Eva Zeltner
Kinder schlagen zurück Jugendgewalt und ihre Ursachen s&c by AnyBody Jugendgewalt macht Schlagzeilen: Bande...
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Eva Zeltner
Kinder schlagen zurück Jugendgewalt und ihre Ursachen s&c by AnyBody Jugendgewalt macht Schlagzeilen: Bandenkriege in den Straßen, Brutalität auf Schulhöfen, rechtsradikaler Terror, kindliche Erpresserclans. »Was mir auffällt, ist die Unfähigkeit vieler Eltern, Kindertränen zu ertragen. Jeder Unlust wird nachgegangen, jeder Wunsch wird erfüllt, bloß weil Eltern nicht die Kraft haben, in dieser Auseinandersetzung eine Position zu finden, die das Kind nicht zum Tyrannen werden läßt.« ISBN 3-423-35102-0 Ungekürzte Ausgabe Januar 1996 Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München Umschlaggestaltung: Boris Sokolow Umschlagfoto Rückseite: Adrian Tobler
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Das Buch Jugendgewalt macht Schlagzeilen: Bandenkriege in den Straßen, Brutalität auf Schulhöfen, rechtsradikaler Terror, kindliche Erpresserclans - jugendliche Gewalt hat es schon immer gegeben, aber die Brutalität hat mittlerweile ein noch nicht gekanntes Ausmaß angenommen. Eva Zeltner zeigt in diesem Buch die Ursachen jugendlicher Gewalt auf: Sie beschreibt die Motive der Täter, schonungslos analysiert sie unsere Gesellschaft, in der Minderheitenhaß und Brutalität weit gestreut sind. Sie entlarvt die »Betroffenheit« und das Entsetzen der Erwachsenen über Jugendgewalt als Heuchelei; und sie zeigt die Doppelbödigkeit auf, von Kindern und Jugendlichen Mitgefühl und Toleranz in einer Gesellschaft zu erwarten, in der Durchsetzung des Stärkeren und der Kampf um Dominanz vorherrschen. »Genau beobachtend, aber nie distanziert beschreibt die Autorin, was die Ursachen von Aggressionen und Gewalt bei Kindern und Jugendlichen sind. Und sie bietet Lösungen an: Es braucht dazu eine Selbstbesinnung der Erwachsenen, eine Infragestellung und Änderung unserer Wertehierarchie. Ein unbequemes, aber lesenswertes Buch.« (Neue Zürcher Zeitung)
Die Autorin Eva Zeltner, geboren 1931 in Zürich, Lehrerin und Heilpädagogin, unterrichtete fünfzehn Jahre an Heimschulen für verhaltensauffällige Knaben. Seit ihrem Studium der Psychologie und Psychopathologie bei Kindern und Jugendlichen Psychologin in freier Praxis. Weitere Veröffentlichungen: ›Stellmesser und Siebenschläfer‹ (1990), ›Mut zur Erziehung‹ (1995).
Inhalt Vorwort........................................................................................................6 I. Kinder machen Schlagzeilen - Erwachsene mimen Überraschung ..........9 Von Homeboys, jungen Neonazis, kindlichen Erpressern und kleinen Familientyrannen .....................................................................................9 Vom geheuchelten Entsetzen, der Suche nach Erklärungen und dem überstrapazierten Sündenbockbegriff ....................................................19 Kinder - kein Thema für Politiker..........................................................26 II. Fehlende Normen und Grenzen -Strukturverlust als Ursache von Gewalt ...................................................................................................................30 Überfluß, Verwöhnung und ein gestörter Bezug zu den Objekten ........30 Die Verdinglichung von Beziehungen...................................................36 Mangel an Struktur in der Kindheit begünstigt Gewalt .........................39 Haltlosigkeit macht aggressiv................................................................43 Verwischte Generationsgrenzen ............................................................46 Gewaltbegünstigende Erziehungsstile; Scheu vor Auseinandersetzung und Vermeidung von Strafe...................................................................50 Freiraum Schule? Kampf der Alphatiere ...............................................55 III. Theorien zur Entstehung von Aggression und Gewalt ........................64 Gewalt ist nicht gleich Gewalt: Definition und theoretische Ansätze....64 Aggressionsanfällige Perioden in der kindlichen Entwicklung .............80 Verherrlichung der Grausamkeit als Panzer gegen Ungeborgenheit und Verlassensein .........................................................................................93 Sind Jungen anders gewalttätig als Mädchen?.......................................95 IV. Die Faszination der Brutalität............................................................107 Verführung durch Videos ....................................................................107 Die Ängste der Jungen.........................................................................118 V. Das Liebäugeln mit dem Faschistoiden ..............................................127 Mord beginnt mit Worten ....................................................................127 Rechtsblind, bis der Umsturz droht .....................................................131 Sympathie mit den rechtslastigen Schmuddelkindern, zweierlei Rechtsprechung und wiedererwachtes Machotum...............................137 VI. Der Mann als Platzanweiser und Stör-Phall ......................................143 Ein- und Ausgrenzungen in einer patriarchalen Welt: Mann definiert die Frau......................................................................................................143 Lieber tot als Macht los .......................................................................148 Männermoral, dehnbar wie Kaugummi ...............................................152 In den Fantasien zeigt sich das Gesicht der Welt als Totenkopf..........156 VII. My home is my castle - Der Keim der Gewalt in der Familie..........159
Familienmythen als Tarnkappe für Gewalt..........................................159 Der Riß in der Fassade: Gewalt gegen Kinder und die Mär vom Inzesttabu.............................................................................................164 Hobbyväter, Klettenmütter und die Unterdrückung kindlicher Gefühle .............................................................................................................173 VIII. Auswege aus dem Labyrinth Gewalt ..............................................180 Vorläufige Standortbestimmung..........................................................180 Zehn Thesen 1. Wir müssen Abschied nehmen vom Elends-Mythos .......................185 2. Ein positives Selbstwertgefühl reduziert Unsicherheit, vermindert Ängste und dadurch die Neigung zu Gewalt .......................................187 3. Ohne Eigenliebe wird Nächstenliebe zur Abhängigkeitsfalle..........190 4. Nur Ich-starke Menschen können Grenzen anderer respektieren und sich selber abgrenzen ...........................................................................194 5. Der Dialog kann Gewaltausbrüche verhindern ................................197 6. Erziehung zur Rollenvielfalt reduziert die Entstehung von Vorurteilen .............................................................................................................201 7. Männerförderung erweitert die Rolle des Mannes. Gewaltprävention beginnt im Kinderzimmer....................................................................203 8. Politiker und Politikerinnen müssen sich mit den Ursachen zur Brutalisierung unserer Gesellschaft ernsthafter auseinandersetzen und der Menschenverträglichkeitsprüfung höchste Priorität vor anderen Kriterien einräumen .............................................................................206 9. Humor ist ein Mittel gegen Gewalt..................................................212 10. Kreativität ist die beste Antwort auf Gewalt..................................215
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Vorwort Die Welt gleicht einem riesigen Kampffeld, vom Pausenhof bis zum Kriegsschauplatz. Tag und Nacht ist das globale Gewaltpotential über das Netzwerk der Massenmedien gegenwärtig und dringt in unser Bewußtsein. Brutales Geschehen, das ändern widerfährt, löst Betroffenheit aus. Sie ist der Mantel, den Mann und Frau sich zur Tagesschau umhängen, um ihn bald - katastrophenmüde - wieder abzuwerfen. Betroffenheit bedeutet weder Engagement noch echtes Infragestellen betroffen machender Zustände oder eigenen Verhaltens. Der Begriff wird zunehmend zum Modewort der Therapeutenszene. Betroffen ist, wer von seinem Partner, seiner Partnerin mißverstanden oder im Beruf übergangen wurde, wer erstmals vom Drogenkonsum seines Kindes erfährt. Betroffenheit stellt sich ein, wenn von Jugendgewalt mit ihrer Parole »Gewalt ist geil« die Rede ist. Doch Betroffenheit allein genügt nicht. Sie erschöpft sich meist im Jammern und Schuldzuweisen. Weder Bagatellisieren noch der Ruf nach hartem Durchgreifen werden indessen den Trend zu destruktiven Ausschreitungen und Radikalismus unter den Jugend stoppen. Einem großen Künstler wie A. R. Penck gelingt es, die Dramatik der Opfer-Täter-Beziehung mit kärgsten Mitteln eindringlich umzusetzen. Archaischbeklemmend die Brutalität: Gewalt in Männergestalt. Der erigierte Penis repräsentiert die Machtbesessenheit des männlichen Prinzips. Das Opfer - ein Kind - hält dem Killer verzweifelt einen Spiegel entgegen. Provokation als letzte Hoffnung? Penck läßt den Ausgang des Gewaltakts offen. Täter und Opfer bleiben ohne Geschichte, namen- und zeitlos, aufs Uberpersönliche reduziert, verdichtet wie eine Höhlenzeichnung. Doch die Form täuscht. Gewalt ist -6-
an keine Epoche gebunden. Unsere Generation ist angesprochen. Die Vergewaltiger und Töter der Gegenwart. Die Zeichnung mag Abscheu erregen, auch Widerspruch. Wir verweigern den Blick in den Spiegel. Zu spät: die Opfer wehren sich. Kinder schlagen zurück. Kaltblütig wiederholen sie, was ihnen Erwachsene vorleben: eine Philosophie rücksichtsloser Selbstdurchsetzung. Unsere Zeit hat erkannt, daß alle Systeme miteinander vernetzt sind. Kindergewalt ist nicht trennbar von Erwachsenengewalt. Auf diesem Hintergrund löst Pencks Symbolik Abwehr und Beunruhigung aus; Beunruhigung nicht nur über seine bildnerische Aussage. Die Verunsicherung gilt uns selbst, unserem Umgang mit persönlicher und fremder Willkür, unseren Erklärungsversuchen, die hauptsächlich eigensüchtiger Entlastung dienen. Wir - die Friedfertigen stehen plötzlich neben dem Täter, bestürzt, doch ohne ihm in den Arm zu fallen. Aus Angst vor dieser Erkenntnis vermeiden wir den Blick in den Spiegel und verdrängen, wie sorg- und rücksichtslos wir Erwachsenen mit Kindern, ihren Lebensräumen, ihren Berufsund Daseinsperspektiven umgehen, wie feige wir zu faschistoiden Haßtiraden, nationalem Rassedünkel und jugendlicher Zerstörungssucht schweigen und dadurch zur schweigenden Mehrheit werden, die Gewalt nicht nur duldet, sondern sie an Kinder delegiert. Jahre vergingen, ehe die Diskussion um die zunehmende Gewaltbereitschaft unserer Gesellschaft öffentlich geführt wurde, und es zeigt sich immer mehr, daß die neonazistische Gefahr von den »linken« Medien weder »erfunden« noch »aufgebauscht«, höchstens zu sensationell aufgemacht wurde. Erst wenn wir uns als Mittäter und Mittäterinnen entlarven, sind wir imstande, mutig gegen gewaltfördernde gesellschaftliche Zustände anzugehen, die einer phallischen -7-
Weltsicht entstammen, in der Skrupellosigkeit und Brutalität zur Erreichung von Macht eingesetzt werden. Einfühlsamkeit und Mitleid dürfen nicht länger »weibliche« Werte und darum zweitrangig sein. Seit 15 Jahren beschäftigt mich das Thema des jugendlichen Rechtsradikalismus, der nach der Vereinigung der beiden Deutschland seinen vorläufigen Höhepunkt fand, keineswegs aber auf Deutschland beschränkt, sondern ein internationales Phänomen ist, zu dessen Eindämmung wir alle etwas beitragen können und müssen. Wiegeln wir die Gefahr weiter ab und wähnen uns - wie in den Dreißigerjahren - in der trügerischen Sicherheit, die Extremismus- und Gewaltwelle werde von selber verebben, steht uns ein böses Erwachen bevor. Ursache und Verhütung von Kinder- und Jugendgewalt sind zu Hauptthemen unserer Demokratien geworden. Aber alle Bemühungen, aggressive Handlungen zu verhindern, werden scheitern ohne Selbstbesinnung der Erwachsenen, ohne ein Infragestellen und eine Änderung unserer Wertehierarchie.
