nicht von vornherein gegeben ist. Wissen wird nicht uneingeschränkt geäußert, was wiederum die Schaffung einer gemeinsamen Wissensbasis erschwert (vgl. Godemann 2005: 91 f.). Inter- und Transdisziplinarität bieten die Chance, Themen und Probleme im Kontext der Entwicklung einer psychosozialen Beratungsausbildung beziehungsweise -fortbildung integrativ zu bearbeiten, indem die kommunikativen Grundvoraussetzungen inter- und transdisziplinärer Kommunikationsprozesse stringent verwirklicht werden. Hierzu gehört die Schaffung einer gemeinsamen Wissensbasis, „common ground“, die Fähigkeit zur Perspektivübernahme der oder des Kommunikationspartner(s), Koordination der und Kommunikation über die Aufgaben und Prozesse des bestehenden Projektes, Förderung der Wissensintegration und der disziplinären Selbstreflexion. Notwendig sind ebenso geeignete Organisationsstrukturen (z. B. Räumlichkeiten) und Methoden zur Unterstützung inter- und transdisziplinärer Kommunikationsprozesse. Als Methoden bieten sich
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1 Grundlegungen einer Definition der psychosozialen Beratung als Beispielkonstrukt
z. B. das Psychodrama an, in dem der psychodramatische Rollentausch schlechthin die Einnahme der Perspektive des anderen ist, wie auch die Zukunftswerkstatt, die themenzentrierte Interaktion und einige weitere an. Als Fazit soll festgehalten werden, dass eine theoretische Fundierung psychosozialer Beratung in einen Rahmen inter- und transdisziplinärer Kommunikation und Theoriebildung eingebettet werden muss, da nur in diesem Rahmen eine an der Profession (Praxis) orientierte Sichtweise ermöglicht wird. Für eine Grundlegung der Definition der psychosozialen Beratung sind das Aufgabenfeld und die Ziele psychosozialer Beratung zu benennen, so dass die psychosoziale Beratung es sich zur Aufgabe machen kann, ein neues Spezialwissen im Beratungsbereich zu konstruieren, „dessen Spezifikum in der Verknüpfung von anderem Spezialwissen besteht“ (Münch 1995: 145 ff., zit. n. Kleve 2003: 113). Entsprechend sollen in einer Grundlegung einer Definition psychosozialer Beratung zunächst die sozio-ökonomischen, sachlich sozial-strukturellen und psycho-sozial-emotionalen Wissens- und Praxisebenen miteinander verknüpft werden.
1.4.1
Inter- und transdisziplinäre Elemente psychosozialer Beratung
Aufgefächert nach der Einteilung von Luhmann in biologische, psychische und soziale Systeme lassen sich die Bedürfnisse der Klienten psychosozialer Beratung in einem groben Raster in körperliche, psychische und soziale Bedürfnisse unterteilen. Im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Wissens- und Praxisebenen psychosozialer Beratung lässt sich aus der inter- und transdisziplinären Sichtweise für die psychosoziale Beratung die in Tabelle 2 gezeigte Übersicht erstellen. Zu den Inhalten der Tabelle kann eingewendet werden, dass es sich im Prinzip um theoretische Dimensionen und praktische Handlungstheorien und Handlungsansätze der Sozialarbeit und -pädagogik handelt. Die Realität zeigt allerdings, dass die Vielfalt der psychosozialen Beratung im Prinzip alle dargestellten Bereiche berührt, wobei zu berücksichtigen ist, dass für den Beratungsbereich nicht alle Disziplinen eine gleich wichtige Rolle spielen, sondern aus einigen Disziplinen werden weniger und aus anderen mehr Bereiche des fach-
1.4 Inter- und Transdisziplinarität psychosozialer Beratung
49
Tabelle 2: Inter- und transdisziplinäre Elemente psychosozialer Beratung (adaptiert nach Kleve 2003: 107, 114) Inter- und transdisziplinäre Elemente aus den Bezugsdisziplinen: Philosophie, Ethik, Theologie (Religion), Wissenschaftstheorie, Menschenbild biologisches System, körperliche Bedürfnisse
psychisches System, psychische Bedürfnisse
soziales System, soziale Bedürfnisse
... und alle damit zusammen hängenden Fragen der körperlichen (gesundheitlichen) Entwicklung
... und alle damit zusammen hängenden Fragen der psychischen und emotionalen Entwicklung
... und alle damit zusammen hängenden Fragen der sozialen Entwicklung und Einbindung (Integration in unterschiedliche soziale Systeme)
Medizin, Biologie, Ökologie etc.
Psychologie, Pädagogik (Erziehungswissenschaft), Sozialarbeit/-pädagogik, (Sozial-)Psychatrie etc.
Sozialwissenschaften/ Soziologie, Jurisprudenz, Politologie, Ökonomie etc.
Verknüpfung relevanter Wissenselemente: rechtliche, sozio-ökonomische, biologische, psychische, emotionale und beziehungsdynamische Dimensionen psychosozialer Beratung Sozio-ökonomische Dimension
Psycho-soziale Dimension
Sach- beziehungsweise informationsorientiert
Beziehungs- und/oder emotionsorientiert
Erweiterung kognitiver Kompetenzen (Wissen)
Erweiterung sozialer, emotionaler Kompetenzen
spezifischen Wissens benötigt, z. B. je nachdem welche Wissensbereiche zu welchem Zeitpunkt wichtig sind. Diese Verhältnisse lassen sich in einer Definition psychosozialer Beratung auch nicht exakt beschreiben, da die Beratungsstruktur immer als Prozess aufgebaut und der Berater aufgefordert ist, bei neuen Aufgaben oder Fragestellungen neues Wissen und Möglichkeiten anderer/neuer Lösungsvorschläge in den Beratungsprozess einzubringen. Ebenso wenig macht es Sinn, bestimmte Beratungssettings (z. B. Einzelgespräch, Aufstellung etc.) in einer Definition festzuschreiben, da mit unterschiedlichen Settings das gleiche Ziel erreicht werden kann und auch erreicht
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1 Grundlegungen einer Definition der psychosozialen Beratung als Beispielkonstrukt
wird. Was sich in einer Definition psychosozialer Beratung exakt beschreiben lässt, sind die Aufgabenstellungen und die Ziele, die Klienten erreichen sollen. Bevor im nächsten Kapitel in Vernetzung mit der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung neben den sozio-ökonomischen, sachlich sozial-strukturellen und psycho-sozial-emotionalen Wissens- und Praxisebenen eine weitere Grundlegung einer ökologisch orientierten Beratung und Therapie und beispielhaft für die psychosoziale Beratung dargestellt werden, soll hier aus der inter- und transdisziplinären Sichtweise noch hervorgehoben werden, dass „wissenschaftliche Disziplinen sich nicht durch einen Kern konstituieren, sondern um netzartige Knoten“ (Welsch 1996: 947, zit. n. Kleve 2003: 115), die durch Stränge und Verbindungslinien miteinander verbunden sind. Zukünftige Aufgabe einer Theoriebildung einer ökologisch orientierten Beratung und Therapie wäre es dann, weitere Stränge und Verbindungslinien ihrer relevanten Disziplinen auszuarbeiten, um ihre Inter- und Transdisziplinarität zu festigen.
2 Ökologische Aspekte für Beratung und Therapie aus der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung
In diesem Kapitel wird der Entwurf einer ökologisch orientierten Beratung und Therapie vor dem Hintergrund der Bildung für nachhaltige Entwicklung dargestellt. Die herausgearbeiteten Zielsetzungen bieten die Möglichkeit, verschiedene Beratungsformen (-formate) auf ihre nachhaltigen Aspekte hin zu untersuchen und die Zielsetzungen zu einem frei wählbaren Teil zu integrieren. Zum Abschluss dieses Kapitels wird beschrieben, wie ein ökologisch orientiertes psychosoziales Beratungsmodell aussehen kann, und es werden die Möglichkeiten des Kompetenzerwerbs durch offene Lernprozesse beschrieben.
2.1 Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung gelangte durch den BrundtlandBericht „Our common future“ im Jahr 1987 zu internationaler Beachtung. Dort wurde eine nachhaltige Entwicklung als „Entwicklung, die die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können“ (Hauff 1987: 46), definiert. Nach diesem Verständnis sind mit einer nachhaltigen Entwicklung vor allem folgende Anforderungen verbunden:
die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse sowie intragenerationelle Gerechtigkeit (Ausgleich zwischen Arm und Reich, Süd und Nord) und intergenerationelle Gerechtigkeit (Berücksichtigung der Bedürfnisse der zukünftigen Generationen).
P. Busch, Ökologische Lernpotenziale in Beratung und Therapie, DOI 10.1007/ 978-3-531-92754-1_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2 Ökologische Aspekte für Beratung und Therapie aus der Bildung
Im Rahmen der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro wurde die Agenda 21 als Handlungsprogramm für das 21. Jahrhundert beschlossen und das Konzept der nachhaltigen Entwicklung als globales Leitbild verabschiedet. Neben der genannten Orientierung an menschlichen Bedürfnissen und dem Anspruch der Gerechtigkeit ist für das Verständnis der Nachhaltigkeit, wie es in Rio de Janeiro formuliert wurde, die Zusammenführung vorher oft gegensätzlich diskutierter Bereiche von zentraler Bedeutung: Ökologie, Ökonomie und Soziales. Diesen Dimensionen der Nachhaltigkeit wird Gleichrangigkeit zugesprochen und sie sollen integrativ betrachtet werden. Die Retinität,15 die Vernetzung der verschiedenen Bereiche, spielt eine zentrale Rolle. „Da durch das Leitbild ‚Nachhaltigkeit‘ auch unsere Lebensform, Wertvorstellungen, unser Bildungsund Wissenschaftssystem oder unsere Art von Technikentwicklung als kultureller Hintergrund“ der anderen Dimensionen „kritisch reflektiert und gegebenenfalls verändert werden müssen“, sollte zudem Kultur als vierte Dimension einer nachhaltigen Entwicklung betrachtet werden (Stoltenberg 2000: 12). In Abbildung 3 wird nach Stoltenberg & Michelsen deutlich, welche Bereiche und welche Fragen zukünftiger Entwicklung mit den vier Dimensionen der Nachhaltigkeit verbunden sind. Weiterhin ist die Partizipation als wesentliches Element einer nachhaltigen Entwicklung zu nennen. Ohne Partizipation ist eine solche Entwicklung gar nicht vorstellbar, da eine nachhaltige Entwicklung als ein offener gesellschaftlicher Lern- und Suchprozess verstanden werden muss, der erst durch die Beteiligung möglichst Vieler mit Ideen, Visionen, konkreten Strategien und Gestaltungskompetenzen gefüllt werden kann (Stoltenberg et al. 2004: 3).
15
Lat.: rete, das Netz, in der Nachhaltigkeitsdiskussion wird Retinität meistens im Sinne von Gesamtvernetzung benutzt.
2.1 Das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung
53
Ökonomische Dimension
Ökologische Dimension
vorsorgendes Wirtschaften; sparsamer Umgang mit Ressourcen; Kreislaufwirtschaft; Zeitmaße der Natur (RegenerationsStoffstrom-Management; fähigkeit; Eigenzeit); Umweltmanagementsystem; Biodiversität; umweltverträgliche, innovative Technoökologische Kreislauf-Systeme; logien; regenerative Energie; Eco-Design; Vorsorgeprinzip; ökologische und soziale Wahrheit der Vermeidung der Belastung des Preise; Ökosystems Verursacherprinzip; (Reduzierung von Schadregionale und lokale Verstoffeinträgen, Sustainable marktungsnetze; Emissionen, Abfall) Development fairer Handel
Soziale Dimension
– nachhaltige Entwicklung
Förderung der menschlichen Gesundheit; gleiche Ansprüche auf die Nutzung natürlicher Ressourcen/gleiche Rechte auf Entwicklung; innergesellschaftliche Gerechtigkeit; Berücksichtigung der Lebensinteressen zukünftiger Generationen; Demokratisierung, Partizipation aller Bevölkerungsgruppen in allen Lebensbereichen, Netzwerke; Lebensunterhalt durch Arbeit
Kulturelle Dimension
ethische Vergewisserung; umweltgerechte Lebensstile; ganzheitliche Naturwahrnehmung; lokale und kulturelle Vielfalt der Wege zu einer nachhaltigen Entwicklung; traditionelles Wissen; Umgang mit Zeit; Kultur des Umgangs mit den Dingen; Konsumentenbewusstsein; lokale Öffentlichkeit; internationaler Austausch
Abbildung 3: Dimensionen einer nachhaltigen Entwicklung (Stoltenberg & Michelsen 1999: 45 f.)
54
2 Ökologische Aspekte für Beratung und Therapie aus der Bildung
2.2 Kriterien der nachhaltigen Entwicklung in einer ökologisch orientierten Beratung und Therapie Das aus dem Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung resultierende Konzept einer „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“16 wird in seinen Grundgedanken dargestellt, um auf dieser Basis den Begriff einer „ökologisch ausgerichteten Beratung für eine nachhaltige Entwicklung“ näher zu definieren. Bislang liegen mit Ausnahme vereinzelter Veröffentlichungen im Rahmen unterschiedlicher Beratungsformate, die direkt den Begriff der Nachhaltigkeit oder der nachhaltigen Entwicklung im Rahmen ihrer praktischen Beratungsarbeit thematisieren (vgl. Fatzer 2005; Wegehaupt-Schneider & Rusteberg 2005: 330-337), keine beschriebenen Konzepte einer ökologischen Beratung für nachhaltige Entwicklung vor.17 Bildung für eine nachhaltige Entwicklung ist ein Anspruch, der Menschen ermöglichen soll, die Bedeutung und Aufgaben einer zukunftsfähigen Gestaltung individuellen und gesellschaftlichen Lebens zu erkennen und daran verantwortlich mitzuwirken. Neben das ethische Prinzip von Menschenwürde, Demokratie und Gleichheit tritt das der Verantwortung für den Erhalt und eine gerechte Nutzung der natürlichen Lebensgrundlagen. Bildung für eine nachhaltige Entwicklung hat zum Ziel, die Menschen zur aktiven Gestaltung einer ökologisch verträglicheren, sozial gerechteren und wirtschaftlich gesicherteren Umwelt unter Berücksichtigung kultureller Vielfalt und globaler Wirkungszusammenhänge zu befähigen. Dabei wird vorausgesetzt, dass es allen Menschen bei hinreichender und bestmöglicher Förderung möglich ist, ihr jeweiliges Potenzial zur Beteiligung daran zu entwickeln. In diesem Sinn müssen die Vorstellungen und Ziele der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung als Idealtypus gesehen werden, wie Max Weber ihn formuliert hat, der Idealtypus ist „als Gedankenbild ... in seiner begrifflichen
16
17
Vgl. Agenda 21, Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung im Juni 1992 in Rio de Janeiro, Kap. 36.1-36.27: Förderung der Schulbildung, des öffentlichen Bewusstseins und der beruflichen Aus- und Fortbildung. In: Stoltenberg et al. 2004. Eine Ausnahme stellt hier das Empowerment-Konzept dar, das im Beratungsbereich Aspekte einer nachhaltigen Entwicklung aufzeigt, aber nicht dezidiert definiert, was eine nachhaltige Beratungsleistung beinhaltet.
2.2 Kriterien der nachhaltigen Entwicklung
55
Reinheit nirgend in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar ...“ und als Gedankenbild eine Utopie (1991 >1904@: 73-74).18 Das Konzept einer Bildung für eine nachhaltige Entwicklung kann in seinen Grundzügen für den deutschsprachigen Raum als anerkannt vorausgesetzt werden (vgl. Deutsche UNESCO-Kommission 2003; Schweizerische Konferenz 2002; Kyburz-Graber et al. 2001; Posch, Rauch & Kreis 2000; de Haan & Harenberg 1999; Stoltenberg & Michelsen 1999). Im Bereich einer ökologisch ausgerichteten Beratung für nachhaltige Entwicklung gibt es allerdings keinen breiteren wissenschaftlichen Diskurs, aus dem man einen Grundkonsens über die Elemente eines solchen Konzeptes ableiten könnte. In diesem Kapitel wird weiterhin kurz skizziert, welche zentralen Aussagen, Ziele und Methoden zum Leitbild einer Bildung für nachhaltige Entwicklung entwickelt wurden (vgl. Stoltenberg 2004: 3 ff.; 2005: 7 ff.)19, um in diesem Zusammenhang themenspezifisch auf die relevanten Aspekte einer ökologischen Beratung für nachhaltige Entwicklung einzugehen: 1. Orientiert am Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung erfordert eine Bildung wie auch eine ökologische Beratung für nachhaltige Entwicklung auch die inhaltliche Auseinandersetzung mit Ressourcenverantwortung, den Grenzen der Belastbarkeit des Ökosystems und dem Prinzip inter- und intragenerationeller Gerechtigkeit hinsichtlich der Nutzung der natürlichen Lebensgrundlagen: Nachhaltig ist ihr ganzheitlicher Arbeitsansatz zur Unterstützung und Förderung des Menschen, welcher Gesundheitserziehung und Entwicklungsförderung, Identitätsund Persönlichkeitsbildung, Entwicklung der Lernbereitschaft und Lernfreude einschließt. Sie berücksichtigt die komplexen Wechselwirkungen zwischen individuellen, soziokulturellen, ökonomischen, ökologischen und politischen Entwicklungs18
19
Der Idealtypus „... wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluss einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde. In seiner begrifflichen Reinheit ist dieses Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht, inwieweit also der (z. B.[P.B.]) ökonomische Charakter der Verhältnisse einer bestimmten Stadt als ‚stadtwirtschaftlich‘ im begrifflichen Sinn anzusprechen ist. Für den Zweck der Erforschung und Veranschaulichung aber leistet jener Begriff, vorsichtig angewendet seine spezifischen Dienste“ (Weber 1991 >1904@: 73 f.). Stoltenberg hat hier die Bildung für eine nachhaltige Entwicklung in den Rahmen der Weiterentwicklung des vorschulischen Lernens gestellt.
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2 Ökologische Aspekte für Beratung und Therapie aus der Bildung
faktoren und setzt sich dafür ein, Eigeninitiative, Mündigkeit und Handlungskompetenz [...] zu stärken. Sie unterstützt Wahrnehmungs- und Erfahrungsfähigkeit sowie Offenheit gegenüber verschiedenen Sichtweisen, Problemlösungswegen und ihren Auswirkungen auf Umwelt und soziales Zusammenleben. Sie stärkt die Verantwortung für die Eine Welt. (Lehrplan-Entwurf 2002: 14 f., zit. n. Stoltenberg 2005: 36 f.)
Entsprechend wird für angehende Pädagogen gefordert, dass „Werthaltungen und Orientierungsmuster der Beteiligten reflektiert, gesellschaftliche Handlungszusammenhänge durchleuchtet werden. Die Fragen der Mitverantwortung und Mitgestaltung müssen thematisiert und die ökonomischen, ökologischen und sozialen Fragen integriert werden“ (ebd.: 18, zit. n. Stoltenberg 2005: 36 f.). Die Sensibilisierung für diese Problematik, zum Beispiel durch Förderung der Wahrnehmungsfähigkeit im Verhältnis von Mensch zu Mensch; von Mensch und Natur; von positiven Erfahrungen mit natürlichen Lebensgrundlagen; durch die Erfahrung, dass das Verhältnis von Mensch und Natur ein zu gestaltendes ist; durch das Sichtbarmachen von Alternativen in der Nutzung von natürlichen Lebensgrundlagen; durch die Erfahrung praktischer Solidarität mit ärmeren Menschen; durch Analyse der öffentlichen Kommunikation über diese Thematik; durch ethisches Nachdenken, ist ein wichtiger Bestandteil dieser Auseinandersetzung. Erfahrungsorientierte, erlebnisorientierte und ästhetische Zugänge haben hier ihre Bedeutung. Zugleich aber muss Retinität (hier: Vernetzung der natürlichen Lebensgrundlagen als Basis aller unserer Tätigkeiten und kulturellen Produkte) auch reflexiv erfahrbar werden. Das setzt bei den Verantwortlichen, hier den ökologisch ausgerichteten Beratern, ein Konzept voraus, in dem Einzelaktivitäten als Teil eines umfassenden Beratungskonzeptes im Sinne von Nachhaltigkeit reflektiert werden können. 2. Ziel der „Bildung für eine nachhaltige Entwicklung“ ist Gestaltungskompetenz als Fähigkeit, „die Zukunft von Sozietäten, in denen man lebt, in aktiver Teilhabe im Sinne nachhaltiger Entwicklung modifizieren und modellieren zu können“ (de Haan & Harenberg 1999: 60). Der Begriff Gestaltungskompetenz ist nicht nur dem Bildungsbegriff für eine nachhaltige Entwicklung zuzuschreiben, sondern definiert auch eindeutig ein zentrales Ziel ökologischer Beratung: Hier steht die Förderung solcher Kompetenzen im Vordergrund, die Menschen empathiefähig, kooperations- und aushandlungsfähig, mutig für eigenes Handeln auch auf neuen Wegen und kritisch im Umgang mit ethischen Fragen macht. Sie kann zu Gestaltungskompetenz führen, wenn zugleich problemlösendes Verhalten gelernt und dabei Wissen aus
2.2 Kriterien der nachhaltigen Entwicklung
57
unterschiedlichen Bereichen zugänglich gemacht und als fruchtbar für Problemlösungen erfahren wird. Das schließt ein, dass nachhaltige Entwicklung ein hinsichtlich seiner Ausgestaltung offenes Konzept ist, das in gesellschaftlicher Aushandlung zu konkretisieren ist. Es ist notwendig, mit offenen Fragen, Risikoabwägung und Differenz umgehen zu lernen, d. h. es müssen in Richtung Zukunft „offene Lernprozesse“ (s. u.) gelernt werden. In diesen wird deutlich, dass z. B. angestrebte Ziele eventuell nur im Rahmen einer bestimmten Bandbreite oder nur über grundlegende Veränderungen der Herangehensweise selbst erreicht werden können oder zu diesem Zeitpunkt in den gegebenen Konstellationen nicht verwirklicht werden können. Mit dem Erlangen von Gestaltungskompetenz ist der Erwerb bestimmter Schlüsselkompetenzen verbunden (ebd.: 59):
komplexes, vernetztes Denken und Planungskompetenz, globales Denken, antizipierendes Denken, Fähigkeit zu interdisziplinären Herangehensweisen bei Problemlösungen und Innovationen, Fähigkeit zur Gemeinschaftlichkeit und Solidarität, Verständigungskompetenz und Fähigkeit zur Kooperation, Fähigkeit, sich und andere motivieren zu können, Kompetenz zur distanzierten Reflexion über individuelle wie kulturelle Leitbilder.
3. Eine wesentliche Veränderung des Nachhaltigkeitskonzeptes liegt in dem Schritt vom nachsorgenden Umweltschutz zum integrativen und innovativen Diskurs über die anzustrebenden Ziele gesellschaftlicher Entwicklung. Damit stellt es neben der Umweltproblematik auch andere Bereiche gesellschaftlich schwieriger Entwicklungen in den Zusammenhang grundlegender ethischer Fragen – wie beispielsweise nach Gerechtigkeit, neuen Wohlstandsmodellen, Zukunftsvorsorge etc. Im Wesentlichen geht es um veränderte Anforderungen – oder besser eine „neue“ Qualität – in den zu entwickelnden Kompetenzen der drei klassischen Bereiche Wissen, Bewerten und Handeln. Diesen neuen Anforderungen und der „neuen“ Qualität in der Entwicklung von Kompetenzen muss auch in einer ökologisch ausgerichteten Beratungsarbeit eine erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt werden. In der Konzeption einer ökologischen Beratung für nachhaltige Entwicklung kommt der Kompetenz, Werte aus unterschiedlichen Bereichen in Entwicklungsprozesse einzubeziehen, eine be-
58
2 Ökologische Aspekte für Beratung und Therapie aus der Bildung
sondere Bedeutung zu. So spielen Fragen nach dem eigenen Selbstwert im Zusammenhang mit den bestehenden Lebensumständen im Beratungsprozess häufig eine wesentliche Rolle, die nicht nur mit einem „Ich bin“ beantwortet werden können, sondern in die Werte aus den Bereichen Ökologie, Ökonomie und Soziales zur Identitätsbildung miteinbezogen werden sollen. Menschen werden maßgeblich durch ihre Familie, Religion, Gesellschaft und Kultur beeinflusst und übernehmen deren Traditionen und Werte – allerdings überwiegend ohne diese zu hinterfragen. Sobald Werte aber für die Planung eigener Handlungen herangezogen werden, beziehungsweise die Einstellung zum Selbstwert verändert wird, findet ein bewusster Entscheidungsprozess statt, und dieser kann dann auch auf anderen oder neuen – biografisch bedingten individuellen – Werten basieren. Unter Bewertungskompetenz ist daher die Fähigkeit zu verstehen, bei Entscheidungen unterschiedliche Werte zu erkennen, gegeneinander abzuwägen und in den Entscheidungsprozess einfließen zu lassen (vgl. Rost et al. 2003). Darüber hinaus bringen immer stärker globale Probleme kulturell bedingte Wertorientierungen ins Spiel, die bei Fragen der nachhaltigen Entwicklung zu berücksichtigen sind (vgl. Jüdes 2001). Eine interkulturelle Bewertungskompetenz setzt nicht nur die Kenntnis kultureller Besonderheiten voraus, sondern umfasst auch eine gewisse Akzeptanz und Toleranz gegenüber den Werten anderer Kulturen. Inter- und intragenerationelle Gerechtigkeit und Solidarität sind als zentrale Werte im Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung anzusehen. In unserer westlichen Konsumgesellschaft, in der individuelle Handlungen häufig vom Kalkül der eigenen Nutzenmaximierung und der Erlangung kurzfristiger Vorteile geprägt sind, als Beispiel dient das Menschenbild des klassischen Homo oeconimicus (s. Kapitel 8), werden die Klienten einer ökologisch orientierten Beratung und Therapie für nachhaltige Entwicklung auch mit Werten konfrontiert, die in ihren Wertsystemen eine untergeordnete Rolle spielen oder vielleicht gar nicht enthalten sind. Durch das Aufzeigen von globalen Zusammenhängen und Fakten können sie dafür sensibilisiert – und im besten Falle auch motiviert – werden, ihr Wertesystem zu reflektieren und gegebenenfalls zu verändern und darüber eine neue Qualität von Identität zu erreichen. In einer ökologisch orientierten Beratung und Therapie besteht ein erwünschtes Ziel dementsprechend darin, dass die Klienten Umwelt- und Nachhaltigkeitswerte in ihr Wertesystem integrieren, beziehungsweise diese stärker gewichten, um dann auch ihr Verhalten in den entsprechenden Bereichen zu verändern. Bewertungskompetenz basiert aber nicht nur auf der Einsicht, dass
2.2 Kriterien der nachhaltigen Entwicklung
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menschliches Handeln von Wertvorstellungen getragen ist, vielmehr ist zugleich zu berücksichtigen, dass Werturteile durch Aneignung von Sachwissen zwar ausdifferenziert, aber nicht in ihrer Bedeutung geschmälert oder überflüssig gemacht werden können. So wird Bewertungskompetenz in dem vorliegenden Kontext nicht ausschließlich als Fähigkeit verstanden, bei komplexen Sachverhalten zu Entscheidungen zu gelangen und handlungsfähig zu bleiben. Vielmehr äußert sich die Fähigkeit zu kritischer Reflexion und Kommunikation über Werte und Normen ebenso in der Bereitschaft, sich zu seinen Werten zu bekennen und eigene Urteile und Entscheidungen mit diesen zu begründen. Ein Ziel jeder ökologisch orientierten Beratung für nachhaltige Entwicklung sollte daher die Weiterentwicklung der Bewertungskompetenz und die Befähigung ihrer Klienten sein,
über ihre je eigenen Ziele und Interessen, über deren Begründung und Berechtigung nachzudenken; ein derartiges Nachdenken auch auszudrücken und anderen verständlich zu machen; die Ziele und Interessen anderer und deren Begründungen vorurteilslos anzuhören; sich auf einen Konsens über primäre Prinzipien einzulassen; sich an Regeln des Austauschs und der Prüfung von Argumenten zu halten (vgl. Kaufmann-Hayoz 2001: 207 f.).
Allerdings kann es gerade in ökologisch ausgerichteten Beratungs- oder Therapiesituationen nicht das Anliegen sein, mit einem Mehr an moralischen Impulsen aufzuwarten. Vielmehr ist eine kritische, werteorientierte Reflexion über die Bedingungen, Chancen und Grenzen des Erwerbs von Verantwortungskompetenzen gefragt. Die werteorientierte Reflexion soll verschiedene Aufgaben erfüllen, zunächst eine kritische Betrachtung, dann eine mögliche Integration unterschiedlicher Standpunkte. Auf dieser Basis soll eine motivierende Haltung heraus gearbeitet werden (vgl. Vogt 2001: 118). Im Hinblick auf das Konzept einer ökologisch orientierten Beratung und Therapie für nachhaltige Entwicklung ist der Aspekt der Bewertungskompetenz auch für die kulturelle Aufarbeitung unterschiedlicher Werte von hoher Relevanz (z. B. für Angehörige unterschiedlicher Religionen). In Kulturen sind Werthaltungen aufgehoben, die zu kennen lohnenswert sind für eine eigene nachhaltige Entwicklung. Diese für Nachhaltigkeitskonzepte fruchtbar zu machen, stellt ein großes Entwicklungspotenzial für Beratungs- und Therapieprozesse dar.
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2 Ökologische Aspekte für Beratung und Therapie aus der Bildung
4. Die Arbeitsweisen und Methoden einer „ökologisch orientierten Beratung und Therapie für nachhaltige Entwicklung“, die diese Zielsetzungen unterstützen, sind so zu wählen, dass sie Erfahrung und Reflexion im Zusammenhang der gegebenen Lebensumstände ermöglichen. Perspektivenwechsel und moralische Kategorien (Ethik und Werte) sollen als eine Grundlage gemeinsamen Handelns und ethischen Nachdenkens vorhanden sein und entwicklungsfähig bleiben. Erfahrung und Reflexion sollen sich im Beratungsprozess vor allem auf die Gestaltbarkeit der Verhältnisse von Klienten und ihrem Lebensumfeld beziehen, die persönlich relevant und unmittelbar nachvollziehbar sind. Damit ist auch die Anforderung formuliert, das Zuhause, den Arbeitsplatz etc. selbst zu einem Erfahrungsraum für Reflexion und Nachhaltigkeit und einem verantwortlichen Umgang mit den Lebensgrundlagen und dem Anspruch gerecht verteilter Lebenschancen zu machen. Partizipation an der Gestaltung des eigenen Lebens im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung gehört zu dem zentralen Ziel und ist Medium von nachhaltig orientierter ökologischer Beratung. Partizipation in diesem Sinne beschränkt sich nicht auf das Einüben weniger destruktiver Verhaltensmuster, sondern auf die Bearbeitung von nachhaltigkeitsrelevanten Problemstellungen aus dem eigenen Lebensumfeld. Die gemeinsame Lösung echter Fragen und Aufgaben zu den oben genannten Erfahrungsfeldern, der Versuch einer partizipativen Alltagskultur und nach Möglichkeit die Beteiligung auch an der Gestaltung des lokalen Umfelds und Gemeinwesens sind weitere Elemente einer ökologischen Beratung für eine nachhaltige Entwicklung. In einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive gesehen kann sich eine ökologisch orientierte Beratung und Therapie für nachhaltige Entwicklung letztlich nicht auf Einzel- und Gruppenberatungen mit Nachhaltigkeitsbezug beschränken. Das ethische Prinzip der Nachhaltigkeit sollte wie ein roter Faden im Umgang mit den Klienten, in der geplanten Beratungsstruktur und in der Alltagsgestaltung erkennbar sein. Sie soll für die Klienten sowohl Bildungschance wie auch zukunftsfähiges Handlungskonzept sein, für die Berater eine übergreifende Theorie, die Zusammenhänge zwischen einzelnen Themen und Arbeitsfeldern erkennen lässt und sinnvolle, motivierende, aufeinander bezogene ökologische Beratung begründen kann.
2.3 Zielsetzungen und Aufgabenfelder einer ökologisch orientierten Beratung und Therapie
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2.3 Zielsetzungen und Aufgabenfelder einer ökologisch orientierten Beratung und Therapie Aus dem Vorangegangenen werden die Zielsetzungen einer ökologischen Beratung und Therapie für nachhaltige Entwicklung abgeleitet. Traditionell geht es bei ökologischer Beratung sowohl um prozesshaftes Lernen im Sinne von „wie gestalte ich mein Leben um“, wie auch um das Lernen neuen Wissens. Obwohl der Veränderungsprozess der Klienten in der Beratung und Therapie meistens im Vordergrund steht, werden hier sowohl die Zielsetzungen dieses Prozesswissens als auch parallel dazu das zu erwerbende „Expertenwissen“ dargestellt. Dieses schließt mit ein, dass der Berater nicht nur über sein „Handwerkszeug“, das Prozesswissen, sondern auch über ein bestimmtes Expertenwissen, z. B. in den Bereichen Lernen lernen, Wertewandel und Nachhaltigkeit verfügt, das er seinen Klienten vermitteln kann. Hier ist es nicht beliebig, welche Inhalte im Rahmen einer ökologischen Beratung thematisiert werden. Es sollen Themen sein, die von zentraler Bedeutung für eine (persönliche) nachhaltige Entwicklung von Individuen und Gruppen sind. Hier entstehen für Klienten und Berater neue Prioritäten für die Auswahl von Inhalten und neue Perspektiven für alte Inhalte (vgl. Stoltenberg et al. 2004: 6): 1. Partizipationskompetenz: Im Rahmen einer ökologischen Beratung für nachhaltige Entwicklung wird diese als ein offener Lern- und Suchprozess verstanden, der erst durch die Beteiligung und in der Auseinandersetzung mit anderen durch Ideen, Visionen, konkrete Strategien und Gestaltungskompetenzen gefüllt werden kann. Ziele der Partizipation sind das Durchführen von Aushandlungsprozessen, z. B. die Bearbeitung nachhaltigkeitsrelevanter Problemstellungen aus dem eigenen Lebensumfeld, Erfahrungen des eigenen Veränderungspotenzials und die Übernahme von Verantwortung für das eigene Handeln. Grundvoraussetzungen für Partizipationskompetenz sind die Fähigkeiten zum reflexiven Lernen, zur Selbstorganisation, Willensbildung und zur Interaktion. 2. Retinitätskompetenz: Eine Vernetzung unterschiedlicher Lebensbereiche der Klienten ist im Rahmen einer ökologisch ausgerichteten Beratung Standard. Für nachhaltige Beratungsarbeit ist es erforderlich, den Fokus der zu bearbeitenden Themen zu erweitern und zu vernetzen, um Themen wie die steigende Komple-
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2 Ökologische Aspekte für Beratung und Therapie aus der Bildung
xität sozialer Handlungszusammenhänge, Werte, ethisches Handeln, Welt- und Menschenbilder neu zu bearbeiten oder das Wissen darüber zu erweitern. Grundvoraussetzungen für Retinitätskompetenz sind die Fähigkeiten zum reflexiven Lernen, zur Selbstorganisation, zur Interaktion und zum Wissen über Ethik und Werte, Welt- und Menschenbilder. 3. Gestaltungskompetenz: Hier steht die Förderung solcher Kompetenzen im Vordergrund, die Menschen empathiefähig, kooperations- und aushandlungsfähig, mutig für eigenes Handeln auch auf neuen Wegen und kritisch im Umgang mit ethischen Fragen macht. Ziele der Gestaltungskompetenz im Rahmen einer ökologischen Beratung für nachhaltige Entwicklung sind komplexes, vernetztes Denken und Planungskompetenz, antizipierendes Denken, Verständigungskompetenz, die Fähigkeit zur Kooperation, zur Gemeinschaftlichkeit, zur Solidarität und die Fähigkeit, sich und andere motivieren zu können. Grundvoraussetzungen für Gestaltungskompetenz sind die Fähigkeiten zum reflexiven Lernen, zur Selbstorganisation, Reflexivität, Antizipation, Strategie, dynamischen Verhaltensänderung, Willensbildung, Motivation und Interaktion. 4. Bewertungskompetenz: Ein Ziel jeder ökologischen Beratung für nachhaltige Entwicklung ist die Entwicklung der Bewertungskompetenz und die damit verbundene Befähigung ihrer Klienten, über die eigenen Ziele und Interessen, über deren Begründung und Berechtigung nachzudenken; ein derartiges Nachdenken auch auszudrücken und anderen verständlich zu machen; die Ziele und Interessen anderer und deren Begründungen vorurteilslos anzuhören; sich auf einen Konsens über primäre Prinzipien einzulassen und sich an Regeln des Austauschs und der Prüfung von Argumenten zu halten. Grundvoraussetzungen für Bewertungskompetenz sind die Fähigkeit zum reflexiven Lernen, Selbstorganisation, Interaktion und Wissen über Werte und Ethik, Welt- und Menschenbilder. Der (sozial-) ökologisch orientierte Beratungs- und Therapieprozess und das vermittelte Wissen müssen in der Realität der Lebens- und Erfahrungswelten der Klienten verankert sein und in die Lebenssituationen hineinpassen, in der sie sich befinden. In Erweiterung der Übersicht aus Abschnitt 1.4 um den Nachhaltigkeitsbegriff und den als ökologische Beratungsziele beschriebenen Erwerb der unterschiedlichen Kompetenzen mit den jeweiligen Aufgabenfeldern ergibt sich die Übersicht einer ökologisch orientierten psychosozialen Beratung in Tabelle 3.
2.3 Zielsetzungen und Aufgabenfelder einer ökologisch orientierten Beratung und Therapie
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Tabelle 3: Kompetenzen und Aufgabenfelder einer ökologisch orientierten psychosozialen Beratung (adaptiert nach Kleve 2003: 107, 114) Inter- und transdisziplinäre Elemente aus den Bezugsdisziplinen: Philosophie, Ethik, Theologie (Religion), Wissenschaftstheorie, Menschenbild biologisches System, körperliche Bedürfnisse ... und alle damit zusammen hängenden Fragen der körperlichen (gesundheitlichen) Entwicklung
psychisches System, psychische Bedürfnisse ... und alle damit zusammen hängenden Fragen der psychischen und emotionalen Entwicklung
soziales System, soziale Bedürfnisse ... und alle damit zusammen hängenden Fragen der sozialen Entwicklung und Einbindung (Integration in unterschiedliche soziale Systeme)
Medizin, Biologie, Ökologie etc.
Psychologie, Pädagogik (Erziehungswissenschaft), Sozialarbeit/-pädagogik, (Sozial-)Psychatrie etc.
Sozialwissenschaften/ Soziologie, Jurisprudenz, Politologie, Ökonomie etc.
Verknüpfung relevanter Wissenselemente: rechtliche, sozio-ökonomische, biologische, psychische, emotionale und beziehungsdynamische Dimensionen psychosozialer Beratung Sozio-ökonomische und -ökologische Dimension
Psycho-soziale Dimension
Sach- beziehungsweise informationsorientiert
Beziehungs- und/oder emotionsorientiert
Erweiterung kognitiver Kompetenzen (Wissen)
Erweiterung sozialer, emotionaler Kompetenzen
Partizipationskompetenz Voraussetzungen: Selbstorganisation, Willlensbildung und Interaktion
Gestaltungskompetenz Voraussetzungen: Selbstorganisation, Reflexivität, Antizipation, Strategie, dynamische Verhaltensänderung, Willensbildung und Interaktion
Retinitätskompetenz Voraussetzungen: Selbstorganisation, Werte und Ethik, Welt- und Menschenbild, Interaktion
Ziel: Kompetenzen und Aufgabenfelder
Bewertungskompetenz Voraussetzungen: Selbstorganisation, Interaktion, Werte und Ethik, Weltund Menschenbild
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2 Ökologische Aspekte für Beratung und Therapie aus der Bildung
2.4 Kompetenzerwerb durch offene Lernprozesse Aus der näheren Betrachtung dieses Entwurfs einer ökologisch ausgerichteten psychosozialen Beratung ergibt sich die Frage, welche weiteren Lehr- und Lerninhalte Beratung und Therapie für den Aufbau einer ökologisch ausgerichteten, langfristig tragfähigen Persönlichkeitsstruktur und für den Erwerb der dargestellten Kompetenzen benötigen, die den Klienten sowohl die Möglichkeit der individuellen Entfaltung bietet, als auch dem sozialen System zum möglichst großen Vorteil gereicht. In diesen Zusammenhang soll für erweiterte Lehr- und Lernmöglichkeiten in Beratung und Therapie der Begriff des „offenen Lernprozesses“ genutzt werden, der ausdrücken soll, dass es besonders für Klienten in Beratung und Therapie wichtig ist, nicht nur das Wissen zu erwerben, welches sie befähigt immer wieder neu zu lernen, sondern auch zu integrieren, dass Lernen an und für sich ein permanenter evolutionärer Prozess ist. Mit Hilfe dieses Begriffes lassen sich Veränderungsprozesse sowohl für langfristig nachhaltige, ökologische Ziele wie die oben dargestellten Kompetenzbereiche als auch wichtige Elemente des Beratungs- und Therapieprozesses darstellen. Kersting (2005) bietet im Rahmen der Weiterentwicklung systemisch-konstruktivistischer Beratung für Organisationen und deren Mitglieder Impulse an, die durch eine Bereicherung des Wissens und Erweiterung der Kombinationsmöglichkeiten u. a. auf der Basis des Zusammenhangs von Affekten und Logik zur Entwicklung ökologischer Lehr- und Lernmöglichkeiten in Beratung und Therapie beitragen können:
Beratung und Therapie haben die Aufgabe, ihren Klienten Gelegenheit zur Reflexion darüber zu geben, wie sie sich als dieses und nur als dieses soziale System verstehen, also zur Konstruktion der eigenen Identität beizutragen. Jede Unterscheidung und Veränderung in Beratung und Therapie benötigt den Bezug zur eigenen Identität, zum Selbst, und kann zunächst auch nur an diesem Selbst anknüpfen und in den Worten dieses Selbst beginnen, das Andere, das Fremde zu buchstabieren. Erst dieses „Zu-Sich-Stehen“ (ebd.: 5.1) verleiht die Stärke und Motivation, andere Unterscheidungen und Veränderungen aufzunehmen. Hierbei sind Lernprozesse über das eigene Fühlen und Denken, das Herausbilden von Antizipation u. a. unerlässlich.
Wesentliche Aussagen zu den Lernprozessen der Selbstentwicklung finden sich in Kapitel 3 (Lernprozesse aus konstruktivistischer Sichtweise) und 4 (Selbst-
2.4 Kompetenzerwerb durch offene Lernprozesse
65
lernkompetenz), ebenso sind Kapitel 7 (Motivation) und Kapitel 8 (Welt- und Menschenbilder) zu erwähnen. Von den zu erwerbenden Kompetenzen einer ökologisch ausgerichteten Beratung und Therapie sind hier als am wichtigsten Gestaltungs- und Retinitätskompetenz und die damit zusammenhängenden Aufgabenfelder zu nennen. Beratung und Therapie sollen das Tun und Ausprobieren fördern, beziehungsweise die Klienten zum fortlaufenden Selbst-Handeln anhalten. Die Maximen „Die Tat steht vor der Überlegung“ (von Kleist 1959: 50, in Kersting 2005: 5.3) und „Draw a distinction“, „Treffe eine Unterscheidung“ (vgl. Brown 1969, in Kersting 2005: 5.3) als erster Schritt zur Veränderung der Realität verdeutlichen die Notwendigkeit des gegebenenfalls antizipatorischen Handelns oder die Wirkung des vor der Handlung stattfindenden kognitiv-emotionalen Unterscheidungsprozesses in der Realität sozialer Systeme. Wesentliche Aussagen zu den handlungsorientierten Implikationen einer ökologisch ausgerichteten Beratung und Therapie finden sich in Kapitel 3 (Lernprozesse aus konstruktivisitischer Sichtweise) und 4 (Selbstlernkompetenz), ebenso sind Kapitel 5 (Strategieentwicklung), Kapitel 6 (Veränderungsprozesse gegebenenfalls ohne professionelle Unterstützung) und Kapitel 7 (Motivation) zu finden. Von den zu erwerbenden Kompetenzen einer ökologisch und nachhaltig ausgerichteten Beratung und Therapie sind hier Gestaltungs- und Partizipationskompetenz und die damit zusammenhängenden Aufgabenfelder zu nennen.
In Beratung und Therapie geht es nicht nur um individuelle, sondern auch immer um gemeinsame Erfahrungen im sozialen System. Es ist im Beratungsprozess und nach dessen Abschluss wichtig, dass Klienten neue, andere, fremde und ungewöhnliche Erfahrungen mit anderen teilen, in die Interaktion gehen, um Veränderungsprozesse zu stabilisieren. Die weitere Kommunikation in sozialen Systemen lebt von vielen Geschichten der gemeinsamen neuen und alten Erfahrungen, es sind die gemeinsamen Kontexte, die in Erinnerung bleiben, weil sie mit „allen“ Sinnen besetzt sind und zur Stabilität des Systems beitragen.
Wesentliche Aussagen zur kommunikativen Einbindung der jeweiligen sozialen Systeme finden sich in Kapitel 4 (Selbstlernkompetenz), Kapitel 5 (Strategieentwicklung), Kapitel 6 (Veränderungsprozesse gegebenenfalls ohne professionelle Unterstützung) und Kapitel 7 (Motivation). Von den zu erwerbenden Kompetenzen einer ökologisch ausgerichteten Beratung und Therapie sind hier
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2 Ökologische Aspekte für Beratung und Therapie aus der Bildung
Gestaltungs-, Retinitäts- und Partizipationskompetenz und die damit zusammenhängenden Aufgabenfelder zu nennen.
Beratung und Therapie sind sinnstiftend, erfinden aber den Sinn nicht neu und sind somit kein Neu-Anfang im Leben der Klienten. Sinn gab es vor der Beratung oder Therapie und wird es nach ihr geben, Sinn-Machen und SinnErweitern sind ein „ongoing process“ (ebd.: 5.5). Wesentlich für nachhaltig und ökologisch orientierte Beratungs- und Therapieprozesse ist es, die Sinnfindungsmöglichkeiten in der Form zu nutzen, dass sich der permanent wiederholende Aufbau einer sinnvollen Lebensperspektive als alltagsüberdauernde Konstante manifestiert.
Wesentliche Aussagen zur Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen zu einem ökologisch sinnorientierten Leben finden sich in Kapitel 8 (Welt- und Menschenbilder), Kapitel 9 (ökologische Kompetenz), aber auch in Kapitel 3 (Lernprozesse aus konstruktivistischer Sichtweise) und Kapitel 4 (Selbstlernkompetenz). Von den zu erwerbenden Kompetenzen einer ökologisch ausgerichteten Beratung und Therapie sind hier Gestaltungs-, Retinitäts- und Bewertungskompetenz und die damit zusammenhängenden Aufgabenfelder zu nennen.
Beratung und Therapie sollen sich mit vorläufigen und „unscharfen“ Lösungen begnügen, nicht fertige und exakte Lösungen produzieren, und dieses Potenzial und Prozesswissen über Ausmaß, Reichweite und Notwendigkeit vorläufiger und „unscharfer“ Lösungen den Klienten als Lernaufgabe stellen. Hier besteht u. a. die Möglichkeit, hinsichtlich der eigenen wie auch anderer Lebenssituationen Kreativität und Flexibilität in einer sich ständig wandelnden Gesellschaft zu lernen (ebd.: 5.7).
Wesentliche Aussagen zur Auseinandersetzung mit Kreativität im (ökologischen) Alltagshandeln und „unscharfen“ Lösungen, die ja auch sprachlich eher eine ständige Weiterentwicklung implizieren als die „fertige“ oder „exakte“ Lösung, finden sich in Kapitel 3 (Lernprozesse aus konstruktivistischer Sichtweise), Kapitel 4 (Selbstlernkompetenz), Kapitel 5 (Strategieentwicklung), Kapitel 6 (Veränderungsprozesse gegebenenfalls ohne professionelle Unterstützung), Kapitel 7 (Motivation) und Kapitel 9 (Ökologische Kompetenz). Von den zu erwerbenden Kompetenzen einer ökologisch ausgerichteten Beratung und Therapie sind hier Partizipations-, Gestaltungs-, Retinitäts- und Bewertungskompetenz und die damit zusammenhängenden Aufgabenfelder zu nennen.
3 Offene Lernprozesse als Voraussetzung für eine ökologisch orientierte Beratung und Therapie
Nachdem im letzten Kapitel ein Weg dargestellt wurde, wie Ansätze zu einer ökologisch orientierten Beratung und Therapie unter Einbeziehung des Leitbildes einer Bildung für eine nachhaltige Entwicklung eine erweiterte theoretische und praktische Ausrichtung finden kann, soll in diesem Kapitel auf die Relevanz des systemisch-ökologischen Lernens als evolutionäre Selbstorganisation im Beratungsprozess eingegangen werden. Der Autor vertritt die Auffassung, dass der Beratungsprozess und die damit verbundenen Veränderungsprozesse Lernprozesse sind, die auf eine „gelingendere Zukunft“ (Thiersch 1986) zielen. Damit wird nicht die Notwendigkeit der Bearbeitung regressiver Persönlichkeitsanteile verneint, doch der Fokus wird eindeutig auf die Lernpotenziale und Entwicklungschancen von Individuen und Gruppen gesetzt, er ist ressourcen- und lösungsorientiert. Im Folgenden wird in einem ersten Schritt näher auf den Lernprozess im Rahmen einer systemisch-konstruktivistischen Perspektive eingegangen und in einem zweiten Schritt werden offene Lernprozesse als Voraussetzung einer ökologisch orientierten Beratung und Therapie dargestellt. Dabei wird auch immer wieder auf neurobiologische Zusammenhänge zum Verhältnis von Kognition und Emotion hingewiesen.
3.1 Der Lernprozess im Rahmen einer systemischkonstruktivistischen Perspektive Aus der Sichtweise einer systemisch-konstruktivistischen Perspektive ist Lernen ein Prozess der evolutionären Selbstorganisation. Ebenso ist Evolution ein Prozess der Selbstorganisation, Evolution lässt sich als phylogenetischer Prozess der
P. Busch, Ökologische Lernpotenziale in Beratung und Therapie, DOI 10.1007/ 978-3-531-92754-1_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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3 Offene Lernprozesse als Voraussetzung für eine ökologisch orientierte Beratung
Selbstorganisation und Lernen als ontogenetischer Prozess der Selbstorganisation betrachten. Huschke-Rhein (2003: 106 ff.) stellt unter Bezugnahme auf systemtheoretische und konstruktivistische Autoren unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen eine Reihe von Verbindungslinien zwischen Evolution und Lernen her:
Autonomie (Selbstbestimmung) ist ein offensichtliches Ziel bisheriger evolutionärer Prozesse und ein Ziel moderner pädagogischer Bildungsprozesse. Verschiedene Evolutionstheoretiker (Jantsch 1979; Riedl 1986; Kauffman 1995) bezeichnen die Evolution selber als einen Lernprozess. Aufbau und Organisation des menschlichen Gehirns wird nach den jüngeren Konzepten der Neurobiologie als neuronale Selbstorganisation (Spitzer 2002; Roth 1995; Schiepek & Tschacher 1997; Bauer 2008) beschrieben. Menschliches Lernen wird hier als Teilaspekt innerhalb der Selbstorganisationsprozesse des Gehirns dargestellt. Der Begriff der „soziokulturellen Evolution“ beschreibt den evolutiven Prozess der menschlichen Kultur, „die Konstruktion der Kultur durch die Herauslösung der Kultur aus der Natur als Selbstorganisation der sozialen Systeme“ (Huschke-Rhein 2003: 106). Dieser kulturelle Selbstorganisationsprozess als Ablösungsprozess von der Natur findet permanent statt und ist seit seinen Anfängen in der menschlichen Urgeschichte mit Lern- und Erziehungsprozessen verbunden. Ohne Lernen ist eine kulturelle Evolution nicht denkbar. Auch Bateson beschreibt die Evolutionsgeschichte des Lernens im Wesentlichen als ein langsames Zurückschieben des genetischen Determinismus auf Ebenen höherer logischer Typen (vgl. Bateson 1985: 396 f.). Formal und inhaltlich gibt es bemerkenswerte Parallelen zwischen den Lernprozessen in der biologischen Evolution und dem menschlichen Lernen. Bei der Verwendung eines erweiterten Lernbegriffs, der nicht nur die Speicherung von Wissen und die Übertragung von Informationen beschreibt, sondern das Erlernen von neuen Verhaltensweisen und Gewohnheiten einschließt und der das „Lernen evolutionär erfolgreicher Neukonstruktionen bis hin zur Konstruktion neuer Selbstorganisationskonzepte einschließt“, gibt es Lernprozesse nicht nur bei den Menschen, sondern auch bei Tieren und schließlich, in evolutionärer Langzeitperspektive ge-
3.1 Der Lernprozess im Rahmen einer systemisch-konstruktivistischen Perspektive
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sehen, auch bei Pflanzen etc.20 (Prigogine 1985, Jantsch 1979, Riedl 1986, Kauffman 1995). Huschke-Rhein (2003: 107) vertritt die Thesen, dass „wir bei einer evolutionären Betrachtung des Lernens Möglichkeiten und Aufgaben heutiger Lern- und Erziehungsprozesse besser verstehen können“ und dass wir bei einer evolutionären Betrachtung des Lernens Sinn und (aktuelle) Aufgaben der Lernziele „Autonomie und Selbstorganisation“ besser und vorteilhafter werden handhaben können. Entsprechend definiert Huschke-Rhein Lernen und Erziehung als die konstruktiven, systemischen Beziehungen eines Individuums zu seiner Umwelt. Speziell die Erziehungsziele ‚Selbstbestimmung‘ und ‚Autonomie‘ sind implizit auf die Konstruktion der Autopoiesis (Prozess der Selbsterhaltung und -erschaffung eines Systems) innerhalb der Kontexte des Individuums bezogen. Lernen hat also, nach systemisch-konstruktivistischer Auffassung, wenig mit der alten Vorstellung zu tun, Lernen sei Informationsübertragung oder Wissensanreicherung.
Hier findet sich ein Lernverständnis, das als deckungsgleich mit den Forderungen und Zielen in Beratungs- und Therapieprozessen zu bezeichnen ist. Gerade in diesen geht es in erster Linie um die Aufgaben, die Fähigkeit der Klienten zu stärken, sich im psycho-emotional-sozialen Bereich zu stabilisieren, sich in diesen Bereichen weiterzuentwickeln sowie diese eigene Weiterentwicklung in die Lebensumwelt zu tragen und den Prozess dort fortzuführen. Das Ziel der persönlichen Autonomie und das Lernen des Eintretens für diese sind in Beratungsprozessen immanent enthalten. Lernen in Beratungsprozessen lässt sich generell als ein Entwicklungsprozess bezeichnen, als evolutionärer Prozess, der ein Individuum zu einem immer größer werdenden Maß an Selbstbestimmung führen soll. Diese Lernprozesse sollen, wie bereits Herman Nohl (1970: 137, in Huschke-Rhein, 2003: 107) für den Erziehungsprozess formulierte, das Individuum aus 20
Das von Konrad Lorenz erforschte Phänomen der ‚Nachfolgeprägung‘ beschreibt, dass ein eben aus dem Ei geschlüpftes Küken innerhalb der ersten Lebensminuten das erste bewegte Objekt, das es vor sich sieht, als seine Mutter definiert und ihm von jetzt an auf Schritt und Tritt nachfolgt. Im Experiment wurde das Muttertier durch ausgestopfte Tiere oder Holzkisten ersetzt. Der Zoologe Karl von Frisch nahm selbst die Rolle des Muttertieres ein, um die Entdeckung experimentell bestätigen zu lassen. Hier findet evolutionäres Lernen statt, es wird nicht durch ein genetisches Programm im Voraus entschieden, welche Erfahrung zugelassen wird, vielmehr wird umgekehrt ein Freiraum für eine individuelle Erfahrung geschaffen, die nicht identisch zu sein braucht mit der Erfahrung aller anderen Mitglieder der Gattung (Huschke-Rhein 2003: 108).
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3 Offene Lernprozesse als Voraussetzung für eine ökologisch orientierte Beratung
Abhängigkeiten und Fremdbestimmungen zur Selbstbestimmung führen. Erzieher und die Erziehung selbst sollen sich „überflüssig“ machen, der „Zögling“ braucht solche Anleitungen dann nicht mehr. Die gleichen Forderungen haben nicht nur moderne systemische Beratungsansätze, sondern alle Beratungs- und Therapieschulen und -formen.
3.2 Der Lernprozess im Rahmen der kybernetischen Lerntypenlehre Typisch für das Verständnis von Lernen als evolutionärem Entwicklungsprozess innerhalb von Beratungs- und Therapieprozessen ist eine der wichtigsten systemischen Interventionen, die „Umdeutung“ (bekannter unter dem Begriff „Reframing“).21 Bei der Umdeutung wird einem Geschehen dadurch ein anderer Sinn gegeben, dass man es in einen anderen Rahmen (engl. „frame“) stellt, der die Bedeutung des Geschehens verändert: Die Bedeutung einer Information ist von ihren Kontext-Markierungen abhängig, von Kennzeichen, die zeigen, wie eine Aussage zu verstehen ist (Bateson 1985: 374 ff.). Ein Individuum reagiert auf denselben Reiz in verschiedenen Kontexten verschieden und es ist von Interesse, nach der Informationsquelle für den empfangenen Reiz bei dem Individuum oder einer Gruppe zu fragen. Kontext-Markierungen sind Möglichkeiten, über die Lebewesen den sozialen Sinn ihrer Kommunikation qualifizieren. Dieser soziale Sinn ist der Rahmen, der bestimmt, wie eine Äußerung zu verstehen ist. Ein veränderter Rahmen verändert die komplette Bedeutung einer Kommunikation, auch wenn deren Inhalt sich selbst nicht ändert. Als Beispiel dient Bateson ein Publikum, welches eine Aufführung von Hamlet sieht und im Rahmen der Aufführung hört, wie der Held im Kontext seiner Beziehung zu seinem toten Vater, zu Ophelia und zu den anderen über Selbstmord spricht. Die einzelnen Zuschauer rufen nicht die Polizei an, weil sie Informationen über den Kontext von Hamlets Kontext erhalten haben. Sie wissen, dass es ein „Stück“ ist und haben diese Informationen aus vielen „Markie-
21
„Reframing“ ist später verstärkt als Veränderungsmethode im NLP (Neurolinguistische Programmierung, Bandler & Grinder 1982, 1984) bekannt geworden, obwohl das Konzept bereits seit Anfang der 70er Jahre existierte.
3.2 Der Lernprozess im Rahmen der kybernetischen Lerntypenlehre
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rungen des Kontexts des Kontexts gewonnen“ (ebd.: 375) – den Eintrittskarten, der Sitzordnung, dem Vorhang etc. Im Zusammenhang mit dem Begriff der Kontextmarkierung und unter Bezugnahme auf Russells Theorie der logischen Typen (1910-1913)22 arbeitet Bateson in seiner Lerntypenlehre unter partieller Bezugnahme auf die Logik der o. a. Theorie (in diesem mathematisch-logischen Rahmen lässt sich auch vom ‚Lernen‘ einer Maschine sprechen) heraus, dass die Fragestellung nicht ist: „Können Maschinen, (Tiere und Menschen [P.B.]) ‚lernen‘“, sondern: „Welche Ebene oder Ordnung des ‚Lernens‘ erreichen Maschinen, (Tiere und Menschen [P.B.]) wirklich?“. Entsprechend erstellt Bateson fünf Lernebenen oder Lernstufen (Bateson 1985: 366 ff.; 379 ff.):
Lernen null ist durch die spezifische Wirksamkeit der Reaktion charakterisiert, die – zu Recht oder zu Unrecht – keiner Korrektur unterliegt. Beim Lernen null findet eine einfache Informationsaufnahme von einem äußeren Ereignis in der Form statt, dass ein ähnliches oder gleiches Ereignis zu einem späteren Zeitpunkt (und geeigneten) Zeitpunkt dieselbe Information übermitteln wird: Der Mensch lernt durch eine Werkssirene, die jeden Tag um 12:00 Uhr ertönt, dass es 12:00 Uhr ist. Lernen null bezeichnet die unmittelbare Grundlage all jener Akte, die nicht einer Berichtigung durch Versuch und Irrtum unterworfen sind.
Lernen I ist eine qualitative Veränderung in der spezifischen Wirksamkeit der Reaktion durch Korrektur von Irrtümern der Auswahl innerhalb einer Menge von Alternativen. Lernen I bildet die Rücknahme der Wahl innerhalb einer unveränderten Menge von Alternativen ab, die als Phänomen die Veränderung des Lernens null beschreiben. Es sind die Fälle, in denen ein Einzelwesen zum Zeitpunkt 2 eine andere Reaktion zeigt als zum Zeitpunkt 1. Der wohl bekannteste Fall ist die klassische
22
Die Theorie der logischen Typenlehre (Whitehead & Russell 1910-1913) besagt, dass keine Menge in der formalen Logik oder im mathematischen Diskurs Element ihrer selbst sein kann, dass eine Menge von Mengen nicht eine der Mengen sein kann, die ihre Elemente sind, dass ein Name nicht die bezeichnete Sache ist; dass „John Bateson“ die Menge ist, die nur diesen Jungen als einziges Element hat, usw. Mit anderen Worten geht es um exakte Definitionen: den Namen nicht mit der benannten Sache gleichzusetzen, nicht die Speisekarte anstelle der Mahlzeit zu essen. Die Theorie bewegt sich in der abstrakten Welt der Logik ohne die Einflussnahme von Zeit, zur Welt der Phänomene gibt es gravierende Unterschiede. Entsprechend geht Bateson von einer ‚partiellen‘ Nutzung der Theorie aus (Bateson 1985: 362 ff.).
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3 Offene Lernprozesse als Voraussetzung für eine ökologisch orientierte Beratung
Pawlowsche Konditionierung:23 Zum Zeitpunkt 2 sondert der Hund als Reaktion auf den Summer Speichel ab, zum Zeitpunkt 1 hat er dieses nicht getan. Ein Tümmler bekommt einen Fisch vom Dresseur, wenn er tut, was der Dresseur will. Auf der Ebene Lernen I ist die Tatsache des Fischs mit der „Richtigkeit“ der besonderen Handlung verknüpft.24 Mit Lernen I verknüpft Bateson auch die These des wiederholbaren Kontexts und der Kontextmarkierung. „Ohne die Annahme eines wiederholbaren Kontexts (und ohne die Hypothese, dass die Abfolge der Erfahrung für den Organismus, den wir studieren, tatsächlich in dieser Weise interpunktiert ist) würde folgen, dass alles ‚Lernen‘ von einem Typ wäre: nämlich ‚Lernen null‘ (ebd.: 373). Vom Pawlowschen Experiment könnte behauptet werden, dass die Nervenschaltungen des Hundes von Anfang an fest fixiert, genetisch in der Form determiniert sind, dass er im Kontext A zum Zeitpunkt 1 keinen Speichel absondert, dies aber in dem vollkommen verschiedenen Kontext B zum Zeitpunkt 2 tun wird. Was zuvor als Lernen bezeichnet wurde, würde nun als Unterscheidung zwischen den Ereignissen des Zeitpunkts 1 und den Ereignissen von Zeitpunkt 1 plus Zeitpunkt 2 beschrieben werden. Daraus würde logisch folgen, dass alle Fragen des Typs ‚Ist dieses Verhalten ‚erlernt‘ oder ‚angeboren‘?‘ zugunsten der Genetik beantwortet werden müssen.
23
24
Pawlow stellte fest, dass die Speichelsekretion eines Hundes nicht erst mit dem Fressvorgang beginnt, sondern bereits beim Anblick der Nahrung. Er fand heraus, dass auch ein anderer Reiz, z. B. ein Klingelton die Sekretion von Speichel und anderen Verdauungssäften auslösen kann, wenn er regelmäßig der Fütterung vorausgeht. Längerfristig reichte bereits nur der Reiz aus, um die Speichelsekretion auszulösen. Pawlow erklärte das Geschehen durch das mehrmalige Zusammentreffen des Reizes mit dem anschließenden Fressvorgang, resp. zu einem späteren Zeitpunkt weggelassenen Fressvorgang. Pawlow definierte dieses Verhalten als konditionierten Reflex. „Wenn Herrchen müde ist – Gähnen steckt Hunde an“. Gähnen ist ansteckend. Das gilt auch für Hund und Herrchen, wie britische Wissenschaftler beobachtet haben. Hunde lassen sich demnach von Menschen zum Gähnen animieren. Dies könne auf ein rudimentäres Einfühlungsvermögen bei den Tieren hinweisen, schreiben die Wissenschaftler um Atsushi Senju von der Universität London im Fachblatt „Biology Letters“. Das Experiment habe erstmals gezeigt, dass nicht nur Menschen und Affen mit anderen mitgähnten. Zum ersten Mal sei damit auch ansteckendes Gähnen zwischen verschiedenen Arten nachgewiesen worden. In den Versuchen der Briten hatten 29 Hunde jeweils einem Forscher zunächst beim lautstarken Gähnen, dann beim lautlosen Öffnen des Mundes zugeschaut. Während beim kontrollierten Mundöffnen keiner der Hunde reagierte, ließen sich 72 Prozent der Tiere vom Gähnen des Mannes anstecken. (http://www.n-tv.de/1004227.html, 05.08.2008; Royal Society Publishing, Biological Letters, published 08/05/2008. 30.08.2008).
3.2 Der Lernprozess im Rahmen der kybernetischen Lerntypenlehre
73
Mit dem Begriff des wiederholbaren Kontexts geht zwangsläufig die Akzeptanz einer Hierarchie einher, hier ausdifferenziert in Form einer Hierarchie von logischen Typen: Reiz ist ein elementares inneres oder äußeres Signal. Der Kontext des Reizes ist eine Metamitteilung, die das elementare Signal klassifiziert. Der Kontext des Kontextes ist eine Meta-Metamitteilung, die die Metamitteilung klassifiziert, etc. Kontext kann als ein allgemeiner Terminus für alle jene Ereignisse angesehen werden, die dem Organismus mitteilen, unter welcher Menge von Alternativen er seine nächste Wahl treffen muss (ebd.: 374).
Im Rahmen des Lernen I führt Bateson hier den oben bereits beschriebenen Begriff der Kontext-Markierung ein und beschreibt beispielhaft weitere mögliche Kontext-Markierungen: Der heilige Stuhl, von dem aus der Papst Bekanntmachungen ex cathedra verkündet, die dadurch eine besondere Geltung erhalten, die Alarmsirene und ihr Entwarnungston, die Einhaltung der Etikette etc. Dankenswerterweise weist Bateson auch hier auf die formalen Probleme einer rein logischen Typenlehre im Verhältnis zu den teilweise analog gesteuerten Verhaltensweisen von Tieren und Menschen hin. Die logische Typenlehre hat in ihrer ursprünglichen Form nur mit streng digitaler Kommunikation zu tun und es ist zweifelhaft, wie weit sie sich auf analoge oder ikonische25 Systeme anwenden lässt. In der natürlichen Welt ist Kommunikation nur selten rein digital oder analog, meistens finden sich Mischformen, entsprechend verhält es sich mit Kontexten und Kontextmarkierungen: „Wenn eine Ratte mit einer Reihe von Erkundungstätigkeiten beginnt – tut sie das als Reaktion auf einen ‚Reiz‘? Oder als Reaktion auf einen ‚Kontext‘? Oder als Reaktion auf eine ‚Kontextmarkierung‘?“ (ebd.: 376). Wenn das Herrchen mit dem Hund ‚Gassi‘ geht, kann das Wort ‚Gassi‘ digital sein, es können aber auch analoge Signale sein, das Nehmen der Leine oder lebhaftere Bewegungen des Herrn, die dem Hund signalisieren, ein Spaziergang steht bevor (vgl. ebd.: 376). Trotz der nur partiell nutzbaren Theorie der logischen Typenlehre bieten die Begriffe des wiederholbaren Kontextes und der Kontext-Markierung richtungsweisende Maßstäbe zur Analyse tierischen und menschlichen Lernens an: „Der Begriff des wiederholbaren Kontexts ist eine notwendige Voraussetzung für jede Theorie, die ‚Lernen‘ als Veränderung definiert“ und „er enthält auch die Hypothese, dass die Abfolge der Lebenserfahrung, Aktion etc. bei den Organismen, die wir untersuchen, irgendwie in Subsequenzen oder ‚Kontexte‘ unterteilt ist, 25
bildhaft, anschaulich.
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3 Offene Lernprozesse als Voraussetzung für eine ökologisch orientierte Beratung
die der Organismus gleichsetzen oder differenzieren kann“ (ebd.: 377, hierzu auch Maturana & Varela 1987).
Lernen II ist eine (qualitative [P.B.]) Veränderung im Prozess des Lernens I, z. B. eine korrigierende Veränderung in der Menge von Alternativen, unter denen die Auswahl getroffen wird, oder es ist eine Veränderung in der Art und Weise, wie die Abfolge der Erfahrung interpunktiert wird“ (Bateson 1985: 379). Lernen II entspricht dem „Lernen zu lernen“ oder auch „Deutero-Lernen“26 und ist Voraussetzung für eine reflexive Handhabung der eigenen Realität. Im Lernen II entwickelt das Individuum ein Wissen darüber, wie Lernen I funktioniert und wie es zu verändern ist. Man kann in diesem Zusammenhang von einer Art der Reduktion der Komplexität des Lernens I sprechen, wobei zu berücksichtigen ist, dass durch das Lernen II andere, neue Komplexitäten aufgebaut werden. Im Lernen II muss es gelingen, Probleme von ähnlicher Anordnung, d. h. ähnliche Typen von logischer Komplexität, mittels Einbezug früher bereits erreichter Lösungen aufzulösen. In der klassischen „Übertragung“ in einem Beratungsprozess versucht der Klient den Austausch mit dem Berater nach den Voraussetzungen seines früheren Lernens II zu gestalten. Der Klient wird in einer Weise handeln, die seinem Glauben nach den Berater dazu zwingen, in einer Weise zu handeln, wie eine andere wichtige Person (gewöhnlich ein Elternteil) den Klienten in der näheren oder ferneren Vergangenheit behandelte. Im Lernen II innerhalb des Beratungsprozesses lernt der Klient unter dem Einfluss verschiedener Interventionstechniken und von den Kontextmarkierungen des Beraters neue eigene Kontextmarkierungen zu setzen, die ihm eine andere (reflexivere) Realitätswahrnehmung und -gestaltung ermöglichen. In dem Beispiel von dem Fisch und dem Tümmler stellt sich die Ebene Lernen II folgendermaßen dar: Die Tatsache des erhaltenen Fischs bestätigt das „Verständnis“ des Tümmlers von seiner (möglicherweise instrumentellen oder abhängigen) Beziehung zu dem Dresseur. Falls der Tümmler den Dresseur hasst oder fürchtet, kann der von diesem zugefügte Schmerz durch die Dressur eine positive Verstärkung sein, die den Hass bestärkt. Sprachlich ausgedrückt: „Wenn es nicht so ist, wie ich will, dann werde ich es beweisen“ (ebd.: 395). 26
„Ich habe diese Phänomene in der Vergangenheit sehr unglücklich als Deutero-Lernen bezeichnet und dies mit Lernen zu Lernen übersetzt. Richtiger wäre es gewesen, das Wort TritoLernen zu prägen und es zu übersetzen als ‚lernen, Signale empfangen zu lernen‘“ (ebd.: 327).
3.2 Der Lernprozess im Rahmen der kybernetischen Lerntypenlehre
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„Lernen III ist eine weitere (qualitative [P.B.]) Veränderung im Prozess des Lernens II, z. B. eine korrigierende Veränderung im System der Mengen von Alternativen, unter denen die Auswahl getroffen wird“ (ebd.: 379). Bateson definiert bei Lernen III diese Ebene nicht eindeutig, sondern beschreibt einerseits eher mögliche Denk- und Interpretationsmuster und andererseits philosophisch-geistig-mystische Ebenen des Daseins: Eine wesentliche und notwendige Funktion aller Gewohnheitsbildung und allen Lernens II besteht in einer Ökonomie der Denkprozesse (oder Nervenstränge), die für die Problemlösung oder das Lernen I eingesetzt werden. Die Prämissen dessen, was gemeinhin ‚Charakter‘ genannt wird – die Definition des ‚Selbst‘ – bewahren das Individuum davor, die abstrakten, philosophischen, ästhetischen und ethischen Aspekte vieler Lebensabschnitte überprüfen zu müssen: ‚Ich weiß nicht, ob das gute Musik ist, ich weiß nur, dass sie mir gefällt‘. Das Lernen III wird aber diese ungeprüften Prämissen offen in Frage stellen und der Veränderung aussetzen (ebd.: 392).
Einige der Veränderungen im Lernen III beschreibt Bateson folgendermaßen: Das Individuum könnte lernen, sich die „Auswege“ zu verbauen, die es ihm erlauben würden, Lernen II zu umgehen. – Es könnte lernen, die Gewohnheiten zu ändern, die durch Lernen II erworben wurden. – Es könnte lernen, dass es ein Geschöpf ist, das Lernen II unbewusst erreichen kann und dies auch tut. – Es könnte lernen, sein Lernen II einzuschränken und zu steuern. Wenn Lernen II ein Erlernen der Kontexte für Lernen I ist, dann sollte Lernen III ein Erlernen der Kontexte dieser Kontexte sein. Eine Paradoxie in dieser Aufzählung ist die Tatsache, dass Lernen III (d. h. Lernen über Lernen II) entweder zu einer Verstärkung des Lernens II oder zu einer Einschränkung und vielleicht einer Reduktion dieses Phänomens führt. Sicherlich muss es sich in einer größeren Flexibilität bei den Voraussetzungen niederschlagen, die durch den Prozess des Lernens II erworben wurden – „nämlich in einer Freiheit von ihrer auferlegten Knechtschaft“ (ebd.: 393). Hinsichtlich des Beispiels des Tümmlers beschreibt Bateson nicht, was der Tümmler auf der Ebene des Lernens III empfinden, „denken“ oder wie er reagieren könnte. Bateson geht davon aus, dass Lernen III eine Auflösung der erlernten Gegensätze des Lernens II beinhaltet und dass diese Auflösung viele Formen annehmen
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3 Offene Lernprozesse als Voraussetzung für eine ökologisch orientierte Beratung
kann, z. B. die Möglichkeit von der Psychiatrie als psychotisch etikettiert zu werden: Viele von Ihnen sehen sich daran gehindert, das Pronomen der ersten Person zu benutzen, [...] für Andere, Erfolgreichere, kann die Auflösung der Gegensätze ein Zusammenbruch von vielem sein, was auf Ebene II gelernt wurde, und zur Offenbarung einer Einfachheit führen, in der Hunger direkt zum Essen führt und das identifizierte Selbst nicht mehr für die Organisation des Verhaltens verantwortlich ist. Sie sind die unbestechlichen Unschuldigen dieser Welt (ebd.: 395).