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I. Kinder machen Schlagzeilen Erwachsene mimen Überraschung
Von Homeboys, jungen Neonazis, kindlichen Erpressern und kleinen Familientyrannen »Tatort Hamburg: Sechs Jungen stürmen einen U-Bahnzug, zwingen einen Passagier mit gezückten Messern, ihnen Jacke und Geld auszuhändigen. Der älteste Räuber ist 13, der jüngste 9 Jahre alt.« »... Mit vorgehaltenen Pistolen gehen in der Innenstadt zwei Schüler auf eine Kassiererin los. Einer fordert ›Geld her, oder ich schieße‹ . Als Anführer entpuppt sich ein 12jähriger, sein Komplize ist 14.« Keine Szenen aus einem Fernsehkrimi, sondern Kinderkriminalität in deutschen Städten, beschrieben im Magazin ›Der Spiegel‹ (März 1992). Neunjährige HeroinDealer, elfjährige Autoknacker, zehnjährige Straßenräuber - sind diese Kinder das traurige Resultat einer Erziehung, welche sie aus den Zwängen und Mißhandlungen der sogenannten schwarzen Pädagogik befreien und ihnen zu einer unbeschwerten Kindheit verhelfen wollte? Statt dessen benehmen sich ABC-Schützen wie Vandalen. Immer mehr Schüler bewaffnen sich, hantieren mit Messern, Wurfsternen und Reizgas-Pistolen, bedrohen Mitschülerinnen und Passanten, schrecken selbst vor lebensgefährlichen Aktionen nicht zurück, wie die zwei achtjährigen Frankfurter Jungen, die einen friedlich auf einer Bank sitzenden Kameraden -9-
mit einem Seil strangulierten, ohne von ihm abzulassen, als er blau anlief. Um zu sehen, wie es ist, wenn man einem den Hals zudrückt, »einfach nur so«. Für Erpressung und Randale machen sich deutsche Schülerinnen und Schüler stark. Die Berichte über die ausufernde Brutalität in den Schulen lesen sich wie Auswüchse einer absurden Fantasie, die in Kinder hineinprojiziert, was Erwachsenen zu tun verboten ist. Geringfügige Mißverständnisse, Langeweile, Leere und eine Wut auf Schwächere lassen Kinder und Jugendliche scheinbar grundlos ausrasten, »weil ich die Markenturnschuhe des anderen will oder seine Edelklamotten Marke ›Chevignon‹ , ›Converse‹ , die er sich leisten kann und ich nicht.« Zigaretten werden den Begüterteren mit erpresserischen Drohungen, Schlägen und Messerzücken abgenommen. Geld her oder ich stech dein Auge aus. Aber nicht nur Deutschland, auch »Zürich-Oerlikon ist nahe bei New York«, sagte der Kabarettist Franz Hohler in einer Rede vor angehenden Lehrerinnen und Lehrern. Das Schreckgespenst heißt »amerikanische Verhältnisse«: in den US-Großstädten, in den Müllwüsten von Harlem und der Bronx, in Chicago und Los Angeles liefern sich schon Kinder Feuergefechte um Drogengeschäfte. »Aggressiv delinquente Jugendliche«, »Antischüler verhindern den Unterricht«, »Ich schlage zu, wenn sie mich zornig machen«, »Skateboard, Breakdance und rohe Gewalt«, »Gewalt auf dem Pausenplatz«, »Angst und Gewalt an der Schule«, »Homeboys überfallen brutal Gleichaltrige«, »Bandenkrieger in den Stadtwüsten« sind jedoch weder Schlagzeilen aus dem Milieu unterprivilegierter US-Kinder, noch berichten sie über den Alltag schwarzer SlumJugendlicher. Diese Titel stammen alle aus der Zürcher Tagespresse des zweiten Halbjahrs 1992. Eine kleine Auswahl nur. -10-
Ungewohnt ist die emotionale Kälte der jungen Menschen. Mit unbeschreiblicher Kaltblütigkeit begehen sie Taten, die wir bisher durch Bücher und Filme über ausländische, das heißt weit entfernte Metropolen erlebten, aus zweiter Hand sozusagen, mit einer Mischung aus Prickeln im Bauch, Sensationslust und geheucheltem Mitgefühl für die Armen in den Elendsvierteln. Raub, Morddrohung, Erpressung. Überfälle auf Gleichaltrige und ältere Menschen. Die Täter werden jünger, brutaler und kennen kein Mitleid. Wer durch Berlin fährt oder durch Dresden, ist schockiert über die Allgegenwart neonazistischer Embleme. Hakenkreuze, Parolen, Kleber mit rassistischen Sprüchen, Judenwitze und weitere Häßlichkeiten aus des Führers Giftküche prangen an SBahnwagen, Hauswänden und vorweg an den Bomberjacken des braunen Nachwuchses. Aber auch unmarkiert macht sich Rassismus breit, liefert Konfliktstoff bis in die Schulen. In vielen Klassen der ehemaligen DDR sei es unmöglich geworden, über Ausländerhaß zu sprechen. Den Lehrern werde einfach das Wort abgeschnitten. »Was soll das, die Türken klatschen wir doch auf.« Türkenkinder werden mit noppenbesetzten Lederarmbändern geschlagen, weil sie einen Papierkorb benützen, der »nur für Deutsche sei«, weil ein Mädchen »aussieht wie eine Türkin«. Auch im Westen breitet sich Skinhead-Unmoral aus. Vor laufender Kamera ereifern sich Jugendliche über einen mit Sicherheit stattfindenden Sturz der Regierung. Hitlergruß und Auschwitzlüge, don't worry, be Nazi, Ausländer raus, Schwulenhatz und Deutschland den Deutschen. Juden ab nach Israel oder in den Aschenbecher. Am besten schockieren läßt es sich mit rechten Parolen und Angriffen auf Leib und Leben. Fatalerweise ist an vielen Orten die Zustimmung größer als der Schock. Nicht nur im wiedervereinigten deutschen Land, in ganz Mitteleuropa sprießt die unbekömmliche Saat, gedüngt mit -11-
Druckerzeugnissen made in USA und geistig unterstützt durch Ku-Klux-Klaner. In der Schweiz gab es seit 1945 noch nie so viel rechtsradikales Gedankengut, nachgebetet von Politikern und gedankenlos übernommen von Jugendlichen, denen Provokation alles und Denken nichts bedeutet. Flüchtlingsheime brennen auch bei uns, und um Haßobjekte sind die Kids der neuen Rechten nicht verlegen. In rechtsradikalen Jugendgruppen (Wikingjugend) wird geschossen, ist das Waffentragen und Handgranatenwerfen in einsamen Kiesgruben Teil der ideologischen Faszination à la Rambo, und ein Türke, an dem man seine Aggression live auslassen kann, kreuzt beinahe täglich den Weg. Haarsträubende Vorfälle listet Jürg Frischknecht auf in ›Schweiz wir kommen‹ (1991). Überproportional neigen angeblich Jugendliche der zweiten Ausländergeneration zu Straftaten. In Großstädten wie Frankfurt sei jeder zweite Tatverdächtige unter 18 Jahren ein Ausländer, schreibt Bruno Schrep in seinem Bericht über kriminelle Hamburger Kinder im ›Spiegel‹ (14/92). Kinder ausländischer Eltern haben es nach wie vor schwer, sich in der Schule und am Ausbildungsplatz durchzusetzen, empfinden sich als benachteiligt. Anders als ihre Eltern, die ihre Situation im Vergleich zur Heimat als ökonomisch befriedigend erleben, messen sie ihren Status am Konsumlevel der Gleichaltrigen des Gastlandes. Mit Baseballschlägern versuchen sie, ihre Opfer einzuschüchtern und sie zur Herausgabe von Geld oder Klamotten zu bewegen. Ursache: Krasse soziale Unterschiede, auch wenn sie sich nicht vergleichen lassen mit der Perspektivlosigkeit der Ex-DDR-Jugendlichen oder der Tristesse französischer Satellitenstädte, Orte, die selbst von Polizisten gemieden werden. Die heruntergekommenen Hochhaussiedlungen am Rande der Großstädte gelten inzwischen als Brutstätten der Kinder- und Jugendgewalt. Allerdings: auch Mittel- und Oberschichtseltern sind keine Garantie für Wohlverhalten im Sinne der Gesetze. -12-
Wohlstandsverwahrlosung bewirkt immer frühere Auffälligkeiten. Die Zahl der 8 bis 14jährigen, die mit dem Gesetz in Konflikt geraten, sei, so behaupten deutsche Polizisten, zwischen 1988 und 1990 um rund zwanzig Prozent gestiegen. Verschiedene Autoren stellen fest: ob deutsche, Schweizer oder ausländische Kids, Sproß reicher oder armer Eltern - die Gewaltbereitschaft eskaliert, die Hemmschwelle gegen Körperverletzung sinkt, die Zahl der Raubüberfälle steigt, Anrempeleien und Erpressungen auf Schulweg und Pausenplatz sind bald alltäglich. Der Chef des jugendpolizeilichen Dienstes in Zürich sagt, daß der Anteil jugendlicher Straftäter seit Jahren bei etwa zwanzig Prozent liege, die Art der Delikte sich aber verändere: beinahe die Hälfte seien heute bewaffnete Raubüberfälle. Während Leute aus der Praxis über die neue Qualität der Kindergewalt besorgt sind, weist eine Studie des Psychologen Rolf Reber von der Universität Bern (Tages-Anzeiger, 12. 2. 93) nach, »daß der Anteil Jugendlicher und junger Erwachsener an der Kriminalität im Laufe der letzten zehn Jahre abgenommen hat«. Einschränkend heißt es dann, gegen immer mehr Jugendliche werde wegen der Delikte Drohung und Nötigung ermittelt. »Was in der Öffentlichkeit generell als Zunahme der Kriminalität unter Jugendlichen registriert wird, ist in Wirklichkeit nur die Häufung dieser zwei Arten von Gewalt.« Dieses »nur« verharmlost die Delikte Drohung und Erpressung, verrät zudem wenig Einfühlung in die Opfer, die »den Gang zu Erziehungsberatern oder zur Polizei scheuen, weil von ihnen absolute Verschwiegenheit verlangt worden ist«. Deshalb wird diese neue Form der Gewalt weniger angezeigt und statistisch ungenau erfaßt. Bandengemeinschaften wuchern auch in Städten der Schweiz, nach dem Vorbild amerikanischer Ghettojugend aus der Subkultur der Afro-Amerikaner, der Hip-Hop-Szene: dazu gehören Rap, der schnelle Sprechgesang, unterlegt mit Bässen -13-
und harten Beats, die Akrobatik der Breakdancer und die anarchistischen Farborgien schwarzer Sprayer und berühmt gewordener Künstler. Der frühverstorbene Keith Haring erlangte Weltruhm mit seinen Graffitis. Ursprünglich war die Hip-HopKultur der New Yorker Homeboys eine friedliche Gegenbewegung: statt Waffen Kreativität, anstelle von brutalem Territorialkampf ein Wettstreit mit Spraydose, Tanz und Rap. Der Sieger erlangt Ruhm und Bewunderung. Auch für Schweizer Homeboys sind Ruhm und Anerkennung wesentlicher Bestandteil ihrer Lebenshaltung. Homeboys, so nennen sich die 12 bis 21jährigen männlichen Jugendlichen der HipHop-Szene. Ihr sichtbarster subkultureller Code ist die Kleidung: klobige, nicht gebundene Turnschuhe, weite T-Shirts, dunkle Wollkappen oder Baseballmützen. In den USA wurde diese Billigkleidung zum Symbol der sozial schwachen Jugend. Im europäischen Trend verkehrte sie sich ins Gegenteil. Homeboys und Flygirls tragen teure Kleidung. Da die finanziellen Mittel zum subjektiv unumgänglichen Dazugehören oft fehlen, beschaffen die Jugendlichen sich Kleidungsstücke auf illegale Weise. Die so erworbene Jacke bildet darüber hinaus einen Kompromiß zwischen dem angestrebten Ghettodasein und dem Elite-Anspruch, nur Markenklamotten zu tragen. »Hip-Hop ist macho, ein Männerklub.« Darauf sind die Jungen stolz. Gegen die Übermacht der Weißen entstanden in der New Yorker Rapper-Szene Songs mit aggressivem Inhalt wie »Kill the police«, eine unverblümte Aufforderung zum Bullenmord. Deftig, oft obszön ist die Sprache, Gewalt wird glorifiziert. In den Rap-Videos fuchtelt auch mal einer mit seiner Pistole herum - harmlos im Vergleich zur täglichen Fernsehmetzelei, wie die Journalistin Claudia Senn in ihrem Artikel ›Rap, Radau, Randale‹ (1992) meint. Sie glaubt denn auch nicht, daß provozierende Texte schwarzer Rapper für die zunehmende Gewalt in der Homeboy-Szene verantwortlich gemacht werden dürfen. -14-
Vor allem die jüngere Hip-Hop-Generation scheint sich indessen lieber durch »Fäuste statt Fantasie« Respekt zu holen. Die Spray-, Tanz- und Rap-Positionen sind bereits von den Älteren vereinnahmt, setzen Talent voraus und jahrelange Übung. Besonnenere Homeboys und bewußtere Flygirls, so heißen die weiblichen Mitglieder - die sich nicht nur als Bettgefährtinnen im Machoklub verstehen -, distanzieren sich denn auch deutlich von jenen, die sich mit Gewalt profilieren wollen. Diese hätten »von Hip-Hop überhaupt nichts begriffen«, ärgert sich der Basler Rapper und Sprayer Black Tiger, ein angehender Psychologie-Student, über die vielen NegativSchlagzeilen in den Medien. Die Berichte betreffen vor allem die sogenannten Toys (Spielzeuge), das sind MöchtegernHomeboys, Anfänger oder Mitläufer. Die Homies und Flygirls, die sich nur oberflächlich an der amerikanischen Ghettojugend - cool, easy und hip - orientieren, schließen sich ebenfalls zu Gruppen zusammen, mit eigenen Symbolen: Mütze, T-Shirt, Skateboard, aber auch Waffen; vom Schmetterlingsmesser bis zu Schußwaffen. Waffen würde ihnen regelrecht nachgeschmissen, meint Black Tiger, ein Ausspruch, der zeigt, wie Alltagsgewalt in unserer Gesellschaft eine Selbstverständlichkeit zu werden beginnt. Mutproben verschaffen Zutritt in die Gangs: Überwindung der Angst durch Klauen eines T-Shirts, aber auch durch Verprügeln eines Homosexuellen oder eines Asylsuchenden. Homies fühlen sich als Überlebenskämpfer im Großstadtdschungel und rücken die Gewalt, wie der Psychologe Allan Guggenbühl (1992) schreibt »ins Zentrum eines Rituals, durch das sie sich selber als Gruppe erleben«. Sie inszenieren einen Mythos, »an dem ein Teil der Jugend sich orientiert und sein Lebensgefühl ausdrücken will: auf sich allein gestellt in einer unsicheren, unübersichtlichen Welt«. Inzwischen wächst die Gewalt unter Homeboys. Ein schräger Blick - »guck nicht so doof, willst du eins in die Fresse?« - schon knallt's. -15-
Längst nicht alle Jugendlichen, die von der Hip-Hop-Kultur fasziniert sind, leben Gewalt direkt aus, doch die Romantisierung hebt nach Guggenbühl »etwaige moralische Schranken gegen manifeste Gewalt auf...« als »verlockende Möglichkeit, sich in die Welt einzubringen, um dem eigenen Dasein Drama zu verleihen«. Darum gilt es, »den kulturell desorientierten Jugendlichen, die in der Homeboy-Szene aktiv sind, zu helfen, sich mit unseren Werten zu identifizieren. Fühlen sie sich als Mitglied unserer Gemeinschaft, so übernehmen sie eher unsere Hemmung der Gewalt gegenüber« (Neue Zürcher Zeitung, 145/92). Im Gegensatz zu Guggenbühl glaube ich, daß es ausgerechnet diese Werte sind, welche, zu Worthülsen geworden, nicht mehr ernstgenommen werden und daher auch nicht zu überzeugen vermögen. Von »unserer Hemmung der Gewalt gegenüber« zu reden, ist gefährlich und doppelbödig. Ähnlich verhält es sich mit Begriffen wie Gleichberechtigung und Menschenwürde. Gewiß ist die Verhinderung der Gewalt eine der größten Herausforderungen, die uns in den nächsten Jahren bevorsteht, doch scheinen die heutigen, zumeist männlichen Machthaber weit davon entfernt, in irgendeinem ihrer Wirkungsfelder auf Gewalt verzichten zu wollen. Zunehmend, so scheint es, funktioniert die Normenbildung im Kindesalter nicht mehr, bleibt das Gewissen auf der Strecke, verwandeln sich Kinder in coole, kleine Monster. Ihre Vorbilder, Rambo und der Terminator, gewalttätige Helden der Mattscheibe, spiegeln die Auswüchse der Erwachsenenwelt: Habgier und Skrupellosigkeit. Erlaubt ist, was mir nützt. Das sind für viele Menschen »unsere Werte«, und mit diesen identifiziert sich die Jugend immer früher. Ehe wir von Kindern Mitgefühl, Sorge für Objekte, Leib und Leben fordern, müssen sie Rücksicht und Toleranz erleben. Hier hat unsere Selbstverwirklichungskultur versagt. -16-