Neben den Erfolgreicheren im Hinblick auf Lernen III gibt es noch die Kreativeren, denen „offenbart die Auflösung der Gegensätze eine Welt, in der die persönliche Identität in all den Beziehungsprozessen einer umfassenden Ökologie oder Ästhetik der kosmischen Interaktion aufgeht“ (ebd.: 395).27 Bei dem dargestellten Lerntypenmodell28 kann selbstverständlich nicht davon ausgegangen werden, dass die Hierarchie der Ebenen entsprechend einer Stufenleiter aufgebaut ist. Vielmehr muss davon ausgegangen werden, dass sich die Struktur des Lernens wie die des Handelns, der Erfahrung und der Organisation nicht vollständig in einem Modell abbilden lassen, das Aussagen über die Relation zwischen Mengen von verschiedenen logischen Typen ausschließt: Wenn M1 eine Menge von Aussagen ist, und M2 eine Menge von Aussagen über die Elemente von M1; dann ist M3 eine Menge von Aussagen über die Elemente von M2; wie aber sollen wir dann Aussagen über die Relation zwischen diesen Mengen klassifizieren? Beispielsweise kann die Aussage ‚Wie sich die Elemente von M1 zu den 27
Diesen zuletzt genannten Individuen gibt Bateson ein Gedicht von William Blake mit auf den Weg: To see the World in a Grain of Sand, And a Heaven in a Wild Flower, Hold infinity in the palm of your hand, And Eternity in an hour. Die Welt sehn in einem Körnchen Sand, den Himmel in einem Blütenrund, die Unendlichkeit halten in der Hand, die Ewigkeit in einer Stund. (Blake 1958: 239, zit. n. Bateson 1985: 396)
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Auf die Ebene des Lernens IV wird hier nicht mehr eingegangen, da Bateson keine eindeutigen Definitionen dafür abgeben kann: „Lernen IV wäre Veränderung von Lernen III, kommt aber vermutlich bei keinem ausgewachsenen lebenden Organismus auf dieser Erde vor. Der Evolutionsprozeß hat jedoch Organismen hervorgebracht, deren Ontogenese sie zum Lernen III bringt. Die Verbindung von Ontogenese und Phylogenese erreicht in der Tat Ebene IV. (ebd.: 379).
3.2 Der Lernprozess im Rahmen der kybernetischen Lerntypenlehre
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Elementen von M2 verhalten, so verhalten sich auch die Elemente von M2 zu den Elementen von M3‘ nicht innerhalb der unverzweigten Stufenleiter von Typen klassifiziert werden (ebd.: 397).
Das Modell stützt sich also auf die Prämisse, dass die Relation zwischen M2 und M3 mit der zwischen M1 und M2 vergleichbar ist, wie es in streng logischen Abstraktionen der Fall wäre.29 Das ist aber nicht der Fall, woraus sich die Frage ergibt, Beispiele für Lernen zu suchen, die nicht im Rahmen dieser Lernhierarchie klassifiziert werden können, die aber doch als Lernen über die Relation zwischen Stufen der Hierarchie an den Rand der Hierarchie fallen (vgl. ebd.: 398). Bateson führt hier als Beispiel die Kunst an, in der Lernen im Rahmen einer ‚Überbrückung der Kluft zwischen den mehr oder weniger unbewussten Prämissen, die durch Lernen II erworben werden, und dem eher episodischen Inhalt des Bewusstseins und der unmittelbaren Handlung‘ stattfindet.30 Der Autor vertritt hier die Auffassung, dass „Lernen über die Relation zwischen den Stufen“ sich als ein Lernen der Kontext-Markierungen begreifen lässt, das über Wiederholungen zu einer reflexiven Wahrnehmung dieser Kontexte führt. Es führt zu der Erfahrung, wie Lernen geschieht: Wie lerne ich und wie baue ich mir mein System des Lernens, des Lernens des Lernens auf? Wesentlich ist hierbei natürlich, dass, wie auch Bateson im Lernen II beschreibt, dieser Vorgang zu einem großen Teil eher unbewusst abläuft, wobei auch der Zeitrahmen und die Möglichkeit der Häufigkeit der Wiederholungen eine Rolle spielen. Es wird eher die Veränderung im Lernen als der eigentliche Prozess festgestellt. Diese Sichtweise wird durch die bereits zitierte Aussage, „der Begriff des wiederholbaren Kontexts ist eine notwendige Voraussetzung für jede Theorie, die ‚Lernen‘ als Veränderung definiert“ (s. o.), unterstützt. Ein zusätzlicher sehr wichtiger Aspekt der verschiedenen Lerntypen ist die Erkenntnis, dass auch ein 29
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Es versteht sich von selbst, dass das Modell nicht nur in eine Richtung geht, von Stufe null zur Stufe III, innerhalb des Modells wird angenommen, dass die höheren Ebenen niedrigere erklären und umgekehrt. Ebenso geht Bateson davon aus, dass eine „reflexive Relation – sowohl induktiv als auch deduktiv – zwischen Ideen und Lerneinheiten besteht, wie diese im Leben der von uns untersuchten Geschöpfe existieren“. Offen bleibt die Frage, ob zwischen getrennten Ebenen, zwischen Ebene I und Ebene III oder zwischen Ebene null und Ebene II direkt erklärende Relationen existieren, obwohl behauptet wird, dass es zwischen Ideen aus benachbarten Ebenen sowohl nach oben als nach unten erklärende oder bestimmende Relationen gibt (ebd.: 398 f.). Als Beispiel mag hier die Entwicklung einer eigenen Farbe stehen. Der französische Maler, Bildhauer und Performancekünstler Yves Klein (1928–1962) entwickelte das unter dem Namen „International Klein Blue“ patentierte Ultramarinblau.
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3 Offene Lernprozesse als Voraussetzung für eine ökologisch orientierte Beratung
strikter digitaler Diskurs eines gegebenen logischen Typs die Phänomene eines höheren Typs nicht erklären kann (vgl. ebd.: 381). Dieses verdeutlicht die Tatsache, dass in Lernprozessen die parallel laufende, vielleicht zeitlich versetzte digitale und analoge Änderung der Ebenen auch immer nur mit sich erweiternden Erklärungen beschrieben werden kann. Dieses betrifft dann die Veränderung der Kontext-Markierungen im Beratungs- und Therapieprozess. Über die Veränderung der Kontext-Markierungen lernt das Individuum oder das jeweilige soziale System, neue Sinnzusammenhänge zu konstruieren und im „neuen wiederholbaren Kontext“, im neuen Rahmen, auszuprobieren und zu etablieren. Als Beispiel für die Veränderung und die Möglichkeit zum ‚Um- oder Neulernen‘ in Beratungsprozessen steht hier die immer wieder erwähnenswerte prozesshafte, zirkuläre Weltsicht des systemischen Modells, durch deren Konfrontation mit dem Denken des Klienten häufig eine Änderung des Kontextrahmens entsteht:
Jedes Verhalten macht Sinn, wenn man den Kontext kennt. Es gibt keine vom Kontext losgelösten Eigenschaften einer Person. Jedes Verhalten hat eine sinnvolle Bedeutung für die Kohärenz resp. den Kontext des Gesamtsystems. Es gibt nur Fähigkeiten. Probleme ergeben sich daraus, dass Kontext und Fähigkeit nicht optimal zueinander passen. Jeder scheinbare Nachteil in einem Teil des Systems zeigt sich im Kontext an anderer Stelle als möglicher Vorteil (vgl. von Schlippe & Schweitzer 2002: 179).
Auch wenn mit diesen Aussagen von einem „systemischen Belief-System“ gesprochen werden kann, zeigt die Beratungs- und Therapiepraxis die Funktionalität dieser Aussagen. Zur Lerntypenlehre Batesons lässt sich zusammenfassend sagen, dass er bei den Ebenen ‚Lernen III und Lernen IV‘ hinsichtlich der Erreichung und Veränderungsprozesse dieser Ebenen sich eher zurückhaltend spekulativ und teilweise diffus ausdrückt, beziehungsweise eher Aussagen in einem philosophisch-mystisch-spirituellen Rahmen tätigt. Diese Sichtweise wird auch durch das Zitat von William Blake unterstützt wird. Bateson unterschätzt im Rahmen der Ebene Lernen III allerdings auch die Fähigkeit des Menschen, sich rekursiv auf einfachere Formen des Lernens einlassen zu können und im nächsten Augenblick die volle
3.3 Der Lernprozess als strukturelle Koppelung des Menschen mit der Umwelt
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Komplexität reflexiver Lernerfahrungen zu nutzen. Anders formuliert, der Mensch kann morgens trockenes Brot und abends ein Sechs-Gänge-Menü essen. Im Rahmen der Ebenen „Lernen null, Lernen I und Lernen II“ wird mit der Einführung einer mehrere Ebenen umfassenden, partiell logisch begründeten Lernstruktur die Möglichkeit einer idealtypischen modellhaften Darstellung angeboten, wie Lernen, Reflexivität und Reduzierung von Komplexität in den Bereichen des Denkens, Fühlens und Handelns und in ihrer Beziehung zur Umwelt stattfinden und sich weiterentwickeln. Im Beratungs- und Therapieprozess kann dieses Instrument dazu dienen, dem Klienten(-system) eine Struktur aufzuzeigen, wie Lernen und insbesondere Lernen über Lernen stattfindet, und dadurch eine Hilfestellung zu geben, sich mit emotionalen, sozialen und ökologischen Fragestellungen auseinanderzusetzen, die häufig über Lernprozesse erfahren werden. Es mag sich banal lesen, doch gerade mit biologischen und ökologischen Beispielen, die auch in dieser Arbeit genutzt werden (s. u.), lassen sich hervorragend die Entwicklung komplexer Strukturen darstellen.
3.3 Der Lernprozess als strukturelle Koppelung des Menschen mit der Umwelt Maturana & Varela betrachten das Phänomen des Lernens nicht aus der ‚partiellen Perspektive‘ eines logischen Mehrebenenmodells im Sinne einer Stufenleiter, sondern als eine Form der Konstruktion, bei der die Beziehung eines autopoietischen31 Systems zu seiner Umwelt erst hergestellt, beziehungsweise aufrechterhalten wird, und sie verstehen „Lernen als Ausdruck einer Strukturkoppelung, in der die Verträglichkeit zwischen der Arbeitsweise des Organismus und des Milieus aufrechterhalten wird“ (1987: 188). 31
Autopoiese, aus dem Griechischen: autó- und poíesis bedeutet wörtlich übersetzt Selbsthervorbringen und beschreibt die Eigenschaft von Systemen, die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst zu produzieren und ständig zu reproduzieren. Das Selbstorganisationsprinzip lebender Systeme wurde von Maturana & Varela eingeführt, um zu beschreiben, dass ein lebendes System durch seine eigene interne Struktur bestimmt, wie es sich an die Umwelt anpasst. Ein lebendes System (z. B. das System Mensch) ist auf diese Weise operational geschlossen. Die internen Strukturen sind immer selbstreferentiell (selbstbezüglich). Vgl. http://www.ib.huberlin.de/~wumsta/infopub/textbook/definitions/b7.html. (21.04.2009); Maturana & Varela 1987: 14, 55, 112f., 129.
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3 Offene Lernprozesse als Voraussetzung für eine ökologisch orientierte Beratung
Die strukturelle Koppelung eines Menschen mit seiner Umwelt (Milieu) ist nach Maturana & Varela kein statisches Verhältnis, sondern immer das vorläufige Resultat wechselseitiger Interaktionen zwischen beiden Systemen. Dieser Prozess determiniert die Entwicklung beider Systeme. Der Mensch wird in ein Milieu hinein geboren, in dem er interagiert. Das Milieu ist eine Umgebung mit einer eigenen strukturellen Dynamik, die von der des Menschen operational verschieden ist. Diese operationale Unterscheidung verhilft dazu, einen Menschen als eine Einheit vor einem Hintergrund zu unterscheiden und ihn als eine ganz bestimmte Organisation zu charakterisieren. Damit sind zwei Strukturen unterschieden (Lebenswelt und Milieu), welche als operational unabhängig angesehen werden, auch wenn zwischen ihnen notwendigerweise eine strukturelle Einheit (Koppelung) vorliegen muss. Bei der Interaktion zwischen dem Menschen und dem Milieu innerhalb dieser strukturellen Überseinstimmung determinieren die Perturbationen32 des Milieus nicht, was dem Menschen geschieht; es ist vielmehr die Struktur des Menschen, die determiniert, zu welchem Wandel es infolge der Perturbation in ihm kommt. Eine solche Interaktion schreibt deshalb ihre Effekte nicht vor. Sie determiniert sie nicht und ist von daher nicht ‚instruierend‘, man kann davon sprechen, dass eine Wirkung ‚ausgelöst‘ wird. Der Wandel, der aus den Interaktionen zwischen dem Menschen und seiner Umgebung resultiert, wird zwar von einem perturbierenden Agens hervorgerufen, aber von der Struktur des perturbierten Systems determiniert. Dasselbe gilt für das Milieu, für das in diesem Fall der Mensch eine Quelle von Perturbationen und nicht von Instruktionen ist (vgl. ebd.: 105 f.). Solange ein Mensch nicht in eine destruktive Interaktion mit seinem Milieu eintritt, wird zwischen der Struktur des Milieus und derjenigen der Einheit eine Verträglichkeit (Kompatibilität) bestehen. Solange diese Verträglichkeit vorhanden ist, wirken Milieu und Mensch füreinander als gegenseitige Quellen von Perturbation. Sie lösen gegenseitig beim jeweils anderen Zustandsveränderungen aus – ein ständiger Prozess, der als strukturelle Koppelung bezeichnet wird (vgl. ebd.: 110).
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Perturbation, aus dem Lateinischen: perturbatio = Verwirrung, Unordnung, Störung. Perturbationen sind Zustandsveränderungen in der Struktur eines Systems, die von den Zuständen in dessen Umwelt ausgelöst werden. Ein von Maturana in den Konstruktivismus eingeführter Begriff, der heute meist eher im Bereich sozialer Systeme im Sinne von Verstörung benutzt wird (http://www.uni-koeln.de/hf/konstrukt/didaktik/woerterbuch/perturbation.html, 16.08.08).
3.3 Der Lernprozess als strukturelle Koppelung des Menschen mit der Umwelt
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Auf Lernprozesse bezogen bedeutet dieses, die Umwelt in ihrer jeweiligen Komplexität in eine ‚strukturell gekoppelte Beziehung‘ zum Individuum zu setzen. Entscheidend für Lernprozesse ist aber nicht die ‚Instruktion‘ durch eines der beteiligten Systeme, sondern die ‚Verstörung‘ eines Systems durch das andere, der Lernprozess erhält den unmittelbaren Kontextbezug zu dem strukturell gekoppelten System und damit eine neue Dynamik, die alle strukturell aufgebauten Ebenen mit einbezieht. Die Perturbation wird zum Agens der Weiterentwicklung beider Systeme, die Systeme selbst determinieren in diesem Rahmen ihre eigene Weiterentwicklung, die immer in Richtung Aufrechterhaltung der Autopoiesis geht und bleiben in wechselseitiger ‚Abhängigkeit‘ auch dieser Zielrichtung untergeordnet (außer es kommt zu einer destruktiven Veränderung, einer Strukturveränderung, die zum Verlust der Organisation einer Einheit und damit zu ihrer Auflösung führt, z. B. bei einer Ehescheidung). Lernen und Gedächtnis werden von Maurana & Varela nicht als Phänomene betrachtet, die Verhaltensänderungen infolge eines ‚Aufnehmens‘ oder ‚Empfangens‘ von etwas aus dem Milieu darstellen und Lernen ist demnach auch keine Verinnerlichung von Erkenntnissen oder Materialien oder von Informationen des jeweiligen Milieus (z. B. in der Ausbildung), sondern Lernen ist ein aktiver Prozess eines Systems innerhalb der strukturellen Koppelung. „Das Sein und das Tun einer autopoietischen Einheit sind untrennbar, und dieses bildet ihre spezifische Art von Organisation“ (ebd.: 56). Huschke-Rhein (vgl. 2003: 126 f.) führt hierzu aus, dass eine Biene auf Grund ihrer strukturellen Koppelung mit ihrem Milieu bestimmte Blumen anfliegen und dort Nektar saugen kann, ein Beispiel für ein System, „welches im Operieren seine gesamte Phänomenologie hervorbringt“ (Maturana & Varela 1987: 56). Das Sein der Biene ist zirkulär mit ihrem Tun, mit ihrem „Operieren“ verbunden und prinzipiell gilt der Satz der Zirkularität von Sein und Tun auch für den Menschen, wie im Folgenden dargestellt wird. Gemeinsam haben die Biene und der Mensch, dass sie wie alle autopoietischen Lebewesen mit ihrem Milieu strukturell gekoppelt sind. Sie sind aber nicht von ihrer Umwelt determiniert, sondern sie bestimmen auf Grund ihrer Organisation als autopoietische Lebewesen die Interaktionen mit ihrem Milieu als „auto-
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3 Offene Lernprozesse als Voraussetzung für eine ökologisch orientierte Beratung
nome Systeme“.33 Sie sind ihrer Umwelt gegenüber operational unabhängig. Dabei müssen sie sowohl für Verträglichkeit und für die Aufrechterhaltung der strukturellen Koppelung mit ihrer Umwelt sorgen als auch destruktive Veränderungen vermeiden, da sich die Einheit sonst auflöst. Vereinfacht formuliert liegt beim Menschen im Gegensatz zur Biene diese strukturelle Koppelung nicht einfach vor, sondern muss mit Hilfe eines „adäquaten Lernens“ (ebd.: 186) in der Form der „sozialen Koppelung“ (ebd.: 251) dauernd neu organisiert werden. Die Komplexität des Menschen führt zu hochkomplexen Umweltbeziehungen und diese hohe Komplexität muss handhabbar, operationabel gehalten werden, wenn sie verträglich für das Leben und das jeweilige Milieu bleiben soll. Dieses „adäquate Lernen“ für die „soziale Koppelung“ in hochkomplexen sozialen Systemen geschieht mittels der Sprache, auf die im Folgenden nach einigen Ausführungen zum Driften von (autopoietischen) Systemen bei ihrer Entscheidungsfindung detaillierter eingegangen wird. Maturana und Varela sehen die Evolution als ein strukturelles Driften bei einer fortwährenden phylogenetischen Selektion. Dabei gibt es keinen Fortschritt im Sinne einer Optimierung der Nutzung der Umwelt, sondern nur die Erhaltung der Anpassung und Autopoiese in einem Prozess, in dem Organismus und Umwelt in dauernder Strukturkoppelung bleiben (vgl. ebd.: 127). Im Begriff des strukturellen Driftens wird nochmals betont, dass z. B. die Systeme Mensch und Milieu ihre eigene Weiterentwicklung unabhängig von den jeweiligen Perturbationen determinieren. Dabei driften die Systeme entsprechend den ihnen gebotenen Verstörungen in neue Strukturvariationen, allerdings nur in solche, die zu jedem Zeitpunkt entsprechende mögliche Bahnen anbieten. Maturana und Varela beschreiben in ihrer „Wassertropfen-Analogie“ (ebd.: 119 ff.) die organische Evolution. Wassertropfen fließen einen Berg herunter. Es zeigt sich sehr schnell, dass nicht jeder Wassertropfen den gleichen Weg bergab nimmt. Einige Tropfen werden geradewegs herunter fließen; andere werden Hindernisse auf ihrem Weg antreffen und ihnen in Folge ihrer geringen Unterschiede an Gewicht und Impuls auf verschiedene Weise ausweichen, indem sie zu der 33
„Wir verwenden den Begriff Autonomie in seiner üblichen Bedeutung. Das heißt, ein System ist autonom, wenn es dazu fähig ist, seine eigene Gesetzlichkeit beziehungsweise das ihm Eigene zu spezifizieren. Wir schlagen nicht vor anzunehmen, dass Lebewesen die einzigen autonomen Wesen sind; sie sind es sicherlich nicht. Es ist aber evident, dass seine Autonomie einer der unmittelbarsten Aspekte eines Lebewesens ist. Nach unserer Ansicht ist deshalb der Mechanismus, der Lebewesen zu autonomen Systemen macht, die Autopoesie; sie kennzeichnet Lebewesen als autonom“ (a.a.O: 55).
3.3 Der Lernprozess als strukturelle Koppelung des Menschen mit der Umwelt
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einen oder anderen Seite hin tendieren. Potenziell ändert sich die Windrichtung und die Tropfen werden in verschiedene Richtungen abgelenkt und ebenso ist es möglich, dass die Spuren vorangegangener Tropfen den Grund für den Weg der nachfolgenden verändert haben. Maturana & Varela nutzen diese Analogie für das Entstehen des Artenreichtums der organischen Evolution. Die Evolution ist ein natürliches Driften, ein Ergebnis der Erhaltung von Autopoiese und Anpassung. Wie im Fall der Wassertropfen ist keine äußere lenkende Kraft notwendig [...] Wir müssen auch keine lenkende Kraft annehmen, damit wir die Richtung der Variationen innerhalb einer Abstammungslinie erklären können. Und schließlich ist es auch nicht so, dass im Verlauf der Evolution eine besondere Qualität der Lebewesen optimiert wird. Die Evolution ähnelt eher einem wandernden Künstler, der auf der Welt spazieren geht und hier einen Faden, da eine Blechdose, dort ein Stück Holz aufhebt und diese derart zusammenstellt, wie ihre Struktur und die Umstände es erlauben, ohne einen weiteren Grund zu haben, als den, dass er es zusammenstellen kann. Und so entstehen während seiner Wanderung die kompliziertesten Formen aus harmonisch verbundenen Teilen, Formen, die keinem Entwurf folgen, sondern einem natürlichen Driften entstammen (a.a.O.: 129).
Bei diesen Überlegungen zum Driften ist es für meine Zielsetzung von Interesse, dass Lernen im Rahmen der strukturellen Koppelung nicht nur permanent individuelle Lösungen „findet“, sondern dass diese Lösungen offensichtlich in einer Bandbreite von Möglichkeiten erfolgen können, die durch die zur Zeit möglichen „Erweiterungen“ des Milieus angeboten werden und umgekehrt. Damit ist der Berater/Therapeut und der Klient ebenso wie der Naturwissenschaftler auf der Ebene verloren, auf der jedes Einzelphänomen beschrieben werden soll: Wie können sämtliche Umweltbedingungen, z. B. in der Veränderung eines Tierstammes und zusätzlich die strukturelle Koppelung dieses, oder wie können die Milieus eines Klienten einschließlich seiner strukturierten Koppelung an diese in jedem Detail beschrieben werden? Im Hinblick auf den Entwurf einer veränderten Zukunft im Rahmen von Beratung und Therapie bietet die Möglichkeit des Driftens allerdings verschiedene Alternativen. Es bieten sich z. B. Alternativmöglichkeiten kreativer zirkulärer Fragen an, wie: „Finden sich in meinem Beziehungssystem unter ökologischen Aspekten spezifische Gemeinsamkeiten“? Weiterhin bietet sich die Möglichkeit an, ökologische Aspekte im Verhältnis des Individuums zu seinem Milieu zu thematisieren und darüber neue Lernmöglichkeiten zu entwickeln (siehe z. B. Kapitel 9). Aber auch die Aufarbeitung der individuellen Vergangenheit kann unter dem Aspekt bearbeitet werden, dass z. B. Elternteile oder Bezie-
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hungspartner in ihrer strukturellen Koppelung mit dem vorhandenen Milieu keine anderen Alternativen beim „Driften“ erkannt haben und dass von dieser Ebene aus betrachtet der Entwicklungsprozess des Individuums vielleicht nicht so ein „dramatischer“, sondern in dem Zeitrahmen, in dem dieser Prozess stattgefunden hat, vielleicht ein eher „normaler“ war. Weiterhin ist es von Interesse, ob in dem Entwicklungszeitrahmen das notwendige Lernpotenzial überhaupt zur Verfügung gestanden hat resp. zur Verfügung stehen konnte. Wie erwähnt findet „adäquates Lernen“ in hochkomplexen sozialen Systemen zu einem großen Teil mittels der Sprache statt. In sozialen Systemen ist die Sprache das Vermittlungsagens. Wörter sind Zeichen für sprachliche Koordinationen von Handlungen und nicht von Dingen, die von hier nach da weitergegeben werden. Es ist die menschliche Geschichte rekursiver Interaktionen, die dem ontogenetischen strukturellen Driften im Rahmen einer Koppelung erlaubt, was die interpersonelle Koordination von Handlungen verlangt. Dieses Phänomen findet in einer Welt statt, die die Menschen miteinander teilen, da die Menschen diese Welt gemeinsam durch Handlungen spezifiziert haben (vgl. ebd.: 251). Huschke-Rhein beschreibt dieses Phänomen im Rahmen der konstruktivistischen Erkenntnistheorie dahingehend, dass „alles Wissen und Erkennen schon einen ‚operativen‘, also handlungsbezogenen Sinn hat. Es gibt kein Wissen, das folgenlos oder handlungsneutral wäre, auch wenn wir das manchmal so finden oder uns wünschen. Jedes Erkennen ist eine ‚Operation‘ (‚operatio‘ heißt wörtlich ‚Tätigkeit‘), eine Handlung des Systems, die konkrete Voraussetzungen und Folgen hat, die ‚kontextuell operiert‘, die, wie Bateson sagt, durch ihre ‚Rahmung‘, oder wie Watzlawick sagt, durch ihre ‚Interpunktion des Kontextes‘ bestimmt wird“ (Huschke-Rhein 2003: 126). Ein lebendes System ist auf jeder Ebene so organisiert, dass es innere Regelmäßigkeiten erzeugt. Das Gleiche geschieht in der sozialen Koppelung durch die Sprache im Netzwerk der Gespräche, das die Sprache hervorbringt und das, durch seine Geschlossenheit, die Einheit einer bestimmten menschlichen Gesellschaft konstituiert. Diese ontologisch betrachtet neue Dimension der operationalen Kohärenz (des „tätigen Zusammenhangs“) unseres gemeinsamen In-derSprache-seins ist das, was Menschen als Bewusstsein oder als „unseren Geist“ und „unser Ich“ erfahren. Nach Maturana & Varela gibt es kein Selbstbewusstsein ohne die Sprache als ein Phänomen der sprachlichen Rekursion. Selbstbewusstsein, Bewusstheit, Geist sind daher Phänomene, die in der Sprache stattfinden. Deshalb finden sie im Bereich der sozialen Koppelung statt (vgl. Maturana & Varela 1987: 249 f.).
3.3 Der Lernprozess als strukturelle Koppelung des Menschen mit der Umwelt
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Erkenntnistheoretisch ergibt sich aus den Beschreibungen Maturanas & Varelas eine Sichtweise der Welt, in der der Mensch in Koexistenz mit anderen Menschen die Welt hervorbringt. Die Menschen sind Beschreiber und Beobachter der Welt und sie bringen diese Welt in einer „Mischung aus Regelmäßigkeit und Veränderlichkeit, in einer Kombination aus Festigkeit und Flüchtigkeit hervor“ (ebd.: 259). Sie befinden sich in einem zirkulären Prozess des sich selbst bestätigenden Werdens, von Interaktion zu Interaktion befinden sie sich ständig in einem Kreis verwoben, dessen Ergebnisse von der Geschichte abhängen, die gerade erzeugt wird. „Wirksames Handeln führt zu wirksamem Handeln. Das ist der kognitive Kreis, der unser Sein in einem Werden charakterisiert, welches Ausdruck unserer Weise ist, autonome lebende Systeme zu sein“ (ebd.: 260). Nach dieser Erkenntnistheorie bewegt sich das Leben des Menschen in einem kreisförmigen Entwicklungsprozess ohne direkten fest verankerten Bezugspunkt fort, da sich durch die strukturelle Koppelung und durch das Driften permanente Veränderungen der Wahrnehmung und Beschreibung ergeben. Eine objektive Welt, die von uns als Beobachter unabhängig und die unserem Erkennen durch unser Nervensystem zugänglich ist, wie z. B. bei Descartes, ist nach dieser Erkenntnistheorie nicht möglich: So sind wir mit dem Problem konfrontiert zu verstehen, wie unsere Erfahrung – unsere Lebenspraxis – mit einer uns umgebenden Welt gekoppelt ist, die erfüllt zu sein scheint von Regelmäßigkeiten, die in jedem einzelnen Fall das Ergebnis unserer biologischen und sozialen Geschichte sind (ebd.: 259).
Um weder den Objektivismus noch den Idealismus zu bevorzugen, wird ein „Mittelweg“ vorgeschlagen, die Regelmäßigkeit der Welt, die wir in jedem Moment erfahren, zu verstehen, ohne einen Bezugspunkt vorauszusetzen, der unabhängig von uns ist und der unsere Beschreibungen und kognitiven Annahmen als Gewissheiten erscheinen lassen könnte (ebd.: 259).
Menschen haben ihre biologische Tradition gemeinsam. Diese begann mit dem Ursprung der Reproduktion in autopoietischen Systemen und einer kulturellen Tradition, die vor wenigen Millionen Jahren mit der Abstammungslinie der Hominiden ihren Anfang nahm. Dieses gemeinsame biologische Erbe ist die Grundlage für die Welt, die die menschlichen Wesen gemeinsam durch kongruente Unterscheidungen hervorbringen. Trotz dieser Unterscheidungen ist die Natur für alle dasselbe: Wir stimmen darin überein, dass der Himmel blau ist und dass die Sonne jeden Tag aufgeht. Gleichzeitig gestattet dieses gemeinsame biologische
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Erbe jedoch, dass die verschiedensten kulturellen Welten hervorgebracht werden (vgl. ebd.: 261). Wichtig ist, dass der Mensch lernt, wie er erkennt: „Erkennen hat nicht mit Objekten zu tun, denn Erkennen ist effektives Handeln; und indem wir erkennen, wie wir erkennen, bringen wir uns selbst hervor“ (ebd.: 262). Maturana & Varela berufen sich u. a. zur Illustration ihrer Erkenntnistheorie auf den Schöpfungsmythos des alten Testaments. Als Beispiel dienen Adam und Eva, die, als sie die Frucht vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse aßen, sich fortan bedeckten und als Gott sie zur Rede stellte, sich gegenseitig beschuldigten. Adam und Eva hatten sich in andere Wesen verwandelt, die nie mehr zu ihrer ursprünglichen Unschuld zurückkehren sollten. Vor dem „Sündenfall“ kam ihre Erkenntnis der Welt in ihrer Nacktheit zum Ausdruck. In ihrer Nacktheit bewegten sie sich in der Unschuld des bloßen Kennens. Nach dem Sündenfall wussten sie, dass sie nackt waren; sie wussten, dass sie wussten, sie erkannten, dass sie kannten (vgl. ebd.: 263). Hinsichtlich des Erkennens des Erkennens besteht eine enge Analogie zu Batesons „das Lernen lernen“. Es handelt sich um die gleiche reflexive Grundfigur, die einerseits erfahrene Komplexität reduziert, andererseits neue Komplexität aufbaut, die den Menschen zu einer aufgeklärteren Sichtweise, zu anderen Handlungsformen und zur Erschaffung einer anderen humaneren Realität anleiten soll. Die Erkenntnis der Erkenntnis verpflichtet über ihr Erkennen hinaus zu einer Ethik, deren Bezugspunkt die Bewusstheit der biologischen und sozialen Struktur des Menschen ist. Es ist eine Ethik, die aus der menschlichen Reflexion entspringt und die die Reflexion, die das Menschliche ausmacht, als ein konstitutives soziales Phänomen in den Mittelpunkt stellt (ebd.: 264).
Die Welt wird notwendigerweise in der Kooperation mit anderen Menschen hervorgebracht. Im Falle eines Konflikts mit einem anderen menschlichen Wesen, mit dem in Koexistenz gelebt werden will, kann nicht auf dem beharrt werden, was für die eine Person im Sinne einer absoluten Wahrheit gewiss ist, weil dieses die andere Person negieren würde.34
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Dieser Ansatz ist im Rahmen des Aushandelns des Alltäglichen nicht weit entfernt von der „Kritischen Theorie“ der Frankfurter Schule, in der eine teleologische Perspektive entwickelt wurde, die sich an der „Idee einer vernünftigen, der Allgemeinheit entsprechenden Organisation“ (Horkheimer 1968: 162) orientierte.
3.3 Der Lernprozess als strukturelle Koppelung des Menschen mit der Umwelt
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In diesem Rahmen kann auch von einem dialektischen Denkmodell gesprochen werden: „Das Denken hat hier (im dialektischen Denkmodell [P.B.]) die Aufgabe, die Realität so zu entfalten, auseinanderzulegen, wie diese sich selbst entwickelt“ (Schlüter 1983: 37). Die „Dialektik der Wirklichkeit“ stellt sich als eine Wechselwirkung von Faktoren dar, die miteinander rückgekoppelt sind (Simon-Schaefer 1973: 148). Die dialektische Triade als Denkmodell erkennt das Vorhandene, die These (z. B. biologische Struktur), in seiner Beschränktheit (Einfachheit) und transzendiert35 diese mit Hilfe des Erkennens einer anderen Realität, der Antithese (z. B. soziale Struktur). Aus der Erkenntnis der relativen Wahrheit der These und Antithese entwickelt sich die Synthese, die den Widerspruch von These und Antithese in sich vereinigt (z. B. Ethik der Menschlichkeit als konstitutives soziales Phänomen). Die Synthese bietet also gleichzeitig eine Erklärung für das von der These wie auch von der Antithese Erfasste, wobei die Synthese das relativ Wahre von These und Antithese im Hegelschen Sinne in sich aufhebt. Das Elixier, das das Menschliche und dessen Reflexion antreibt und weiterentwickelt, ist die Liebe oder „das Annehmen einer anderen Person neben uns selbst im täglichen Leben“ (Maturana & Varela 1987: 266). Emotionen wie Liebe haben eine biologische Dynamik mit tief reichenden Wurzeln. Liebe, Furcht, Zorn, Traurigkeit etc. sind Emotionen, die im Organismus dynamische strukturelle Muster mit tiefen Wurzeln definieren. Diese Emotionen sind ein entscheidender Schritt zu den Interaktionen, die zu den zielorientierten Zusammenhängen des sozialen Lebens führen oder in andere Bereiche der operationalen Kohärenz, Flucht, Kampf, Rückzug etc. Ohne Liebe, ohne dass wir andere annehmen und neben uns leben lassen, gibt es keinen sozialen Prozess, keine Sozialisation und damit keine Menschlichkeit. Alles, was die Annahme anderer untergräbt – vom Konkurrenzdenken über den Besitz der Wahrheit bis hin zur ideologischen Gewissheit – unterminiert den sozialen Prozess, weil es den biologischen Prozess unterminiert, der diesen erzeugt (ebd.: 266).
Nach Maturana & Varela ist es notwendig die Identität zwischen Wahrnehmen und Handeln zu akzeptieren, zu erkennen, dass jedes Wissen ein Tun ist und alles menschliche Tun sich als ein In-der-Sprache-Sein abspielt und damit ein soziales Geschehen ist. Diese Erkenntnisse implizieren eine Ethik der Menschlichkeit. Eine Leugnung dieser bedeutet, menschliche Wesen nicht als Lebewesen zu 35
Aus dem Lateinischen: über einen Bereich hinaus in einen anderen übergehen (vgl. Duden 1974).
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3 Offene Lernprozesse als Voraussetzung für eine ökologisch orientierte Beratung
sehen. „Alles, was wir tun, ist ein struktureller Tanz in der Choreographie der Koexistenz“ (ebd.: 267). Aus der Zirkularität von Handeln und Erfahrung, dem Tanz in einer ständigen strukturellen Koppelung, ergibt sich die bekannte Aussage: „Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun.“ Die Erfahrung von jedem Ding und jeder Wahrnehmung, auch die der eigenen Emotionen wird auf eine spezifische Weise durch die menschliche Struktur konfiguriert, welche das Ding, das in der Beschreibung entsteht, erst möglich macht. „Jeder Akt des Erkennens bringt eine Welt hervor“, entsprechend bringt die Zirkularität von Handeln und Erfahrung eine Untrennbarkeit von „einer bestimmten Art zu sein“ und von „der Art wie die Welt uns scheint“ mit sich (ebd.: 31). Huschke-Rhein erweitert diese „Kernaphorismen“ hin zu einem konstruktivistisch erweiterten Begriff des Lernens: „Jeder Akt des Lernens bringt eine Welt hervor“ (Huschke-Rhein 2003: 125). Jedes Lernen ist ein Erkennen und jedes Lernen ist auch ein Tun. Die konstruktivistische Sichtweise der Zirkularität zwischen Wissen, Erfahrung und Handlung lässt sich in der Hypothese formulieren: „Es gibt eine Zirkularität zwischen Lernen, Erfahren und Handeln“ (ebd.: 125). Grundsätzlich ergibt sich aus der dargestellten Erkenntnistheorie von Maturana & Varela für Beratung und Therapie die Frage: Sind alle Möglichkeiten, per se alle Lernprozesse, die das Driften als Lern- und Veränderungsprozess anbietet, innerhalb der strukturellen Koppelung von Mensch und Milieu ausgeschöpft? Diese Frage wird nicht beantwortet werden können, da im ‚Rahmen‘ von Beratung und Therapie nicht alle strukturell vorhandenen Möglichkeiten erkannt werden können. Beratern und Therapeuten bleibt die Möglichkeit, durch ein mehr an Aufmerksamkeit, an Wahrnehmung, mittels nicht nur zirkulären, sondern „erweiternden und offenen Fragestellungen“ und durch „Unterricht“36 oder „Modelllernen“ neuer und anderer Sichtweisen, z. B. ökologischer, der vorhandenen Realität den Möglichkeiten neuer „offener“ Lernerfahrungen näher zu kommen und darüber Selbstlernkompetenzen aufzubauen.
36
„Unterricht“ mag sich im Zusammenhang von Beratung und Therapie lächerlich anhören, doch die Realität zeigt, dass viele psychosozialen Schwierigkeiten durch Nichtwissen und durch „Nichtlernmöglichkeiten“ entstanden sind und als ‚reziproke strukturelle Koppelung‘ ihre problembehaftete Sichtweise durch die Jahre weiterentwickeln.
3.4 Der Lernprozess als strukturelle Koppelung von Affekt und Kognition
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3.4 Der Lernprozess als strukturelle Koppelung von Affekt und Kognition In der weiteren Darstellung systemisch-ökologischer Lernprozesse werden die Untersuchungen von Luc Ciompi (Schweizer Psychiater und Systemtheoretiker) zum Verhältnis von Denken und Gefühl (1988, 2005, 2007) mit einbezogen, weil die Affektlogik Ciompis eine Erklärungs- und Entwicklungsbasis für das Verhältnis von Emotion und Kognition in Lernprozessen anbietet. Ciompi unternimmt im Rahmen seines Entwurfs einer fraktalen Affektlogik (2005) den Versuch, die Relevanz emotionaler Einwirkung auf die kognitiven Funktionen des Menschen darzustellen. Die Affektlogik verbindet und erhellt nach Ciompis Sichtweise die drei wichtigsten wissenschaftlichen Zugänge zum menschlichen Verhalten, über die wir zur Zeit verfügen, nämlich (der [P. B.]) psychodynamische, (der [P. B.]) soziodynamische und (der [P. B.]) neurobiologische Ansatz. Insofern stellt sie weniger eine radikal neue Theorie oder Schule dar, die alles Bisherige über den Haufen wirft, als eine in innovativer Weise komplexitätsreduzierende Basis- oder Metatheorie, die bisher scheinbar Heterogenes aus übergeordneter Perspektive neu ordnet und integriert“ (Ciompi 2007: 41).
Ciompi geht ähnlich wie Bateson in seiner „Ökologie des Geistes“ (1985, s. o.) von einer „Feldtheorie“ des Geistes aus, die er sozusagen empirisch als „Relativitätstheorie des Geistes“ versteht. Dabei bilden Denken und Fühlen zusammen eine Form der „Verdichtung von Energie“, die sich gegenseitig und ihre Umgebung jeweils „anziehen“ und eine Art „Knotenpunkt“ im Feld bilden, ähnlich wie bei Einstein Gravitation als Krümmung des Feldes durch Energie und Masse im Feld verstanden wird (Huschke-Rhein 2003: 132). Denken und Fühlen sind demnach „Bezugssysteme“, die aufeinander bezogen sind (siehe die oben beschriebene strukturelle Koppelung bei Maturana & Varela) und erst zusammen im Feld ihre ganze Energie entfalten können. Die ‚Eigenwahrheit‘ (autopoietische Selbstbestimmung) eines jeden affektiv-kognitiven Bezugssystems beeinflusst und ‚krümmt‘ also in der Tat das umliegende psychische und psychosoziale Feld prinzipiell gar nicht anders, als lokal verdichtete, materielle ‚Bezugssysteme‘ benachbartes materielles Geschehen beeinflussen (Ciompi 1988: 250 f.).
Im Prinzip handelt es sich um eine Verstörung des „anderen“ Systems, z. B. das des Milieus wie bei Maturana & Varela beschrieben.
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3 Offene Lernprozesse als Voraussetzung für eine ökologisch orientierte Beratung
Eine derartige ‚Gravitationskraft‘ wird von psychischen Verdichtungen beliebiger Größenordnung ausgeübt, sowohl von einzelnen Begriffen oder ganzen Theorien, Ideologien, wie auch von einzelnen Menschen oder ganzen Gruppen, Staaten etc. Naturgemäß sind solche ‚Gravitationskräfte‘ auch im geistigen Bereich um so größer, je massiver die betreffenden Verdichtungen sind. Einzelne große Denker wie Kant, Goethe, Freud, Einstein zum Beispiel haben in ihrem Denken (oder vielmehr Denken-Fühlen) derart ausgebreitete Zusammenhänge zu kompakten, symbolischen ‚Formulierungen‘ oder ‚Formeln‘ verdichtet, dass deren Wirkungen Jahrhunderte überdauern. Sehr umfassende ‚Bezugssysteme‘ wie z. B. Religionen können über Jahrtausende hin wirksam bleiben. (Ciompi 1988: 250 f., 252 f.)
Im Bereich des Lernens stellt Ciompi ausgeprägte Wechselwirkungen zwischen dem ‚Fühlsystem‘ und dem ‚Denksystem‘ fest. Lernen ist eine Anpassungsaufgabe, die aktive Konstruktion eines viablen (gangbaren) Weges, der in einer wechselseitigen Beziehungskonstruktion der beiden Subsysteme besteht (vgl. Ciompi 1988: 93 ff., 294 ff.). Erst die strukturelle Koppelung ‚Fühlsystem‘ und ‚Denksystem‘ führt zur Integration beider Subsysteme in einer wahrgenommenen Ganzheitlichkeit der Lebenssituation: „Denken heißt spalten, Fühlen heißt vereinigen, vereinfacht gesagt. Erst beides zusammen ist das Ganze“ (Ciompi 1988: 265). Allgemein wird hinsichtlich der Affekte davon ausgegangen, dass sich hinter der Fülle der Gefühlsvarianten und deren Vermischungen mit kognitiven Einflüssen etwa fünf bis zehn ‚Grundgefühle‘ (Primärgefühle, Basisgefühle) verbergen: Angst, Wut, Trauer, Freude und auch eine mit Ausdrücken wie Interesse, Erwartung, Hunger oder Appetenz (suchende Aktivität zur Triebbefriedigung, z. B. Hunger, Sexualität etc.) bezeichnete Kategorie von so genannten ‚Initialgefühlen‘ gehören immer dazu. Andere mehr oder weniger eigenständige affektive Phänomene wie eine Ambivalenz verschiedener Gefühlszustände oder Ekel, Schreck, Überraschung, Schuld und Scham werden meist, aber nicht immer, als zusammengesetzt aus anderen Schuldgefühlen verstanden (vgl. Ciompi 2005: 80 f.).37 Aus Gründen der Ökonomie und in Anbetracht der Tatsache, dass sich bisher kein wissenschaftliches Konzept zur Klassifizierung von Gefühlen als Standard durchgesetzt hat, geht Ciompi bei der Vielzahl von Gefühlen und dem unendlichen Variantenreichtum von Gefühlskombinationen komplexitätsreduzierend von den neurobiologisch, evolutionär und affektspsychologisch am besten 37
Ciompi bezieht sich auf die Ausführungen von Hinde 1972; Izard 1977; Gainotti 1989; Machleidt et al. 1989; Lazarus 1991; Plutchik 1993.
3.4 Der Lernprozess als strukturelle Koppelung von Affekt und Kognition
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gesicherten fünf Grundgefühlen Interesse, Angst, Wut, Trauer und Freude38 und deren nicht darstellbare Vervielfachung im menschlichen Alltag aus. Wesentlicher Baustein des Entwurfs einer fraktalen Affektlogik ist das oben ausgeführte Konzept der strukturellen Koppelung von Maturana und Varela. Ciompi entwickelt diesen Entwurf in einem begrifflich erweiterten Modell der reziproken strukturellen Koppelung und deren impliziten Driften innerhalb der oben beschriebenen ‚gegebenen Möglichkeiten‘, in dem der ‚Beobachterbereich‘ durch die nur introspektiv direkt erfassbaren (inner)psychischen Vorstellungen und Dynamismen insgesamt, anstelle der ‚neurophysiologischen Vorgänge‘ den biologischen Phänomenbereich als ganzen, und anstelle des ‚beobachtbaren äußeren Verhaltens‘ den Bereich der sozialen Interaktion setzt. [...] Sowohl der (inner)psychische, der soziale wie der biologische Bereich organisieren sich nach ihren je eigenen Gesetzmäßigkeiten selbst, und gleichzeitig beeinflussen sie sich in ihrer Struktur dort, wo sie interagieren, fortwährend gegenseitig (Ciompi 2005: 91).
Eine erweiterte reziproke, strukturelle Koppelung als Interaktionsregel gilt weiterhin zwischen dem psychischen, sozialen und biologischen Phänomenbereich. Um diese drei Bereiche miteinander verknüpfen zu können, führt Ciompi den Begriff der „neuronalen Plastizität“ ein. Diese hat in einer „typischen Mediatorfunktion“, also Vermittlerfunktion, die Aufgabe, die Einwirkung psychischer und sozialer Prozesse weiterzuleiten, so dass reziprok das subjektive, emotional-psychische Erleben und das zwischenmenschliche Verhalten beeinflusst werden (vgl. Ciompi 2005: 91 f.). Als Beispiel der reziproken, strukturellen Koppelung der biologischen, sozialen und psychischen Bereiche dienen hier Stressphänomene aller Art, die sowohl auf der biologischen, emotionalen und psychosozialen Ebene gleichzeitig manifest sind. Stressphänomene führen neben vielfältigen körperlich-neurovegetativen Spannungs- und Überforderungssymptomen auch auf der immunbiologischen Ebene zu Veränderungen im zellulären Abwehrsystem. Alle diese körperlichen Veränderungen wirken ihrerseits dann sowohl auf den psychischen Zustand wie auf das soziale Verhalten in vielfacher Weise zurück. Auch die Affekte selbst spielen auf allen drei Ebenen, der psychischen, sozialen und biologischen, wechselwirkend eine bedeutsame Rolle (vgl. ebd.: 92).
38
In EEG-Untersuchungen (Machleidt et al. 1989, in Ciompi 2005: 81) konnten nur die fünf Grundgefühle Interesse, Wut, Angst, Trauer und Freude zuverlässig identifiziert werden. Andere Gefühlströmungen erwiesen sich als Mischgefühle oder gradmäßige Varianten.
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3 Offene Lernprozesse als Voraussetzung für eine ökologisch orientierte Beratung
3.4.1
Affekte und ihre Aspekte als Energie- und Steuerungssystem kognitiver Funktionen
Ciompi betrachtet Affekte als grundlegende Operatoren von kognitiven Funktionen39 und schließt sich damit Piaget (Hg. 1995) an, der die Affekte als die Motoren des Lernens, der Veränderung und des menschlichen Erkenntnisgewinns bezeichnete. Entsprechend grundlegend verwendet Ciompi den Begriff des Affekts: als umfassende körperlich-seelische Gestimmtheit oder Befindlichkeit von unterschiedlicher Qualität, Bewusstseinsnähe und Dauer, im Rahmen der Affektlogik eindeutig als Oberbegriff über alle vorgenannten gefühlsartigen Erscheinungen. Affektive Zustände in diesem Sinn können sowohl bewusst, wie – was sehr wichtig ist – weitgehend ganz unbewusst sein. Ihre Dauer kann zwischen Sekunden, Minuten und Stunden bis zu – wie etwa in manischen oder depressiven Verstimmungen – ganzen Tagen und Wochen schwanken (Ciompi 2007: 18.).
Affekte sind ebenso psychosomatische Phänomene, die sich psychisch und körperlich manifestieren. Affektfrei ist ein Mensch nie, da er sich immer in einem emotionalen Zustand befindet. Affekte entsprechen spezifischen Energieverteilungsmustern („gerichtete energetische Zuständen“), die sich in Verbindung mit gewissen Wahrnehmungen und Verhaltensweisen im Lauf der Evolution als lebenswichtig herausgebildet haben“ (vgl. ebd.: 18 f.). Mit Energie sind hier normale biochemische Energien gemeint, die durch die Nahrungsaufnahme im Körper in Energie umgewandelt und anschließend in emotionstypischer Weise verbraucht werden. Großer Energiemengen werden in angespannten Zuständen (Wut oder Angst) mobilisiert oder im Bereich positiver Gefühle (Ruhe, Entspannung, Liebe, Freude), in denen Energie nur langsam verbraucht beziehungsweise aufgenommen wird.
39
In der Philosophie wurde thematisiert, namentlich von Heidegger (1927) seit den zwanziger Jahren, dass untergründige affektive Stimmungen unser Denken ständig tiefgehend beeinflussen. Unter dem Aspekt der Angst machte Heidegger diese Erkenntnis sogar zu einem Angelpunkt seiner Existenzphilosophie. Bei Bollnow (1956) bilden allgegenwärtige Wirkungen von Stimmungen auf das Denken die Basis einer allgemeinen anthropologischen Philosophie. Piaget sieht Gefühle in erster Linie in ihrer energetisch-mobilisierenden Wirkung auf kognitive Prozesse und nicht als grundsätzliche Einflussfaktoren der Kognition (vgl. Ciompi 2005: 93).
3.4 Der Lernprozess als strukturelle Koppelung von Affekt und Kognition
93
Ein Operatoreneffekt eines Affekts beschreibt eine Kraft, die auf eine kognitive Funktion einwirkt und diese beeinflusst.40 Diese Operatoreneffekte von Affekten (Ciompi 2005: 94 ff.) lassen sich in zwei große Gruppen einteilen: einerseits in allgemeine Wirkungen, die allen Affekten in gleicher Weise eigen sind, andererseits in spezielle Wirkungen, die von Affekt zu Affekt variieren. In beiden Gruppen zeigen sich phylo- wie ontogenetisch lebenswichtige Funktionen der Gefühle, die sich dem Beobachter nicht erschließen, solange er solche als bloße Störung des rationalen Denkens verkennt. Folgende Mechanismen gehören zu den allgemeinen organisatorisch-integratorischen Affektwirkungen auf das Denken:
Affekte sind die entscheidenden Energielieferanten oder „Motoren“ und „Motivatoren“ aller kognitiven Dynamik. Diese bekannte und auch allgemein anerkannte Wirkung von Affekten auf die Kognition ist nach Ciompi der wichtigste Mechanismus, da alle anderen organisatorisch-integratorischen Operatoreffekte damit zusammenhängen. Affektive Kräfte der unterschiedlichsten Art – Ängste, Wünsche, Strebungen und ganz wesentlich auch die Wünsche nach Stimmigkeit, Harmonie, Konflikt- und Spannungslösung – setzen die kognitive Dynamik in Gang, liefern ihr die notwendige Energie und wirken darin als „Motoren“. Gefühle haben aber nicht nur eine aktivierende Funktion, sondern auch gegenläufige und bremsende Wirkungen auf das Denken und Verhalten. Angst, Wut oder Freude beschleunigen in der Regel das Denken und Verhalten. Im Gegensatz dazu wirken besonders Trauer und Depression, unter speziellen Umständen gelegentlich auch Angst, Schreck oder Wut, hemmend oder verlangsamend. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass auch das Bremsen einer Dynamik Energie benötigt, wie es sich z. B. bei intensiven Trauerreaktionen zeigt.
40
In der Psychologie haben von wenigen Ausnahmen abgesehen wenig Untersuchungen (Panksepp 1991; Izard 1977, 1993) der Auswirkung von Gefühlen auf die Kognition stattgefunden (vgl. Ciompi 2005: 93 f.). Ausnahmen beziehen sich nicht auf Forschungen oder Untersuchungen zu dieser Thematik, sondern bestehen in erster Linie aus den Entwicklern therapeutischer Modelle und Verfahren und sie beziehen sich handlungstheoretisch auf den praktischen Umgang mit Klienten in Beratungs- und Therapiesituationen. Als Ausnahmen erwähnenswert sind z. B. Moreno [1953] (1974), Psychodrama; Perls et al. (1981a/b), Gestalttherapie; Petzold (1986), Weiterentwicklung der Gestalttherapie und des Konzepts der Leiblichkeit.
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3 Offene Lernprozesse als Voraussetzung für eine ökologisch orientierte Beratung
Neben dieser grundlegenden organisatorischen Operatorwirkung der Affekte als Energielieferant auf die kognitiven Funktionen mit ihrer aktivierenden und hemmenden Funktion lassen sich noch folgende weitere Aspekte beschreiben: Affekte bestimmen andauernd den Fokus der Aufmerksamkeit. Abhängig von der situativen Stimmung – traurig oder freudig, ängstlich oder wütend, aufgeregt oder entspannt – richtet sich die Aufmerksamkeit und Wahrnehmung auf völlig unterschiedliche kognitive Inhalte. Aus einem Spektrum möglicher Wahrnehmungen und Denkverbindungen werden diejenigen ausgewählt, die zur aktuellen Grundstimmung passen. Parallel dazu wird die vorhandene Umgebung dem Affekt (der momentanen Stimmung) entsprechend „eingefärbt.“ Bei einer untergründig gereizten oder ärgerlichen Stimmung wird die Welt entsprechend eher unschön, schwierig gesehen und es wird leichter Störendes wahrgenommen, wie z. B. das langsamere Reagieren anderer Autofahrer. In einer gehobenen Stimmung wird in der gleichen Umwelt eher Schönes, Erfreuliches wahrgenommen und dem zu langsam reagierenden Autofahrer wird viel mehr Gelassenheit und Verständnis entgegen gebracht. Es ist wichtig zu erkennen, dass die soziale und ökologische Umgebung, Wetter, Land und Leute viel eher wie ein Projektionsschirm oder Spiegel der eigenen affektiven Gestimmtheiten funktionieren, denn als neutrale Abbilder einer nicht existenten „objektiven“ Wirklichkeit. In einer alltäglichen oder durchschnittlichen Stimmung, weder verärgert, gereizt beziehungsweise weder angespannt noch besonders fröhlich, beachten wir unsere Umwelt vielleicht nicht weiter, sondern bleiben z. B. absorbiert von unseren Berufs- und sonstigen Alltagssorgen. In dieser affektiv eher neutralen Stimmung steht eine große Auswahl von kognitiven Inhalten und Denkverbindungen zur relativ freien Verfügung. „Mobilität und potenzielle Breite des Aufmerksamkeitsfokus sind in diesem Zustand von relativer Effektflachheit, also besonders groß; während intensivere Affekte ihn sowohl verengen wie vertiefen“ (Ciompi 2005: 96). Affekte sind also zuständig dafür, wie und wohin sich die selektive Aufmerksamkeit beziehungsweise der Aufmerksamkeitsfokus bewegt. Dieses gilt nicht nur für die momentane, kurzfristige Aufmerksamkeitsfokussierung, sondern auch für die langfristige. Ebenso gilt dieses Prinzip auch für größere Gruppen, in denen ähnliche Operatorenwirkungen der Affekte eine Rolle bei der Aufmerksamkeit spielen. Als Beispiel können hier die Entwicklung politischer Par-
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teien und die Verschiebung des Aufmerksamkeitsfokus im Rahmen eines Parteitages dienen. Die affektive Grundstimmung bestimmt nicht nur zu einem guten Teil, auf welche Wahrnehmungsobjekte unsere Aufmerksamkeit im Moment bevorzugt fällt, sondern, wie lange sie an einem bestimmten kognitiven Gegenstand haften bleibt und zu welchem Inhalt sie anschließend weiterwandert. Aus der perlenschnurartigen Aneinanderreihung von affektselektionierten kognitiven Elementen ergibt sich ganz folgerichtig eine ganz bestimmte, wiederum stark affektdeterminierte Wirklichkeitserfassung oder ‚Logik‘ (ebd.: 96 f.).
‚Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß‘, was nicht zur aktuellen Stimmung passt, wird ausgeblendet. Der unbewusst affektgeleitete Aufmerksamkeitsfokus bestimmt kurz- wie langfristig die Selektion der für uns relevanten Informationen und damit letztlich das Weltbild einzelner Individuen und großer Kollektive.
Affekte wirken wie Schleusen oder Pforten, die den Zugang zu unterschiedlichen Gedächtnisspeichern öffnen oder schließen. Spezifische Aspekte führen zur Speicherung von affektkonformen kognitiven Inhalten im Gedächtnis und diese Affekte spielen bei der Reaktivierung der gespeicherten Informationen eine wichtige Rolle. Hier findet sich die klassische Beratungssituation, in der der Klient auf verdrängtes Material stößt, welches nicht nur kognitiv, sondern auch affektal zum Ausdruck gebracht wird. In der Wut oder Trauer werden bevorzugt vielfältige Erinnerungen aus dem Gedächtnis abgerufen, die die vorherrschenden aggressiven oder traurigen Gefühle bestätigen und verstärken, während gegenläufige Inhalte unterdrückt werden. Im Zustand der Freude oder des Verliebtseins wird eine andere affektive und kognitive Palette aktiviert. Durch eine gemeinsame Affektstimmung verbundene Kognitionen werden gemeinsam abgespeichert und bevorzugt gemeinsam remobilisiert. Entsprechend wird das Denken durch die Operatorenwirkung mit determiniert. Auch hier findet sich in der durchschnittlichen Alltagsstimmung wieder eine breite Palette von scheinbar affektneutralen, in Wirklichkeit aber affektselektionierten Gedanken und Wahrnehmungen, die wiederum ausgesprochen persönlichkeits- und kulturspezifisch mit der durchschnittlichen Alltagsstimmung einhergehen.
Affekte schaffen Kontinuität, sie wirken auf kognitive Elemente wie ein ‚Leim‘ oder ‚Bindegewebe‘ Sensorische Reize und kognitive Inhalte, mit denen wir ständig konfrontiert sind, sind erst einmal von einer chaotischen Vielfalt und Heterogenität. Durch die Fil-
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terung und Kanalisierung der ‚schleusen- und pfortenartigen‘ Operatorenwirkungen der Affekte entstehen kontextgerechte funktionelle Einheiten. Durch die Verbindung von kognitiven Elementen, die durch gleiche oder ähnliche Affekte charakterisiert sind und funktionell miteinander verbunden werden, entsteht ein Zusammenhang zwischen einer Auswahl von situativ belangvollen, kognitiven Inhalten. Dieses gilt gleichermaßen im zeitlichen Längs- und Querschnitt. Die Affekte wirken damit wie ein ‚Leim‘ oder ‚Bindegewebe‘, das eine kontextadäquate Kohärenz und Kontinuität in alles Denken und Verhalten hineinbringt. Affekte bestimmen die Hierarchie unserer Denkinhalte. Die aktuelle affektive Befindlichkeit bestimmt jeweils die kognitiven Hierarchien unserer Gedanken. Die hierarchische Ordnung ist z. B. im Zustand der Verliebtheit, der Wut oder Trauer in derselben äußeren Situation (z. B. zu Hause, in einer Versammlung oder im Bahnhof) völlig unterschiedlich. Hier wird eine Prioritätenordnung im Denken und Wahrnehmen hergestellt, die dem dominierenden Affekt und dem augenblicklichen affektiven Kontext entspricht. Ebenso werden, z. B. einer auf Grund unterschiedlicher Erlebnisse im Prinzip ambivalent konnotierten Person – diese Ambivalenz ist fast in jeder Beziehung oder Ehe vorhanden –, an ein und demselben kognitiven Objekt je nach Stimmung affektkonforme Qualitäten bevorzugt, beachtet und allen anderen Aspekten aktionswirksam vorangestellt. Die hierarchiebegründenden Operatorwirkungen der Affekte auf das Denken haben damit zugleich wichtige Beziehungen zum Phänomen des Wollens oder Willens [...]. Starke, an bestimmte Kognitionen geknüpfte Affekte, z. B. heftige Sehnsucht nach einer Person, einem Ort oder einem komplexen Ziel, dominieren oder verdrängen schwächere und gegenläufige Affekte. Das bewusste Wollen und Verhalten wird in grundsätzlich ganz gleichartiger Weise hierarchisiert. (vgl. Ciompi 2005: 98)41
Affekte sind eminent wichtige Komplexitätsreduktoren. Alle beschriebenen organisatorisch-integratorischen Operatorwirkungen der Affekte leisten Komplexitätsreduktion. Nur mit Hilfe der kontextangepasst mobilisierenden, selektionierenden, hierarchisierenden, kohärenz- und kontinuitätsschaffenden Filterwirkungen der Affekte auf die Kognition gelingt es uns, die ungeheure Fülle von Informationen, die dem Denken aus extern-sensorischen und internen Quellen fortwährend zukommen, sinnvoll zu beschränken. Verän-
41
Weitere Ausführungen zur Motivation und Relevanz der Willensbildung in Kapitel 7.
3.4 Der Lernprozess als strukturelle Koppelung von Affekt und Kognition
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derungen des affektiven Filters (Ausdehnungen und Verengungen) bewirken pathogene Störungen des gesamten Denkens und Verhaltens (vgl. ebd.: 99). Der Operatoreffekt der Lust auf Affekte und Kognition. ‚Stimmige Denkwege sind lustvoll‘ (ebd.: 107) beschreibt Ciompi einen der Träger menschlicher Weiterentwicklung. Jede Lösung einer konflikthaften Spannung, wie sie sich bei wachsenden Widersprüchen innerhalb eines Fühl- und Denksystems aufbaut, ist gleichbedeutend mit einem Lust- und Entspannungserlebnis. Sowohl alltägliche als auch raffinierte wissenschaftliche Problemlösungen sind ein Lusterlebnis, bedienen in ihrer Struktur und Aufgabe Luststrategien beziehungsweise Unlustvermeidungsstrategien (ebd.: 107 ff.). Ein generelles Streben nach Lustgewinn beziehungsweise Unlustvermeidung kann als Motor und Organisator aller geistigen Entwicklung beschrieben werden. „Alle Lust will Ewigkeit, will tiefe Ewigkeit“ (Nietzsche, zit. n. Ciompi 2005: 111), und Freud postulierte im gleichen Sinn, dass „jede einmal erfahrene Lust nach Wiederholung dränge“ (Freud, zit. n. Ciompi 2005: 111). Die menschliche Psyche wird, wenn ein solcher Weg der Lust einmal erstellt und wiederholte Male erfolgreich begangen wurde, an diesem Weg festhalten, wobei der affektive Anteil, die „affektiven Komponenten der Logik“ immer weiter in den großen „Pool von scheinbar affektneutralen ‚Selbstverständlichkeiten‘ eingehen, ohne die schon aus energieökonomischen Gründen weder die unreflektierte Alltagslogik noch das wissenschaftliche Alltagsdenken auskommt“ (Ciompi 2005: 111). Als ‚Prototyp‘ aller Lust dient Ciompi, wie bereits schon von Freud (1920) thematisiert, die sexuelle Lust. Die sexuelle Lust zielt zwar auf den orgiastischen Höhepunkt hin, doch geht es hier um den Aufbau lustvoller Spannung, dem Aufbau einer „Vorlust“ (Freud), im Hinblick auf den maximal lustvoll entspannenden Orgasmus. Die Vorlust lässt sich also als eine „raffinierte Zusatzstrategie zur Erhöhung des Lustgewinns“ (Ciompi 2005: 111) bezeichnen. Dieses Phänomen des Aufbaus einer lustvollen Spannung ist in vielen menschlichen Verhaltensweisen zu beobachten, wie z. B. in den Bereichen Spiel, Sport und Abenteuer, aber auch in der dem Menschen eigenen Fähigkeit des vorläufigen Triebaufschubs zugunsten eines späteren, umso höheren Lustgewinns. Durch die dauerhafte affektive Gestimmtheit des Menschen ergibt sich aus der Kombination allgemeiner und spezieller Operatorwirkungen der Affekte auf das Denken eine stete flexible Modulation der kognitiven Aktivitäten in Abhängigkeit von Kontext und Stimmung. Zwischen den Gefühlen und der Kognition
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3 Offene Lernprozesse als Voraussetzung für eine ökologisch orientierte Beratung
finden dabei unaufhörlich zirkuläre Wechselwirkungen statt: „Bestimmte kognitive Reize induzieren oder verstärken bestimmte Affekte und Stimmungen, und diese wiederum kanalisieren und organisieren die Wahrnehmung und das Denken“ (ebd.: 103). Die gesamte, bisher gesammelte Erfahrung fließt affektkonform in die jeweils aktuelle Informationsverarbeitung mit ein. Parallel hierzu führt die selektive Fokussierung, Speicherung, Mobilisierung und Verknüpfung von kognitiven Elementen zur Ausbildung einer je affektspezifischen Logik: Entsprechend der vorherrschenden Stimmung kommt es auf Grund der beschriebenen Operatorwirkung der Affekte also zur Ausbildung einer spezifischen ‚Interessenlogik‘, ‚Angstlogik‘, ‚Wutlogik‘, ‚Trauerlogik‘, ‚Freudelogik‘ oder ‚Liebeslogik‘ etc. beziehungsweise einer ihrer unzähligen Abwandlungen und Mischformen (ebd.: 104).
Die hier beschriebenen affektiven Typen von Logik unterscheiden sich im Wesentlichen inhaltlich. Je nach affektiver Befindlichkeit werden andere kognitive Inhalte bevorzugt aus Umwelt und Gedächtnissystem selektiert und zu Wahrheitssystemen verbunden. Ein und dieselbe Landschaft oder auch eine Gesellschaft auf einer Party wird nach der jeweiligen spezifischen Stimmung wahrgenommen und damit die jeweilige individuelle, manchmal auch kollektive Sichtweise der Welt konstruiert, Maturana und Varela sprechen von einer Hervorbringung verschiedener kultureller Welten (1987: 195 ff.).42 Eine sehr stabile Konstruktion der jeweiligen individuellen oder kollektiven Wirklichkeit sind die weitgehend unbewusst gewordenen, und doch das ganze Fühlen, Denken und Verhalten ständig tiefgehend beeinflussenden Affekt-Kognitionsbindungen, die die durchschnittliche Alltagslogik charakterisieren und – etwa in Form von ‚selbstverständlichen‘ Vorannahmen, Wertvorstellungen, zeitübergreifenden Motivationen und ‚Mentalitäten‘ bzw. ‚Vorurteilen‘ – jahrzehntelang unser tägliches Leben determinieren können (Ciompi 2005: 104 f.).
42
Anlässlich der Finanzkrise 2008 kam heraus, dass es Börsenmaklern schwer fällt, sich von bestehenden unlogischen Denkmustern zu lösen. Schwierigkeiten beim logischen Denken machten sich besonders bemerkbar, wenn sie aufgefordert wurden, ihre Entscheidungen nur logisch zu treffen, unabhängig davon, ob sie mit ihren Erfahrungen übereinstimmen. Hier zogen die Makler sehr viele falsche Schlüsse und benötigten für ihre Entscheidungen länger. Es kam zu Konflikten zwischen Logik und Erfahrung, die Erfahrung war bei Entscheidung wirksamer und die Regeln der Logik wurden häufig ausgeblendet. Für die Studie waren 20 Börsenmakler befragt worden. Die Vergleichsgruppe von 20 Versuchspersonen ohne jegliche Börsenerfahrung löste die gleichen logischen Probleme deutlich besser. Markus Knauf, Universität Gießen. http://www.n-tv.de/1038961.html (16.10.2008).
3.4 Der Lernprozess als strukturelle Koppelung von Affekt und Kognition
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Aus formallogischer Sicht ist hervorzuheben, dass die „einzelnen Verbindungen und Schlüsse innerhalb einer jeden affektspezifischen Variante von Affektlogik durchaus korrekt sein mögen, obwohl daraus schließlich global ganz unterschiedliche Denkweisen resultieren“ (ebd.: 105). Als Beispiel mögen gegensätzliche Schlussfolgerungen von politischen Gegnern, die Auseinandersetzungen zwischen Ehepartnern, Streitigkeiten vor Gericht, in der Beratungs- und Therapiearbeit auf Seiten des Klienten auch die Auseinandersetzung mit seinen Projektionen dienen. Ein und dieselbe formale Logik kann auf Grund einer affektbedingt andersartigen Selektion, Verknüpfung und Gewichtung von kognitiven Inhalten innerhalb ein und derselben Situation zu völlig andersartigen Ergebnissen führen. Die Differenzen, die die unterschiedlichen Konstruktionen trennen, liegen kaum an Fehlern oder Irrtümern im formallogischen Gebäude, sondern an den bei den Beteiligten wirksamen affektbedingten Selektions-, Bindungs- und Gewichtungsergebnissen, die alle intellektuellen Operationen fortwährend begleiten und beeinflussen. Die grundlegende Leistung und Dynamik des psychischen Apparats besteht [...] einerseits in der Generierung von immer wieder neuen integrierten Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen unterschiedlichster Dimension aus der Aktion, und anderseits in der ständigen affektgeleiteten Anpassung des Gesamtorganismus an die jeweilige Situation (ebd.: 121).
Über den Mechanismus der neuronalen Plastizität (s. o.) werden vergangene relevante Erfahrungen reaktiviert durch ähnliche affektive und/oder kognitive Stimuli. Damit stehen frühere Erfahrungen zur ökonomischen Bewältigung von ähnlichen Situationen in der Gegenwart jederzeit kontextgerecht zur Verfügung. Über die beschriebenen Operatorwirkungen der Affekte, die den gesamten Organismus sinnvoll um- und einstimmen, wird alles Denken und Verhalten fortwährend zu einem der jeweiligen Situation angepassten Ganzen integriert (ebd.: 121).
Diese Affektwirkungen arbeiten permanent sowohl in elementaren wie auch hochkomplexen Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen, vom einfachsten bedingten Reflex über komplexe Übertragungsreaktionen bis zu übergeordneten Wert- und Verhaltenssystemen, Ideologien und Theorien.
100
3 Offene Lernprozesse als Voraussetzung für eine ökologisch orientierte Beratung
3.4.2
Dissipative Strukturen und Fraktale als Grundlage mehrdimensionaler affektiv-kognitiver Prozesse
Ciompi geht davon aus, dass die „Träger der ‚psychischen Energien‘ oder Kräfte – was immer man darunter, über ihre neurophysiologischen Äquivalente hinaus, auch genau verstehen mag – in erster Linie die Affekte sind, und dass [...] diese Kräfte alles Denken bewegen und organisieren“ (ebd.: 155). Im Rückgriff auf die Chaos- resp. Komplexitätstheorie43 als Teilbereich der Systemtheorie werden Affekte im Bereich der Psyche als die entscheidenden Energieträger gesehen und sind als affektenergetische Aspekte von großer Wichtigkeit. Unter Anwendung von chaostheoretischen Erkenntnissen wird es auf dieser Basis möglich, die genannten globalen Fühl-, Denk- und Verhaltensweisen als umfassende Energieverteilungsmuster (spezifische affektenergetische Besetzungen des operationalen kognitiven Feldes) oder ‚dissipative Strukturen‘ im Sinne von Prigogine (1980, 1985) zu verstehen (Ciompi 2005: 170).
Hieraus ergibt sich ein Einblick in die deterministisch-chaotischen Attraktorwirkungen von spezifischen affektiven Zuständen wie auch ein Einblick in die typische Fraktalstruktur von psychischen Prozessen aller Art, wie die weitere Abhandlung zeigen wird. Das Wesentliche der Chaostheorie ist die schrittweise Erforschung und mathematische Formalisierung von selbstorganisatorischen Vorgängen rund um unregelmäßige, plötzliche Entwicklungssprünge und damit in Verbindung stehende chaotische Turbulenzen, die in dynamischen Systemen verschiedenster Art dann auftreten können, wenn sie durch fortgesetzte Energiezufuhr immer weiter von ihrer Homöostase weggetrieben werden. Die ursprünglich aus der Thermodynamik, der Wetterforschung, der Laserforschung und dem Studium der Turbulenz von Flüssigkeiten entstandene Theorie findet mittlerweile in zahlreichen Gebieten der Natur- und Geisteswissenschaften Anwendung. Die gefundenen Gesetzmäßigkeiten treten in selbstorganisierenden, dynamischen Systemen aller Art auf, vom physikalisch-chemischen über den biologischen bis zum psychosozialen und sozioökonomischen Bereich. Der Begriff des Chaos stellt im Rahmen der Chaostheorie kein total ungeordnetes Durcheinander dar, sondern es ist ein so genanntes „deterministisches“ 43
Eine umfassende Darlegung der Chaos-Theorie und ihrer Weiterentwicklung, der Komplexitätstheorie, kann in diesem Rahmen nicht geleistet werden. Literatur hierzu findet sich z. B. bei Haken 1982, 1990, 1991; Prigogine et. al. 1980; Gleick 1988; Cramer 1988.