Die Mentalität der abgebrühten Kids stellt eine Welt in Frage, die trotz aufwendig betriebener Forschungen zum Wohl des Kindes »kindgerechtes« Leben nur einer Minderheit von Kindern ermöglicht. Die Mehrheit wird ausgebeutet, vergewaltigt, zu schweren Arbeiten mißbraucht, ihrer Organe beraubt, den Eltern weggenommen, wird Opfer von Kriegen, Krankheiten oder verhungert. Die Hölle ist ein paar Flugstunden entfernt, vor unseren Bildschirmaugen. Auch Kinder aus wohlhabenderen Ländern sind Opfer von Erwachsenen, die ihre eigenen Interessen durchsetzen. Mit dem Auseinanderbrechen bürgerlicher Familien, dem zunehmenden Wechsel in Partnerschaften müssen sich Kinder immer häufiger in neue Konstellationen des Zusammenlebens einfügen. 40 000 Kinder leben obdachlos in Deutschlands Städten, haben ihre Familien verlassen. Die Zahl der jungen Ausreißer steigt, ihr Alter sinkt. Sie sind Opfer von Erwachsenengewalt, von überforderten, bedürftig gebliebenen Eltern, welche vom Kind fordern, was ihnen das Leben vorenthielt. Wärme und Geborgenheit suchen die »Aussteiger-Kids« bei ähnlich vernachlässigten Gleichaltrigen. Der Freiraum der Straße mündet aber über kurz oder lang in Drogenabhängigkeit, Kriminalität, Prostitution oder in die Freiheit eines Todes, der nicht selbst gewählt ist. Unerwartet aus der Verschwiegenheit aufgetaucht, welche allen sogenannten Familiengeheimnissen eigen ist, ans Licht der Therapeutenpraxen getreten, ist eine Gewaltform, die bisher kaum ein Thema war: Terror gegen Eltern, ausgeübt von 6 bis 14jährigen. Bei den bekannt gewordenen Fällen handelt es sich nach G. Nissen, einem deutschen Kinderpsychiater, nur um die Spitze eines Eisbergs, denn erst extremste Ausschreitungen ließen Eltern, vielfach alleinerziehende Mütter, Hilfe suchen. Immerhin widmete sich bereits eine Tagung der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Hamburg den kleinen Familiendespoten. -17-
Tyrannisierte Eltern, neuestes Tummelfeld für Psychologen? Mütter berichten, daß sie von ihren kleinen Jungen Tag und Nacht drangsaliert werden: Nicht genug, daß sie sich bei den Knaben an- und abmelden müssen, wenn sie die Wohnung verlassen, daß die Kinder Speisezettel und TV-Programm bestimmen. Die Mütter knien auch vor ihren Kids nieder, entschuldigen sich auf Befehl, beseitigen die von den Kindern im Zorn angerichteten Verwüstungen. Kühlschrankinhalt oder sämtliches Waschpulver muß - und wird - von ihnen unter Kontrolle und demütigenden Kommentaren der kleinen Vandalen aufgekehrt. Ältere Jungen werden tätlich, versuchen, ihre Mütter zu vergewaltigen, und bedrohen sie mit Waffen. Bemerkenswert einmal mehr: Es wird von Gewalt gegen Eltern gesprochen. Die geschilderten Beispiele betreffen aber vor allem Mütter. Verunsicherung und Hilflosigkeit ergreift die Erwachsenenwelt: Was sind das für Kinder, die emotionslos quälen, bisweilen sogar töten, »um zu sehen, wie es ist«? Warum tun sie es? »Weiß nicht.« Stereotyp ihre Antwort, formelhaft, unkindlich, resigniert. Nicht nur ein Wertewandel, eine Umkehr aller Werte scheint stattzufinden. Kinder- und Jugendterror statt Ehrfurcht vor dem Alter. Anstelle des autoritären »Du sollst Vater und Mutter ehren« tritt die Maxime: »Dein Kind fordert, gehorche.«
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Vom geheuchelten Entsetzen, der Suche nach Erklärungen und dem überstrapazierten Sündenbockbegriff
Kinder, die Streicheleinheiten und Anerkennung in Form eines Skateboards, eines Walkmans oder anderer Verdinglichungen erfahren, deren Eltern Liebe mit Geschenken gleichsetzen, eine Generation, die menschliche Beziehung vorwiegend als Durchsetzung des Stärkeren im Kampf um Dominanz erlebt, im Film, in der Tagesschau, im Alltag, die aufwächst im Bewußtsein: ›Wer hat, befiehlt, Macht kennt kein Mitleids eine Generation, die nie lernt, zu verzichten und Konflikte friedlich zu lösen, die dank der Medien gleichzeitig an verschiedenen Ereignissen rund um die Welt teilnimmt, entwickelt ein narzißtisches Lebensgefühl mit Umgangsformen, die uns zunehmend, wenn auch erstaunlich spät, beunruhigen. Die jungen Aggressoren halten der Erwachsenenwelt einen Spiegel vor, der ihr zeigt, wie sie ist ohne die Maske ihrer Wertefloskeln. Die Saat von Eigennutz, Lieblosigkeit und brutalem Durchsetzungsvermögen geht auf. Warum herrscht unter »Sachverständigen« und Eltern diese Ratlosigkeit? Was soll das Entsetzen, nun, da viele Kinder an emotionaler Immunität leiden? Haben wir sie nicht seit früher Kindheit gegen Mitgefühl und Nächstenliebe geimpft? Die Kaltblütigkeit der Kleinen hängt sehr direkt mit der Kälte einer egoistischen Umwelt zusammen, dem hohen Ansehen von schnell wechselnden Statussymbolen, der Leere einer Erwachsenenwelt, deren Werteskala durch Krokodile und andere Labels an Kleidern und Design bestimmt wird. Es ist nicht verwunderlich, daß die Gewalt der Kinder bevorzugt mit der sozialen Unterschiedsthese erklärt wird. Neid -19-
gebiert Aggressivität: dies überzeugt die Goldküstenbewohner der Gesellschaft und beruhigt zugleich. Problemfamilien der Unterschicht das sind die bedauernswerten ändern. Fremde verschiedener Hautfarben und Schicksale. Die damit verbundenen Benachteiligungen gelten als statistisch erhärteter Nährboden von Kriminalität. Der ›Tages-Anzeiger‹ (20. 11. 92) zitiert Manuel Eisner vom Soziologischen Institut der Universität Zürich: »Menschen in sozialen Randlagen verfügen über weniger Ressourcen, um Krisen und Alltagsprobleme zu meistern-Rechtsbrüche sind deshalb häufiger.« Nach Guggenbühl (1992) sind gefährdet: »Labile, leicht verwahrloste oder kulturell desorientierte Jugendliche«. In deutschen Medien wetteiferten bis zu den Morden von Mölln im November 1992 Sozio- und Psychologen mit Politikern und Jugendrichtern, um die primitiven Aus- und Überfälle der Skinheads aus dem rechten Milieu zu verschleiern. Das Weltbild dieser Jugend »speise sich«, so der Rechtsextremismus-Experte Wilhelm Heitmeyer, »aus gesellschaftlicher Desintegration - aus einem tristen Alltag voller Lebensleere und Ohnmachtsgefühle«. Der Psychotherapeut Hans-Joachim Maaz spricht gar vom »Aufschrei gekränkter Seelen« (Der Spiegel, 50/92, S. 26). Besonders die sozial schwache Ex-DDR-Jugend fühlt sich betrogen, um ihre Zukunft gebracht, sieht sich als Menschen zweiter Klasse und tritt nach unten gegen noch Erfolglosere. Eine Studie der Forschungsstelle Sozialanalysen in Leipzig stellt fest: 54 Prozent der jungen Ostdeutschen lehnen Ausländer ab. Wie nirgends sonst wurde im Osten die Klage gesungen vom sozial benachteiligten, frustrierten, orientierungslosen Jugendlichen ohne Arbeit, ohne Freizeitangebot, ohne Geld, in ödem Land allein gelassen mit einer Freiheit, die gar keine ist. Also - seltsame Logik - muß er sich ja an Hakenkreuz und Führerwort emporranken, denn was ihm fehlt, ist eine Ideologie. -20-
Der Westen hat ihm genommen, was ihn vorher unterdrückte, aber auch stützte. Nachdenklich macht in diesem Zusammenhang die Aussage des 17jährigen Franz, eines Skins aus Ostdeutschland: »In unserer Weltanschauung, die national und sozialistisch ist, haben ideelle Werte den Vorrang vor materiellen Werten. Diese Gesellschaft (die kapitalistische; E. Z.) baut dagegen fast ausschließlich auf materiellen Dingen auf. Jeder ist bestrebt, sich Geld und dicke Autos, Designerklamotten oder teure Wohnungen zu beschaffen. Das kann nicht so weitergehen und nicht der Sinn des Lebens sein. Kameradschaft und Zusammengehörigkeit sind uns dagegen wichtiger« (Der Spiegel, 50/92, S. 26). Frustration durch eine Überbewertung des Materiellen? Im Westen werden solche Stimmen verdrängt und der hohe Stellenwert materieller Güter bagatellisiert. Über die Ostjugend wird anders geurteilt: Als Menschen sind diese Jugendlichen nie bestätigt, nie angenommen worden. »Diese innere Halt- und Bindungslosigkeit, diese Verunsicherung wecken jetzt das Bedürfnis nach einem äußeren Halt, nach einem Führer, der sagt, wo's lang geht«, behauptet der Rostocker Psychiater HansJoachim Maaz (Tages-Anzeiger, 27. 8. 92). Politische Wende, Pubertät, Eintritt ins Berufsleben, Arbeitslosigkeit, die Wirrnis eines neuen, widersprüchlichen Weltbilds: auf diesem Boden gedeiht eine abstruse Philosophie, die Fremdes verachtet und sich aus Schlagworten vorwiegend rechter Propaganda und eigenen Erkenntnissen zusammensetzt. Kameradschaft, Heimatgefühl und Nationalismus ohne politischen Hintergrund? Langeweile als Hauptmotiv für Zerstörungswut und Haß? Erheblich verzögert dämmert es der älteren Generation und den Polit- und Wirtschaftsspitzen, daß organisierte Neonazis versuchen, die »anfänglich nur vordergründig politische Revolte der Kinder zu bündeln«, daß immer mehr Täter- »überwiegend -21-
männlich, zwischen 17 und 24 Jahre alt, meist Schüler oder Lehrling und bisher noch nicht straffällig geworden« (Landeskriminalamt Wiesbaden, 1992) - aus geordneten Verhältnissen, sogar »wohlsituierten Elternhäusern« stammen. Ihre Zahl steigt auch in den neuen Bundesländern. Eine Pilotstudie des Instituts für Psychologie der Universität Basel von Esther Lips unter der Leitung des Psychologen Gerhard Steiner über Jugendbanden und Hooligans widerspricht ebenfalls der bequemen, weitere Ursachen ausschließenden Unterschichtsund Elends-These: Die gewalttätigen Jugendlichen sind keine Schulversager, gehen einer geregelten Tätigkeit nach und müssen keine Scheidungskinder sein. Jugendgewalt entsteht nicht nur im Milieu der Unterschicht und bei frustrierten Problemkindern. Es werden also weitere Erklärungen gesucht - und ein Sündenbock gefunden. Schuld sind die ändern. Die Ausländer natürlich, wer denn sonst? Die Wirtschaftsflüchtlinge, die Scheinasylanten, die herumlungernden Zigeuner, Kanaken, die Juden. Vergleichbare Gefühle befallen verunsicherte junge Menschen in ganz Europa. Aufgewachsen in einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft im Westen, einem verrotteten Sozialismus im Osten, haben sie es schwer mit der gegenseitigen Akzeptanz, umso mehr, als auch das westliche System sich momentan auf Talfahrt befindet. Das Vertrauen in den Staat ist geschwunden, und viele sind nicht gewillt, Arbeitsplätze, Discos und Wohnraum mit Ausländern zu teilen. Aus einem Interview mit einem 17jährigen Lehrling: »Na ja, wir haben nach dem Krieg hart gearbeitet, haben verzichtet und uns zurückgehalten und uns angestrengt. Die Türken könnten das doch bei sich zuhause auch tun. Aber dazu sind sie zu faul. Es ist ihnen einfacher, statt dessen zu uns zu kommen und hier das auszunützen, was wir erarbeitet haben« (Der Spiegel, 2/93, -22-
S. 44). Die Haltung vieler Erwachsener »Ausländer sind gut für Dreckarbeit, aber nicht als Hilfsbedürftige«, wird von den Kindern so verstanden, daß die Asylsuchenden wie Kuckucke im Wohlstandsnest sitzen. Reinhart Lempp, Psychiater in Stuttgart, sieht in den Gewaltakten eine Fehlreaktion deutscher Jugendlicher, »die keine Zukunft für sich sehen« und glauben, »daß der Staat den Fremden hilft, sie aber... im Regen stehen lasse«. Das Losschlagen gegen Ausländer deutet er als »Protest des Sohnes gegen die vermeintliche Bevorzugung des angenommenen fremden Kindes« (Der Spiegel, 2/93, S. 46). Fremde als Auslöser auch für die brennenden Flüchtlingsheime, die Getöteten in der Schweiz, für verwüstete jüdische Friedhöfe, für zu Tode geprügelte und verbrannte Menschen westlich der ehemaligen DDR-Grenze? Müssen Wohlstandskinder sich auf derart menschenverachtende Art prophylaktisch für ihre Zukunftschancen wehren, die ihnen von den »Scheinasylanten« vermiest werden? Auf Pluralismus, Wertewandel und Positionengerangel reagieren die Zukurzgekommenen in Ost und West mit ähnlichen »Lösungen«: Statt sich nach oben zur Wehr zu setzen, drischt die frustrierte Jugend auf Wehrlose ein. Nach Maaz eine Folge des totalitären Erziehungsprinzips. In der DDR »gab es eine riesige Furcht, gegen die Oberen anzukämpfen« (TagesAnzeiger, 27. 8. 92), daher entlädt sich die Aggression auf die Allerschwächsten. Maaz sieht im Gefühlsstau ein Massenphänomen der Deutschen und befürchtet ein soziales Desaster, sofern kein Umschwung in der Politik stattfinde. Der Schweizer Psychoanalytiker Aron R. Bodenheimer erkennt im Verlust der »Streitkultur« eine Ursache von Haß, Intoleranz und Gewalt. Sowohl in den Familien, den Paarbeziehungen als auch in der Politik werde Streit vermieden, -23-
sagte er in einem Radio-Interview. Die Kunst des Streitens, wie sie besonders unter Juden gepflegt werde, sei vor allem in der Schweiz abhanden gekommen. Das erkläre die politische Verdrossenheit weiter Kreise. Ohne Auseinandersetzung entwickle sich in allen menschlichen Beziehungen »hemdsärmlige Langeweile«, angestaute Energie, die - in Haß umgesetzt - explodiere. Laut Kennern der Neonazi-Szene gibt es keine »typische Biographie des rechtsextremen Gewalttäters«; allerdings verweisen Beobachtungen darauf, daß die Jungen vielfach aus einem reaktionären Milieu stammen und mit fremdenfeindlichen Äußerungen aufwachsen. Ohne Einbettung in ein entsprechendes Umfeld würden Kinder und Jugendliche kaum derart eine Zeit neu und verzerrt entdecken, deren Erinnerung noch immer bei einem Teil der erwachsenen Bevölkerung auslöst, was von allen zu erwarten wäre: Grauen und Angst. Kinder, die sich über die fremden Schmarotzer, die kriminellen Türken, die habsüchtigen Judenschweine aufregen, kommen nicht von allein zu solch krassen Ansichten. Zehnjährige geben bei Fragen über Asylsuchende in schweizerischen und süddeutschen Dörfern fast gleichlautende Antworten. Unschwer ist der Einfluß des familiären Dunstkreises herauszuhören. Die moralischgeistige Unterstützung, welche die Bevölkerung den Randalierern entgegenbringt, zeugt von einer Delegation des Problems an die Jugend, aus Angst, sich selber die Finger zu verbrennen. Heinz Abosch schreibt (Neue Zürcher Zeitung, 130/93), es gebe »40000 gewaltbereite Rechtsextremisteneine Größenordnung, die die Bundesrepublik Deutschland bisher noch nie kannte -«, nebst »200 000 mit ähnlicher Gesinnung, die unzählbaren Sympathisanten aus der Bevölkerung nicht -24-
mitgerechnet. Die Attentate auf Ausländer erfreuen sich oft einer unverkennbaren Sympathie in breiten Kreisen...« Am Familientisch, in der Kneipe und in den demagogischen Aussprüchen von rechtslastigen Fachleuten und Politikern beginnt, was sich später so beängstigend niederschlägt. Peter Dehousi schrieb kürzlich in ›Nation Europas daß es sehr wohl Rassenunterschiede gebe, etwa zwischen Bantus und Asiaten, und schließt daraus, Europa müsse sich abschotten gegen ein Durcheinander der Völker, sonst bestehe die Gefahr, daß es untergehe. Der Humanethologe Irenäus Eibl-Eibesfeldt warnt seit Jahren unermüdlich vor einer Vermengung der Rassen im Genpool der Völker. Xenophobie (Fremdenfeindlichkeit) wird als evolutionär sinnvolle Strategie zur Erhaltung der Rassenreinheit eines Volkes dargestellt. Ausschreitungen gegen Fremde werden dadurch als ethnozentrische Selbstverteidigung auf biologischer Basis legitimiert. Gewiß befällt manche Schweizerinnen und Schweizer ein mulmiges Gefühl, wenn sie zum Beispiel in der Stadt Zürich plötzlich als einzige Fahrgäste eines öffentlichen Verkehrsmittels Schweizerdeutsch sprechen und die ItaloJugend der zweiten Generation das Vertrauteste wird inmitten dunkelhäutiger, schwarzhaariger Männer und Frauen mit geblümten Kopftüchern. Bedrohlich, diese Männerblicke, seltsam die verhüllten Frauen, unverständlich eine Kultur, zu der uns der Zugang verwehrt bleibt. Aber suchen wir ihn überhaupt? Das Unvertraute ist faszinierend und beängstigend zugleich. Sich vorzumachen, daß Busfahrten mit vielen anderssprachigen Passagieren Ferienstimmung vermitteln oder daß schamloses Verhalten einzelner Menschen aus anderen Kulturkreisen unseren Alltag bereichere, ist ebenso gefährlich -25-
wie das Verteufeln ethnischer Gruppen. Erst wenn wir die Verunsicherung durch das Fremde akzeptieren, können wir uns auf rationaler Ebene damit auseinandersetzen. Eine multikulturelle Gesellschaft um jeden Preis ist genau so aggressionsträchtig wie jene, die Asyl oder Aufenthalt verweigert.
Kinder - kein Thema für Politiker
Kindliches Wohlbefinden ist in hohem Maß umweltabhängig. Auffälliges Verhalten und destruktive Handlungen werden gefördert durch ständige Verbote infolge kleiner Wohnungen und gefährlicher Straßen. Wo vor Jahrzehnten Mädchen und Buben auf dem Schulweg spielten, donnert heute Schwerverkehr vor den Fenstern der Anwohner. Wiesen verschwinden, Erholungsgebiete verlagern sich in die Nähe von Autobahnen. Es scheint, als würden Kinder von Politikern kaum wahr- und noch weniger ernstgenommen. Viele Regierende handeln so, als wären sie selber nie Kind gewesen und als interessierten sie sich weder für den Erhalt einer kindgerechten Umgebung noch für das Bewahren einer Welt, die auch zukünftigen Generationen ein menschenwürdiges Dasein erlaubt. Billige Bekenntnisse und Beteuerungen kommen zwar manchem Politiker über die Lippen -»der Umweltschutz hat Priorität, gewiß« -, aber nur eine Minderheit bemüht sich konkret, Güter wie Luft, Wasser und Boden vor der endgültigen Aus-Nutzung zu bewahren. Und nur wenige ahnen einen Zusammenhang zwischen dem leichtsinnigen Umgang mit Lebensräumen und den Zerstörungsorgien Jugendlicher, die so ihre massiven Ängste -26-
betäuben. Was ist verheerender: aufgeschlitzte Autoreifen oder der tägliche Verkehrstod von Kindern? Graffiti an Hausfassaden und Kirchen oder von Schadstoffen zerfressene Sandsteinkathedralen? Die Vandalen stellen keine solchen Beziehungen her; sie verstehen intuitiv die Zeichen der Zeit. Die Architektur westeuropäischer Städte widerspiegelt aufs traurigste, welchen Werten diese Epoche huldigt: Banken, Einkaufstempel, Asphaltwüsten; Glas, Stahl und Beton; starr, rechtwinklig, steril. Gigantische Geldwaschanlagen, Zeichen der Geld-Macht-Konzentration: Ausdruck eines Renditedenkens, das Selbstzweck wird und Leben ausklammert. Nach uns die Sintflut. Leben hat eine chaotische Komponente. Lachen, Weinen und Schreien fehlen in den Zentren der Städte. Kinder sind an die Peripherie verwiesen oder in die Kinderbetreuung der Warenhäuser. Erst in der Pubertät rotten sie sich in Parks und vor den Kaufhäusern zusammen und machen auf sich aufmerksam. Es sind vor allem weniger Angepaßte, die öffentlich in Erscheinung treten: Homies, nach Nationalitäten getrennt, Junkies, Prostituierte, Skins. Obschön sie nur vereinzelt Erwachsene anpöbeln, sind sie vielen ein Dorn im Auge. Mehr als über Faschojugendliche erregt sich besonders die männliche Politelite über verwahrloste Drogenabhängige und Mädchen, die auf den Drogenstrich gehen. Weg mit den stadtunwürdigen Gestalten, in die nächste Seitengasse. Verkrümelt euch, bis der Drogenkongreß vorüber, die Bankdirektoren getagt und die Wirtschaftssachverständigen neueste Prognosen verkündet haben. Hilflos begegnen Verantwortliche dem ausufernden Drogenproblem. Ihnen sind Menschen unverständlich, die nicht den Normen unserer Gesellschaft entsprechen können oder wollen. Ein Stadtrat sagte bei der Wiedereröffnung des Platzspitzes, Zürichs ehemaligem -27-
Drogenumschlagplatz, 98 Prozent der Zürcher seien ordentlich und sauber, ihnen gebe man diesen Park zurück. Die Anwesenden waren ordentlich, sauber und älteren Jahrgangs. Kinder und Jugendliche haben keine Lobby. Zwar sind sie die Wählerinnen und Wähler von morgen - doch können sie sich an unseren Hinterlassenschaften erfreuen? Werden sie uns nicht eher verfluchen? Atommüll- und Giftdeponien, ein Ozonloch, das die Erde im nächsten Jahrhundert vielleicht unbewohnbar machen wird. Es gibt unzählige Hypotheken dieser Art, welche Politikerinnen und Staatsmänner skrupellos an die nächste Generation vererben. Hauptsache, sie profitieren, solange sie an der Macht sind. Wissenschaftler von Rang, welche vor weiterer schamloser Ausbeutung natürlicher Ressourcen warnen, werden mit Gegengutachten mundtot gemacht. Milliarden D-Mark werden für Kampfflugzeuge mit hohen Lärm- und Schadstoffemissionen ausgegeben. Die technische Spitzenleistung der Donnervögel ist eine Drohgebärde ins Leere gegen einen noch nicht bestimmbaren Feind. Für Radwege fehlen lächerliche Summen. Autos und Lastwagen haben Vorfahrt. Richten sich die kindlichen Aggressoren an unsere Generation, die sich bisher der Verantwortung gegenüber ihren Nachkommen entzogen hat? Weder die Warnungen des Club of Rome noch die Endlosliste von folgenschweren Umweltverschmutzungen brachten ins Verhalten westlicher Industrienationen einen Umschwung. Der Wald stirbt. Wir haben uns daran gewöhnt. Tschernobyl ist vergessen. Daß täglich Tier- und Pflanzensorten aussterben, der tropische Regenwald verschwindet, erschreckt uns kaum, sonst würden wir Arten- und Landschaftsschutz zur Priorität erheben. Auf anderen Gebieten versagt die Politik ebenfalls: Die Migration wurde seit Jahren angekündigt - die Politiker zeigen -28-
sich überrascht. Überrascht auch von der Umstellung des Ostblocks auf den Kapitalismus, vom Mißerfolg der Drogenpolitik, überrumpelt von der neuen Armut, der Arbeitslosigkeit, den gewaltgeilen Kindern und der großen Zahl junger Rassisten. Was besorgte - als Miesmacher und Wirtschaftsfeinde abgestempelte - Zeitgenossen heraufziehen sahen, überrascht jene, die dank ihrer Kompetenz zur Lösung der vielschichtigen Probleme vom Volk gewählt sind. Konzeptlos, mit Scheuklappen vor den Augen glauben sie, den Herausforderungen einer widerwärtigen Zeit gewachsen zu sein. Nach Jahren beispielloser Vergeudung wird gespart: zuerst im Bildungs- und Sozialbereich. Das trifft die Falschen, die ohnehin Benachteiligten, darunter die Kinder. Zu wenig Kinderkrippen? Der Staat braucht weder faule noch karrieresüchtige Mütter. Tagesschulen? Siehe Krippen. Mehr Spielplätze? Parkplätze gehen vor. Protestmarsch gegen den hohen Ozongehalt? Erstens: Ist die Demo bewilligt? Zweitens: Schließt die Fenster und sperrt die Kleinen ein, bis es wieder regnet. Gefährlicher Schulweg? Mehr Verkehrsunterricht. So bedrückend die Umweltsituation ist, sie wird in der Politik weiterhin als Schwarzmalerei verharmlost. Geld war schon immer zugkräftiger als Ethos. Was Politiker verschweigen, erzählen Kinder und Jugendliche in Aktionen und Zeichnungen: von einer zukünftigen Welt, wie sie hoffentlich nicht sein wird. Doch Kinderängste rühren die Mächtigen nicht, sie lesen auch keine Mauersprüche: »Hilflos« heißt es da, oder: »Diese Stadt gibt dir alles, was du zum Leben nicht brauchst.«
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II. Fehlende Normen und Grenzen Strukturverlust als Ursache von Gewalt
Überfluß, Verwöhnung und ein gestörter Bezug zu den Objekten Momentaufnahmen aus zwei Kindheiten - stellvertretend für Jungen und Mädchen aus ähnlichen Milieus der westlichen, konsumorientierten Wettbewerbsgesellschaft sollen illustrieren, wie das Lebens-Motto der Eltern: »Wir bieten unserem Kind (und uns) von allem nur das beste«, ein Kind seelisch schädigen kann. Sara: Schon als Baby fliegt Sara auf die Kanaren, holt sich in Ägypten den ersten Brechdurchfall, mit fünf planscht sie in einem karibischen Swimmingpool, schäkert ein Jahr später mit Mickey-Mouse in Disneyland und durchquert mit acht Kanada im Wohnmobil. Neue Welten im Multipack. Nahrung: mal indisch, mal italienisch, am liebsten viel Fleisch. Mit vier hat Sara eine Phase, da will sie zuhause bleiben, nicht in den Supermarkt, weder spazieren, autofahren noch Besuche machen. Ihre Mutter reagiert mit Befremden, der Arzt verschreibt dem Kind ein leichtes Beruhigungsmittel, mehr der genervten Mutter zuliebe. Große Schwierigkeiten entwickelt die Kleine beim -30-
Schuleintritt. Massive Trennungsängste erfordern die tägliche Begleitung der Mutter, später leidet Sara unter morgendlichem Erbrechen. Mit 14 schwänzt sie die Schule, kann sich zu keiner Lehre entschließen, jeder Beruf ödet sie an, und zur Dolmetscherin fehlen ihr Begabung und Ausdauer. Kaum begonnen, hört sie mit einer Lehre zur Friseuse auf, schließt sich herumstreunenden Jungen an, ist wiederholt in Diebereien verwickelt und wird gefaßt nach einem Überfall auf eine ältere Frau, der sie die Handtasche entriß, so daß das Opfer zu Fall kam und sich verletzte. Fassungslos die Mutter: »Ich hab doch alles für sie getan, ihr jeden Wunsch erfüllt, wenn sie etwas brauchte, sie erhielt es, wozu muß sie stehlen?« Und der Vater: »Wir haben ihr die halbe Welt geboten, sie von klein an immer mitgenommen, ich hab für sie geschuftet, weshalb jetzt sowas?« Sara: »Eigentlich hätte ich oft gern auf die teuren Sachen verzichtet, wenn mein Vater nur mal mit ins Schwimmbad gegangen wäre. Meine Eltern haben sich nie richtig für mich interessiert. Sie hörten mir kaum zu, immer hieß es: Wir haben doch dies und das...« Timo: Sein Zimmer quillt über: Legosteine, Puppenhäuser, Garagen, Kräne, Bulldozer, Traktoren, Autos, eine Eisenbahn und Bilderbücher, Bälle, Telefon, Zoo, Zirkus, 12 Kasperlefiguren (4 Hexen, weil sie ihm so gefallen), 15 Puzzles, 8 Memories, Kinderwagen mit Riesenbär, ein Bettchen mit zweitem noch größeren Bären, Puppen überall, von handgestrickt bis naturalistisch, Fingerfarben, ein Xylophon, drei Schoppenflaschen, fünf Schnuller, ein Puppenherd mit Geschirr, eine Schwesterntracht, Arztausrüstung, Kinderstaubsauger, kleines Bügeleisen, Kinderbackgarnitur, jede Menge Intelligenzförderspiele. Schaukelpferd, Dreirad, Rennauto stehen auf der Veranda. -31-
Die Mutter sucht die Erziehungsberatung auf. Timo sei so unkonzentriert, quengelig, nie lang bei einer Sache. Er könne nicht allein spielen. Mit Spielkameraden sei er sehr heikel, und sie, die Mutter, hätte doch noch anderes zu tun. Wenn sie sich mit ihm beschäftige, sei er wie verwandelt, fröhlich, ausgeglichen - sonst jammere der Junge, es sei ihm langweilig. Oft zerstöre er seine Stofftiere, reiße ihnen ein Bein aus, »einfach so«. Auch könne er heftig trotzen, besonders, wenn er nicht sofort bekomme, was er möchte. Nur schwer lasse er sich trösten mit dem Hinweis auf die Sachen zuhause. Er habe so viel, und doch sei es, als komme er dauernd zu kurz. Timo ist vier. Zum ersten Schultag erhält der inzwischen Sechsjährige ein Meerschweinchen. Er freut sich sehr, doch nach zwei Wochen ist ihm das Tier verleidet, und er möchte einen Hund. Weil er ihn nicht »subito« bekommt, drückt und würgt er in einem Trotzanfall das Meerschweinchen, bis es stirbt. Dann wirft er es weg und beharrt auf seiner Forderung nach einem »lässigen, großen Hund«. Die beiden Beispiele zeigen keine gewalttätigen Familienstrukturen, die Väter sind weder Alkoholiker noch prügeln sie ihre Frauen, die Mütter bemühen sich nach Möglichkeit, sind nicht außer Haus berufstätig - laut Volksmund und vielen Psychologen noch immer Grund Nummer eins für jedes kindliche Fehlverhalten. Die Kinder werden nicht geschlagen. Keine besonderen Probleme, nur die üblichen - zum Beispiel abwesende Väter und sich zeitweise überfordert fühlende Mütter. Das ganz normale Chaos einer Familie also. Einer quasi intakten Familie. Sara und Timo werden nicht einmal als besonders schwierig eingestuft, am bereits Üblichen gemessen, wo »aggressives Verhalten schon bei Kindern registriert wird, die kaum aus dem Krabbelalter heraus sind. Alljährlich, so haben Untersuchungen des Bundesverbandes der Unfallversicherer der öffentlichen -32-
Hand ergeben, werden bei Raufereien in den Kindergärten der alten deutschen Bundesländer mindestens 4000 Jungen und Mädchen so schwer verletzt, daß sie ins Krankenhaus eingeliefert werden... Diagnostiziert werden pro Jahr beispielsweise 400 Hirnsubstanzverletzungen sowie 700 Schnittund Stichverletzungen« (Der Spiegel, 14/92). Vor dem Hintergrund solcher Vorkommnisse nehmen sich Timos getötetes Meerschweinchen, sogar Saras Entreißdiebstähle vergleichsweise harmlos aus. Dennoch sind ihre Verfehlungen alarmierend. Sie enthüllen mehr als die von der Gesellschaft nachvollziehbare Gewalt von materiell und an Zuwendung offensichtlich Zukurzgekommenen die Leere und Orientierungslosigkeit, die breite Bevölkerungskreise erfaßt haben und mit den Verheißungen der pluralistischen, leistungsorientierten Konsumgesellschaft nicht gefüllt werden. Außerdem birgt der Lebens- und Erziehungsstil, wie er tendenziell in vielen Familien heute angestrebt wird, die Gefahr, daß Kindern die Fähigkeit zum Ding-Bezug und damit zum Sorgetragen für Objekte wie Spielzeug, Kleider und letzten Endes für sich selber und für Mitmenschen verloren geht, da sich die Bindung an Objekte nicht vollziehen konnte und damit auch das Verantwortungsgefühl für das dem Kind Gehörende unterentwickelt bleibt. In diesen Familien zählt, was mann und frau trägt, fährt und zeigt. Kinder, zu Statusobjekten degradiert, von elterlichem Narzißmus vereinnahmt, sollen an Schönheit und Klugheit nicht nur Mutter und Vater übertreffen - vor allem haben die Nachkommen den Nachwuchs der anderen zu überflügeln. Welche Mutter kennt nicht das bohrende Gefühl, wenn das jüngere Kind einer Freundin mehr als das eigene kann? Schöner singen, tanzen, zeichnen oder besser sprechen? Mißgefühle stellen sich ein, und sie muß sehr reif und eigenständig sein, um der Vergleicherei keine wesentliche Bedeutung beizumessen. Es liegt im Trend der Zeit, Kinder einerseits sehr großzügig und -33-
andererseits als Vorzeigeobjekte zu behandeln. Also beschaffen sich Eltern erst mal, was die Sprößlinge äußerlich aus der Masse heraushebt: Spielzeug und Kleider. Dann folgt die Vorschulerziehung, Ballett oder was an Trendigem im Kleinkindsektor jeweils angeboten wird. Die eigenen Bedürfnisse nicht mit denen von Sohn und Tochter zu verwechseln, ist schwierig, geschieht doch - aus Elternsicht alles zum Wohl des Kindes. Ihm soll es an nichts mangeln. Bei Sara, Timo und vielen anderen Kindern liegen die Wurzeln des auffälligen Verhaltens nicht im Mangel an äußeren Gütern, weniger auch in grober elterlicher Repression, höchstens in sehr subtiler, sondern in einem Überangebot an Materiellem, einer eigentlichen Konsumlawine, welche einem kleinen Kind die Beziehung zu den Dingen unmöglich macht, weil es von ihnen überschüttet wird. Der Weltbezug erfolgt nicht nur über Personen, sondern auch über Gegenstände, die uns umgeben, die - man denke an die persönliche Kitschecke - einen ideellen, einen Gemütswert haben. Leblose Objekte werden in der magisch-animistischen Entwicklungsphase des Vor-Kindergartenkindes nicht immer von Personen unterschieden. Sie können ebenfalls sprechen und sind für das Kind »lebendig«. Mehr als halbjährige Kinder brauchen nicht nur beständige Bezugspersonen (das kann der Vater oder eine Drittperson sein), sie brauchen auch eine stabile Umgebung, sonst haben sie Schwierigkeiten beim Aufbau eines individuellen Welt-Raums, was bedeutet, daß im Grunde alles austauschbar ist, bis hin zu den Menschen. Ohne persönlichen Bezug, der eine Orientierung ermöglicht, sitzen Timo und Sara übersättigt und leer zugleich inmitten ihrer Reichtümer und wissen nicht, wie sie mit ihnen spielen sollen. Spielenkönnen ist aber eine unabdingbare Voraussetzung für seelische Gesundheit. Nicht umsonst wird dem therapeutischen Spiel große Heilkraft zugeschrieben. Kind und Langeweile sind zwei Begriffe, die sich eigentlich -34-
ausschließen und, wenn sie zusammentreffen, ein Indiz für den Beginn einer Fehlentwicklung sein können. Gelangweilt sprechen die Schlaraffenkids mit zwölf über ihre letzte Amerikareise oder wie lebensmüde Greise über die nächste Party. Die Schule interessiert sie echt nicht, und an Affengeilheit fehlt es total in ihrem Alltag, falls sie sich nicht ein heißes Video hineinziehen. Starker Nervenkitzel ist zuletzt das einzige, was diesen Youngsters das Gefühl gibt zu leben. Freuen können sie sich auf nichts, alles schon gehabt von klein auf. Was fasziniert, ist Gewalt. Als Droge. Gepaart mit »der Kälte der rationalen Gesellschaft« (G. Schmidtchen), die nicht selten ihre Elternhäuser unterkühlt, ergibt das eine brisante Mischung. Ein derart düsteres Weltbild setzt die Hemmschwelle, sich fremden Besitz anzueignen, herab, denn alles ist ersetzbar. Ich behalte, was ich brauche, was ich im Moment sehe: ein Fahrrad, eine Jacke, ein Etui. Vandalismus nimmt hier seinen Anfang, in der gestörten Beziehung zu den Objekten. Eine Puppe, die mir nichts bedeutet, bleibt ein Gegenstand, zu dem ich keine positiven Gefühle entwickle, ein verdinglichtes Ding im Gegensatz zu einem emotional besetzten. Was bedeutungslos ist, kann leichter zerstört werden. Die Welt dieser jungen Menschen ist ohne Leben, seelenlos, unersättlich ihr Bedürfnis nach neuen Reizen. Im Innersten unbefriedigt, sind sie dauernd auf der Suche. Doch wer in der Kindheit keine Beheimatung an das ihn Umgebende fand, hat auch später Mühe, die Geborgenheit, nach der sie oder er sich sehnt, zu finden. Trotz Rezession verkümmern Kinder inmitten eines Überangebotes an materieller Zuwendung. Eltern, welche für ihren Nachwuchs ein Spielzeuglager anlegen, vertuschen damit oft ihre eigene Gefühlsarmut und Liebesunfähigkeit. Doch Kinder können nicht getäuscht werden, jedenfalls nicht auf lange Sicht. Glück haben jene Mädchen und Buben, die ihre lebensnotwendige Ration an Zärtlichkeit von anderen Menschen bekommen, wenn sie ihnen -35-
aus welchen Gründen auch immer - Zuhause vorenthalten wird. Nur positive Zuwendung kann verhindern, daß Opfer zu Tätern und Täterinnen werden. Wo den narzißtischinfantilen Befriedigungen des Individuums die zentrale Stelle in der Wertehierarchie eingeräumt, der Individualismus derart kultiviert wird, daß für »die anderen« wörtlich und im übertragenen Sinn kein Raum bleibt, ist nicht einzusehen, weshalb Kinder und Jugendliche nicht erwachsenenlogische Schlüsse ziehen und sich auf die erfolgversprechende Seite schlagen sollen. Daß Gewalt Vorteil und Macht bringt, wird ihnen ja täglich vorgelebt.