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Chaos gemeint, präziser wäre die Bezeichnung „Theorie der nichtlinearen Dynamik komplexer Systeme“. Der Begriff „deterministisches Chaos“ beschreibt eine eigenartige Mischung von Ordnung und Unordnung im Übergangsbereich zwischen linearen Gesetzmäßigkeiten (der klassischen Physik) auf der einen Seite und einer stochastischen Zufallsdynamik, einem Chaos im herkömmlichen Sinn, auf der anderen Seite.44 Nichtlineare Vorgänge (z. B. geht Wasser bei Temperaturen am Siede- oder Gefrierpunkt sprunghaft von der flüssigen in die gasförmige oder feste Phase über) sind der Untersuchungsgegenstand der Chaostheorie. In diesem Rahmen werden auch so genannte iterative (sich wiederholende) Prozesse untersucht, bei denen die in erster Runde erreichte Endsituation zur Ausgangssituation für die nächste Runde wird. Typische iterative Prozesse sind die jahreszeitenbedingte Zu- oder Abnahme von Pflanzen- oder Tierpopulationen unter wechselnden Umgebungseinflüssen, aber auch die Entfaltung psychischer und psychosozialer Prozesse (z. B. die affektive Verfassung der Familienmitglieder am Weihnachtsabend) von Moment zu Moment, von Tag zu Tag und von Jahr zu Jahr. Im Unterschied zu den immer wieder gleichen mechanischen Abläufen, z. B. in einer Rotationsmaschine, sind in solchen Iterationen dauernd vielfältige Rückkoppelungsprozesse am Werk. Jede Periode beeinflusst und verändert die nachfolgende Periode. Gewisse Störeinflüsse können sich deshalb mit der Zeit potenzieren oder auch annullieren. So bauen sich unter Umständen große Spannungen auf, die die Systemdynamik weit vom Gleichgewicht hinweg führen können, z. B. nach sechs jahrelang vermeintlich immer „harmonisch“ verlaufenden Weihnachtsabenden „platzt einem der Familienmitglieder der Kragen“ und ein Teil der Rollenkonfiguration der Familienmitglieder ändert sich plötzlich. Unter der fortgesetzten Erhöhung der Energiezufuhr entsteht hier eine dissipative Struktur, die systeminternen Spannungen erreichen einen kritischen Punkt, an der sie nicht mehr in der bisherigen Weise abgeführt (‚dissipiert‘) werden können. In dieser Situation kommt es in Systemen aller Art zu einem plötzlichen Umschlag, einer so genannten Bifurkation (Gabelung, im Sinne einer anderen Entwicklungsmöglichkeit) in ein globales neues Energieverteilungsmuster, in eine neue dissipative Struktur (Prigogine & Stengers 1980). Hierbei variieren die entstehenden Funktionsmuster systemspezifisch, die grundlegenden Gesetz44
Das Paradebeispiel ist hier das Wetter: Es ist durch wenige physikalische Variablen im Großen und Ganzen recht genau bestimmbar, doch im Einzelnen variiert es mittel- und langfristig unvorhersehbar. Hier findet sich die typische deterministisch-chaotische Mischdynamik.
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mäßigkeiten an diesen Umschlagpunkten bleiben bestehen (vgl. Ciompi 2005: 134 f.). Eine dissipative Struktur kann als ein dynamisches Fließgleichgewicht, das durch ein bestimmtes zeit-räumliches Energieverteilungsmuster charakterisiert ist und unter gewissen Bedingungen in nichtlinearen Systemen plötzlich auftreten kann, definiert werden (vgl. ebd.: 132). Neben der Entstehung der dissipativen Strukturen ist für die Darstellung des Modells der Affektlogik der Begriff der Fraktalität wichtig, der das Phänomen der skalenunabhängigen Selbstähnlichkeit beschreibt. Selbstähnlichkeit produzierende Strukturen liegen nach chaostheoretischen Erkenntnissen unzähligen natürlichen Formen im Kleinsten und im Größten zugrunde: Landschaftsbilder von Erosionslandschaften, Gebirgs- und Küstenformationen oder Sanddünen wiederholen sich in winzigen Geländeausschnitten wie in großräumigen Flugund Satellitenansichten. Ebenso verhält es sich mit Wolkenformationen, Blattund Blütenformationen, Strömungsmustern und Kristallvariationen. Auch künstlich erzeugte Gegenstände, wie z. B. Autos oder Fahrräder, lassen sich als selbstähnliche Gebilde darstellen, die alle auf der skalenunabhängigen Anwendung von den immer wieder gleichen Grundregeln beruhen. Im Bereich des Psychischen lässt sich von einem Fühl-, Denk- und Handlungssystem einer bestimmten Person sprechen, man spricht auch von einem bestimmten „Stil“ eines Künstlers, z. B. Malers oder Schriftstellers, die in ihren Arbeiten immer wieder selbstähnliche, aber nicht identische Strukturen verwenden. Mandelbrot (1983) ist berühmt geworden durch den mathematischen Nachweis der Fraktale, des Phänomens der skalenunabhängigen Selbstähnlichkeit. Der Nachweis wird mit Hilfe der Berechnung nicht ganzzahliger geometrischer Dimensionen geführt: Die Dimensionalität eines Attraktors ist ein Maß für die Zahl der darin bestehenden Freiheitsgrade. Punkt, Linie, Fläche und Kubus beliebiger Größe haben die ganzzahligen Dimensionen 0, 1, 2 und 3. Die Dimensionen von Fraktalattraktoren bewegen sich dazwischen. Die so genannte Mandelbrot-Menge, bekannt unter dem Begriff Apfelmännchen, zeigt auf, dass diese Menge in der geometrischen Abbildung zusammenhängend ist. Sie ist unendlich lang in dem Sinn, dass man sie in einem immer kleineren Maßstab abbilden und messen kann. Sie bildet weder Inseln, noch sind in irgendeiner Form Löcher vorhanden. Die fraktalen Strukturen sind selbstähnlich und es gibt keinerlei Teilstrukturen, die miteinander identisch sind. Wie bei Ciompi (2005: 147 ff.) und in vielen anderen Publikationen wird hier zur Illustration die Kochsche Kurve, auch Schneeflockenkurve genannt, ab-
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n=0
n=1
n=2
n=3
n=4 Abbildung 4: Die Kochsche Kurve, entstanden durch die iterative Errichtung eines gleichseitigen Dreiecks auf dem Mittelabschnitt einer jeden Geraden (adaptiert nach Seifritz 1987: 158, in Ciompi 2005: 149)
gebildet. Durch die Spiegelung der Kurve ab der Iteration 2 (vgl. Abb. 4, n = 2) ergibt sich eine Analogie zum Bild einer Schneeflocke, deren ‚Dimensionalität‘ 1,2629 beträgt. Sie liegt also zwischen der Dimensionalität einer Linie (= 1) und einer Fläche (= 2). Wie aus der Abbildung ersichtlich, wird über dem mittleren Drittel einer Strecke von beliebiger Länge (n = 0) ein gleichseitiges Dreieck (n = 1) errichtet, so dass vier gleich lange Streckenabschnitte entstehen. Bei der nächsten Iteration wird über dem mittleren Drittel eines jeden Abschnitts nochmals ein gleichseitiges Dreieck konstruiert, so dass jetzt sechzehn Abschnitte vorliegen (n = 2). In jeder nachfolgenden Iteration wird über jedem Abschnitt wiederum sein Dreieck errichtet und so weiter. Die entstehende Kurve ist nicht nur bis in ihre mikroskopischsten Verkleinerungen immer wieder selbstähnlich, sondern sie wird auch unendlich lang, ebenso wie eine Küstenlinie sich ebenfalls als unendlich lang er-
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wiese, die man mit einem immer kleineren Maßstab bis hinab auf die mikroskopische Ebene messen würde.45 Zum jetzigen Zeitpunkt hat sich die Sichtweise, dass eine unendlich große Zahl von natürlichen Phänomenen eine fraktale Struktur aufweist, in weiten Teilen der Wissenschaft und des Alltags etabliert und erfasst immer weitere Bereiche. Ciompi formuliert hierzu: Ein Stück weit handelt es sich dabei nur um eine mathematische Neuformulierung der alten, von Goethe, Leibniz, Husserl und vielen anderen Dichtern und Denkern seit jeher auf tausenderlei Weisen formulierten intuitiven Erkenntnis, dass in jedem kleinsten Teil der Natur immer schon das Ganze, und andererseits im Ganzen auch schon jeder Teil verborgen liegt (ebd.: 150).
Mehrdimensionale Prozesse, die aus mehreren parallel laufenden Fraktalen bestehen, wie sie bei affektiven und kognitiven Prozessen und deren Koppelung vorzufinden sind, lassen sich am anschaulichsten mit den chaostheoretischen Begriffen der Attraktoren (Energiesenken) und der Repulsoren (Energiekuppen) beschreiben. Ohne hier weiter auf die verschiedenen Attraktorformen einzugehen (hierzu ebd.: 140 ff.), ist davon auszugehen, dass die Strukturen vieler Lebensbereiche, z. B. vom Termitenhaufen bis zur Entwicklung von Großstädten und eben auch die Strukturen im affektiv-kognitiven und psycho-sozialen Bereich, als deterministisch-chaotisch anzusehen sind. Entscheidend ist, dass die Systemdynamik eines „seltsamen“ oder „chaotischen“ Attraktors,46 auch GrenzzyklusAttraktor genannt, nicht mehr regelmäßig verläuft, sondern, obwohl sie einen genau umschreibbaren Bereich ausfüllt, selbstähnlich bei jedem „Umlauf“ etwas andere Wege einschlägt und sich nie schneidet. Entscheidend ist, dass sämtliche Attraktoren typische „Energiesenken“ sind, das heißt, ein Attraktor hat einen Zustand relativ geringen Energieaufwands im Verhältnis zu seinem Umfeld. Anders formuliert, die Kurvenbahnen (Trajektorien)47 innerhalb eines Attraktors entsprechen immer den Wegen des geringsten 45
46
47
Informationen und Bilder zum Aufbau von Fraktalen in Peitgen und Richter (1986), computersimulierte fraktale Pflanzenformen in Herrmann (1994). Fraktale Strukturen wurden z. B. auch bei der Erstellung der computererzeugten Dinosaurier in dem Film „Jurassic Parc“ von Steven Spielberg eingesetzt. „Seltsame“ oder „chaotische“ Attraktoren entstehen z. B. durch eine zunehmende Systemdynamik oder Energiezufuhr und wandeln sich von einem Punktattraktor hin zu komplexen Attraktorgebilden, wie z. B. dem Lorenzattraktor. Verringert sich die Energiezufuhr, kommt es wieder zu einfach strukturierten Attraktorgebilden (vgl. ebd.: 141, 143). Trajektorie, physikalische Definition: die Kurve, die von den Orts- und Impulskoordinaten eines dynamischen Systems im Phasenraum beschrieben wird.
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Widerstands in Anbetracht der vorherrschenden Energieverhältnisse. Sie nutzen also die oben beschrieben Lustwege. Neben den Energiesenken gibt es in der Chaos- und Komplexitätstheorie innerhalb von mehrdimensionalen Zustandsräumen auch Bereiche relativ hohen Energieaufwands, die Repulsoren (Energiekuppen). Vorstellbar ist ein Repulsor mit einem viel Energie konsumierenden Zustand in der Form streitender Menschen auf einem kleinen Raum oder als einen hohen aus Steinen aufgeschichteten Turm. Von diesen Energiekuppen strebt die Systemdynamik so schnell wie möglich hinweg, da die Repulsorbereiche Energie konsumierend und relativ unstabil sind. Entsprechend sind die Attraktorbereiche energiesparend und relativ stabil. Zur Darstellung der selbstorganisatorischen Dynamik komplexer Systeme eignet sich gut das Bild einer Hügel- beziehungsweise Potenziallandschaft mit ihren Kuppen, Mulden, Sätteln und Tälern (s. Abb. 5). Diese Darstellung erlaubt das Phänomen der Fraktalität, der skalenunabhängigen Selbstähnlichkeit („Struktur in Struktur in Struktur“) von sich wiederholenden Vorgängen innerhalb deterministisch-chaotischer Attraktoren, abzubilden. Die Attraktoren A (Energiesenken) können als trichterartige Senken in dieser abstrakten Potenziallandschaft betrachtet werden. Die Repulsoren R (Energiekuppen) stellen die Höhen in dieser Landschaft dar. Unter der Voraussetzung einer durch Energiezufuhr rotierenden Kugel, ein passender Vergleich zu der rotierenden Kugel ist hier der Aufmerksamkeitsfokus eines Individuums, der für alle möglichen Kleinsteinflüsse sensibilisiert ist, resultiert das Phänomen der skalenunabhängigen Selbstähnlichkeit aus der Tatsache, dass die kreisende Kugel bei jeder Kurvenbahn (Trajektorie) gezwungener Maßen eine ähnliche, aber auch – wegen ihrer Sensibilität für irgendwelche Oberflächenunregelmäßigkeiten oder andere Störfaktoren – jedes Mal eine etwas abgewandelte Bahn beschreibt. In diesem Sinn können Attraktoren und Repulsoren auch als ‚Wegweiser‘ bezeichnet werden. Rotiert die Kugel mit relativ wenig Energie nahe dem Grund des Trichters, so sind ihre Trajektorien klein und eng, während sie auf höheren Energieniveaus naturgemäß um ein Vielfaches größer und weiter werden. Trotzdem bleibt ihre Grundgestalt auf allen denkbaren Niveaus dieselbe (ebd.: 147 f.).
Nimmt man als Beispiel Maturanas und Varelas strukturelle Koppelung des Menschen mit seinem Milieu, so entspricht dem Menschen beziehungsweise seiner spezifischen gerichteten Energie, z. B. seinem Interesse oder seinem Aufmerksamkeitsfokus, die im folgenden Schaubild nicht abgebildete kreisende
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Abbildung 5: Fraktal-chaotische Attraktorlandschaft mit Attraktoren A (Energiesenken) und Repulsoren R (Energiekuppen). Die Attraktorlandschaft oder das Attraktorbecken kann mehrdimensional gedacht werden. Die gewundene Linie mit dem Pfeil stellt die rollende Kugel, das Interesse oder den Aufmerksamkeitsfokus, in ihrem Weg durch die Senken und Kuppen dar (Globus 1994, in Ciompi 2005: 144).
Kugel. Auf der Suche nach Informationen, Affekten u. a. bewegt sich die Kugel, also z. B. der Aufmerksamkeitsfokus des Menschen, selbstähnlich in sich langsam verändernde Strukturen hinein. Diese selbstähnliche Bewegung vollzieht aber nicht nur der Mensch resp. sein Aufmerksamkeitsfokus, sondern sein gesamtes lebendiges Milieu um ihn herum bewegt sich in der ihr eigenen selbstähnlichen Struktur weiter. Eine stärkere Koppelung zwischen diesen Systemen findet eher dort statt, wo in beiden Systemen Attraktoren (Energiesenken) zu finden sind, z. B. eine nette Einladung zum Kaffeetrinken. Diese folgt dem Prinzip des geringsten Widerstandes (dem „Weg der Lust“).
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Repulsoren (Energiekuppen) werden nach Möglichkeit eher vermieden, da sie potenziell eine Belastung der augenblicklichen energetischen Verfassung des Menschen sind. Eine Einladung zum Kaffeetrinken erfolgt wegen der erhöhten „Spannung“ eher nicht. Als Beispiel dient die häufig festzustellende Verhaltensregel, dass der Mensch den Blickkontakt zu einem anderen Menschen wegen einer kürzlich ausgetragenen Meinungsverschiedenheit meidet, obwohl er ihn gesehen und erkannt hat. Die Grundgestalten bleiben in beiden Fällen erhalten, während die Form des Annehmens einer Einladung oder die Form des Ausweichens vor einer belastenden Situation selbstähnlich variiert. Als ein weiteres Beispiel sollen die Lerntypen I und II von Bateson dienen. Mit Vorliebe bewegt sich der Mensch beziehungsweise sein Aufmerksamkeitsfokus (die kreisende Kugel) beim Lernen im Attraktorenbereich. Lernen auf dem Weg des geringsten Widerstandes ist entspannend und macht Spaß. Die „Lernbewegungen“ sind selbstähnlich, doch bei jeder „Runde“ (Trajektorie) wird etwas mehr gelernt, wie z. B. beim Vokabellernen eine Vokabel nach der anderen gelernt wird, aber niemals alle zugleich. „Schweren“ Lernaufgaben (hier die Repulsoren) wie z. B. die richtigen Übersetzungsmöglichkeiten lateinischer Texte wird, zumindest zunächst einmal, meistens ausgewichen. Wenn man sich dann mit einer schweren Lernaufgabe auseinandergesetzt hat, bewegt man sich von diesem „Hügel“ gern wieder in die Ebenen der Energiesenken (Attraktoren), wo das Lernen auf dem Weg des geringsten Widerstandes wieder entspannend und lustvoll ist. Der Unterschied zwischen den Lerntypen I und II bei Bateson besteht in der Reflexivität der Lernebene II, dem Wissen darüber, wie man lernt. Im Rahmen des Vokabellernens oder auch im Rahmen der Übersetzungsmöglichkeiten lateinischer Texte ergibt sich aus den ständigen Übungen (Lernen der Vokabeln beziehungsweise Übersetzen der Texte) ein vernetztes Wissen darüber, dass a)
b)
mit dem Lernen der Vokabeln u. a. ein bestimmtes grammatikalisches Wissen über die Sprache erworben wird. Der Lernende erfährt, dass ab einer gewissen Menge erlernter Vokabeln sich neue Vokabeln leichter lernen und zu anderen leichter vernetzen lassen sowie sich aus dem häufigen Übersetzen lateinischer Texte eine qualitativ andere, leichtere und originärere Interpretation der Texte ergibt.
Gelernt wird hier wieder im Rahmen der selbstähnlichen Struktur, weil bei jeder neuen Kurvenbahn (Trajektorie) neues Wissen hinzukommt. Hier ist aber entscheidend, dass unter der fortgesetzten Erhöhung der Energiezufuhr (mehr Voka-
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bellernen und mehr Übersetzungen) eine dissipative Struktur entsteht. Die bisherigen, systeminternen Spannungen beim Vokabellernen und Übersetzen erreichen einen kritischen Punkt. Der Lernende realisiert, dass sich sein Wissen und Verständnis hinsichtlich der Sprache verändert haben. Hier kommt es zu einer Bifurkation (Gabelung, im Sinne einer anderen Entwicklungsmöglichkeit) in ein globales neues Energieverteilungsmuster und somit in eine neue dissipative Struktur. Diese neue dissipative Struktur ist in diesem Beispiel das Lernen II, das dem Lernenden ermöglicht hat zu erleben, wie er ein breiteres und tieferes Verständnis der gelernten Sprache entwickelt hat, und zu lernen, wie er lernt. Grafisch vorstellbar ist diese neue Struktur wie eine veränderte oder neue fraktalchaotische Attraktorlandschaft (s. Abb. 5), die systemtypisch ist für nichtlineare Systeme (z. B. das affektal-kognitive System des Menschen). Ein weiteres Beispiel aus Beratung und Therapie soll die selbstähnliche Struktur menschlicher Veränderung und die Struktur selbstähnlichen Lernens aufzeigen. Im Psychodrama gibt es als eine der wichtigsten Handlungstechniken das „Doppeln“. Beim Doppeln stellt sich ein Gruppenteilnehmer hinter den Protagonisten und teilt diesem die Gefühle und Gedanken hinsichtlich einer Situation oder hinsichtlich eines spezifischen anderen Menschen mit, die er intuitiv durch Einfühlung (Empathie) und auch gegebenenfalls durch Übertragung bei dem Protagonisten wahrnimmt. Der Protagonist hat die Möglichkeit zu überprüfen, ob das Gehörte mit dem selbst Gedachten und Gefühlten übereinstimmt und kann bei Übereinstimmung dieses in seine Spielhandlung (z. B. soziales Atom oder Rollenspiel) mit aufnehmen. Der Vorgang des Doppelns ist ein typisches Beispiel für die Abbildung selbstähnlicher Strukturen. Der Teilnehmer, der doppelt, unternimmt den intuitiven Versuch, nicht die gleiche Struktur wie der Protagonist, aber eine selbstähnliche Struktur seines Denkens, seiner Affekte und seiner Handlungen darzustellen. Diese hergestellte selbstähnliche Struktur verhilft dem Protagonisten wiederum nicht nur zur Möglichkeit, weitere eventuell verdrängte oder unbewusste selbstähnliche Strukturen ins Spiel zubringen, sondern im weiteren auch zur Möglichkeit der Katharsis, in der es zu einer heilsamen affektiven und kognitiven Erschütterung, z. B. Trauerarbeit im Sinne von Reinigung und Klarheit, kommen kann. In diesem Beispiel gibt es zwar zwei rotierende Kugeln (Aufmerksamkeitsfokusse von Protagonist und Doppler), entsprechend auch zwei fraktal-chaotische Attraktorlandschaften, doch da der Doppler eine Helferfunktion hat und sich nach seiner Tätigkeit aus dem System zurückzieht, wird er hier auch nicht
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weiter miteinbezogen. Wichtig zu erwähnen ist, dass in dem vorgestellten Beispiel nicht mehr nur „unbewusst“ nach dem Prinzip des geringsten Widerstandes gehandelt wird, sondern dass vom Protagonisten und vom Teilnehmer in seiner Funktion als Doppler in der Attraktorlandschaft Hügel und Bergkuppen (Repulsoren) bewusst aufgesucht werden, um Veränderungsprozesse einzuleiten. Dieses schließt natürlich nicht aus, dass das Ziel dieser Bemühungen wiederum ein Weg des geringsten Widerstandes ist. Die Kugel des Protagonisten (sein Aufmerksamkeitsfokus) bewegt sich in der Attraktorlandschaft in immer neuen selbstähnlichen Kurvenbahnen in Energiesenken (Attraktoren) und Energiekuppen (Repulsoren) fort und unter der fortgesetzten Erhöhung der Energiezufuhr, z. B. in der Katharsis oder auch in einem Rollenspiel, kommt es wieder zu einer Bifurkation, zu einer Gabelung in eine neue Attraktorlandschaft mit ihren Kuppen und Tälern, in der die Kugel (der Protagonist mit seinem Aufmerksamkeitsfokus) selbstähnliche Kurvenbahnen aus der Vernetzung alter und neuer affektiv-kognitiver Muster entstehen lässt. In diesem Zusammenhang des Hinübergehens oder auch Überspringens von einer Attraktorlandschaft in eine andere kann von einer Neuordnung oder von einer „Versklavung“ (vgl. Haken, in Ciompi 2005: 156 f.) anderer Attraktoren und Repulsoren durch einen vielleicht vorher eher nebensächlichen Attraktor gesprochen werden. In dem geschilderten Psychodrama-Beispiel würde das Thema der Katharsis (z. B. Trauerarbeit) als im sozialen Verhaltensbereich vorher nebensächlicher Attraktor andere Affekte, Kognitionen und Verhaltensmuster dominieren und die Komplexität der alten Einstellung zu dem Thema reduzieren. Auffällig ist, dass es nahe der Umschlagspunkte in andere nichtlineare Systeme zu einer charakteristischen kritischen Verlangsamung der Systemdynamik kommt. Diese Verlangsamung findet z. B. auch bei einer tiefen Katharsis eines Protagonisten bei diesem und in der ganzen Psychodramagruppe statt. Aus Sichtweise des Autors ist hier wesentlich, dass es die Darstellung der fraktalen Strukturen erlaubt, einen genaueren Blick auf die Lernprozesse bei der Entstehung dieser selbstähnlichen Kurvenbahnen zu werfen. Unter der Prämisse, dass es sich hier um chaotisch-determinierte Strukturen handelt, kann davon ausgegangen werden, dass eine fraktale Struktur im affektiv-kognitiven Bereich einerseits aus determinierten, mit Informationen und Affekten vernetzten Wissensbeständen bewusster und unbewusster Natur und andererseits aus chaotischen, freien, nicht definierten Aspekten besteht, die beide Aktivität entwickeln. Wichtig ist hervorzuheben, dass beide Bereiche einer Steuerung in ihrem Fort-
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schreiten bedürfen. Im affektiv-kognitiven Bereich besteht die Möglichkeit der Steuerung durch den Aufmerksamkeitsfokus. Bezüglich der Katharsis eines Protagonisten, um bei diesem Beispiel zu bleiben, bedeutet diese Struktur, dass der Protagonist die Aufgabe erfüllt, unter dem Einfluss erhöhter Energiezufuhr einerseits die Vernetzung determinierter Informationen und Affekte zu berücksichtigen und parallel mit einem gewissen Maß an Freiheit (Chaos – nicht durch Informationen, Affekte und Verhaltensweisen strukturierte Energie) umgehen muss. Aus der Entwicklung der fraktalen Struktur ergibt sich ein fortlaufender Lernprozess, in dem der Protagonist in der Auseinandersetzung mit dem Bereich der bereits determinierten Struktur der Erfinder (bewusst oder unbewusst) seiner neuen Einstellung und Handlung zur spezifischen Situation in der Realität ist. Kommt in der Katharsis des Protagonisten z. B. die Trauer über eine misslungene Mutter-Kind-Beziehung zum Ausdruck, sind die unbewusst gespeicherte Trauer und die damit zusammenhängenden Erinnerungen einer der determinierten Aspekte der fraktalen Struktur. Das Zulassen oder Nichtzulassen der Trauer wäre die chaotische Struktur beziehungsweise das Maß an Freiheit, dass der Protagonist in diesem Augenblick hat. Unter der Voraussetzung der Hypothese der fraktalen Strukturen muss dabei auch die alte verdrängte Trauer „neu“ entdeckt werden, da der Entwicklungsprozess selbstähnlich verläuft und nicht identisch. Dieses impliziert, dass der Mensch bei Einsicht in diese Struktur gar keine andere Möglichkeit hat, als schöpferisch zu entscheiden, in welche Richtung die Reise gehen soll. In der Vernetzung einer mehrdimensionalen strukturellen Koppelung der Subsysteme Determiniertheit und Chaos, Affekte und Kognition entscheidet der Protagonist „bewusst“ oder „unbewusst“, in welche Richtung er geht. Eine Möglichkeit direkt erfahrbarer neuer Lernprozesse ist das Zulassen der Trauer. Die andere Möglichkeit besteht darin, sich seinen strukturellen Determinierungen zu beugen und noch weitere selbstähnliche Kurvenbahnen zu begehen, in denen auch Lernprozesse stattfinden, die dann erst nach mehreren Umdrehungen oder nie zu einer befreienden Wirkung des Trauerns führen.
3.4 Der Lernprozess als strukturelle Koppelung von Affekt und Kognition
3.4.3
111
Reflexives Lernen mit gleichberechtigter Beteiligung von Emotion und Kognition
Zusammenfassend lässt sich die fraktale Affektlogik Ciompis (2007: 16 ff.) in fünf Thesen beschreiben:
Fühlen und Denken – oder Emotion und Kognition, Affektivität und Logik im weiten Sinn – wirken in sämtlichen psychischen Leistungen untrennbar zusammen. Diese nicht neue Erkenntnis entspricht der alltäglichen subjektiven Erfahrung, ist von Anbeginn an ein zentrales Postulat der Freudschen Psychoanalyse und die gängigen Emotions- und Kognitionstheorien einschließlich der genetischen Epistemologie von Piaget unterstützen diese Sichtweise. Ebenso untermauern Ergebnisse der modernen Hirnforschung, dass funktionell untrennbar ineinander verflochtene Denk- und Fühlzentren sich gegenseitig ständig aufs engste beeinflussen. Unter anderem bekommen sämtliche einlaufenden Sinnesreize in den Mandelkernen (amygdalae) des sogenannten limbischen Systems – dem zentralen emotionsregulierenden Hirnbereich – obligat eine kontext- und erfahrungsabhängige emotionale Färbung, welche in der Folge die Art und Weise, wie Wahrnehmungen gespeichert, reaktiviert und mit anderen Inhalten verknüpft werden, in hohem Maße bestimmt. Die Tragweite dieses Befundes ist, so meine ich, allgemein noch keineswegs hinreichend verstanden, bedeutet er doch nicht mehr und nicht weniger, als dass es ein reines, affektfreies Denken überhaupt nicht gibt und geben kann – auch nicht in der Wissenschaft, nicht in der formalen Logik und nicht einmal [...] in der Mathematik (Ciompi 2007: 16 f.).
Affekte begleiten nicht nur alles Denken und Verhalten, sondern steuern diese zum Teil auch. Wie bereits dargestellt, funktionieren Affekte nicht nur als Motoren kognitiver und intellektueller Aktivität, sondern sie können diese auch bremsen (‚Ich fühle mich nicht so gut und kann mich nicht richtig konzentrieren‘). Neben diesen ‚Standardfunktionen‘ haben Affekte verschiedene Schaltoder Operatorwirkungen (ein Operator ist eine Variable, die eine andere Variable beeinflusst und verändert, s. o.) auf das Denken und Verhalten. „Zu den allgemeinen, das heißt bei allen Affekten grundsätzlich gleichartigen Operatorwirkungen gehört die Tatsache, dass die effektive Grundstimmung laufend den Fokus der Aufmerksamkeit beeinflusst und damit zugleich auch bestimmt, was gerade als wichtig oder unwichtig erscheint. Stimmungskonforme Wahrnehmungen
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oder Denkinhalte werden bevorzugt beachtet, nichtkonforme dagegen vernachlässigt“ (ebd.: 23). In freudiger oder entspannter Stimmung werden heitere oder fröhliche, in bedrückter Stimmung werden eher traurige oder bedrückende Aspekte wahrgenommen. Ebenso funktioniert das Gedächtnis affektabhängig. In emotional befriedigenden Situationen werden eher angenehme Wahrnehmungen gespeichert, in emotional unbefriedigenden Situationen eher unangenehme. Wie bereits oben beschrieben, konditionieren emotionale Befindlichkeiten, welche Denkelemente der Mensch zu größeren Gedankengebäuden beziehungsweise einer Logik (z. B. Wutlogik, Liebeslogik) verknüpft. Wesentlich ist hier auch der erweiterte Begriff der Lust, denn stimmige Lösungen sind lustvoll und ökonomisch und davon will jeder Mensch mehr. Zu dieser Form von „Lustprinzip“ gehören auch die Erkenntnisse aus Wissenschaft und Alltag, die häufig erst nach langfristigem Spannungsaufbau – die immer weiter gehende Suche nach der „richtigen“ Lösung – in einer Spannungslösung, die auch emotionaler Art ist, ihre Befreiung finden.
Situativ zusammengehörige Gefühle, Wahrnehmungen und Verhaltensweisen verbinden sich im Gedächtnis zu funktionellen Einheiten im Sinn von integrierten Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen. In Erweiterung des Aufbaus spezieller Affektlogiken geht Ciompi von integrierten Fühl-, Denk- und Verhaltensprogrammen (FDV-Programme) aus, die als „die eigentlichen Bausteine des ‚psychischen Apparats‘ (Freud) erscheinen; die ganze Psyche kann als ein komplex gegliedertes Gefüge von funktionellen FDV-Programmen verstanden werden“ (ebd.: 30). Als Beispiel aus dem Beratungs- und Therapiebereich kann eine typische „Übertragungshaltung“ dienen, überdeutlich in Form eines ängstlich-unterwürfigen und gleichzeitig agressiven Verhaltens männlichen Autoritätspersonen gegenüber, das sich in einer traumatischen Kindheitsbeziehung ohne real existierenden Vater zu einem ständigen Muster verfestigt hat. In der Sozialisation und durch weitere Erlebnisse mit Autoritätspersonen wie Lehrern etc. erweitert und verfeinert sich das dazugehörige FDV-Programm zu einem größeren Ganzen. Ciompi spricht in diesem Zusammenhang von „affektspezifischen affektiv-kognitiven ‚Strängen‘ oder ‚Schienen‘, [...] die sich [...] mit der Zeit zu [...] persönlichkeitsspezifischen ‚affektiv-kognitiven Eigenwelten‘ verdichten“ (ebd.: 31). Im beschriebenen Beispiel kann die Überzeugung entwickelt werden, dass keiner
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Autoritätsperson (Vorgesetzte oder andere „höher gestellte“ Menschen) oder auch überhaupt keinem Menschen mehr zu trauen sei.
Die Psyche ist fraktal strukturiert, im Größten befindet sich das Kleinste, im Kleinsten befindet sich das Größte. Wie oben dargestellt bedeutet der Begriff ‚fraktal‘ „sich selbst ähnlich auf beliebiger Ebene“ und impliziert eine „gleichartige Grundgestalt im kleinsten wie im größten Maßstab“ (ebd.: 32). Die Hypothese der Affektlogik ist, dass dieses enorm ökonomische Gestaltungsprinzip, beruhend auf der repetitiven Anwendung einer auf allen Ebenen gleichartigen einfachen Konstruktionsregel – eines Algorhythmus – zur Erzeugung eines ungeheuren Formenreichtums, auch in der unendlichen Vielfalt von psychosozialen Einzelerscheinungen am Werk ist (ebd.: 33).
Ciompi geht davon aus, dass die emotionalen Energien sowohl das individuelle wie das kollektive Denken und Handeln steuern. Als Beispiel sollen hier das rege Interesse an Großveranstaltungen wie die Olympiade oder die Fußballweltmeisterschaft, aber auch politische Verhältnisse wie der Israel-Palästina-Konflikt dienen. In diesem von einer Logik aus Wut, Angst und Verzweiflung geprägten Konflikt sind selbstähnliche Operatorwirkungen dieser Affekte auf Denken und Verhalten überdeutlich; sie manifestieren sich über Jahrzehnte hinweg weiter und sind beim einzelnen Bürger, in der Kleingruppe, in den Parteien und in der internationalen Politik auffindbar. Die fraktale Beschreibung psychischer Strukturen beinhaltet auch den Aspekt, „dass in jedem vorherrschenden Gefühl alle anderen (Grund-) Gefühle [...] enthalten sind: die Liebe im Hass, die Angst in der Wut, die Trauer in der Freude, und umgekehrt“ (ebd.: 35). Die Analogie mit einer Farbpalette kann verdeutlichen, dass z. B. in der Grundfarbe blau minimale sichtbare Tupfer aller anderen Farben enthalten sind. In Beratung und Therapie können diese „Tupfer“ als andersartige Fühl-, Denk- und Verhaltensmuster für Veränderungsprozesse und eben auch für Lernprozesse entscheidend sein.
Affekte sind die entscheidenden Motoren und Organisatoren aller psychischen und sozialen Entwicklung. Diese fünfte These Ciompis fasst die vier vorangegangenen Thesen zusammen und beinhaltet, dass bei genauer Untersuchung unter allen biografischen, sozialen und religiösen Fakten die Kraft der Emotionen steckt. Nur über die ständige Interaktion von Kognition und Emotion lassen sich soziale Konflikte, Gewaltausbrüche, ideologische und politische Bewegungen, letztlich alle soziale Dyna-
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3 Offene Lernprozesse als Voraussetzung für eine ökologisch orientierte Beratung
mik zumindest teilweise verstehen. Emotionale Zustände stellen gerichtete Energien dar, deren Potenzial nicht nur die Psycho- und Soziodynamik antreiben und in Gang halten. Gleichgerichtete individuelle Emotionen können sich zu mächtigen kollektiven Energieströmen vereinigen (z. B. wie bei Ideologien, Religionen etc.), die auf der makrosozialen Ebene zur Emergenz von ganz neuartigen Phänomenen führen (z. B. neue gesellschaftliche Organisationsformen, Moden etc.). Tiefgehende affektive Einflüsse sind in aller Psycho- wie Soziodynamik unausweichlich; einen entsprechend zentralen Platz verdienen sie in unserem Welt- und Menschenverständnis. Psychoanalytisch wichtige Verdrängungs-, Abspaltungs- und auch Übertragungsmechanismen zum Beispiel erscheinen aus Sicht der Affektlogik nur mehr als Spezialfälle von primär ganz normalen allgegenwärtigen Selektionsund Repressionswirkungen von Affekten auf Denken und Gedächtnis. Auch Bewusstsein und Unbewusstes präsentieren sich in neuem Licht: Bewusstsein als maximal aufwendiger Funktionsmodus, der vorab für Neues, potenziell Gefährliches, Schwieriges oder sonst wie besonders Wichtiges reserviert bleibt, das Unbewusste dagegen als Bereich maximal ökonomischen Funktionierens, auf den alles Lernen, und nicht zuletzt auch jegliche Psychotherapie, hinzielt. Denken wir nur nochmals ans Exempel des Autofahrens. Nicht nur Freuds berühmte Maxime ‚Wo Es war, soll Ich werden‘, sondern ebenso das umgekehrte ‚Wo Ich war, soll Es werden‘, macht deshalb Sinn (ebd.: 42).
Aus der Sichtweise der fraktalen Affektlogik erscheint einerseits alles Denken als stimmungs- und zugleich strukturbestimmt. Es hängt zu einem mehr oder weniger großen Teil von den emotional genutzten gegenwärtigen Aktivierungen und Einschränkungen der bereits bestehenden, durch Erfahrung erworbenen Fühl-, Denk- und Verhaltensmuster ab. Das Denken wie auch die Gesinnung und Einstellung eines Menschen ist von vornherein durch persönliche, familiäre und kulturelle Eigenwelten geprägt. Diesen Konditionierungen kann sich der Mensch ebenso wenig wie den beschriebenen affektiv-kognitiven Vernetzungen entziehen, zumal beide weitgehend unbewusst ablaufen. Andererseits ist der Mensch in der Lage, frei zu denken: Er trifft auf der Basis der eben genannten Infrastrukturen freie Entscheidungen und entwickelt auf dieser Basis auch Neues, was wiederum ein wesentlicher Aspekt des Erlebens der subjektiven Freiheit ist. Aufgrund der hohen Komplexität des Denkapparats ist der Mensch z. B. in der Lage, über Sachverhalte, wie die in dieser Arbeit geschilderten, frei nachzudenken, er fügt durch das Nachdenken weitere Freiheitsgrade hinzu oder hält sich zu mindestens die Möglichkeit offen, dieses zu tun. Der Grad oder Bereich der affektiv-kognitiven Determiniertheiten ist in
3.4 Der Lernprozess als strukturelle Koppelung von Affekt und Kognition
115
dieser Situation nicht mehr feststellbar, es findet ein Denken durch Schlaufen über Schlaufen über Schlaufen statt (vgl. Ciompi 2005: 333). Diese Form des Denkens hat hier die gleiche reflexive Struktur wie in Batesons kybernetischer Lerntypenlehre und seiner Aufforderung Lernen zu Lernen zu Lernen. Eingefordert wird das Erlernen und Praktizieren reflexiver Denkmodelle unter einem im Verhältnis zur Kognition gleichberechtigten oder, wenn notwendig, auch übergeordneten Einbezug der Rolle der Affekte. Aus der Perspektive der fraktalen Affektlogik ergibt sich, dass es nicht nur ein Welt- oder Menschenverständnis, sondern mehrere und grundsätzlich miteinander kaum vereinbare gibt – es sei denn, wir konstruieren uns ein operationales System, das gerade von einer solchen Multiplizität ausgeht und dann auf dieser ‚Schiene‘ weiter zu kommen sucht (ebd.: 335).
Dieses Welt- und Menschenbild versucht alle Widersprüche der menschlichen Existenz aus einer Gesamtperspektive zu sehen, nicht aus einem Streben nach einer unmöglichen Harmonisierung, sondern weil die beschriebenen Stimmungen mit den dazugehörigen Fühl-, Denk- und Verhaltensmustern von der Evolution als beste Möglichkeiten ausgewählt wurden. Die tiefe Natur der Dinge beruht auf unausweichlichen selbstorganisatorischen Notwendigkeiten, die sich durch den Menschen überhaupt nicht verändern, wohl aber vielleicht [teilweise (P.B.)] verstehen und damit auch respektieren lassen (ebd.: 337).
Hierzu gehört der aktive Einsatz nicht nur der kognitiven, sondern auch der affektiven Mittel, die uns die Natur der Dinge von allem Anfang an zum Überleben zugeteilt hat. Zusammenfassend lässt sich die Botschaft der fraktalen Affektlogik komplexitätsreduziert in drei Worten ausdrücken: „Denken mit Gefühl“ (ebd.: 337). Ciompi entwirft aus der Sicht der fraktalen Affektlogik ein idealistisches48 Lernziel des Menschen. Er geht davon aus, dass der Mensch, seine „Fähigkeit zur Kollaboration, zum differenzierten Zusammenarbeiten (als [P.B.]) – eine Form von Ökonomie, von Harmonie, von Liebe im weitesten Sinn also“ erweitern kann, beziehungsweise „aus evolutionsimmanenten und ‚systemrationalen‘ Gründen vielleicht sogar“ erweitern muss (Ciompi 2007: 50).
48
Im Weber´schen Sinne des Idealtypus.
116
3 Offene Lernprozesse als Voraussetzung für eine ökologisch orientierte Beratung
Entsprechend stellt Ciompi auch eine für unsere heutige Zeit wesentliche Frage des ökologischen Umgangs mit der herrschenden Realität: Wo bleibt das Bewusstsein, dass jeder Mensch ein Teil (ein Fragment oder Fraktal) des Ganzen, ein Sensor und Prozessor, ein differenzierter Fühler und zugleich – in welch winzigem Ausmaß auch immer – ein für seine Umwelt, seinen persönlichen Einflussbereich verantwortlicher Mitgestalter der unendlichen Wirklichkeit [all dessen, was wirkt ist?] (ebd.: 48).
4 Selbstlernkompetenzen als Grundlage für offene Lernprozesse einer ökologisch orientierten Beratung und Therapie
Unbestritten dürfte in Beratung und Therapie sein, dass Menschen ihre Wirklichkeiten aus Sichtweisen, Deutungs- und Emotionsmustern ihrer Erfahrungen konstruieren und das Wichtigste hierbei ist, dass Klienten auf Fremdsteuerungen, wie z. B. bei einer Intervention durch den Berater, nur zu ihren eigenen Bedingungen reagieren. Das Abbilden dieser Konstruktivität der eigenen individuellen Wirklichkeiten ist eine der zentralen Aufgaben von Beratung und Therapie. Eine andere zentrale Aufgabe ist die Befähigung des Klienten zur Neukonstruktion seiner individuellen Wirklichkeiten. Um im Terminus der Lerntypenlehre von Bateson zu bleiben, das Abbilden der Konstrukte individueller Wirklichkeiten wäre Lernen I, Lernen 1. Ordnung oder Behaltens- und Anschlusslernen: Der Klient lernt, im Beratungsprozess mitzuteilen, welche Wirklichkeitskonstrukte er sich aufgebaut hat. Die Fähigkeit zur Neukonstruktion individueller Wirklichkeiten wäre Lernen II, Lernen 2. Ordnung oder reflexives Lernen in dem Sinn, dass der Klient die individuellen Konstruktionsweisen der Wirklichkeit selbstreflexiv in den Blick nimmt. Arnold (2007: 173) z. B. nennt dieses Lernen 2. Ordnung ‚Transformationslernen‘. Bei diesem Lernen eignet sich der Klient nicht nur neue Fähigkeiten und Kompetenzen an, sondern entwirft zugleich die Formen seines eigenen Lernens. Hier findet der Umbruch zum selbst gesteuerten Lernen statt. Das Lernen im Beratungsprozess folgt dabei der klienteneigenen, biografisch-systemischen Logik,49 dessen 49
Vgl. Arnold 2007, Arnold & Siebert 2003, die im Rahmen der konstruktivistischen Erwachsenenbildung den emotionalen und kognitiven Rahmen des Lernpotenzials Erwachsener beschreiben.
P. Busch, Ökologische Lernpotenziale in Beratung und Therapie, DOI 10.1007/ 978-3-531-92754-1_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
118
4 Selbstlernkompetenzen als Grundlage für offene Lernprozesse
Tabelle 4: Lerntypen aufgeschlüsselt nach Qualifikationslernen und Identitätslernen im Beratungs- und Therapieprozess (adaptiert nach Arnold 2007: 174) Lernformen
Lernen I Behaltens-/Anschlusslernen
Lernen II Transformationslernen
Qualifikationslernen
Aneignung des Geforderten, Lohnenden und Erstrebenswerten
Entwicklung von übergreifenden und schlüsselqualifizierenden Kompetenzen zur Bewältigung komplexer Gestaltungs- und Kooperationsprobleme
Identitätslernen
Aneignung verschiedener Inhalte zur persönlichen Weiterentwicklung, Horizonterweiterung, Identitätsbildung
Entwicklung selbst verändernder Fähigkeiten bzw. Entwicklung von Gestaltungskompetenz
Lernbereiche
Form und dessen Veränderungsmöglichkeiten neben dem normalen Informations- beziehungsweise Anschlusslernen parallel erlernt werden. Im Prinzip findet in fast allen Beratungs- und Therapieprozessen das Lernen 2. Ordnung statt. Beratung und Therapie sind zumeist auf das Erlernen des reflexiven Umgangs mit den eigenen Emotionen und dazugehörigen Kognitionen der Klienten ausgerichtet. Dieses Ziel wird in verschiedenen Abstufungsgraden auch häufig erreicht, hier ist Beratung und Therapie erfolgreich. In Tabelle 4 werden unter Erweiterung der konstruktivistischen Beschreibung des Erwachsenenlernens von Arnold die Lerntypen I und II aufgeschlüsselt nach Qualifikations- und Identitätslernen dargestellt. Der Wechsel vom Behaltens- und Anschlusslernen (Lernen I) zum Transformationslernen ist bei Qualifikations- und Identitätslernen der Wechsel zum reflexiven Lernen (Lernen II). Im Transformationslernen aller Lernbereiche bilden sich reflexive „Schleifen“ so ab, dass sich Individuen in Lernprozessen nicht nur einen Lernstoff aneignen, sondern auch die Art und Weise ihrer Aneignung während des Lernprozesses transformieren. Als Beispiel mag reflexives Identitätslernen dienen, das als ein Ziel in Beratungs- und Therapieprozessen anvisiert wird: Wenn der Klient gelernt hat, seine eigene Identitätsentwicklung ständig zu reflektieren, wie in neuen Informationen einen Widerhall im Eigenen zu finden
4 Selbstlernkompetenzen als Grundlage für offene Lernprozesse
119
und dabei die eigene biografisch entstandene Logik „im Sinn hat“, dann kommuniziert er mit einer anderen Motivation und Bereitschaft. Der Klient profitiert bei seiner Bewegung durch Anforderungskontexte und Beziehungen, in der er projektiven Zuschreibungen wie auch Aktivierungen eigener biografischer Programmierungen ausgesetzt ist, von der Stärkung der Selbststeuerungs- und Selbstreflexionspotenziale. Im Idealfall vermag er sich darüber von vielen vergangenen, problematischen Situationen zu distanzieren, um auf deren grundlegenden Muster zu achten und darüber sein neu erlerntes, situatives Einlassen auf spezifische Situationen im Hier und Jetzt zu entscheiden. In diesem Sinn wird hier für das Lernen II als einem Ziel beraterischer und therapeutischer Interventionen de aus der Bildung bekannten Begriff der „Selbstlernkompetenz“ als weiteres Kompetenzziel hinzugefügt. Selbstlernkompetenz, bekannt und diskutiert unter den Begriffen selbsttätiges, selbstreguliertes und selbstorganisiertes Lernen, hat neben historischen Wurzeln seine Ursprünge in der Reformpädagogik, z. B. bei Hugo Gaudik (1963), der die Idee entwickelte, dass Schüler eine Methode benötigen, die eine „freie geistige Arbeit“ ermöglicht. Maria Montessori (1966) rückte mit ihrem pädagogischen Konzept das Prinzip der Selbsttätigkeit „vom Kinde aus“ in den Vordergrund. Knowles (1975) als Vertreter des „self-directed learning“ argumentierte auf einer anthropologischen Basis, dass die Gattungsentwicklung des Menschen zur Selbststeuerung hin voranschreitet und dass durch diesen Prozess und durch den schnelleren zeitlichen Verfall von Wissen ein Lernen basierend auf der Eigeninitiative des Menschen notwendig ist. Ab 1990 wurde unter dem Begriff „lebenslanges Lernen“ die Notwendigkeit selbsttätigen Lernens diskutiert. Hintergrund dieser Diskussion waren Erkenntnisse der kognitionstheoretischen und konstruktivistischen Lernforschung über Lernende als relativ geschlossene, sich selbst organisierende Systeme, die nicht von außen bestimmt, sondern lediglich angeregt, „verstört“ in systemisch korrekter Ausdrucksweise, werden können. Über die Anregung schließt sich neues Wissen an bereits vorhandenes an (vgl. Arnold & Gomez Tutor 2007: 123 ff.). Definiert wird Selbstlernkompetenz als
die Bereitschaft Fähigkeiten und Fertigkeiten einer Person, Lernprozesse mit den Schritten Antizipation, Planung, Durchführung und Kontrolle aktiv zu bewältigen. Aktive Bewältigung heißt nicht, ohne Hilfe auskommen zu müssen oder zu sollen (vgl. Arnold et al. 2002, in Arnold & Gomez Tutor 2007: 125).
120
4 Selbstlernkompetenzen als Grundlage für offene Lernprozesse
Zur Selbstlernkompetenz gehören:
Fachkompetenz im Sinne von Sach- und sozialer Kompetenz als Gesamtheit der Kenntnisse einer Person hinsichtlich eines Themas sowie der Umgang mit diesem Wissen. Ein zentraler Bereich der gesamten Kenntnisse ist das anschlussfähige Vorwissen beziehungsweise das vorhandene Allgemeinwissen. Personale Kompetenz im Sinne der emotionalen und kommunikativen Kompetenz (Motivation, Kreativität, Werthaltungen, Entwicklung von Motiven und Selbstbildern, Selbsteinschätzung, Fremdeinschätzung u. a.) (vgl. Arnold & Gomez Tutor 2007: 126 ff.).
Beim „normalen“ Lernen (z. B. in der Schule, im Studium) liegt der Fokus mehr auf der Fachkompetenz. Selbstlernkompetenz ist vor allen Dingen auf die Person zentriert zu betrachten. In solchen Lernsituationen, die stärker durch selbst gesteuerte Lernprozesse gekennzeichnet sind, wie es z. B. in Beratungssituationen der Fall ist, spielt die kommunikative und emotionale Kompetenz eine größere Rolle (vgl. Arnold et al. 2002, in Arnold & Gomez Tutor 2007: 128). Wie Ciompi den Nachweis einer notwendigen stärkeren Vernetzung von Affekten und Kognition erbracht hat, so wird den emotionalen Komponenten von Lernsituationen von den Kognitionswissenschaften und der Lehr-/Lernforschung immer mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht. Empirische Studien zeigen auf, dass kognitive Zustände in emotionale Muster eingebettet sind, z. B. bei dem Umgang mit Furcht vor Misserfolg und der Hoffnung auf Erfolg. Die Furcht vor dem Misserfolg wirkt sich leistungsmindernd aus (vgl. Steiner 1997; Seel 2000, in Arnold & Gomez Tutor 2007: 128). Ebenso hat Maturana die Emotion mit der Kognition rückgekoppelt: Die Behauptung, die Vernunft charakterisiere das Menschliche, ist wie eine Scheuklappe. Sie macht uns blind gegenüber dem Emotionalen, welches wir als etwas Tierisches oder Unvernünftiges abwerten. D. h., indem wir uns als rationale Wesen definieren, erzeugen wir eine Kultur, welche die Emotionen abwertet, und wir übersehen die alltäglichen Verquickungen zwischen Vernunft und Emotion, welche unser menschliches Leben ausmachen, und wir erkennen nicht, dass das gesamte Vernunftsystem eine emotionale Basis hat. Die Emotionen sind nicht mit dem identisch, was wir als Gefühle bezeichnen. Vom Biologischen her gesehen sind Gefühle dynamische körperliche Dispositionen, welche die unterschiedlichen Bereiche unseres Handelns, in welchem wir uns bewegen, bestimmen. Wenn jemand seine Emotion verändert, verändert er auch sein Handeln. Eigentlich ist uns dieses in unserem Alltagsleben voll bewusst, aber wir negieren es, weil wir daran festhalten, unser Verhal-
4.1 Sich-selbst-ähnliches-Lernen
121
ten als menschliche Wesen als rational zu bezeichnen. Gleichzeitig wissen wir, dass wir in einer bestimmten Emotion Dinge tun oder Dinge nicht tun und dass wir bestimmte Argumente als gültig akzeptieren, welche wir in einer anderen emotionalen Lage nicht als gültig anerkennen (Maturana 1997: 15, zit. nach Arnold 2005: 9).
4.1 Sich-selbst-ähnliches-Lernen Mit dem Begriff Ermöglichungslernen, erweitert aus dem Begriff der Ermöglichungsdidaktik (Balgo & Lindemann 2006; Voß 2005; Arnold & Gomez Tutor 2007), lässt sich aus konstruktivistischer Sichtweise eine reflexive Grundstruktur beschreiben, die in Beratungs- und Therapieprozessen, wie in anderen Lernprozessen, nach einer Intervention, einer „Verstörung“ oder „Anregung“ des Systems häufig einsetzt. Durch eine signifikante Verstörung beziehungsweise Anregung des Systems kann es zu einer Unterbrechung bestehender Muster (z. B. eines Kommunikationsmusters wie dem „Teufelskreis“50) kommen. Der Klient hinterfragt seine bisherigen Glaubenssätze, Verhaltensmuster und die damit verknüpften Emotionen und öffnet sich hier fast parallel zunächst einmal den Möglichkeiten bislang nicht erprobter Ideen, Denkansätze, Emotionen und Verhaltensmuster, ohne sich gleich auf eine neue Struktur (neues Verhaltensmuster etc.) festzulegen. Zu diesem Zeitpunkt befindet sich der Klient in einem „offenen“ Lernzustand, dessen Ergebnis nicht feststeht. Durch das reflexive Bearbeiten seiner alten Strukturen (Glaubenssätze etc.) und einer gedanklich die Zukunft vorwegnehmenden gleichzeitigen Neuausrichtung mit Hilfe des Beraters entwickelt der Klient langsam die Fähigkeit, selbstreflexiv seine gelernten Verhaltensmuster wahrzunehmen und mit Hilfe der neuen Ideen und Denkansätze und den dazugehörigen Emotionen ein zukünftiges Sosein (z. B. im Rollenspiel) zunächst erprobend vorwegzunehmen, um dieses zu einem späteren Zeitpunkt in der Realität auszuprobieren. Die Ermöglichungsdidaktik liefert hier einige Impulse, die, obwohl sie ständig in prozessorientierter Beratung und Therapie praktiziert werden, doch wich-
50
Der Teufelskreis stellt einen Prozess dar, dessen Ergebnis die ihm zu Grunde liegenden Voraussetzungen fördert. Sind die Voraussetzungen emotional negativer Natur, werden diese durch das Ergebnis verstärkt, ein Teufelskreis verstärkt sich also selbst. Als Beispiel kann ein Ehepaar am morgendlichen Frühstückstisch dienen: Er schweigt und liest die Tageszeitung, sie nörgelt, er liest und schweigt weiter, sie nörgelt etc.
122
4 Selbstlernkompetenzen als Grundlage für offene Lernprozesse
tige Elemente des Lernprozesses in Beratung und Therapie aus einer didaktischen Sichtweise in den Vordergrund rücken:
51
Aufhebung der Trennung von Lehren und Lernen: Alle Beteiligten leisten ihren spezifischen Beitrag zum Lehr- und Lernprozess und alle lehren und lernen. Der Berater lehrt den Klienten z. B. Wissen über Kommunikationsformen, der Klient entscheidet sich, diese vollständig zu lernen, zum Teil oder auch nicht zu lernen. Der Berater lernt vom Klienten, ob und wie er sein Lehrangebot annimmt und reflektiert potenzielle Veränderungen in seinem Lehrangebot. Besonders wichtig ist, dass die Aufhebung der Rollen kommunikative und erfahrungsoffene Prozesse mit sich bringen, in denen sich Klient und Berater immer wieder über lernrelevante Aspekte verständigen und diese mit ihren Erfahrungen in Einklang bringen. Lernen bewegt sich von der Kognition und von der Ausführung her nicht mehr zwischen den Polen Lehrender und Lernender, sondern ist Teil der strukturellen Koppelung zwischen Berater und Klient und bezieht beide in den Lehr-/Lernprozess mit ein. Hier beginnt das reflexive Lernen II, das Transformationslernen oder das Ermöglichungslernen. Reduzierung des Lernens im Gleichschritt: Ermöglichungslernen bringt für Beratung und Therapie auf der Lernebene noch einmal die Bedeutung zeitlich und individuell verschieden langer und intensiver Lernprozesse zum Ausdruck. Das Entstehen dieser Lernprozesse vollzieht sich reflexiv, ist eng mit der Frage der Selbststeuerung verknüpft und mit einer vielfältigen Gestaltung von Lernschritten und -phasen verbunden. Überwindung des einseitigen Methodenbesitzes im Beratungs- und Therapieprozess: Nicht der Berater allein verfügt über Methoden zum selbstreflexiven Lernen, sondern der Klient eignet sich diese zunehmend an. Ebenso erweitert der Klient sein Welt- und Menschenbild sowohl durch die Beratungs- und Therapieform wie auch durch den Berater und Therapeuten. Ebenso erwirbt er neue Handlungs- und Kommunikationsmuster. Dieses Wissen fließt, häufig unausgesprochen, per se in jeden Beratungs- und Therapieprozess mit ein.51 Milderung des Vorranges von Lehrinhalten: Hier sind die Fragen nach den Inhalten angesprochen, die als Lernmöglichkeit angeboten werden sollen. Welches Wissen ist es in Beratung und Therapie „wert“, gelernt zu werden, Die Vermittlung von Methodenwissen wird im Abschnitt 4.2 ausführlicher behandelt.
4.1 Sich-selbst-ähnliches-Lernen
123
welche Inhalte sind strukturbildend und stellen tatsächlich ein relevantes Element für reflexives Lernen und für Kompetenzentwicklung dar? Hier taucht angesichts der Fülle des Wissens in unserer Informationsgesellschaft die Frage auf, welches „Knotenpunktwissen“ (Grüner, zit. nach Arnold 1999: 125) weitergegeben werden soll (vgl. Arnold & Gomez Tutor 2007: 97 f.).52 Im Hinblick auf Beratungshandeln wird deutlich, dass das Ermöglichungslernen, Lernen II, reflexives Lernen oder Transformationslernen auch in Beratung und Therapie zu einer Veränderung der Rollen von Berater und Klient führt. Durch eine Offenlegung der strukturellen Lernmöglichkeiten wird auch eine Übernahme von Verantwortung für die Prozesse bewusst möglich, die prinzipiell nicht planbar sind. Diese Prozesse finden in Beratung und Therapie ständig statt. Der relevante Unterschied liegt in der Bewusstmachung der Struktur des Prozesses, die wiederum weitere Wege des Handelns und Ausprobierens möglich macht. Der bewusste Umgang mit der Nichtplanbarkeit und der Ungewissheit zukünftiger Handlungsschritte, Lebensentwürfe etc. verhilft langfristig zu einer klareren Gestaltung der Wirklichkeit (vgl. Küppers 2004, in Arnold & Gomez Tutor 2007: 101). Wie unter den Zielen der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung beschrieben (s. o. Kapitel 2), kann angesichts eines gravierenden ökologischen Wandels und einer damit einhergehenden veränderten Wahrnehmung der gesamten Biosphäre, einer Veränderung des alltäglichen Lebens und einer bereits stattfindenden Veränderung der Bildungslandschaft weg vom reinen Informationslernen hin zum Aufbau von Kompetenzen mit eingeschlossenem Informationslernen, allein ein reflexives Lernen in der beschriebenen Form für die Bewältigung zukünftiger Lebensaufgaben als Orientierung und Maßstab für permanente Entwicklungsprozesse nicht mehr ausreichen. Es reicht nicht mehr aus zu sagen: „Folge deinem Gefühl“, „Versteh seinen Ursprung“ oder „Versuche mit dieser Handlung eine andere Gefühlserfahrung zu machen und schau, wie es Dir dabei geht“ etc. Es wird zunehmend wichtiger, die Bedeutung der Affekte in der Vernetzung mit der Kognition für die Gestaltung des Alltags und der für jeden Menschen offenen Zukunft anzuerkennen. Insbesondere ist es wichtig, aus der auch individuellen Vergangenheit die Bedeutung der Affekte für die Funktion und Steuerung der eigenen evolutionären Prozesse kennen zu lernen. 52
Die Frage des Knotenpunktwissens wird im Abschnitt 4.2 ausführlich diskutiert.
124
4 Selbstlernkompetenzen als Grundlage für offene Lernprozesse
Zusammenfassend lässt sich verdeutlichen: Ein und dieselbe formale Logik kann auf Grund einer affektbedingt andersartigen Selektion, Verknüpfung und Gewichtung von kognitiven Inhalten innerhalb ein und derselben Situation zu völlig andersartigen Ergebnissen führen. Die Differenzen, die die unterschiedlichen Konstruktionen trennen, liegen kaum an Fehlern oder Irrtümern im formallogischen Gebäude, sondern an den bei den Beteiligten wirksamen affektbedingten Selektions-, Bindungs- und Gewichtungseffekten, die alle intellektuellen Operationen fortwährend begleiten und beeinflussen. Es wird für Klienten wichtig und notwendig sein zu lernen, wie sein System der Selbstorganisation funktioniert. Die bisher formulierten Ziele des Lernens II, des reflexiven Lernens oder des Ermöglichungslernen reichen allein für eine Veränderung des Beratungs- und Therapieprozesses in Richtung Realisierung der Ziele verschiedener Kompetenzentwicklungen nicht aus: Klienten in Beratung und Therapie benötigen nicht nur Wissen über die Struktur der eigenen Emotionen, des eigenen Denkens und über den selbstgesteuerten Umgang mit den eigenen Emotionen und Denkbewegungen. Sie benötigen zusätzliches Wissen über den Aufbau der Welt nach ihren eigenen Verstehens- und Interpretationsmöglichkeiten, wenn sie effektiv und positiv für sich und andere ihr Leben gestalten wollen, wie z. B. ein Verständnis für die Bedeutung der Vernetzung von Emotion und Kognition und der permanenten Neuentwicklung der Selbstorganisation zu entwickeln. Zu einer wirklichen Einflussnahme auf das Verhältnis zwischen der eigenen Selbstorganisation und der Umwelt ist es notwendig, die häufig diffizilen Kommunikations- und Verhaltensprozesse reflexiv erfahrbar zu machen. Damit diese Erfahrung erlebbar wird, ist eine Einführung verschiedener Lern- und Erfahrungsebenen in Beratung und Therapie notwendig. Es wird ein idealtypisches Modell oder ein Rahmen benötigt, durch die auf die Zukunft gerichtete, offene Lernerfahrungen möglich werden. Die systemisch-konstruktivistische Perspektive interpretiert Lernen als eine Tätigkeit, die ein lebendes Wesen benötigt, um seine Selbstorganisation (Autopoiesis) in der bestehenden Umwelt fortsetzen zu können. Mit diesem Verständnis beinhaltet der Prozess des Lernens einerseits das Lernen der „Funktionen“ der Selbstorganisation und darauf aufbauend das Lernen der Steuerung der eigenen Selbstorganisation, und, falls es sich nicht um nicht bewusste Prozesse handelt, die Regulierung des Verhältnisses der eigenen Selbstorganisation zur Umwelt.
4.1 Sich-selbst-ähnliches-Lernen
125
Aus dieser Perspektive entwickelt der Lernprozess eine grundlegende Bedeutung für
die Selbstreferenz: Lernprozesse ändern und steuern das autopoetische Individualsystem des Menschen; den bio-psycho-sozialen-ökologischen Kontextbezug: Jeder Lernprozess stellt ein Verhältnis zur Systemumwelt her (Primär-, Kontext- und Suprasysteme), er ist kein interner Vorgang innerhalb der Veränderungen eines autopoetischen Systems. Das Lernen hat direkte oder indirekte Auswirkungen auf alle vier Kontexte: das körperliche System, das psychische oder Bewusstseinssystem, das soziale, gesellschaftliche System und das ökologische System der unmittelbaren Lebensumwelt; den Praxisbezug: Lernprozesse dienen sowohl der Erhöhung als auch der Reduktion von Komplexität und haben dadurch Orientierungsfunktion insbesondere für spezifisch Lernende (Schulkinder, Auszubildende, Studenten, Klienten, Teilnehmer an Fortbildungen etc.).
Somit stellt sich die Frage, wie die komplexe Dynamik der Entwicklung sozialer Systeme als Lernprozess in Beratung und Therapie vermittelt werden kann. Unter Bezugnahme auf Ciompi (s. o.) und unter Nutzung seiner Hypothese der Affektlogik wird hier ein gangbarer Weg in der Nutzung der Entwicklung der fraktalen (sich selbst ähnlichen) Strukturen vorgeschlagen, die sich in jedem Entfaltungsstadium neu erschaffen. Der Autor führt für diese Lernprozesse den Begriff des „Sich-selbst-ähnlichen-Lernens“ ein, um zu dokumentieren, dass es hierbei entscheidend auf die Präzision des Lernprozesses bis in die kleinsten Fragestellungen hinein ankommt. Dieses Vorgehen ist zwar zunächst mühsam und arbeitsaufwendig, zwingt jedoch Berater, Therapeuten und Klienten zu einer genauen Betrachtung der bestehenden affektiv-kognitiven Realität des Klienten, um daraus sowohl Lernprozesse der Veränderung wie auch Lernprozesse über die Art und Weise des Lernens selbst und modellhaftes Lernen über den Aufbau z. B. sozialer Systeme zu entwickeln. Wie in Kapitel 3 dargestellt, bedeutet der Begriff ‚fraktal‘ „sich selbst ähnlich auf beliebiger Ebene“ und impliziert eine „gleichartige Grundgestalt im kleinsten wie im größten Maßstab“. Die Hypothese der Affektlogik ist, „dass dieses enorm ökonomische Gestaltungsprinzip, beruhend auf der repetitiven Anwendung einer auf allen Ebenen gleichartigen einfachen Konstruktionsregel – eines Algorithmus – zur Erzeugung eines ungeheuren Formenreichtums, auch in der unendlichen Vielfalt von psychosozialen Einzelerscheinungen am Werk ist“
126
4 Selbstlernkompetenzen als Grundlage für offene Lernprozesse
(Ciompi 2007: 33, s. o.). Diese einfache Konstruktionsregel beschreibt die Grundstruktur des Sich-selbst-ähnlichen-Lernens. Als Beispiel aus Beratung und Therapie kann eine Trauerarbeit dienen, die z. B. durch eine Familienaufstellung oder ein Rollenspiel aktiviert wird. Der Klient trauert und erzählt Begebenheiten aus seinem Leben, die mit dieser Trauer zusammenhängen. Genau betrachtet, erzählt er aber nicht nur vergangene Erlebnisse, sondern zum Zeitpunkt der Trauer und des Erzählens beschreitet der Klient bereits einen neuen Informations- und Kommunikationsweg, der es ihm ermöglicht, seine Trauer zuzulassen. Er entwickelt einen neuen bio-psycho-sozial-ökologischen Kontextbezug, verändert sein bestehendes soziales Netzwerk und lernt in sich selbst ähnlichen Strukturen. Hier ist der entscheidende Punkt, an dem nicht nur ein Teil der Vergangenheit des Klienten aufgearbeitet wird, an dem der Klient reflexives Lernen und auf die Zukunft gerichtetes Ermöglichungslernen lernt, sondern an dem der Klient die Chance hat, seine Sichtweise der Welt zu ändern und zu lernen, welches Wissen er benötigt, um „seine“ Welt sinnvoll zu konstruieren. Der Berater hat hierbei die Aufgabe, das notwendige Wissen über die Entwicklung und Vernetzung von emotional-kognitiven Inhalten, Veränderung von sozialen Systemen (Familien, Gruppen, Netzwerken etc.) und z. B. auch Menschenbilder nach Möglichkeit praxisnah und verständlich zu „unterrichten“. Er muss dabei darauf vertrauen, dass der Klient die für ihn wichtigen Informationen aus diesem „Unterricht“ selektiert und für sich einsetzt. Dem Klienten soll deutlich werden, dass er es bei allen Konstruktionen individueller Wirklichkeiten außerhalb seiner Systemgrenze Körper-Emotion-Kognition ausschließlich mit anderen „individuellen“ Konstruktionen zu tun hat, die nicht der seinen entsprechen und denen er sich über Möglichkeiten des eigenen Sich-selbst-ähnlichen-Lernens annähern kann, dieses z. B. in Form von „positiver“ Kommunikation. Wenn ein Klient die „Systembedingungen“ einmal kennt und sein „Alleinstellungsmerkmal“ begriffen hat, wird er schneller lernen, reflexiv und kreativ auf die Anforderungen in seinem sozialen Umfeld antworten zu können. Auch die oben beschriebenen dissipativen Strukturen (Prigogine & Stengers 1980, s. Kapitel 3) fügen sich in die Sichtweise des Sich-selbst-ähnlichen-Lernens ein. Als Beispiel soll wiederum die Trauerarbeit des Klienten dienen: Die Trauer des Klienten ist so stark und intensiv, dass sie sich in einer weiteren selbstähnlichen Kurvenbahn zur Katharsis entwickelt, die es dem Klienten ermöglicht, einen Großteil seiner intrapsychischen Spannungen abzubauen. Unter der fortgesetzten Erhöhung der Energiezufuhr durch die Katharsis entsteht hier eine dissipative Struktur Die systeminternen Spannungen erreichen einen kriti-
4.1 Sich-selbst-ähnliches-Lernen
127
schen Punkt, an dem sie nicht mehr in der bisherigen Weise abgeführt (dissipiert) werden können. In dieser Situation kommt es in Systemen aller Art zu einem plötzlichen Umschlag, einer so genannten Bifurkation (Gabelung, im Sinne einer anderen Entwicklungsmöglichkeit) in ein neues Energieverteilungsmuster, in eine neue dissipative Struktur. Hierbei variieren die entstehenden Funktionsmuster systemspezifisch, die grundlegenden Gesetzmäßigkeiten an diesen Umschlagpunkten bleiben jedoch bestehen. Es kommt intrapsychisch betrachtet zu einer anderen Form des dynamischen Fließgleichgewichtes, die durch ein anderes zeitlich-räumliches Energieverteilungsmuster charakterisiert ist. Auch hier beschreitet der Klient zum Zeitpunkt der Katharsis und des Erzählens bereits einen neuen Informations- und Kommunikationsweg, der es ihm ermöglicht, seine Trauer zuzulassen. Er entwickelt einen neuen bio-psycho-sozial-ökologischen Kontextbezug und verändert sein bestehendes soziales Netzwerk. Die Erkenntnisse aus der Katharsis, die „systemspezifischen Funktionsmuster“, aus denen sich das neue dynamische Fließgleichgewicht entwickelt, bilden qualitativ eine andere Struktur, die einen anderen Informationswert als im obigen Beispiel besitzt und gleichzeitig sich selbst ähnlich ist. Die Intensität der Katharsis bringt ein anderes Energiemuster hervor und damit auch ein gewandeltes Informationsmuster, das sich in anderen emotionalen, kognitiven Mustern und anderen Handlungsaktivitäten ausdrückt. Es kommt zu einer Umbruchsituation des Systems, der Klient betritt ein neues Level, die alten Bestandteile des Systems werden neu geordnet oder „versklavt“, wie Haken (s. Kapitel 3) in seiner „Synergetik“ (der Lehre vom Zusammenwirken) allgemein gültig beschrieben hat. Die Sicht- und Vorgehensweise des Sich-selbst-ähnlichen-Lernens erzeugt bei den Klienten Sicherheit. Bereits durch den Vorschlag, die eigenen Veränderungsprozesse als sich selbst ähnlich, so wie es der Klient immer getan hat, mit einer kleinen Neuerung beziehungsweise Veränderung zu betrachten, entsteht eine Basis der Vertrautheit. Der Klient findet innerhalb seines alten Systems den kleinen Bereich, der das Neue ermöglicht, und die Basis der bestehenden Vertrautheit erlaubt die entscheidenden kleinen Schritte in eine veränderte Zukunft. Sich-selbst-ähnliches-Lernen lässt sich auch mit der „Aneigungsbewegung“ (Arnold 2007: 173) des Lernens beschreiben, die ihren eigenen Mustern in Emotion und Kognition folgt, wie sie sich aus dem Biografielernen des Klienten ergeben hat. Lernen ist in dieser Form immer ein durch Differenz und Vielfalt gezeichnetes Vorgehen, das sich nicht in erster Linie an externen Vorgaben orientiert, sondern immer nur dann stattfindet, wenn Individuen das aufgreifen und
128
4 Selbstlernkompetenzen als Grundlage für offene Lernprozesse
sich aneignen, was ihnen für ihr Überleben beziehungsweise für ihre Lebenspraxis notwendig erscheint. Eine weitere Frage ergibt sich aus der Ungewissheit hinsichtlich der Veränderung der eigenen sozialen Systeme, mit der Klienten im Beratungs- und Therapieprozess konfrontiert sind. Eine gangbare Lösung liegt darin, die Selbstorganisation der eigenen Systeme zu nutzen, die immer ein dynamisches Gleichgewicht sowohl bei kognitiver, emotionaler und sozialer Gewissheit als auch bei Ungewissheit herstellt. Relevant für die stattfindenden Selbstorganisationsprozesse ist, dass „das Gleichgewicht, die Gewissheit, die Ruhe oder die soziale Sicherheit nie wirklich erreicht werden, weil die Umwelt stets einen ausreichenden Vorrat an Ungleichgewichten, Ungewissheiten, emotionalen Unsicherheiten oder sozialen Risiken bereithält, der die Selbstorganisation auf Dauer stellt53 und die kontinuierliche Differenzierung komplexer Systeme vorantreibt“ (Küppers 2004, in Arnold & Gomez Tutor 2007: 100). In dieser dynamischen Balance mit der vorhandenen Unsicherheit sich selbst organisierender, strukturell gekoppelter Systeme liegt aber eben auch das Lernpotenzial für den Klienten. Mit Hilfe der präzisen Analyse der Veränderung seines sozialen Systems als Reaktion auf variable Umwelten lernt er andere Möglichkeiten der Selbststeuerung. Außerdem wichtig für Beratung und Therapie ist das Ausmaß des Vorhandenseins von anschlussfähigem Vorwissen oder vorhandenem Allgemeinwissen bei dem Klienten: Einzelne empirische Studien aus dem Bildungsbereich belegen, wie unentbehrlich anschlussfähiges Vorwissen beziehungsweise vorhandenes Allgemeinwissen (vgl. Klein 2000, in Arnold & Gomez Tutor 2007: 126 f.) sind, wenn Selbstlernprozesse erfolgreich ablaufen sollen. Als Beispiel soll ein Klient dienen, dessen anschlussfähiges Vorwissen defizitäre Strukturen aufzeigt und eine Struktur benötigt, die „lernanschlussfähig“ ist. Diese Lernanschlussfähigkeit kann über Sich-selbst-ähnliches-Lernen erreicht werden, indem der Klient nicht nur neue Informationen lernt, sondern die Aneignungsbewegung des Lernens selbst lernt. Zu diesem Vorgang gehört aber auch die Wissensvermittlung, wie Lernen überhaupt geschieht. Dieses ist Aufgabe des Beraters oder Therapeuten. Hier nutzt im Übrigen auch ein Ruf nach Persönlichkeitskompetenzen wie z. B. Gestaltungskompetenz nichts, wenn der Klient kein klares Bild vor Augen hat, wie seine eigenen Lernprozesse funktionieren und wie er diese gestalten kann. 53
„... auf Dauer stellt ...“ im Sinne von „... findet permanent statt ...“ [P.B.].