Die Verdinglichung von Beziehungen Ein Arbeitspartner vieler Beschäftigten ist frei von Aggressionen und Ungeduld: der Computer. Gleichbleibend ausgewogen sind die Rückmeldungen des Geräts, nach mehr oder minder witzigen Begrüßungsfloskeln und einem Stereotyp von Fehlermeldungen bei inadäquatem Verhalten des menschlichen Gegenübers. Allerdings sind sie kein Ersatz für persönliche Kontakte und lassen oft den Zusammenhang zum Gesamtprozeß vermissen. Computerfreaks können zwar die Maschine als Vehikel ihrer kreativen Ideen verwenden. Nur besteht bei einem allzu intensiven Umgang mit ihr die Gefahr einer Verdinglichung des Denkens: der Kontakt mit Maschinen ersetzt die zwischenmenschliche Kommunikation und kann - wie alles ausschließlich Betriebene zur Sucht werden und damit zur Gleichgültigkeit gegenüber anderen führen. Zu einer Bezogenheit auf sich selbst in autistischer Abkapselung. -36-
Fasziniert stehen schon Vierjährige vor den Bildschirmen der Computerabteilungen und vertiefen sich in imaginäre Verfolgungsjagden. Erstaunlich geschickt handhaben sie die diversen Knöpfe und reagieren behende, wenn es gilt, den »Feind« auszulöschen. Schon die Kleinsten hocken gebannt vor den versachlichten Spielen: fiktive Welten stehen bereit, in sie einzudringen. Es wird getötet und ausradiert. »Ich kann nicht lesen, aber schauen kann ich«, sagt ein Knirps im Film über Kinder, die den Computerspielen verfallen sind (Schweizer TV, Dezember 1992). Auch wenn Kinder zu zweit oder dritt auf den Bildschirm starren, entwickelt sich daraus kein Miteinanderspielen. Die Isolation, durch die alleinige Ausrichtung auf einen Gegenstand, der eine Scheinwelt vorgaukelt, ist das Bedrohliche an dieser Art Spiele. Bildschirmsymbole ersetzen die lebendige Begegnung. Weder Freude noch Ärger werden durch Apparate ausgetauscht, mitempfunden oder abgefedert. Zorn und Frustrationen können zwar an solchen Spielen abreagiert, aber auch aufgeladen werden durch das ständige Verlangen nach mehr, nach neuer Action. Spektakuläreres steht uns jedoch bevor. Das Laserdrom, in dem jeder jeden vom Kind bis zum Greis mit Laserkanonen abknallen kann, ist erst ein Anfang. Hier wird die Verdinglichung schon so weit getrieben, daß lebendige Menschen im Spiel wie Gegenstände behandelt werden. Der Laserstrahl tötet »nur« in der Fantasie. Zum Vergnügen können Mann, Frau und Kind die eigene Familie umlegen, Freund und Feind, mit täuschend nachgemachten Waffen. Killen zum Plausch scheint aber die Psyche nicht wenig zu strapazieren, wie die schweißüberströmten und mitgenommenen Kunden nach Ausübung ihrer Schießwut bezeugen, auch wenn sie das Spiel als befreiend schildern. Befreit, das heißt herabgesetzt, wird höchstens die Aggressionshemmung. Noch raffiniertere künstliche (virtuelle) Realitäten werden den Rückzug in die -37-
persönlichen Abgründe und Sehnsüchte weiter aktivieren: der Cyberspace-Anzug hängt bereits in den Vergnügungszentren der Egomanen zur Verwirklichung eigener Wünsche im fiktiven Raum. Die Vergegenständlichung unserer Tagträume bedeutet zugleich Rückzug aus dem Ort der Begegnung in die Vereinzelung. Autismus wird zur erstrebenswerten AntiUmgangsform. Der Mensch wird zum Objekt unter Objekten. So verdinglichen auch Kinder ihr soziales Verhalten, ihre Denkweise. Die Schule hat die Versachlichung der Lernprozesse ebenfalls vorangetrieben mit dem massiven Einbezug von Medien. Die Lehrpersonen verschwinden immer mehr hinter technisierten Hilfsmitteln. Außer Computern, Diaprojektoren, Dias und Tonkassetten: eine Überschwemmung mit Arbeitsblättern jeder Art. Doch keine »Technik« ersetzt die Auseinandersetzung zwischen Lehrenden und Kindern, die nicht nur auf der kognitiven Ebene erfolgt und Aggressionen nicht immer ausschließt. Was als Vorzug der Computer gepriesen wird, ihre emotionale Neutralität, ihre Wertfreiheit, kann für das kleinere Kind eine zu distanzierte Teilnahme an seinem Tun bedeuten. Schüler und Schülerinnen reagieren auf die emotionale Distanzierung im pädagogischen Prozeß mit Zerstörung. Beschädigtes Schulmaterial, Verwüstungen in Freizeitanlagen, verkotete Toiletten und Graffiti zeugen in Schulhäusern von Mißmut und kindlicher Frustration durch Erwachsene, denen der Umgang mit Medien wichtiger ist als ein lebendiger Dialog mit einer Schulklasse. Bis die Gewalt schließlich in Terror gegen Unbeteiligte auf Pausenplatz, Schulweg und im Schulzimmer umschlägt und Menschen zu Gegenständen macht. Medien und Kinder sind manipulierbar. Doch Kinder können fragen und Erwachsene in Frage stellen, wenn sie nicht als Dinge (Schülermaterial), sondern als Menschen behandelt werden. -38-
Mangel an Struktur in der Kindheit begünstigt Gewalt Kaum geboren, nehmen Kinder heute bereits am Leben der Erwachsenen teil. Die Mütter haben den Snugly entdeckt. Säuglinge und Kleinkinder werden im Tragetuch durch Museen geschleppt, vor einem Picasso gestillt, auf Parties von Arm zu Arm gereicht. Wegen seines Geschreis eilt die Mutter mit dem Baby aus Hörsälen, und an unterschiedlichsten Veranstaltungen stehen Krabbelkinder im Zentrum der Aufmerksamkeit. Knapp fünfjährig schlief unser Jüngster in einem Orgelkonzert auf den Stufen zum Chor ein, mit bloßem Bauch und verrutschtem T-Shirt, nachdem er zuvor mit dem Geschnalze platzender Kaugummiblasen die Menge der Wartenden unterhalten hatte. Viele finden das witzig, aber es gibt auch Menschen, die sich ärgern, wenn Kinder im Vorschulalter überall eindringen: wenn Bahnabteile im Vorortszug unter den bewundernden Blicken der Mütter zum Spielplatz ihrer Sprößlinge werden, im Restaurant eine Demonstrationsstunde für Anti-Pädagogik stattfindet oder ein junges Ehepaar vor 22 Uhr von seinem Kleinkind zu keinem vernünftigen Gespräch freigegeben wird. Die Mutter-Kind-Symbiose der Naturvölker, bei der Dreijährige noch gestillt werden bis zur Ankunft eines Geschwisters und im Umhängetuch auf Mutters Rücken an allen Verrichtungen des Alltags teilnehmen, läßt die sich so einfach in unsere Verhältnisse übertragen? Ist zwingend auch für das Kind gut, was die Mutter gerne tut? Konzerte besuchen, Parties, lange Reisen unternehmen? Niemand wünscht die repressive Erziehung früherer Generationen zurück. Ergebnisse von -39-
Untersuchungen, Beobachtungen, auch meine persönlichen Erfahrungen mit verhaltensgestörten Heimkindern zeigen aber, wie hilfreich und ichstärkend das Errichten eines festen Rahmens für die gesunde Entwicklung fast jeden Kindes ist. Es ist ein Irrtum, anzunehmen, Kinder seien so pflegeleicht, daß es ihnen nicht schade, wenn sie überallhin mitgeschleppt werden, mal hier, mal dort bei Bekannten übernachten, täglich andere Speisen, immer neue Gesichter, fremde Wohnungen vorgesetzt bekommen, einmal früh, einmal spät schlafen gehen, heute um elf, morgen um zwölf, übermorgen überhaupt nicht warm essen. Ohne Grenzen fühlen sich die Kleinen ungeborgen in einer für sie unstrukturierten Welt. Ein gesundes Kind verlangt nach einem Rahmen, der sukzessive ausgeweitet werden soll. Zweijährige, welche ihre Schlafenszeiten selbst bestimmen dürfen und nur essen, was und wann ihnen beliebt, sind schlicht überfordert und entwickeln sich zu unzufriedenen Tyrannen. Nicht von ungefähr sind heute so viele Eltern bereits mit einem Kind an der Grenze ihrer Belastbarkeit angelangt. Meint eine Mutter, sie müsse vom Morgen bis zum Abend ihr »Schätzchen« unterhalten, dürfe erst von seinem Bett weichen, wenn es eingeschlafen ist, müsse ihm jeden Wunsch erfüllen, ohne je eine Minute für sich selbst zu erübrigen, erweist sie weder sich noch ihm einen Gefallen. Schon kleine Kinder verstehen sehr wohl, daß es zeitliche Grenzen gibt, daß sie früher schlafen gehen sollen und die Gute-Nacht-Geschichte nicht zwei Stunden dauern kann. Neben dem Überbesorgtsein gibt es die verantwortungsblinde Unbekümmertheit, die unter dem Schlagwort »antiautoritär« daherkommt. Selten erziehen Eltern aus Überzeugung repressionsfrei, sondern aus pädagogischer Scheu und Unentschlossenheit. Es handelt sich, wie Jürgen Pleger (1993) schreibt, um »... eine aktuelle Eltern-Kind-Beziehung..., die nach dem hedonistischen Prinzip eines... gegenseitigen Freiseins und Genießens des eigenen Lebens ausgerichtet ist« (S. 11). -40-
Was immer die Gründe dieser elterlichen Erziehungsverweigerung sein mögen, die Kinder haben Mühe, sich ohne klare Regeln in der Welt zurechtzufinden. Kinder mit einer Mmimalbraindysfunction, einer minimalen Hirnreifeverzögerung, sogenannte POS-Kinder, neigen dazu, in einer legeren Umgebung auszurasten. Sie werfen mit Gegenständen um sich und ängstigen die Eltern mit Wutanfällen. Ein Übermaß an Dingen und Geräuschen läßt sie außer sich geraten. Ich konnte feststellen, wie kleinste Veränderungen im Tagesablauf ihr Gleichgewicht empfindlich stören: wenn der Tisch nicht wie üblich gedeckt ist, ein versprochener Zoobesuch ausfällt, zu viele Spielsachen bereitstehen oder ein neues Kleidungsstück angezogen werden soll. Wenn sich ihr gewohntes Bezugssystem ändert, verlieren sie den Überblick. Die leichte Hirnfunktionsstörung offenbart bei diesen Kindern, worunter auch andere leiden: an mangelnder Orientierung, um sich im Alltag, in der Familie, der Gesellschaft zurechtzufinden, zeitlich, räumlich und moralisch. Vorschulkinder sind noch dem magischen Denken verhaftet. Realität und Fantasie lassen sich nicht klar trennen. Die Wahrnehmung pendelt zwischen der realen und der imaginären Welt. Es ist die Zeit, in der unser Sohn auf einer Waldwiese eine Hexe erblickte, an die er sich noch heute erinnert. Ich sah im selben Alter einen Osterhasen, der mit einem Sack bunter Eier am hellichten Nachmittag hinter einem Gebüsch verschwand so deutlich, daß ich diese Beobachtung nicht vergaß. Die Durchlässigkeit zwischen Einbildung und Wirklichkeit macht vielen Kindern angst: Hexen, Teufel, Ungeheuer scheinen wirklich zu existieren. Rituale bannen das Bedrohliche und geben Halt. Kinder, die auf Schlaflieder und GutenachtGeschichten mit ihrem zeremoniellen Charakter verzichten müssen, sind ihrer Furcht vor Dunkelheit und Träumen wehrloser preisgegeben. Das Zubettgehen als festgelegter -41-
Handlungsablauf am Ende des Tages ist ein Geborgenheitsritual. Der berühmte Bruno Bettelheim schrieb einmal, er frage jede Mutter, ob sie ihr Kind in den Schlaf singe - und immer mehr Mütter reagierten auf diese Frage mit Unverständnis und Kopfschütteln. Auch Inkonsequenz fördert Haltlosigkeit und Desorientierung. Lassen Eltern und Lehrkräfte Aggressionen je nach Laune einmal durchgehen, ein andermal nicht, betreiben sie eine wechselseitige Bekräftigung und verhindern ein Abflauen unangepaßten Verhaltens. Mangelnde Konsequenz das ergaben verschiedene Untersuchungen und meine eigenen Erlebnisse mit schwierigen Kindern - verstärkt Fehlverhalten, denn die widersprüchlich Behandelten müssen sich immer auffälliger gebärden, um endlich wieder »belohnt« zu werden. Unbestimmtheit verwirrt kleine Kinder. Wer seinem Kind nicht konsequent nein sagen, keinen Widerstand bieten kann, wird eines Tages zum Sklaven. Und die Tyrannei der süßen Kleinen kann ganz schön hart sein und in Gewalt gegen Eltern und Erziehende umschlagen. Nicht selten reagieren diese aus Ohnmacht ihrerseits mit Schlägen und unbeherrschten Wutausbrüchen gegen die aufsässigen Kids. Ein wechselweises gewaltsames Sichhochschaukeln wird in Gang gesetzt. Die Energie, die das Festlegen eines Rahmens gebraucht hätte, wäre nie derart kräfteverschleißend gewesen wie ein zermürbender Eltern-Kind-Machtkampf. Die totale Entgrenzung kindlicher Forderungen wird durch keine sinnvollen Stoppsignale gebremst. Eltern vermögen nur noch entnervt zu agieren: im Affekt, brutal und unüberlegt.