4.1 Sich-selbst-ähnliches-Lernen
129
Tabelle 5: Lerntypen aufgeschlüsselt nach Qualifikationslernen, Identitätslernen und Sich-selbst-ähnlichem-Lernen im Beratungs- und Therapieprozess (adaptiert nach Arnold 2007: 174) Lernformen
Lernen I Behaltens-/Anschlusslernen
Lernen II Transformationslernen
Qualifikationslernen
Aneignung des Geforderten, Lohnenden und Erstrebenswerten
Entwicklung von übergreifenden und schlüsselqualifizierenden Kompetenzen zur Bewältigung komplexer Gestaltungs- und Kooperationsprobleme
Identitätslernen
Aneignung verschiedener Inhalte zur persönlichen Weiterentwicklung, Horizonterweiterung, Identitätsbildung
Entwicklung selbst verändernder Fähigkeiten, Entwicklung von Kompetenzen
Aneignung verschiedener Wissensinhalte, wie gelernt wird
Selbstlernkompetenzen: Entwicklung der eigenen Lernfähigkeit, Veränderung der eigenen Lernmuster durch die Nutzung sich selbst ähnlicher (fraktaler) Strukturen
Lernbereiche
Sich-selbstähnliches-Lernen
Es ist notwendig, die Vernetzung zwischen Lernstruktur und Lerninhalt, zwischen Emotion und Kognition sowie deren Verknüpfungen zu lehren beziehungsweise dieses Lehrangebot zu unterbreiten. Die Entwicklungsstruktur des Sich-selbst-ähnlichen-Lernens bietet das notwendige Wissen und Vorgehen an, damit Klienten lernen, wie sie ihr Lernen und ihre sozialen Systeme steuern können. In Tabelle 5 findet sich als Erweiterung das beschriebene Sich-selbst-ähnliche-Lernen mit den Möglichkeiten des Behaltens- und/oder Anschlusslernens und des reflexiven Lernens mit der Nutzung sich selbst ähnlicher Strukturen.
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4 Selbstlernkompetenzen als Grundlage für offene Lernprozesse
4.2 Methodenwissen und Knotenpunktwissen in Beratung und Therapie Nachdem erläutert wurde, in welcher Weise Berater und Therapeuten ihr Methodenwissen weitergeben, um den Klienten zu ermöglichen, dieses Wissen in ihre eigenen Lebensentwürfe zu integrieren, wird im Folgenden auf die schwierige Frage eingegangen, welche Wissens- beziehungsweise Lehrinhalte in Beratung und Therapie Vorrang vor anderen haben: Welches Wissen ist es „wert“, gelernt zu werden, welche Inhalte sind strukturbildend und stellen tatsächlich ein relevantes Element für reflexives Lernen und Kompetenzentwicklungen dar? Aus welchen Wissensinhalten besteht ein Knotenpunktwissen für Berater und Therapeuten, das Klienten angeboten werden kann? Welches Wissen gelehrt oder zum Lernen angeboten werden soll, hängt entscheidend vom Berater oder Therapeuten, seinem Menschenbild, seiner Ausbildung und nicht zuletzt von seinen eigenen Interessen in diesem Bereich ab. Sowohl der Berater und Therapeut als auch der Klient lernen als Organismus und System betrachtet adaptiv (im Sinne von „sich der spezifischen Umwelt anpassend“). Von Glasersfeld spricht in diesem Zusammenhang von der Viabilität (Überlebensfähigkeit), die passend im Sinne vom Nutzen für die Überlebensfähigkeit des Organismus ist. „Das Ergebnis [...] (der [P.B.]) Anpassung ist wiederum Überlebensfähigkeit (Viabilität). Das was ein Organismus lernt, wird eben deshalb beibehalten, weil es zu befriedigenden Ergebnissen führt. Dies stellt [...] das Prinzip des induktiven Schließens in seiner einfachsten Fassung (fest [P.B.]): Was einmal funktioniert hat, wird wahrscheinlich wieder funktionieren“ (von Glasersfeld 1987: 82). Für Berater und Therapeuten kann auch hier nur ein Angebot von Lehrinhalten und Wissensvermittlung gemacht werden und das heißt: „Lernen als konstruktive Tätigkeit zum Überleben“ zu begreifen. Lehren beginnt nicht mit dem Vortragen geheiligter Wahrheiten, sondern mit dem Schaffen von Gelegenheiten, die den Schülern (Klienten [P.B.]) Anlass zu denken geben. – Die Vorbedingung dafür ist, dass man Schülern (Klienten [P.B.]) die Fähigkeit zu denken zuschreibt (von Glasersfeld 2002: 220, zit. nach Arnold & Gomez Tutor 2002: 101).
Lernen als konstruktive Tätigkeit trägt die Voraussetzung in sich, dass der Mensch die Welt, in der er lebt, als die Welt seiner Erfahrung begreift, als die Welt, die er sieht, hört und fühlt.
4.2 Methodenwissen und Knotenpunktwissen in Beratung und Therapie
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Diese Welt besteht nicht aus ‚objektiven Tatsachen‘ oder ‚Dingen an sich‘, sondern aus Invarianten und Konstanten,54 die wir auf der Grundlage unserer individuellen Erfahrung entwickeln können. Akzeptiert man diese Sicht, dann akzeptiert man ein radikal anderes Denkschema für die Tätigkeit des Erkennens. Statt ein Forscher zu sein, der dazu verurteilt ist, ‚Struktureigenschaften‘ einer unzugänglichen Realität zu suchen, wird der Organismus, der Erfahrung aufbaut, nun zum Konstrukteur kognitiver Strukturen, die die Probleme lösen sollen, die der Organismus wahrnimmt oder sich ausdenkt. Vor fünfzig Jahren hat Piaget dieses Denkschema so prägnant gekennzeichnet, wie man sich dies nur wünschen kann: „Die Intelligenz organisiert die Welt, indem sie sich selbst organisiert“ (Piaget 1937: 400, zit. nach von Glasersfeld 1987: 281). Was also den Wert der begrifflichen Strukturen bestimmt, das ist ihre Erfahrungsadäquatheit, die Güte, mit der sie zur Erfahrung passen, ihre Viabilität als Mittel des Problemlösens. Und dazu gehört natürlich das nie aufhörende Problem der konsistenten Organisation, das wir Verstehen nennen (von Glasersfeld 1987: 281).
Die Welt, in der der Mensch lebt, ist aus dieser Perspektive immer und notwendigerweise die Welt, wie sie der Mensch begrifflich fasst. Tatsachen werden mit Hilfe der Erfahrungen gemacht, sie sind nicht in einer unabhängig von dem Menschen existierenden objektiven Welt gegeben. Der Mensch kann aber nicht diese Tatsachen einfach beliebig herstellen, die Tatsachen sind nur solange viabel, wie sie mit der Erfahrung übereinstimmen, also solange sie passend im Sinne vom Nutzen für die Überlebensfähigkeit des Organismus sind. Die Idee einer Übereinstimmung mit der Realität wird aufgegeben und durch den Begriff des Passens ersetzt. Wissen ist somit dann gut, wenn es in die einschränkenden Bedingungen der Realität passt und nicht mit ihnen kollidiert. Dieses Passen zeigt sich, wenn eine kognitive Struktur, ein Schema, eine Theorie
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Als Konstante wird eine Messgröße bezeichnet, die sich im Verlauf der Zeit nicht ändert. Eine der Naturkonstanten ist z. B. die Lichtgeschwindigkeit. Invarianten sind Größen, die unter verschiedenen Blickrichtungen oder in verschieden aufgespannten Koordinatensystemen gleich erscheinen. Eine Invarianz (Unveränderlichkeit von Größen) muss immer in Bezug auf eine Veränderung des Blickwinkels angegeben werden. Bei einer Drehung des Bezugssystems können sich alle Koordinaten jedes der betrachteten Objekte ändern, ihr gegenseitiger Abstand bleibt dagegen immer gleich. Eine Invarianz spielt z. B. die entscheidende Rolle in der Entwicklung der Relativitätstheorie. In zahlreichen Experimenten wurde herausgefunden, dass die Lichtgeschwindigkeit eine Invariante bezüglich der Geschwindigkeit des beobachtenden Koordinatensystems ist. Unabhängig von der eigenen Bewegungsgeschwindigkeit wird Licht immer mit derselben Geschwindigkeit von etwas mehr als eine Milliarde km/Std. oder fast 300.000 km/Sekunde wahrgenommen. Diese Invarianz führt letztlich dazu, dass andere Größen wie die vergangene Zeit vom Blickwinkel abhängen und damit relativ sind (vgl. http://www.quanten welt.de/faq/konstant-invariant.html (07.03.2009).
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4 Selbstlernkompetenzen als Grundlage für offene Lernprozesse
trotz neuer Erfahrungen („Verstörungen“) oder Experimente viabel bleibt (vgl. ebd.: 218). Hier wird der Schwerpunkt von der korrekten Wiederholung des vom Berater oder Therapeuten angebotenen Wissens durch den Klienten auf dessen eigene erfolgreiche Organisation des Wissens und der Erfahrung verlegt. In der Wissensvermittlung bedarf es entsprechend einer Loslösung von der Vorstellung, „etwas“ mit dem Klienten machen zu können. Als Aufgabe und Konsequenz hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, sich von der Offenheit und Nichtlinearität von Lernprozessen leiten zu lassen. Dazu gehört für Berater und Therapeuten auch in der Wissensvermittlung die Fähigkeit, die eigene Vermittlungsleistung zu relativieren und wie im Beratungs- und Therapieprozess auch hier Unsicherheiten in der Entwicklung des Klienten aushalten zu können. In diesem Zusammenhang von Interesse ist der aus der Schulpädagogik stammende Begriff der biografischen Lernwunden, die in Elternhaus, Schule etc. mehr oder wenig häufig erworben wurden. Über diesen Begriff bietet sich dem Berater oder Therapeuten auch ein relativ direkter Zugriff auf die Muster und Zeiten in der Biografie des Klienten an, in denen unterstützendes erfolgreiches Lernen nicht stattfinden konnte. Demnach besteht der Inhalt von Knotenpunktwissen auf Seiten des Beraters und Therapeuten nach Auffassung des Autors darin, dem Klienten ein Wissen anzubieten, dass er selbstreflexiv für sich und seine Umwelt nutzen kann. Das Wissen sollte didaktisch in einer Form aufbereitet sein, in der grundlegende Einsichten in den strukturellen Aufbau von Systemen vermittelt werden, ohne tiefgreifende theoretische Zusammenhänge bemühen zu müssen. Dieses Wissen sollte einfach, interessant und schnell einsetzbar sein sowie sich am Klienten und seiner Lebensumwelt orientieren. Der Klient soll neugierig werden, es nach dem Motto „learning by doing“ kurzfristig mit Interesse und Spaß auszuprobieren, und dabei relativ schnelle Erfolge erzielen, ähnlich wie es oben bei dem sich selbst ähnlichen Lernen dargestellt wurde. Aus dem bisher Dargestellten lassen sich folgende Lehrinhalte und Lehrstrukturen eines Knotenpunktwissens für Beratung und Therapie formulieren:
die Beschaffenheit personaler und sozialer Systeme (Alleinstellungsmerkmal, Systemaufbau und -bedingungen); der grundlegende Aufbau von sich selbst ähnlichen (fraktalen) Strukturen und die Darstellung der Systemveränderung durch diese;
4.3 Genom und Zelle: Kommunikation, Kooperation und Kreativität
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der grundlegende Aufbau der Wandlung von Systemen durch dissipative Strukturen (Systemsprünge); die Lerndurchführung (das „Anbieten“ des Wissens) mittels der Veränderung sich selbst ähnlicher (fraktaler) Strukturen.
Wesentlich ist, dass diese „Lehrinhalte“ und „Lehrstrukturen“ für jeden einzelnen Beratungs- und Therapieprozess immer wieder entsprechend dem Anforderungsniveau der Klienten neu entwickelt werden müssen.
4.3 Genom und Zelle: Kommunikation, Kooperation und Kreativität Im Folgenden werden aus neuro- und soziobiologischer Sichtweise weitere Erkenntnisse dargestellt, die als Lehr- beziehungsweise Lerninhalt im Beratungsund Therapieprozess eingesetzt werden können. Neuere sozio- und neurobiologische Erkenntnisse über die Evolution zeigen auf, dass Gene, Genome und Zellen kommunikativ, kooperativ und kreativ sind: „Biologische Systeme sind mehr als die Summe ihrer anorganischen und organischen Bestandteile. Was lebende Systeme von den Einzelelementen, aus denen sie bestehen, unterscheidet, ist fortwährende molekulare Kooperation und Kommunikation nach innen und außen“ (Bauer 2008: 183). Entsprechend orientiert sich das Verhalten lebender Systeme „ausschließlich an Signalen, die vom Organismus oder von der Zelle als Zeichen wahrgenommen werden können. Lebende Systeme sind – auf allen Ebenen des Organismus – Kommunikatoren (ebd.: 189):
Nukleinsäuren (Ribonukleinsäure (RNS), Desoxyribonukleinsäure (DNS)) erkennen Sequenzen anderer Nukleinsäuren, aber auch bestimmte Aminosäuren beziehungsweise Proteine. Rezeptoren (d. h. Protein-Empfängermoleküle) erkennen ihre jeweils spezifischen Liganden (d. h. Moleküle, die von ihnen gebunden werden). Zellen kommunizieren mittels ihrer Oberflächenrezeptoren mit anderen Zellen. Mehrzellige Organismen (sowohl Pflanzen als auch niedere Tierspezies) tauschen mit ihrer Umwelt und mit ihresgleichen Signale aus. Höhere Lebewesen kommunizieren mit ihrer Außenwelt – und erkennen sich gegenseitig
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4 Selbstlernkompetenzen als Grundlage für offene Lernprozesse
– mittels ihrer Sinnessysteme. Physikalische oder chemische Prozesse können auf biologische Systeme zwar einwirken (sie zum Beispiel zerstören), sie können deren Verhalten aber nur dann beeinflussen, wenn das lebende System über Rezeptoren beziehungsweise Wahrnehmungsorgane für die jeweiligen Einwirkungen verfügt (so kann Radioaktivität einen Menschen zwar töten, sein Verhalten kann durch sie aber nur dann beeinflusst werden, wenn die menschliche Intelligenz und mit ihrer Hilfe gebaute Apparate die Funktion eines Ersatzrezeptors übernommen haben, der in der Lage ist, ihre Wirkung zu erkennen) (vgl. ebd.: 189 f.). Der „Blick in die Werkstatt der Evolution“ zeigt, dass biologische Systeme – einzellige Lebewesen, Pflanzen und Tiere – ein in ihnen selbst liegendes Potenzial haben, ihre genomische Architektur nach eigenen Regeln zu vergrößern und komplexer zu gestalten. Der primäre Vorgang hierbei ist, Teile des vorhandenen Genom-„Inventars“ zunächst zu duplizieren und die Duplikate anschließend zu modifizieren (vgl. ebd.: 125). Das Herstellen und anschließende Modifizieren der Kopie kann als sich selbst ähnliche (fraktale) Modifikation oder Veränderung bezeichnet werden. Dieses kreative evolutionäre Potenzial lebender Systeme führt zu einem Komplexitätszuwachs in der Evolution. Die bisherige Sichtweise der (neo-) darwinistischen Auslegung der Evolution – Zufallsmutation und natürliche Auslese – konnte nie das Phänomen des Komplexitätszuwachses erklären. Die Annahme, Zufallsmutationen hätten aus einem einzelligen Lebewesen einen vielzelligen, vermehrungsfähigen Organismus mit Körperbauplan entstehen lassen, gleicht der Erwartung, es bilde sich – nach dem Zufallsprinzip – schließlich ein Wolkenkratzer, wenn man die dazu notwendigen Komponenten nur oft genug auf einen Haufen schütte. Wenn der Selektionsdruck maximale Selbstvermehrung begünstigt und wenn Gene ‚egoistisch‘55 sind, wie konnte es dann jemals zur Entste55
Der Soziobiologe R. Dawkins (1976, 2004) entwickelte in den 70er Jahren im Rahmen seiner Idee der „egoistischen Gene“ ein Bild von Tieren und vom Menschen als „Überlebensmaschinen“ zur optimalen und maximalen Verbreitung der sie steuernden Gene. „Gene werden nach ihrer Fähigkeit selektiert, die ihnen zur Verfügung stehenden Machtmittel am besten zu gebrauchen: Sie werden ihre praktischen Möglichkeiten ausnutzen“. Menschliche Verhaltensweisen sind bei Dawkins der unbewusste Ausdruck dieser genetischen Strategie. Beziehungen zwischen Eltern, Kindern und weiteren Verwandten werden zum Ausdruck eines bioökonomischen Kalküls, welche Gene am besten überleben können. Interessanterweise lässt sich feststellen, dass diese erfolgreiche Theorie aus den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts „das biopsychologische Korrelat der angloamerikanischen Wirtschaftsordnung darstellt und diese optimal ergänzt und zu legitimieren scheint“ (Bauer 2008: 152 f.).
4.3 Genom und Zelle: Kommunikation, Kooperation und Kreativität
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hung von – im Vergleich zu teilungsintensiven Bakterien – derart fortpflanzungsschwachen Exemplaren von Säugetieren kommen? (ebd.: 126)
Nachgewiesen wurde, dass im Verlauf der Evolution „weit mehr überlebensfähige und tatsächlich überlebende Varianten entstehen, als vom Selektionsdruck gefordert wäre oder durch Selektionsdruck erklärt werden kann“ (ebd.: 126). Sie leistet sich einen selbst geschaffenen riesigen ‚Spielraum‘, in welchem sie Entwicklungen von Varianten und Interaktionen des Neuen mit dem, was bereits Bestand war, zulässt. Molekulare Grundlage dieses Prinzips ist die so genannte ‚Exaption‘, das heißt die Tatsache, dass genomische Entwicklungsschübe eine Vielzahl neuer Gene und Genkombinationen hervorbringen, die weit über das hinausgehen, was zum besseren Überleben unmittelbar notwendig wäre, die sich aber möglicherweise – zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt – noch als nützlich erweisen. ‚Gene im Wartestand‘ spielten auch bei der Entwicklung der genomischen Körperbaupläne (‚body plans‘) eine Rolle (ebd.).
Exkurs: Genom und Zelle als kommunikative, kooperative und kreative Systeme Die Architektur des Genoms eines jeden Organismus hat gemeinsame Prinzipien des Aufbaus, gleiche Funktionen und gleiche Grundregeln, nach denen sich Gene und Genome im Verlauf der Evolution verändert und entwickelt haben und wohl auch weiter entwickeln. Gene und Genome sind weder statische noch autonome Größen. Die Aktivität von Genen wird von der Zelle fortlaufend an deren Bedürfnisse und an die des Organismus angepasst, also reguliert. Jedem Gen hinzugesellt (in der Regel vorangestellt) ist ein Genschalter („Promoter“), der als Adresse zahlreicher von der Zelle kommender Signale dient. Gene, Zellen und Organismus stehen in permanenter Kommunikation. Gene können allein nichts ausrichten, jede genetische Aktivität setzt Kooperation mit verschiedenen Akteuren der Zelle voraus. Gene sind Kommunikatoren und Kooperatoren. Auch die Gesamtheit der Gene, das Genom, unterliegt der Regie der Zelle und des Organismus. Genome bestehen aus einem System von Modulen, derer sich die Zelle bedient, um biologische Prozesse in Gang zu setzen und aufrecht zu erhalten. Sich in der Zelle abspielende biologische Prozesse stehen unter dem Einfluss von Umweltbedingungen und deren Signale haben Auswirkungen
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4 Selbstlernkompetenzen als Grundlage für offene Lernprozesse
auf die Abläufe im Genom. Die Analyse von Genomen zahlreicher Spezies zeigte, dass Genome von ihren Zellen auf einen jeweils aktuellen (an den momentanen Umweltbedingungen ausgerichteten) Funktionsmodus eingestellt werden und dass Organismen im Verlauf der Evolution zu bestimmten Zeitpunkten die Struktur ihres Genoms – und damit sich selbst – verändert haben. Diese Veränderungen, auf denen die Entstehung neuer Spezies beruhte und beruht, ereignete sich nicht zufällig, sondern schubartig (vgl. dissipative Strukturen) zu bestimmten Zeitpunkten der Evolution. Solche Entwicklungsschübe stehen im Zusammenhang mit schweren oder anhaltenden Umweltstressoren, denen das Leben ausgesetzt ist. Die Zeitpunkte und die Art dieser Veränderungen sind keine Zufallsprozesse, wie sie z. B. die Darwinsche Vererbungslehre impliziert, sondern sie werden im Sinne einer Entwicklungsrichtung gebahnt (vgl. „Perturbation“ in: Maturane & Varela 1987, Kap. 3). Diese Bahnung in eine Entwicklungsrichtung findet mit Hilfe der in Genomen angelegten Prozeduren statt. Alle Genome enthalten Transpositionselemente (transposable elements – TEs genannt), die einen Umbau des eigenen Genoms bewirken können. Genetische Transpositionselemente können unter anderem auch das Erbgut beeinflussen. Welche Veränderungen Transpositionselemente im Verlauf eines Veränderungsschubes im Genom vornehmen, ist weder genau vorher bestimmt noch völlig zufällig. Sie bevorzugen für ihre Aktivitäten bestimmte „Adressen“ innerhalb des Genoms (vgl. die Entwicklung fraktaler Strukturen). Lebende Organismen reagieren auf schwere und anhaltende Belastungen, denen sie durch ihre Umwelt ausgesetzt werden, mit einem kreativen Prozess der Selbstmodifikation ihres Genoms. Gene sind Kommunikatoren und Kooperatoren, Genome können sich unter dem Einfluss äußerer Faktoren punktuell verändern. Die „Weisheit der Zelle“ ermöglicht es ihr, auf schwere oder nachhaltige Veränderungen der Umwelt mit Selbstmodifikation zu reagieren und sich durch Kreativität an neue Bedingungen anzupassen. Diese Sichtweise und ebenso die Position, dass Genome als mit biologischer Sensibilität gegenüber äußeren Einflüssen und mit Reaktionsvermögen ausgestattete Organe anzusehen sind, steht im Widerspruch zu modernen darwinistischen und soziobiologischen Konzepten (vgl. Bauer 2008: 23 ff.).
4.3 Genom und Zelle: Kommunikation, Kooperation und Kreativität
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Neuro- und soziobiologische Erkenntnisse über die Evolution zeigen dem Menschen bisher nicht genutzte Ressourcen und Möglichkeiten des Wachstums. Es ist seine Aufgabe, dieses Potenzial und das Wissen darüber richtig einzusetzen. Beratung und Therapie können in der Form davon profitieren, dass sie die Weitergabe des Wissens um diese Wachstumsressourcen als ein „mehr“ an Veränderungsmöglichkeiten, die nicht alle realisiert werden müssen, für die Neuausrichtung der Lebensentwürfe der Klienten nutzen können. Mit diesem Überfluss potenzieller Entwicklungsprozesse kann ein anderes Lernverständnis angeboten werden, in dem Klienten z. B. schon über dieses Potenzial biologischer Veränderungsprozesse lernen können zu lernen. Um ein Beispiel zu geben, wie z. B. im Rahmen einer kurzen Erzählung evolutionäre Kenntnisse an Klienten in Beratung und Therapie weitergegeben und Lerninhalte angeboten werden können, wird hier aus Bauer eine Untersuchung über die Buntbarsche im afrikanischen Victoriasee zitiert: Zu den erstaunlichsten Akteuren der Evolution gehört eine Gruppe von kleinen Fischen. Die Rede ist von den Buntbarschen im afrikanischen Victoriasee. Dieser zweitgrößte Süßwassersee der Welt, in einer geologisch unruhigen Gegend zwischen zwei Grabenbrüchen der Erdkruste gelegen, entstand vor etwa 400.000 Jahren, nachdem Erdbewegungen den Lauf eines Flusses versperrt hatten. Da der See mit durchschnittlich vierzig, maximal achtzig Metern nicht sehr tief ist und in einer seit langem klimatisch eher heißen Zone liegt, war er seit seinem Bestehen fortlaufenden ökologischen Schwankungen ausgesetzt, die für die in ihm lebenden Fische einen fortwährenden Stressor darstellten. Ereignisse mit massenhaftem Fischsterben waren häufig. Dreimal war der See komplett ausgetrocknet, zuletzt vor etwa 16.000 Jahren. Erstaunlich ist: Der See beherbergt heute über 500 Buntbarscharten (Cichliden). Selbst wenn man annimmt, viele Arten hätten die drei Austrocknungen in kleinen Refugien oder in zufließenden Wasserläufen überlebt, so bleibt doch der Umstand, dass sich innerhalb von nur 400.000 Jahren (möglicherweise sogar in einer deutlich kürzeren Zeit) über 500 Arten entwickeln konnten, ein erstaunliches Faktum (zumal die Fische ein ausgesprochen komplexes Sozial-, Paarungs- und Brutpflegeverhalten zeigen). Wie konnten im Victoriasee in – nach evolutionären Maßstäben – so kurzer Zeit derart viele Buntbarscharten entstehen? Nach klassischer darwinistischer Theorie soll der durch die widrigen Umstände erzeugte Selektionsdruck – aufgrund der gegebenen besonders strengen Auslese – nur jenen Fischen ein Überleben ermöglicht haben, die (zufällig) sehr viele Punktmutationen56 in ihren Genen aufwiesen. In der 56
Punktmutationen (SNP – Single Nucleotide Polymorphism) sind kleine graduelle Mutationen im Genom (Veränderungen im ‚Text‘ der DNS aufgrund von Modifikationen in der Abfolge
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4 Selbstlernkompetenzen als Grundlage für offene Lernprozesse
Sprache des Darwinismus: Ein hoher Selektionsdruck habe viele Mutationen erzwungen und dadurch diese rasche Entwicklung einer besonders großen Zahl von Arten ermöglicht. Eine kürzlich durchgeführte, sorgfältige Analyse von über 40.000 Genabschnitten des Buntbarsches ergab jedoch lediglich 69 Gensequenzen mit einer Mutationsrate, die über dem Durchschnittswert anderer Fische lag (213 Genstücke hatten sogar eine deutlich geringere Mutationsrate). Ohne jede Frage sind die 69 gefundenen mutationsintensiven Genabschnitte von Bedeutung. Doch wird auch hier die ausschließliche Berücksichtigung der Gene (die auch bei diesen Fischen nur einen kleinen Teil des Genoms ausmachen dürften) den ungeheuren Entwicklungsschub kaum erklären können, der innerhalb von wenigen 100.000 Jahren über 500 Arten entstehen ließ. Eine Analyse des gesamten Buntbarschgenoms ist angekündigt, liegt aber zur Zeit (Juli 2008) noch nicht vor. Sie sollte – dies wäre meine Vorhersage – einen hohen Prozentsatz an evolutionär jungen Transpositionselementen (siehe Exkurs [P.B.]) zeigen. Ein Grund: Es ist anzunehmen, dass der seit der Entstehung des Victoriasees anhaltende existenzielle ökologische Stress die Genome der Buntbarsche zu wiederholten massiven genetischen Entwicklungsschüben mit intensiver Duplikation und Rekombination genetischen Materials gezwungen hat (ebd.: 128 ff.).
Leicht erkennbar ist, dass die Darstellung dieser Untersuchung keines großen sozio- und neurobiologischen sowie systemtheoretischen Hintergrundwissens des Verständnisses der Entwicklung bedarf, sondern sich die eigentliche, zugegebenermaßen simplifizierte Botschaft fast von selbst erschließt: Die Evolution ist in ihrer Entwicklung außerordentlich kreativ und facettenreich und „Du“ (der Klient) als Teil der Evolution bist es auch. „Du“ verfügst über ebenso viele Veränderungsmöglichkeiten deiner Realität wie andere Lebewesen auch. „Du“ kannst als erste Handlungsstrategie zur Sicherheit eine Kopie deines bisherigen Verhaltensmusters erstellen und dabei lernen, wie dieser Prozess bewerkstelligt wird (Sich-selbst-ähnliches-Lernen) und anschließend kannst „Du“ anfangen, diese Kopie mit anderen beziehungsweise neuen Handlungsoptionen zu verändern und in der Realität auszuprobieren. Es geht nicht darum, den Klienten mit einem Fisch zu vergleichen, sondern ihm gleichzeitig ein Wissens- und ein reflexives Lernangebot im Sinne des Sichselbst-ähnlichen-Lernens und Knotenpunktwissens zu unterbreiten.
ihrer molekularen Einzelbausteine). Punktmutationen können Krankheiten oder Funktionsstörungen zur Folge haben, sie können sekundär auch einen evolutionären Teilbetrag leisten. Aus solchen Mutationen können sich für das betroffene Gen sowohl Funktionsverluste als auch neue, interessante biologische Eigenschaften ergeben (vgl. Bauer 2008: 70, 120).
4.4 Lust am Lernen
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4.4 Lust am Lernen Neben Kommunikation, Kooperation und Kreativität ist die Lust am Lernen ein weiterer wichtiger Aspekt des Sich-selbst-ähnlichen-Lernens und Knotenpunktwissens. Auch im Alltagshandeln und in Alltagssituationen aller Art entscheidet bei der Vernetzung von Kommunikation, Kooperation und Kreativität die emotionale Stimmigkeit oder Unstimmigkeit in der jeweiligen Situation über den Erfolg des Alltagshandelns und der Interaktionsmuster. Aufgaben, die die Zusammenarbeit mehrerer Personen erfordern, sind ohne eine gemeinsame emotionale Kooperationsbereitschaft, ohne gemeinsame emotionale „Wellenlänge“ schwerer zu lösen. Hier entsteht das bekannte Phänomen des Einflusses von Stimmung und Gestimmtheit, von Stimmigkeit und Unstimmigkeit und der Bedeutung des Einstimmens, Umstimmens, Bestimmens und Abstimmens (vgl. Ciompi 2005: 310). Ciompi (ebd.: 107 ff.) beschreibt im Rahmen seiner Affektlogik unter dem Tenor „Stimmige Denkwege sind lustvoll“, dass Lust und Freude wesentliche Begleiter im Lernprozess sind, wobei er den Lustbegriff als „Lösung einer Spannung“ (ebd.: 120) generalisiert. Es geht nicht darum, dass Lernen immer Spaß macht, sondern relevant ist vor allen Dingen nach dem erfolgreichen Lernen eine lustvolle Spannungslösung. Die (Denk-) Lust verbindet sich nicht nur mit stimmigen kognitiven Lösungen, sondern sie öffnet und bahnt durch ihre attraktiven Wirkungen auch schon im Voraus den Weg zu ihnen. „Zweifellos steht sie im Zusammenhang mit der besonderen Art von ökonomischer Stimmigkeit und energiesparender Leichtigkeit des Denkens (und Handelns), die allen rationalen mentalen Operationen innewohnt“ (ebd.: 108). Jede Lösung einer konflikthaften Spannung ist gleichbedeutend mit einem Lusterlebnis. Diese Situation ist häufig in Beratungs- und Therapieprozessen gegeben, wenn sie sich beim Vorhandensein von Widersprüchen dokumentiert. Alle Problemlösungen, eben auch die durch Lernen gewonnenen, stellen nach ihrer Genese und Funktion genauso typische Lustwege oder Unlustvermeidungsstrategien dar. Beispielhaft sei das Finden einer Lösung in einem schwierig zu steuernden sozialen System wie der kreativere Umgang mit Konflikten in einem Familiensystem genannt. Im Beratungs- und Therapieprozess ist jedes Erkennen einer übergeordneten Gemeinsamkeit aus einem zuvor ungeordneten Neben- und Durcheinander ver-
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4 Selbstlernkompetenzen als Grundlage für offene Lernprozesse
schiedener Kommunikations- und Handlungsstrukturen grundsätzlich lustvoll, da die Erkenntnis sich spannungsmindernd auswirkt. Hinzu kommt noch die mit solchen Abstraktionen einhergehende Lust, die aus der enormen Vereinfachung des Umgangs mit übergeordneten Objekten und Begriffen aller Art erwächst: Statt mit allen Unterbegriffen einzeln umzugehen, genügt nun ein einziger abstrakter Oberbegriff, um die Situation oder Struktur treffend zu kennzeichnen und alle am jeweiligen sozialen System Beteiligten wissen sofort, was gemeint ist. Arbeitslose z. B., die den Begriff „Arge“ (Arbeitsagentur) benutzen, haben sofort die spezifischen Strukturen, Vor- und Nachteile dieser Organisation präsent. Genau auf diesem energiesparenden Trick beruht letztlich nicht nur die ganze, für die geistige Entwicklung des Menschen zentral wichtige sogenannte semiotische Funktion, das heißt seine Fähigkeit der Umsetzung und Darstellung von zunächst als heterogen erfahrenen konkreten Vorgängen und Wahrnehmungen in bildhafte, sprachliche, gestuelle oder mathematische Zeichen, die immer wieder gerade solche Invarianzen57 unter einem gemeinsamen Begriff (‚Tisch‘, ‚Stuhl‘, ‚Möbel‘, auch ‚ich‘, ‚du‘, ‚Erde‘, ‚Weltall‘ etc.) zusammenfassen (ebd.: 117 f.).
Als Beispiel des Entstehens einer Invarianz mag die Beratung oder Therapie einer Suchtmittelabhängigkeit dienen. Kommt ein Klient mit professioneller Hilfe beziehungsweise Hilfe durch Selbsthilfegruppen zu der Einsicht, sein zukünftiges Leben anders und möglichst frei von stofflichen und emotionalen Abhängigkeiten gestalten zu wollen, wird er sein Leben von Grund auf umstrukturieren. Er wird z. B. Mitglied in einem Sportverein und betreibt eine Sportart, besucht Fortbildungsveranstaltungen, die seine Interessen befriedigen oder bildet sich beruflich weiter und sucht Kontakte zu Menschen, die die gleichen Interessen und Sichtweisen wie er haben. Dabei kombiniert er die neuen lustvollen beziehungsweise Unlust vermeidenden Erfahrungen zu einem neuen kohärenten Erlebenssystem, das durch den gemeinsamen Affekt „Lust“ als relevante Invarianz zu einem neuen und spannungsreduzierenden Ganzen zusammengefügt wird. Der Klient könnte die neue Invarianz auch „Mein Leben danach“ oder anders betiteln, dahinter steht aber die lustvolle Erfahrung, dass sein neues Erlebenssystem besser oder erfolgreicher funktioniert als das alte. Lustkomponenten [...] lenken die Aufmerksamkeit auf solche Elemente, speichern und mobilisieren sie kontextadäquat im Gedächtnis, setzen sie hierarchisch obenan und schließen gleichzeitig andere, weniger lustvolle Lösungen aus, und erst auf 57
Invarianzen sind hier im Sinne von begrifflichen Unveränderlichkeiten zu verstehen [P. B.].
4.5 Der Aufbau der Relevanzsysteme und die Diskontinuität ihrer Entstehung
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Grund einer solchen affektgeleiteten Komplexitätsreduktion werden die lustselektionierten Kognitionselemente schließlich aus dem Gesamt aller Möglichkeiten ‚herausgezogen‘ und zu einem Funktionssystem höherer Ordnung integriert (ebd.: 118).
Genau hier sind die Schaltpunkte und die Erfahrungen im Rahmen positiver Verstärkungen, an denen gelernt werden kann, wie Lernen zu lernen funktioniert. Diese positiven, befriedigenden und lustvollen Verstärkungen beschreiben auch Maturana und Varela in einer Definition des von ihnen entworfenen Begriffes der strukturellen Koppelung: Solange ein Mensch nicht in eine destruktive Interaktion mit seinem Milieu eintritt, werden wir zwischen der Struktur des Milieus und derjenigen der Einheit eine Verträglichkeit (Kompatibilität bzw. Kommensurabilität) feststellen. Solange diese Verträglichkeit vorhanden ist, wirken Milieu und Einheit [Mensch (P.B.)] für einander als gegenseitige Quellen von Perturbation [Verstörung (P.B.)] und sie lösen gegenseitig beim jeweils anderen Zustandsveränderungen aus – ein ständiger Prozess, den wir als strukturelle Koppelung bezeichnet haben (Maturana & Varela 1987: 110).
4.5 Der Aufbau der Relevanzsysteme und die Diskontinuität ihrer Entstehung Ein wesentlicher Aspekt in Beratung und Therapie ist der (Neu-)Aufbau von Relevanzsystemen, die für einen Klienten einen veränderten Bezug zur Umwelt sowie zum eigenen Denken und Handeln mit sich bringen. Bateson entwirft im Rahmen des Versuches einer logischen Entschlüsselung evolutionären Lernens in verschiedenen Hierarchiestufen u. a. die Prämisse, dass es bei geistigen und biologischen Prozessen in der hierarchischen Abfolge von Systemen durch alternierende Rückkoppelungen und Kalibrierungen zu einer Veränderung in der logischen Typisierung der Informationen kommt, die zu einer Ausdehnung der Sphäre der Relevanz dieser Informationen führt (vgl. Bateson 1987: 240 ff.). Im Modell von Bateson entwickelt sich die Hierarchie von Klassen bei biologischen und geistigen Ereignissen in einer Zick-Zack-Leiter der Dialektik zwischen Kalibrierung und Rückkoppelung, die Ereignisse sind in einem ständigen Prozess rekursiv aufeinander bezogen und haben eine eindeutige Bewegungsrichtung. Bateson unternimmt den Versuch, die streng logischen Prämissen in
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4 Selbstlernkompetenzen als Grundlage für offene Lernprozesse
Kalibrierung, logisch höherer Typ
Rückkopplung, logisch niedrigerer Typ
persönlicher Status etc. Genetik und Ausbildung der Person persönliche Schwelle „zu kalt“ oder „zu heiß“
Vorgabe schwankende Temperaturen
Abbildung 6: Ebenen der Kontrolle der Haustemperatur. Die Pfeile markieren die Richtung der Kontrolle (ebd.: 244).
Russells hierarchischem Aufbau auf die Organisation des biologischen und damit auch menschlichen Alltags mit seinen entsprechenden Handlungselementen zu übertragen.58 Als Beispiel dient Bateson u. a. die hierarchisch aufgebaute Temperaturkontrolle in einem Wohnhaus, das mit Heizung, Thermostat und einem menschlichen Bewohner ausgestattet ist, wie in Abbildung 6 dargestellt. Wesentlich ist hierbei, dass die jeweilige Kalibrierung der jeweils logisch höhere Typ und die Rückkoppelung der jeweils logisch niedrigere Typ sind, wie es sich aus dem aufsteigenden Stufenmodell ergibt. Auf der niedrigsten Ebene befindet sich die Temperatur. Die tatsächliche Temperatur beeinflusst in einem ständigen Prozess ein Thermostat (im übertragenen Sinne auch ein Sinnesorgan), das das Gesamtsystem in der Form eines temperaturabhängigen, mehr oder weniger gekrümmten Bimetallstreifens steuert, welcher einen elektrischen Kontakt herstellen oder 58
Russells Hierarchie der logischen Typen in der abstrakten Logik, s. o.
4.5 Der Aufbau der Relevanzsysteme und die Diskontinuität ihrer Entstehung
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unterbrechen wird. es handelt sich also um einen Schalter (Kalibrierung), der die Heizung kontrolliert. Wenn die Temperatur über einen bestimmten Punkt steigt, nimmt der Schalter die Stellung „Aus“ ein, sinkt sie unter einen tieferen Punkt, stellt sich der Schalter auf „An“. Das Haus wird also auf eine bestimmte Temperatur zwischen den beiden Schwellenwerten erwärmt werden. Dieser einfache Rückkoppelungskreislauf wird jedoch durch eine Kalibrierung kontrolliert, die in demselben kleinen Kasten untergebracht ist, der auch den Thermostat enthält. An diesem Kasten befindet sich ein Knopf, an dem der Hausbewohner drehen kann, um die Einstellung des Thermostats zu verändern, sodass das Haus auf einen anderen Wärmegrad aufgeheizt wird. In diesem Kasten befinden sich zwei Kalibrierungen: Eine Kontrolle des Zustandes An/Aus und die Kontrolle der Temperatur Hoch/Niedrig, um die herum das System arbeiten wird. Wenn vorher die niedrigste Temperatur 18° C betrug, dann kann der Hauseigentümer sagen: ‚Es war in der letzten Zeit zu kalt‘. Er wird aufgrund einer Auswahl seiner Erfahrungen urteilen und dann die Einstellung auf eine Temperatur ändern, die vielleicht angenehmer erscheint. Die Vorgabe (die Kalibrierung der Rückkoppelung) wird ihrerseits durch eine Rückkoppelung beherrscht, deren Sinnesorgan nicht an der Wand des Wohnzimmers, sondern in der Haut des Mannes lokalisiert ist (ebd.: 245).
Die Vorgabe des Mannes, die als seine persönliche Schwelle bezeichnet wird, wird wiederum durch ein Rückkoppelungssystem abgestimmt. Er kann durch Abhärtung und Training im Freien kälteunempfindlicher werden, bei einer Steigerung dieses Trainings kann es sogar zu einer Statusveränderung kommen, indem der Mann einen Beruf ergreift, der eine gewisse körperliche Abhärtung und Ertüchtigung mit einschließt. Durch die Berufsveränderung würde sich der Mann in einen anderen sozialen Status kalibrieren. Es wird deutlich, dass Rückkoppelungen und Kalibrierungen in einer hierarchischen Abfolge alternieren. Man beachte, dass sich die Sphäre der Relevanz, die wir analysieren, mit jedem abgeschlossenen Alternierungsprozess (von Kalibrierung zu Kalibrierung oder von Rückkoppelung zu Rückkoppelung) erweitert hat. Am einfachsten, niedrigsten Ende der Zickzackleiter war die Sphäre der Relevanz eine Heizung, An oder Aus; auf der nächsten Ebene ein Haus, das um eine bestimmte Temperatur oszilliert. Auf der nächsten Ebene ließ sich die Temperatur innerhalb einer Sphäre der Relevanz verändern, die nun das Haus mit dem Bewohner über eine viel längere Zeit hinweg einschloss, während der sich der Mann auf viele Aktivitäten im Freien einließ. Mit jeder Zickzackstufe der Leiter dehnt sich die Sphäre der Relevanz aus. Es vollzieht
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sich eine Veränderung in der logischen Typisierung der Information, die auf jeder Ebene durch das Sinnesorgan aufgenommen wird (ebd.: 246).
Aus dem Blickwinkel und in der Terminologie der phänomenologischen Begriffsbildung der verstehenden Soziologie definiert Schütz die Veränderung von Relevanzsystemen als einen Prozess, in dem „nämlich etwas inmitten des unstrukturierten (Bewusstseins- [P.B.]) Feldes zum Problem gemacht wird, und dabei gliedert sich das Feld in Thema und Horizont“ (Schütz 1971a: 56). Den Begriff „Problem“ verwendet Schütz hier wertfrei als, „was vor uns geworfen ist“ (ebd.). In Anlehnung an Husserl (1972) unterscheidet Schütz zwischen äußerem und innerem Horizont. Der äußere Horizont stellt den Rahmen für alles dar, was zusammen mit dem Problem im „aktuellen Bewusstseinsfeld“ (Schütz 1971a: 61) auftaucht, sowie die Erinnerungen vergangener Erlebnisse, die die Zukunft betreffenden Antizipationen und die Ergebnisse „passiver Synthesen“ (ebd.), die räumlich, zeitlich oder durch Ähnlichkeit bedingte Assoziationen zu diesem Problem entstehen. Der innere Horizont ist definiert durch Wechselbeziehungen und funktionale Strukturen, die den „Sedimentierungsprozess“ des Alltagswissensbestandes gesteuert haben, aus dem von innen her das Problem bestimmt wird. Schütz schlägt drei Relevanzkategorien vor, die alle den vorhandenen Alltagswissenbestand und das vorhandene Alltagsbewusstsein beeinflussen. Mittels der „thematischen Relevanz“ werden einerseits „unvertraute Erfahrungen“, die sich „gerade wegen ihrer Unvertrautheit“ aufdrängen, in den Wissensvorrat integriert, andererseits werden Bestände des Wissensvorrats – bereits vorhandene Themen – mittels der „impliziten Andeutungen“, die in den dieses Thema betreffenden Informationen vorhanden sind, korrigiert (ebd.: 61 f.). Die „Auslegungsrelevanz“ beziehungsweise „Interpretationsrelevanz“ betrifft die Neuinterpretation von Sachverhalten und Zusammenhängen, die mit Hilfe der „auszulegenden Erfahrung“ und dem „Auslegungsschema“ (ebd.: 67 ff.), d. h. die darauf anwendbaren früheren Erfahrungen innerhalb des Wissensvorrats, für die die „Erkenntnis und Auslegung des ganzen aktuell erfahrenen Weltausschnitts bestimmend sind“ (Schütz & Luckmann 1979: 241 ff.). Die „Motivationsrelevanz“ bezieht sich hauptsächlich auf die Handlungsebene und stellt Entscheidungshilfen für zukünftiges Verhalten dar, die „Um-zu-Motive“ für zukünftige Handlungen und
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die „echten Weil-Motive“, die sich auf bereits vollzogene Handlungen beziehen.59 In der Bewältigung des Alltags sind alle Relevanzstrukturen miteinander verflochten. Es zeigt sich, dass sowohl in der Auslegung eines auslegungsbedürftigen Problems, wie in der Richtung, die die Auslegung einschlägt, wie auch im Abschluss oder Abbruch der Auslegungsvorgänge [...] die Struktur der Motivationsrelevanz mit der Struktur der Interpretationsrelevanz aufs engste verflochten ist. Dass jede Interpretation vorangegangene Thematisierungen voraussetzt und dass andererseits im Verlauf einer Interpretation neue Themen in den Erfahrungsablauf gezogen werden können, braucht wohl kaum betont zu werden (Schütz & Luckmann 1979: 273).
Das Wechselverhältnis der Relevanzstrukturen bedeutet für Schütz das einzige Grundphänomen, mit dem „die kontrapunktische Struktur unserer Persönlichkeit und unseres Bewusstseinsstroms“, die „mannigfachen Wirklichkeitsbereiche“, „mannigfache Bewusstseinsspannungen“ in „mannigfachen Zeitdimensionen“, – kurz – die verschiedenen Schichten unserer Persönlichkeit in der alltäglichen Realität ausgedrückt werden können (Schütz 1971a: 42). Alltagshandeln und -bewältigung im permanenten Wechsel zwischen Vorhandenem und Neuartigem vollzieht sich mit Hilfe von freiwilligen und/oder unfreiwilligen Relevanzzuschreibungen, die sich aus der Verknüpfung von einem Problem („das vor uns Geworfene“), innerem und äußerem Horizont, aus der Verflechtung der real vorgefundenen Situation, der jeweiligen Bewusstseinsspannung und den im Wissensvorrat sedimentierten Motiven in ihrer individuellen Strukturierung ergeben. Sowohl Bateson wie auch Schütz weisen aus unterschiedlichen Blickwinkeln auf die Bedeutung von Relevanzprozessen für die Entwicklung von Einstellungen, Haltungen und Zielen hin. Während Schütz versucht, aus phänomenologischer Sichtweise mit unterschiedlichen Relevanzkategorien (thematische Relevanz, Interpretationsrelevanz und Motivationsrelevanz) die Entstehung und Weiterentwicklung des Relevanzsystems im menschlichen Denken und Fühlen zu beschreiben, folgt Bateson einem logisch strengeren Weg. Dieser Weg zeigt klar die Notwendigkeit hierarchischer Abstufungen im Relevanzsystem auf und macht deutlich, dass, je höher oder umfassender die logischen Ordnungen von Information werden, auch das Ausmaß der Relevanz ansteigt. Beide Beschrei59
Eine Beschreibung der „Um-zu-Motive“ und der „echten Weil-Motive“ findet sich in Abschnitt 4.6.
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bungen der Entwicklung eines Relevanzsystems sind rekursiv. Bei Schütz besteht die Rekursivität der Informationen in dem nicht hierarchischen Austausch unterschiedlicher Informationen der mannigfachen Wirklichkeitsbereiche, mannigfachen Bewusstseinsspannungen in mannigfachen Zeitdimensionen, die letztendlich auch zu umfassenderen Ordnungen von Information werden und damit das Ausmaß der Relevanz erhöhen. Bateson subsumiert im Rahmen einer hierarchischen Ordnung von vornherein die vielfältigen Informationen zu einem bestimmten Thema und beschreibt in seinem Beispiel einen möglichen logischen Aufbau eines Teilentwicklungsprozesses eines Individuums, der durch zusätzliche Informationen in alternierenden Prozessen zu einem anderen Ausmaß und einer anderen Bedeutung seines Relevanzsystems kommt. Eindeutig ist, dass ein „erfolgreicher“ Klient in Beratung und Therapie meistens einen grundlegenden Wechsel seines bisherigen Relevanzsystems hinsichtlich neuer Themen, ihrer Interpretation und Integration in den Wissensvorrat und ihrer handlungsleitenden Implikationen vollziehen muss. Nach den neuen Erfahrungen, die eine Beratung oder Therapie mit sich bringt (und die bereits mit der „thematischen Relevanz“ verknüpft werden), kommt es bei einem Klienten zu keiner routinemäßigen Deckung mit den Wissenselementen vergangener Erfahrungen, die im Wissensvorrat mit Sicherheit und Vertrautheit verbunden sind. Der Klient erfährt die Themen, die für ihn neue Situation des Beratungsprozesses ebenso wie die thematisierten Inhalte, als ein auslegungsbedürftiges Problem. In Batesons Terminologie findet sich der Klient in einem rekursiven Prozess zwischen Rückkoppelung und Kalibrierung wieder und erfährt die Themen und die neue Situation des Beratungsprozesses ebenso als auslegungsbedürftiges Problem. In dieser Situation gerät „die lebensweltliche Idealisierung des ‚Und-so-weiter‘, die diesen Vorgängen zugrunde liegt, ins Stocken“ (Schütz & Luckmann 1979: 272). Der Klient strebt unter Einbeziehung seiner lebensweltlichen Idealisierungen in der Form dieses ‚Und-so-weiter‘ und ‚Ich-kann-immer-wieder‘ danach, die Informationen über die neue Situation des Beratungsprozesses und über das entstandene Wissen zu integrieren und dieses Wissen in einer neuen Form (auf einer anderen Ebene) zu kalibrieren und dadurch mit einem erhöhten Maß an Relevanz auszustatten. Als Beispiel mag eine durch die Beratungsarbeit herbeigeführte Ausübung einer Sportart, z. B. eine Selbstverteidigungssportart wie Aikido, bei einem Klienten dienen, der seine Freizeit vorher vornehmlich mit Computerspielen verbracht hat. Das im Beratungsprozess angesprochene Problem einer möglichen Abhängigkeit von Computerspielen und einer daraus resultierenden Vereinsa-
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mung vor dem Computermonitor bezieht sich zunächst auf die thematische Relevanz, also auf den Wissenserwerb bezüglich dieses Problems. Hinsichtlich des antizipierten Endergebnisses der geplanten Handlung – Computerspiel oder Aikido – und der damit verknüpften Folgen entwickelt der Klient Interesse, einer der Alternativen mit subjektiver Sicherheit beipflichten zu können. Die Antizipation der Endergebnisse beider möglichen Handlungen stellt die Interpretationsrelevanz dar, auf deren Basis eine interpretative Entscheidung zugunsten eines Handlungsmodells fällt – die Entscheidung ist für den Klienten in ihrer Motivation relevant. Seine Entscheidung, lieber zum Aikido zu gehen, würde nicht nur für sein augenblickliches Verhalten und Handeln, sondern letztlich für seine Lebensführung relevant sein, weil er damit die Möglichkeit der erneuten Nutzung von Computerspielen in einem gewissen Ausmaß verringert. Ebenso würde diese Entscheidung dazu führen, sein Wissen über seine Person in einer neuen Form zu kalibrieren und es mit einem erhöhten Maß an Relevanz auszustatten. Die von Klienten bei Veränderungsprozessen neu zugeschriebene Relevanz hinsichtlich Thema, Interpretation und Motivation beeinflusst die Sedimentierung der Erfahrung in den Wissensvorrat entscheidend und führt zu weiteren rekursiven Schritten zwischen Kalibrierung und Rückkoppelung, die in einer hierarchischen Abfolge alternieren. Zur weiteren Veranschaulichung des rekursiven Prozesses zwischen Kalibrierung und Rückkoppelung werden, Bateson folgend, zwei Lernkontexte beschrieben, die von ihrem Informationsgrad her das Phänomen der Rückkoppelung und das Phänomen der Kalibrierung60 wie auch die Rolle der Diskontinuität in ihrer Entstehung beschreiben. Als Beispiel dient der Akt des Schießens einer Tontaube. Im ersten Fall soll der Schütze eine Tontaube mit einer Gewehrkugel treffen. Der Schütze benutzt Kimme und Korn und wird jeden Fehler in seiner Zieleinstellung bemerken. Er wird die oder den Fehler korrigieren, indem er eventuell neue Fehler macht, die ebenfalls zu einer Korrektur führen, bis der Schütze zufrieden ist. Er betätigt den Abzug und schießt. Hier ist wichtig, dass der „Akt der Selbstregulation innerhalb des einzigen Schießakts auftritt. Mittelstaedt verwendet den Terminus Rückkoppelung, um
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Bateson bezieht sich auf Mittelstaedt (1960), der „(am Beispiel einer Gottesanbeterin die Fliegen fängt [P.B.]) gezeigt hat, dass es zwei Arten von Methoden gibt, einen Anpassungsakt zu vollziehen“ (Bateson 1987: 241).
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diese ganze Gattung von Methoden zu charakterisieren, einen adaptiven Akt zu vollbringen“ (Bateson 1987: 242). Im Gegensatz hierzu befindet sich ein Mann, der klassisch eine Tontaube mit einer Schrotflinte schießt oder der einen Revolver verwendet, den er unter dem Tisch bedient, wo er die Zielstellung nicht korrigieren kann. In diesen Fällen müssen über die Sinnesorgane die verschiedensten Informationen zusammenkommen, diese werden „berechnet“ und nach dem annähernden Ergebnis dieser Berechnung wird die Waffe abgefeuert. In dem einzelnen Akt besteht keine Möglichkeit der Korrektur von Irrtümern. Will der Schütze eine Verbesserung erzielen, muss er die Korrektur auf eine große Klasse von Handlungen stützen. Wer die Fertigkeit erlangen will, mit einer Schrotflinte umzugehen oder eine Pistole unter dem Tisch abzufeuern, muss diese Kunst immer wieder üben, indem er [...] auf irgendein künstliches Ziel schießt. Durch lange Übung muss er die Einstellung seiner Nerven und Muskeln so abstimmen, dass er im kritischen Augenblick ‚automatisch‘ eine optimale Leistung erzielen wird. Diese Gattung von Methoden hat Mittelstaedt als Kalibrierung bezeichnet (ebd.).
Sowohl die Fertigkeit im Gebrauch des Gewehres wie die der Schrotflinte oder der Pistole kann durch Übung erhöht werden. Ausschlaggebend ist aber, dass die Selbstregulation beim Gebrauch der Schrotflinte nur von Informationen möglich ist, die von der bisherigen Übung abgeleitet sind, d. h. „von einer Klasse vergangener abgeschlossener Handlungen“ (ebd.: 243). Werden die beschriebenen Sequenzen als Lernkontexte aufgefasst, ergibt sich hieraus, dass der Umgang mit dem Gewehr vergleichsweise einfach ist. Der zu korrigierende Fehler (d. h. die zu verwendende Information) ist der Unterschied zwischen dem Ziel des Laufs und der Richtung des Ziels, wie sie sich aus der Ausrichtung von Augen und Ziel ergibt. Der Schütze muss diesen Kreislauf vielleicht viele Male durchlaufen, wobei er Nachrichten von dem Fehler erhält, korrigiert, Nachrichten von einem neuen Fehler empfängt, korrigiert, Nachrichten vom ausgeschlossenen oder minimalen Fehler empfängt und feuert. Man beachte aber, dass der Schütze keine Nachrichten über das, was in der ersten Runde passierte, in seine Berechnungen der zweiten Runde überträgt oder übertragen muss. Die einzige relevante Information ist der Fehler des unmittelbaren Augenblicks. Er selbst muss sich nicht ändern (ebd.: 248).
Bei dem Schützen mit der Schrotflinte oder der Pistole, die unter dem Tisch abgefeuert werden soll, verhält sich die Situation völlig anders. Für ihn besteht keine Trennung zwischen Zielen und Schießen, die es ihm erlauben könnte, sein Zielen zu korrigieren, bevor er den Abzug bedient. Das durch Binde-
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striche verbundene Zielen-und-Schießen ist ein einziger Akt, dessen Erfolg oder Fehlschlag als Information in den nächsten Akt des Schießens übertragen werden muss. Der ganze Vorgang muss verbessert werden, und deshalb ist der ganze Vorgang Gegenstand der Information (ebd.).
Während der Gewehrschütze bei Wiederholungen des Schießens einfach eine Reihe getrennter Male durch seinen kybernetischen Kreislauf geht, muss der Mann mit der Schrotflinte oder der Pistole seine Fähigkeiten sammeln, „indem er seine zunehmenden Erfahrungen wie Puppen in der Puppe jeweils in den Informationskontext stellt, der von allen vorausgegangenen relevanten Erfahrungen abgeleitet ist“ (ebd.: 249). Bateson spricht in diesem Zusammenhang von einer „Hierarchie von Ordnungen der Rekursivität“ (ebd.), wobei die Frage offen bleibt, ob diese beiden Lernkontexte ein Artefakt menschlicher Beschreibung sind oder ob die Phänomene selbst eine solche „Dichotomie der Organisation“ (ebd.) enthalten. In jedem Fall sind beide Lernkontexte zeitabhängig und gerade durch die Diskontinuität der Erfahrungen ermöglichen sie die rekursiven Prozesse zwischen Kalibrierung und Rückkoppelung und damit auch die Zuschreibung von Relevanz. So ist die fortwährende Aufgabe zu lernen, mit einer Schrotflinte oder einer Pistole unter dem Tisch zu schießen, notwendig diskontinuierlich, weil die für die Kalibrierung erforderliche Information erst nach dem Moment des Abfeuerns gewonnen werden kann.61 Beim Schießen mit einem Gewehr ist der Lernprozess diskontinuierlich, weil das Lernen nur in den getrennten Zuwachsstufen der aufeinander folgenden Momente des Feuerns auftreten kann. Übertragen auf Beratungs- und Therapieprozesse bedeutet dieses, dass Unterbrechungen, Störungen, spätere Klärungen von aktuell wichtigen Problemen zum Beratungsalltag dazugehören. Lernaufgaben und Lernerfahrungen sind unabhängig von ihrem „Lernmuster“ immer diskontinuierlich und erst die zukünftige Realität zeigt, wie sich das Erlernte realisiert. Es ist Aufgabe des Beraters oder Therapeuten, „seinem“ Klienten aufzuzeigen, dass die Zuschreibung von 61
„In der Tat verhält sich das Feuern der Waffe zu ihrem Gebrauch wie die Henne zum Ei. Samuel Butlers berühmter Witz, dass die Henne die Weise eines Eis ist, ein anderes Ei zu machen, sollte dahingehend berichtigt werden, dass der spätere Erfolg der Henne bei der Aufzucht einer Familie der Maßstab dafür ist, ob das Ei, aus dem sie entschlüpfte, wirklich ein gutes Ei war. Fällt der Fasan (die Tontaube [P.B.]), dann wurde das Gewehr richtig bedient, war der Schütze gut kalibriert“ (ebd.: 250).
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Relevanz zum jeweiligen Thema, seiner Interpretation und zur Motivation ein ständiger, diskontinuierlicher Prozess ist. Für die Prozesshaftigkeit der zeitlichen Dauer eines Beratungsprozesses bedeutet dieses, dass die Vielzahl der Auslegungsvorgänge bei verschiedenen Themen zu einem interpretierten Ergebnis führen, die aufgebauten Relevanzstrukturen im übertragenen Sinne sich gleichsam Schritt für Schritt entwickeln und gleichzeitig wirken. Die Relevanzstrukturen werden sozusagen „polythetisch“ entwickelt, lassen sich aber nur im „monothetischen“ Zugriff erfassen (vgl. Schütz & Luckmann 1979: 275). Der monotheistische Zugriff, die Erfassung der Relevanz eines vollzogenen oder zu vollziehenden Ereignisses, basiert immer stärker auf den „vertrauter und fragloser“ werdenden Wissenselementen, indem in typisch ähnlichen Situationen „Fertigkeiten (sich) besser einspielen und Rezepte selbstverständlicher, Einstellungen ‚fester‘, Um-zu-Motivationsketten stärker automatisiert werden“ (ebd.: 274). Die routinemäßige Speicherung der den Handlungen und Erkenntnissen zugeschriebenen Relevanzen im Wissensvorrat führt zu einer Ausbreitung des Gewohnheitswissens des Klienten, durch sich häufiger wiederholende Erfahrungen hinsichtlich seiner Möglichkeiten, andere Strategien der Alltagsbewältigung als Computerspiele zu bevorzugen, da die neuen Erfahrungen schließlich den Charakter der positiven Relevanzzuschreibung immer weniger benötigen und „in den Hintergrund des ganz und gar Vertrauten, Selbstverständlichen des Erfahrungsablaufs“ (ebd.) versinken können.
4.6 Antizipation und Sinn Die Fähigkeit zur Antizipation von Handlungen, das „Probehandeln im Denken“ (Freud), ist eine unerlässliche Voraussetzung für den Vollzug von Handlungen, die zu einem Gelingen individueller und gemeinsamer Lebenswege beitragen sollen. Antizipation stellt die „gedachte Vorwegnahme“ (Mollenhauer 1984: 17) von zukünftigen Handlungen dar, in ihr manifestiert sich der subjektiv gemeinte Sinn einer späteren Handlung. Antizipation ist für pädagogisches wie auch insgesamt für menschliches Handeln unverzichtbar: Alles Erziehungshandeln hat – wie menschliches Handeln überhaupt – eine Vorstellung von Bedingungen des Handelns zur notwendigen Voraussetzung. Insofern als Handeln einem Ziel folgt und dieses Ziel auf bestimmten Wegen erreicht werden
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soll, enthält es eine gedachte Vorwegnahme (Antizipation) möglicher und erwarteter Situationen (ebd.).
Die Fähigkeit zur Antizipation als sinnhafte Gestaltung der Zukunft hat natürlich auch eine emanzipatorische Komponente, die über eine „Alltagsorientierung als Anstiftung zum ‚Frieden mit der Vergangenheit‘ hinausgeht“ (Bloch, zit. nach Marzahn 1980: 14) und damit eine Erweiterung und Ausdifferenzierung der subjektiven Wahl der auf die Zukunft gerichteten Selbstentwürfe von Klienten anbietet. In der Pädagogik im Allgemeinen, doch besonders in Beratung und Therapie ist es wichtig, ein mögliches Entfremdungspotenzial in vorhandenen und neu entwickelten Antizipationen bewusst zu machen: Die Antizipationen, die für ein Individuum als notwendige Bedingung seines Handelns angenommen werden müssen, sind indessen nicht ebenso wenig notwendig seinem Bewusstsein voll verfügbar. Sie können z. B. soweit habitualisiert sein, dass das Individuum sich selbst keine Rechenschaft über die Antizipationen, d. h. über die Annahmen gibt, die sein Handeln leiten; es folgt ihnen gleichsam ‚automatisch‘. Die Antizipationen sind dann nicht mehr als spezifische Merkmale des handelnden Individuums zu bestimmen, sondern als Merkmale der Bedingungen, unter denen das Individuum handelt: sein Handeln ist total institutionalisiert, entfremdet (Mollenhauer 1984: 17).
In der Fixierung auf bestimmte Verhaltensmuster gilt diese Entfremdung für viele Individuen, aber eben auch für Klienten in Beratung und Therapie. Handlungsleitende Antizipationen werden nicht reflektiert und es kommt „wie von selbst“ zu den sich immer wieder wiederholenden Handlungsmustern. Als Lernziel in Beratung und Therapie steht die Fähigkeit zur Antizipation für eine Veränderung und Überschreitung vorhandener Deutungs- und Handlungsmuster sowie für die innovativen Aspekte der Freisetzung subjektiver Möglichkeiten. Wie weit eine Veränderung der vorhandenen Deutungs- und Handlungsmuster geht, muss der Klient im Beratungsprozess selbst entscheiden, da z. B. eine ausschließliche Orientierung sich emanzipatorisch verstehender Beratung am Idealtypus der „herrschaftsfreien Kommunikation“ (Habermas) mit einem Verlust der „praktischen normativen Perspektive“ einhergehen würde. Für Beratung und Therapie sowie für Erziehung im Allgemeinen generell bleibt und ist die Zukunft allerdings die integrale Kategorie, von der alles abhängt, so dass mit Mollenhauer gefragt werden kann: „Soll die Zukunft – ... [des oder der Klienten (P.B.)] ... – verlängerte Vergangenheit oder das riskant Neue sein?“ (Mollenhauer 1980: 110 f.)
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Wie so häufig liegt für Beratung und Therapie die Lösung dieser Frage dort, wo die jeweiligen klientenspezifischen Systeme ‚verstört‘ oder ‚angeregt‘ werden und der Veränderungswunsch an die Oberfläche drängt. Hier findet der Beginn subtiler Veränderungsprozesse statt, die das Bekannte und Hergebrachte zur Veränderung in selbstähnlichen Strukturen benötigen. In Beratung und Therapie ist weder die Verlängerung der Vergangenheit gefragt noch das riskant Neue, notwendig ist eine Verbindung der Vergangenheit mit der zu antizipierenden Zukunft in der Gegenwart, ein reflexiv herauszufindender Sinn bisheriger Handlungsmodelle und darauf aufbauender zukünftiger Handlungsentwürfe. Bei diesen Neuorientierungen kommt es bei Klienten eben zu keiner „routinemäßigen Deckung“ mit den Wissenselementen vergangener Erfahrung. Stattdessen bilden sich neue Erfahrungen und Lerninhalte durch freiwillige oder unfreiwillige Relevanzzuschreibungen, die sich aus der zirkulären Verknüpfung von der noch offenen neuen Erfahrung, innerem und äußerem Horizont, aus der Verflechtung der real vorgefundenen Situation, der jeweiligen Bewusstseinsspannung und den im Wissensvorrat sedimentierten Motiven in ihrer sinnhaften Struktur ergeben. Auf phänomenologisch-wissenssoziologischer Ebene hat sich Schütz mit dem subjektiven Sinn von Handlungen und ihrer gedachten Vorwegnahme (Antizipation) beschäftigt. Erwähnenswert ist hier, dass Schütz den Prozess der Sinnfindung im geplanten Handeln vom einsamen Ich gesehen darstellt. Er geht nicht auf die eigentlich soziale Sinnsphäre, die Deutung des Alter Egos in der „Reziprozität der Perspektiven“ ein. Dieses hat seinen Grund in der Tatsache, dass Sinn vom Individuum selbst gefunden oder entwickelt werden muss, ihm also von anderen nicht direkt gegeben werden kann und somit Prozesse der Sinnfindung des Individuums für die Erfahrung von Sinn in der sozialen Wirklichkeit notwendig sind, die in der Kommunikation mit anderen symbolisch abgebildet werden. Zur Analyse der Sinndeutungs- und Sinnsetzungsvorgänge von Handlungen in der „Selbstauslegung des Ich“ (Schütz 1981: 114) verwendet Schütz den Terminus „Motivationszusammenhang“, der mit dem Sinnzusammenhang von Handlungen eine enge Verbindung aufweist. Der Motivationszusammenhang kann „als jener Sinnzusammenhang definiert werden, in welchem ein besonderes Handeln kraft des Entworfenseins der Handlung für den Handelnden besteht“ (ebd.: 117). Die Motivationsstruktur des Handelns im Alltagswissenbestand basiert auf dem „Um-zu-Motiv“ (ebd.: 115 ff.) und auf dem „echten Weil-Motiv“ (ebd.: 122 ff.). Beide Motive bezeichnen einen unterschiedlichen Bezugspunkt, die den der Handlung vorausgehenden Entwurf zeitlich bestimmen.
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Das „Um-zu-Motiv“ des Handelns wird dann benutzt, wenn das Ziel der Handlung noch in der Zukunft liegt, das heißt „wenn die Handlung zwar entworfen, aber noch nicht durch konkretes Handeln realisiert ist“ (ebd.: 119). Hier findet eine motivationale Orientierung an antizipierten Endzuständen statt: Lars geht nicht zur Arbeit an seinem Ausbildungsplatz, sondern spielt mit anderen Usern zusammen im Internet, um sich „besser“ und „identischer mit sich selbst“ zu fühlen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die Basis der Antizipation bereits vollzogene Handlungen sind, die „als selbst-durchlebte in den einstimmigen Erfahrungszusammenhang im Zeitpunkt des Entwurfs eingegangen sind“ (ebd.: 120), also in Ciompis Terminologie ausgedrückt, in affektiv-kognitiven Wissensstrukturen enthalten sind. Der Entwurf jeder Handlung führt den im geplanten Handeln sich konstituierenden Sinn mit sich, der sich, wenn auch nur selten bewusst, auf eine Synthese der Erinnerungen bereits vollzogener Handlungen rückbezieht und sich mit ihnen identifiziert. Die Folge von Mittel und Ziel entspricht der Erfahrung von gleichartigen Zielverwirklichungen durch gleichartige Mittel. Jedes „Um-zu-Motiv“ benötigt ein Vorwissen, einen Erfahrungszusammenhang, der die Folge von Mittel und Ziel in der Identität des „Und-so-weiter“ ermöglicht (vgl. Schütz 1981: 134 f.). Das „echte Weil-Motiv“ des Handelns geht nicht von einem Entwurf zukünftigen Handelns, sondern von einer bereits tatsächlich vollzogenen Handlung aus. In der echten Weil-Motivation wird ein neuer Sinnzusammenhang durch die Verknüpfung temporär verschiedener Erlebnisse der Vergangenheit konstituiert: Lars spielt nur noch in seiner Freizeit mit anderen Usern im Internet, weil er erkannt hat, dass ein „Schwänzen“ seiner Ausbildung langfristig erhebliche Nachteile mit sich bringt. Das „echte Weil-Motiv“ erklärt aus vergangenen Erlebnissen die Konstituierung des Entwurfs einer zukünftigen Handlung selbst, während das „Um-zuMotiv“ von diesem Entwurf ausgehend die Konstituierung der Handlung erklärt. Das „echte Weil-Motiv“ erlaubt erst eine zusammenfassende Sinnkonstruktion vergangener Erlebnisse und Handlungen, indem der Handelnde „in einem monothetischen Blickstrahl auf die motivierenden und motivierten Erlebnisse als eine phasenweise konstituierte Synthesis hinzublicken vermag“ (ebd.: 125 f.). Der Sinnzusammenhang einer Handlung ist von dem „Gesamtzusammenhang der Erfahrung“, dem „Inbegriff aller durch das Ich als freies Wesen in einem gegebenen Zeitpunkt seiner Dauer vollziehbaren reflexiven Zuwendungen auf seine abgelaufenen in phasenweisen Aufbau konstituierten Erlebnisse“ (ebd.: 104), nicht lösbar.
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Der spezifische Sinn eines Erlebnisses, „also das besondere Wie der Zuwendung zu ihm“, besteht „in der Einordnung dieses Erlebnisses in den vorgegebenen Gesamtzusammenhang der Erfahrung“ (ebd.: 104). Sowohl intrapsychische Prozesse im Individuum als auch Ereignisse in der Außenwelt erhalten erst dann ihren Sinnzusammenhang, wenn sie untereinander als in Beziehung stehend begriffen werden. Die Erfahrung, dass sich die Erscheinung eines Gegenstandes zur Erfahrung desselben erweitert, gehört selbst zum Erfahrungsrepertoire des Individuums, sie „steht in einem Sinnzusammenhang höherer Ordnung und auch von diesem hat [der Mensch (P.B.)] Erfahrung“ (ebd.: 109). In der Interpretation von Einzelerlebnissen in Sinnzusammenhänge auf der Basis bereits erworbener Deutungsschemata erweitert das Individuum seinen Erfahrungsvorrat. In der Erweiterung des Erfahrungsvorrats bilden sich „Schemata unserer Erfahrung“ heraus, wobei ein Schema der Erfahrung als „ein Sinnzusammenhang unserer erfahrenen Erlebnisse, welcher zwar die in den erfahrenen Erlebnissen fertig konstituierten Erfahrungsgegenständlichkeiten erfasst, nicht aber das Wie des Konstitutionsvorganges, in welchem sich die erfahrenen Erlebnisse zu Erfahrungsgegenständlichkeiten konstituieren“ (ebd.), bezeichnet werden kann. Das „Wie des Konstitutionsvorganges“ lässt sich, wie oben beschrieben, als dissipative Struktur, als Ablagerungen sich selbst ähnlicher Muster darstellen. Jedes Schema der Erfahrung kann allerdings auch wieder seiner Relevanz beraubt werden, da „jedes fraglos gegebene Schema der Erfahrung jederzeit durch passende attentionale Zuwendung zu einem ‚fragwürdigen‘, zu einem problematischen“ (ebd.) gemacht werden kann. Die Herstellung von Sinn stellt sich hier als ein zirkulärer Bewusstseinsprozess dar, der in einer zeitlich späteren Zuwendung zu dem bereits Erlebten auf in der Sozialisation angeeignete Deutungsmuster zurückgreift. Um diesen Rückgriff durchführen zu können, bedarf das Individuum eines Entwurfs seiner Handlungen. Ohne die Antizipation zukünftiger Handlungsresultate lässt sich das Gelingen oder Nichtgelingen der vollzogenen Handlung nicht auf die affektivkognitiv vernetzten Erfahrungen beziehen, so dass die Handlung nicht mehr in einem Sinnzusammenhang mit bereits vorhandenen Deutungsmustern stehen würde. Hier findet eine „strukturelle Koppelung“ von Sinn und Antizipation statt, in der vergangene Erlebnisse und Ereignisse zum Gegenstand von Reflexion gemacht werden. Jedes aktuelle Erlebnis trägt notwendig einen Vergangenheitshorizont und einen Zukunftshorizont. Der letztere ist mit typisierend antizipierten Erlebnissen erfüllt. Die
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Antizipationen werden bestätigt oder enttäuscht, während sie sich in impressive62 Phasen verwandeln. Als solche tragen sie neue Antizipationen und werden alsbald 63 Retentionen, während ihnen neue impressive Phasen nachfolgen (Schütz & Luckmann 1979: 80).