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Haltlosigkeit macht aggressiv Mobilität ist für viele identisch mit persönlicher Freiheit. Recht auf Freiheit ist gleichbedeutend mit Recht auf automobile Bewegung, uneingeschränkt und eigennützig. Grenzenlos und unersättlich fressen wir zivilisierten Menschen im Lauf unseres Lebens Kilometer um Kilometer auf dem Land, in der Luft und auf dem Wasser. Diese Sehnsucht nach der Freiheit ist unstillbar, weil es im Grunde die Sehnsucht nach einem verlorenen Paradies ist. Der Suchtcharakter dieser jährlichen Reisetrips in entlegenste Gegenden äußert sich im Nie-genug-Bekommen. Kaum aus dem Urlaub zurück, stellen sich schon Entzugserscheinungen ein. Vom Mobilitätswahn wird nichts verschont: weder Umwelt noch Angehörige. Kinder werden mitgeschleppt, in übervolle Autos gepfercht, im Hitze-Stau ihrem Elend überlassen, im Flugzeug den Mitreisenden zum Ärgernis. Bis zum Alter von sechs Monaten eignen sie sich zwar zum Umherziehen, später setzen sich die Sensiblen zur Wehr: der Park in der Nähe, ein Zoobesuch, das Freibad sagen ihnen mehr zu. Ehrlicherweise müßten wir uns eingestehen, daß dieser Trieb, durch die halbe Welt zu ziehen mit kleinen Kindern, welche an fremden Orten eher eine Belastung sind - denn sie bekommen häufig Fieber und Brechdurchfall, Ausschläge oder Erkältungen -, daß dieser Zugvogeldrang einer Ich-Schwäche, mangelndem Selbstbewußtsein und fehlender Autonomie entspringen kann. Am weitesten, am abenteuerlichsten. Superlative als Kitzel für unser Ego. Nichtautonome Menschen beziehen ihr Selbstbewußtsein nicht aus sich selbst, sondern aus dem Zeitgeist oder - negativer -Massenphänomenen mit Suchtcharakter. Nur Süchtige haben das zwingende Verlangen, sich samt -43-
Familie freiwillig in eine Blechbüchse zu sperren, um im Stau stundenlang auszuharren. Schon Erwachsenen bekommt diese Art der Zerstreuung weniger gut, als sie sich und anderen einreden. Der Sonntag ist zum Tag des Autos geworden. Kinder sind mit ihren Eltern überall, nur nicht Zuhause. Häufig wissen sie nicht einmal, wo sie das Wochenende verbracht haben. Sie erwähnen einige Restaurants und vielleicht einen Rummelplatz. Die grassierende Mobilitätssucht ist zum Symbol unserer Entwurzelung geworden, die ständige Umherfahrerei eine Suche nach Halt. Aggressive Autoraserei ist ein Gewaltakt von Enttäuschten, die vor der Leere ihres Daseins fliehen. Nichts gegen einen Tapetenwechsel, wenn die Umherziehenden wüßten, was sie eigentlich suchen, und wenn sie einen Ort besäßen, der ihnen als Sicherheitsbasis diente. Die heute angestrebte und vordergründig als Bereicherung empfundene Freizügigkeit hilft vielen Menschen, ihre Vereinsamung und Bindungslosigkeit zu überspielen und trägt vermutlich ebenfalls bei zur sinkenden Hemmschwelle gegenüber aggressiven Ausschreitungen und Brutalität. Wer alle paar Monate oder Jahre den Wohnort wechselt nicht nur die Stelle - macht sich mit der Zeit nicht mehr die Mühe, ein soziales Netz aufzubauen. In Wohnblöcken wechseln in kurzer Zeit Mieterinnen und Nachbarn. Fremde kommen, Unbekannte gehen. Dieser Wechsel erschwert Kontakte und verunmöglicht eine funktionierende soziale Kontrolle. Wenn keiner keinen kennt, sind kriminellen Machenschaften im wörtlichen Sinn Tür und Tor geöffnet. Menschen, welche sich ständig an neue Orte gewöhnen müssen, finden keine Beheimatung. Ohne Wurzeln kein Halt und keine daraus resultierende Haltung. Haltung entwickelt sich aus einem Gehaltenwerden im sicheren Aufgehobensein eines sozialen Gefüges. Kinder, die in einer äußerlich und innerlich stabilen Umgebung wurzeln, schöpfen daraus Widerstandskräfte für spätere Krisen. -44-
Immer wieder ist der Ausspruch zu hören, Kinder fänden rasch Anschluß, ein Wohnortswechsel sei für sie unproblematisch. Sie sind aber kein Umzugsgut. Tiere haben Mühe, sich an neue Häuser zu gewöhnen, Pflanzen welken nach einem Wohungswechsel, Erwachsene sehnen sich nach ihrem alten Freundeskreis, aber ausgerechnet Kinder sollten sich wie Gegenstände herumschieben lassen? Ihre Proteste gegen einen Umzug werden heruntergespielt. Die Rede ist hier nicht von Kriegs- und Flüchtlingskindern, bei denen sich die Probleme verschärft stellen. Es geht um die ganz normale, zunehmende Freizügigkeit: Berufswechsel, Scheidung der Eltern, sogenannte Patchworkfamilien lassen Kinder immer häufiger an verschiedenen Orten aufwachsen. Es gibt immer mehr Menschen ohne einen festen Bezugspunkt zu Personen und Orten ihrer Biografie. Ihre Kindheit ist wie ein Film mit ständig wechselnden Teams und Schauplätzen. Haltlosigkeit ist Hilflosigkeit, Unsicherheit. Alles Faktoren, die zu Depression, Abhängigkeit von Drogen, aber auch von Personen und Ideologien führen können. Viele der Mobilitätssüchtigen sind, ohne daß es ihnen bewußt ist, auf der dauernden Suche nach ihrem Ursprung und machen mit ihrem Unterwegssein jede Ankunft unmöglich. Aus Haltlosigkeit erwächst auch Gleichgültigkeit und Mangel an Haltung, an Mut und Zivilcourage. Wer unbewußt ständig seine Enttäuschungen vor sich hertragen muß, verfällt einer gedrückten Haltung oder einer militanten, rachebereiten. Am Anfang der Leiden stehen die machtausübenden Eltern, welche kindliche Gefühle und Trauer mißachten: es handelt sich ja »nur« um Kinder.
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Verwischte Generationsgrenzen Jeans vom Baby bis zur Großmutter, Turnschuhe und Anorak quer durch alle Alter, T-Shirts, Bermuda und Mini: Grenzen setzt höchstens der gute Geschmack. Schüttere Zöpfe baumeln an grauen Männerköpfen, Ohrringe trägt, wer Ohrläppchen hat, vierjährige Mädchen lackieren ihre Fingernägel knallrot, während Großmütter ihre Haare färben und sich zum dritten Mal liften lassen. Für ein Kind bedeutet das: Mami sieht fast aus - und kleidet sich, wenigstens in der Freizeit - wie Papi. Oma und Opa joggen, ehe sie sich im Fitnesscenter auf ihre Euroradtour vorbereiten. Alle tun alles, sehen aus wie alle, reden wie alle. Schon ein Schulkind hat seinen überfüllten Terminkalender, eilt vom Ballett zum Pferdestall, übt sich in japanischen Kampfsportarten, schwimmt und spielt Fußball oder Tennis. Das Kleinkind geht auswärts Pizza essen, ist angezogen wie die Schwester und die Mutter. Immer mehr geht verloren, was äußerlich ein Kind vom jugendlichen, vom mittelalterlichen, selbst vom alten Menschen unterscheidet. Nicht, was den Alterungsprozeß betrifft. Doch auch da tut die Kosmetikindustrie alles, um die biologische Altersgrenze zu verwischen. Babypos an Siebzigjährigen, Cremes gegen den natürlichen Faltenwurf der Haut, Pillen, welche ewige Jugend verheißen. Jungsein ist Trumpf, das Alter wird verheimlicht, als sei es etwas Unanständiges, eine Seuche. Alt assoziiert Schwäche, Verfall, Tod. Unpassend in einer Gesellschaft, die der Jugend huldigt, wo juveniles Gebaren bis zur Pensionierung üblich ist, Männer mit gefärbten Haaren an Theken hängend ein Bier kippen, Frauen mittleren Alters sich magersüchtig in Disco-Klamotten werfen. Dem Gegenwartstrend folgend, alles zu vermarkten, was sich -46-
als geeignet anbietet, wurde die Hippiekultur kommerziell ausgeschlachtet, ebenso die Mode der Punks und die Besetzersprüche der Autonomen von der Werbung abgekupfert. Selbst die Musik der Jugend wird von den Älteren teilweise vereinnahmt, ihre Treffs, ihre Comics, ihr Slang. Lehrer reden mit ihren Schülern von »geiler« Aussicht, in der Freizeit treffen sie sich in derselben Disco, und ein Lexikon der Jugendsprache listet auf, was sich Trendiges erlauschen ließ. Hey, checkste's, man. Früher waren die Lebensübergänge ritualisiert. Auch bei uns. Geburt, Konfirmation, Firmung, Erstkommunion, Hochzeit, Tod. Die Konfirmation galt bei Reformierten als Initiation zum Erwachsenwerden: für die Buben lange Hosen, Armbanduhr, erster Alkohol und Zigarette, für Mädchen erster Lippenstift und die ersehnten Seidenstrümpfe. Für die meisten begann anschließend die berufliche Ausbildung und ernsthafte Arbeit. Jungen und Mädchen wurden mit »Sie« angesprochen, womit sie Verantwortung und Arbeitsethos der Erwachsenen übernahmen. Heute ist der Übergang zum Erwachsensein fließend und oft abnormal lang. Ohne »rite de passage« verlassen die jungen Menschen ihre Eltern entweder überstürzt - im Zorn -, oder sie hängen als Nesthocker weit über die Zeit im »Hotel Mama« herum. In der Pubertät wächst das Bedürfnis, sich von den Eltern zu lösen, unter und mit seinesgleichen eine herausfordernde Kultur zu leben. Die Suche nach Selbstfindung, eigenem Weltbild und die Unvollkommenheit der sozialen Realität machen Jugendliche anfällig für mehr oder weniger geheime Gruppen mit entsprechenden Idolen." Rockbands, Sekten und rechtsextreme Gruppierungen nehmen sich - höchst eigennützig - der Jugend an. Im Hintergrund führt meist ein Erwachsener mit autoritärer Hand die Fäden, an denen die Halbwüchsigen in -47-
vermeintlicher Freiheit zappeln. Die Strukturlosigkeit der Lebensalter und die Verachtung des Alters bewirken die Infantilisierung eines beträchtlichen Teils der Gesellschaft und hindern viele daran, ihre Verantwortung als Erwachsene und als Eltern zu wahren. Solange die Erwachsenenwelt sich selbst als überalterten Zweig der Jugendszene darstellt, werden positive Ablösungs-Vorbilder fehlen und immer mehr Jugendliche sich an den fragwürdigen Helden der Brutales, den Ghettobanden, an der verlogenen Machtpropaganda der Rassisten oder Sekten orientieren. Der Kinderpsychiater Heinz Stefan Herzka schreibt, die »Tendenz zur Verleugnung der Verantwortung im Erwachsenenalter... ermöglicht einer kleinen Zahl von Funktionären, die ›Elternfunktion‹ für die Gesellschaft zu übernehmen. Die Reihe der damit ermöglichten politischen und geschichtlichen Katastrophen reicht von der Tyrannei des Altertums... bis zum Faschismus der Hitlerzeit und der Verherrlichung von Vaterfiguren in der Politik der Neuzeit« (1989, S. 167f.). Ein weiteres Zeichen mangelnder Struktur ist die Nennung der Eltern mit dem Vornamen, wie das die 68er-Eltern zur Maxime erhoben. Im Pubertätsalter, in der Adoleszenz mag das berechtigt sein und zu einer Neuorientierung zwischen Kind und Eltern auf einer partnerschaftlichen Basis beitragen. Bei Vorschulkindern zeigt es die Unwissenheit der Eltern in bezug auf die kindliche Entwicklung und ist eine Selbsttäuschung, denn Mütter und Väter können nicht die Kameraden und Freundinnen ihrer kleinen Kinder sein. Immer sind sie ihnen um mehrere Wissens- und Überlegenheitssprünge voraus: sie sind älter, erfahrener, körperlich und seelisch stärker und dadurch im Besitz von Macht. Zusätzlich werden sie vom Kleinkind mit Allmachtsattributen ausgestattet. Im Verständnis kleiner Kinder haben Eltern keine individuelle Biografie, kein Alter, sie sind unfehlbar. -48-
Eltern tragen daher auch keine Vornamen wie irgendwer, sondern sie werden mit den überpersönlichen Namen »Vater« und »Mutter« bezeichnet. Für ein zweijähriges Kind ist - sofern der Vater sich ihm nicht ganz entzieht - der Begriff »Mami/Papi« (das Kind einer Freundin sagte einmal »Mapi«) eine duale Einheit, eine göttliche Zweieinigkeit, die keinen persönlichen Namen hat, nicht Laura oder Sebastian heißt. Eltern sind für Kinder Gottheiten. Daß sie im Verlauf der Entwicklung vom Kind zum Erwachsensein entthront werden müssen, ist einleuchtend. Daß es sich dabei um einen schmerzlichen Prozeß handelt, der eine Schlüsselrolle im Erwachsenwerden jedes einzelnen spielt, erleben wir alle mehr oder weniger dramatisch. Mit einer frühen unechten Eltern/Kind-Gleichstellung wird der Abschied von den Eltern nicht etwa erleichtert. Kinder, denen anstelle eines reifen Eltern-Du ein bejahrtes Kinder-Du entgegentritt, müssen für die endgültige Lösung von den Eltern und die Entwicklung einer eigenen Identität mehr Kraft und Energie aufwenden, als wenn die Eltern ihre natürliche Rolle einnehmen. Ablösung von Mutter und Vater ist aber unabdingbar zur Entfaltung einer eigenständigen Persönlichkeit. Die Vertuschung des biologischen Alters erschwert die Standortbestimmung innerhalb der eigenen Altersgruppe, die natürliche, unverkrampfte Kommunikation mit Menschen anderer Lebensalter und löst unterschwellige Aggressionen zwischen Jung und Alt aus, da die Generationsgrenzen sich überlappen. Sowohl Alter wie Jugend haben Anspruch auf die Respektierung ihrer altersadäquaten Lebensmuster.
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Gewaltbegünstigende Erziehungsstile; Scheu vor Auseinandersetzung und Vermeidung von Strafe Eltern, die sich bewußt mit der Erziehung ihrer Kinder auseinandersetzen, haben oft eine extreme Abneigung gegen Strafen. Ihr Ideal einer straf- und aggressionsfreien Pädagogik auf kameradschaftlicher Basis erweist sich infolge der menschlichen Natur, der kindlichen wie der erwachsenen, leider als Illusion. Nicht wenige Eltern bezeichnen ihren Erziehungsstil als gemäßigt antiautoritär, sich am Kind orientierend. Hie und da würden sie ausflippen, das sei schließlich normal. Es fragt sich aber, wann und in welchen Situationen sie ausrasten. Ist für das Kind einsichtig, wie Mutter und Vater reagieren? Oder pflegen sie die Zeitbombentaktik? Einmal ruft ein bestimmtes Verhalten des Kindes einen Wutausbruch bei den Eltern hervor, ein andermal wird manches lächelnd übersehen: die Unordnung im Schlafzimmer, eine schlechte Note, zu spätes Heimkommen. Derart verunsicherte Kinder können ein schwaches Selbstbewußtsein entwickeln. Der Sozialpsychologe Gerhard Schmidtchen (1989) geht davon aus, daß Erziehungsstile in ihrer Komplexität sich hauptsächlich durch zwei Momente auszeichnen müssen: Sie sollen Anforderungen stellen (normativ sein) und Geborgenheit vermitteln (unterstützen). Aus seiner Untersuchung über die Selbstschädigungstendenz Jugendlicher in Deutschland und das Erziehungsklima ihrer Elternhäuser geht hervor, daß folgende Erziehungsstile bevorzugt werden: der paradoxe, der naive, der gleichgültige und der reife. Die drei ersten gelten als defizitär mit entsprechend ungünstigen Folgen beim Heranwachsen. Nur -50-
jedes dritte deutsche Kind kommt in den Genuß eines einigermaßen reifen Erziehungsmusters, bei dem Forderungen gestellt werden und eine emotionale Unterstützung da ist. Der paradoxe Stil ist am gefährlichsten für die psychische Entwicklung des Kindes, denn er stellt kalt Forderungen, ohne emotionale Unterstützung zu gewähren, was sich in Vandalismus und Selbstschädigung umsetzen kann. Kalte und gleichgültige Eltern haben suizidgefährdete oder sonst zerstörerisch agierende Kinder. Das leuchtet ein. Weniger vielleicht, daß auch naive, »nur« emotional unterstützende Erziehung schädlich sein soll: ohne Forderungen, mit einem Übermaß an emotionaler Unterstützung erziehen Eltern, die Antiautorität mit Laisser-faire verwechseln, den Kindern alle Steine aus dem Weg räumen und jede Konfliktverarbeitung verhindern. Solche Eltern haben - infolge falscher Auslegung des in Mißkredit geratenen Begriffs »Autorität« - oft eine Scheu, Auseinandersetzungen mit ihren Kindern konstruktiv auszutragen. Damit ist nicht sture Rechthaberei gemeint. Es geht viel eher um ein Standhalten gegenüber unangemessenen Bedürfnissen oder Ansprüchen des Kindes, etwa wenn es in der Eisenbahn unbedingt einen bestimmten Platz einnehmen will und zwei fremde Personen sich deshalb umplazieren müssen, oder wenn sich das Kind in einem Wutausbruch mitten auf einer gefährlichen Kreuzung auf die Straße wirft, um ein Stück Schokolade zu ertrotzen. Von Bedeutung ist dabei weder das Erobern eines Sitzplatzes im Zug noch der Genuß von Süßem, sondern die vorausgegangene Aussage der Mutter: Wir setzen uns da hin, und: Schokolade gibt es zuhause. Lächerliche Beispiele? Nur, wenn keine Wiederholung ähnlicher Situationen erfolgt. Denn Inkonsequenz begünstigt erpresserisches und aggressives Verhalten. Der Lerneffekt ist sogar größer als bei ständigem Nachgeben. Vermutlich basiert auf diesem Verhaltensmuster die zunehmende Gewalt gegen -51-
Eltern. Elterliches Nein wird umgepolt in ein Ja, wenn das Kind nur lange genug seine Quengelei durchhält. Ein Mechanismus, den schon kleinste Kinder virtuos beherrschen. Inkonsequent erzogene Kinder - das belegen verschiedene Untersuchungen können später mit Aggression und Delinquenz auf kleinste Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheit heftig reagieren. Schlägereien empfinden manche als »Spaß« und Gewalt als eine Form von Spiel. Aus Scheu vor Konfrontation und momentanem Liebesverlust flüchten ichschwache Eltern in Nachgiebigkeit, unangebrachte Belohnungen, uneinhaltbare Versprechen oder nehmen Zuflucht zu leerem Drohen. Diese Abneigung gegen Konflikte überträgt sich auf die Kinder. Nie lernen sie, Meinungsverschiedenheiten auszutragen, nach friedlichen Lösungen oder Kompromissen zu suchen, sowenig wie der Umgang mit dem Schatten gelernt wird. Wenn jedoch schon Eltern alles Dunkle, Häßliche, das in jedem und jeder von uns steckt, verdrängen - wieviel mehr werden das die Kinder tun? Projektionen der Schattenseiten auf andere sind die Folge: Übertragung auf Partner, Freundin, Nachbarn, vor allem aber auf Fremde und Andersgläubige. Das Nichtwahrnehmenwollen eigener seelischer Abgründe bildet den Nährboden für jeden »Ismus«. Bekämpft wird am anderen, was uns selber an zerstörerischen Impulsen bedroht. Spätestens in der Vorpubertät entdecken Eltern Züge an ihren Söhnen und Töchtern, die sie vielleicht erschrecken, da sie ihnen ihre eigenen Abgründe spiegeln oder Schwächen von Angehörigen. Mühsam unterdrückte Eigenschaften oder solche, die unangenehme Erinnerungen an die Eltern wecken, tauchen an unseren Kindern auf. Großvaters Geiz hat sich auf den Ältesten vererbt, sonst wäre er freigiebiger, dafür bricht bei seiner Schwester die Verschwendungssucht des Gatten durch, und die hypochondrische Art der Schwiegertochter erkennt man am wehleidigen Getue der Enkelin. So wird der Blick für die -52-
eigentlichen Bedürfnisse der Pubertierenden getrübt durch Ängste und Frustrationen, die mit unseren Erfahrungen zu tun haben und gegenüber eigenen Kindern oft befangen machen. Statt Probleme anzugehen, werden sie aus Bequemlichkeit übersehen. Es wird sich schon geben, denkt Frau Huber beim ersten Warenhausdiebstahl der Tochter, in Erinnerung an eigene Diebereien. In diesem Alter kann das mal vorkommen. Auge zugedrückt. Und ein Messer in der Schultasche des Realschülers braucht kein Indiz für ausgeübte Gewalt zu sein, sowenig wie die Haschkrümel im Etui vom Absturz in die Drogenszene zeugen. Doch das gilt nur bedingt. Je nach elterlichem Erziehungsstil, der Bereitschaft zu Offenheit und Vertrauen sowie dem Umgang mit Konflikten, können solche Hinweise harmlos oder Warnsignale sein. Ernstgenommen werden sollten sie in jedem Fall. Haben Kinder sich etwas zuschulden kommen lassen, sind sie im allgemeinen froh, wenn es herauskommt. So wie sie durch ein Übermaß an Freiheit in den ersten Jahren überfordert sind, können sie später mit einer Erziehung, die konfliktscheu übersieht, was nicht sein soll, in ihrer moralischen Orientierung zu wenig gefordert werden. Sie sind sogar erleichtert, eine Strafe zu empfangen, wenn ihre Verfehlung zum Beispiel einem anderen Kind geschadet hat. Eine Bereinigung der Situation ist für sie angenehmer als unterschwellige Vorwürfe, nie klar ausgesprochen und dadurch das Verhältnis Eltern-Kind belastend. Kinder wissen sehr gut, was über den Bereich des Zumutbaren hinausgeht. Sie können für ihre Handlungen von einem bestimmten Alter an zur Verantwortung gezogen werden. Erziehung ohne Strafe gelingt vielleicht Menschen, die ein besonderes Flair im Umgang mit Kindern haben, doch sie sind die Ausnahme. Durchschnittseltern und Normalerziehende -53-
sträuben sich meist zu lange, ehe sie zu Maßnahmen greifen. Manchen Eltern fehlt die Gelassenheit im Umgang mit kindlichen Widerständen und Aggressionen. Sie sind persönlich beleidigt oder verunsichert, was in unüberlegte körperliche Züchtigungen und Rachehandlungen umschlagen kann oder in Liebesentzug, etwa ein tagelanges Schweigen. Unbeherrschtheit kann das Kind seelisch und körperlich verletzen und mehr schädigen als eine Strafe, die einen Bezug zu seinem Handeln hat. Randalierende Jugendliche wachsen vielfach mit einer unvorhersehbaren Mischung aus Nachsicht und harten, unverständlichen Strafen auf. Strafen müssen in jedem Fall von einer dem Kind vertrauensvoll zugewandten Person und seinem Verständnis angemessen im Anschluß an die Tat angeordnet werden, als unmittelbare Konsequenz. Dies ist eminent wichtig. Je jünger das Kind, desto entscheidender ist eine kurze Zeitspanne zwischen Tat und Strafe. Erst später dürfen Strafen in die Zukunft verschoben werden, eine Zeitdimension, die bei kleinen Kindern wenig Bezug zu Vergangenem hat. Unsere Abneigung gegen Bestrafung hat verschiedene Gründe. Sie rührt erstens vom Mißbrauch her, der mit Strafen getrieben wurde und wird. Prügel, Quälerei, Folter und schwarze Pädagogik werden damit verbunden, Unterdrückung von Schwachen assoziiert. Zweitens steht Strafe quer zum Bild des reinen, unschuldigen Kindes, dem alles Böse fremd ist. Schon kleine Kinder können aber grausame Regungen verspüren. Das menschliche Herz ist nun mal eine »Mördergrube«. Je mehr wir dies bei uns und unseren Kindern verdrängen, desto heftiger werden uns die dunklen Kräfte in anderer Form zusetzen. Das ist kein Widerspruch zur These, Gewalt als Lösung von Konflikten werde vor allem von Vorbildern gelernt. Bei körperlicher Züchtigung zum Beispiel. Prügel sind kein Strafmittel, sie sind Anwendung von Gewalt gegen Schwache. Eine sinnvolle Strafe ist dagegen eine Tat zur Versöhnung, -54-
Hilfeleistung oder Nachdenken über ein Fehlverhalten. Eine wachsende Anzahl Kinder bringt die Erwachsenen durch destruktives und brutales Verhalten dazu, sich mit ihnen zu beschäftigen. Bei diesen oft beziehungsmäßig vernachlässigten Kindern muß die Wahl der Strafe besonders sorgfältig erfolgen. Das intensive Eingehen auf die kindlichen Probleme erfordert Energie, Zeit und kreative Ideen. Besonders bei Aggressionen gilt: Wehret den Anfängen. Die Anfänge liegen jedoch im Verhalten der Erwachsenen und haben sich bei ihnen bereits zum fortgeschrittensten Stadium entwickelt.