Für den Alltag und das alltägliche Handeln kann davon ausgegangen werden, dass „erst durch die permanente Antizipation in der Form der ‚Idealisierung‘, daß die Dinge ‚auch morgen noch‘ dort sind, wo sie immer sind, die Menschen weiterhin Verhaltensregelmäßigkeiten aufweisen etc.“ (Treptow 1985: 37), ein verlässlicher Alltag überhaupt zustande kommt. Die Idealisierung von Verlässlichkeit im Alltag wird allerdings nur solange aufrecht erhalten, bis ein dem Typischen nicht entsprechendes Ereignis „bis zum Gegenbeweis“ diese Erfahrung widerlegt. Hier wird der Antizipationshorizont partiell in seiner Selbstverständlichkeit und Vertrautheit erschüttert. „Bei extremen Schocks ‚explodieren‘ gar diese Wissensvorräte und müssen irgendwie, d. h. nicht nach dem Muster logischer Vereinbarkeit, revidiert werden. Zukunft wird dann fragwürdig“ (ebd.: 38). Hier findet sich aus der systemisch-konstruktivistischen Perspektive betrachtet, das Entstehen einer dissipativen Struktur aus einer fortgesetzten Erhöhung der Energiezufuhr. Klienten erleben in Beratungs- und Therapiesituationen solche Grenzerfahrungen unterschiedlicher Qualität als Erschütterung ihres bisherigen Antizipationshorizonts. Die Erfahrung, dass die antizipierten Erlebnisse des bisherigen Lebens zum Entwurf neuer Handlungsmodelle nicht mehr oder nur in geringem Maße tauglich sind, wirkt verunsichernd und beängstigend. Auch die Erfahrung, dass Antizipationen nicht enttäuschungsfest ist, führt nach der Veränderung alter Verhaltens- und Kommunikationsmuster nicht dazu, den Alltag in seiner Diskontinuität und Zerbrechlichkeit immer zur eigenen Zufriedenheit zu gestalten. So wird es wichtig, auch in den nicht befriedigenden Situationen täglichen Lebens weiter zu antizipieren. Entsprechend bezieht Schütz bei Handlungen, deren Grundlage eine Antizipation ist, ohne mit dieser identisch zu sein, die Rolle der Fantasie mit ein: Jedes Entwerfen [einer Handlung (P.B.)] besteht aus einer Antizipation von zukünftigem Verhalten in der Weise der Phantasie. [...] Entwerfen ist ein motiviertes Phantasieren, motiviert durch die antizipierte hinzukommende Absicht, das Projekt auch durchzuführen (Schütz 1972: 274).
62 63
Im Sinne von „Gefühle und Sinne beeindruckend“ [P.B.]. Mit diesem Begriff verweist Schütz auf das „Ineinander verwoben sein“ von Erlebnissen in aufeinander treffenden Zeiten.
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4 Selbstlernkompetenzen als Grundlage für offene Lernprozesse
Entwürfe, Antizipationen von zukünftigen Handlungen, sind durch ein höheres Maß an Praktikabilität charakterisiert, als es das ausschließliche Fantasieren aufweist. Das bei Entwürfen benutzte Wissen bezieht sich auf die erfahrene Vergangenheit, es ist an biografisch erworbene Erfahrungen und Wissensbestände geknüpft. Die enge Verflechtung von abrufbarem Wissen, dem Sinnzusammenhang von vergangenen Erlebnissen und Antizipation wird zur entscheidenden subjektiven Struktur, die für das Gelingen und Scheitern von Handlungsentwürfen zuständig ist. Alltägliche Antizipationen konstituieren sich aus der individuellen Auswahl der soziokulturell relevanten Entwürfe und den dabei zugrunde liegenden Interessen und Prioritätssetzungen (vgl. Treptow 1985: 39f.). Hierbei gilt allgemein, besonders aber für Klienten in Beratung und Therapie, dass einerseits in dem Ausmaß, in dem Wissenslücken vorliegen, das Risiko von Antizipationen, die sich nicht mehr auf Bekanntes beziehen können, wächst – und andererseits, dass, je geringfügiger die Erfahrungsbasis ist, auf der Antizipationen errichtet werden, desto unbestimmter ihre Verwirklichung ist. Der Wunsch, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, setzt das Schaffen von Zwischenzielen und die zur Erreichung notwendigen Mittel voraus. Das Erlernen der Fähigkeit zur Antizipation intrapsychischer Erlebnisse und konkreten Handelns wird zur wesentlichen Voraussetzung zur Erreichung der jeweiligen Ziele von Beratung und Therapie. Schütz bietet als Antizipationshorizont in der Realität zwei Welten an, die über konkretes Handeln zeitlich verschieden gestaltbar sind. In der „Welt in tatsächlicher Reichweite“ ist sofortiges Handeln möglich und der Entwurf hat die Mittel zur Erreichung des Handlungszieles zur Verfügung. Die „Welt in potenzieller Reichweite“ setzt die „Idealisierung des Ich-kann-immerwieder“ voraus und hat zum Zeitpunkt des Entwurfs noch keinen direkten Einfluss auf das Handeln. Diese Welt enthält “zwei Zonen der Potenzialität“, eine „Welt in wiederherstellbarer Reichweite“, die mit Hilfe der Retention alles das beinhaltet, „was früher in meiner tatsächlichen Reichweite war beziehungsweise wieder in diese rücken kann“ wie die „Welt in erlangbarer Reichweite“, in der Antizipationen von Lebenssphären, Fern- und Nahzielen stattfinden und in der sich innerhalb „meiner potenziellen Reichweite“ die Welt befindet, die „nicht in meiner tatsächlichen Reichweite ist und sich auch nie in ihr befand, die aber trotzdem durch die Idealisierung des ‚Und-So-Weiter‘ erreichbar ist“ (Schütz 1971b: 255). Diesen Objektbereich des in Antizipationen entworfenen Handelns hat ein Klient in neu zu entwickelnden sinnvollen Lebens- und Handlungsentwürfen für
4.6 Antizipation und Sinn
157
sich zu verwirklichen, vielleicht durch einen kurz- bis mittelfristigen Handlungsplan, der zunächst auf die konkrete Verwirklichung von Teilzielen rekurrieren muss. Sinn und Antizipation in ihrer strukturellen Koppelung werden zur Lernaufgabe von Beratung und Therapie, damit sie ihre zeitbezogene, einheitsstiftende und strukturierende Funktion erfüllen können und sich der zirkuläre Prozess des sich stets wiederholenden Aufbaus einer sinnvollen Lebensperspektive als alltagsüberdauernde Konstante manifestiert.
5 Lernpotenziale der Strategieentwicklung in Beratung und Therapie
Wie beschrieben vertritt der Autor die Auffassung, dass Beratung und Therapie in einem erheblichen Ausmaß mit Neulernen und der Entwicklung von Lernpotenzial zu tun haben. Neben den bereits thematisierten Lernpotenzialen aus einer vorwiegend systemisch-konstruktivistischen Sichtweise werden in den folgenden Kapiteln weitere, nach Auffassung des Autors wesentliche Aspekte der Beratungs- und Therapiearbeit in den Vordergrund gerückt, die ein solches Lernpotenzial für die Gestaltung der individuellen Zukunft der Klienten anbieten. Im Hinblick auf die Entwicklung zukünftiger Lebensentwürfe sind die vorgestellten Theorien nicht auf ihre Funktionalität bis in das kleinste theoretische Detail hin beschrieben und überprüft, sondern hier besteht die Aufgabe darin, Beratern und Therapeuten Anstöße für Lernerfahrungen und -prozesse ihrer Klienten zu geben, die ein gewisses Maß an Praktikabilität aufweisen. Entsprechend fordern die in den nächsten Kapiteln vorgestellten Themen und Handlungsstrategien zum Ausprobieren dieser Lernprozesse und Lernerfahrungen auf. Im Rahmen von personen- oder gruppenbezogener Beratung und Therapie ist es eher ungewöhnlich, sich mit dem Bereich der Strategieentwicklung zu beschäftigen. Strategieentwicklung gehört nach allgemeiner Vorstellung in die Organisationsberatung, in Erfolg versprechende Businesspläne oder in die ChangeManagement-Aktivitäten von Profit- und Non-Profit-Organisationen usw. Umso notwendiger erscheint es, diesen Bereich, der ja mit Zielsetzung, Erfolg, Antizipation und Sinngebung eng verknüpft ist, auch für den Bereich Beratung und Therapie fruchtbar zu machen. Insbesondere eine nachhaltige oder ökologische Ausrichtung in Beratung und Therapie kann nicht auf strategische Ausrichtungen, z. B. in Bezug auf Umwelthandeln, verzichten. Mitentscheidend für eine ökologische Ausrichtung in Beratung und Therapie ist, ein langfristiges Modell der Strategieformulierung zu entwickeln, das den Klienten zu späteren Zeitpunkten ermöglicht, innovative Informationen (veränderte neue Sichtweisen, verändertes Verhalten, andere Kommunikationsmuster) ohne Unterstützung durch
P. Busch, Ökologische Lernpotenziale in Beratung und Therapie, DOI 10.1007/ 978-3-531-92754-1_6, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
160
5 Lernpotenziale der Strategieentwicklung in Beratung und Therapie
einen Berater oder Therapeuten in sozialen Systemen zu etablieren. Dieses gilt nicht nur für Einzelpersonen, sondern auch für Gruppen und Organisationen. Irgendwann wird bei jedem zielgerichteten Handeln der Punkt erreicht, an dem eine strategische Ausrichtung auf dieses oder ein anderes definiertes Ziel erfolgen muss. Im Prinzip erfolgt schon mit der Antizipation eine strategische Ausrichtung auf eine noch zu gestaltende Zukunft. Dieser Prozess verläuft häufig nebenher, unbewusst oder vorbewusst. Auch im Beratungs- und Therapieprozess spielt die Strategie, wie der Klient etwas erreichen kann, z. B. eine Einstellungsänderung, nicht nur bei sich, sondern auch bei anderen Personen eine zentrale Rolle. Vor allen Dingen rücken hier auch längerfristige Veränderungsprozesse wie Berufswechsel und Änderungen im Beziehungssystem in den Vordergrund, die einer genaueren Planung bedürfen. Der Begriff Strategie wird in Beratung und Therapie allerdings selten genutzt und damit werden Lernchancen hinsichtlich einer klareren Definition der zukünftigen Gestaltung des eigenen Handelns vergeben. Die Adoptions- und Diffusionstheorie bietet sich zur Nutzung strategischer Lernmöglichkeiten für Beratung und Therapie an und wird im Folgenden mit diesem Bezug vorgestellt.
5.1 Strategieentwicklung im Rahmen der Adoptions- und Diffusionstheorie Die „Adoptions- und Diffusionstheorie“ (Rogers 1995, 2003) stellt als Theorie mittlerer Reichweite die Form der Verbreitung und Annahme von Innovationen in sozialen Systemen dar. Eine Innovation versteht sich als Idee, Praxis oder Objekt, die vom Adoptor (Individuum oder Gruppe) als neu empfunden wird. Die in Beratung und Therapie entwickelten psychosozialen Veränderungen werden hier als immaterielle Innovationen betrachtet, die in die jeweiligen klienteneigenen sozialen Systeme diffundieren. In der Mitte der 60er Jahre entstand die Diffusionsforschung auf der Basis von Literaturanalysen und eigenen Fallstudien E. M. Rogers. Das theoretische Modell war zunächst ausschließlich auf Individuen als Adoptereinheiten bezogen. Es handelt sich um eine Theorie, die sich zur Weiterentwicklung von spezifischen Fragestellungen zur Diffusion und Adoption von neuen Ideen, neuer Praxis und neuen Produkten anbietet und entsprechend genutzt wird. Diffusion
5.1 Strategieentwicklung im Rahmen der Adoptions- und Diffusionstheorie
161
und Adoption können in sozialen Systemen unterschiedlicher Größe und Verfassung betrachtet und die Adoption kann auf individuums- oder gruppenbezogenem Niveau beschrieben werden. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass es verschiedene Innovationstypen gibt:
Produktinnovation (kundenbezogen), Prozessinnovation (organisationsbezogen), radikale Innovation (schnelle, fundamentale Veränderungen), inkrementelle64 Innovation (schrittweise Handlungsveränderung), technische Innovation (Produkte etc., die für die operative Herstellung des Produktionsoutputs notwendig sind), administrative Innovation (Veränderungen in der sozialen Struktur und der administrativen Prozesse mit indirektem Einfluss auf Produktionsoutput) (vgl. Krcmar 2006: 11).
Vor dem Hintergrund der Ergebnisse von Beratung und Therapie, z. B. Veränderungen in den Verhaltens- und Kommunikationsmustern, kommen hier zwei Innovationstypen in Frage: die radikale Innovation mit schnellen fundamentalen Veränderungen und vor allen Dingen die inkrementelle Innovation, die sich durch schrittweise Handlungsveränderungen, wie sie für Klienten in Beratung und Therapie eher typisch sind, auszeichnet. Das Modell der Adaptions- und Diffusionstheorie bietet für die beiden genannten Innovationstypen mit einfachen strategischen Mitteln den Klienten ein Werkzeug an, das zu einer gelingenden Einführung ihrer neuen Kommunikations- und Verhaltensmuster sowie ihrer Intentionen und neuer Informationen in soziale Systeme verhelfen kann. Zur Darstellung strategischer Möglichkeiten werden hier nicht alle Aspekte der Diffusionstheorie genutzt. Der Prozess der Entstehung einer Innovation (vgl. Rogers 2003: 136 ff.) wird in diesem Zusammenhang nicht näher beschrieben, da im Beratungsprozess per se ständig Innovationen generiert werden. Ebenso wird auf die kommunikativen Möglichkeiten der Massenmedien (vgl. ebd.: 18, 205 ff.) nicht weiter eingegangen, da eine Innovation im Beratungs- und Therapiebereich fast immer eher kleine soziale Systeme und Netzwerke betrifft und hier keine oder kaum Massenmedien zur Kommunikation eingesetzt werden. Der Kern der Diffusionstheorie ist die Kommunikation der Innovation und der Prozess ihrer Verbreitung. Sie wird wie folgt definiert: 64
Im Sinne von „... auf Zuwachs ausgerichtet ...“ [P.B.].
162
5 Lernpotenziale der Strategieentwicklung in Beratung und Therapie
Diffusion is the process by which an innovation is communicated through certain channels over time among the members of a social system. Diffusion is a special type of communication, concerned with the spread of messages that are perceived as new ideas (Rogers 2003: 35).
Der Diffusionsprozess ist als eine Art sozialer Wandel zu begreifen, als ein Prozess, durch den eine Veränderung in Struktur und Funktion eines sozialen Systems stattfindet. Die Diffusion ist der Prozess der Über- bzw. Annahmeentscheidung, die Adoption ist die Über- bzw. Annahmeentscheidung einer Innovation durch das Individuum, der Gruppe oder Organisation. Das Ziel des Prozesses lässt sich als Akzeptanz der Innovation beschreiben. Es gibt vier Grundvoraussetzungen für die Diffusion von Innovationen, die in den folgenden Abschnitten hinsichtlich ihres strategischen Potenzials für die Klienten von Beratung und Strategie diskutiert werden: 1. 2. 3. 4.
die Innovation, die Zeit, (sichere) Kommunikationskanäle, die Mitglieder eines sozialen Systems (vgl. Rogers 2003: 36, 169).
5.1.1
Die Innovation in der Wahrnehmung der Übernehmer
Der vom Individuum getroffene Entscheidungsprozess, ob eine Innovation adoptiert wird, findet in fünf Phasen statt:
Phase des Wissens oder Bewusstwerdens (knowledge): Ein Individuum lernt eine Innovation kennen und versteht ihre Funktion. Phase der Überzeugung (persuasion): In dieser wird eine günstige oder ungünstige Tendenz der Innovation favorisiert. Phase der Entscheidung (decision): Nach dem Durchspielen verschiedener Möglichkeiten wird die Innovation angenommen oder abgelehnt. Phase der Durchführung (implementation): Ein Individuum kann die Innovation verwenden beziehungsweise hat eine Idee zur Verwendung. Phase der Bestätigung (confirmation): Das Individuum sucht Bestätigung für seine Entscheidung, kann aber seine Entscheidung revidieren, wenn sich Widersprüche einstellen (vgl. ebd.: 169 ff.).
Im Beratungs- und Therapieprozess bieten sich diese fünf Phasen für eine differenzierte strategische Planung an. Im Probehandeln kann der Klient die Mittei-
5.1 Strategieentwicklung im Rahmen der Adoptions- und Diffusionstheorie
163
lung von neuen Informationen an die Mitglieder seiner sozialen Systeme antizipatorisch durchspielen (z. B. Rollenspiel, Systemaufstellungen) und Reaktionen und mögliche Sichtweisen der Anderen ausprobieren. In der Phase des Bewusstwerdens liegt der Fokus der Aufmerksamkeit auf der Reaktion des oder der Gesprächspartner. Ein Klient sollte herausfinden, ob die Innovation, in diesem Fall die neuen Informationen, wirklich „verstanden“ werden. In der Phase der Überzeugung und der Entscheidung kann ein Klient mit Tendenzen und verschiedenen Möglichkeiten der Entscheidungsfindung der anderen Personen spielerisch umgehen und selbst weitere Möglichkeiten entwickeln. In der Phase der Durchführung erlebt ein Klient wie es ist, wenn seine neuen Informationen verwendet werden oder sein/e Gesprächspartner die Innnovation in das soziale System einbinden und weiterentwickeln. In der Phase der Bestätigung erlebt ein Klient, wie seine Innovation diskutiert wird und bei auftretenden Widersprüchen vielleicht doch nicht oder nicht so, wie vorgestellt, adoptiert wird. In diesem in Phasen verlaufenden Entscheidungsprozess sind weitere fünf Faktoren, die über Annahme oder Ablehnung und deren Verteilungsgeschwindigkeit entscheiden, wichtig. Anhand dieser fünf Faktoren können bis zu 87 % der Adoptionsrate erklärt werden (vgl. ebd.: 221 f.). Diese fünf Faktoren (vgl. Abb. 7) stellen sich folgendermaßen dar:
Relativer Vorteil (relative advantage): der Grad, zu welchem die Innovation im Vergleich mit dem Bestehenden als besser wahrgenommen wird. Hierzu zählen ökonomische Faktoren wie geringerer Preis und soziale Faktoren sowie die Absicht, den Status zu verbessern (vgl. Rogers 2003: 15, 229 f.). Kompatibilität (compatibility): der Grad, zu welchem die Innovation in Bezug auf die bestehenden Werte, Erfahrungen und Bedürfnisse als kompatibel wahrgenommen wird (vgl. ebd.: 15, 240). Komplexität (complexity): der Grad, zu welchem die Innovation als verständlich und leicht anwendbar erachtet wird. Je schwieriger eine Innovation zu verstehen ist, desto weniger wird sie angenommen werden (vgl. ebd.: 16, 257).
164
5 Lernpotenziale der Strategieentwicklung in Beratung und Therapie
relativer Vorteil
Probierbarkeit
Komplexität Diffusionsgeschwindigkeit
Beobachtbarkeit
Kompatibilität
Abbildung 7: Eigenschaften von Innovationen und Auswirkungen auf Adoption und Diffusion (Krcmar 2007: 12)
Versuchsmöglichkeit oder Probierbarkeit (trialability): der Grad, zu welchem eine Innovation getestet werden kann. Sind neue Verhaltensmuster eines Individuums klarer und zielorientierter, ist es wahrscheinlicher, dass sich Mitglieder eines sozialen Systems darauf einlassen; kann eine neue Technologie beispielsweise vor dem Kauf erprobt werden, ist es wahrscheinlicher, dass potenzielle Käufer diese erwerben (vgl. ebd.: 16, 258). Beobachtungsmöglichkeit (observability): das Ausmaß, in dem Resultate von Innovationen positiv oder negativ erkennbar sind. Sind die Folgen der Adoption schnell ersichtlich und im besten Fall auch positiv, wird der Adopter die Innovation viel eher verbreiten und kommunizieren wollen (vgl. ebd.: 16, 258).
Im Beratungsprozess kann mit diesen Faktoren noch einmal differenzierter sowohl auf die Fremdwahrnehmung der Übernehmer von Innovationen als auch auf die Struktur der Innovation selbst eingegangen werden. Im antizipatorischen
5.1 Strategieentwicklung im Rahmen der Adoptions- und Diffusionstheorie
165
Durchspielen der Faktoren überprüft der Klient die Realisierbarkeit seiner Innovation und mögliche Reaktionen relevanter Personen seiner Umwelt.
Der relative Vorteil erlaubt die Überprüfung, ob die angestrebte Innovation im Verhältnis zum Bestehenden besser ist und von Außenstehenden auch so wahrgenommen wird. Die Kompatibilität erlaubt die Überprüfung, ob die Innovation in Bezug auf die eigenen Werte sowie auf die Werte, Erfahrungen und Bedürfnisse der Mitglieder sozialer Systeme kompatibel ist. Die Komplexität erlaubt die Überprüfung, ob neue Informationen, Verhaltensmuster etc. klar genug strukturiert sind, um zügig und schnell in soziale Systeme integriert zu werden. Die Versuchsmöglichkeit erlaubt die Überprüfung, ob die Übernehmer neue Verhaltensmuster und Kommunikationsinhalte auf ihre Beständigkeit, Klarheit, Zielorientierung u. a. ausprobieren wollen. Die Beobachtungsmöglichkeit erlaubt die Überprüfung, wie hoch die Wahrscheinlichkeit der Verbreitung der Innovation bei dem/den Adopter/n ist.
Aus einer strategischen Sichtweise betrachtet ist hier vor allen Dingen das „Ausloten“ der Perspektiven der Übernehmer wichtig. Es handelt sich um grundlegende Übungen, die Klienten von Beratung und Therapie in jetzigen und späteren Lebensabschnitten von Nutzen sind.
5.1.2
Der zeitliche Verlauf der Übernahme
Nach Untersuchungen von Rogers ist der zeitliche Ablauf der verschiedenen Adoptionsstufen durch Individuen ungefähr normal verteilt. Die zeitliche Distanz der Einführung einer Innovation und ihrer endgültigen Akzeptanz stellt Abbildung 8 dar. Die aufgeführten Gruppen von Übernehmern unterscheiden sich idealtypisch in verschiedener Hinsicht: Die erste Gruppe der Innovatoren zeichnen sich durch eine hohe Risikobereitschaft aus. Sie haben zahlreiche formelle und informelle Kontakte außerhalb ihrer unmittelbaren sozialen Umgebung und beziehen ihre Informationen häufig unmittelbar oder über die intensive Nutzung von Massenkommunikationsmitteln. Sie haben einen hohen sozioökonomischen Status und sind im gesellschaftlichen Leben aktiv, ohne formelle Führerrollen auszuüben. In den Kate-
166
5 Lernpotenziale der Strategieentwicklung in Beratung und Therapie
Abbildung 8: Klassifikation der Übernehmer nach dem Zeitpunkt der Adoption (vgl. ebd.: 281)
gorien Mertons sind sie den „Cosmopolitans“ zuzurechnen (1973: 374). Hinsichtlich neuer Produkte sind sie als Meinungsführer beliebt, die wichtige positive Verstärkungen (Demonstrationseffekte) bei der Einführung von Innovationen liefern. Die zweite Gruppe, die frühen Übernehmer, hat ähnliche Eigenschaften wie die Innovatoren, unterscheiden sich von diesen aber in vielen anderen Bereichen. Sie sind stärker in das lokale soziale System integriert. Der sozioökonomische Status ist auch bei dieser Gruppe hoch, in den Kategorien Mertons als „Locals“ benannt. Diese Gruppe stellt auch die meisten Meinungsführer und sie dienen den anderen Personen im betreffenden sozialen System als Vergleichspersonen. Sie sind als lokale Meinungsführer die ideale Kontaktinstanz für die Träger des Wandels (agents of change, s. u.). Die dritte Gruppe, die frühe Mehrheit, zeichnet sich weniger durch ihre Innovations- und Risikobereitschaft aus, sondern mehr durch ihre auf die gegenwärtige Realität bezogene Erwartungen und Haltungen. Sie warten die Erfahrungen der Innovatoren und der Frühadoptoren eher ab, bis sie sich für eine Neuerung entscheiden; der Entscheidungsprozess dauert länger. Diese Gruppe kommuniziert viel mit den Personen in ihrer sozialen Umgebung. In der Gruppe sind seltener Führungspersönlichkeiten zu finden. Der sozioökonomische Status liegt etwas über dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. Die vierte Gruppe, die späte Mehrheit, entscheidet sich für eine Innovation erst dann, wenn überdurchschnittlich viele Personen die Innovation bereits übernommen haben, diese also bereits einen Standard darstellt. Sie sind skeptisch gegenüber Neuerungen und haben über diese weniger Informationen. In dieser
5.1 Strategieentwicklung im Rahmen der Adoptions- und Diffusionstheorie
167
Gruppe müssen häufig erst die Systemnormen die Innovation favorisieren, der soziale Druck muss wachsen, bevor die Innovation adoptiert wird. Diese Gruppe hat weniger weit reichende soziale Kontakte und benutzt weniger Medien als Informationsquelle. Sozioökonomisch betrachtet liegt diese Gruppe etwas unter dem Durchschnitt. Die fünfte Gruppe, die Nachzügler, übernehmen die Innovation zuletzt. Sie sind häufig sehr konservativ und traditionsgebunden. In ihrer sozialen Umgebung sind sie häufig isoliert oder interagieren mit anderen traditionsgebundenen Persönlichkeiten. Innovationen werden erst dann angenommen, wenn diese für andere schon überholt sind. Sozioökonomisch betrachtet ist diese Gruppe meistens älter und verfügt über ein geringes Einkommen (vgl. Schenk 2002: 384 ff.). Strategisch betrachtet sind der zeitbezogene Ablauf der Übernahme von Innovationen und die Typisierung verschiedener Übernehmer für Klienten aus Beratung und Therapie von großem Interesse. Innovationen beziehungsweise Innovationsvorhaben sind zwangsläufig individuell, bestehen aus Informationen und können nur klientenspezifisch „auf den Weg“ gebracht werden. Aus diesem Grund wird hier nicht differenziert auf jede einzelne zeitliche Abfolge und jeden damit zusammenhängenden Typus bei der Adoption eingegangen. Ein Klient kann mit Hilfe der Typisierung und der zeitlichen Abfolge spezifische Innovationsvorhaben zeit- und persönlichkeitsbezogen genauer festlegen und antizipatorisch reflektieren, zu welchem Zeitpunkt er z. B. veränderte Kommunikationsmuster bei welcher Person innerhalb eines sozialen Systems einsetzt. Von strategischem Interesse für Klienten aus Beratung und Therapie sind die ersten drei Typen von Übernehmern: Innovatoren, frühe Adoptoren und die frühe Mehrheit. Wer von diesen ausgewählt wird, ist abhängig vom Einzelfall und kann hier nicht verallgemeinert werden. Im zeitlichen Verlauf sind viele Faktoren von der Größe eines sozialen Systems abhängig, in einer Kleinfamilie mit einem Kind z. B. werden mehrere Übernehmerrollen von einer oder zwei Personen wahrgenommen. Anders verhält es sich bereits in größeren Familienverbänden, in der Schule, auf der Arbeit und im Freundeskreis. Hier finden sich die idealtypischen Klassifizierungen vom Innovator bis zum Nachzügler und die zeitlichen Verläufe der Übernahme von Innovationen wieder. Die Analyse ist lohnenswert und eine personen- und zeitbezogene strategische Auswahl kann die Akzeptanz neuer Informationen effektiver in die Wege leiten.
168
5 Lernpotenziale der Strategieentwicklung in Beratung und Therapie
absolute oder relative Adoptionszahl (kumuliert)
Marktsättigungs. niveau
traditionelle Diffusion
Diffusion von Kritische-MasseSystemen
kritische Masse Take off
Zeit
Abbildung 9: Diffusionskurven im Vergleich (ebd.: 389)
Der auf die Zeitdauer bezogene S-förmige traditionelle Diffusionsverlauf (vgl. Abb. 9) zeigt einen zunächst langsam, dann aber kräftig wachsenden Anteil von Adoptoren. Die kritische Masse stellt den Schwellenwert dar, an dem die Meinungsführer des sozialen Systems die Innovation übernommen haben und bei anderen Personen das Bedürfnis nach dem Besitz der Innovation auslösen. Im sozialen System entsteht ein Diffusionseffekt, der den wachsenden Einfluss des sozialen Systems im Hinblick auf Annahme oder Ablehnung der Innovation charakterisiert. Der „Take off“ entwickelt sich durch die Annahme der Innovation, u. a. durch sozialen Adoptionsdruck, zu einer Kettenreaktion („Bandwagoneffekt“). Das Überschreiten der kritischen Masse zeigt auch den Übergang von den frühen Adoptoren zur frühen Mehrheit an. Die Kettenreaktionen leiten die Phase der breiten Diffusion ein, die einen verstärkten Anstieg im Verlauf der Diffusionskurve zur Folge hat. Das Erreichen der kritischen Masse gilt als Wendepunkt in der Diffusionsentwicklung (vgl. ebd.: 387). Neben dem traditionellen Diffusionsmodell gibt es das „Kritische-MasseSystem“ mit einem verzögerten „Take off“. Hier steht bei Einführung der Innovation noch kein hinreichend großer Interessentenkreis zur Verfügung; somit besteht kein Anreiz zur Adoption. Kritische-Masse-Systemen werden besonders zum Zeitpunkt ihrer Einführung erhebliche Widerstände entgegengebracht. Die
5.1 Strategieentwicklung im Rahmen der Adoptions- und Diffusionstheorie
169
Geschwindigkeit der Diffusion wird herabgesetzt und das Erreichen der Kritischen Masse verzögert. Der Zeitpunkt des „Take off“ findet wesentlich später statt (vgl. ebd.: 388). Dieses in der Praxis von Beratung und Therapie nicht so benannte, aber bekannte Phänomen „Kritischer-Masse-Systeme“ bedeutet, dass neue Informationen des Klienten von potenziellen Adoptoren, z. B. der frühen Mehrheit in einer Peergroup, nicht zwangsläufig sofort übernommen werden, sondern dass diese Informationen zunächst Widerstände überschreiten müssen, um den Status des „Take off“ zu erreichen.
5.1.3
Die Kommunikationskanäle
Bei Adoptionsentscheidungen wirken auf allen Stufen zwei Typen von Kommunikationskanälen, die innerhalb eines Kontinuums von Massenkommunikation bis zur interpersonalen Kommunikation reichen. Beide Kanäle wirken im Adoptionsprozess verschieden. Massenkommunikation vermittelt hauptsächlich das Wissen über Innovationen, während die interpersonale Kommunikation stärker zur Bildung und Veränderung von Einstellungen beiträgt. Massenkommunikation und interpersonale Kommunikation werden nicht substitutiv genutzt, sondern ergänzen sich im Adoptionsprozess unter Nutzung verschiedener Kommunikationskanäle komplementär. Die Eigenschaften beider Kanäle werden in Tabelle 6 dargestellt. Im Hinblick auf Beratung und Therapie interessiert hier im Wesentlichen die interpersonale Kommunikation, die auf den direkten Erfahrungsaustausch mit anderen Personen abzielt. Kanäle der Massenkommunikation werden hier praktisch gar nicht genutzt, Ausnahmen stellen Verbindungen zu einer allgemeingültigen Thematik dar, wie z. B. die Darstellung von Beziehungskonflikten, Suchtmittelabhängigkeiten u. a. in unterschiedlichen Massenmedien Gesprächsstoff liefert. Die Eigenschaftsbeschreibung der interpersonalen Kommunikation ist für eine strategische Ausrichtung von Beratung und Therapie dahingehend interessant, dass veränderte und innovative Kommunikationsprozesse und -inhalte auf verschiedenen Ebenen mit unterschiedlichen Gesprächspartnern, z. B. in einem Rollenspiel, antizipierend erprobt werden können. Unterschiedliche Ebenen für eine strategische Ausrichtung sind nach Ansicht des Autors:
170
5 Lernpotenziale der Strategieentwicklung in Beratung und Therapie
Tabelle 6: Massenkommunikation und interpersonale Kommunikation (Rogers 1973, in Schenk 2002: 390) Eigenschaften
Interpersonale Kommunikation
Massenkommunikation
1. Kommunikationsfluss
Tendenz zur Zweiseitigkeit
Tendenz zur Einseitigkeit
2. Kontext der Kommunikation
direkt
vermittelt
3. Verfügbarer Betrag an Feedback
hoch
niedrig
4. Fähigkeit, selektive Prozesse zu überwinden
groß
gering
5. Geschwindigkeit der Verbreitung
relativ langsam
relativ schnell
6. Effekt
Einstellungsbildung und -veränderung
Wissensveränderung
Mit wem läuft der Kommunikationsfluss am besten, wo besteht die höchste Wahrscheinlichkeit zweiseitiger Kommunikation? Mit wem ist die Kommunikation am direktesten? Wer liefert qualifiziertes Feedback? Wie erreiche ich trotz einer wahrscheinlich langsamen Geschwindigkeit der Verbreitung meiner „Innovation“ eine schnellere Verteilungsquote? Was kann ich dafür unternehmen, wen kann ich ansprechen? Ändern die ausgewählten Kommunikationspartner ihre emotionale und kognitive Einstellung zu mir (Kontrollfunktion)?
Aus einer strategischen Sichtweise heraus ist es von Interesse, dass zusätzliche Informationen, die im Rahmen der interpersonalen Kommunikation gewonnen werden, zu einem Abbau von Widersprüchlichkeiten und zur Akzeptanz der Innovation beitragen. Auch Fragen, die im direkten Zusammenhang mit der Innovation stehen, können schnell geklärt werden. Hiermit werden Unsicherheiten, die mit der Adoptionsentscheidung verbunden sind, reduziert. Zu berücksichtigen ist hierbei auch, dass es je nach Relevanzstärke der Innovation (in Beratung und Therapie handelt es sich ja fast immer um Informationen) zu einer schnelleren Übernahme kommen kann.
5.1 Strategieentwicklung im Rahmen der Adoptions- und Diffusionstheorie
5.1.4
171
Soziale Systeme
Die Strukturen des sozialen Systems in der Diffusionstheorie sind für Beratung und Therapie besonders relevant, da sich ihre Klienten immer in ihr jeweiliges soziales Netz rückkoppeln. Die Adoptions- und Diffusionstheorie stellt allerdings keine ausdifferenzierte Analyse des sozialen Systems zur Verfügung (vgl. Rogers 2003: 23 ff., 203). Die fehlende Beschreibung einer Struktur des sozialen Systems erschwert es, den präzisen Ablauf von der Adoption und Diffusion von Innovationen nachzuvollziehen, beziehungsweise Vorhersagen darüber zu treffen (vgl. Abrahamson & Rosenkopf 1997: 289). Somit bleibt festzuhalten, dass die Struktur des betreffenden sozialen Systems, in dem die Diffusion abläuft, eine die Adoption der Innovationen beschleunigende oder bremsende Kraft ist. Systemeffekte (Werte, Normen, Hierarchien, Status usw.) beeinflussen das innovative Verhalten der Individuen als Mitglieder sozialer Systeme. Die Struktur sozialer Systeme konstituiert nicht nur einen mehr oder weniger analytisch formulierbaren Satz von Grenzen, innerhalb derer eine Innovation angenommen wird, sondern sie beschreibt auch die dominanten Kanäle interpersonaler Kommunikation (s. o.), durch die eine Diffusion verläuft. Neue Informationen werden durch Mechanismen wie Meinungsteilung und verschiedene selektive Stufen der Wahrnehmung von Perzeption bis Apperzeption vor dem Hintergrund existierender soziokultureller Muster verarbeitet und bewertet. Nach dieser Bewertung treffen die Personen ihre Entscheidung entsprechend den dargestellten Klassifikationstypen (vgl. Schenk 2002: 393 f.). Die Vorgänge bei der Übernahme von Innovationen in sozialen Systemen können unter ihren spezifischen Bedingungen leichter beschrieben werden als die Vorgänge bei einer Nichtübernahme. Die Strukturen des sozialen Netzes sind für den Informationsfluss von Übernehmern zu potenziellen Übernehmern wesentlich. Eine positive Kritik innerhalb der Übernehmer des sozialen Systems steigert die Anzahl der Adoptionen, diese führt zur weiteren Verbreitung der positiven Kritik, was die Diffusion weiter verstärkt. Dieser Kreislauf der Steigerung findet in einer Kettenreaktion (s. o.) statt. Je mehr Verbindungen es zwischen Peripherie und Kerngruppen eines Netzwerkes gibt, desto wahrscheinlicher ist die Adoption der Innovation durch anfängliche Nichtübernehmer. Die Dichte des Netzes ist also von großer Bedeutung. Daneben ist wichtig, ob die Verbindung von Kern und Peripherie bilateral oder multilateral ist. Je mehr Druck von Übernehmern ein Nichtübernehmer ausgesetzt ist, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit der Adoption. Bei diesem Phänomen wird von Grenz-
172
5 Lernpotenziale der Strategieentwicklung in Beratung und Therapie
druck und Grenzschwäche gesprochen. Andererseits muss Grenzschwäche nicht bedeuten, dass es nicht zur Adoption kommen könnte. Wenn eine Person keine großen Vorbehalte gegen die Innovation hat, dann ist eine Adoption möglich (vgl. Abramhamson & Rosenkopf 1997: 298 ff.). Kann die Entscheidung für eine Innovation individuell und unabhängig von einer Gruppe getroffen werden, ist eine Adoption schneller möglich. Die Kommunikation erfolgt über persönliche Kontakte, gegebenenfalls über Massenmedien, was unterschiedliche Effekte mit sich bringt. Innerhalb des sozialen Systems zählen u. a. die vorherrschenden Werte und Normen, welche eine Entscheidung beeinflussen können. Schließlich ist die Rolle der Meinungsführer (Change Agents) von großer Bedeutung (vgl. Rogers 2003: 221 f.). Meinungsführer besitzen eine informelle Führerschaft, die sich durch ihre soziale Kompetenz, ihre soziale Erreichbarkeit (Zentralität im Kommunikationsnetz des sozialen Systems) und ihre Konformität mit den Systemnormen privilegieren. Der Ausprägung eines sozialen Systems in veränderungsfreundliche oder veränderungswiderstrebende Strukturen passen sich die Meinungsführer an, treiben Innovationen voran oder verhalten sich entsprechend konservativ hinsichtlich deren Adoption. Ein Einsatz für die Verbreitung der Innovation beschleunigt die Adoption entsprechend (vgl. Schenk 2002: 395). Die Ziele einer strategischen Ausrichtung in Beratung und Therapie laufen eindeutig über die Analyse der Struktur der jeweiligen sozialen Systeme und über den Einbezug der Meinungsführer, die die neuen Informationen an andere Teilnehmer des sozialen Netzes weitergeben. Die Meinungsführer im jeweiligen sozialen System (Familien, Freundeskreise usw.) gilt es, nach Möglichkeit zu überzeugen und sich ihrer Hilfe zu versichern. Zur Analyse der Struktur des sozialen Netzes bietet es sich an, dass Klienten mit spezifischen Methoden antizipierend für die Zukunft erlernen, wie ihre sozialen Systeme analysiert und verändert werden können. Dieser Prozess ist als Lernprozess auf der kognitiven und emotionalen Ebene zu verstehen, da eine rein kognitive Analyse viele Klienten zu einem späteren Zeitpunkt in ihrem Leben einerseits zu viel Zeit kosten würde und durch den damit verbundenen Aufwand auch überfordern würde. Sie müssen in die Lage versetzt werden, aus dem emotionalen Gedächtnis heraus auf die vorhandenen aktuellen Strukturen des jeweiligen sozialen Systems zu antworten, beziehungsweise eine neue Richtung (Innovation) einzuschlagen. Auch die Ziele einer strategischen Ausrichtung in sozialen Systemen können unter Einbeziehung verschiedener Beratungs- und Therapietechniken wie
5.2 Strategische Umsetzung neuer Entwicklungen in soziale Systeme
173
Rollenspiel, Systemaufstellung usw. einer „antizipatorischen Überprüfung“ unterzogen werden, um herauszufinden, welche Veränderungsstrategie zu welchem Zeitpunkt bei welchen Personen am wirkungsvollsten sein kann. Hierbei gilt es, soweit möglich, zu berücksichtigen, dass einmal vom sozialen Netz adoptierte Innovationen selbst wieder zu einer Veränderung der sozialen Struktur führen. Dieses trifft insbesondere für neue Informationen von Klienten aus Beratung und Therapie zu. Strategisches Handeln wird in der Art und Weise zu einer Aufgabe ökologisch ausgerichteter Beratung und Therapie, die Gesetzmäßigkeiten der Diffusion von Innovationen in soziale Systeme zu vermitteln und Lernmöglichkeiten zur Verfügung zu stellen, wie Innovationen resp. neue Ideen in diese Systeme erfolgreich integriert werden können.
5.2 Strategische Umsetzung neuer Entwicklungen in soziale Systeme Im Folgenden wird beispielhaft beschrieben, wie sich unter Einsatz einfacher Fragetechniken das strategische Potenzial dieser Theorie für Beratung und Therapie nutzen lässt. Wie beschrieben werden die Ergebnisse (z. B. psychosoziale Veränderungen) von Beratung und Therapie als immaterielle Innovationen angesehen, die sich in den jeweiligen klienteneigenen Systemen ausbreiten. Die Fragestellungen lassen sich strategisch antizipierend (Rollenspiel, soziales Atom, kulturelles Atom, Systemaufstellungen etc.) bearbeiten und ermöglichen durch ihre Verortung im sozialen Raum dem Klienten geplante und überprüfbare Veränderungsschritte. Als Beispiel dient die beratungsunterstützte Entscheidung eines Jugendlichen, sich auf einen Ausbildungsplatz zu bewerben, nachdem er nach seinem Schulabschluss ein Jahr lang für seine weitere berufliche Zukunft nichts unternommen hat. Im Wesentlichen kommt hier es auf die Vorwegnahme geplanter Gespräche mit potenziellen Übernehmern seiner Innovation an sowie auf die Genauigkeit, mit der er diese Gespräche plant. Der Lerneffekt für den Jugendlichen liegt einerseits in der Übung im strategischen Bereich, dass eine solche Planung wichtig ist und funktionieren kann, und andererseits liegt der Lerneffekt in der Reflexion der realen Geschehnisse im Erfolgs- beziehungsweise Misserfolgsfall vor dem Hintergrund der erfolgten Vorbereitungen.
174
5 Lernpotenziale der Strategieentwicklung in Beratung und Therapie
Unter Einbezug der Frage: „Wer adoptiert was, wann, wo, warum und wie?“ (Oschmann 2004: 15) wird differenziert dargestellt, wie eine strategische Planung in Beratung und Therapie eingesetzt werden kann:
Im Einzelnen betrachtet beziehen sich die Fragewörter „Wer“ und „Wo“ auf die jeweiligen sozialen Systeme des Klienten. „Wer“ bezieht sich auf die Übernehmer der Innovation: Innovatoren, Frühadoptoren, frühe Übernehmer, späte Übernehmer und Nachzügler. „Wo“ bezieht sich auf das oder die soziale(n) System(e) des Klienten, z. B. Familie, Arbeitsplatz, Vereine, Peergroups etc. Der Jugendliche hat in der Beratung die Aufgabe, seine sozialen Systeme differenziert zu analysieren und festzustellen, zu welchen Übernehmern in diesen er leichte beziehungsweise schwierige Kontakte hat. Er soll die Übernehmer auswählen, zu denen er eher einen positiven Kontakt hat. Hierbei soll er die zeitliche Abfolge der Informationsweitergabe wählen, um sich eine schnelle und klare emotionale und kognitive Unterstützung zu sichern. Insbesondere soll er die Meinungsführer herausfinden und im Rollenspiel o. ä. überprüfen, inwieweit er sich bei diesen Unterstützung holen kann.
„Adoptiert“ bezieht sich auf die Kenntnisnahme der Innovation, ihre Bewertung, die Entscheidung zur Übernahme und letztendlich die Implementierung in das jeweilige soziale System. Der Jugendliche hat die Aufgabe herauszufinden, welche Wirkung sein Entschluss, sich um einen Ausbildungsplatz zu bemühen, auf die Mitglieder seiner sozialen Systeme hat. Er soll sich ein Bild davon machen, wie sein Entschluss bewertet wird, ob es Schwankungen bei Anderen hinsichtlich seiner Durchhaltefähigkeit gibt, ob es Überprüfungen seiner Verhaltensweisen geben wird und ob er Unterstützung bei der Durchführung erfährt.
„Was“ bezieht sich auf die Innovation selbst, und zwar sowohl auf ihre Form als auch auf ihre Struktur. In Beratung und Therapie entwickelte psychosoziale Veränderungen werden hier als immaterielle Innovationen betrachtet, die in die jeweiligen klienteneigenen sozialen Systeme diffundieren. Die Innovation des Jugendlichen besteht aus Information, die sich auf ein geplantes zukünftiges Verhalten bezieht. Will er mit der Information Übernehmer erreichen, kann er dafür sorgen, dass die Kommunikation über die Information verantwortungsvoll, verlässlich und vertrauensbildend stattfindet. Diese Formen
5.2 Strategische Umsetzung neuer Entwicklungen in soziale Systeme
175
der Kommunikation können antizipierend in Rollenspielen geübt und dann in der Realität vollzogen werden.
„Wann“ bezieht sich auf den Verlauf der Diffusion. Einerseits auf den zeitlichen Verlauf, wann welcher Adoptortyp eine Übernahme tätigt, andererseits auf den s-förmigen Verlauf von Innovationen, der zeigt, dass eine Adoption zunächst langsam, dann schneller und zum Ende wieder langsamer verläuft. Besonders für Klienten aus Beratung und Therapie ist zu beachten, dass es bei der Übernahme möglicherweise zum Phänomen des „Kritische-Masse-Systems“ kommt (s. o.). Hier geht es um die Annahme der Information von einer größeren Personenanzahl innerhalb der relevanten sozialen Systeme, deren Zeitpunkt für den Jugendlichen zunächst einmal offen ist. Es ist wichtig, im Beratungsprozess zeitlich verschiedene Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen, damit der Jugendliche beim Eintritt des „Kritische-Masse-Systems“ nicht von seiner Strategie, sich um einen Ausbildungsplatz zu bemühen, abweicht. Für den Jugendlichen ist hier die emotionale Unterstützung wichtig beziehungsweise die Lernaufgabe, sich diese emotionale Unterstützung in seinem sozialen Umfeld zu erhalten. Grundsätzlich ist jeder Mensch in seiner Entwicklung mit der Tatsache konfrontiert, dass sich zu einem gewünschten Zeitpunkt Veränderungen häufig nicht einstellen und dass die Verwirklichung der Veränderung häufig erheblich größere Kraftanstrengungen kostet. In jedem Fall bieten „Kritische-Masse-Systeme“ gute Lernchancen in Beratung und Therapie.
„Warum“ bezieht sich auf die Anreize der Innovation, die für die Entscheidung der potenziellen Übernehmer wesentlich sind. Ist das Angebot, das Neue und Veränderte (z. B. der Entschluss, sich um einen Arbeitsplatz zu bewerben) reizvoll für einen Übernehmer, macht es einen Sinn, hat der Übernehmer oder sein soziales System einen Vorteil? Der Jugendliche ist hier vor die Aufgabe gestellt herauszufinden, was an seiner Innovation reizvoll für die Übernehmer in seinen sozialen Systemen ist, dass die Neuerung leicht und schnell übernommen werden kann. Wesentlich ist hier, dass der Fokus auf den Übernehmern liegt, was wiederum den sozialen Raum des Jugendlichen verstärkt ins Spiel bringt.
„Wie“ bezieht sich auf die Übermittlung, die Kommunikationskanäle der interpersonalen Kommunikation und der Massenkommunikation. Es wurde
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5 Lernpotenziale der Strategieentwicklung in Beratung und Therapie
bereits festgestellt, dass für Klienten aus Beratung und Therapie eher die interpersonale Kommunikation von Interesse ist. Der Jugendliche kann, wie oben bereits ausgeführt, mit unterschiedlichen Gesprächspartnern (z. B. in einem Rollenspiel) antizipierend erproben, welche Art von Kommunikation mit wem für ihn am zweckmäßigsten ist. Wichtige bereits dargestellte Fragestellungen sind für ihn hierbei, auch unter dem Aspekt einer strategischen Ausrichtung seines Vorhabens:
Mit wem läuft der Kommunikationsfluss am besten, wo besteht die höchste Wahrscheinlichkeit zweiseitiger Kommunikation? Mit wem ist die Kommunikation am direktesten? Wer liefert qualifiziertes Feedback? Wie erreiche ich trotz einer wahrscheinlich langsamen Geschwindigkeit der Verbreitung meiner „Innovation“ eine schnellere Verteilungsquote? Was kann ich dafür unternehmen und wen kann ich ansprechen? Ändern die ausgewählten Kommunikationspartner ihre emotionale und kognitive Einstellung zu mir? Wie erfahre ich dieses? Wie erhalte ich die Kontrolle über die Situation?
Gemeinsames Merkmal einer strategischen Ausrichtung und der Adoptions- und Diffusionstheorie ist die Orientierung an der Außenwirkung neuer Informationen, Ideen, Produkte usw. Beide thematisieren die Möglichkeiten geplanter Veränderungsprozesse und ermöglichen damit, zunächst antizipierend auf vorgestellte Ziele hin zu arbeiten und in einem zweiten Schritt diese in der Realität durchgeführten Schritte reflexiv zu verarbeiten. Die strategische Orientierung an der Außenwirkung neuer Informationen im sozialen System lässt sich auch mit dem Begriff der Kundenorientierung bezeichnen. Schweitzer (vgl. 1995: 292 ff.) beschreibt „Kundenorientierung als systemische Dienstleistungsphilosophie“, die sich dadurch auszeichnet, dass Leistungserbringer (Berater und Therapeuten) möglichst genau das anbieten, was ihre Kunden subjektiv haben wollen, und nicht das, was sie nach Meinung des Beraters oder Therapeuten brauchen. Professionelle Interventionen richten sich nicht nach Indikation oder Bedürftigkeit, sondern nach dem subjektiven Bedarf der Kunden. Diese Form der Kundenorientierung kann aber nicht nur der Berater oder Therapeut lernen und praktizieren, sondern auch seine Klienten. Die Kundenorientierung ist eine Aufgabe, die ein Klient bei der Entwicklung und Umsetzung einer Veränderungsstrategie in seinem sozialen System „sowieso“ angeht. Die
5.2 Strategische Umsetzung neuer Entwicklungen in soziale Systeme
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Mitglieder seines sozialen Systems sind seine Kunden, die er von seinen Veränderungen, Ideen und Zielen überzeugen möchte. Damit wird Kundenorientierung zu einem Lernfeld für Klienten: Hier werden im Rahmen der Analyse der „Wünsche“ der Mitglieder eines sozialen Systems Antizipationen und Strategievorentwürfe späterer Handlungen vorweggenommen. Die „Kunden“ wollen schon etwas, aber nicht das, von dem der Klient ursprünglich dachte, dass diese es wollen. Der Klient lernt über die Sichtweise der Kundenorientierung schon sehr früh, seinen Veränderungsprozess auf eigene strategische Ziele hin auszurichten. Die genaue Klärung der „Kundenwünsche“ erspart dem Klienten Zeit, Energie und vielleicht auch Geld. Streng betrachtet, braucht der Klient den Mitgliedern seiner sozialen Systeme nichts anzubieten, was auf keine Nachfrage trifft. Die Kundenorientierung bietet zahlreiche Anregungen zur Themenwahl in Beratungs- und Therapiegesprächen, z. B. besonders in Situationen stagnierender Beratung. Dieses gilt in diesen stagnierenden Situationen auch für die Kundenorientierung des Klienten.
6 Lernpotenziale in einem beratungs- und therapieübergreifenden Modell
Im Folgenden wird das Transtheoretische Modell („Stages of Change“), im Weiteren TTM genannt, als beratungs- und therapieübergreifendes Modell beschrieben, das sowohl mit als auch ohne professionelle Hilfe Personen ermöglicht, sich zu verändern. Prochaska, Norcross und DiClemente (1997) haben in ihren Untersuchungen zu Personen, die Selbstveränderungen ohne Inanspruchnahme von Beratung und Therapie („Selbstveränderern“) durchführten, und zu Personen, die mit Hilfe einer Beratung oder Therapie Selbstveränderungen umsetzten, herausgefunden, dass in der Struktur des Veränderungsprozesses der beiden Gruppen weniger Unterschiede als angenommen, dafür aber umso größere Gemeinsamkeiten bestehen (s. u.). Entsprechend werden Beratung und Therapie in dieser Sichtweise zu einer durch professionelle Hilfe gestützten Selbstveränderung. Ganz eindeutig steht hier der Klient im Vordergrund des Geschehens: Auch wenn er einen Berater oder Therapeuten aufsucht, leistet er in den 99 % der verbleibenden Zeit die entscheidende Arbeit der Veränderung. Das TTM bietet ein Stadienmodell als Struktur an, in dem mit oder ohne professionelle Hilfe eine Richtung erkennbar ist, wie Selbstveränderungen erfolgreich durchgeführt werden können (vgl. Prochaska, Norcross & DiClemente 1997: 18 f.). Ziel dieses Kapitels ist aufzuzeigen, dass das Lernpotenzial für selbst durchgeführte Veränderungen groß ist und dass das Aufzeigen dieser Möglichkeiten der Veränderung ein notwendiger Bestandteil von Beratung und Therapie sein sollte. Diese Forderung entspricht auch der bereits mehrfach ausgeführten Auffassung des Autors, dass Beratung und Therapie Bereiche ihres Wissens über Veränderungsprozesse den Klienten zur Verfügung stellen sollte. Dieses ZurVerfügung-Stellen des Wissens ist per se ein immanenter Prozess in Beratung und Therapie, der Klient „probiert“ ja verschiedene neue Interaktionsmuster aus und erhält darüber auch die Information, wie ein Veränderungsprozess durchzuführen ist. Diese Informationen, wie ein Veränderungsprozess stattfindet, können
P. Busch, Ökologische Lernpotenziale in Beratung und Therapie, DOI 10.1007/ 978-3-531-92754-1_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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6 Lernpotenziale in einem beratungs- und therapieübergreifenden Modell
allerdings auch anders als bisher, nämlich didaktisch, aufbereitet werden, wodurch eine andere Form der Wissensintegration in Beratung und Therapie stattfinden würde. Es könnte hier eingewendet werden, dass ein solches Vorgehen in Beratung und Therapie letztendlich bei einem Teil von Beratern und Therapeuten zu weniger Klienten oder drastischer formuliert zur Arbeitslosigkeit führt. Das Gegenteil wird der Fall sein. Die Erfahrung zeigt, dass durch professionelle und kompetente Beratung und Therapie Klienten zufriedener werden und entsprechende Berater und Therapeuten weiterempfehlen. Aber auch ein weiterer Gesichtspunkt spricht für das didaktisch aufbereitete Zur-Verfügung-Stellen von Wissen über Veränderungsprozesse. Die Menschheit befindet sich in einem globalen ökologisch bedingten Wandel, der die verschiedensten Formen von psychischen und physischen Veränderungsprozessen auslösen wird. Und hier wird das Wissen gefragt sein, wie Veränderungsprozesse in kleinen und großen sozialen Systemen erfolgreich „gemanagt“ werden können.
6.1 Das Transtheoretische Modell Das „Transtheoretische Modell“ („Stages of Change“-Modell, im folgenden TTM genannt) begreift sich als ein Beratungs- und Therapiemethoden übergreifender Ansatz, der zur Beschreibung einer intentionalen Verhaltensänderung generelle Prozesse und Prinzipien der Veränderung integriert und dabei die zeitliche Perspektive der Veränderung berücksichtigt. Die grundlegende Idee dieses handlungstheoretischen Ansatzes ist, dass Veränderungen sich in einer Abfolge von Stadien beziehungsweise Stufen vollziehen. Die Unterteilung von Veränderungen in mehrere diskrete, aufeinander aufbauende Stufen trägt insbesondere der Zeitdimension und dem Prozesscharakter von Veränderungen Rechnung. Das Interessante am TTM ist der Versuch der Darstellung grundlegender Strukturen, wie ein Mensch sich ändert, auch unabhängig von der Beeinflussung durch Beratung oder Therapie. Prochaska et al. gehen davon aus, dass in den verschiedenen Stadien des Wandels bestimmte Methoden benützt werden müssen, um erfolgreiche Veränderungsprozesse durchzuführen. Im Prinzip geht es einerseits darum zu wissen, in welchem Stadium oder auf welcher Stufe der Veränderung sich eine Person befindet, andererseits ist es wichtig, in diesem Stadium die Methoden anzuwenden, die notwendig sind, um in die nächste Stufe hinüber zu
6.1 Das Transtheoretische Modell
181
gehen. Die Abstimmung von Methode und Stadium ist eine der Hauptstrategien des TTM, wie unten beschrieben wird. (vgl. ebd.: 68 f.). Im Hinblick auf die Entwicklung ökologischen Lernpotenzials in Beratung und Therapie soll dargestellt werden, dass der spiralförmige Prozess im TTMModell nicht nur auf den Prozess der professionellen Begleitung verweist, sondern insbesondere auch auf Verfahren des Wandels, die ohne jegliche professionelle Hilfe auskommen. Hinsichtlich der hier thematisierten Lernprozesse von Klienten in Beratung und Therapie ist das TTM dahingehend relevant, dass einem Klienten für seine spätere Zukunft ein Werkzeug angeboten werden kann, mit dem er gewollte oder notwendige Veränderungen innerhalb seiner Lebenszusammenhänge durchführen, beziehungsweise diesen Prozess ausprobieren kann. Wie im vorhergehenden Kapitel geht es auch hier nicht darum, dem Klienten komplexe theoretische Wissenszusammenhänge zu vermitteln, sondern ein einfach strukturiertes, gut anwendbares Werkzeug anzubieten, dass mit Hilfe von Reflexion und kommunikativer Auseinandersetzung mit den Mitgliedern des jeweiligen sozialen Systems bei persönlichen Veränderungen helfen kann. Die hier vorgestellten Elemente des TTM dienen nicht dem sofortigen Ausprobieren erfolgreicher Veränderungsmaßnahmen und reichen in der Kürze dazu auch nicht aus. Es soll hier vielmehr aufgezeigt werden, dass es beratungs- und therapieübergreifende Modelle gibt, die Lernprozesse auf den verschiedensten Ebenen persönlicher Veränderung in den Vordergrund stellen und integrieren. Den Einsatz eines solchen Modells in Beratung und Therapie muss der jeweilige Berater oder Therapeut entscheiden. Weiterführende Informationen, Erläuterungen, präzise Fragestellungen und Anleitungen zur Nutzung in Beratung und Therapie und/oder zur Selbstveränderung befinden sich detailliert in den Büchern von Prochaska et al. (1997, 2003). Das TTM ist keine Aufforderung, sich bei gravierenden psychischen Leiden selbst zu therapieren. Psychisches Leiden, das ernste Auswirkungen auf die zur Verfügung stehende Energie, das Denkvermögen oder auf die Realitätswahrnehmung hat, muss von entsprechenden professionellen Beratern und Therapeuten behandelt werden. Der wissenschaftliche Nachweis, dass die Struktur der Veränderung im TTM-Modell für alle Lebensbereiche gültig ist, ist bisher noch nicht erbracht worden, doch gibt es zahlreiche erfolgreiche Untersuchungen in erster Linie aus dem Bereich stoffgebundener Suchtproblematik, in denen mit und ohne Beratung das TTM eingesetzt wurde (vgl. Keller 1998).
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6 Lernpotenziale in einem beratungs- und therapieübergreifenden Modell
Das TTM teilt sich in zwei Stufen: die Veränderungsmethoden, die beschreiben, wie diese Veränderung in den verschiedenen Stadien stattfindet, und die zeitbezogenen Stufen der Verhaltensänderung, die beschreiben, wann ein Fortschreiten im Veränderungsprozess stattfindet. Die Integration beider Konzepte erlauben, wie erwähnt, stufen- und verhaltensspezifische Interventionen, die das gezielte Fördern des Veränderungsfortschritts von Stufe zu Stufe ermöglichen.
6.1.1
Methoden der Verhaltensänderung
Die Veränderungsmethoden beschreiben die Prozesse und Strategien, die für den Wechsel zwischen den Stufen der Veränderung verantwortlich sind und erklären damit die Art und Weise, das Wie der Veränderung. In den einzelnen Methoden spiegeln sich dabei nicht nur Konzepte unterschiedlicher therapeutischer Schulen wieder, sondern auch Variablen, die im Kontext anderer Modelle als relevant identifiziert wurden.65 Die Veränderungsmethoden lassen sich in kognitive und verhaltensorientierte Methoden teilen. Wichtige kognitive Methoden (experiental processes) sind:
Steigerung des Bewusstseins (consciousness raising) als aktives Aufnehmen und Erhöhung der Menge an Informationen über sich selbst und das Problemverhalten. Fast jede etablierte Beratung und Therapie beginnt mit der Steigerung der Wahrnehmung des Klienten hinsichtlich seiner Selbst und seiner Probleme. Die Methode beschränkt sich nicht nur darauf, verborgene Gedanken und Gefühle in das Bewusstsein zu bringen, sondern jede Art von neuer Information über das Problem oder sich selbst steigert die Bewusstheit. Die Effekte des Lernprozesses lassen sich hier als Fähigkeit zu einer erhöhten Aufmerksamkeit sich selbst und seinem Problem gegenüber darstellen.
65
Die wichtigsten identifizierten Veränderungsmethoden entsprechen den Interventionsstrategien unterschiedlicher Therapieschulen; so verstehen Prochaska et al. das „consiousness raising“ als eine Methode auf der Basis Freudscher Tradition, „stimulus control“ lässt sich Skinnerschen Ansätzen zuordnen und „helping relationships“ werden in der Tradition von Rogers verstanden. Dieses schulenübergreifende Verständnis relevanter Veränderungsmethoden führte zur Modellbezeichnung „Transtheoretisches Modell“. Ein genauer Überblick findet sich in Prochaska et al. 1997: 29, 41; 2002: 26, 33; 2003: 518.
6.1 Das Transtheoretische Modell
183
Beispiel: Eine Person hat die Erkenntnis, dass ihre eigenen Verhaltensmuster zu den immer wieder stattfindenden Auseinandersetzungen mit ihrem Beziehungspartner entscheidend beitragen. Soziale Befreiung (social liberation) als die Wahrnehmung von Umweltbedingungen und Anregungen aus der Umgebung, die als von außen wirkende Kräfte eine Veränderung des Problemverhaltens erleichtern. Die Effekte des Lernprozesses lassen sich hier als Fähigkeit zu einer größeren Wahrnehmung möglicher anderer Handlungsalternativen und Hilfen durch andere Personen darstellen. Beispiel: Die Person spricht mit Freunden, Familienmitgliedern, Bekannten u. a. über die Situation der ständigen Auseinandersetzung mit ihrem Partner und erörtert andere Verhaltensstrategien, die eventuell nicht zu einer Auseinandersetzung führen. Wachrütteln der Emotionen (emotional arousal) ist die Basis vieler Therapien. Es dient dem Klienten oder Selbstveränderer dazu, sich der eigenen Widerstände gegen eine Veränderung bewusst zu werden. Es ist im Prinzip der gleiche Prozess wie die Steigerung des Bewusstseins, findet jedoch auf einer tieferen Gefühlsebene statt. In diese Umschreibung gehören auch Erlebnisse wie eine Katharsis. Ein Erleben und Ausdrücken der Gefühle hinsichtlich möglicher Lösungen gehört auch zu diesem Bereich. Die Effekte des Lernprozesses lassen sich hier als Fähigkeit zu einer erhöhten Aufmerksamkeit sich selbst und seinem Problem gegenüber darstellen. Beispiel: Die Person erkennt, welche ihrer Verhaltensmuster und welche damit verknüpften Gefühle zu den ständigen Auseinandersetzungen beitragen. Neue Selbstbewertung (self-reevaluation) ist eine emotionale und rationale Neubewertung mit Hilfe von Antizipationen. Wesentliche Fragestellungen sind z. B., in welcher Form das Problemverhalten und dessen Änderung die eigene Person und das Selbstbild betrifft. Was spricht dafür und was spricht dagegen, das jeweilige Problem in den Griff zu bekommen, und bereitet es Vergnügen oder Stress, über die Veränderung auch das Image zu ändern? Die Effekte des Lernprozesses lassen sich hier als Fähigkeit zu einer erhöhten Aufmerksamkeit sich selbst und seinem Problem gegenüber darstellen. Beispiel: Die Person stellt sich selbst mit anderen Verhaltensmustern und ein friedliches Gespräch statt einer Auseinandersetzung vor.
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6 Lernpotenziale in einem beratungs- und therapieübergreifenden Modell
Wichtige verhaltensorientierte Methoden („behavioral processes“) sind:
Fester Vorsatz (self-liberation, commitment) beschreibt die Entscheidung, sich ändern zu wollen und diese Veränderung selbstverantwortlich in die Tat umzusetzen. Hier steht der Wille zur und der Glaube an die Möglichkeit der Veränderung im Vordergrund. Es ist in dem Sinn eine Selbstbefreiung, dass ein Klient oder Selbstveränderer die Erkenntnis hat, dass nur er allein in der Lage ist, in seinem Sinn zu reagieren, zu sprechen und zu handeln. Empfehlenswert ist, feste Vorsätze öffentlich zu machen, um die Selbstverantwortung für die konsequente Veränderung des Problemverhaltens zu stärken. Die Effekte des Lernprozesses lassen sich hier als Fähigkeit zu einer erhöhten Aufmerksamkeit sich selbst und seinem Problem gegenüber darstellen. Beispiel: Die Person informiert Partner, Freunde u. a. über ihren festen Vorsatz der Verhaltensänderung. Gegenkonditionierung (Counterconditioning, Countering) ist bekanntermaßen das Ersetzen ungünstiger oder ungesunder Verhaltensweisen im Sinne einer Problemlösung durch günstiges oder gesundes Verhalten. Die Effekte des Lernprozesses lassen sich hier als Fähigkeit zu einer erhöhten Aufmerksamkeit sich selbst und seinem Problem gegenüber darstellen. Beispiel: Die Person zeigt ein anderes Verhalten gegenüber ihrem Partner. Kontrolle der Umwelt (stimulus control) beschreibt den Versuch, die persönliche Umwelt so umzustrukturieren, dass die Möglichkeit eines problemverursachenden Verhaltens herabgesetzt wird. Die Effekte des Lernprozesses lassen sich hier als Fähigkeit zu einer erhöhten Aufmerksamkeit sich selbst und seinem Problem gegenüber darstellen. Beispiel: Die Person versucht Auseinandersetzungspotenzial zu vermeiden, indem sie z. B. regelmäßig den Müll entsorgt oder die Wäsche aufhängt etc. Hier könnte z. B. eine weitere Technik der Kontrolle über die Umwelt sein, einen Teil der Reinigungsarbeiten in der gemeinsamen Wohnung zu übernehmen. Belohnung (reinforcement management, reward) als gezielter Einsatz zur Erreichung und Stabilisierung des angestrebten neuen Verhaltens. Die Effekte des Lernprozesses lassen sich hier als Fähigkeit zu einer erhöhten Aufmerksamkeit sich selbst und seinem Problem gegenüber darstellen. Beispiel: Wenn die Vorsätze eine Woche lang durchgehalten wurden, mit dem Partner Essen zu gehen.
6.1 Das Transtheoretische Modell
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Stützende Beziehungen (helping relationships) sind sowohl für Klienten wie Selbstveränderer von entscheidender Bedeutung. Eine unterstützende Beziehung bietet bei der Durchführung von Veränderungsprozessen Beistand, Anteilnahme, Verständnis und Anerkennung. Die Effekte des Lernprozesses lassen sich hier als Fähigkeit zu einer erhöhten Aufmerksamkeit sich selbst und seinem Problem gegenüber darstellen. Beispiel: Gemeinsam mit anderen (Freunden, Familienmitgliedern u. a.) über Probleme in der Beziehung sprechen, aber auch zusammen etwas unternehmen (vgl. Prochaska et al. 1997: 30 ff., 2002: 27 ff., 2003: 516 ff.).
6.1.2
Stadien der Veränderung
Im Folgenden werden die Stufen der Veränderung dargestellt und zur besseren Übersicht mit den Methoden der Veränderung vernetzt. Die Stufen werden bezeichnet als
Vorstadium des Nachdenkens (precontemplation), Stadium des Nachdenkens (contemplation), Vorbereitungsstadium (preparation), Handlungsstadium (action), Durchhaltestadium (maintenance), Schlussstadium (termination) (vgl. Abb. 10).
Die Zeiträume, die Personen in den einzelnen Stufen verbringen, können individuell sehr stark variieren. Für eine erfolgreiche Veränderung eines Problemverhaltens ist jedoch das Durchlaufen aller Stufen und das Umsetzen der in diesen Stufen relevanten Verhaltensprozesse („processes of change“) essentiell, da ansonsten das Risiko für „Rückfälle“ in ungünstige Verhaltensgewohnheiten deutlich erhöht ist. Ein Rückfall wird als integraler Bestandteil des Veränderungsprozesses verstanden, der in jeder Stufe vorkommen kann – insbesondere jedoch in der Handlungs- und/oder Aufrechterhaltungsstufe. Der Prozess der Veränderung wird als ein spiralförmiges Geschehen verstanden, in dem Personen nach einem „Rückfall“ auf eine frühere Stufe zurückfallen. Das Spiralmodell symbolisiert, dass der größte Teil von Personen mit „Rückfällen“ weder in eine zirkuläre Endlosschleife gerät noch neu „bei Null“ beginnen muss. Der Betroffene kann wieder im Stadium des Nachdenkens anfan-
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6 Lernpotenziale in einem beratungs- und therapieübergreifenden Modell
Schlussstadium
Handlungsstadium
Durchhaltestadium Vorstadium des Nachdenkens Stadium des Nachdenkens Vorstadium des Nachdenkens
Stadium des Nachdenkens
Vorbereitungsstadium
Handlungsstadium
Vorbereitungsstadium
Abbildung 10: Die Spirale des Wandels (Prochaska & Narcross 2003: 523)
gen. Die jetzt meistens konstruktivere Verarbeitung der Misserfolgserfahrungen vergangener Veränderungsversuche kann zur Auswahl günstigerer Veränderungstechniken führen und somit zu einem erneuten Fortschreiten innerhalb des Zyklus beitragen. Wie erwähnt, beschreiben die Spirale des Wandels beziehungsweise die Stufen der Verhaltensänderung, wann ein Fortschreiten im Veränderungsprozess stattfindet. Die Veränderungsmethoden beschreiben dagegen, wie diese Veränderung stattfindet. Die Integration der beiden Konzepte erlaubt eine stufen- und verhaltensspezifische Intervention, die das gezielte Fördern des Fortschreitens von Stufe zu Stufe ermöglicht, wie es in der Abbildung 11 grafisch dargestellt wird. Die Abbildung beschreibt ausschließlich die Stufen des Wandels, in denen bestimmte Veränderungsmethoden am wirksamsten sind. Die Methoden der Veränderung sind zwar auf bestimmten Stufen am effektivsten, spielen aber im gesamten Prozess eine Rolle. Im Folgenden werden die Stufen der Veränderung im Zusammenhang mit den Methoden der Veränderung differenzierter dargestellt:
Vorstadium des Nachdenkens (Precontemplation) Personen in der Stufe des Vorstadiums des Nachdenkens sind dadurch gekennzeichnet, dass keine Absicht zur Veränderung eines spezifischen Pro-
Handlungsstadium
Durchhaltestadium
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Vorbereitungsstadium
Stadium des Nachdenkens
Vorstadium des Nachdenkens
6.1 Das Transtheoretische Modell
Steigerung des Bewusstseins Soziale Befreiung Wachrütteln der Emotionen Neue Selbstbewertung Feste Vorsätze Belohnung Countering Kontrolle der Umwelt Stützende Beziehungen Abbildung 11: Stadien des Wandels, in denen bestimmte Veränderungsmethoden am wirksamsten sind (Prochaska et al. 1997: 67).
blemverhaltens in der näheren Zukunft besteht. Der Betroffene erkennt nicht klar, dass er ein Problem hat und es besteht keine Absicht, das Verhalten zu ändern. Wesentliches Merkmal von Personen dieser Stufe ist der Widerstand gegen das Erkennen oder gegen die Änderung eines Problemverhaltens. Idealtypisch betrachtet lassen sich in dieser Stufe drei Gruppen unterteilen. Alle drei Gruppen neigen dazu, Informationen hinsichtlich ihrer Probleme auszublenden und eine bewusste Auseinandersetzung mit dieser Thematik zu vermeiden: – Es besteht kein Interesse das Problem zu erkennen oder eine Änderung einzuleiten, obwohl Angehörige, Freunde etc. dieses Problem thematisieren. – Sozialer Druck über einen längeren Zeitraum von Familienangehörigen oder anderen Personen kann zu einer Verhaltensänderung führen, meis-
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6 Lernpotenziale in einem beratungs- und therapieübergreifenden Modell
tens führt er jedoch zu einem Widerstandsverhalten und zum Verbleiben in dieser Stufe. – Es wurden bereits Veränderungsversuche unternommen, die erfolglos geblieben sind. Die Betroffenen haben resigniert, sind entmutigt und sehen keine weiteren Chancen für eine Veränderung. Die wesentlichen eingesetzten Veränderungsmethoden sind – die Steigerung des Bewusstseins, was eine Wahrnehmung der Abwehrhaltungen gegen Veränderungen mit einschließt, – die stützenden Beziehungen als Überprüfung bestehender Beziehungen im Hinblick auf eine zuverlässige Unterstützung und – die soziale Befreiung als Möglichkeit, mehr Wahlformen und Alternativen der Unterstützung, Information und Kommunikation über problematische Verhaltensmuster zu finden (vgl. Prochaska et al. 1997: 48 ff., 90 ff.; 2002: 75 ff.).
Stadium des Nachdenkens (Contemplation) In der Stufe des Stadiums des Nachdenkens setzen sich die Betroffenen mit ihrem Problemverhalten bewusst auseinander, ohne dass diese Auseinandersetzung das unmittelbare Ergreifen von Handlungen zur Folge hat. Personen in dieser Stufe stehen Veränderungen ambivalent gegenüber. Sie können sich nicht zu Handlungen entschließen, äußern jedoch die Absicht, diese Veränderungen durchzuführen. Die dargestellten Veränderungsmethoden aus der vorherigen Stufe bleiben bestehen, die neu hinzukommenden Veränderungsmethoden sind – das Wachrütteln der Emotionen als Möglichkeit emotionaler Befreiung und Entschlussfähigkeit, – die neue Selbstbewertung als Möglichkeit zur kritischen Auseinandersetzung mit dem problematischen Verhalten und als Möglichkeit, sich in neuen Rollen zu erleben und ein neues Selbstbild zu entwickeln. Im Rahmen der neuen Selbstbewertung bieten sich insbesondere drei Techniken zur Veränderung an: 1. erst denken, dann handeln, 2. das erwähnte Entwickeln eines neuen Selbstbildes, 3. das Treffen von Entscheidungen, die auf der Basis von Für und Wider („Pros and Cons“) mit Hilfe von vier Grundkategorien getroffen werden.
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Die Grundkategorien sind: 1. Folgen des Wandels für einen selbst, 2. Folgen des Wandels für andere, 3. eigene Reaktionen als Resultat des Wandels, 4. Reaktionen anderer als Resultat des Wandels. Diese Grundkategorien teilen sich jeweils in Für und Wider auf (vgl. Prochaska et al. 1997: 176 f.). Dieses Konzept basiert auf dem von Janis & Mann (1977) beschriebenen Entscheidungsmodell (Decisional Balance), das jeweils vier Kategorien von Vor- bzw. Nachteilen postuliert, die von Bedeutung für den Entscheidungsprozess sind (Nutzen oder Schaden für die Person selbst oder für andere; Anerkennung oder Ablehnung durch die Person selbst oder durch andere). Diese Notwendigkeit zur Entscheidung ist auf allen Stufen des Veränderungsprozesses von Relevanz, wird aber im Stadium des Nachdenkens am deutlichsten. Der Zeitraum des Stadiums des Nachdenkens über ein Problem variiert stark, Prochaska et al. nennen im Rahmen einer Studie zur Raucherentwöhnung den Zeitraum von bis zu zwei Jahren (1997: 51 ff., 142 ff.; 2002: 109 ff.).
Vorbereitungsstadium (Preparation) Personen in der Stufe der Vorbereitung wollen in der nächsten Zeit mit der Veränderung des problematischen Verhaltens beginnen. Die Stufe ist durch das Vorhandensein einer Handlungsintention, durch das Zeigen des Anfangs einer Veränderung, charakterisiert. Das Treffen einer klaren Entscheidung für eine Verhaltensänderung ist eines der wichtigsten Merkmale für diese Phase (z. B. eine Selbsthilfegruppe oder einen Berater oder Therapeuten zur Information aufzusuchen), was aber nicht heißt, dass die Ambivalenz hinsichtlich dieser Entscheidung völlig aufgehoben ist. Personen in dieser Stufe haben bereits konkrete Handlungspläne. Sie haben Informationen und Unterstützung für ihr Vorhaben gesammelt und erste Veränderungsschritte unternommen, ohne dass diese Schritte schon zum letztendlichen Zielverhalten geführt haben. Dabei ist es auch unerheblich, ob dieses Zielverhalten erstmalig ausgeübt wird oder ob bereits vorausgegangene Fehlversuche unternommen wurden. Die dargestellten Veränderungsmethoden aus den vorherigen Stufen bleiben bestehen, die neu hinzukommende Veränderungsmethode ist
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6 Lernpotenziale in einem beratungs- und therapieübergreifenden Modell
–
der feste Vorsatz als Willensbildung und Glaubenssatz, sich ändern zu können. Als wesentliche Handlungstechniken dienen das Prinzip der kleinen Schritte und das Treffen klarer Entscheidungen (vgl. Prochaska et al. 1997: 53 f., 193 ff.; 2002: 145 ff.).
Handlungsstadium (Action) Das Handlungsstadium ist die Phase, in der Veränderungsprozesse am deutlichsten sichtbar werden. Im Gegensatz zu den ersten beiden Stufen sind hier offene, beobachtbare Verhaltensweisen in einem höheren Maß sichtbar als die mehr kognitiv-affektiven Prozesse in den anderen Stufen. Personen im Handlungsstadium setzen mehr Energie und Zeit für ihre Veränderungen ein und bekommen im Durchschnitt auch mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung ihrer sozialen Systeme. Eine Gefahr für Berater und Therapeuten, für die Klienten und für die Menschen ihrer Umgebung besteht darin, dass das Handlungsstadium bereits mit dem Wandel identifiziert wird. Diese Stufe ist jedoch nicht mit der angestrebten Veränderung gleichzusetzen, sondern die Handlungen müssen als reflexive Strategieentwürfe auf dem Weg zu einer stabilen Veränderung begriffen werden. Die dargestellten Veränderungsmethoden aus den vorherigen Stufen bleiben bestehen, die neu hinzukommenden Veränderungsmethoden sind – die Gegenkonditionierung (Countering) als Ersatz von Problemverhalten durch gesundes Verhalten. Die am häufigsten eingesetzten Techniken sind aktive Ablenkung, Sport, Entspannung, Ändern von starren Denkmustern durch positives Denken, – die Kontrolle der Umwelt als Möglichkeit, die Umwelt in der Form umzustrukturieren, dass die Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines problemfördernden Stimulus beträchtlich vermindert wird. Im Gegensatz zur Gegenkonditionierung, in dem die eigene Reaktion auf eine gegebene Situation hin geändert wird, wird durch die Kontrolle der Umwelt die Situation selbst geändert, – die Belohnung als Verstärkung gesunden Verhaltens. Belohnung ist eine wesentliche Notwendigkeit, um neue und veränderte Verhaltensmuster positiv zu bestätigen (vgl. Prochaska et al. 1997: 54 f., 230 ff.; 2002: 172 ff.).
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Durchhaltestadium (Maintenance) Das Durchhaltestadium ist nicht statisch im Sinne vom Vollzug immer gleicher Handlungen zu betrachten, sondern eine dynamische und zielgerichtete Fortführung bereits erreichter Veränderungen. Hier wird das auf ein Ziel gerichtete Verhalten weiter konsolidiert und durch die Konfrontation mit Fehlern oder möglichen Rückschlägen entwickelt sich das weitere Vorgehen im Sinne einer Rückfallprophylaxe beziehungsweise weiterer Strategien, das unerwünschte Verhalten zu meiden. Je nach dem Bereich der Verhaltensänderung kann diese Stufe einige Monate oder auch den Rest der Lebensspanne umfassen: Möglicherweise ist der Entschluss, keine Drogen oder keinen Alkohol zu sich zu nehmen, oder die konsequente Beibehaltung einer gesunden Ernährung eine lebenslange aktiv geführte Auseinandersetzung. Auch die Auseinandersetzung mit anderen Mitgliedern des sozialen Systems, die durch einen Rückfall betroffen sind, zählt hierzu. Im Durchhaltestadium werden die beschriebenen Veränderungsmethoden nicht mehr so oft eingesetzt, wie z. B. im Stadium des Nachdenkens, der Vorbereitung oder der Handlung. Der Begriff „Durchhalten“ bezieht sich allerdings darauf, dass die Veränderungsmethoden bei Bedarf weiterhin eingesetzt werden. Im Durchhaltestadium wird es besonders wichtig, seiner Selbsteffektivität, Selbstwirksamkeitserwartung (self-efficacy) oder auch Kompetenzerwartung (Bandura 1977, 2003; Mielke 1984; Schwarzer 1992) zu vertrauen, um Veränderungsprozesse in die Wege zu leiten und besser steuern zu können. Selbstwirksamkeit beschreibt die Überzeugung, dass man selbst unter widrigen Umständen über ausreichende Kompetenzen verfügt, ein erwünschtes Verhalten ausführen zu können. Im Rahmen des Durchhaltestadiums wird die Selbstwirksamkeitserwartung als wichtige Verbindung zwischen Wissen und Handeln verstanden und beschreibt das Ausmaß der Zuversicht, das eine Person hat, das gewollte Veränderungsverhalten auch unter widrigen Umständen zu zeigen. Das Erfassen der Selbstwirksamkeitserwartung erfolgt durch die Auswahl eines neuen Verhaltensmusters und durch die Auflistung verschiedener Situationen, die gefährlich für die beabsichtigte Verhaltensänderung sind. Bei der Auswahl der Situationen ist wichtig, dass es sich um möglichst echte reizbesetzte Situationen handelt, für die eine realistische Einschätzung der eigenen Handlungszuversicht möglich ist (vgl. Prochaska et al. 1997: 56 f., 272 ff.; 2002: 202 ff.). Nach
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Einschätzung der Selbsteffektivität kann mit reflexiven Fragestellungen wie „Liegt meinen Reaktionen auf spezifische Situationen ein Muster zugrunde?“ oder „Sind gewisse Situationen eine besondere Herausforderung?“ eine Strategie entwickelt werden mit den problematischen Situationen effektiver umzugehen. Selbstverständlich spielt die Selbstwirksamkeitserwartung hinsichtlich des eigenen Vertrauens in neue Verhaltensmuster auf allen Stufen der Veränderung eine große Rolle und beginnt bereits im Vorstadium des Nachdenkens und verstärkt sich laufend in den durchwanderten Stadien. Im Durchhaltestadium wird der Glauben an die eigene Kompetenz, einen dauerhaften Wandel anzusteuern, allerdings besonders gefordert. Letztendliches Ziel des Durchhaltestadiums ist ein dauerhafter Wandel, der zu einem Teil der Persönlichkeit wird.
Schlussstadium (Termination) Das Schlussstadium ist der Austritt aus der Spirale des Wandels. Den Zeitpunkt, wann das Schlussstadium erreicht ist, kann eigentlich nur die involvierte Person selbst bestimmen. Mit Beharrlichkeit, Wissen und Erfahrung lässt sich dieser Punkt individuell bestimmen. Für bestimmte Verhaltensveränderungen, z. B. Nichtrauchen, lässt sich Untersuchungen zufolge davon ausgehen, dass ein volles Vertrauen, nicht rückfallgefährdet zu sein, entwickelt werden kann. Es besteht einfach kein Interesse und kein Bedürfnis, mit dem Rauchen wieder anzufangen. Für andere Bereiche der Verhaltensänderung ist das Schlussstadium schwieriger zu erreichen, was allerdings auch eine Frage der Definition ist. Zielkriterien des Schlussstadiums sind ein fest verankertes neues Selbstbild; die Tatsache, dass keine Situation länger eine Versuchung darstellt, eine stabile Selbsterwartungshaltung und eine gesündere Lebensweise. Viele Experten sind der Ansicht, dass man einfach das ganze Leben im Durchhaltestadium bleibt. Hinsichtlich einer gesunden Ernährung oder regelmäßiger körperlicher Aktivität ist, wie erwähnt, von einer lebenslangen Auseinandersetzung mit diesem Thema auszugehen. Das Spiralmodell des Wandels thematisiert hinsichtlich des Schlussstadiums ebenso die Erkenntnis, dass ein Schlussstadium im Sinne einer linearen Erreichbarkeit durch die Stufen des Wandelns nicht vorhanden ist, sondern es bedarf in den verschiedenen Stufen zeitlich adäquater Interventionen, um ein zufriedenstellendes Maß an stabilen Verhaltensmustern zu erreichen (vgl. Prochaska et al. 1997: 58, 372 ff.; 2002: 274 ff.).
6.1 Das Transtheoretische Modell
6.1.3
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Kritische Anmerkung zu Stadien- und Stufenmodellen
Stadien- oder Stufenmodelle erfreuen sich vor allem in der Praxis der Gesundheits- und Sportförderung einer großen Beliebtheit.66 Jedoch nehmen in den letzten Jahren auch kritische Stellungnahmen an Stadienmodellen zu (Adams & White 2005). Bandura (1997) hat zu Stadienmodellen angemerkt, dass sie die Komplexität menschlichen Verhaltens simplifizieren, beziehungsweise nicht abbilden können und eine willkürliche Einteilung von eigentlich kontinuierlichen Prozessen in diskrete Kategorien darstellen, die dann Stadien genannt werden.67 Es muss allerdings beachtet werden, dass einigen Stadienmodellen (insbesondere dem TTM) vielfach Kritiken entgegengebracht werden, die nicht die theoretische Konzeption treffen, sondern die Operationalisierung, die nicht durch die Autoren des betreffenden Stadienmodells selbst vorgenommen wurde. Die Probleme sind oftmals methodischer Art oder werden durch die Interpretation der Forscher und Praktiker hervorgerufen, die die eigentlichen Stadiengedanken nicht hinreichend verstanden und/oder konzeptionalisiert haben. Aus diesem Grund ist es wichtig, nicht nur die Annahmen der Stadienmodelle, sondern auch angemessene Untersuchungsmethoden zu kennen (vgl. Lippke & Kalusche 2007: 10 f.).
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Stadien- oder Stufenmodelle sind zur Darstellung von Veränderungsprozessen sehr beliebt. Neben dem TTM gibt es noch die folgenden Modelle: das sozial-kognitive Prozessmodell gesundheitlichen Handelns (HAPA; Schwarzer 1992, 2004; Schwarzer & Lippke 2005); das Prozessmodell präventiven Handelns (Precaution Adoption Process Modell, PAPM, Weinstein et al. 1998); ein Stadien-Modell, das speziell für den Sportbereich konzipiert wurde, ist das Berliner (Sport-)Stadien Modell (BSM, Fuchs 2001). Weiterführende Informationen bei Lippke & Kalusche 2007: 2 ff. Weinstein, Rothman und Sutton haben 1998 Kritiken an Stadienmodellen zusammengefasst und um mögliche Lösungs- beziehungsweise Testmöglichkeiten erweitert. Die von ihnen empfohlenen Forschungsdesigns umfassen: – Den querschnittlichen Vergleich von Personen in verschiedenen Stadien. – Längsschnittliche Beobachtungsstudien, in denen Stadienwechsel betrachtet werden, wobei dabei (a) die Stadiensequenz, also ob Personen tatsächlich vom Stadium A ins Stadium B etc. wechseln und/oder (b) die Vorhersage von Stadienwechsel durch sozial-kognitive Variablen oder Prozesse überprüft werden können. – Die experimentelle Untersuchung, ob die Manipulation von bestimmten Faktoren zu Stadienwechsel oder Verbesserungen in anderen Kriteriumsvariablen (z. B. vermehrte Ausübung von körperlicher Aktivität) führt und ob die Manipulation von anderen Faktoren keinen Einfluss auf den Verhaltensänderungsprozess nimmt (vgl. Lippke & Kalusche 2007: 11; weitere Ausführungen s. Weinstein et al. 1998; Sutton 2005; Lippke & Renneberg 2006).
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6 Lernpotenziale in einem beratungs- und therapieübergreifenden Modell
Hinsichtlich des Einsatzes des TTM gibt es zahlreiche Untersuchungen und Stichprobenerhebungen zumeist in den USA, aber auch in Europa, insbesondere in den Bereichen Rauchen, Alkohol und Ernährung (Fettreduktion). Die vom TTM postulierten Veränderungsmethoden („processes of change“) können im Wesentlichen über eine Reihe verschiedener Verhaltensbereiche hinweg bestätigt werden. Generell zeigen sich die Ergebnisse für diese Variable jedoch weniger konsistent als z. B. für die Entscheidungsbalance (s. o. „Stadium des Nachdenkens“) oder die Selbstwirksamkeitserwartung (s. o. „Durchhaltestadium“). Dabei ist die hierarchische Struktur, d. h. die Organisation in kognitive und handlungsorientierte Methoden, in allen untersuchten Verhaltensbereichen offenbar recht stabil; gleichzeitig scheinen spezifische Methoden jedoch nicht für alle Bereiche gleich relevant zu sein (Rossi 1992, in Keller 1998). Möglicherweise sind für Verhaltensweisen unterschiedlicher Frequenz die einzelnen Strategien unterschiedlich wichtig, z. B. bei der Aufgabe des Rauchens versus der jährlichen Krebsvorsorge (Prochaska et al. 1996, in Keller 1998). Die von den gleichen Autoren postulierte differenzielle Bedeutung der Veränderungsmethoden für bestimmte Stufen (s. Abb. 12) ist für den Bereich Rauchen beziehungsweise Nichtrauchen stabil und replizierbar, für andere Bereiche jedoch noch nicht geklärt. Obwohl die Methoden zur Verhaltensänderung der Ausgangspunkt für die Entwicklung des TTM waren, so besteht bezüglich dieses Konstruktes noch am meisten Unklarheit beziehungsweise Forschungsbedarf. Möglicherweise ist dieses, wie oben erwähnt, durch die methodischen Probleme bedingt, die sich bei der Analyse einer solch komplexen Beziehung unterschiedlicher Variablen ergeben. Vor allem Längsschnittstudien könnten hier einen wichtigen Beitrag zur Charakterisierung dieser Variable und ihrer Bedeutung im Gesamtgefüge des TTM leisten (Ounpuu 1996, in Keller 1998). Allen Untersuchungen gemeinsam ist jedoch der positiv bewertete Einsatz der Veränderungsmethoden, die in jedem Fall hilfreich für eine Verhaltensänderung sind. Möglicherweise ist die differentiell ausgeführte Bedeutung der Veränderungsmethoden für Rauchen eine andere als für Alkohol, für Ernährung oder für Krebsvorsorge. Bei den Untersuchungen zeigte sich der Trend, dass die kontinuierliche Anwendung aller Veränderungsmethoden beim Durchwandern der Stufen sich stabilisierend auf die jeweiligen Veränderungsprozesse auswirkt. Die von Prochaska et al. angegebene Korrelation der Stufen der Veränderung mit den spezifischen Methoden der Veränderung ist nicht immer nachvollziehbar. Eine ausdifferenzierte Relevanz einzelner Methoden für bestimmte Veränderungsstufen, also die mit Hilfe der Methoden zu erbringende Erklärung
6.1 Das Transtheoretische Modell
195
dafür, wie der Veränderungsprozess sich vollzieht, konnte bisher nicht dokumentiert werden. Insgesamt kann für das Stufenkonzept der Veränderung allerdings von einer hohen Validität ausgegangen werden, wie besonders in Untersuchungen der Kategorien zu stoffgebundenen Abhängigkeiten nachgewiesen wurde (vgl. Keller 1998).68 Mit dem Konzept des TTM bietet sich die Möglichkeit wichtiger Lernerfahrungen in Beratung und Therapie. Sicherlich ist das Erlernen der einzelnen Veränderungsmethoden für Klienten in „einem Zug“ oder eventuell auch längerfristig zu komplex, zeitlich zu aufwendig und für einzelne Klienten situativ auch nicht stimmig, doch bietet besonders das Stadienmodell einfache grundlegende Entwicklungsschritte der persönlichen Entfaltung an, die ebenso während des Beratungs- und Therapieprozesses wie auch zu einem späteren Zeitpunkt relativ problemlos für eigene Veränderungsprozesse eingesetzt werden können. Es ist ein brauchbares Modell, das als Lerneffekt Klienten in Beratung und Therapie deutlich machen kann, dass der „Lebenswandel“ ein immerwährender und fortschreitender Prozess ist. Zusammenfassend lässt sich formulieren, dass das TTM im Wesentlichen auf die bewusste Veränderung und Gestaltung der eigenen Lebensumstände abzielt. Im Zusammenhang mit dieser bewussten Gestaltung der eigenen Lebensumstände kommt ein weiterer Begriff zum Tragen, der in einer Auseinandersetzung über Lernpotenziale und -prozesse in Beratung und Therapie nicht vernachlässigt werden darf: der persönliche Wille und die Motivation zur Veränderung. Im folgenden Kapitel wird auf das Lernpotenzial der Willensbildung und Motivation in Beratung und Therapie u. a. im Rahmen des Transtheoretischen Modells eingegangen.
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Keller beschreibt ausführlich verschiedene Untersuchungen und Stichprobenerhebungen im Rahmen des Transtheoretischen Modells sowie ansatzweise das Verhältnis zu anderen handlungstheoretischen Modellen.
7 Lernpotenziale der Willensbildung und Motivation
Auch für dieses Kapitel gilt die beschriebene Auffassung, dass Beratung und Therapie in einem erheblichen Ausmaß mit Neulernen und der Entwicklung von Lernpotenzial zu tun haben. Willensaufbau und Motivation sind wesentliche Aspekte der Beratungs- und Therapiearbeit und bieten ein hohes Lernpotenzial für die Gestaltung der individuellen Zukunft der Klienten an. Die offensichtliche Bedeutung von Wille und Wollen für das alltägliche Leben, z. B. im Sprichwort „Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“, hat sich nicht kontinuierlich in entsprechenden psychologischen oder beratungs- und therapierelevanten Forschungsaktivitäten niedergeschlagen. Der Begründer der wissenschaftlichen Psychologie Wilhelm Wundt (1832-1920) sah Willensvorgänge noch als ein zentrales Forschungsthema an (Wundt 1896) und auch nachfolgende Forscher, vor allem Narziß Ach (1871-1946) von der Würzburger Schule, setzten sich intensiv mit der Psychologie des Willens und der Willenshandlung auseinander (Ach 1910, 1935). Ach übernahm die Begriffsbestimmung Sigwarts: Daraus folgt weiter, daß die Analyse dessen, was wir unter Wollen verstehen, da einsetzen muß, wo wir uns des Wollens mit der größten Deutlichkeit als eines Aktes bewußt sind (Ach 1910: 238, zit. n. Kuhl 2001: 143).
In dieser Definition fand bereits eine bewusstseinspsychologische Zentrierung statt, die Möglichkeit unbewusster Willensprozesse geriet aus dem Blickfeld.69 Nach dem zweiten Weltkrieg wurden Willenskonzepte innerhalb der psychologischen Forschung kaum noch beachtet. Offensichtlich passten sie weder in die fachwissenschaftliche noch politische Landschaft dieser Zeit. Unter dem Einfluss von Kurt Lewin (1890-1947) und seiner grundsätzlichen Kritik an Achs Willenspsychologie beschäftigte sich die Psychologie verstärkt mit Bedürfnissen, 69
Kuhl (2001: 145 ff.) beschreibt im Rahmen der PSI-Theorie (Persönlichkeits-Systeme-Interaktionen-Theorie), eine Theorie der willentlichen Handlungssteuerung, u. a. differenziert Formen bewusster und unbewusster Willensprozesse.
P. Busch, Ökologische Lernpotenziale in Beratung und Therapie, DOI 10.1007/ 978-3-531-92754-1_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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7 Lernpotenziale der Willensbildung und Motivation
Motiven, Konflikten und Entscheidungen, nicht aber mit dem Willen und dem Wollen. Unterscheidet man im Zusammenhang mit zielgerichtetem Verhalten die zwei grundlegenden Prozesse des Zielsetzens und des Zielstrebens (Lewin 1936; Lewin et al. 1944), so hat sich die Psychologie in diesem Zeitraum mehr mit Problemen der Zielsetzung, also mit dem von den Wünschen, Bedürfnissen und Interessen einer Person bestimmten „Kampf der Motive“ beschäftigt, als mit Fragen des Zielstrebens und damit mit den zielrealisierenden Handlungen selbst. Seit Beginn der 80er Jahre ist jedoch vor allem im deutschsprachigen Raum eine erneute Beschäftigung mit der Willenspsychologie zu beobachten (Heckhausen et al. 1987). Wichtige Vertreter dieser modernen Willenspsychologie sind Heinz Heckhausen (1926-1988), Peter M. Gollwitzer sowie Julius Kuhl.
7.1 Das Rubikon-Modell der Handlungsphasen Im Zusammenhang mit der Willenspsychologie findet häufig die Metapher vom „Überschreiten des Rubikon“ Verwendung: Am 11. Januar des Jahres 49 v. Chr. hatte sich der spätere römische Kaiser Julius Caesar mit den Worten „Alea iacta est“ („Der Würfel ist gefallen“) entschlossen, mit seinen Legionen den Rubikon, einen kleinen Fluss in Italien, zu überschreiten. Damit hatte er sich endgültig für einen Krieg entschieden, von dem es nun kein Zurück mehr gab. Von nun an setzte er zielstrebig alles daran, den Krieg zu gewinnen. Die vorangegangene Phase des Zauderns und Abwägens war damit endgültig vorbei. In der Rubikon-Metapher sind bereits einige der wesentlichen Merkmale volitionaler Prozesse (d. h. von Willensprozessen) beschrieben. Die nachfolgende Aufzählung trägt noch einmal die wichtigsten zusammen (Ach 1935; Kuhl 1998; Sokolowski 1996):
Volitionale Prozesse sind von Bedeutung, wenn ein Entschluss oder eine Entscheidung gefasst wurde, ein bestimmtes Handlungsziel anzustreben (d. h. dann, wenn eine Absicht beziehungsweise Zielintention gebildet wurde). Sie gehen mit einer Verstärkung (Amplifikation) absichtsrelevanter und damit letztlich Ziel führender Reaktionstendenzen einher. Ein Klient fasst beispielsweise den Entschluss, sich auf einen neuen Arbeitsplatz zu bewerben, erprobt antizipierend im Rollenspiel das Vorstellungsgespräch und bespricht mit den Mitgliedern seines sozialen Systems die möglichen positi-
7.1 Das Rubikon-Modell der Handlungsphasen
199
ven Veränderungen für ihn; er lernt, seine Ziel führenden Reaktionstendenzen zu verstärken. Volitionale Prozesse sind von Bedeutung, wenn Widerstände innerer oder äußerer Art, Hemmungen, Schwierigkeiten und dergleichen zu überwinden sind, die sich dem zielgerichteten Handeln entgegenstellen. Ein Klient lernt aus der Erkenntnis heraus zu differenzieren, dass nicht alle Probleme gleichzeitig gelöst werden können. Es gibt Probleme, die schnell gelöst werden können, und solche, die mehr Zeit in Anspruch nehmen. Volitionale Prozesse sind von Bedeutung, wenn eine erwünschte Handlung aufgeschoben (Prokrastination) oder wieder aufgenommen werden soll. Ein Klient lernt, mit seinem Willen einen zur Zeit nicht lösbaren Konflikt im Gleichgewicht zu halten, um ihn zu einem späteren Zeitpunkt zu einer Lösung zu bringen. Volitionale Prozesse werden relevant, wenn eine einmal gefasste Absicht über eine gewisse Zeit aufrecht erhalten werden soll (Speicherung im „Absichtsgedächtnis“) und/oder gegen andere, konkurrierende Intentionen und Handlungsimpulse abgeschirmt werden muss. Auch hier „lernt“ ein Klient, dass Probleme auch zu späteren Zeitpunkten gelöst werden können. Volitionale Prozesse laufen in der Regel bewusst ab. Sie gehen im subjektiven Erleben zumeist mit Unlustgefühlen einher und werden subjektiv als anstrengend erlebt, unabhängig von den tatsächlichen geistigen oder körperlichen Anstrengungen. Ist der primäre Willensakt gegeben, so können, wie sich aus unseren Versuchen ergibt, erhebliche innere psychische Widerstände überwunden werden. Wir müssen demnach annehmen, daß durch den primären Willensakt eine eigentümliche Verstärkung der Nachwirkung, welche von dem Vorsatz ausgeht, bewirkt wird, und in dieser Verstärkung der Determination sehen wir neben den phänomenologischen Kennzeichen ein wesentliches Merkmal des Willensaktes (Ach 1910: 255f., zit. n. Kuhl 2001: 145).
Der Klient lernt und erlebt, Probleme und Schwierigkeiten zeitlich adäquat zu handhaben, er erlebt die subjektive Anstrengung und erlebt auch das Erfolgserlebnis eines gelungenen Willensaktes (vgl. Schumacher 2001: 67 f.). Im Rubikon-Modell der Handlungsphasen werden zielgerichtete Modelle unter zeitlich-sequenziellen Perspektiven beschrieben, wobei vier Handlungsphasen, die durch spezifische Übergänge voneinander getrennt sind, unterschieden werden. Eine vollständige Handlung durchläuft nacheinander alle vier Pha-
200
7 Lernpotenziale der Willensbildung und Motivation
Motivation
Volition
Volition
Motivation
Wünschen
Ziel entscheidung
Handlungs initiierung
Ziel realisierung
Abwägen
Absichts bildung (Zielintention)
ziel gerichtetes Handeln
Bewertung
aktionale Phase
post aktionale Phase
Wählen Selbstver pflichtung (Commit ment) prä desizionale Phase
prä aktionale Phase
„Rubikon“
Abbildung 12: Erweitertes Rubikon-Modell der Handlungsphasen (Schumacher 2001: 71)
sen. Diese zeitliche Ablaufperspektive reicht vom Erwachen der Wünsche vor der Zielsetzung bis hin zu den bewertenden Gedanken nach der Zielerreichung. Das Zielsetzen und das Zielstreben als zentrale Aspekte zielorientierten Verhaltens werden im Rubikon-Modell somit integrativ betrachtet und in ihrer Beziehung zueinander analysiert (vgl. Gollwitzer 1996; Heckhausen 1989; Heckhausen & Gollwitzer 1986, in Schumacher 2001: 69). Die vier im Rubikon-Modell postulierten Handlungsphasen und deren relevante Prozesse sind in Abbildung 12 dargestellt. Es kann z. B. der Wunsch eines Klienten sein, endlich sein Verhältnis mit seinem Vater zu klären. Voraussetzung für die Erfüllung dieses bestehenden Wunsches ist die Umwandlung beziehungsweise Transformation von diesem in eine Absicht (Zielintention). Die Intentionsbildung entspricht dabei einer Entscheidung und dem Fassen eines Entschlusses zur Erreichung eines bestimmten Zieles (vgl. Beckmann 1996). Die Zielintention ist mit einer Selbstverpflichtung zur Zielerreichung (Commitment) verknüpft. Dieser Übergang von der Phase des Abwägens hin zur verbindlichen Selbstverpflichtung entspricht metaphorisch
7.1 Das Rubikon-Modell der Handlungsphasen
201
gesprochen dem „Überschreiten des Rubikon“. Mit der Intentionsbildung beginnt die präaktionale Phase, die im Wesentlichen durch das Planen der zur Zielerreichung notwendigen Handlungsschritte gekennzeichnet ist. Die gebildeten Zielintentionen oder Absichten („Ich will das klärende Gespräch mit meinem Vater führen“) sind dabei eng mit Handlungsvorsätzen („Ich will die Handlung des klärenden Gespräches ausführen, sobald die Situation, den Termin und den Ort mit dem Vater für das Gespräch vereinbart zu haben, vorliegt!“) verknüpft. Sie legen fest, wann, wo und wie die Zielintention zu realisieren ist, und stehen damit im Dienste einer reibungslosen Initiierung, Ausführung und Beendigung zielgerichteten Handelns. Die Handlungsinitiierung bildet den Übergang zur aktionalen Phase, die durch zielorientiertes Handeln gekennzeichnet ist („Ich führe das Gespräch“). In der postaktionalen Phase wird nach der Zielrealisierung die Handlung bewertet („Ich habe im Gespräch mit meinem Vater einige Konflikte klären können“). Ob eine einmal gefasste Absicht (Zielintention) zur Initiierung relevanter Handlungen führt, wird im Wesentlichen durch die Volitionsstärke (Willensstärke) der Zielintention bestimmt, d. h. dadurch, wie stark sich eine Person dem Erreichen des gewählten Zieles verpflichtet fühlt (Intensität der Zielbindung). Die Volitionsstärke ist dabei als Funktion der Wünschbarkeit und Realisierbarkeit des Ziels konzipiert. Häufig entsteht die Volitionsstärke im Alltag aus dem Kompromiss der Notwendigkeit, zwischen den verschiedenen Wünschen abzuwägen und eine Auswahl zu treffen, da sich in der Alltagsrealität meistens nicht alle Wünsche realisieren lassen, weil sie sich widersprechen oder zu schwierig zu realisieren sind. Die Determinanten der Volitionsstärke sind: Volitionsstärke
=
Wünschbarkeit
x
Realisierbarkeit
Die Volitionsstärke bedeutet z. B., dass der Klient alles dafür tun wird, um mit seinem Vater bestimmte Konflikte zu klären. Die Wünschbarkeit beschreibt den Zustand des Klienten während und nach dem Gespräch mit seinem Vater. Er fühlt sich wegen der geklärten Konflikte gut und die Klärung kann die Basis für eine positive Beziehungsveränderung sein. Die Realisierbarkeit des Gespräches fällt dem Klienten leichter, da er mit anderen Verwandten über die Konflikte mit seinem Vater spricht und diese herausfinden lässt, ob der Vater für ein solches Gespräch bereit ist (vgl. Gollwitzer & Malzacher 1996, in Schumacher 2001: 70 f.). Die Volitionsstärke ist jedoch nicht nur für die Handlungsinitiierung, sondern auch für das zielgerichtete Handeln selbst (d. h. das eigentliche Zielstreben)
202
7 Lernpotenziale der Willensbildung und Motivation
von entscheidender Bedeutung. Generell kann davon ausgegangen werden, dass spezifisch gefasste Ziele das Handeln einer Person erfolgreicher steuern und (im Sinne übergeordneter Ziele) beeinflussen als eher unspezifische, vage oder unvollständige Ziele (vgl. Wegge 1998). Allerdings kann das aktive Streben nach der Zielerreichung auch negative Seiten aufweisen, nämlich dann, wenn es einer Person nicht gelingt, ein einmal intendiertes Handlungsziel aufzugeben, obwohl sich dessen Erreichung inzwischen als aussichtslos oder unbefriedigend herausgestellt hat (vgl. Brandstätter 1998, in Schumacher 2001: 71). Im Verhältnis von Transtheoretischem Modell und Rubikon-Modell bestehen eine Reihe von Verbindungen. Beide Modelle beschreiben Verhalten als Abfolge verschiedener Phasen beziehungsweise Stadien oder Stufen. Eine weitere Gemeinsamkeit besteht darin, dass beide Modelle sowohl motivationale als auch volitionale Prozesse umfassen. Der „Rubikon“, d. h. der Punkt des Überganges von der Absichts- und Vorsatzbildung zur Handlungsrealisierung ist im TTMModell dabei zwischen dem Stadium des Nachdenkens und dem Stadium der Vorbereitung anzusiedeln. Im Stadium der Handlung und insbesondere im Durchhaltestadium und Schlussstadium sind volitionale Prozesse, wie die Abschirmung der veränderten Verhaltenstendenzen gegenüber Versuchungen aller Art und das Überwinden von Schwierigkeiten auf dem Weg zum erwünschten Zielverhalten von entscheidender Bedeutung. Beim Durchlaufen der Stufen findet ein sich herausbildender Prozess der Willensbildung statt, der für das Aufrechterhalten erreichter Veränderungsprozesse von großer Relevanz ist und der Lernpotenziale bewusster Willensbildung enthält. Während eine Person im Vorstadium des Nachdenkens ein fehlendes oder sehr stark eingeschränktes Problembewusstsein aufweist und deshalb auch keine Willensabsicht zur Veränderung des als solches ja nicht erkannten Problemverhaltens besteht, tritt im Stadium des Nachdenkens die Problembehaftetheit des eigenen Verhaltens zunehmend ins Bewusstsein. Die Person wird hier zwar gegebenenfalls zustimmen, dass ein Problem besteht, eine baldige aktive Verhaltensänderung ist jedoch nicht unbedingt gewollt. Eine konkrete Absicht (Zielintention) zur Veränderung des inzwischen als problematisch erkannten Verhaltens wird erst im Stadium der Vorbereitung gebildet. Auch konkrete volitionale Prozesse wie Handlungsvorsätze und Pläne zur Realisierung des intendierten Zieles (Aufgabe oder Reduzierung des Problemverhaltens beziehungsweise Aufbau eines Alternativverhaltens) werden erstmalig in diesem Stadium gefasst. Das aktive, zielgerichtete Handeln steht im Mittelpunkt des Stadiums der Handlung. Die gebildeten volitionalen Intentionen und Handlungsvorsätze wer-
7.2 Kurzfassung der Theorie der Handlungskontrolle
203
den hier in die Tat umgesetzt. Die erfolgten Verhaltensänderungen sind für andere Personen erkennbar. Im Durchhaltestadium und im Schlussstadium geht es um die Aufrechterhaltung, Stabilisierung und Etablierung des gewollten und erlernten Verhaltens im normalen Alltag.
7.2 Kurzfassung der Theorie der Handlungskontrolle Unter Handlungskontrolle werden kognitive Aktivitäten verstanden, die sich auf einem bipolaren Faktor mit den Endpunkten Handlungs- vs. Lageorientierung abbilden lassen. Handlungs- vs. Lageorientierung sind die personeneigenen Determinanten der Handlungskontrolle und stellen grundlegende motivationale Zustände (in der Volitionspsychologie wird von Persönlichkeitseigenschaften gesprochen) einer Person dar. Ein eher handlungsorientierter Mensch ist in der Lage, sich nach einem Missgeschick nicht dauernd mit anderen in seinem Leben geschehenen Missgeschicken zu beschäftigen, sondern beispielsweise eigene Fehler zu identifizieren und neue Versuche zu wagen. Ein eher lageorientierter Mensch hingegen ist so auf die Lage fixiert, dass er sich nicht dazu im Stande sieht, sich von seinen Gedanken und Gefühlen zu lösen, um anstehende Aufgaben anzugehen. Er wird beispielsweise viel eher als ein handlungsorientierter Mensch versuchen, eine Schuldfrage zu klären und sich selbst oder anderen Menschen Vorwürfe zu machen. Sowohl Handlungs- als auch Lageorientierung haben ihre Daseinsberechtigung. Als Beispiel kann eine Flugzeugbesatzung dienen, die aus einem lageorientierten Copiloten und einem handlungsorientierten Piloten besteht. Der Copilot hat mehr Kapazitäten frei, auf eventuelle Gefahren zu achten, während der Pilot sich nicht von jedem potenziellen Risiko aus der Ruhe bringen lässt. Problematisch wird es hingegen, wenn es ein Mensch nicht schafft, aus seiner Lageorientierung zur Handlungsorientierung zu wechseln, wenn es an der Zeit ist zu handeln. Zudem verlieren lageorientierte Menschen unter Stress oft den Überblick und neigen dazu, fremde Wünsche und Ziele mit den eigenen zu verwechseln. Die Entstehung einer übermäßigen Lageorientierung wird zumeist auf die frühe Kindheit zurückgeführt: In den ersten Lebenswochen muss die Mutter mit ihrem Kind in einem so engen Kontakt stehen, dass sie auf „Selbstäußerungen“ des Kindes zeitlich und inhaltlich angemessen reagieren kann. Tut sie dies nicht, so zeigt sich, dass das Kind bereits im Kindergarten Schwierigkeiten mit der Re-
204
7 Lernpotenziale der Willensbildung und Motivation
gulierung seiner Emotionen hat (vgl. Kuhl 1983, 1998; Kuhl & Beckmann 1985; Stiensmeier-Pelster 1989).
7.3 Die Persönlichkeits-System-Interaktionen-Theorie (PSI-Theorie) Als Weiterentwicklung des Rubikon-Modells und der Theorie der Handlungskontrolle steht die bereits erwähnte Persönlichkeits-System-Interaktionen-Theorie, die eine Theorie der willentlichen Handlungssteuerung ist, im Fokus der weiteren Darstellung. Im Folgenden werden die wichtigsten Grundstrukturen dieser Theorie beschrieben, die relevante Lernpotenziale für Willensbildung und Motivation in Beratung und Therapie beinhaltet. Eine umfassende Darstellung der Theorie findet sich bei Kuhl (2001). Die Persönlichkeits-Systeme-Interaktionen-Theorie (PSI-Theorie) ist als Theorie der willentlichen Handlungssteuerung motivations- und handlungstheoretisch konzipiert und integriert verschiedene Motivationstheorien (z. B. Handlungskontrolltheorie, Selbstbestimmungstheorie, Selbstregulationstheorie, ReizReaktions-Theorien, Trieb-Abwehrtheorie). Sie erklärt Motivation sowie Erleben und Verhalten durch die Beschreibung der Interaktionen zwischen Affekten und kognitiven Systemen. Jedes dieser Systeme verarbeitet Information auf seine eigene Art (z. B. bewusst vs. unbewusst, sequenziell vs. parallel) und trägt damit zu bestimmten psychischen Funktionen bei. Ein zentraler Kern der PSI-Theorie besteht in der genauen Beschreibung der Art und Weise, wie Affekte die Aktivierung und Verbindung der kognitiven „Makro“-Systeme modulieren. Es handelt sich um einen systemtheoretisch ausgerichteten Ansatz, der beschreibt, wie und nicht was verarbeitet wird („funktionaler“ vs. „inhaltszentrierter“ Ansatz). In der neurobiologischen Forschung werden Systemen, die aus neuroanatomischen Strukturen bestehen, psychische Funktionen zugeordnet und psychische Prozesse anhand der Funktionsweise und Verbindungen der Strukturen analysiert (Neurobiologie der Motivation und Volition). Die gemeinsame funktionsanalytische Orientierung der PSI-Theorie und Neurobiologie ermöglicht es, Fortschritte neurobiologischer Forschung in eine komplexe Handlungstheorie der Selbststeuerung und Selbstentwicklung zu integrieren. Die postulierten Systemzusammenhänge gelten durch die funktionsanalytische Orientierung quasi für alle Inhalte
7.3 Die Persönlichkeits-System-Interaktionen-Theorie (PSI-Theorie)
205
wie z. B. berufliches Interesse, Religiosität, Sport etc. (vgl. Quirin & Kuhl 2009: 163). Die PSI-Theorie unterscheidet vier kognitive Makrosysteme: Das Intentionsgedächtnis (IG) bildet bewusste Absichten, hält diese aufrecht und ist mit dem analytischen Denken vernetzt. Neuroanatomisch betrachtet befindet sich das Intentionsgedächtnis links präfrontal. Seine Aufgaben sind die Aufrechterhaltung von Absichten, Abschirmung, Planung, Antizipation sowie die sequenziell-analytische Aufmerksamkeit. Wenn eigene Präferenzen oder Ziele nicht durch vorhandene, automatisch abrufbare (intuitive) Verhaltensprogramme durchgesetzt werden können, kann eine Aktivierung des IG die analytisch-rationale Form des handlungsvorbereitenden Denkens (Antizipation) unterstützen. Sobald eine Problemlösungsmöglichkeit erarbeitet worden ist, kann das IG eine neue Absicht, die einen Handlungsplan einschließt, generieren. Die Absicht wird solange aufrechterhalten, bis eine günstige Situation zur Umsetzung gekommen ist. Die Aufrechterhaltung unerledigter Absichten ist wichtig, weil sie sonst bei auftretenden Schwierigkeiten oder Frustrationen rasch aus dem Auge verloren würden. Operationalisiert werden kann die Aufrechterhaltung von unerledigten Absichten z. B. durch verkürzte Zeiten für das (Wieder-) Erkennen absichtsbezogener Wörter (vgl. Goschke & Kuhl 1993, in Quirin & Kuhl 2009: 164). Das IG arbeitet vor allem sprachnah, bewusst und sequenziell. Die Informationen liegen überwiegend in klar verbalisierbaren Propositionen vor, z. B. „Wenn ich X tue, hat dieses Y zur Folge“. Sequenziell bedeutet, dass das IG solche Propositionen nur nacheinander und nicht gleichzeitig ins Bewusstsein transferieren kann. Personen, die allzu einseitig das IG aktivieren, reflektieren viel über ihre Absichten und Ideale, setzen diese aber nur wenig in die Realität um (vgl. Quirin & Kuhl 2009: 164 f.). 1.
Das Intuitive Verhaltenssteuerungssystem (IVS) führt Absichten durch mehr intuitiv als kontrolliert gesteuerte Verhaltensroutinen aus. Neuroanatomisch betrachtet befindet sich die Intuitive Verhaltenssteuerung rechts parietal. Das IVS ist an der Übersetzung von Intentionen, von antizipierten Handlungssträngen in ausführbare Handlungen beteiligt. Dieser Übergang von vorgestellten in konkrete Handlungen erfordert die Parametrisierung von Handlungsräumen: Eine Handlungsabsicht wird erst dann wirklich konkret und realisierbar, wenn klar ist, in welche Richtung im (konkreten oder abstrakten) Raum eine Bewegung stattfinden soll („Lokomotion“ bei Lewin 1936, in Quirin & Kuhl 2009:
2.
206
7 Lernpotenziale der Willensbildung und Motivation
165). Ausführungsrelevante Hilfsgrößen werden also nie losgelöst von der Raumwahrnehmung berechnet, d. h. das IVS integriert Wahrnehmungsstrukturen, die sensibel für Orientierung, Bewegung und Kontextinformation sind. Diese ausführungsrelevanten Informationen werden durch das IVS automatisch ohne ständige bewusste Kontrolle verarbeitet. Es unterstützt den Abruf einfacher Assoziationen, die für eine schnelle Zielumsetzung funktional sind. Aufgrund seiner elementaren Form paralleler Verarbeitung ist das IVS durch Nachahmung von Vorbildern, indirekte Hinweisreize (primes) und Spezifikation der Ausführungsbedingungen aktivierbar (Bargh et al. 1996; Gollwitzer 1999, in Quirin & Kuhl 2009: 165). Personen mit einer dominanten IVS-Ausprägung sind in ihrer Sprache und ihren Handlungen eher stereotyp, d. h. sie folgen erlernten Gewohnheiten, die durch übergeordnete Sinn- und Selbstbezüge schwer zu hemmen oder zu differenzieren sind. Werden die Verhaltensschemata einer Absicht im Sinne einer Automatisierung gut erlernt, kommt das IVS auch ohne die Hilfe des IG aus (vgl. Quirin & Kuhl 2009: 165). Das Objekterkennungssystem (OES) identifiziert Einzelheiten („Objekte“) zur späteren Wiedererkennung aus einem Gesamtkontext und registriert in Verbindung mit einem negativen Affekt, ob das Ergebnis der Handlungen oder auch andere Wahrnehmungen inkongruent zu Erwartungen und Bedürfnissen sind. Neuroanatomisch betrachtet befindet sich das Objekterkennungssystem links parietal. Es zeichnet sich durch eine inkongruenzbetonte Aufmerksamkeit aus. Das OES ist auf die Wahrnehmung von Einzelheiten spezialisiert, die aus ihrem Zusammenhang herausgelöst werden, um sie in anderen Zusammenhängen wiedererkennen zu können. Dieses ist besonders hilfreich zur Vermeidung von Gefahrenquellen. Das OES fokussiert auf Detailinformationen, die nicht im Einklang mit Erwartungen (z. B. farblich nicht zueinander passende Kleidungsstücke) oder Bedürfnissen (z. B. die Nichteinhaltung täglicher Rituale wie der morgendliche Abschiedskuss) sind. Die Kontextabstraktion führt zu einer starken Kategorisierungsneigung, Überzeichnung von Unterschieden und Kategoriengrenzen. Sie kann überall dort nachteilig sein, wo es gerade auf die intuitive Beachtung von Kontextmerkmalen ankommt, z. B. bei der spontanen zwischenmenschlichen Interaktion, die den kontextsensiblen Austausch von Gefühlen erfordert. Durch einen potenziellen, ständig stattfindenden Vergleich des Vorgefundenen mit in der Vergangenheit Angetroffenem birgt die Dominanz des OES das Risiko einer gewissen Vergangenheitszentrierung. Wenn sich diese Tendenz
3.
7.3 Die Persönlichkeits-System-Interaktionen-Theorie (PSI-Theorie)
207
verselbstständigt, kann es zu einem ständigen Grübeln über eine eingetretene Lage und einer Fixierung auf die damit zusammenhängenden Objekte oder Inhalte kommen, z. B. über einen Misserfolg, einen Unfall oder einen Schmerz. Bei der Verfolgung eines Zieles registriert das OES Abweichungen vom Ziel und kann somit das IG veranlassen, einen neuen Plan zu generieren. Personen mit einer niedrigen Aktivierungsschwelle des OES nehmen selbst die geringfügigsten Zielabweichungen wahr und haben eine sensible Wahrnehmung für potenzielle Gefahren oder Unstimmigkeiten (Unstimmigkeitsexperten). Sie achten z. B. sehr auf Unstimmigkeiten in Aussehen, Auftreten und Charakter bei sich selbst und auch bei anderen. Sie haben eine Tendenz zum Schwarz-Weiß-Denken beziehungsweise zu einer Entweder-Oder-Charakteristik und neigen in einer einseitig ausgeprägten Interaktion mit dem Intuitiven Verhaltenssteuerungssystem (IVS) zu Perfektionismus (vgl. Quirin & Kuhl 2009: 165 f.). 4.
Das Extensionsgedächtnis (EG), in der PSI-Theorie dem „Selbst“ gleichgesetzt, integriert kongruente („positive“) und inkongruente („negative“) Erfahrungen in bestehende (parallel verarbeitende) Netzwerke bisheriger Lebenserfahrungen und stellt somit bei neuen Herausforderungen die Informationen über eigene Bedürfnisse, Motive, Erfahrungen, Werte, Emotionen, usw. bereit. Neuroanatomisch betrachtet befindet sich das Extensionsgedächtnis rechts präfrontal. Wesentliche Merkmale sind ein kohärentes Kontext- und Selbstwissen sowie eine kongruenzbetonte, parallel-holistische Aufmerksamkeit. Das EG hat eine zentrale Bedeutung, weil es viele intelligente Funktionen bereitstellt, die eine adäquate Zielverfolgung ermöglichen. Es arbeitet im Unterschied zum sequenziell-analytischen Intentionsgedächtnis (IG) mit einem parallel-holistischen Informationsverarbeitungsmodus. Dieser Informationsverarbeitungsmodus gewährleistet, dass bei der Zielverfolgung oder Bearbeitung von Aufgaben der Überblick gewahrt bleibt, z. B. über relevante autobiographische Erfahrungen, Handlungsmöglichkeiten, eigene und fremde Bedürfnisse bis hin zu Sinn stiftenden Selbstaspekten (ebd.: 166).
Die kognitive Leistung des EG wird deutlich, wenn man sich die Schwierigkeiten eines Klienten vor Augen führt, der dieses System nicht sehr weit entwickelt hat. Dieser Klient mag z. B. bei einer komplexen familiären Auseinandersetzung Schwierigkeiten haben, einen Lösungsansatz zu finden, weil er die verschiedenen, in der Situation gegebenen Beziehungsstrukturen nicht gleichzeitig erkennen und in Beziehung setzen kann. Eine hohe sequenziell-analytische Fähigkeit (IG) und Detailbeachtung (OES) reichen hier nicht aus, denn nur die
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7 Lernpotenziale der Willensbildung und Motivation
ganzheitlich-parallele Verarbeitung des EG ermöglicht es, mehrere Aspekte einer Sache gleichzeitig im Blickwinkel zu haben und nicht den Überblick zu verlieren. Die Tatsache, dass das analytische Bewusstsein in seiner Aufnahmekapazität sehr beschränkt ist, impliziert, dass die parallel-holistische Verarbeitung weitgehend unbewusst ablaufen muss. Bisher wurde einem solchen System wenig Aufmerksamkeit geschenkt, da intelligent und unbewusst lange Zeit als Gegensätze betrachtet wurden. Einen Überblick über große Mengen an Informationen zu haben, ist eine wesentliche Determinante kreativen Problemlösens: Anders als das IVS, das direkte Assoziationen (Bargh et al. 1996) und eine primitive Form von Intuition (Epstein et al. 1996) aufbaut, unterstützt das EG durch seine integrierte und extensive Vernetzung die Verarbeitung entfernter Assoziationen und eine hochinferente Form von Intuition (vgl. Baumann & Kuhl 2000; Bolte et al. 2003; Dijksterhuis & Nordgren 2006, in Quirin & Kuhl 2009: 166). Durch eine starke Anbindung des EG an das emotionsverarbeitende System (rechter Kortex) sorgt die Emotionsvernetzung dafür, dass bei einer Beteiligung des EG an Handlungssteuerungen eigene und fremde Bedürfnisse in umfassender Weise berücksichtigt werden. In diesem Zusammenhang ermöglicht die integrativ-parallele Verarbeitungscharakteristik das Aushalten von Widersprüchen ebenso wie gegensätzlichen Emotionen sowie die Berücksichtigung zahlreicher Randbedingungen, die für die Lösung von psychischen und interpersonellen Konflikten hilfreich ist. Das EG verfügt demnach über das Potenzial zur Integration negativer und positiver Lebenserfahrungen („integrative Kompetenz“) und somit auch über effiziente Bewältigungsverfahren negativer Erfahrungen. Die Überblick stiftende Charakteristik des EG ist auch für die Verfolgung und Ablösung von Zielen und damit für die persönliche Befindlichkeit von enormer Bedeutung: Wenn ein Ziel nicht erreicht werden konnte, kann das EG auf Grundlage einer Vielzahl von Informationen aus bisherigen Erfahrungen „errechnen“, wie hoch die Erfolgserwartungen für weitere Versuche sind und eine vorbewusste Entscheidung treffen, ob das Ziel weiterverfolgt wird oder nicht. Falls keine hinreichenden Erfolgschancen gesehen werden, bietet das EG die Fähigkeit zur Ablösung von unangemessenen Zielerreichungsstrategien oder gar vom Ziel selbst, da es durch seine extensive Vernetzung gut in der Lage ist, alternative Strategien oder Ziele zu finden, die kompatibel mit der Bedürfnislage sind (Quirin & Kuhl 2009: 168).
7.3 Die Persönlichkeits-System-Interaktionen-Theorie (PSI-Theorie)
209
Zwischen den eher bewusst arbeitenden Systemen IG und OES auf der einen Seite und den eher unbewusst arbeitenden Systemen IVS und EG auf der anderen Seite bestehen wechselseitige, aber aufhebbare Hemmungen (vgl. Tabelle 7). Solche strukturellen Hemmungen von Systemverbindungen können jedoch durch den dynamischen Wechsel zwischen Affektzuständen aufgehoben werden, was einen besseren Informationsaustausch zwischen den Systemen ermöglicht. Z. B. können Personen, die ihre Eigenschaften, aktuellen Bedürfnisse und Gefühle
Tabelle 7: Gegenüberstellung der Verarbeitungsmodi der hochinferenten70 (Teil 1) und elementaren (Teil 2) kognitiven Makrosysteme (ebd.: 167) Teil 1 Intentionsgedächtnis (IG)
Extensionsgedächtnis (EG; „Selbst“)
– Übersetzung allgemeiner Zielvorgaben („Wünsche“) vom EG (z. B. selbstbestimmt zu sein) in generelle Handlungspläne (z. B. in der Lerngruppe beim nächsten Mal die eigene Meinung deutlich zu vertreten) – bewusst, sequenziell – explizites propositionales Wissen: Pläne, Absichten – Generierung expliziter Selbstkategorien – Entweder-Oder-Klassifikationen; Kontextabstraktion: Reduktionismus – Langsam in der Anwendung, schnelles Lernen – Emotionsentkoppelung (z. B. Affektisolierung, Rationalisierung, Intellektualisierung) – Kein Output bei unvollständigen Informationen – Zielorientierte Aufmerksamkeit
– Vorbewusste parallel-holistische Verarbeitung – Schnell in der Anwendung, langsames Lernen – Robust gegenüber unvollständiger Information – Verarbeitung entfernter Assoziationen, Kreativität, Intuition – Integrierte Selbstrepräsentationen („Erfahrungslandschaften“) – Implizites Konfigurationswissen: Erwartungen, allg. Ziele, usw. – Integration von Gegensätzen, z. B. positiver und negativer Selbstaspekte – Wahrnehmung und Regulation von Emotionen – Breite Aufmerksamkeit („mindfulness“, „Gewahrsein“; Vigilanz) – Integrative Emotionsregulation (intuitive Umbewertung)
70
IG und EG sind hochinferente Systeme, d. h. sie können viele Eingangsinformationen integrieren und durch komplexe Transformationsprozesse, die alle relevanten Erfahrungen berücksichtigen, kreative Outputs generieren. Evolutionsbiologisch sind sie jünger als das OES und das IVS und dementsprechend den Funktionen der vorderen Großhirnrinde zugeordnet (Quirin & Kuhl 2009: 168).
210
7 Lernpotenziale der Willensbildung und Motivation
Teil 2 Objekterkennungssystem (OES)
Intuitive Verhaltenssteuerung (IVS)
– Differenzierung von Figur und Grund (Verstärkung von Kontrasten, Extrahierung von Details aus dem Kontext: objektive statt erwartungsgeleitete Wahrnehmung, „allozentrisch“) – Separierung der Sinne – Kategorisierung („entweder-oder“) – vergangenheitszentriert („Wiedererkennung“) – eher bewusst – Aufmerksamkeit für Diskrepanzen
– Intuitive/automatische Programme, z. B. für stereotype soziale Interaktionen – Kontext- („Feld“-) abhängigkeit – Raumorientierung: Abgleich körperlicher Bewegungen mit Objektpositionen – Konnektionistische, multimodale Integration – Zentriert auf Gegenwart (Bewegungskontrolle) und Zukunft (Erwartung von Handlungsergebnissen) – Übersetzung von Intentionscodes in konkrete Handlungsroutinen – Räumliche Orientierung – Verstärkung von Signalen, die zu einer intendierten Handlung passen
treffend und differenziert beschreiben können, also wahrscheinlich eine geringere Hemmung zwischen IG und EG haben, ihre potenziellen Hemmungen leichter aufheben oder auch verstärken.
7.3.1
Modulationsannahmen der Systeminteraktionen durch Affekte
Durch einen Affektwechsel vermittelte Systeminteraktionen werden in der PSITheorie Modulationen genannt. Hierzu gibt es verschiedene Modulationsannahmen, von denen die wichtigsten hier dargestellt werden: Ein positiver Affekt (z. B. Freude) resultiert, wenn die Annäherung an ein mit einem Anreiz verknüpften Ziel besser als erwartet verläuft oder das Ziel erreicht wurde. Andererseits wird der positive Affekt gehemmt, wenn sich die Annäherung an das entsprechende Ziel schwieriger als erwartet herausstellt oder das Ziel nicht erreicht wurde (Frustration, Belastung). Die Wahrnehmung solcher Schwierigkeiten beziehungsweise die Hemmung des positiven Affekts bahnt das Intentionsgedächtnis und hemmt zugleich die intuitive Verhaltenssteuerung (Willenshemmung). Diese Hemmung dient dem Zweck, dass zunächst ein Handlungsplan zur Lösung der Schwierigkeiten mit Hilfe des analytischen Denkens
7.3 Die Persönlichkeits-System-Interaktionen-Theorie (PSI-Theorie)
211
entworfen werden kann. Ist es notwendig, zur Erreichung eines bestimmten Zieles über bestimmte Zwischenschritte nachzudenken, ist es von Vorteil, den positiven Aspekt erst einmal zu dämpfen. Nach der Ausarbeitung eines Handlungsplanes bahnt die Hochregulierung des positiven Affekts die Verbindung mit der intuitiven Verhaltenssteuerung und erleichtert dabei die Übergabe der Handlungsinformationen vom Intentionsgedächtnis zur intuitiven Verhaltenssteuerung (Willensbahnung). Untersuchungen über das Alltagshandeln haben ergeben, dass die Umsetzung schwieriger Vorhaben erleichtert wird, wenn Versuchspersonen angeleitet werden, sich abwechselnd die positiven Gefühle bei Zielerreichung und dann die zu überwindenden Schwierigkeiten vorzustellen (vgl. Oettigen et al. 2001, in Quirin & Kuhl 2009: 169). Personen mit einer starken Intentionsgedächtnis-Dominanz („Denker“), die z. B. bei der Konzeption eines Projekts häufig durch hohe Anforderungen oder auch Ängste situativ angeregt werden, können durch die starke Orientierung auf das analytische Gedächtnis den Willen zur Durchführung einer Tat so sehr hemmen, dass diese selbst in günstigen Situationen nicht mehr ausgeführt wird. Hier bedarf es der Fähigkeit, auch bei der Auseinandersetzung mit schwierigen Aufgaben, positiven Affekt zur Willensbahnung selbst wiederherzustellen (vgl. Koole & Jostmann 2004, in Quirin & Kuhl 2009: 169). Z. B. ist bei der Depression die Selbstherstellung eines positiven Affekts besonders schwierig. Die Betroffenen denken konkret über Ziele und Absichten nach, sind aber nicht in der Lage, einen positiven Affekt zur Umsetzung der Absichten herzustellen. Die Interaktion zwischen OES (Objekterkennungssystem [P.B.]) und EG (Extensionsgedächtnis – Selbst [P.B.]) ist besonders relevant für den Umgang mit Bedrohungen, also Erlebnissen, die negativen Affekt wie Angst, Hilflosigkeit oder Trauer auslösen. Die Aktivierung von Selbstrepräsentationen oder anderen Teilen des Extensionsgedächtnis in bedrohlichen Situationen führt nach der Selbstberuhigungsannahme zur Herabregulierung des negativen Affekts. Dies geschieht umso besser, je stärker die Verbindung zwischen dem EG (Extensionsgedächtnis – Selbst [P.B.]) und Mechanismen ausgeprägt ist, die auf einer subkognitiven Ebene negativen Affekt dämpfen (hier spielt z. B. der Hippocampus, ein Teil des limbischen Systems, eine wesentliche Rolle). (Sapolsky 1992, zit. n. Quirin & Kuhl 2009: 170)
Durch die Aktivierung des Extensionsgedächtnisses wird gegebenenfalls ein integrierter Überblick über eigene Erfahrungen in relevanten früheren Situationen hergestellt, der es in aktuellen Problemsituationen ermöglicht, verengte Sichtweisen und fehlerhafte Lösungsstrategien des Problems aufzugeben, und die In-
212
7 Lernpotenziale der Willensbildung und Motivation
tegration neuer, alternativer Lösungsmöglichkeiten unterstützt. Gleichzeitig integriert das Extensionsgedächtnis die durch das Objekterkennungssystem wahrgenommenen, unerwünschten oder schmerzhaften Erfahrungen und differenziert sich weiter im Sinne von persönlichem Wachstum aus. Nur ein guter Zugang zu persönlichen Bedürfnissen, Werten, Emotionen, Erfahrungen führt langfristig zu einem sinnerfüllten Leben, weil das Intentionsgedächtnis durch das Objekterkennungssystem mit Selbstbestimmungsabsichten gespeist werden kann, die zu spezifischen Motivausprägungen, z. B. nach Leistung und Zuneigung des Individuums, passen. Personen, die sich z. B. durch äußeren Druck und Belange anderer Personen unmerklich von ihren eigenen Präferenzen entfremden, zeigen ein geringeres Maß an Wohlbefinden und teilweise mehr psychosomatische Beschwerden. Umgekehrt können zu schmerzhafte Erfahrungen, d. h. Gedächtnisinhalte, die mit einem extrem negativen Affekt assoziiert sind, nicht ins Selbst71 oder Extensionsgedächtnis integriert werden, wenn die durch den negativen Affekt noch verstärkte genuine Hemmung zwischen Objekterkennungssystem und Extensionsgedächtnis nicht aufgehoben werden kann, also das Extensionsgedächtnis nicht aktiviert und der negative Affekt nicht herabreguliert wird (Selbsthemmung). Die Erfahrungen können dann allenfalls (temporär) aus dem Bewusstsein verdrängt werden. Nur durch die gemeinsame Aktivierung des traumatischen Erlebnisses mit bisherigen Lebenserfahrungen aus dem Selbst kann eine Integration erfolgen und der entsprechende negative Affekt dauerhaft reduziert werden, wodurch auch eine kontinuierliche Sinnstiftung des eigenen Lebens erfolgt (vgl. Quirin & Kuhl 2009: 170).
71
Definition des EG oder Selbst siehe Kuhl (2001). Die Definition ist hier weniger von Interesse, da besonders die dargestellte funktionsanalytische Struktur für Lernpotenziale der Willensbildung wesentlich ist.
7.3 Die Persönlichkeits-System-Interaktionen-Theorie (PSI-Theorie)
IG Intentionsgedächtnis Willenshemmung Willensbahnung
Selbstmotivierung
213
SelbstExtentionsgedächtnis
Entfremdung
niedrig
niedrig
pos. Affekt
neg. Affekt
hoch
hoch
IVS Intuitive Verhaltenssteuerung inhibitorische Verbindung
Selbstberuhigung Selbsthemmung
OES Objekterkennung bahnende Verbindung
Abbildung 13: Schematische Abbildung wesentlicher Beziehungen zwischen den kognitiven Makrosystemen und ihrer Modulation durch (aufsuchungsbezogenen) positiven und (vermeidungsbezogenen) negativen Affekt (Quirin & Kuhl 2009: 171)
7.3.2
Affektregulation und Persönlichkeitsunterschiede
Das Ausmaß, in dem Menschen zwischen affektiven Zuständen wechseln können, wird mit dem Konstrukt der Handlungs- vs. Lageorientierung (Kuhl & Beckmann 1994) beschrieben. Der Begriff „Lageorientierung“ weist dabei auf die Tendenz hin, in einer bestimmten Affektlage zu verweilen, während „Handlung“ auf die Fähigkeit verweist, trotz widriger Umstände handlungsfähig zu bleiben und damit seine Ziele weiterzuverfolgen. Lageorientierung ist somit der Gegenpol von Handlungsorientierung und beschreibt die Tendenz, in einer affektiv negativen Lage zu verweilen. Zwei unterschiedliche Dimensionen der Handlungs-/Lageorientierung lassen sich den Modulationsprozessen wie folgt zuordnen: Während prospektive Handlungsorientierung individuelle Differenzen in der Fähigkeit beschreibt, positiven Affekt für die Umsetzung von Intentionen bereitzustellen (Gegenpol: Zögern), beschreibt misserfolgs- oder bedrohungsbezogene Handlungsorientierung die Fähigkeit zur Herabregulierung negativer Affekte und somit zur Integration negativer Erfahrungen ins Selbst (Gegenpol:
214
7 Lernpotenziale der Willensbildung und Motivation
Grübeln). Handlungsorientierten gelingt es besser als Lageorientierten („Zögerer“), die durch reduzierten positiven oder erhöhten negativen Affekt verstärkten Systemhemmungen zwischen Intentionsgedächtnis und intuitiver Verhaltenssteuerung durch Zugriff auf das Extensionsgedächtnis aufzuheben und sich somit aus eigener Kraft für unangenehme Tätigkeiten zu motivieren (Selbstmotivierung). Handlungsorientierten gelingt es nach einer Bedrohung besser als Lage-orientierten („Grübler“), die durch erhöhten negativen Affekt zunächst gehemmte Verbindung zwischen Objekterkennungssystem und Extensionsgedächtnis durch selbstregulierende Aktivierung des Extensionsgedächtnis aufzuheben und negativen Affekt zu dämpfen und damit belastende Erfahrungen effizient zu verarbeiten (Selbstberuhigung) (vgl. Quirin & Kuhl 2009: 171 f.).72 Entsprechend werden Persönlichkeitsunterschiede im Wesentlichen durch individuell unterschiedliche Aktivierungsschwellen („Dominanz“) der Systeme erklärt, d. h., wie schnell ein System bei der Konfrontation mit einer für dieses System relevanten Auslösebedingung aktiviert wird, sowie durch die Stärke der einzelnen Verbindungen, die die Systeme untereinander eingehen, d. h. wie effektiv sie miteinander Informationen austauschen.
7.3.3
Lernpotenzial der PSI-Theorie für Willensbildung und Motivation
Die zentrale Aussage der PSI-Theorie ist, dass sowohl die Aktivierung psychischer Systeme als auch der Informationsaustausch zwischen ihnen von Stimmungen und Gefühlen (wissenschaftlich ausgedrückt: von Affekten) abhängig ist. Damit befindet sich die Theorie in unmittelbarer Nähe zu Ciompis Theorie der fraktalen Affektlogik, die die Relevanz emotionaler Einwirkung auf die kognitiven Funktionen beschreibt (s. o.). Ebenso schildert die PSI-Theorie die „Denkund Affektbewegungen“ einer Person in einer zirkulären, Widersprüche, antagonistische Emotionen und Kognitionen miteinbeziehenden Form, die typisch für systemisch orientierte Beschreibungen von Interaktionsmustern ist. Kuhl selbst sieht bemerkenswerte Übereinstimmungen zur Typologie C. G. Jungs (1936/1990) mit seinen vier psychischen Hauptfunktionen (Intuieren, Empfinden, Denken und Fühlen) und zu Ken Wilber (1997), der unter Ableitung 72
Eine Darstellung der Entwicklungsbedingungen affektregulatorischer Kompetenz und weitere differenzierte Modulationsannahmen sowie eine ausdifferenzierte Diagnostik verschiedener Systemebenen der Persönlichkeit in Kuhl (2001).
7.3 Die Persönlichkeits-System-Interaktionen-Theorie (PSI-Theorie)
215
von Jungs und Piagets Theorien analoge psychische Systeme und Funktionen (konkrete Operationen, Wahrnehmung, formale Operationen, „Schau-Logik“) beschrieben hat. Besonders hervorzuheben ist die Parallelität zwischen den Erkenntnissystemen der PSI-Theorie und den von Wilber unterschiedenen Erkenntnisformen, die über die Geschichte der Philosophie zurückverfolgt werden. Bei Bonaventuras (1221-1274) „drei Augen der Seele“ lässt sich das „Auge des Fleisches“ dem Objekterkennungssystem in der raumzeitlichen Welt zuordnen, das „Auge der Vernunft“ dem analytischen Denken (Intentionsgedächtnis) und das „Auge der Kontemplation“, das zur Erkenntnis ich-transzendierender Wirklichkeit befähigt, dem Extensionsgedächtnis mit seiner integrierten Wahrnehmung des Selbst in seinem kulturellen und sozialen Kontext (vgl. Kuhl 2005: 18 f.) Im Folgenden werden in Anlehnung an Kuhl (2005: 13 ff.) Selbstmotivierung und Selbstberuhigung als Lernpotenziale für die Willensbildung und Selbstentwicklung in Beratung und Therapie dargestellt. Ein Klient verliert z. B. den Überblick über eine spezifische familiäre Situation. Er kann sein Extensionsgedächtnis nicht aktivieren, weil er unter übermäßigem Stress steht und eine ängstliche oder traurige Stimmung vorherrscht. Seine guten Absichten kann er nicht umsetzen, da er sich entmutigt fühlt und es nicht schafft, sich in eine positive Stimmung zu versetzen. In entmutigter Stimmung bleibt seine Absicht im Intentionsgedächtnis und der Weg in die verhaltenssteuernden Systeme ist versperrt, weil die Aktivierung der Verhaltenssteuerung positive Energie benötigt. Hier liegt ein wichtiger Grund, warum Menschen möglichst schon in ihrer Kindheit lernen sollen, mit ihren Gefühlen umzugehen: Wer seine Gefühle regulieren kann, wer seine Wut oder seine Angst beruhigen kann oder seine Mutlosigkeit überwinden kann und wer auch einmal den Verlust positiver Gefühle aushalten kann (z. B. wenn Schwierigkeiten zu überwinden sind), der kann (fast) immer das psychische System einschalten, das er gerade braucht. Die beschriebene Affektregulation ist eine Voraussetzung zum Aufbau von Willenskraft und der Selbstwerdung. Wenn jedes der vier psychischen Systeme durch andere Gefühle aktiviert werden kann, ist es natürlich wichtig, dass Menschen möglichst früh in ihrer Entwicklung lernen, ihre Gefühle zu steuern. Das erste für die menschliche Existenz zentrale Problem ist das willentliche Handeln: Wenn ein Klient eine schwierige Absicht mit sich im Intentionsgedächtnis herumträgt, dann benötigt er positiven Affekt, um die Absicht im geeigneten Moment in die intuitive Verhaltenssteuerung zu schicken, damit er die Absicht dann
216
7 Lernpotenziale der Willensbildung und Motivation
auch wirklich ausführt. Von Vorteil ist es selbstverständlich, wenn er genau im richtigen Moment den zur Ausführung notwendigen positiven Affekt selbst herstellen kann. Der Klient würde dann die Technik der Selbstmotivierung beherrschen. 1.
Die Selbstmotivierung als Kraft zum Handeln und als Willenskraft erfordert den Systemwechsel vom Intentionsgedächtnis zum Extensionsgedächtnis. Wenn eine Intention nicht sofort umsetzbar ist, wird die positive Stimmung des Klienten gedämpft, z. B. kann er ein wichtiges Gespräch mit seinem Vater nicht führen. Ein plötzlich auftauchendes Hindernis wirkt zunächst frustrierend, der Klient kann seine Absicht nicht umsetzen. Die Schwierigkeit und daraus resultierende Hemmung des positiven Affekts aktivieren das Intentionsgedächtnis und die Suche nach einer Problemlösung. Taucht eine Idee zur Lösung des Problems auf, z. B. kann der Klient mit seinem Vater in wenigen Tagen sprechen, so verändert sich die Stimmung positiv. Dadurch wird die Verhaltenshemmung gelöst und der Klient kann seine Idee ausprobieren, damit wird sein Wille ausführbar. Sind dagegen die Schwierigkeiten nicht so leicht lösbar, z. B. der Vater lässt sich auf ein Gespräch mit dem Klienten nicht ein, so wird sein Intentionsgedächtnis immer stärker aktiviert und seine Intentionsausführung immer stärker gehemmt. In dieser Situation ist es für den Klienten wichtig, sich selbst motivieren zu können, um weiter nach anderen Lösungen zu suchen. Dieses ist eine Aufgabe für sein Extensionsgedächtnis und sein breites Erfahrungswissen. Seine bisherigen Erfahrungen mit ähnlichen Problemen können als positive Zielvorstellungen dienen, die zur weiteren Problemlösung motivieren und vielleicht zusätzliche neue Lösungsideen bringen. Aus dem Extensionsgedächtnis kann man Episoden darüber abrufen, was früher einmal im Umgang mit ähnlichen Schwierigkeiten geholfen hat. So kann z. B. die Erinnerung an den Vater, der früher bei Schwierigkeiten oft ein motivierendes Wort oder eine spontane Aktion parat hatte, einen positiven Affekt hervorrufen, da die Erinnerungen es ermöglichen, eine Vorstellung aufzubauen (Antizipation), wie man die Schwierigkeiten überwinden kann. Der damit verbundene positive Affekt hebt die Hemmung zwischen dem Intentionsgedächtnis und seinem Ausführungssystem auf. Der Klient hat die Kraft, weiter an der Problemlösung zu arbeiten, weil er sich den positiven Affekt „selber machen“ kann, wenn er ihn zur Energetisierung des Extensionsgedächtnisses oder nach Auffinden einer geeigneten Handlungsmöglichkeit des Handelns braucht.
7.3 Die Persönlichkeits-System-Interaktionen-Theorie (PSI-Theorie)
2.
217
Die Selbstberuhigung als Kraft zur Selbstentwicklung erfordert den Systemwechsel vom Objekterkennungssystem zum Extensionsgedächtnis. Wird der Klient mit schmerzhaften Erfahrungen oder Bedrohungen konfrontiert, z. B. der Vater will nicht mit ihm sprechen und es kommt zu einer Art des Liebesentzuges, so entsteht ein negativer Affekt (z. B. die Angst, nicht geliebt zu werden). Aufgrund der bei einem negativen Affekt aktivierten Objekterkennung verengt sich die Aufmerksamkeit des Klienten in diesem Fall und er sieht nur noch die Gefahrenquelle (seinen schweigenden Vater). Der Gedanke an den schweigenden Vater wird zu einem angstbesetzten Objekt. Er wird aus dem Gesamtkontext herausgelöst und der Klient denkt immer über dasselbe Phänomen (z. B. wie schlimm alles ohne den Kontakt zu seinem Vater ist) nach. Der durch die Objektfixierung verursachte Verlust größerer Zusammenhänge (Dekontextualisierung) führt dazu, dass der Klient gar nicht mehr daran denkt, wie oft er z. B. innerhalb des letzten Jahres mit dieser Situation fertig geworden ist und dass er einige schöne Dinge (vielleicht in Teilen seiner Kindheit) mit dem Objekt der momentanen Angst erlebt hat. Die Angst blockiert jetzt den Zugang zu seinem Extensionsgedächtnis, dass das riesige Netzwerk von relevanten Erfahrungen bereit hält. In einer solchen Situation ist es gut, wenn der Klient sich selbst beruhigen kann, nicht nur um die Angst abzubauen, sondern auch weil die Herabregulierung von einem negativen Affekt den Zugang zum Extensionsgedächtnis bahnt. Erst dann können ihm wieder Handlungsmöglichkeiten einfallen. Diese Selbstberuhigung wird durch den Zugang zu seinem Extensionsgedächtnis intensiviert, weil die guten Erfahrungen in Erinnerung gerufen werden, die der Klient im Umgang mit ähnlichen Gefahren beziehungsweise leidvollen Erlebnissen gemacht hat. Die Aktivierung des Extensionsgedächtnisses kann bei dem Klienten den Einfluss der Einzelempfindungen aus dem Objekterkennungssystem dämpfen und die Angst oder Sorge reduzieren. Generell „spüren“ wir die Aktivierung des Extensionsgedächtnisses im Alltag z. B. immer dann, wenn wir ein „Erlebnis an uns heranlassen“, uns selbst damit konfrontieren, statt es zu beschönigen, herunterzuspielen oder ganz zu verdrängen. Da das Extensionsgedächtnis ein paralleles Verarbeitungssystem ist, sind bei seiner Aktivierung alle oder zumindest sehr viele Erfahrungen simultan aktiviert, auch negative Erfahrungen. Die Selbstberuhigung durch Aktivierung des Extensionsgedächtnisses funktioniert dann besonders gut, wenn positive Erfahrungen stärker oder häufiger in ihm vertreten sind als negative Erfahrungen. Menschen, deren Selbst mit zu
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7 Lernpotenziale der Willensbildung und Motivation
vielen oder zu starken negativen Erfahrungen aufgeladen ist (z. B. durch traumatische Erfahrungen in der Kindheit), können es sich nicht leisten, das Extensionsgedächtnis zur Selbstberuhigung einzusetzen, weil dann zuviel Negatives mit hoch kommt. Sie müssen dann schmerzhafte Erfahrungen anders abwehren (z. B. durch Beschönigen, Leugnen, Herunterspielen oder durch Aktionismus und übersteigerte Leistungszwänge). Die Abwehrmechanismen haben dabei eine wichtige Schutzfunktion. Diese Verdrängungsmechanismen sind für jeden Menschen immer wieder unverzichtbar. Wenn das Selbstsystem (Extensionsgedächtnis) gar nicht mehr zur Bewältigung von negativen Erfahrungen einsetzbar ist, kann nicht aus Erfahrungen gelernt werden (sie werden nicht in das Extensionsgedächtnis integriert) und es werden immer dieselben Fehler gemacht. Freud nannte das bei seinen Patienten „Wiederholungszwang“: Sie fallen dann immer wieder auf dieselben Partner rein, die gar nicht zu ihnen passen; arbeiten sich krank, obwohl sie an den Folgen eigentlich merken müssten, dass soviel Arbeit ihnen nicht gut tut. 3.
Entwicklungsbedingungen für Willensbildung und Motivation sind affektregulatorische Kompetenz, persönliche Begegnung, Verstehen und Akzeptanz. Bevor in Beratung und Therapie Selbstberuhigung trainiert werden kann, muss erst das Selbstsystem (Extensionsgedächtnis) langsam aufgebaut und mit positiven Erfahrungen aufgefüllt werden, bis die Bilanz positiv wird. Bei „gesunden“ Menschen kann man mit dem Selbstberuhigungstraining ohne solche Umwege beginnen. Ein solches Training muss im Grunde genauso ablaufen, wie bei einer gesunden Entwicklung die Selbstberuhigung in der Kindheit gelernt wird. Es geht um die Frage, wie sich die selbstregulatorischen Fähigkeiten entwickeln. Wieso schaffen es manche Menschen, sich selbst zu motivieren, und andere nicht? Was passiert in einer guten Kindheit, in einer guten Freundschaft oder Liebesbeziehung oder in einer gelungenen Beratung oder Therapie, wenn Menschen lernen, ihre Gefühle selbstständig zu steuern, und selbstregulatorische Fähigkeiten entwickeln? Im Laufe der Entwicklung lernt das Selbstsystem (Extensionsgedächtnis) mit immer schwierigeren Situationen fertig zu werden. Manche Rückschläge oder gar Schicksalsschläge sind nicht einfach mit der gelernten Selbstberuhigungsreaktion zu bewältigen. Das Selbst muss immer mehr und immer weiter vernetzte Erfahrungs- und Sinnstrukturen bilden, die auch bei sehr schwierigen oder schmerzhaften Erlebnissen mögliche Lösungen anbieten, beziehungsweise
7.3 Die Persönlichkeits-System-Interaktionen-Theorie (PSI-Theorie)
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es muss ermöglichen, diesen Erlebnissen etwas Positives oder Sinnhaftes abgewinnen zu können. Das geht umso besser, je häufiger Beziehungen erlebt wurden, in denen andere Menschen positive Deutungen vermittelt haben, die sich als trost- und sinnstiftend erwiesen haben. Die positive Sinnvermittlung durch andere Personen reicht allerdings nicht aus. Wenn ich von den guten Gefühlen, die positive Menschen in mir auslösen können, nicht zeitlebens abhängig bleiben will, wenn ich das Positive, den Trost, die Beruhigung irgendwann selbst herstellen will, dann muss noch etwas passieren: Dann muss mein Selbst (d. h. das Extensionsgedächtnis) mit dem Positiven und der Beruhigung verknüpft werden. Das Selbst kann nur Affekte ohne äußere Hilfe regulieren, wenn es mit den affektgenerierenden Orten im Gehirn verknüpft ist. Wie kann man aber erreichen, dass das Selbst mit den beruhigenden oder motivierenden Impulsen der Bezugsperson dauerhaft verknüpft wird? Das Gehirn bildet Verknüpfungen, wenn die zu verknüpfenden Dinge kurz hintereinander oder gleichzeitig aktiviert sind. Ein bereits erwähntes Beispiel ist die klassische Konditionierung, die Pawlow mit dem Läuten der Glocke, die einige Male kurz vor dem Zeigen des Futters geläutet wurde und dessen Anblick seinen Hunden das „Wasser im Mund zusammenlaufen“ ließ, erreichte. Nach ein paar Koppelungen von Glocke und Futter, konnte er das Futter weglassen: Die Glocke löste die Speichelabsonderung allein aus. Die gleiche Struktur ist beim Lernen von Selbstregulation gültig: Das Selbst lernt nur dann, die Beruhigung der Gefühle „von selbst“, das heißt aus sich heraus, auszulösen, wenn es ein paar Mal genau dann aktiviert war, wenn eine Trost spendende oder beruhigende Person anwesend war. Woran merkt aber die tröstende Person, dass das Selbst ihres Schützlings aktiviert ist, damit sie die Beruhigung auch wirklich genau dann auslösen kann, wenn das Selbst aktiv ist? Das Selbst einer Person ist solange aktiviert, wie ein Mensch sich als Person ernst genommen und verstanden fühlt. Ohne diese positive Beziehungsbotschaft wird das Extensionsgedächtnis (Selbst) sozusagen abgeschaltet und kann folglich auch nicht mit noch so beruhigenden, sinnstiftenden und positiven Gefühlen, die eine andere Person auslöst, verknüpft werden (vgl. Kuhl 2005: 16).73 73
Auf die Relevanz positiver Botschaften im Rahmen der Motivationsentwicklung aus neurobiologischer Sichtweise weist Spitzer hin: „Für das Lernen ist wichtig: Gelernt wird immer dann, wenn positive Erfahrungen gemacht werden. Dieser Mechanismus ist wesentlich für das Lernen der verschiedensten Dinge, wobei klar sein muss, dass für den Menschen die positive Erfahrung schlechthin in positiven Sozialkontakten besteht. ... Menschliches Lernen vollzieht sich immer schon in der Gemeinschaft und gemeinschaftliche Aktivitäten beziehungsweise ge-
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7 Lernpotenziale der Willensbildung und Motivation
Persönlichkeitsentwicklung funktioniert umso besser, je besser die psychischen Systeme zusammenarbeiten, die sich auf den ersten Blick zu bekämpfen scheinen. Die Zusammenarbeit zwischen antagonistischen Systemen funktioniert am besten, wenn man zwischen gegensätzlichen Affekten hin und her wechseln kann. Dieses Wechselspiel wird auch als die Fähigkeit zur emotionalen Dialektik bezeichnet. Sie arbeitet einwandfrei, wenn günstige Bedingungen für eine erfolgreiche „Systemkonditionierung“ vorliegen: Die zu verknüpfenden Systeme, d. h. das Selbst und die Regulation der Affekte sind (fast) gleichzeitig aktiviert, wenn die Person sich von ihrem [jeweiligen (P.B.)] Partner verstanden und so angenommen fühlt, dass sie ihre Gefühle äußern kann (Aktivierung des Selbst) und wenn der (jeweilige) Partner [...] auf Selbstäußerungen mit wirksamem Trost beziehungsweise Ermutigung reagiert. Durch die gleichzeitige Aktivierung des Selbst und des Affekt regulierenden Systems entsteht mit der Zeit eine immer stärkere Verknüpfung zwischen diesen Systemen, so dass das Selbst immer besser die Beruhigung beziehungsweise die Ermutigung buchstäblich „selbst“ auslösen kann. Auf diese Weise erklärt die PSI-Theorie die Mechanismen, die einer alten Lebensweisheit zugrunde liegen: Für eine gesunde Entwicklung des einzelnen Menschen wie auch der menschlichen Gemeinschaft ist die Erfahrung personaler Liebe von ausschlaggebender Bedeutung. Wer die emotionale Dialektik zwischen Leidensfähigkeit und Bewältigung beherrscht, der kann schmerzliche Erfahrungen wirklich aushalten, ohne ihnen immer nur ausweichen zu müssen, und bleibt andererseits nicht in ihnen stecken, weil er zum richtigen Zeitpunkt die negativen Gefühle herunterregulieren kann und die neuen Erfahrungen in das große Netzwerk seiner Lebenserfahrung integrieren kann (Kuhl 2005: 17).
In der PSI-Theorie und ihrer Anwendung finden sich viele Elemente des oben dargestellten „Sich-selbst-ähnlichen-Lernens“. Die PSI-Theorie erfasst die Bedeutung der Affekte in der Vernetzung mit der Kognition zur Gestaltung des eigenen Lebens und erläutert, warum auf Grund affektbedingter andersartiger Selektion, Verknüpfung und Gewichtung kognitiver Inhalte antizipierte Ziele nicht erreicht werden können. Obwohl die funktionsanalytische Beschreibung der beteiligten psychischen Systeme nicht leicht konsumierbar ist, bietet das Modell durch seine realitätsnahe Beschreibung parallel stattfindender kognitiver und emotionaler Prozesse und durch die Möglichkeit der Bewältigung vorhandener Hemmungsstrukturen ein hohes Lernpotenzial für Willensaufbau und Motivation für Klienten in Beratung und Therapie. meinschaftliches Handeln ist wahrscheinlich der bedeutsamste ‚Verstärker‘. Die biologischen Wurzeln der Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden werden so unmittelbar deutlich“ (Spitzer 2002: 181). Spitzer ist auch als weiterführende Literatur zur Erklärung psychischen Erlebens und seiner neurobiologischen Verankerung empfehlenswert.
8 Lernpotenziale in Welt- und Menschenbildern
In diesem Kapitel wird auf Aspekte ökologischen Lernpotenzials für Beratung und Therapie in Welt- und Menschenbildern und in deren möglichen Vernetzungen eingegangen. Im Allgemeinen wird in Beratungs- und Therapiesettings das jeweilig benutzte Welt- und Menschenbild nicht thematisiert, sondern im Rahmen von Affekten, Kognitionen und Interaktionen einseitig vom Berater beziehungsweise Therapeuten zum Klienten transportiert. Meistens passt sich der Klient der nicht verbalisierten Sichtweise des Beraters beziehungsweise Therapeuten an, häufig aus Unkenntnis und dem Bemühen heraus, für sich schnell passende Veränderungsstrategien zu finden. Es ist jedoch eine Hilfe für Klienten, das Thema Menschenbild und die damit verbundenen Inhalte direkt anzusprechen und mit ihrem vorhandenen Wissen reflexiv umzugehen. Besonders in ökologischer Hinsicht ist es notwendig, bestimmte Begriffe wie Ökologie, Umweltschutz, Nachhaltigkeit etc. und die damit zusammenhängenden Verhaltensmuster und Einstellungen zur persönlichen Umwelt des Klienten zu thematisieren. Hierüber ergeben sich Zugänge zu Themenbereichen, wo sich ein Klient im Hinblick auf seine Umwelt und auf seinen Umgang mit dieser befindet und mit welchen Intentionen er diesen Bereich seines Alltags handhabt. Die relevanten Welt- und Menschenbilder der europäischen Geistesgeschichte werden hier nicht dargestellt, sondern es werden Erweiterungen und Neuinterpretationen vorhandener Menschenbilder im Hinblick auf eine Erweiterung des Lernpotenzials in Beratung und Therapie vorgestellt. Ebenso wird auf das bestehende humanistische Welt- und Menschenbild in diesen Professionen, da sie einerseits hinlänglich bekannt und zum anderen permanent in Beratungsund Therapieprozesse mit einfließen, nicht eingegangen. Thematisch wird im Folgenden auf den neuzeitlichen Antagonismus des Menschen zwischen subjektivem Erleben und objektiver Erkenntnis und auf Möglichkeiten zur Auflösung dieses Gegensatzes hingewiesen. Die Beispiele
P. Busch, Ökologische Lernpotenziale in Beratung und Therapie, DOI 10.1007/ 978-3-531-92754-1_9, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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8 Lernpotenziale in Welt- und Menschenbildern
entstammen der Arbeitswelt und den Interaktionsmustern einer dezidiert ökonomischen Weltsicht. Abschließend werden Ideen und Gedanken zu einem erweiterten neuen Menschenbild auf der Basis werteökologischer Überlegungen vorgestellt. Im Gegensatz zu den vorherigen Kapiteln ist dieses mehr als Anregung zum Nachdenken über mögliche Veränderungen des Menschenbildes in Beratung und Therapie gedacht als zum Bereitstellen direkten Lernpotenzials für Klienten. Welt- und Menschenbilder werden, besonders in Beratung und Therapie, häufig mit persönlichen Nuancen versehen, die in und aus der Interaktion von Klient und Berater beziehungsweise Therapeut entstehen, entsprechend ist es korrekter, dass der Leser sich eigene „Bilder“ erstellt.
8.1 Subjektives Erleben und objektive Erkenntnis Das in der Gegenwart vorherrschende Konzept verstandesmäßigen Erkennens bezieht sich zu einem großen Teil auf Descartes Gegenüberstellung von Res Cogitans und Res Extensa und auf die damit zusammenhängende damalige revolutionäre Strömung des Denkens Sciencia Nova (vgl. Nida-Rümelin 2009: 51). Mittels des bekannten „Cogito ergo sum – Ich denke, also bin ich“ wird die Trennung von erkennendem Subjekt und dem Objekt der Erkenntnis wissenschaftlich verankert, Mensch und Natur werden gegenübergestellt. Das eigentlich Menschliche wird als das Geistige beschrieben und der Körper des Menschen wird als Fortsetzung der Trennung von Mensch und Natur dieser äußeren Natur zugeordnet. Sinnliche Erfahrung wird wegen der empirisch vielfach belegbaren Sinnestäuschungen als Erkenntniswerkzeug ausgegrenzt. Diese rationalistische Hoffnung und Sichtweise der frühen Neuzeit wird in den modernen Naturwissenschaften nicht mehr vertreten (vgl. ebd.: 51). Neuzeitliche Naturwissenschaften begreifen sich als Erfahrungswissenschaften, sind aber nicht auf die sinnhafte Erfahrung des Objektes der Erkenntnis bezogen, sondern sind vor allem in einem hohen Maß erfahrungskritisch. Ein solcher „paradox anmutender Bezug“ (Böhle 2009: 163) (Erfahrung ja – sinnhafte Erfahrung nein) auf die sinnliche Erfahrung findet seine Entsprechung in der Unterordnung der sinnlichen Wahrnehmung unter den Verstand. Kant begründet die Unterordnung durch seine erkenntnistheoretische Begründung, indem
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er auf die Gefahr hinweist, dass sich der Verstand ohne Bezug auf die sinnliche Erfahrung allzu leicht in Trug- und Wahnvorstellungen verfange, zugleich aber die sinnliche Wahrnehmung ohne verstandesmäßige Ordnung blind bleibe (ebd.: 163).
Die sinnliche Wahrnehmung soll für die verstandesmäßige (geistige) Erkenntnis durch subjektive Deutungen nicht beeinflusst werden. In der weiteren Entwicklung philosophischer, zu einem späteren Zeitpunkt psychologischer, Untersuchungen werden die Sinne als notwendige Werkzeuge der Erkenntnis betrachtet, da subjektives Empfinden, Fühlen, Mitleiden etc. im Wesentlichen auf sinnlicher Erfahrung beruht. Damit wird die sinnliche Wahrnehmung als Werkzeug der Erkenntnis anerkannt. Gleichzeitig kommt es jedoch zu einer weiteren Differenzierung, die sich nicht mehr ausschließlich auf die Gegenüberstellung von Körper und Geist bezieht, sondern auf Unterscheidungen in den menschlichen Sinnen und auf verschiedene Formen sinnlicher Wahrnehmung. Zum Ideal für die Erkenntnis wird der distanzierte, affektneutrale Blick, der auf das Registrieren von Gestalten, Größen und Daten ausgerichtet ist. Im Unterschied zu den hinfort als ‚nieder‘ geltenden Sinnen wie Tasten, Schmecken, Riechen, gilt das Auge am ehesten als Garant für Distanz und ist – im Unterschied zum Hören – einer verstandesmäßigen Kontrolle zugänglich (ebd.: 164).74
Hiermit ist eine Wissensstruktur des Körpers und der Sinne abgebildet, die auf eine teilweise, isolierte Nutzung einzelner, für die Erkenntnis nutzbarer Sinne bei einer gleichzeitigen Negierung weiter Bereiche menschlicher Sinneswahrnehmung abzielt. Die Differenzierung erzeugt auf der einen Seite das mit sinnlichen Erfahrungen einhergehende Fühlen und Erleben sowie auf der anderen Seite die durch den Verstand kontrollierte und eingegrenzte Sinnestätigkeit, die der Erkenntnis dient. Das sinnliche Fühlen und Erleben wird zu einer Sinnlichkeit, die von der Erkenntnis der Welt abgelöst ist. Damit vollzieht sich eine folgenreiche Trennung zwischen subjektivem Erleben einerseits und objektiver Erkenntnis andererseits. Erkenntnis richtet sich auf die ‚Außenwelt‘ und begreift deren Objektivität als das, was verstandesmäßig erfassbar und zugänglich ist. Das subjektive Erleben und Empfinden der Welt bezieht sich demgegenüber ausschließlich auf die ‚Innenwelt‘. Es kann zwar durch äußere Eindrücke angeregt werden, ist aber nicht geeignet, die Welt ‚so wie sie ist‘ oder der menschlichen Erkenntnis zugänglich zu erkennen (ebd.). 74
Böhle bezieht sich auf die Rolle der sinnlichen Wahrnehmung bei der Herausbildung der neuzeitlichen Wissenschaften, ausführlich dargestellt bei: Kutschmann 1986; Klauß 1990; Hoffmann-Axthelm 1984: 24 f.; Böhme & Böhme 1985.
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In dieser Entwicklung wird deutlich, dass der Mensch zu Beginn der Neuzeit zur verstandesmäßigen Erkenntnis fähig ist, aber seine anthropologische Verfassung nur begrenzt darauf bezieht. Es wird jetzt notwendig, die für wissenschaftliche Erkenntnisse notwendige Kontrolle der Sinne, die Trennung zwischen subjektivem Erleben einerseits und objektiver Erkenntnis andererseits einzuüben. Ein anderer Umgang mit den Sinnen und dem Körper, der die Ablösung der sinnlichen Wahrnehmung vom subjektiven Empfinden gewährleistet, muss gefunden werden. Diese grundlegenden Veränderungen im Umgang mit den Sinnen und dem Körper manifestieren sich nicht nur in der Wissenschaft, sondern in der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. Die Durchsetzung eines wissenschaftlich geprägten Weltbildes und die Rationalisierung gesellschaftlicher Lebensbereiche gehen einher mit der gesellschaftlichen Einübung der Kontrolle der Affekte und Distanzierung gegenüber dem eigenen Körper sowie dessen Kontrolle und Disziplinierung. Und zugleich werden in diesem Prozess die unmittelbare körperliche Berührung und insbesondere das Riechen und Schmecken (erst) zu den ‚niederen‘ Sinnen, denen kaum (mehr) eine praktische Nützlichkeit für die Orientierung der Welt zukommt (ebd.: 165).75
Obwohl es kulturelle Gegenbewegungen zu diesem Weltverständnis wie den Sturm und Drang oder die Romantik und Philosophen wie Feuerbach76 und Nietzsche gab, die Gegner und Verächter der Leiblichkeit und der Sinnesempfindungen kritisierten, setzt sich bis heute „die Trennung und Gegenüberstellung von der Innenwelt des subjektiven Erlebens und Empfindens einerseits und der Außenwelt objektiver Erkenntnis und sachlichen Handelns andererseits“ durch, „so weit, dass sie schließlich als nicht mehr hintergehbare anthropologische Gewissheit erscheint“ (ebd.). Dieses gilt auch in unserer heutigen Zeit der Postmoderne, in der die Sinne und der Körper im Rahmen unserer immer stärker auf Erlebnisse ausgerichteten Gesellschaft eine wesentliche Rolle spielen, in der der Psychomarkt einschließlich seiner esoterischen und spirituellen „Subkulturen“ einen nicht endenden Boom erlebt. Sobald allerdings sinnliches Erleben oder Affekte mit Intelligenz verknüpft werden, wird dieses sofort als Abweichung von der Norm des Leitbilds intelligenten Handelns beschrieben, wie z. B. bei der „emotionalen Intelligenz“ (Goleman 1999). Diese viel zitierte und zur Erreichung der verschiedens75 76
Von besonderem Interesse sind die sozialhistorischen Untersuchungen von Elias (1976); Foucault (1976) und Corbin (1984). Z. B. Feuerbachs „Sentio ergo sum – Ich fühle, also bin ich“ als Gegenpol zu „Cogito ergo sum“.
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ten Ziele in Beratung und Coaching auch eingesetzte emotionale Intelligenz beschreibt allerdings nicht die Intelligenz affektiven oder emotionalen Handelns, sondern verhilft Personen zu einem bewusst kontrollierten Umgang mit ihren Emotionen. Entsprechend dieser in Jahrhunderten geprägten Trennung zwischen subjektivem Erleben und objektiver Wahrnehmung gibt es eine allgemeine gesellschaftliche Übereinstimmung, in der das Leitbild eines intelligenten Handelns sich auf verstandesmäßig geleitetes Handeln bezieht.77 Verstandesmäßig geleitetes Handeln hat nicht nur die Regulation und Kontrolle durch den Verstand als Grundlage, sondern auch eine bestimmte Struktur, die sich mit vier Kriterien beschreiben lässt: 1.
2.
3.
77 78
Das erste Kriterium bezieht sich auf den Grundsatz „erst Denken, dann Handeln“. Praktisches Handeln ist geplantes Handeln und hat nur den Rang der Ausführung, es dient zur Überprüfung und Veränderung getroffener Entscheidungen. Auch wenn die Planung wegen zu erwartender Probleme nicht detailliert oder nur in einzelnen, voneinander abhängigen Schritten erfolgen kann, bleibt sie im Vorrang gegenüber dem Handeln. Hier handelt es sich um sequenzielles (inkrementelles)78 Planen, das wie beim Schachspielen nur Zug um Zug erfolgen kann, da die Reaktionen des anderen Spielers nicht vollständig vorhersehbar sind. Das zweite Kriterium ist auf Wissen und Denken bezogen. Wissen ist durch seine Vorrangstellung bei der Planung zunächst unabhängig von der praktischen Erfahrung. Der Einbezug von Erfahrungswissen wird nur begrenzt umgesetzt, da die Prämisse lautet, dass nur durch eine verstandesmäßige, rational geführte Erkenntnis Erklärungen über die Welt gefunden werden können und dass unmittelbaren sinnlichen Erfahrungen mit Argwohn zu begegnen ist. Diesem Verständnis entspricht die hohe Wertschätzung logisch-analytischen Denkens, das wiederum die Trennung zwischen der Erzeugung und Aneignung von Wissen auf der einen Seite und praktischem Handeln und daraus resultierender Erfahrung entspricht. Das dritte Kriterium bezieht sich auf die sinnliche Wahrnehmung. Sie ist für die Orientierung in der Welt unverzichtbar, erscheint aber eher als sensomotorische Fähigkeit, die ähnlich den produktiven Ergebnissen einer präziIntelligenztests haben z. B. in erster Linie die Aufgabe, kognitiv-rationale Fähigkeiten zu messen. Inkrementelles Planen ist ein Begriff aus der Organisationstheorie.
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4.
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sen Maschine auf eine möglichst genaue und sichere Wahrnehmung von Informationen aus der Umwelt und auf die exakte Ausführung körperlicher Bewegungen beschränkt wird. Das vierte Kriterium bezieht sich auf die Beziehung zur Umwelt. Durch den Verstand geleitetes Handeln erzeugt eine distanzierte, sachliche und affektneutrale Beziehung zu Gegebenheiten und ebenso zu Schwierigkeiten, die gelöst werden müssen. Interessanterweise stehen positive Gefühle wie Freude, Leidenschaft und Interesse nicht nur nicht im Widerspruch zu dieser rational-distanzierten Einstellung zur Umwelt, sondern werden als notwendig und förderlich betrachtet, aber nur solange sie als Motivation und Antrieb dienlich sind. Bei der Analyse und Entscheidungsfindung sollen sie zur Vermeidung subjektiver Verzerrungen herausgehalten werden (vgl. ebd.: 166 ff.).
Das verstandesmäßig geleitete Handeln wird durch eine Anzahl gesellschaftlicher Institutionen und kultureller Orientierungen strukturell verfestigt. In der Bildung existiert ein Vorrang der primär geistigen Bildung und die Bevorzugung verstandesmäßig-rationaler gegenüber sinnlich-emotionaler und körperlich-praktischer Bildungstätigkeit. Die Arbeitswelt differenziert sich in intellektuelle, beschreibende, planend-dispositive und körperlich ausgeführte Arbeit, wobei die beschriebene Reihenfolge der hierarchischen Ordnung entspricht. Bekanntermaßen funktionieren Menschen allerdings nicht durchgängig nach dem Prinzip des verstandesmäßig geleiteten Handelns. Besonders bei Konflikten und Problemen handelt der Mensch nicht immer rational und planmäßig. Die Organisationstheorie hat hierfür den Begriff „Bounded Rationality“ (Simon 1957) geprägt, der verschiedene u. a. menschliche Hinderungsgründe nicht funktionierender organisationaler Prozesse beschreibt. Um das Rationalitätskonzept für die Organisationstheorie zu retten, wird eine Art begrenzte Rationalität eingeführt, die letztlich dazu führt, dass in Entscheidungsprozessen von Organisationen nicht die beste Lösung gewählt wird, sondern eine, die hinreichend zufriedenstellend ist. Im Verlauf eines Prozesses werden die Konsequenzen von Handlungen oder ihre Alternativen deutlich. Notwendige Entscheidungen werden getroffen und damit wird ein Repertoire zufriedenstellender Programme entwickelt, „die es ermöglichen, in ähnlichen Situationen erneut zu handeln oder unter alternativen Programmen zu wählen. Diese Programme funktionieren auch unabhängig voneinander“ (March & Simon 1958: 191, in Simon 2007: 31). Wenn sich Rationalität in dieser Form entwickelt, muss sie (aus der Außenperspektive) nicht optimal
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sein, sondern nur gut genug (befriedigend). „Dann kann man ja erst mal so weitermachen ...“ (Simon 2007: 31). Die Tatsache, dass zur Erklärung im Nachhinein logisch klingende Begründungen für aus der jeweiligen Situation heraus getroffene Entscheidungen erbracht werden, hat wenig mit den tatsächlichen Motiven zu tun. In der Regel sind sie in ihrer Komplexität weder in der aktuellen Situation durchschaubar noch in der Erinnerung rekonstruierbar. Dennoch werden nachträglich solche sinnstiftenden Erklärungen konstruiert („sensemaking“, Weick 1995), wodurch der Mythos der Rationalität kontrafaktisch aufrechterhalten wird (vgl. Simon 2007: 31). Das Konzept ist ein Zugeständnis an die Unzulänglichkeiten der Praxis und eröffnet keine grundsätzlich andere Perspektive der Problemlösung. Dementsprechend richten sich auch die Bemühungen darauf ‚Bounded Rationality‘ soweit wie möglich einzugrenzen oder zu kompensieren. Auch schrittweises, inkrementelles Problemlösen ist [...] keine Alternative, sondern lediglich eine Modifikation planmäßig-rationalen Vorgehens (Böhle 2009: 169).
Kritische oder ungewohnte Situationen, die sich täglich wiederholende (Arbeits-) Abläufe unterbrechen, können weder durch planmäßig-rationales Handeln noch durch routinisiertes Handeln erfolgreich gehandhabt werden. Deutlich wird, dass hier das Konzept der „Bounded Rationality“ zur Beschreibung nicht ausreicht, sondern dass es andere Handlungsweisen gibt, die sich vom Leitbild des planmäßig-rationalen Handelns deutlich unterscheiden. Diese anderen Handlungsweisen lassen mit einigen Merkmalen beschreiben. Ein Merkmal – und damit ist ein grundlegender Unterschied zum planmäßig-rationalen Handeln benannt – bezieht sich auf die Vorgehensweise. Diese ist explorativ-entdeckend und dialogisch. Der Mensch interagiert bei kritischen und ungewohnten Situationen mit Arbeitsmitteln und -gegenständen. Dabei sind notwendige Entscheidungen, wie ein Problem oder eine ungewohnte Situation gelöst werden können, unmittelbar in das praktische Handeln eingebunden. Dieses alles geschieht nicht als Ausführung einer vorangegangenen Analyse, sondern wird zum Mittel, um Eigenschaften und Wirkungsweisen konkreter Gegebenheiten zu erkunden. Die Planung und die Ausführung sind damit unmittelbar verschränkt (vgl. ebd.: 173).79 79
Böhle bezieht sich auf Untersuchungen, die überwiegend im Rahmen des Instituts für sozialwissenschaftliche Forschung e. V. München durchgeführt wurden und sich auf die theoretische und empirische Fundierung des Konzepts eines erfahrungsgeleitet-subjektivierenden Arbeitshandelns beziehen. Siehe zu diesem Konzept allgemein Böhle & Schulze 1997 sowie Böhle 2004. Im Einzelnen sind die Ergebnisse der empirischen Untersuchungen dargestellt in Böhle
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Explorativ-entdeckend und dialogisch ist z. B. die Fernwartung bei einem gestörten DSL-Anschluss. Der Techniker fragt am Telefon, ob bestimmte Lampen des DSL-Gerätes parallel und in einem bestimmten Abstand blinken. Unter Umständen kann die Antwort des Kunden mehrere Minuten dauern, bis sich beide über die Blinkfrequenz geeinigt haben. Oder der Techniker lässt das Gerät ausschalten, bedient seinerseits ein paar elektronische Regler zur Einstellung des Anschlusses, lässt den Kunden dann das Gerät neu starten und sich schildern, was passiert, um gegebenenfalls weitere Modifikationen vorzunehmen. Ein weiteres Merkmal, worin sich dieses (Arbeits-)Handeln von einem planmäßigen oder gewohnheitsmäßigen Handeln unterscheidet, betrifft die sinnliche Wahrnehmung. Subjektive Empfindungen und subjektive Verzerrungen erweisen sich hier nicht als störend, sondern im Gegenteil: Die Wahrnehmung von handlungsleitenden Informationen beruht wesentlich hierauf (ebd.: 174).
Vielen Menschen die regelmäßig mit einem oder mehreren technischen Geräten arbeiten, fällt sofort auf, wenn sich z. B. der „Klang“ eines Gerätes verändert, und wissen auf Grund des Klangs häufig sofort, ob eine ernst zunehmende Störung vorliegt. Ein drittes Merkmal des hier geschilderten (Arbeits-)Handelns bezieht sich auf Wissen und Denken. Im Unterschied zu wissenschaftlich begründetem (Fach-)Wissen wird hier Wissen im praktischen Handeln erworben und angewandt. Damit verbunden ist ein mit dem praktischen Handeln verbundenes mitlaufendes Denken im Sinne des von Schön (2002) festgestellten ‚reflection in action‘. Ergänzend zu dem Vergleich [...] ist ein solches Denken bildhaft und assoziativ. Ein aktuelles Ereignis löst Assoziationen an ähnliche Situationen aus, wobei teils unterschiedliche hiermit verbundene Erfahrungen und Erlebnisse vergegenwärtigt werden. Solche Situationen werden nicht analysiert, sondern erlebt. In ähnlicher Weise erinnert man sich an akustische Abläufe und Bewegungen. Eine wichtige Rolle spielt auch das ‚sich hineinversetzen‘. Damit ist nicht nur ein geistiger Akt gemeint, sondern vor allem auch ein emotionales und körperliches Einfühlen und Nachvollziehen. Dies bezieht sich nicht [nur (P.B.)] auf das Verhalten von Menschen, sondern auch auf technische und organisatorische Abläufe (Böhle 2009: 175).
Das beschriebene Handeln impliziert die parallele Vernetzung von dialogisch-interaktivem Vorgehen, empfindend-spürender sinnlicher Wahrnehmung, assozia& Milkau 1988; Böhle & Rose 1992; Bolte 1993; Carus & Schultze 1995; Pfeiffer 1999, 2004; Böhle et al. 2004; Weishaupt 2006; Dunkel 2006 sowie Cvetnik 2006.
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tiv-bildhaftem Denken und subjektivem Nachvollziehen. Es handelt sich um im praktischen Handeln gewonnenes Erfahrungswissen, das die verschiedensten Informationen in sich tragen kann. Die Beziehung zur Umwelt zeichnet sich durch Nähe, Einheit und Verbundenheit aus. Das letzte Merkmal zeigt einen weiteren Unterschied zu einem planmäßigrationalen Handeln auf. „Arbeitsmittel und -gegenstände werden nicht nur als ein Objekt, sondern als beziehungsweise wie ein Subjekt betrachtet“ (ebd.: 176). In vielen Situationen wird Technisch-materielles mit Lebendigem verglichen und die Technik wird personifiziert. Z. B. „reden“ viele Computernutzer mit ihrem Rechner, weil „er“ einen Befehl anders ausführt als gewollt, der Rechner abstürzt, dem Computer oder seiner Festplatte wird ein Name gegeben etc. Böhle schließt seine Darstellung mit der Frage nach einem „anderen“ Weltund Menschenbild ab. Die zentrale Aussage ist, dass u. a. in der Arbeitswelt Handlungsweisen gebildet werden, die gegenüber dem planmäßig-rationalen Handeln eine eigenständige Systematik und Handlungslogik aufweisen. Ein solches Handeln lässt sich als ein erfahrungsgeleitet-subjektivierendes Handeln bezeichnen. Erfahrung wird meist im Sinne eines Erfahrungsschatzes und Routine verstanden. Erfahrung meint hier jedoch vor allem ‚Erfahrung-machen‘ im Sinne eines ‚sich-einlassens‘. Die Bereitschaft und Fähigkeit, die Welt auf dem Wege des Erfahrens zu erkunden und kennen zu lernen ist hier die zentrale Grundlage von Wissen und Können. Subjektivierend ist ein solches Handeln, weil subjektive Faktoren wie Gefühl und Empfinden wesentliche Elemente sind und die Umwelt nicht wie ein Objekt, sondern wie ein ‚Subjekt‘ wahrgenommen wird (ebd.: 178).
Weiterhin stellt er fest: Die in modernen Gesellschaften etablierte und zur Selbstverständlichkeit gewordene Trennung zwischen objektiver, verstandesmäßig geleiteter Erkenntnis der Außenwelt einerseits und der ‚Innenwelt‘ des subjektiven Empfindens und Erlebens andererseits erweist sich als empirisch nicht haltbar. Verstand und subjektives Empfinden beziehen sich gleichermaßen auf das Erkennen der Außenwelt (ebd.: 179).80
Vor diesem Hintergrund thematisiert Böhle verschiedene Handlungsbereiche, die zu einer anderen Sichtweise des menschlichen Vermögens der parallel stattfindenden ‚objektiven‘ und ‚subjektiven‘ Wahrnehmung führen: Im Bereich der Bildung wäre beispielsweise neu zu fragen, welches menschliche Vermögen als bildungswürdig gilt und was zur Entwicklung menschlicher Fähig80
Schmitz (1994) führt eine grundlegende, erkenntnistheoretische Auseinandersetzung mit dieser Thematik
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keiten zählt. In der Arbeits- und Berufswelt wäre neu zu fragen, was die Kriterien für qualifizierte, höherwertige Arbeit sind. Bei der Entwicklung von Technik wäre neu zu fragen, in welcher Weise auch bei fortschreitender Technisierung und Computerisierung eine sinnlich-körperliche Mensch-Technik-Interaktion möglich und notwendig ist. Im Rahmen der Wissenschaft wäre neu zu fragen, in welcher Weise sie in der Lage ist, auch nicht-wissenschaftlich begründetes inkorporiertes (Erfahrungs-)Wissen anzuerkennen und zwar auch dann, wenn dies nicht vollständig rational nachvollziehbar und begründbar ist (ebd.: 179).
Ein Teil dieser Fragen wird auf einer individuellen oder gruppenbezogenen Ebene zumeist per se in Beratung und Therapie thematisiert, wobei die gesamtgesellschaftliche Perspektive in der Regel ausgelassen wird. Es soll allerdings die Frage gestellt werden, ob das dort bereits stattfindende Lernen des Umgangs mit und des Einlassens auf Emotionen und neuen Interaktionsmustern nicht auch in den Rahmen eines veränderten, neuen Welt- und Menschenbildes einzubetten wäre?
8.2 Homo oeconomicus, Homo ethicus und Homo politicus Die Notwendigkeit der Integration der beschriebenen Phänomene der Trennung zwischen objektiver, verstandesmäßig geleiteter Erkenntnis der „Außenwelt“ einerseits und der „Innenwelt“ des subjektiven Empfindens und Erlebens werden in der heutigen Zeit nicht nur aus einer sozialwissenschaftlichen Sichtweise eingefordert, sondern es werden auch in anderen Bereichen wie den Interaktionsprozessen in der Wirtschaft im Rahmen des Homo-oeconomicus-Modells lebensweltliche Bezüge und Begriffe wie Kohärenz zur Erzeugung stabiler Interaktionsmuster explizit herausgestellt. Das klassische Homo-oeconomicus-Modell versucht, verkürzt formuliert, zu belegen, dass die Vielfalt der Gründe und Motive, die uns lebensweltlich steuern, durch ein einzigen Motiv, nämlich die Optimierung des eigenen Nutzens, zu ersetzen sind. Wesentliches Merkmal des Modells ist die Rationalität. Der Homo oeconomicus ist nicht vernünftig im umgangssprachlichen Sinne, sondern zweckrational im ökonomischen Sinne. Eine Person ist hier rational, wenn sie nach dem Prinzip der individuellen Nutzenmaximierung handelt. Dazu muss sie ihre Interessen kennen und in Präferenzen formulieren können. Interessant ist an diesem Menschenbild, dass dieses Nutzenmodell eine erhebliche Kohärenzleistung voraussetzt, die darauf basiert, dass bei Personen die Gründe für ein bestimmtes Motiv zum Handeln kohärent sein müssen, gleich
8.2 Homo oeconomicus, Homo ethicus und Homo politicus
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worin diese Gründe bestehen (Nida-Rümelin 2009: 62 f.). Betont werden muss, dass für Kohärenz natürlich nicht nur Gründe oder Motive relevant sind, sondern dass Kohärenz nur dann stabile Informationen tragen kann, wenn sozusagen als Träger der entsprechende Affekt und der notwendige Wille ständig vorhanden sind. Ist die Kohärenz der Gründe nicht gegeben, ist nicht zu erkennen, wie Personen in kohärenter Weise handeln und wie sie sich über kohärentes Urteilen und Handeln als eigenständige Personen darlegen können. Die Nutzungszuschreibung erfolgt auf der Basis kohärenter Präferenzen, wobei die konkrete Wahl der Handlungsalternative entscheidend ist. Eine gedachte, nicht ausgeführte Handlungsalternative ist nicht maßgebend (vgl. ebd.: 56 f.) Diese im klassischen Homo-oeconomicus-Modell geforderte Integration unter ein Motiv (einen Nutzen) ist häufig nicht leistbar und aus wissenschaftlicher Sicht überholt (der Markt als Paradigma der Rationalisierung menschlicher Beziehungen). Außerdem wollen viele Personen diese Integrationsleistung aus ethischen Gründen auch teilweise nicht nachvollziehen. Andererseits ist Kohärenz auch für ethisch handelnde Menschen, die sich stärker am auch rational geprägten Bild eines Homo ethicus (idealtypisch im Sinne eines umfassenden Begriffs) orientieren, ein wesentlicher Baustein in der Umsetzung ihrer gewählten Ideale und der daraus entwickelten Ziele. Der Idealtypus des Homo ethicus lässt sich durch Beachtung der Regeln des Anstands, der Rücksichtsnahme, der Kooperationsbereitschaft, der Verpflichtungen in bestimmten Rollen und des Zugestehens individueller Rechte, die starken Einfluss auf unsere Lebenswelt haben, beschreiben. Die Integration der Kohärenz erfolgt darüber, dass die einzelne Person in ihrer Lebenswelt die Gründe, die sie hat, in der Form integrieren muss, dass sie kohärent leben kann und sich nicht selbst behindert. Eine Kohärenz der eigenen Lebenspraxis setzt kohärente Präferenzen voraus und dieses über verschiedene Zeitpunkte einzelner punktueller Handlungen hinaus. Die Beweggründe und Motive des Homo oeconomicus und des Homo ethicus können auf der Basis einer Abwägung zueinander kohärente Präferenzen ausbilden. Hierdurch spiegelt sich die Einheit der Person, es wird erfahrbar, was eine Person anstrebt und was für eine Person wichtig ist. Die Beweggründe, nach denen eine Person kohärente Präferenzen ausbildet, müssen inhaltlich nicht überzeugen, aber die Person muss in sich zum Teil kohärent sein, um zu überzeugen.
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Nida-Rümelin beschreibt das aktuelle Verhältnis von Homo oeconomicus und Homo ethicus in der Form eines Kontinuums: Auf der einen Seite der Welt ist die von moralischen Gründen gesättigte Lebenswelt der menschlichen Nahbeziehungen anzusiedeln, auf der anderen Seite befinden sich dagegen die hochkomplexen, mit juridischen Regeln ausgestatteten funktionalen Interaktionssysteme moderner Gesellschaften wie zum Beispiel die Wirtschaft. Zwischen diesen Polen gibt es fließende Übergänge; das heißt, selbst dort, wo eigentlich jede Vereinbarung und jedes Detail juristisch festgehalten werden muss und wo Treue und Glauben nicht mehr funktionieren, gibt es Vorbedingungen von Interaktion, die nicht durch juridische Regel oder Nutzenkalkül gefasst werden können. Die moderne Sprachphilosophie belegt dies, da nach den neuesten Erkenntnissen ohne einen gewissen Vertrauensvorschuss, den man dem anderen entgegenbringen muss, jegliche Form von Verständigung kollabiert. So argumentiert etwa Donald Davidson, dass wir uns bereits über sehr viel einig sein müssen, um uns überhaupt streiten zu können; genauso müssen wir auch davon ausgehen, dass uns unser Gegenüber nicht kontinuierlich anlügt, sondern dass der Großteil dessen, was es sagt, auch dem entspricht, was es tatsächlich glaubt (vgl. Davidson 1984). Ohne diese lebensweltlich verankerten Regeln bricht die ganze Verständigungspraxis zusammen – und man stelle sich nur einmal ein ökonomisches System ohne jede Verständigung vor. Das heißt also, dass wir auch in den streng reglementierten funktionalen Feldern des skizzierten Kontinuums nach immer schon gegebenen, lebensweltlichen Regeln der Verständigung, des Vertrauens, der Interaktion und der Kooperation entscheiden und handeln. [...] Der Homo oeconomicus ist, diesem Verständnis nach, nichts anderes als derjenige Homo ethicus, dem es gelingt, die Abwägung seiner Gründe so vorzunehmen, dass seine Präferenzen kohärent sind (Nida-Rümelin 2009: 62 ff.).
Auch der Homo politicus, ein weiteres aktuelles Menschenbild, ist den beschriebenen Veränderungsprozessen, die hier nicht auf politische Arbeitsbereiche hin untersucht werden, unterworfen. Definieren lässt er sich als eine Person, die sich gegenüber der Gemeinschaft und dem Staat verpflichtet fühlt, politisch zu handeln; als Berufspolitiker im engen Sinne, als politisch denkender und handelnder Mensch im weiteren Sinne. Der „Homo politicus“ in einem allgemeineren Sinn ist eher im Verschwinden begriffen, vor allem in dem ehemals positiv definierten Sinn. Die Anzahl der politisch engagierten und informierten Personen nimmt zunehmend ab. Gründe hierfür sind ein wachsendes Misstrauen gegenüber Politik und Politikern, die nicht immer im Sinne des Gemeinwohls handeln und die großen ökonomischen, ökologischen und sozialen Probleme, zu deren Lösung Berufspolitiker beitragen sollen (vgl. Strohschein 2008: 16 f.). Aus dem bisher Dargestellten ist klar erkennbar, dass eine zunehmende Fragmentierung bisheriger klassischer Welt- und Menschenbilder stattfindet und Tendenzen einer Weiterentwicklung eindeutig in eine integrative Richtung ge-
8.3 Werteökologie und Homo oecologicus
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hen, in der die Verbindung von Rationalität und Emotionalität, von Kognition und Affekt nebst den dazugehörenden Wahrnehmungs- und Handlungsqualitäten thematisiert werden und eine andere Sicht der Welt und des Menschen einfordern.
8.3 Werteökologie und Homo oecologicus Vor diesem Hintergrund erscheint der Entwurf des Menschenbildes eines Homo oecologicus von Interesse, der auf der Basis einer Werteökologie ein neues resp. um ökologische Potenziale erweitertes Menschenbild beschreibt. Als idealtypisches Modell könnte der Homo oecologicus unter Einbeziehung bereits vorhandener alternativ-ökologisch ausgerichteter Lebensformen u. a. folgende Eigenschaften haben:
Er ist an sozialen Bindungen interessiert. Er lebt in Gemeinschaften. Er vernetzt sich. Er engagiert sich in ehrenamtlichen Projekten. Er übt seinen Beruf gemäß seiner Werte aus. Er liebt die Natur. Er ist nicht nur selbstbezogen, sondern empathiefähig. Karriere und Geld sind für ihn Mittel zum Zweck und nicht heiligstes Ziel. (vgl. Strohschein 2008: 17 f.)
Der Homo oecologicus definiert sich weitgehend über die Ziele und Werte der Umwelt- und Nachhaltigkeitsbewegung, die das ökologische Handeln gegenüber anderen Personen, der Umwelt und Natur in den Vordergrund ihrer Handlungsziele stellt. Hier finden sich Personen und Gruppen, die sich ehrenamtlich engagieren und für Umweltschutz, Naturschutz und Nachbarschaftshilfe einsetzen. Sie entwickeln z. B. alternative Lebensformen, beschäftigen sich mit alternativer Medizin und weiteren Formen natürlicher Heilungsverfahren. Sie kommunizieren in Netzwerken und sind mit NGOs81 global vernetzt. Die Basis eines idealtypischen Homo-oecologicus-Modells ist das Konzept der Werteökologie, die den Zusammenhang zwischen dem Menschen und dem Lebensraum, in dem er existiert, beschreibt. Mit diesem Lebensraum geht ein 81
Non-Governmental Organiziations.
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nach den Prinzipien der Werteökologie lebender Mensch wertschätzend um, weil er ganzheitlich denkt und handelt. Die ausgearbeiteten Kriterien für Nachhaltigkeit auf der Konferenz der Vereinten Nationen von Rio de Janeiro 1992 (s. Kap. 2) werden damit in alle Lebensbereiche hinein konsequent weiterentwickelt. Der Wortstamm „Öko“, der auch im Kontext mit Ökonomie verwendet wird, steht für Haus und Gemeinschaft. Der ursprüngliche „gute“ Ökonom oder Ökologe verwaltet und fördert sorgsam seine Lebensverhältnisse – das heißt Haus, Hof, Gemeinschaft, Gesellschaft, Natur. Sinnvolle Handlungskonsequenzen aus den Erkenntnissen von Ökologie und Ökonomie können nur aus einer gut reflektierten und begründeten Wertebasis abgeleitetet werden. Es reicht z. B. nicht, das Schmelzen der Gletscher nur zu beobachten. Die Gesellschaft (oder deren Protagonisten) muss das Phänomen in seiner Bedeutung für das ganze Ökosystem der Erde richtig erfassen, bewerten und entsprechend in konsequentes Handeln umsetzen (Arbeitsgruppe Ökotherapie 2006). Das komplexe Wissen um das sinnvolle Engagement einer ökologischen Lebensausrichtung definierte Haeckel, einer der Begründer der Ökologie, relativ umfassend: „Unter Oecologie verstehen wir die gesamte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle ‚Existenz-Bedingungen‘ rechnen können“ (Haeckel [1866] 1988: 236). Die Werteökologie versteht sich als Beginn einer Gegenbewegung zu einem gesamtgesellschaftlich zunehmenden (Lebens-)Sinnverlust und Werteverfall. Diese gehen mit einer Bewusstlosigkeit im Sinne einer eingeschränkten Wahrnehmung und fehlenden Reflexionsfähigkeit für unterschiedlichste Lebens- und Arbeitsprozesse, einer mangelnden Antizipationsfähigkeit, Reduktionismus hinsichtlich politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen und zunehmenden Unfähigkeit zur Empathie einher. Vor diesem Hintergrund stellt die Werteökologie eine Verbindung zwischen Ökologie und Werteorientierung her. Der Begriff schließt Konzepte und Gestaltung neuer sozialer Lebensformen, potenzielle neue Ausbildungswege (z. B. Werteökologe) und eine komplexe Art des Denkens und Handelns dar, die in einer engen Verzahnung mit anderen Menschen, der Natur, der situativ gegebenen gesellschaftlichen Umwelt und dem Globus als Lebensraum interagieren. Werte im Sinne einer Werteökologie bezeichnen nicht bürgerliche Tugenden, Ideale und Forderungen, die der Mensch im Lauf seiner Entwicklung hervorgebracht hat, sondern hier ist der Wert gemeint, der in der schöpferischen und geschaffenen lebendigen Substanz, die „in der Sache“ selbst – im Menschen wie in der Erde selbst – liegt, wahrzunehmen, zu erkennen und
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das Handeln nach dieser Erkenntnis auszurichten. Notwendig ist eine Erkenntnis des Wertes der Erde und des Menschen an sich. Diese Erkenntnis impliziert einen Umgang mit der Natur und den Menschen, der sich durch einen weisen, respektvollen Verzicht auf Machbarkeit, Expansion und Überwältigung im Umgang mit diesen auszeichnet.
Der Planet Erde und die Geschöpfe, die auf ihm leben, haben einen Wert an sich. Der Mensch hat einen Selbstwert und die Fähigkeit, sich selbst und seine Lebensbedingungen zu erkennen, zu erhalten und zu gestalten. Aus der Erkenntnis des Wertes von Planet und Mensch, dem damit verbundenen Wissen und den damit verbundenen Handlungen folgt Wertschätzung.
Da die Gesellschaft von Menschen hergestellt und nicht auf mysteriöse Weise von abstrakten Zwängen gesteuert wird, ergibt sich eine Frage zentraler Bedeutung: Wie gehen Menschen mit ihren Mitmenschen und der Erde um? Sehen und begreifen sie den Wert ihrer selbst, den Wert der Erde? Im Rückgriff auf den Begriff des Selbstwertes besteht die Forderung darin, sich der eigenen Möglichkeiten und Grenzen bewusst zu sein und diese zu akzeptieren. Der Begriff der Wertschätzung bedeutet in diesem Rahmen, eine bewusste, bejahende und interessegeleitete Beziehung zu sich selbst, zu anderen und zur unmittelbaren Lebenswelt aufzubauen – dieses auch als Basis für die Lösung von Aufgaben und Konflikten. Eine generelle Einsicht, dass Wertschätzung lebensnotwendig ist, würde weitreichende Folgen mit sich bringen, nicht nur für das Individuum, sondern ebenso für ein globales Verständnis vom Menschen und der Erde, auf der er lebt (vgl. Strohschein 2008: 8 f.). Wesentliche sozial-gesellschaftliche Werte der westlichen Kultur im Sinne von Idealen wie Freiheit, Individualität, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit sind natürlich auch in der Werteökologie enthalten und lassen sich mit dem Begriff der Wertschätzung vernetzen. Ebenso sind auch bürgerliche Ideale wie Anstand, Ehrlichkeit, Zuverlässigkeit, Fairness und Loyalität notwendig, allein schon um eine potenzielle Handlungstheorie der Werteökologie begründen zu können. Eine Person, die andere wertschätzt, wird vermutlich anständig, ehrlich, zuverlässig, fair und loyal in ihren Beziehungen sein. Der Begriff Werteökologie integriert einen durch Lernerfahrungen bewusst hergestellten Zusammenhang zwischen Bewusstsein, Wissen und Handeln, der sich wertschätzend auf einen sinnvollen und lebenserhaltenden Umgang des
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Menschen mit sich selbst und seiner Lebenswelt bezieht. Diese Beziehung ist in der Werteökologie durch Wertorientierung und Wertschätzung der Handelnden geleitet. Um die Wechselbeziehungen und ihre Gesetzmäßigkeiten zu erkennen sowie entsprechend wertorientiert zu handeln, sollen Bewusstsein, Wissen und Handeln miteinander vernetzt entwickelt werden. Das Bewusstsein soll sich auf den Erhalt, die Pflege und den sorgfältigen Umgang mit Mensch und Erde ausrichten. Es ermöglicht das Formulieren der gesellschaftlichen Visionen einer Erde, die von den Geschöpfen, die auf ihr und von ihr leben, erhalten und gestaltet wird. Das Wissen muss interdisziplinär sein. Es impliziert Kenntnisse von Wechselwirkungsbeziehungen zwischen ökonomischen, politischen, kulturellen, psychischen, sozialen Wirkmechanismen, die von Menschen entwickelt wurden und die sich wiederum auf Menschen auswirken. Traditionelles und neues Wissen aus Wissenschaft und Erfahrung und die daraus folgenden Handlungen dienen dazu, diese Vision aus den realen Möglichkeiten abzuleiten, zu formulieren und zu konkretisieren. Handlungen und damit konkrete Veränderungen in sozialen und gesellschaftlichen Beziehungsgeflechten müssen als permanenter Prozess laufend reflektiert werden. Hier besteht auch die Möglichkeit, neue Berufsbilder und -felder zu erschließen. Bewusstsein, Wissen und Handlungen können in einer strukturierten, neu zu schaffenden Ausbildung für Werteökologen geschult werden (vgl. ebd.: 9 f.). Der Referenzrahmen der Werteökologie besteht nach Strohschein einerseits aus äußerlichen Rahmenbedingungen, die der praktischen Umsetzung der Idee der Werteökologie entgegenkommen, andererseits aus emotionalen und kognitiven wertorientierten Einstellungen von Personen, die sich stärker mit einer ökologisch geprägten Sichtweise der Realität auseinandersetzen. Der äußere Bezugsrahmen bezieht sich auf unterschiedliche gesellschaftliche Strömungen und Trends wie die Umwelt- und Nachhaltigkeitsbewegung, in der Menschen in allen möglichen Zusammenhängen (in Gruppen, Vereinen, Firmen, NGOs, Umweltministerien) ökologisch und nachhaltig handeln. Hier sieht sich die Werteökologie im Kontext politischer Verantwortung und Einflussnahme, wie z. B. die gesamtgesellschaftliche Wahrnehmung der Klimafolgenforschung intensiviert wird und darüber Möglichkeiten der schnelleren Umsetzung klimapolitischer Ziele erreicht werden können. Ebenso setzt sie sich in Beziehung zu der zunehmenden Sehnsucht nach Sinn und Gemeinschaft in unserer Gesellschaft und bietet mit ihrem auf Wertschätzung von Mensch und Natur beruhenden Kerngedanken sowohl ökologisch, spirituell oder auch nach anderen Lebensformen Suchenden (z. B. Mehrgenerationenhaus) Anknüpfungspunkte an.
8.3 Werteökologie und Homo oecologicus
237
Der Thematik lebenslanges Lernen und Weiterbildung steht sie nicht nur aufgeschlossen gegenüber, sondern diese lässt sich als ein grundlegendes Prinzip bezeichnen, da ökologische (Weiter-)Entwicklungen in unserem Zeitalter auf Grund der dramatischen Umweltentwicklungen per se nur noch über reflexive Lernprozesse und -inhalte zu handhaben sind. Der innere Bezugsrahmen der Werteökologie basiert im Wesentlichen auf wertorientierten Einstellungen: Hoffnung als Handlungspotenzial auf ein anderes, besseres oder sinnvolleres Leben, Versöhnung als Weg der Lösung von offenen belastenden Konflikten und Problemen, Empathie als Lernpotenzial, andere Standpunkte nachvollziehen zu können, und Entwicklung eines Bewusstseins der schöpferischen Kraft des Menschen und des Universums. Die Werteökologie fordert in einem gewissen Sinn auch eine Rückbesinnung und Wiederankoppelung an humanitäre Wertvorstellungen. Menschen sollen wieder ihre Lebensbedingungen im Blickfeld haben und ihre Visionen, ihr Wissen und ihr Handeln auf das Ziel richten, den evolutionären Prozess nicht zu (zer-)stören, sondern konstruktiv und dienend zu fördern (vgl. ebd.: 20 ff.). Die aufkommende Frage, ob der Homo oecologicus ein Menschenbild der nahen Zukunft ist, bleibt hier unbeantwortet: Möglich wäre es, über dieses Modell eine stärkere Hinwendung zur und Vernetzung mit der Natur und dem Lebensraum Erde zu entwickeln. Aus der bisherigen Darstellung wird deutlich, dass die beschriebenen Ansätze der Veränderung von Welt- und Menschenbildern in die Richtung der stärkeren Sublimierung des Lebensprozesses gehen. Durch diese Veränderungen der Wahrnehmungen, Interessen und der Welt- und Menschenbilder besteht auch im Rahmen von Beratung und Therapie auf Grund der zunehmenden Komplexität der Welterfahrung die Notwendigkeit, nicht nur die Selbstbeobachtung (z. B. am Arbeitsplatz), sondern auch die Umweltbeobachtung um immer weitere Formen selbstreflexiver Erfahrungsgewinnung zu ergänzen. Wie ausgeführt, plädiere der Autor hier für die individuelle Auseinandersetzung mit vorhandenen potenziellen Menschenbildern, da hinsichtlich dieser Themen mit den Klienten aus Beratung und Therapie dialogische Prozesse auf einem hohen Komplexitätsniveau entstehen können. Hieraus ergeben sich neue Lernprozesse und -potenziale. Wie bereits ausführlich beschrieben (Kapitel 3 und 4) ist der Klient innerhalb sozialer Systeme aufgefordert zu lernen, sich auch als Element der von ihm wahrgenommenen Systeme zu begreifen und zu verhalten. Die durch Übung in sozialen Systemen erworbene Verstärkung selbstreflexiver und selbstregulativer Kommunikation
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8 Lernpotenziale in Welt- und Menschenbildern
bildet sich über sich wiederholende Lernprozesse zu einem Wesensmerkmal aus, das in unterschiedlichsten Lebenssituationen von Nutzen ist. Ein weiterer dargelegter Aspekt ist, dass die immer noch überwiegend lineare und sukzessive Informationsverarbeitung durch eine assoziative Parallelverarbeitung (gleichzeitige Wahrnehmung und Interpretation unterschiedlichster Informationen, vgl. Giesecke 2002) zumindest in einigen Lebensbereichen ersetzt oder in Frage gestellt wird. Dieses relativiert nicht nur eingespielte Wahrnehmungsprozesse, sondern es führt zu einer Flexibilisierung der Kommunikationsmöglichkeiten und ihrer -struktur. Aus der Zunahme an „Sowohl-als-auch-Möglichkeiten und -Lösungen“ ergibt sich eine Steigerung der kommunikativen Komplexität. Wenn z. B. die Gesprächspartner oder Klienten die Möglichkeit haben, die Regeln des auf die Umwelt bezogenen Handelns selbst festzulegen und sie im Gespräch so aushandeln, wie sie für die Befriedigung der Bedürfnisse der Beteiligten am günstigsten sind, so verlangt dies von ihnen parallel Kreativität und selbstreflexive Aufmerksamkeit. Zur Verarbeitung dieser vielfältigen unterschiedlichen Informationen der Umwelt und des Individuums wird Kommunikation und Dialog eine noch wesentlichere Rolle spielen, um die zunehmende Komplexität der Erfahrung adäquat verarbeiten zu können.
9 Förderung ökologischer Kompetenz in Beratung und Therapie
Vor dem Hintergrund der Ansätze der sozial-ökologischen Bildung als bewusste Abkehr von der Orientierung an Verhaltensmodifikationen (Kyburz-Graber et al. 2001) und der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung (Michelsen & Godemann 2005, s. Kap. 2), die im Begriff der „Gestaltungskompetenz“ für die individuelle und soziale Umwelt kumuliert, werden im Folgenden mit Hilfe definierter ökologischer Strategiestufen Möglichkeiten aufgezeigt, in welchem Rahmen sich ökologische Bildungsstrategien in den Beratungs- und Therapiealltag integrieren lassen und ob die Integration dieser Interventionen ein Unterstützungsfaktor für diese Arbeit sein kann. Grundlage hierfür ist „BEST 1 und 2 – Basic Ecological Strategies 1 und 2“, ein zweistufiges ökologisches Bildungskonzept für strategisches Umwelthandeln von Individuen von Bilharz und Gräsel (2006). Der Begriff strategisches Umwelthandeln bezeichnet dabei ein zielorientiertes Vorgehen nach einem langfristigen Plan, der eine größtmögliche Reduktion von Umweltschäden anstrebt. Die erste Strategiestufe BEST 1 >...@ ist ausschließlich individuumszentriert. Sie beinhaltet die Optimierung der persönlichen Ökobilanz durch individuelles Handeln. Wechselwirkungen zwischen kollektiven Akteuren werden nicht beachtet. Dies geschieht in der zweiten Strategiestufe BEST 2 >...@. Diese hat die Optimierung der kollektiven Ökobilanz zum Gegenstand. Die Gestaltung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen für ökologisches Handeln wird >hier (P. B.)@ berücksichtigt (ebd.: 1).
In einem ersten Schritt wird im Folgenden die Strategiestufe BEST 1 mit Aussagen des Autors zu einer möglichen Verwendung in Beratungs- und Therapieprozessen dargestellt. In seiner Operationalisierung als handlungsorientierter Beratungs- und Therapieansatz ist er sowohl für Einzelpersonen als auch für Gruppen und Organisationen einsetzbar. Die Strategiestufe BEST 2 geht über das individuelle ökologische Handeln hinaus und thematisiert auf einem abstrakteren Niveau, wie Personen in der
P. Busch, Ökologische Lernpotenziale in Beratung und Therapie, DOI 10.1007/ 978-3-531-92754-1_10, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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9 Förderung ökologischer Kompetenz in Beratung und Therapie
Gruppe ökologische Rahmenbedingungen verändern können, z. B. durch die Mitarbeit in und/oder finanzielle Unterstützung von Verbänden, Wahrnehmung eines politischen Mandats, Beteiligung an Protestaktionen wie Unterschriftensammlungen oder Demonstrationen oder durch indirektes politisches Handeln, wie Wirkungen von Nutzungs- und Investitionshandeln auf andere Akteure durch Konsum oder Kauf umweltfreundlicherer Produkte usw. Wesentliches Ziel von BEST 1 & 2 ist der Aufbau ökologischer Kompetenz. Hierzu ist es notwendig, spezifische „ökologische“ Kompetenzen als Beratungs- und Therapieziel herauszuarbeiten, die dann neben anderen Zielen Gegenstand der Beratung und Therapie sein können. Als ökologische Kompetenzen werden hier jene Wissensvoraussetzungen bezeichnet, die auf ökologisches Handeln bezogen sind (vgl. Gräsel 2003). Damit wird berücksichtigt, dass der Begriff der ökologischen Kompetenz immer auf Handlungen oder Handlungskontexte verweisen muss, in denen dieses Wissen im Alltagshandeln auch angewendet werden kann. In den folgenden Strategiestufen finden sich auch alle ausgeführten Themen der vorhergehenden Kapitel wieder, werden aber nicht explizit im Einzelnen benannt: Sich-selbst-ähnliches-Lernen, Antizipation, Motivation (Wille), Selbstveränderung, Strategie und die Auseinandersetzung mit einem ökologischen Weltund Menschenbild.
9.1 Strategisches Umwelthandeln I als Lehr- und Lernziel Die erste Strategiestufe BEST 1 hat den individuellen Konsum zum Thema. Die Kernaussage der Strategie zielt auf die Reduktion von Umweltschäden durch eine Optimierung der persönlichen Ökobilanz. Diese Strategie basiert auf vier zentralen Kompetenzbereichen, die im Folgenden näher dargestellt werden: 1. 2. 3. 4.
Bilanzperspektive Berücksichtigung von Ressourcenrestriktionen Hierarchisierung von Handlungsoptionen mittels Indikatoren Dauerhafte Verankerung von Handlungsmaßnahmen.
1. Die Bilanzperspektive bezieht sich auf die Frage ‚Wodurch ist ökologisches Alltagshandeln gekennzeichnet‘? Bevor die Bilanzperspektive selbst beschrieben wird, werden zum besseren Verständnis Irrtümer und potenzielle Fehlerquellen ökologischen Handelns aufgezeigt.
9.1 Strategisches Umwelthandeln I als Lehr- und Lernziel
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Für jede umweltfreundliche Entscheidungssituation können unterschiedliche Handlungsoptionen im Hinblick auf ihre ökologischen Folgen betrachtet werden. Auf diese Weise kann jeweils eine Handlungsoption angegeben werden, die am wenigsten Umweltbelastungen hervorruft, z. B. ein Umwelttipp. Bei der Operationalisierung „ökologischen Handelns“ im Alltag wenden Menschen in der Regel eine solche Einzelfallbetrachtung an, wie sie sich auch in der zahlreichen Ratgeberliteratur wiederfindet (vgl. Preisendörfer 1999, in Bilharz & Gräsel 2006: 2.1). Ökologisch handelt, wer den Müll sortiert, das Licht ausschaltet, Eisenbahn und Bus fährt etc. Personen handeln umso ökologischer, je häufiger sie derartige umweltfreundliche Optionen wählen. Diese Form der Zielfindung ökologischen Handelns wird als ‚additive Einzelfallorientierung‘ bezeichnet. Diese kann allerdings für den Einzelnen mit dem Problem der Unübersichtlichkeit beziehungsweise vereinfachten Lösungsstrategien daraus verbunden sein. Es gibt für jede individuelle ökologische Entscheidungssituation mindestens einen Umwelttipp. Hier ist die Gefahr einer nicht mehr zu überblickenden Unübersichtlichkeit ökologischen Handelns und der damit verbundenen Entscheidungskriterien groß. In Beratungs- und Therapiesituationen geht es auch in anderen Bereichen als dem ökologischen häufig um Unübersichtlichkeit und die Unfähigkeit, Alltagsphänomene richtig einzuordnen. Es gibt Lebenstipps, die zwar befolgt werden, aber zur Lösung für Probleme zu kurz greifen. Potenziell kann die Thematisierung einer ökologisch klaren Ausrichtung in Beratungsprozessen auch für andere Entwicklungsprozesse hilfreich sein. Ökologisches Handeln unterliegt einer intensiven Rezeptorientierung. Die Unübersichtlichkeit der Umwelttipps fördert eine Orientierung an einfachen Rezepten oder an eindeutigen Verhaltenshinweisen. Dieses kann damit einhergehen, dass ökologische Probleme mit einfachen Kausalketten erklärt werden (vgl. Böhm & Mader 1998, in Bilharz & Gräsel 2006: 2.1). Umfangreiches Zusammenhangswissen erscheint den Handelnden eher hinderlich als förderlich zu sein, da es die Unübersichtlichkeit der Entscheidungssituationen tendenziell erhöht. In Beratungssituationen sind häufig Reduzierungen der Komplexität erforderlich oder vom Klienten(-system) auch gefordert. Sie wünschen sich ein Rezept um die Komplexität des Alltags „besser“ handhaben zu können und erleben Zusammenhangswissen hinsichtlich potenzieller Entscheidungssituationen zum Teil auch als hinderlich und unübersichtlicher.
242
9 Förderung ökologischer Kompetenz in Beratung und Therapie
Um die Unübersichtlichkeit im ökologischen Handeln zu reduzieren, werden einzelne Handlungsoptionen oder einzelne Umwelttipps symbolisch aufgeladen. Der Preis hierfür ist eine verstärkte Emotionalisierung und Fixierung auf teilweise für ökologisches Handeln wenig relevante Aspekte (z. B. die Verwendung von Alufolie). Eigenes und fremdes Handeln wird nicht in Bezug auf rational begründbare, sondern in Bezug auf symbolisch als wichtig erachtete Beurteilungsmaßstäbe bewertet. Dies erschwert einen rationalen Diskurs und damit auch eine verständigungsorientierte Kommunikation (vgl. Kahlert 1990, in Bilharz & Gräsel 2006: 2.2). Auf die symbolische Aufladung (Projektion, Übertragung) spezifischer Themen und Personen in der Einzel-, Paar-, Familien- und selbst in der Organisationsberatung braucht hier nicht näher eingegangen zu werden. Hier sind die ‚symbolisch als wichtig erachteten Beurteilungsmaßstäbe‘ von Interesse, deren Veränderung in Richtung einer objektiven Sichtweise offensichtlichste Parallelen zum Beratungsprozess aufweist. Der Blick auf den Einzelfall fördert schließlich das Phänomen des Rebound-Effektes (vgl. Sachs 2002: 52 f., in Bilharz & Gräsel 2006: 2.2), bei dem Minderungen der Umweltbelastung in einer einzelnen Situation durch die ökologischen Folgen anderer Handlungsweisen konterkariert werden. Ein ReboundEffekt im engeren Sinne liegt vor, wenn Öko-Effizienz-Gewinne zur Ausweitung des Konsums in diesem Bereich genutzt werden. Es wird z. B. eine größere Wohnfläche angemietet oder erbaut, weil moderne Heizungen energieeffizienter arbeiten. Auch hier liegen Parallelen zum Beratungsprozess vor: Es geht um ein verantwortungsbewusstes Umgehen mit sich und seiner sozialen und ökologischen Umwelt, also um die Vermeidung oder Nichtnutzung möglicher ReboundEffekte. Ein erster Schritt, um diese skizzierten Probleme einzuschränken, ist die Entwicklung einer übergeordneten Zielperspektive. BEST 1 setzt deshalb eine Bilanzperspektive an die Stelle der additiven Einzelfallorientierung. Eine Bilanzperspektive beinhaltet zweierlei: Erstens werden nicht nur einzelne Maßnahmen, sondern die Summe aller Maßnahmen betrachtet. Zweitens werden diese durch einen einheitlichen Maßstab vergleichbar gemacht. Für ökologisches Handeln bedeutet dieses die Fokussierung auf die durch die Maßnahmen beeinflussten Größen wie Energie-, Material- und Flächenverbrauch. Hierdurch kann ein Gesamtwert im Sinne des persönlichen Umweltverbrauchs ermittelt, sprich eine persönliche Ökobilanz erstellt werden.
9.1 Strategisches Umwelthandeln I als Lehr- und Lernziel
243
optimierte individuelle Ökobilanz Ziel
Mittel individuelles ökologisches Handeln Abbildung 14: Ziel und Mittel im Strategiekonzept BEST 1 (Bilharz & Gräsel 2006: 2.1)
Ziel ist es dann, den individuellen Energie-, Material- und Flächenverbrauch insgesamt zu reduzieren. Die Realisierung verschiedener Tipps im Einzelfall ist hingegen nur noch ein (mögliches) Mittel zur Erreichung dieses Ziels, wie in Abbildung 14 dargestellt. Wenn der Einzelfall nicht mehr Ziel, sondern Mittel zur Erreichung übergeordneter Zielbereiche ist, hat dieses mehrere Folgen:
Einzelfälle können in Form einer Bilanz aggregiert werden. Dieses ermöglicht eine abstraktere und damit flexiblere Zielformulierung. Die Unübersichtlichkeit wird durch grundlegende Kategorien strukturiert, die aus den übergeordneten Zielbereichen gebildet werden (Energie-, Material-, Flächenverbrauch). Hierdurch können symbolische Überhöhungen von nebensächlichen Aspekten oder das Verwenden vereinfachter Regeln vermieden werden. Die Bedeutung des Einzelfalls sinkt, was eine emotionale Bindung an diesen oder eine symbolische Überhöhung unwahrscheinlicher macht. Rebound-Effekte werden sichtbar.
Eine Bilanzperspektive ermöglicht somit die Verringerung der mit der additiven Einzelfallorientierung einhergehenden Probleme und bildet deshalb die Grundlage für die Zielformulierung in Strategiestufe BEST 1: die Optimierung der persönlichen Ökobilanz. Einzelne ökologische Handlungsoptionen sind nicht mehr per se anzustreben, sondern als ein Mittel unter anderen im Hinblick auf ihren
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9 Förderung ökologischer Kompetenz in Beratung und Therapie
Beitrag zur Zielerreichung zu hinterfragen. Hieraus ergeben sich verschiedene Fragestellungen, wie z. B.: Welcher Aufwand ist damit verbunden, wie relevant ist der Beitrag zur Zielerreichung und von welcher Dauer ist der Beitrag? (vgl. ebd.: 2.1). Es erhebt sich die Frage, wie Berater oder Therapeuten und (Klienten-) System eine optimierte individuelle Ökobilanz aufstellen können, beziehungsweise einen ökologischen Prozess in ihre Arbeit integrieren können. Auch im Rahmen beraterischer und therapeutischer Arbeit können hier grundlegende Kategorien strukturiert werden, die aus übergeordneten ökologischen Zielbereichen gebildet werden (Energie-, Material-, Flächenverbrauch). Es können beispielhaft parallel zu im Beratungs- und Therapieprozess auftauchenden Projektionen symbolische Überhöhungen von nebensächlichen Aspekten oder das Verwenden von zu vereinfachenden Regeln aufgezeigt werden. Einzelne Beratungsinhalte beziehungsweise Verhaltensmuster der Klienten werden wie Einzelfälle ökologischen Handelns per se aggregiert, um klarere und deutlichere Veränderungsstrategien entwickeln zu können. Auch symbolische Überhöhungen (Projektionen), zu einfache oder unklare Handlungsstrukturen und emotionale Fixierungen auf bestimmte Verhaltensmuster können (auch beispielhaft) parallel verarbeitet werden. Es ist ebenso eine gute Übung, nicht nur für Klienten, zu erfahren, dass die Bedeutungen von Einzelfällen (Einzelerfahrungen) sinken können, indem eine übergeordnete Perspektive eingenommen wird, was eine emotionale Bindung an diese(n) oder eine symbolische Überhöhung unwahrscheinlicher macht. In jedem Fall birgt die Einbettung der eigenen ökologischen Handlungen auch eine willkommene Gelegenheit für die Klienten, einmal aus der Struktur des Beratungsprozesses auszusteigen und eine andere Sichtweise auf die Realität zu entwickeln. Ein solches Vorgehen wird häufig als entlastend empfunden, da einmal nicht die Selbstveränderung, sondern die Veränderung der ökologischen Umwelt im Vordergrund steht. Hier besteht auch das Potenzial einer spielerischen Herangehensweise, z. B. indem Einzelfälle ökologischen Handelns mit Symbolen in Form einer individuellen oder auch Familien(-bilanz) dargestellt werden. Vorteilhaft für den Beratungsprozess ist auch die Zielformulierung einer persönlichen Ökobilanz mit der Unterordnung der Einzelfälle. Das entspricht auch dem Lernprozess in Beratungssituationen: Ein möglicher und angestrebter Wechsel der individuellen Relevanzsysteme durch die Beratung wird hier anschaulich in der Veränderung des bisherigen Umgangs mit ökologischen Themen
9.1 Strategisches Umwelthandeln I als Lehr- und Lernziel
245
vorgeführt. Nicht zuletzt wird hier auch das bereits im vorigen Kapitel erwähnte Verhältnis des Menschen zu seinem Lebensraum, der Natur und der Erde angesprochen, was zumindest die Möglichkeit des Nachdenkens und Dialogs über diese Thematik impliziert. 2. Die Berücksichtigung von Umweltbelangen in allen Handlungssituationen wäre zwar unter ökologischer Perspektive wünschenswert und theoretisch denkbar; praktisch ist sie jedoch aufgrund vielfältiger individueller Ressourcenrestriktionen nicht zu verwirklichen. Im Alltag stellt der Umweltschutz in der Regel nur ein Nebenziel des Handelns dar, das der Erreichung anderer Ziele untergeordnet ist (z. B. „sich von A nach B bewegen“, „etwas zu essen einkaufen“). Die Nebensächlichkeit gilt auch umgekehrt: Umweltbelastungen sind im Normalfall nicht beabsichtigt, sondern werden bei der Verfolgung anderer Ziele – bewusst oder unbewusst – in Kauf genommen (vgl. Hirsch 1993: 141, in Bilharz & Gräsel 2006: 2.2). Das Haus im Grünen, eine große Wohnung oder Urlaubsflüge werden nicht angestrebt, um die Umwelt zu schädigen, sondern weil damit erstrebenswerte individuelle und soziale Ziele verbunden sind. Der hier vertretene Ansatz zur Förderung ökologischer Kompetenz beginnt bei der Analyse des Ausgangszustandes, also bei der Frage: Wie sehen die eigenen Ressourcen, also die eigenen Möglichkeiten für ökologisches Handeln, aus (vgl. Bilharz & Gräsel 2006: 2.2)? Mit der Kenntnis der eigenen Ressourcen und Möglichkeiten können Ziele formuliert werden, die den Einzelnen weder unter- noch überfordern und damit die Motivation nicht einschränken. Die vielfach vorhandenen vagen Schuldgefühle in Bezug auf Umwelthandeln wurzeln unter anderem auch in fehlenden Überlegungen zu den eigenen Ressourcenrestriktionen und unklaren Zielvorstellungen nicht nur bei Klienten, sondern ebenso bei Beratern und Therapeuten. Auch hier ist eine Reflexion des jeweiligen „ökologischen“ Alltags des Klienten-(systems) gefragt. Damit verbunden sind Lernprozesse verschiedener Größenordnungen und die Herausbildung von Zielvorstellungen, alles Tätigkeiten, die insgesamt eng mit Beratungsprozessen verknüpft sind. 3. Um bei begrenzten Handlungsressourcen effizient handeln zu können, wird ein Konzept benötigt, um im Hinblick auf die Zielerreichung Unwichtiges von Wichtigem trennen zu können.
246
9 Förderung ökologischer Kompetenz in Beratung und Therapie
Relevanz übergeordneter Zielkategorien Bereich 3 (z.B. Mobilität):
hoch
Alternative 1 < Alternative 2 < Alternative 3 (Bsp.: Auto < Bus < Rad)
Bereich 2 (z.B. Ernährung):
mittel
Alternative 1 < Alternative 2 < Alternative 3 (Bsp.: Convenience < saisonal < Öko-Anbau)
Bereich 1 (z.B. Beleuchtung):
gering
Alternative 1 < Alternative 2 < Alternative 3 (Bsp.: Glüh- < Halogen- < Energiesparlampe)
gering
mittel
hoch
ökologische Vorteilhaftigkeit von Handlungsalternativen
Abbildung 15: Horizontaler und vertikaler Vergleich ökologischer Handlungsalternativen (ebd.: 2.3)
Eine derartige Hierarchisierung ökologischer Handlungsoptionen ist notwendig, um in Abstimmung mit den vorhandenen Restriktionen eine optimale Auswahl zu treffen (siehe Abbildung 15). Handlungsalternativen müssen folglich nicht nur auf einer horizontalen Ebene im Einzelfall, sondern auch auf einer vertikalen Ebene in der Gesamtheit verglichen werden. Der horizontale Vergleich geht dabei von einem bestimmten Bedürfnis aus, z. B. Mobilität, und bestimmt unter mehreren Handlungsalternativen die umweltfreundlichste. Vergleiche dieser Art entsprechen dem „klassischen“ handlungsbezogenen Umweltwissen (z. B. „Bus fahren ist umweltfreundlicher als Auto fahren“). Der vertikale Vergleich untersucht hingegen die Relevanz der einzelnen Bedürfnisse im Hinblick auf übergeordnete Zielkategorien. Beispielsweise kann gefragt werden, welche Relevanz für die Zielkategorie „Energieverbrauch senken“ die Verkehrsmittelwahl (Bereich 3) im Vergleich zur Ernährung (Bereich 2) hat.
9.1 Strategisches Umwelthandeln I als Lehr- und Lernziel
247
20%
52% 52% 22%
Heizung Warmwasser PKW Strom
6%
Abbildung 16: Direkter Primärenergieverbrauch eines durchschnittlichen Haushalts (ebd.: 2.3)
Für diesen Vergleich werden Indikatoren benötigt, die eine adäquate Hierarchisierung der Handlungsoptionen und Bedürfnisse ermöglichen. Ein möglicher Indikator aus dem Alltagskontext kann z. B. der persönliche Energieverbrauch (siehe Abbildung 16) sein, da er relativ einfach mess- bzw. erschließbar ist. Zur Unterstützung seiner Berechnung liegen auch verschiedene nützliche Internetwerkzeuge vor.82 Mit diesem Indikator lässt sich insgesamt eine brauchbare Hierarchisierung von Handlungsoptionen vornehmen, auch wenn der Bereich der „Grauen Energie“, d. h. der zur Herstellung der Produkte , z. B. Essen, benötigte Energieaufwand, nicht direkt bestimmbar ist (vgl. ebd.: 2.3). Die „Hierarchisierung ökologischer Handlungsoptionen“ ist eine weitere Möglichkeit, ökologische Themen in den Beratungsprozess einfließen zu lassen und mit anderen Themen zu vernetzen. Die Hierarchisierung ökologischer Handlungsoptionen ist allerdings nur klientenbezogen durchführbar, da der bestehende Energieverbrauch und die vorhandenen Restriktionen und Zielvorstellungen des Klientensystems zunächst einmal unbekannt sind. Aus dem hier Dargestellten lassen sich in Beratung und Therapie problemlos individuelle Möglichkeiten der Hierarchisierung ökologischer Handlungsoptionen in einer grafischen oder sze82
Ein gelungenes Beispiel eines Internettools zur Bestimmung des persönlichen Umweltverbrauchs ist der „ECO2-Rechner“: (http://www.novatlantis.ch/index.php?id=29&L=aohjfeb mgnf%23c655).
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9 Förderung ökologischer Kompetenz in Beratung und Therapie
nenhaften Darstellung (z. B. einer Skulptur) etc. ökologischer Themenbereiche und Wertungen entwickeln. Ein Ziel sollte in jedem Fall sein, dass begrenzte ökologische Ressourcen primär für relevante Handlungsoptionen verwendet werden sollten. Diese Aussage ist wiederum nicht nur für ökologische Ressourcen relevant, sondern auch für den Beratungs- und Therapieprozess, impliziert sie doch, dass z. B. begrenzte emotionale Ressourcen einer Person auch nur für relevante Handlungsoptionen eingesetzt werden sollten. 4. Die kognitive Aufnahme- und Verarbeitungsfähigkeit von Menschen ist beschränkt und Routinen sind daher ein notwendiges Element, um alltägliches Handeln ökonomisch bewältigen zu können und eine dauerhafte Verankerung von Handlungsmaßnahmen beziehungsweise dauerhafte Zielerreichung im Alltagshandeln zu erreichen. Eine Möglichkeit Handlungsroutinen aufzubauen, besteht darin, Nutzungshandeln von Investitionshandeln zu unterscheiden, indem die individuellen Rahmenbedingungen geändert werden. Zum Beispiel führt der Kauf eines Benzin sparenden Autos in der Folge zu reduziertem Benzinverbrauch. Es wird bei gleichem Nutzungshandeln wie zuvor ohne „weiteres Zutun“ umweltverträglicher gehandelt. Ein zentraler Unterschied zwischen beiden Handlungsarten liegt im Umfang und dem Zeitpunkt der dann erforderlichen Ressourcen. Investitionshandeln erfordert kurzfristig einen erhöhten zeitlichen und/oder finanziellen Aufwand. Nach der Realisierung der Investition ist dagegen in der Regel kein weiterer Aufwand erforderlich. Der Erfolg des Investitionshandelns kann einfacher und eindeutiger überprüft werden, weil die geänderten Rahmenbedingungen eine Berechnung der Einsparungen erlauben. Nutzungshandeln erfordert demgegenüber vom Einzelnen eine Vielzahl von Entscheidungen und ein Abwägen und Bewerten von Alternativen, zumindest dann, wenn die Handlungen kein fester Bestandteil von Alltagsroutinen sind. Die notwendigen vielen kleinen Handgriffe und das ständige Abwägen von ökologischen mit anderen Motiven kann eine Belastung für das kognitive Budget darstellen. Durch die Unterscheidung wird zudem die Möglichkeit geschaffen, ökologisches Handeln leichter in bestehende Routinen zu integrieren und die Kontexte der Personen zu beachten: Wer z. B. aus ökonomischen Gründen darauf achtet, nichts zu verschwenden, dürfte auch für kleinere Energiesparmaßnahmen wie Licht- oder Standby-Ausschalten zu gewinnen sein. Wer viel Geld, aber wenig Zeit hat, für den lässt sich das Handlungsziel umweltfreundliche Energieversorgung vermutlich einfacher und erfolgreicher realisieren, wenn er in erneuerbare Energien investiert, anstatt sich täglich (vergeblich) um das Ausschalten von Stand-by-Geräten oder unnötig brennendem Licht zu bemühen (ebd.: 2.4).
9.1 Strategisches Umwelthandeln I als Lehr- und Lernziel
249
Wesentlich ist hier die Abkehr von einer zeitpunktbezogenen Betrachtung hin zu einer langfristigen Orientierung für Klienten aus Beratung und Therapie: Wie kann eine optimierte Ökobilanz dauerhaft im Alltag realisiert werden? Dauerhafte Zielerreichung im Alltagshandeln im ökologischen Bereich und eine langfristig erfolgreiche Beratung oder Therapie im Sinne einer verstärkten Eigenverantwortung der Klienten sind fast wie die zwei Seiten einer Medaille. Von ihrer Wirkung und Zielsetzung ist Beratung und Therapie meistens auf Nachhaltigkeit in dem Sinne ausgelegt, dass die Klienten nicht wieder wegen der gleichen Probleme professionelle Hilfe aufsuchen sollten (auch wenn das in Einzelfällen natürlich immer wieder geschieht). Im Bereich der Langfristorientierung wurden in den vorgehenden Kapiteln weitere Verknüpfungen zu Möglichkeiten zielorientierten Lernens in ökologischer, psychischer und sozialer Hinsicht dargestellt. Zusammenfassend skizziert BEST 1 eine Handlungsstrategie, die ökologisches Handeln ordnet, hierarchisiert und einer Bewertung zugänglich macht. BEST 1 bietet einen Orientierungsrahmen, um ökologische Handlungen auszuwählen oder über diese zu reflektieren. Auf dieser Basis wurden Kompetenzen formuliert, die für ein Handeln oder eine Reflexion gemäß BEST 1 erforderlich sind und die in Maßnahmen der Umweltbildung, auch im Bereich von Beratung und Therapie, berücksichtigt werden können, wobei im folgenden Überblick nicht weiter auf die bereits dargestellten Verknüpfungspunkte zu Beratung und Therapie eingangen wird:
Die Bilanzperspektive benötigt ein Wissen über übergeordnete ökologische Handlungsziele, ein Verständnis für den Gegensatz von einer Einzelfallorientierung zu einer Bilanzperspektive und die Fähigkeit, kausale Beziehungen zwischen Einzelmaßnahmen und übergeordneten Handlungszielen zu erkennen. Im Umgang mit begrenzten Ressourcen müssen persönliche Ressourcen und Ressourcenrestriktionen analysiert und reflektiert werden, wozu Kenntnisse über verschiedene Handlungsoptionen benötigt werden. Ein Verständnis für verschiedene eigene, möglicherweise konkurrierende Zielvorstellungen von ökologischem Handeln ist hier ebenfalls wichtig. Die Fähigkeit zur Hierarchisierung ökologischer Handlungsoptionen setzt voraus, dass Indikatoren adäquat genutzt werden können. Diese Nutzung erfordert die Kenntnis oder das Herausfinden geeigneter Indikatoren zur Bewertung der ökologischen Wirkung unterschiedlicher Handlungsalternati-
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9 Förderung ökologischer Kompetenz in Beratung und Therapie
ven und ein Verständnis für die Probleme bei der Anwendung von Indikatoren. Eine dauerhafte Zielerreichung im Alltagshandeln kann sich dann bewähren, wenn die Bedeutung von Routinen für ökologisches Alltagshandeln, die Kenntnis unterschiedlicher Handlungsoptionen im Alltag sowie ein Verständnis über deren unterschiedliche Beanspruchung in individuellen Handlungsressourcen herausgearbeitet wurde. Hier können individuelle Rahmenbedingungen im Sinne eigener Zielstellungen entwickelt werden und Annahmen über die Zielerreichung in Bezug auf größere Zeiträume getroffen werden. Eigene Handlungsabläufe können reflexiv analysiert und bewertet werden, um umweltfreundliche Routinen zu bilden und einzuüben (vgl. ebd.: 2.5).
9.2 Strategisches Umwelthandeln II als Lehr- und Lernziel Während es bei der Strategiestufe BEST 1 durch ihren ausschließlichen Rückbezug auf die Theorie und Praxis individuellen ökologischen Handelns einfach war, diese mit beratungs- und therapierelevanten Inhalten zu befruchten, ist dieses bei der Strategiestufe BEST 2 ungleich schwieriger, da BEST 2 für verschiedene Handlungsoptionen ein bestimmtes Wissen voraussetzt, was natürlich in einer Beratung oder Therapie erworben werden kann, aber eben nicht sofort vorhanden ist. Der Erwerb dieses Wissens hängt entscheidend vom Interesse des Klienten(-systems) und natürlich auch vom Interesse des Beraters oder Therapeuten ab. Wie bei BEST 1 kann diese themenspezifische Aufmerksamkeit aber auch erst aus der Interaktion von Klient und Berater beziehungsweise Therapeut entstehen. In den folgenden Ausführungen wird deutlich, dass es ohne ein weitergehendes Interesse des Klienten(-systems) vermutlich fehlindiziert wäre, diese ökologisch erweiterte Thematik anzusprechen. Entsprechend wird im Folgenden zunächst nur das Konzept von BEST 2 vorgestellt, um anschließend auf das Potenzial beider Strategiestufen für Beratung und Therapie kurz einzugehen. Wie dargestellt beinhalten die Strategiestufen von BEST 1 lediglich die individuelle Ebene und berücksichtigen nicht Wechselwirkungen mit kollektiven ökologischen Maßnahmen. Ökologisches Handeln kann allerdings nicht ausschließlich auf individueller Ebene betrachtet werden. Allgemein wird die Perspektive eingenommen, dass Umwelthandeln und Umweltschutz sich auf ein Kol-
9.2 Strategisches Umwelthandeln II als Lehr- und Lernziel
251
lektivgut beziehen. Kollektivgüter sind dadurch gekennzeichnet, dass viele oder alle Mitglieder des Kollektivs einen entsprechenden Beitrag leisten oder mitwirken, das Gut nicht zu schädigen (vgl. Feess 1995, in Bilharz & Gräsel 2006: 3). Die Schwierigkeiten, die bei der Nutzung von Kollektivgütern entstehen, sind vielen Personen aus Alltagssituationen vertraut (vgl. Hoff & Walter 2000, in Bilharz & Gräsel 2006: 3). Entweder führt das Kollektivgutproblem zu fatalistischen Ohnmachtsgefühlen im Sinne von ‚Ich kann sowieso nichts machen, da mein einzelner kleiner Beitrag nichts bringt‘ oder das Kollektivgutproblem wird ausgeblendet und auf die eigenen kleinen Handlungen begrenzt, ohne die Bedeutung von kollektiven Rahmenbedingungen zur Kenntnis zu nehmen. Die Strategiestufe BEST 2 thematisiert die Beeinflussung kollektiver Rahmenbedingungen durch individuelles Handeln, indem sie eine Möglichkeit anbietet, die beiden geschilderten Extrempositionen zu vermeiden. Dabei wird davon ausgegangen, dass individuelles Handeln nicht erst dann kollektive Rahmenbedingungen ändern kann, wenn es von der Mehrheit der Gesellschaft praktiziert wird. Die Hypothese ist, dass unter bestimmten Voraussetzungen bereits das Handeln von Minoritäten ausreicht, um gesellschaftliche Veränderungen in Gang zu setzen. Die Strategie von BEST 2 lautet entsprechend: Reduktion der Umweltschäden durch Optimierung der Wirkungen auf kollektive Rahmenbedingungen durch individuelles Handeln. Diese Strategie basiert ebenfalls wie BEST 1 auf vier zentralen Strategieelementen: 1. 2. 3. 4.
Kollektive Ökobilanz als Ziel Verantwortungszuschreibungen für ökologische Handlungsoptionen Politisches Handeln – Initiativhandeln Berücksichtigung indirekter Wirkungen ökologischen Konsums (vgl. Bilharz & Gräsel 2006: 3).
1. Umweltschutz als erstrebenswertes Kollektivgut braucht nicht weiter thematisiert zu werden. Über die Mittel zur Erreichung dieses Zieles besteht weitgehende Übereinstimmung. Notwendig sind weniger Energie-, weniger Flächen- und Materialverbrauch beziehungsweise ein umweltverträglicherer Verbrauch dieser Güter. Wenn alle ihre individuelle Umweltbilanz optimieren, dann wird kollektiver Umweltschutz erreicht. Voraussetzung ist, dass dieses alle tun können und wollen, was offensichtlich nicht der Fall ist trotz der Relevanz, die dem Umweltschutz beigemessen wird. Die Diskrepanz lässt sich mit der Theorie ökologischsozialer Dilemmata erklären (vgl. Spada & Ernst 1992; Ernst 1997, in ebd.: 3.1), die durch wenigstens drei Kriterien gekennzeichnet ist:
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9 Förderung ökologischer Kompetenz in Beratung und Therapie
Das für Kollektivgüter zentrale Nichtausschlussprinzip führt dazu, dass der Gewinn bei der Nutzung des Kollektivgutes dem Individuum zugute kommt, der Schaden der Nutzung jedoch alle Kollektivmitglieder im Sinne einer sozialen Falle trifft. Eine einfache Regel hierzu lautet: Privatisierung des Nutzens – Sozialisierung des Schadens. Es kann zu Zeitfallen kommen, da ein möglicher Schaden in vielen Fällen nicht sofort, sondern erst zeitlich verzögert sichtbar wird. Damit ist niemandem ein klarer kausaler Zusammenhang zwischen der Nutzung des Kollektivguts und dem später eintretenden Schaden ersichtlich. Auch zukünftige Folgen des aktuellen Handelns bleiben damit unklar und aktuelle Folgen vergangenen Handelns sind nicht mehr eindeutig zurechenbar. Neben der Zeitfalle gibt es noch eine räumliche Falle, bei der die Handlungsfolgen nicht notwendigerweise an den Ort ihrer Entstehung gebunden sind.
Alle drei Fallen führen dazu, dass Individuen den persönlichen Nutzen höher kalkulieren als den kollektiven Nutzen – und damit bieten sie eine Erklärung für geringe Motivation zu individuellem und kollektivem ökologischen Handeln. Zu dieser Problematik gibt es eine Vielzahl von Vorschlägen, wie derartige Dilemmata-Situationen gelöst werden können. Individuelle Ansätze zielen auf die Förderung spezifischen Wissens oder auf Interaktion innerhalb eines Kollektivs ab. Strukturelle Ansätze reflektieren mehr die materiellen Anreize bei der Nutzung des Kollektivguts. Je größer und anonymer das Kollektiv ist, umso wichtiger werden strukturelle Lösungen von Kollektivgutproblemen. Die Rahmenbedingungen müssen dann in der Form gestaltet sein, dass die individuellen Beiträge zur Erbringung des Kollektivgutes einen persönlichen Vorteil oder die Nicht-Erbringung einen persönlichen Nachteil nach sich ziehen (vgl. Ernst 1997: 73 ff., in a.a.O.: 3.1). Im Umweltbereich erfüllen die Rahmenbedingungen diese Voraussetzungen vielfach nicht. Ökologische Handlungsoptionen sind gegenüber konventionellen Handlungsalternativen oft teurer oder mit einem höheren Aufwand verbunden. Die beschriebene Problematik ökologisch-sozialer Dilemmata macht deutlich, dass das kollektive Ziel nicht durch eine einfache Addition optimierter individueller Ökobilanzen erreicht werden kann. Auch individuelles Handeln muss die für den Umweltschutz schädlichen Rahmenbedingungen verändern, sonst wird die Strategie der optimierten individuellen Ökobilanz auf Wenige beschränkt
9.2 Strategisches Umwelthandeln II als Lehr- und Lernziel
optimierte individuelle Ökobilanz
Nutzen-/ Investitionshandeln
253
optimierte kollektive Ökobilanz
Ziel
Ziel
Mittel
Mittel
individuelles ökologisches Handeln Mittel
Politisches Handeln
ökologische Rahmenbedingungen Ziel
Abbildung 17: Ziel und Mittel im Strategiekonzept „BEST 2“ – Ziel der optimierten kollektiven Ökobilanz (Bilharz & Gräsel 2006: 3.1)
bleiben und/oder nur von kurzer Dauer sein. Bei der Erreichung des Ziels einer optimierten kollektiven Ökobilanz kommt somit der Gestaltung ökologisch optimierter Rahmenbedingungen, ein zentrales Thema von BEST 2, eine herausragende Bedeutung zu. Hieraus ergeben sich die zwei wesentliche Fragen: Zum einen wer für die Gestaltung der Rahmenbedingungen verantwortlich ist und zum anderen wie Rahmenbedingungen durch Individuen beeinflusst werden können (vgl. a. a. O.: 3.1). 2. Das Leitbild nachhaltiger Entwicklung stellt das Verantwortungsprinzip als ein zentrales Element heraus. Dieses Leitprinzip beinhaltet, dass jeder Einzelne und jede Organisation für die Folgen des eigenen Handelns verantwortlich ist und alle eine spezifische Verantwortung für den Erhalt und die Sicherung der natürlichen und sozialen Lebensgrundlagen der Menschen tragen (vgl. Balderjahn 2004: 4). Alle Akteure tragen damit eine geteilte Verantwortung und übernehmen damit das Prinzip der Partizipationskompetenz (siehe Abschnitt 2.3 und Kapitel 10). Diese geteilte Verantwortung führt gemäß dem Kollektivguttheorem wieder zu ökologisch-sozialen Dilemmata-Situationen, die letztlich nur durch die Frage „Wer trägt Verantwortung für was?“ geklärt werden kann. Eine Frage in BEST 1, „Wie wichtig ist die Entsorgung von Plastikverpackungen in gelben Müllsäcken?“, wird hier erweitert zu der Frage „Wer ist zentraler Ansprechpartner für die Reduktion von Plastikverpackungen?“ Aus der Frage ergeben sich
254
9 Förderung ökologischer Kompetenz in Beratung und Therapie
diverse Antwortmöglichkeiten und es zeigt sich, dass die Aufgabe darin besteht, Veränderungen zu konkretisieren und die Akteure zu identifizieren, die diese am ehesten vornehmen können. Akteure sind nicht nur durch die Strukturbeschaffenheit der Systeme determiniert, sondern reproduzieren und gestalten durch ihr Handeln selbst die handlungsleitenden Strukturen (vgl. Giddens 1997, in ebd.: 3.2). Für ökologisches Alltagshandeln bedeutet das: Die geteilte Verantwortung bezieht sich nicht nur auf das Verhalten innerhalb der gegenwärtigen Rahmenbedingungen, sondern auch auf die Gestaltung zukünftiger Rahmenbedingungen. Eine mögliche Strategie der Optimierung ökologischen Handelns in den gegenwärtigen Rahmenbedingungen findet sich in BEST 1. Wenn die Rahmenbedingungen gut sind (z. B. die aktuellen Förderbedingungen für erneuerbare Energien in Deutschland oder die Verfügbarkeit von biologischen Lebensmitteln in vielen Supermärkten), dann liegt es nahe, dass man ökologisches Handeln auch von den Individuen erwarten kann. Wenn die Rahmenbedingungen hingegen sozial-ökologisches Verhalten nicht oder nur unter schwierigen Umständen ermöglichen, dann sollte die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, diese zu ändern. BEST 2 setzt somit an die Stelle einer pauschalen Verantwortungszuschreibung (z. B. „die Verantwortung des Käufers“) eine differenzierte Sicht auf die Voraussetzungen und Erfolgswahrscheinlichkeiten einer Verantwortungsübernahme durch Individuen. Diese bezieht sich sowohl auf das Handeln in den gegenwärtigen als auch auf die Gestaltung zukünftiger Rahmenbedingungen. In Bezug auf die Veränderung der Rahmenbedingungen lassen sich dabei aus individueller Perspektive grundsätzlich zwei Möglichkeiten unterscheiden, die sich gegenseitig ergänzen: Einerseits das direkte politische Handeln als Initiativhandeln, wobei die politische Wirkung unabhängig vom Konsum ist, und andererseits indirektes politisches Handeln, bei dem die Wirkung mittels Konsum, Nutzungs- und Investitionshandeln auf andere Akteure, auch auf die Politik, stattfindet (vgl. ebd.: 3.2). 3. Für Initiativhandeln benötigen Individuen Wissen über geeignete Rahmenbedingungen sowie Kompetenzen für politisches Handeln. Dieses umfasst z. B. die Mitarbeit in und/oder finanzielle Unterstützung von Verbänden, Wahrnehmung eines politischen Mandats, Beteiligung an Protestaktionen wie Unterschriftensammlungen oder Demonstrationen etc. Die individuelle Perspektive muss vom reinen Konsumhandeln auf die Verantwortung für gesellschaftliche Rahmenbedingungen erweitert werden. Hier kommt es in der einen oder anderen
9.2 Strategisches Umwelthandeln II als Lehr- und Lernziel
255
Form zu Ressourcenrestriktionen, z. B. durch fehlende Zeit, fehlende Fähigkeiten und fehlende Möglichkeiten. Auch weitere Restriktionen politisch Handelnder sind nicht zu unterschätzen. Ein Erfolg kollektiver Veränderungen überwiegt häufig individuelle ökologische Erfolge, wobei potenziell unklar bleibt, ob der persönliche Aufwand eine Wirkung zeigt, da im politischen Bereich die Entscheidungs- und Handlungskontrolle zumeist außerhalb der sich politisch engagierenden Person liegt. Es kann zu typischen ökologisch-sozialen DilemmataSituationen führen, wenn der eigene Aufwand beziffert werden kann, der kollektive Ertrag hingegen unsicher bleibt. Hier kann es auch zu Motivationsschwierigkeiten kommen, wenn nicht erkennbar wird, ob der individuelle Einsatz lohnenswert war. In BEST 2 ist explizites ökologisch-politisches Engagement nur eine Möglichkeit, die individuelle ökologische Verantwortung zu realisieren. Hierbei ist die Kenntnis der Bedeutung von politischem Handeln zur Lösung von Umweltproblemen wesentlich (vgl. ebd.: 3.3). 4. Nicht nur direktes politisches Engagement, sondern auch das alltägliche Nutzungs- und Investitionshandeln hat „öffentliche“ Wirkungen. Ökologisches Nicht-Handeln wird ebenso vom politischen und wirtschaftlichen Teilsystem interpretiert wie ökologisches Handeln. Sinnvoll ist es, den für Dilemmata-Situationen lähmenden Dualismus von Struktur versus Handeln aufzulösen (z. B. „Werden immer neue alkoholische Softdrinks hergestellt, weil die Menschen diese wollen oder weil die Industrie die Bedürfnisse der Menschen in diese Richtung lenkt?“). Die Beziehung zwischen Strukturen und Handelnden sollte interaktiv gesehen werden – als andauerndes Wechselverhältnis zwischen den Akteuren, die durch ihr Handeln Strukturen reproduzieren, und Strukturen, die das Handeln der Akteure determinieren (vgl. Giddens 1997, in ebd.: 3.4). Handeln in gegenwärtigen und in der Gestaltung von zukünftigen Rahmenbedingungen wird damit reziprok und lässt sich als fließender Übergang interpretieren. Durch jegliches gegenwärtiges Handeln werden die zukünftigen Rahmenbedingungen beeinflusst und reproduziert. Mögliche indirekte Wirkungen alltäglichen ökologischen Handelns lassen sich mit dem AIDA-Modell (Awareness – Interest – Desire – Action; siehe z. B. Meffert 2000: 696 ff., in ebd.: 3.4) darstellen. Das AIDA-Modell ist ursprünglich ein linear geprägter Marketingansatz, der durch spezifische Maßnahmen bestimmte Wirkungen bezüglich des Kaufverhaltens der Kunden erzielen will. Hier wird das Modell als Hilfe zu ökologischen Entscheidungen beziehungsweise zur Reflexion dieser eingesetzt. Es ist ein Werkzeug, das Personen helfen kann,
256
9 Förderung ökologischer Kompetenz in Beratung und Therapie
selbst Entscheidungen zu treffen oder über getroffene Entscheidungen zu reflektieren. Zudem kann das Modell helfen, die diffusen Wirkungsmöglichkeiten von Konsumhandlungen zu strukturieren und so einer Bewertung zuzuführen. Das AIDA-Modell eignet sich damit gerade aufgrund seiner Einfachheit zur ersten Illustration und Kategorisierung von indirekten Wirkungen ökologischen Handelns. Bei der Entwicklung von professionellen Kampagnen im Rahmen der Nachhaltigkeitskommunikation sollten selbstverständlich komplexere Modelle als das AIDA-Modell Anwendung finden (vgl. Hübner 2005; Wortmann 2005, in ebd.: 3.4).
Awareness: Damit ökologische Handlungen durch andere wahrgenommen werden, müssen diese Interesse erregen. Dieses passiert, wenn durch ökologische Handlungen akzeptierte Deutungsmuster in Frage gestellt werden, z. B. durch den Kauf eines Autos mit Hybridantrieb oder Elektromotor. Interest: Wenn Interesse erregt wurde, gilt es, dieses aufrecht zu erhalten und in aktive Aufmerksamkeit zu transportieren. Neue und/oder ungewöhnliche Handlungsoptionen regen weiteres Interesse an, während das Interesse nachlässt, wenn die Bedeutung oder der Nutzen der Handlung nicht ersichtlich ist. Desire: Ökologisches Handeln sollte positive Assoziationen auslösen, damit möglichst viele den Wunsch verspüren, das Handeln nachzuahmen. Die sozial-ökologische Lebensstilforschung liefert in Bezug auf die Resonanzfähigkeit unterschiedlicher Handlungsoptionen wichtige Erkenntnisse (z. B. Empacher et al. 2002). Action: Hier steht der Aspekt der Realisierbarkeit im Vordergrund. Die Realisierbarkeit wird leichter, je „normaler“ der situative Kontext des ökologisch Handelnden ist. Entsprechend höher ist das „Action-Potenzial“ der vorgelebten Handlung. Eine Familie, die einen Hybrid-PKW benutzt, hat demnach größere Überzeugungskraft durch ihr Handeln, als ein Student mit eigenem Hybrid-PKW, der in der Altstadt einer Großstadt mit gutem ÖPNV-Anschluss lebt.
Die Ausführungen zeigen, dass ökologische Handlungsoptionen in Bezug auf ihre indirekten Wirkungen auf andere Akteure und Rahmenbedingungen überlegt und durchgeführt werden können. Neben der tatsächlichen Umweltwirkung kann auch in Betracht gezogen werden, inwieweit Handlungen geeignet sind, das Nutzungs- und Investitionshandeln anderer zu verändern. Besonders für den effektiven Einsatz begrenzter Ressourcen wäre es sinnvoll, solche Handlungsoptionen
9.2 Strategisches Umwelthandeln II als Lehr- und Lernziel
257
zu bevorzugen, die größtmögliche Wirkungen sowohl auf andere wie auch auf die durch das Handeln reproduzierten und gefestigten Rahmenbedingungen besitzen. Hier wäre die Wirkung auf eine Optimierung der kollektiven Ökobilanz intensiver (vgl. Bilharz & Gräsel 2006: 3.4). Zusammenfassend formuliert skizziert BEST 2 eine ökologische Handlungshierarchie, die auf die Optimierung der kollektiven Ökobilanz durch Alltagshandeln abzielt. Entscheidend ist, Umweltschutz als Kollektivgut zu begreifen. Darin zusammengefasst ist das Verstehen des Unterschieds zwischen Individual- und Kollektivgütern und die Fähigkeit, individuelles Handeln in Richtung einer abstrakten kollektiven Zielebene zu reflektieren. Die Kenntnis der Strukturen und Merkmale ökologisch-sozialer Dilemmata ist hier wiederum Voraussetzung für eine kritische Reflexion unterschiedlicher Handlungs- und Lösungsansätze. In ausdifferenzierten Gesellschaften ist einerseits jeder mitverantwortlich, andererseits aber auch nicht für alles verantwortlich. Hier wird es wichtig, die ökologischen Möglichkeiten einzelner Handelnder (Individuen, Vereine, Verbände, staatliche Institutionen) kritisch zu hinterfragen und ebenso ihre Handlungsgrenzen zu erkennen. Eine solche Analyse kann außerdem als Universalie für eine angemessene Verantwortungszuschreibung in konkreten umweltpolitischen Problemfeldern eingesetzt werden. Politisches Umwelthandeln ist dann möglich, wenn die Notwendigkeiten und die Möglichkeiten der Gestaltung gesellschaftlicher Rahmenbedingungen begriffen werden. Für Interessierte erfordert politisches Umwelthandeln Kenntnisse über den Prozess der politischen Teilhabe, Kenntnisse über die beteiligten Akteure und ihre Machtressourcen sowie die Fähigkeit zur Bewertung politischer Maßnahmen im Hinblick auf häufig konfliktträchtige Ziele. Das alltägliche Nutzungs- und Investitionshandeln hat „öffentliche“ Wirkungen sowie direkte und indirekte Folgen. Ein strategisch ausgerichtetes Umwelthandeln erfordert deshalb Kenntnisse über solche Folgen und die Fähigkeit, diese in ihrer Wirkung auf andere Handelnde oder Nichthandelnde und damit auch auf die Gestaltung eigener und fremder handlungsleitender Strukturen abschätzen zu können. Die Kompetenz manifestiert sich hier im bewussten Einsatz solcher Handlungen als Signale für einen ökologischen Strukturwandel. Für das Konzept BEST 1 und BEST 2 lässt sich insgesamt die folgende Feststellung treffen: Ökologische Handlungsoptionen zielen auf zwei Wirkungen hin ab, und zwar einerseits auf ihre Wirkung hinsichtlich der individuellen Öko-
258
9 Förderung ökologischer Kompetenz in Beratung und Therapie
Wirkung auf kollektive Ökobilanz Zielperspektive strategischen Umwelthandelns
positiv
negativ
Wirkung auf individuelle Ökobilanz
Abbildung 18: Zielperspektive strategischen Umwelthandelns (ebd.: 3.5)
bilanz und andererseits auf ihre Wirkung hinsichtlich der kollektiven Ökobilanz (s. Abb. 18). Mit diesem Konzept wird eine Auswahl und Begründung von Kompetenzen möglich, die als „ökologische Kompetenz“ bezeichnet werden können. Die acht Kompetenzbausteine – jeweils vier aus BEST 1 und BEST 2 – können dabei als Analysewerkzeuge dienen, die die Auswahl relevanten Wissens strukturieren und vereinfachen.
9.3 Potenziale strategischen Umwelthandelns für Beratung und Therapie Mit dem Strategiekonzept BEST 1 & 2 lassen sich zu Klienten in Beratung und Therapie unbestritten neue Zugänge gewinnen und ihnen neues oder erweitertes ökologisches Wissen vermitteln. Im Kapitel über BEST 1 wurde bereits auf den handlungs- und alltagsorientierten individuums- und gruppenbezogenen Teil möglichen ökologischen Handelns eingegangen. BEST 1 soll dann eine Entscheidungshilfe geben, wenn ökologisches Handeln das Ziel des Individuums oder der Gruppe ist. In Abschnitt 9.2 wurde bereits thematisiert, dass insbeson-
9.3 Potenziale strategischen Umwelthandelns für Beratung und Therapie
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dere das Lernen der Inhalte von BEST 2 aus einem spezifischen Wissen besteht, welches entweder parallel oder im Anschluss an BEST 1 vermittelt beziehungsweise generiert werden kann. Mit Sicherheit gibt es Bereiche, in denen aus dem Einsatz von BEST 1 eine Weiterentwicklung oder unmittelbare Vernetzung zu den Inhalten von BEST 2 erfolgen kann; dieses hängt jedoch entscheidend vom individuums-, gruppen- und kollektivbezogenen ökologischen Interesse der Beteiligten ab. Neben der einzel- und gruppenbezogenen Beratungs- und Therapiearbeit sind hierfür besonders institutionelle Einrichtungen wie therapeutische Wohngemeinschaften und andere Formen des institutionalisierten Zusammenlebens von Menschen mit mehr oder weniger ausgeprägten psychischen Störungen, in denen im realen Zusammenleben ökologische Praxis integriert werden kann, von Interesse. Ein weiterer Bereich, ökologische Themen mit einer Struktur wie BEST 1 und 2 zu transportieren, wären z. B. Bereiche der Supervision, wo auf einer der Einzel- oder Gruppenberatung übergeordneten Ebene zunächst durchgespielt werden könnte, was der Einsatz ökologischer Strategien für die jeweiligen Beratungs- und Therapieformen beinhalten sollte und bedeuten würde. Ebenso lässt sich BEST 1 und 2 auch im Beratungsbereich unterschiedlichster Organisationen einsetzen. Das Beratungs- und Therapiefeld ist von der individuellen bis zur organisationalen Ebene prinzipiell für eine Vernetzung mit ökologischem Wissen und vor allen Dingen für die schnelle Einbindung ökologischer Handlungsweisen offen. Insbesondere die dargestellten Möglichkeiten einer Hierarchisierung ökologischer Handlungsoptionen und die Berücksichtigung von Aufwand und Ressourcenrestriktionen ermöglichen Komplexitätsreduktion und die Routinisierung umweltschonenden Verhaltens. Beides sind zentrale Voraussetzungen für die Integration ökologischer Anforderungen in den Alltag von Organisationen. Das Durchbrechen bestehender Routinen durch problematisierende Reflexion entwickelt sich zu einem Zwischenschritt auf dem Weg zu neuen, verbesserten ökologischen Routinen. Entscheidend ist bei allem die Stärke des „ökologischen Fokus“, den Institutionen und Organisationen, (ihre) Berater und Therapeuten für ihr Alltagshandeln setzen. Das vorgestellte Konzept bietet u. a. durch seine praxisnahe Ausrichtung viele Möglichkeiten, in unterschiedliche Formen von Beratung und Therapie von der Einzelberatung bis hin zur Organisationsberatung integriert zu werden.
260
9 Förderung ökologischer Kompetenz in Beratung und Therapie
Der bei entsprechendem Interesse notwendige Schritt, ökologische Strategien in einzelne Beratungs- und Therapieformen oder in spezifische Settings inhaltlich einzubinden, kann hier wegen der Fülle und Unterschiedlichkeit dieser Formen nicht geleistet werden. Nicht thematisiert wird hier der ökologische Umgang des Individuums (siehe Welt- und Menschenbild) mit den eigenen Energien, Stärken und Schwächen. Dieses ist per se Thema individueller oder gruppenbezogener Beratung oder Therapie, allerdings bisher meistens ohne die Einbindung ökologischer Sichtweisen und ökologischen Verhaltens. Inhalte eines ökologischen Umgangs mit sich selbst lassen sich z. B. bei Work-Life-Balance-Prozessen oder im Rahmen einer Stärken-Schwächen-Analyse und eben mit allen anderen Beratungsund Therapieformen relativ problemlos vernetzen. Ebenso nicht thematisiert wird in diesem Rahmen die kulturelle und religiöse Wahrnehmung und Interpretation der Umwelt und des Ökosystems. So werden sich z. B. Berater oder Therapeut und sein Klient in Europa durch ihre gegenseitige Interaktion (und durch die vorhandenen Wissenselemente) die ökologische Umwelt wahrscheinlich eher im Rahmen der europäischen Kultur und des christlichen Abendlandes konstruieren. Andere Kulturen haben aber andere Zugänge und Wahrnehmungen der sie umgebenden Umwelt und des Ökosystems, wie z. B. Indianer oder Angehörige anderer Weltreligionen als der des Christentums. Hier bestehen auch die Möglichkeiten völlig unterschiedlicher Wahrnehmungen und Interpretationen ökologischer Realitäten. Die auf Beratung und Therapie bezogenen Ausführungen des Autors zu den einzelnen Punkten von BEST 1 und 2 sind im Sinne von Max Weber idealtypisch zu verstehen. Solche „Idealtypen“ müssen nach Ansicht des Autors formuliert werden, um konkrete Veränderungen anzustoßen. Die Realität erzeugt dann, ökologisch formuliert, sowieso einen etwas anderen, mit Sicherheit sich selbst ähnlichen „footprint“.
10 Modell einer ökologisch ausgerichteten psychosozialen Beratung
In diesem Kapitel wird aufgezeigt, dass sich die dargestellten Inhalte ökologischer Lernpotenziale in einen Beratungsansatz integrieren lassen. Die Inhalte sind Selbstorganisation unter Nutzung verschiedener Selbstlernkompetenzen wie Sich-selbst-ähnliches-Lernen, Antizipation, Sinn, Strategieentwicklung, Stufenprozesse der Selbstveränderung, Willensbildung und Motivation, die Auseinandersetzung mit aktuellen Welt- und Menschenbildern in ökologischer Hinsicht sowie die praktische Auseinandersetzung mit dem ökologischen Alltagshandeln des Klienten(-systems). Damit werden besonders für die Handlungsorientierung in ökologisch ausgerichteten Beratungs- und Therapieprozessen Veränderungsmöglichkeiten angeboten, die 1. 2. 3. 4. 5.
6.
einen am Begriff des reflexiven Lernens ausgerichteten Beratungs- und Therapiebegriff unterstützen, Aspekte des Willensaufbaus und der Motivation beinhalten, der möglichen Selbstveränderung ohne professionelle Hilfe dienen, die Möglichkeiten strategischer Ausrichtung bei Veränderungsprozessen für Individuen und Gruppen aufzeigen, von der Notwendigkeit einer individuellen und gruppenbezogenen Auseinandersetzung mit ökologischen und auf Nachhaltigkeit ausgerichteten Weltund Menschenbildern ausgehen und ein direktes Veränderungspotenzial für die Umwelt durch ökologische Handlungsstrategien anbieten und dieses als handlungsleitendes Element in der Beratungs- und Therapiearbeit in der Praxis direkt umsetzen.
Die Inhalte beziehen sich, wie in den Abschn. 2.3 und 2.4 dargelegt, auf die Entwicklung von Partizipations-, Retinitäts-, Gestaltungs- und Bewertungskompetenz als Ziel der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung, die für eine ökologisch ausgerichtete Beratung und Therapie weiter entwickelt wurden. Eine detaillierte Darstellung der Beratung findet sich in Tabelle 8.
P. Busch, Ökologische Lernpotenziale in Beratung und Therapie, DOI 10.1007/ 978-3-531-92754-1_11, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
262
10 Modell einer ökologisch ausgerichteten psychosozialen Beratung
Tabelle 8: Ökologisch orientierte psychosoziale Beratung mit Grundlagen- und Praxiselementen Grundlagen (Basics): Inter- und transdisziplinäre Elemente aus den Bezugsdisziplinen: Philosophie, Ethik, Theologie (Religion), Wissenschaftstheorie, Menschenbild Biologisches System Körperliche Bedürfnisse
Psychisches System Psychische Bedürfnisse
Soziales System Soziale Bedürfnisse
... und alle damit zusammenhängenden Fragen der körperlichen (gesundheitlichen) Entwicklung
... und alle damit zusammenhängenden Fragen der psychischen und emotionalen Entwicklung
... u. alle damit zus.hängenden Fragen der soz. Entwicklung und Einbindung (Integration in unterschiedl. soz. Systeme)
Medizin, Biologie, Ökologie usw.
Psychologie, Pädagogik (Erziehungswissenschaft), Sozialarbeit/-pädagogik, (Sozial)-Psychiatrie usw. und ihre Methoden
Sozialwissenschaften/ Soziologie, Jurisprudenz, Politologie, Ökonomie usw.
Verknüpfung relevanter Wissenselemente: Rechtliche, sozio-ökonomische, ökologische, biologische, psychische, emotionale und beziehungsdynamische Dimensionen psychosozialer Beratung
Praxis (Programm): Aufbau von Selbstlernkompetenz für offene Lernprozesse: Sich-selbst-ähnliches-Lernen – Knotenpunktwissen – Lust am Lernen – bio-neurologische Orientierung (3 K‘s: Kommunikation, Kooperation und Kreativität) – Aufbau von Relevanzsystemen – Antizipation und Sinn
Sozio-ökon. und -ökologische Dimension Psycho-soziale Dimension Tendenz zur Sach- oder Informationsorientierung, Erweiterung kognitiver Kompetenzen (Wissen):
Tendenz zur Beziehungs- bzw. Emotionsorientierung, Erweiterung sozialer und emotionaler Kompetenzen:
Strategie, Potenzial zur Selbstveränderung, Welt- und Menschenbild, strategisches Umwelthandeln
Steuerung eigener Veränderungsprozesse, Motivation und Willensbildung, Welt- und Menschenbild
Aufgabenfelder: Selbstorganisation, ökologisch orientierte Reflexivität, Willensbildung, Interaktion.
Aufgabenfelder: Selbstorganisation, ökol. orient. Reflexivität, Interaktion, Welt- und Menschenbild, Werte u. Ethik.
Aufgabenfelder: Selbstorganisation, ökol. orientierte Reflexivität, Antizipation, Strategie, Willensbildung, Interaktion,
Aufgabenfelder: Selbstorganisation, ökol. orient. Reflexivität, Interaktion, Welt- und Menschenbild, Werte u.Ethik.
Partizipationskompetenz
Retinitätskompetenz
Gestaltungskompetenz
Bewertungskompetenz
10 Modell einer ökologisch ausgerichteten psychosozialen Beratung
263
Das in Tabelle 8 dargestellte Modell einer ökologisch ausgerichteten psychosozialen Beratung vernetzt die in Kapitel 1 vorgestellte Grundlegung einer Definition der psychosozialen Beratung mit den Kompetenzzielen der Bildung für eine nachhaltige Entwicklung und mit den beschriebenen ökologischen Lernpotenzialen für Beratung und Therapie. Das Modell steht beispielhaft für die Möglichkeit der Vernetzung mit anderen Beratungs- und Therapiemodellen. Wie bei anderen Beratungs- und Therapiemodellen sollen Klienten auch hier in ihrer spezifischen Lebenssituation „abgeholt“ werden, d. h. ein ökologisch orientierter Beratungs- und Therapieprozess und das darin vermittelte Wissen müssen in der Realität der Lebens- und Erfahrungswelten der Klienten verankert sein und in die Lebenssituationen hineinpassen, in der sie sich befinden. Es handelt sich um ein auf ökologisches Lernpotenzial ausgerichtetes kognitiv und affektiv verankertes Modell der psychosozialen Beratung, dass die verschiedenen Umwelten der Klienten in der Weise eines Mehrebenenmodells als sich stufenweise und „verschachtelt“ aufbauende Umwelten mit wechselseitigen Bezügen beschreibt, wie z. B. auch eine Erweiterung kognitiver, sozialer und emotionaler Kompetenz nur in der gegenseitigen Vernetzung entsteht. Bei einer ökologisch orientierten psychosozialen Beratung liegt einer der Beratungsschwerpunkte naturgemäß auf der Wahrnehmung natürlicher und räumlicher Umwelten. Gleichzeitig sind diese Umwelten jedoch auch als Relevanzumwelten des Klienten (-systems), in der Form, wie z. B. eine spezifische Familienkonstellation eine Relevanzumwelt darstellt, zu verstehen. Diese Relevanzumwelten, die durch eine kreative und ökologisch ausgerichtete Beratungsarbeit teilweise „neu“ entworfen und mit Hilfe der entwickelten Lerninhalte in die Realität umgesetzt werden, wirken wiederum auf die Selbstorganisation der Klienten zurück, sodass „selbstkreative Zirkel“ (vgl. Varela 1985) entstehen, die sowohl der Selbstorganisation wie auch dem Kontext der sozialen und natürlichen Systeme dienen, in denen sie leben. Eine ökologisch ausgerichtete psychosoziale Beratung erzeugt bei ihren Klienten entsprechend ihrer ökologischen Ausrichtung anders geartete und gelagerte Persönlichkeitsveränderungen als die heterogenen Formen der herkömmlichen psychosozialen Beratung (siehe Kapitel 1) ohne ökologischen Bezug. Die ökologische Thematisierung und Einbeziehung der zu erlernenden Kompetenzen einer Bildung für eine nachhaltige Entwicklung und ihrer notwendig abzuarbeitenden Aufgabenfelder erschließt in Bezug zur gesamten Umwelt des Klienten (-systems) ein höheres Niveau der Vernetzung. Hierbei hängt es von der Initiative sowohl vom Berater und Therapeuten wie auch vom Klienten (-system) ab,
264
10 Modell einer ökologisch ausgerichteten psychosozialen Beratung
wie „groß“ nicht nur die persönlichen, sondern auch die umweltbezogenen Veränderungen im Alltagshandeln sind.
10.1 Die natürliche relevante Systemumwelt als Entwicklungsmaßstab für die Lern- und Veränderungsgeschwindigkeit eines sozialen Systems Letztlich geht es in der Diskussion einer ökologisch orientierten Beratung und Therapie um die wohlbekannte Frage, wie evolutionäre Prozesse zu steuern sind, was hier sowohl die Steuerung der Veränderung sozialer wie auch natürlicher relevanter Systeme beinhaltet. Nach dem „ökologischen Gesetz des Lernens“ von Stiefel & Belz (1987), das besagt, „dass eine Spezies solange überlebt, wie ihre Lerngeschwindigkeit gleich oder größer ist als die Änderungsgeschwindigkeit der relevanten Umwelt ist“ (Servatius 1991: 112 f.), ist es naheliegend, dieses Gesetz auf die Veränderungsgeschwindigkeit sozialer Systeme im Verhältnis zur relevanten Umwelt zu beziehen. Dieses haben König und Volmer (2000: 231 f.) mit der Umformulierung dieses Gesetzes, vor allen Dingen in Bezug zur Beratung von Organisationen, beschrieben: „Ein soziales System überlebt solange, wie die Veränderungsgeschwindigkeit innerhalb des Systems ungefähr ebenso groß ist wie die Veränderungsgeschwindigkeit der relevanten Umwelt“ (ebd: 232). Beide Formulierungen dieses Gesetzes sind einseitig und statisch in dem Sinne, dass sie potenzielle Veränderungen einer Spezies oder sozialer Systeme durch eine genügend schnelle Lerngeschwindigkeit und entsprechender Veränderung indizieren. Nicht zum Tragen kommt die Fähigkeit einer Spezies oder eines sozialen Systems zur Veränderung der relevanten, hier natürlichen Umwelt sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht. So hat z. B. das soziale System Menschheit u. a. durch eine intensive Nutzung fossiler Brennstoffe besonders seit Mitte des 20. Jahrhunderts zur vorhandenen Erderwärmung mit allen klimatischen und sonstigen Konsequenzen beigetragen. Es ist zu berücksichtigen, dass der Mensch in einem zunehmend stärkeren Ausmaß Einfluss auf die ökologische Entwicklung der ihn umgebenden Umwelt genommen hat und nimmt. Somit ist nicht nur bei Nichtanpassung an die relevante natürliche Umwelt ein soziales System (hier beispielhaft die Menschheit)
10.1 Die natürliche relevante Systemumwelt als Entwicklungsmaßstab
265
Veränderung
Veränderungsgeschwindigkeit der natürlichen relevanten Umwelt
Veränderungsgeschwindigkeit des sozialen Systems
t t0
t1
t2
Abbildung 19: Veränderungsgeschwindigkeit sozialer Systeme und der natürlichen relevanten Umwelt (adaptiert nach König & Volmer 2000: 232)
langfristig überlebensgefährdet ist, sondern diese Umwelt ist in ihrem Überleben in der vorhandenen Form selbst gefährdet. Als notwendige Schlussfolgerung ergibt sich eine wesentlich vielschichtigere und dynamischere Form der Vernetzung des Menschen und seiner relevanten natürlichen Umwelt, die in Abbildung 19 dargestellt wird. Entsprechend wird das ökologische Gesetz des Lernens hier wieder etwas umformuliert: „Ein soziales System überlebt solange, wie die Lernfähigkeit und Veränderungsgeschwindigkeit des Systems größer und schneller ist als die Veränderungsgeschwindigkeit der relevanten natürlichen Umwelt“ (nach Servatius 1991: 112 f.). Aus Abbildung 19 ist ersichtlich, dass von t0 bis t1 das Überleben beider Systeme gesichert ist. Über t1 hinaus wird z. B. das Überlebenspotenzial für das soziale System Menschheit durch eine weitere intensive Nutzung fossiler Brenn-
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10 Modell einer ökologisch ausgerichteten psychosozialen Beratung
stoffe – wie in den letzten 60 Jahren – langfristig kritischer. Durch eine erhöhte Lernbereitschaft für ökologische Zusammenhänge und stärker vernetzte Wissensinhalte entstehen bei Nutzung dieser für beide Systeme neue Sicherheits – beziehungsweise bei Nichtnutzung neue Unsicherheitspotenziale. Ausgehend von einem idealtypischen Verlauf wäre in der Konstellation A 1, A 2, B 1 und B 2 das Überleben des sozialen Systems und der natürlichen relevanten Umwelt langfristig gesichert und in der Konstellation C 3, C 4, D 3 und D 4 wäre das Überleben langfristig gefährdet. Bei allen anderen Mischformen wie z. B. C 1 oder B 3 kann von einem erhöhten Spannungspotenzial bei Veränderungsprozessen ausgegangen werden. Für die evolutionäre Steuerung sozialer Systeme und ihrer natürlichen relevanten Umwelt ergeben sich hieraus ein unterschiedlicher Analyse- und Handlungsbedarf:
Analyse der bestehenden Relationen zwischen dem jeweiligen sozialen System und seiner relevanten natürlichen Umwelt, Analyse der natürlichen relevanten Umwelt und ihrer jüngsten Veränderungsprozesse, Analyse der Entwicklungspotenziale beider Systeme und Analyse der notwendigen Reichweite ihrer Vernetzung, Analyse der Komplexität der Vernetzung und der Handlungsentwürfe.
Zur Gewinnung dieser Informationen und zur Entwicklung der handlungsleitenden Antizipationen können die beschriebenen Theorien und Verfahren der vorangegangenen Kapitel eingesetzt werden. Hingewiesen wird noch einmal auf die Notwendigkeit der Offenheit von sozialen und ihren relevanten natürlichen Systemen, da beide nur als offene Systeme in ihrer gegenseitigen Vernetzung überlebensfähig sind. Hierbei ist eine der zentralen Thesen systemischen Denkens zu beachten, dass soziale Systeme und ebenso ihre natürlichen relevanten Umwelten nicht auf ein eindeutig und fest definiertes Ziel hin zu steuern sind, sondern dass eher eine bestimmte Richtung eingeschlagen oder variierende Zielvorstellungen vorgegeben beziehungsweise Abweichungen von einer eindeutigen Zielvorstellung akzeptiert werden müssen. Evolutionäre Steuerung von sozialen Systemen und Teilen ihrer natürlichen relevanten Umwelt können in Analogie zum klassischen biologischen Evolutionsmodell über drei unterschiedliche Handlungsvarianten erreicht werden:
10.1 Die natürliche relevante Systemumwelt als Entwicklungsmaßstab
1.
2.
3.
267
Intensivierung der Variation impliziert den Aufbau alternativer Abwandlungen, wie z. B. verschiedene neue ökologisch ausgerichtete Verhaltensregeln, und stellt einen Beschleunigungsfaktor für die Evolution dar. Je mehr Varianten vorhanden sind, desto mehr Möglichkeiten bestehen, das jeweilige soziale System und die natürliche relevante Umwelt zu verändern. Intensivierung der Selektion beinhaltet das Steuern der Evolution in eine bestimmte Zielrichtung. Gleichzeitig werden andere mögliche Zielrichtungen der Evolution nicht wahrgenommen. Eine Selektion im ökologischen Bereich wäre z. B. pro Solaranlagen contra Biogasanlagen zur Erzeugung von elektrischer Energie. Intensivierung der Retention (Bewahrung) beschreibt im Rahmen der biologischen Evolution die Beibehaltung und Tradierung bewährter Gen-Kombinationen, bis sie unter veränderten Umweltbedingungen notwendigerweise von einer verbesserten Variation abgelöst werden. Auch soziale Systeme und die natürliche relevante Umwelt entwickeln sich in dieser Art und Weise; z. B. werden bewährte Kommunikationsabläufe und Verhaltensmuster zunächst einmal beibehalten und tradiert, bis sie unter veränderten Bedingungen durch andere Variationen abgelöst werden.
Zu berücksichtigen ist, dass die Evolution biologischer Systeme mutmaßlich nicht immer nahtlos auf die Evolution sozialer Systeme übertragen werden kann, obwohl zwischen ihnen ein hoher Vernetzungsgrad, wie z. B. beim Menschen, besteht. Im Bereich sozialer Systeme finden Entwicklungen und Veränderungen im Bereich selbst gegebener (Verhaltens-) Regeln statt und im Bereich biologischer Lebewesen findet die Tradierung, Variation und Selektion auf der Basis genetisch kodierter Informationen statt (vgl. König & Volmer 2000: 227 f.). Im Wesentlichen sind diese Bereiche evolutionärer Entwicklung und Steuerung bereits in Kapitel 3 und 4 detailliert dargestellt worden, doch dient diese Beschreibung einer besseren Übersicht potenzieller evolutionärer Veränderungsmöglichkeiten und zudem können, wie erwähnt, diese drei Handlungsvarianten zu den vorhergehenden Kapiteln in Bezug gesetzt und in die bisher beschriebenen Theorien und Verfahren integriert werden. Die evolutionäre Entwicklung und Steuerung sozialer und (begrenzt) natürlicher relevanter Systeme findet immer im Wechsel zwischen Variation, Selektion und Retention statt. Eine andauernde Retention führt zum Stillstand einer bestehenden Struktur und ist für das soziale System und das Umweltsystem ebenso negativ wie fortwährende Variationen im Sinne ständiger Veränderun-
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gen. Eine andauernde Retention muss von einer Entwicklung von Variationen begleitet sein, um eine neue Selektion zu ermöglichen. Die Interaktion und die Entwicklung beider Systeme sind abhängig vom jeweiligen Entwicklungsstand und somit immer unterschiedlich. Die natürliche relevante Umwelt ist dahingehend ein Entwicklungsmaßstab für menschliches ökologisches Handeln, dem Handeln eines sozialen Systems, in dem die Umwelt dem Menschen zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt die Konsequenzen seines Handelns aufzeigt und damit interaktiv auf die Lern- und Veränderungsgeschwindigkeit seines sozialen Systems einwirkt. Voraussetzung hierfür ist allerdings ein klares Bekenntnis des Menschen oder seines sozialen Systems zur (Überlebens-) Wichtigkeit seiner umgebenden natürlichen Umwelt. Zweckmäßig erscheint auch im individuellen Alltag ein Vorgehen, dass in der evolutionären Gestaltung sozialer und natürlicher Systeme Variation, Selektion und Retention aufeinander bezogen werden. Der dauerhafte Einsatz überholter Glühlampen in allen Haushaltsbereichen beschreibt z. B. die Retention des Systems. Zur Energieeinsparung notwendig werden Variationen energiesparender Beleuchtungsmöglichkeiten. Neben Kerzen können z. B. Energiesparlampen mit bis zu 80 % Energieersparnis beziehungsweise Halogenlampen mit durchschnittlich 30 % Energieersparnis eingesetzt werden. In diesem Beispielhaushalt, in dem auch Kinder leben, werden im Rahmen der Selektion zukünftig Halogenlampen eingesetzt, die zwar nicht so ein hohes Energiesparpotenzial besitzen, bei denen aber beim Herunterfallen und Kaputtgehen potenziell kein Quecksilber frei werden kann. Energiesparlampen müssen zudem im Sondermüll entsorgt werden und die Kosten der Umweltbelastung bei der Herstellung sind nicht offen gelegt. Prinzipiell gilt, dass soziale Systeme in jeder Entwicklungsphase ein in Bezug zum natürlichen relevanten Umweltsystem sinnvolles Spannungsniveau zwischen Variation und Retention erreichen sollen, um sich gegebenenfalls für die entwicklungsbedingt richtige und ökologisch wichtige Selektion zu entscheiden. Abschließend sei noch ein Zitat von Urie Bronfenbrenner als idealtypisches Ergebnis einer ökologisch orientierten Beratung und Therapie angeführt: Menschliche Entwicklung ist der Prozeß, durch den die sich entwickelnde Person erweiterte, differenziertere und verläßlichere Vorstellungen über ihre Umwelt erwirbt. Dabei wird sie zu Aktivitäten und Tätigkeiten motiviert und befähigt, die es ihr ermöglichen, die Eigenschaften ihrer Umwelt zu erkennen und zu erhalten oder auf nach Form und Inhalt ähnlich komplexen oder komplexerem Niveau umzubilden (1981: 44).
11 Fazit
In der vorliegenden Arbeit wurde dargestellt, welche theoretischen und methodisch-praktischen Aspekte eine ökologisch ausgerichtete Beratung und Therapie in sich tragen sollte, damit die Klienten kognitive, emotionale, soziale und ökologische Veränderungen bei sich und in der sie umgebenden Umwelt durchführen können. Damit bedient die Arbeit mehrere Aspekte der Theorie- und Praxisentwicklung in Beratung und Therapie: 1.
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Sie leistet einen Beitrag zur Theorieentwicklung sowohl von Beratung als auch Therapie, indem sie unter Einbezug ökologischer Sichtweisen einen Beitrag zur Methodenintegration leistet. Als weiteren Beitrag zur Theorieentwicklung beschreibt sie als Beratungsund Therapieziel ein ökologisches Kompetenzmodell (Kapitel 2 und 9), das sich mit verschiedenen Formen von Beratung und Therapie nahtlos verknüpfen lässt. Der aus Sicht des Autors wichtigste Beitrag der Arbeit besteht sowohl in der Begründung, dass Lernen das wesentliche Element von Beratung und Therapie ist, als auch in der Weiterentwicklung des systemisch-konstruktivistischen Lernbegriffs, der hier analog zur Entwicklung fraktaler Strukturen im Begriff des „Sich-selbst-ähnlichen-Lernens“ insbesondere für eine ökologisch ausgerichtete Beratung und Therapie fruchtbar gemacht wird (Kapitel 3 und 4). Ein weiterer Beitrag der Arbeit ist, dass sie in Beratungs- und Therapieprozessen häufig nicht formulierte, aber mitschwingende Themen wie Selbstveränderungsprozesse ohne professionelle Hilfe, strategisches Handeln, Motivation und Willensbildung sowie Welt- und Menschenbilder (Kapitel 5, 6, 7 und 8) explizit als relevant und kommunikativ notwendig vermittelbar einstuft. Die Arbeit bietet konkrete Handlungsanweisungen, wie sich ökologisches Handeln direkt und unmittelbar in und nach Beratungs- und Therapiesitzun-
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gen umsetzen lassen (Kapitel 9). Darüber hinaus lassen sich diese ökologischen Handlungsstrategien direkt mit verschiedenen emotional-kognitiven Entwicklungsprozessen der Klienten verknüpfen und reflexiv bearbeiten. Weitere konkrete Handlungsanweisungen finden sich ebenso in den Kapiteln über Strategie (Kapitel 5) und über Willensbildung und Motivation (Kapitel 7). Was diese Arbeit nicht leistet, ist eine Reduzierung der Komplexität von Beratungs- und Therapieprozessen. Im Gegenteil, wie bereits in der Einleitung erwähnt, findet durch den Einbezug der hier dargestellten Theorien und Methoden eine Erhöhung der Komplexität statt. In der Praxis verhält es sich allerdings so, dass viele der hier thematisierten Theorien und Methoden auf einer Skala von „explizit benannt bis unbewusst durchgeführt“ ständig eingesetzt werden. Trotzdem stellt sich die Frage, wie in einer solchen ökologisch ausgerichteten Beratung und Therapie in der praktischen Anwendung Komplexität reduziert werden kann. Die Antwort geht in eine Richtung, in der es nicht um Komplexitätsreduzierung geht, sondern um die Entwicklung der Fähigkeit, größere Wissensmengen und eine erhöhte Wissenskomplexität zu verarbeiten. Grundlage hierfür ist, dass der Klient lernt, alles Begriffliche selbst zu konstruieren. Die Erlangung dieser Fähigkeit, deren Grundlage das reflexive Lernen oder das Lernen des Lernens ist, geht nicht schnell vonstatten, sondern bedarf einiger Übung, bis sie sich als dauerhafte Komponente im Alltag manifestiert. Hat ein Klient zu lernen gelernt, zeigt sich, dass er diese Fähigkeit in allen Bereichen seines Lebens einsetzt. Er lernt, dass es Zufriedenheit schafft und Vergnügen vermittelt, ein Problem beziehungsweise gestellte Aufgaben privater oder beruflicher Natur zu lösen. Mit dem kontinuierlichen Einsatz selbstreflexiven Lernens ändert sich die Haltung zur Welt. Weiterhin leistet diese Arbeit keine konsistente Darstellung hinsichtlich des Differenzierungsgrads eines handlungsleitenden Konzepts für methodisches Handeln (vgl. Stimmer 2006: 27 f.).83 Stimmer fordert, dass „sowohl Handlungsleitende Konzepte wie auch spezifische Methoden >...@ hinsichtlich ihrer axiologischen, theoretischen, praxeologischen, wissenschaftstheoretischen und empirischen Fundierung zu differenzieren >sind (P. B.)@“ (ebd.: 27). Hinsichtlich einer konsistenten Darstellung bewegt sich die vorliegende Arbeit, allerdings immer auf das jeweilige Thema bezogen, von wissenschaftstheoretischen Aussagen 83
Methodisches Handeln wird als intersubjektiv überprüfbarer Prozess verstanden (vgl. ebd.: 23).
11 Fazit
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über die Erkenntnisgewinnung von Welt (z. B. Kapitel 3 und 4) bis hin zur Praxeologie in der Formulierung von spezifischen Techniken zur Thematisierung bestimmter Inhalte mit den Klienten (z. B. Kapitel 9). Somit stellt die vorliegende Arbeit ein Vorstadium eines handlungsleitenden Konzepts dar, das
auf der Ebene der Praxeologie Verfahren und Techniken zum Lernen, zum Kompetenzaufbau, zur strategischen Umsetzung von Zielen, zur Selbstveränderung ohne Einbeziehung professioneller Hilfe, zur Willensbildung und zum Umwelthandeln beschreibt. Die nach Stimmer notwendige reflexive Grundstruktur, „die >mit den Verfahren, Techniken (P. B.)@ gemachten Erfahrungen in die Konzepte zurückfließen zu lassen“ (ebd.: 27 f.), ist in der Arbeit durch ihre systemisch-konstruktivistische Grundausrichtung mit der Beobachtertheorie zweiter Ordnung immanent vorhanden. auf der Ebene der Theorie zu einzelnen Theoriekonzepten wie systemischkonstruktivistischer Pädagogik, zum Aufbau von Relevanz, Antizipation und Sinn aus der verstehenden Soziologie und zur Inanspruchnahme einer Sozialarbeitswissenschaft für die Definition des Beispielkonstrukts der ökologisch ausgerichteten psychosozialen Beratung, Stellung bezieht. auf der Ebene der Axiologie Entwicklungen und Möglichkeiten verschiedener Welt- und Menschenbilder zur Diskussion stellt, allerdings ohne theoretische Vertiefung anthropologischer, ethischer und sozialphilosophischer Fragen. auf der Ebene der Wissenschaftstheorie beschreibt, wie sich aus der systemisch-konstruktivistischen Erkenntnisgewinnung die natürliche und soziale Umwelt erschließt. auf der Ebene der Forschungsmethoden nicht auf relevante Forschungsthemen wie die Fragen der Überprüfung hinsichtlich der Folgen und Nebenfolgen (vgl. ebd.: 28) einer ökologisch ausgerichteten Beratung und Therapie eingeht. Dieses ist allerdings auch nicht die Intention der Arbeit.
Weitere mögliche Entwicklungen aus dieser Arbeit lassen sich entsprechend mit drei Tätigkeiten beschreiben: Praxis, Evaluation und weitere theoretische Fundierung. Auf mögliche praktische Einsätze einer ökologisch ausgerichteten Beratung und Therapie wird hier nicht weiter eingegangen, da einerseits in der Arbeit bereits Beispiele für die praktische Umsetzung sowohl für einzelne Klienten als auch in der institutionellen Beratung und Therapie dargestellt wurden und ande-
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rerseits die weiteren Möglichkeiten für den Einsatz dieser ökologischen Ausrichtung in Beratung und Therapie nahezu unendlich sind. Evaluation ist notwendig und im Beratungs- und Therapiebereich aber gleichzeitig auch aufwendig. Hinsichtlich der theoretischen Fundierung einer Forschung für ökologisch ausgerichtete Beratung und Therapie bietet sich wegen der Vernetzung und Komplexität der zu untersuchenden Fragestellungen das aus der systemischen Therapie bekannte „zirkuläre Fragen“ als Forschungsmethode an. Bekanntermaßen bezieht zirkuläres Fragen die Beobachtungen und Handlungen verschiedener Kommunikationsteilnehmer zirkulär aufeinander. Kommunikation und Handlung werden dem Individuum nicht einseitig zugerechnet. Zirkuläres Fragen stellt die rückbezügliche Verknüpfung aufeinander bezogener Kommunikationen und Handlungen zu selbsttragenden und selbsterzeugenden Strukturen dar (vgl. Pfeffer 2004: 133). Eine weitere theoretische Fundierung im Sinne von Stimmers Kriterienraster zur Beurteilung von Methoden und handlungsleitenden Konzepten (s. o.) ist nach Ansicht des Autors insbesondere zu den Themen „Sich-selbst-ähnlichesLernen“ und einer engeren Verknüpfung vom Aufbau einer sinnvollen Lebensperspektive im Zusammenhang mit ökologischen Handlungsorientierungen und Zielsetzungen wünschenswert.
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