Freiraum Schule? Kampf der Alphatiere »An mir hat die Schule viel kaputtgemacht, und ich kenne wenig bedeutendere Persönlichkeiten, denen es nicht ähnlich ging.« Hermann Hesse Die Schule ist eine Hypothek fürs Leben. Eine, die schwer genug lastet, unser Dasein nachhaltig zu beeinflussen. Leider anders, als unkritische Pädagogikmänner und -frauen sich gerne einbilden. Sind wir uns eigentlich bewußt, was unsere Gesellschaft mit ihrem Zwang zur allgemeinen Schulpflicht vielen Kindern antut? Auffallend in den Biografien berühmter Leute, von Goethe, Gerhart Hauptmann, über Hermann Hesse bis zu Thomas Mann und weniger bekannten Zeitgenossen, ist die Freudlosigkeit, die über ihrer Schulzeit liegt. Grau, öde, eingezwängt in Vorschriften, gedrillt und von sturen Pädagogen gedemütigt, so erleben sie, was nostalgisch goldene Kindheit genannt wird. -55-
Von Frauen früherer Generationen stammen weniger Klagen. Sie waren gewohnt zu schweigen und dankbar für die Möglichkeit, überhaupt lesen und schreiben zu lernen. Lernen zu dürfen. Manche Kinder von heute erleben die Schule ebenfalls als eine Aneinanderreihung demütigender Erfahrungen. Nach einem fragwürdigen Ausleseverfahren erfolgt die Unterscheidung in gute und schlechte Schülerinnen und Schüler. Nicht allen wird diese Zuschreibung gerecht. Erbrechen, Kopf- und Bauchweh, Schlafstörungen, depressive Verstimmungen und Unkonzentriertheit sind psychosomatische Hinweise auf Schulangst oder Schulüberdruß. Zunehmend wird das Unbehagen durch Unter- oder Überforderung mit Renitenz, Streitsucht, neuerdings mit Erpressung und Angriffen auf andere abreagiert. Erschreckend hoch ist die Zahl der Frustrierten, denen ein enttäuschter Zweitkläßler aus der Seele spricht: »Der Weg zur Schule lohnt sich nicht für das, was man dort lernt.« Selten blicken Kinder so gelangweilt, wie wenn sie nach der Schule gefragt werden. Besonders schwer lastet die Schulzeit auf jenen, die wegen ihrer ungenügenden Schulleistungen gehänselt werden. Die Gedemütigten geben sich nach außen vielleicht stark und unangreifbar. Ihre Verletzung geht jedoch sehr tief. Im Grunde suchen sie Bestätigung und Anerkennung, und ihr selbstinszeniertes Heldentum durch Ausgrenzung des Lehrers dient der Betäubung. Wehrlosigkeit überspielen sie mit Ramboimitation, die ihnen die ersehnte Beachtung, wenn auch in Form negativer Anerkennung, verschafft. Hoch- und Minderbegabte fühlen sich häufig unverstanden, und auch für die große Zahl der Durchschnittsbegabten beginnt das Leben erst nach der im Wartesaal Schule verbrachten Kindheit. Denn was ist diese Zeit in der westlichen Gesellschaft anderes als ein Warten auf die Zulassung zum Leistungs- oder Positionenwettbewerb, die Eintrittskarte für den mehr oder -56-
weniger erfolgreich und fair geführten Kampf um sichere Posten in einer Gesellschaft von Erfolgsorientierten? Neuerdings gleich nach Schulabschluß überschattet vom Gespenst der Arbeitslosigkeit. Sechs- bis Fünfzehnjährige sind tagsüber weitgehend aus dem Bild unserer Städte verschwunden. Nur Spielzeug- und Videoläden, Boutiquen für Kindermode und Sportartikel erinnern an das Vorhandensein einer Bevölkerungsgruppe, die zur Stillung ihres Bewegungsdrangs stundenlang auf einem Stuhl sitzen und sich »aufs Leben vorbereiten« darf. Die ohnehin geringe Spannung im Schulalltag - abgesehen von der Erregung durch die Prüfungsangst - verlagert sich immer mehr auf Pausenplatz und Schulweg. Nicht Wörter und Zahlen beschäftigen während des Unterrichts schüchterne Jungen und Mädchen, sondern immer öfters die Frage: Wie schaffe ich unbehelligt den Heimweg? Schule: das ist aus Kindersicht zum einen eine Institution, zum anderen sind es die einzelnen Lehrerinnen und Lehrer. Die Institution erneuert ihr Leitbild ungefähr jedes Jahrzehnt, Lehrpläne werden revidiert, für Unsummen föderalistische Lehrmittel geschaffen, Bücher in Auftrag gegeben. Bei ihrem Erscheinen gelten manche bereits als überholt, da sie die neuesten lernpsychologischen Erkenntnisse nicht berücksichtigen konnten. Leitbilder für Lehrpersonen werden erstellt, ihre Persönlichkeit umrissen: »Lehrerinnen und Lehrer«, heißt es, »sind..., sollen..., müssen...« Diesen hohen menschlichen Anforderungen werden leider viele nicht gerecht. Human, das heißt repressionsfrei erziehen tönt so fortschrittlich und erweist sich dennoch in der Praxis als nur schwer durchführbar. Klassenzimmer gleichen manchmal eher einem Kampfplatz als einer Lernwerkstatt. Schulische Freiräume, die den Kindern möglichst viel Selbständigkeit und Eigeninitiative bieten sollten, entwickeln sich zu Zonen chaotischen Durcheinanders, in -57-
welche außerschulisches Bandenwesen Einzug hält: Kampf der Alphatiere. Meist sind es Jungen, welche um die Vormachtstellung ringen. Auch der Begriff »Werkstattunterricht« assoziiert falsche Vorstellungen. Nicht kreativ, selbständig, die Eigeninitiative fördernd ist diese Art des Lernens. Es handelt sich weitgehend um den schon erwähnten verdinglichten Unterrichtsstil. Werkstattunterricht holt mit lernerfolgsmessender Evaluation, Multiple-Choice-Verfahren und emotionsneutralen Geräten die Lernenden dort ab, wo sie sich nicht befinden: außerhalb ihrer Interessen, ihrer Probleme, ihrer Ängste und Hoffnungen. Mit künstlichen, diaprojizierten Unterrichtseinheiten, die sich alle im Ablauf gleichen - egal, ob es sich um Naturkunde, Mathe oder Deutsch handelt. Die kindliche Kreativität wird gefördert durch Ausfüllen von Lückentexten, Vervollständigen angefangener Sätze, Hinkritzeln einiger Zahlen oder einer ergänzenden Zeichnung im dafür vorgesehenen Miniquadrat sowie mit Beantworten von Computerfragen. Jedes Kind arbeitet seinem Tempo gemäß. Aufgeweckte sind schneller fertig, dürfen als Belohnung auf die Letzten warten und werden in der Zwischenzeit mit Zusatzaufgaben beschäftigt. Genormte Blätter, genormte Leistung, genormte Menschen. Korrigiert wird mittels Schablone. Wer durchs Loch fällt, ist beschränkt, entspricht nicht dem normierten Leistungsstand seines Alters und Geschlechts. Wer über den Klassenstandard hinausragt, wird statistisch als »Ausreißer« deklassiert. Der Mittelwert ist die Norm, das Mittelmaß wird am besten honoriert. Langsame und weniger Begabte erhalten aufwendigen Stützunterricht. Sonderbegabung ist nicht gefragt. Kreative Kinder mit rascher Auffassung - oder originelle Individualisten, wie sie unsere Gesellschaft fordert, aber schon im Kindesalter nicht erträgt - leiden unter diesem Umstand, entwickeln Verhaltensauffälligkeiten oder langweilen sich und verkümmern -58-
an Geist und Seele. Unterrichtsmethoden - das zeigt die Erfahrung - spielen in den Erinnerungen an die Schulzeit eine erstaunlich untergeordnete Rolle. Was zählt, war und ist die Lehrperson: ihre Ausstrahlung, ihr Einfühlungsvermögen, ihr Humor, ihre Ehrlichkeit, ihr Wissen, ihre Überlegenheit aufgrund des Alters. Das hat nichts zu tun mit repressiver Besserwisserei, aber viel mit Autorität. Es sind Lehrerinnen und Lehrer, welche die Schule methodenunabhängig zum pädagogischen Erlebnis- und Lernraum gestalten. Indem sie die Kinder ernstnehmen, ist ihr Unterrichtsstil individualisierend und kindorientiert. Ihnen gelingt es, in bestimmten Grenzen auf die Fähigkeiten der einzelnen einzugehen und die lähmende Gleichmacherei aus ihren Klassen zu verbannen. Bei allem Verständnis für Kinder achten sie darauf, gewisse Regeln einzuhalten: Waffen beispielsweise dürfen in Schulen unter keinen Umständen geduldet werden. Auch wenn sie »nur zur Abwehr« und nicht zum Angriff dienen. Jede Form von Gewalt, angefangen bei diskriminierenden Sprüchen, muß thematisiert, allenfalls in Rollenspielen verarbeitet, Erpressung Schwächerer sogar bestraft werden - nicht erst, wenn aggressive Jungen sich zu Alphatieren emporgekämpft haben. Soweit dürfte es gar nicht kommen. Guggenbühl schreibt: »Das aktuelle Leitbild strebt das autonome, kreative und kritisch denkende Kind an, das als eigenständige Persönlichkeit dem Lehrer gegenübertritt. Um ein Kind gemäß diesem Ziel heranzubilden, damit es dort sich selber finden und entfalten darf, braucht es einen Freiraum. Einen eigenen Bereich, den es mit selbst initiierten Tätigkeiten füllen darf.« Statt sich jedoch auf schulischem Gebiet zu entfalten, nutzen gewisse Kinder - vor allem Jungen - den Freiraum, den dieser Unterrichtsansatz bietet, um sich bandenmäßig zu entfalten. Guggenbühl: »Der Klassenleader dreht auf dem neuen Rollbrett -59-
seine Runden und ignoriert die Lehrerin, die verzweifelt vor der Klasse steht. Wehrt sie sich, so wird sie von den Schülern nur als dünne, kreischende Stimme, die gut zur allgemeinen Kakophonie paßt, wahrgenommen« (RL 3/92). Abgesehen davon, daß auch eine bemitleidenswerte weibliche Lehrperson sich durchsetzen kann, ohne daß sie zu einer lächerlichen Figur wird, gibt es auch männliche Lehrer, die von Schülern angegriffen werden. Was nützen jedoch Toleranz und das ganze individualisierende Angebot in einer von Schüleraggressivität dominierten Atmosphäre? Toleranz und Individualisieren bedeuten nicht, jedes abweichende Verhalten hinzunehmen und aus Angst vor pädagogischem Prestigeverlust an Lehrmethoden festzuhalten, die - inkompetent angewandt - gar nicht funktionieren können. Humaner Unterricht bleibt so eine Farce. Kinder brauchen Lehrerinnen, deren Begeisterung am Lerninhalt auf die Klasse überspringt, Pädagogen mit Humor. In Schulzimmern sollte viel mehr gelacht statt gedroht werden. Eine anregende, heitere Atmosphäre überträgt sich auf Buben und Mädchen. Chaos und Eintönigkeit dagegen wirken lähmend, lösen bei Kindern Unmut aus und das Bedürfnis, den Unterricht zu stören. Schlägt die Nachsicht gegen die provokative Machtdemonstration aggressiver Schüler bei den Lehrenden in unbeherrschte Wut um, wird unbotmäßiges soziales Verhalten erst recht zementiert. Manche Lehrer ziehen die sozial unterforderten und durch die Fokussierung auf die »bösen« Jungen zu wenig beachteten Mädchen gar zur Zähmung der Radaumacher heran - damit ihre weiblichen sozialen Fertigkeiten nicht zu lange brachliegen. Modell für sexistischen Unterricht am Ende des 20. Jahrhunderts? Die Vorpubertät ist die Zeit kindlicher Bandenbildung. Aber auch das Alter des Regelspiels. Spielregeln interessieren, und es macht Spaß, sie raffiniert und unbemerkt zu übertreten. -60-
Richtlinien des menschlichen Zusammenlebens und moralische Normen entsprechen dem Sinn für Gerechtigkeit dieser Entwicklungsphase. Hier können Lehrer und Lehrerinnen ansetzen und ihre Schüler abholen. Daß jeder Verstoß gegen geltende Vereinbarungen den sozialen Frieden gefährdet, begreifen Kinder schnell. Können sie eigene Antigewalt-Regeln in ihrer Klasse einführen, werden sie sich eher daran halten. In jeder Gruppe von Menschen formen sich - wie bei gewissen Tieren - Ranghohe und Rangniedere, auch in Schulklassen. Dies ist kein undemokratischer, sondern ein sozialer Vorgang. Lehrpersonen, die nicht kraft ihrer natürlichen Autorität oder, wem das besser gefällt, ihrer menschlichen Ausstrahlung zum Klassenleader werden, sollten ehrlicherweise den Beruf wechseln. Wichtiger als jede Methode, die ohnehin pädagogischen Schwerpunktwechseln unterliegt, ist die Kenntnis kindlicher Bedürfnisse anhand der Entwicklungspsychologie und ein Eingehenkönnen auf Jugendliche. Heute wird das Ernstnehmen des Kindes leider nur zu oft verwechselt mit »die Schüler einfach machen lassen«, »sich nicht in ihre Angelegenheit mischen«. Dieses Gewährenlassen auch ärgster Unterrichtsturbulenzen ist eine Verweigerung der pädagogischen Verantwortung als Alphatier der Klasse und mitschuldig an den Rangkämpfen im Klassenzimmer. Bandenchef wird der stärkste Junge, anstelle des Lehrers oder der Lehrerin. Aus Furcht, selbst in die »Schußlinie« der Terrorkids zu gelangen, aus Scheu vor polizeilichen Befragungen, zeitintensiven Gesprächen mit Eltern, Prestigeverlust und Hilflosigkeit wollen manche Lehrkräfte zu lange nicht wahrhaben, daß in ihren Klassen das Faustrecht regiert, der Gang zur und aus der Schule zum Weg der Furcht und Unfreiheit wird. Kinder, die von Mitschülern mit Schlägen und Messern -61-
bedroht und zum Beispiel ihres Taschengelds beraubt werden, trauen sich oft nicht, bei ihrer Lehrerin vorstellig zu werden. Sie spüren nur zu gut, wie wenig ihre Ängste auf Verständnis stoßen: »Laß dir nicht alles gefallen«, »du mußt dich halt wehren«. Wer mit solchen Floskeln abgespeist wird, beginnt zu schweigen, vor allem wenn dem Opfer im Fall eines Verrats von den Tätern noch Schlimmeres angedroht wurde. Lehrer, welche sich derart verantwortungslos über die Nöte ihnen anvertrauter Kinder hinwegsetzen, brauchen sich über den steigenden Gewaltpegel in ihren Klassen nicht zu wundern. Dieweil das Lehrpersonal beim Pausenkaffee die Eskalation der Schülergewalt bejammert und die Ursache dieser unheilvollen Entwicklung bei den Eltern ortet - vorab in der mangelnden Betreuung durch berufstätige Mütter und dem damit verbundenen exzessiven Video-Konsum -, erpressen und drangsalieren in Sichtweite , der Aufsichtspflichtigen die unverfrorensten Jungen Schwächere und verdammen sie mit Drohungen zum Schweigen. Gewalt ereignet sich nicht »einfach so«. Lange haben Pädagogen wie Politiker zwei Augen zugedrückt. Das wird sich schon geben. Tee trinken, wegschauen, abwarten. Es hat sich nicht gegeben. Inzwischen ist die Lehrerinnenschaft aus ihrer Lethargie erwacht: Gespräche mit Eltern, Kriseninterventionen mit Schülern, eine wachsende Zahl von Literatur und Trainingsprogrammen und Spielen zum Umgang mit Aggressionen sollen helfen, das Gewaltpotential in Klassenzimmern und auf Pausenplätzen abzubauen. Das genügt indessen nicht. Die Ausbildung angehender Lehrerinnen und Lehrer müßte weniger methodenzentriert sein, sondern der Persönlichkeitsentwicklung und Vorbildwirkung von Erwachsenen auf Kinder mehr Aufmerksamkeit schenken. Umgang mit Gewalt und eigener Aggression gehört als fester Bestandteil ins Unterrichtsprogramm von Lehrenden und -62-
Lernenden. Die Lehrkräfte sind auf Hilfe angewiesen. Selbst im Schonraum antiautoritärer Erziehung großgeworden, sind sie wenig belastbar und wollen sich den Kindern nicht »aufdrängen«. Aus Humanität, wie sie sagen, in Wirklichkeit aus purer Angst vor Konflikten mit den Alphakids oder einer aufsässigen Klasse. Sie scheuen sich, mit Forderungen - oder mit Verboten und Strafen - den kindlichen Schlägertrupps entgegenzutreten und sich ganz selbstverständlich den höchsten Rang in der Klassenhierarchie anzueignen. Mit der Unterstützung von Beratern und Schulpsychologinnen können unsichere Lehrer zur Einsicht gelangen, daß sie nun einmal nicht die großen Kumpel ihrer Schüler sind. Lehrerinnen, die aggressives Verhalten »übersehen«, werden von den Kindern als feige, das heißt als inkompetent empfunden - mit Recht. Verwirrung und Unsicherheit bei Erwachsenen lassen unerwünschtes Verhalten eskalieren, auch aggressive Willkür gegenüber Schwächeren, zu denen bald einmal die hilflosen Pädagogen selbst gehören. Räume zu schaffen, in denen sich Kinder frei entfalten können, setzt ein hohes Maß an pädagogischem Flair und an Selbstsicherheit voraus, das ein Teil der Unterrichtenden sich heute durch »Versuch und Irrtum« in der Praxis aneignen muß. Es gibt keine Freiheit ohne Grenzen. Lehrkräfte haben die Pflicht, den Rahmen abzustecken, den Schüler und Schülerinnen zu ihrer Be-Friedung brauchen. Selbst der begnadete Pädagoge A. S. Neill, der Gründer von Summerhill und umstrittene Verfechter der antiautoritären Erziehung, verkündete: »Freiheit heißt, tun und lassen zu können, was man mag, solange die Freiheit der ändern nicht beeinträchtigt wird. Das Ergebnis ist Selbstdisziplin« (1969, S. 123).
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III. Theorien zur Entstehung von Aggression und Gewalt
Gewalt ist nicht gleich Gewalt: Definition und theoretische Ansätze »Gewalt ist immer aggressiv, aber nicht jede Aggression führt zu Gewalt.« Friedrich Hacker, 1973 Die meisten Menschen verstehen unter Aggression etwas Destruktives: sinnlose Körperverletzung, Brutalität, Vandalismus. Aggression wird moralisch etikettiert als verwerfliche Handlung, die es zu bekämpfen gilt. Aggressiv wird gleichgesetzt mit böse. Dabei geht die positive Seite des lateinischen Verbs aggredi verloren, die heranschreiten, sich nähern, sich freundlich an jemanden wenden bedeutet, auch sich zu etwas anschicken, unternehmen, beginnen, versuchen, was in der deutschen Wendung etwas in Angriff nehmen immer noch zum Ausdruck kommt. Aggressiv sein heißt also neben überfallen und angreifen in feindlicher Absicht auch versuchen, beginnen, etwas unternehmen, Tätigkeiten, denen eine herausfordernde, eben eine aggressive Komponente zugrunde liegt. Die kann genausogut zu einer schöpferischen Leistung führen wie zu einem Akt der Zerstörung. So gesehen ist Aggressivität auch ein Impuls zur Selbstbehauptung, das Angehen von Hindernissen und Schwierigkeiten, eine positive Kraft. Ohne Auseinandersetzung mit der Mitwelt hätte die -64-
Menschheit nicht überlebt, es gäbe keine Entwicklung, keine Kultur. Reden wir von Konfrontation mit den eigenen aggressiven Neigungen oder von Aggressionen als Folge von Wut und Angst, verstehen wir darunter meistens die destruktive Seite der Aggressivität und mißachten den kreativen Aspekt. Aggression wird ohne vorherige Definitionserklärung mit Gewalt gleichgesetzt, was mißverständlich ist. Generell wird Aggression definiert als ein Verhalten, welches Persönliches verletzt und zerstört: Körper, Psyche oder Besitz. Der Sozialpsychologe Werner Herkner bezeichnet »solche Verhaltensweisen als aggressiv..., die hauptsächlich dadurch motiviert sind, dem Interaktionspartner schaden zu wollen« (1983, S. 441). Diese Definition betont die Absichtlichkeit einer Schädigung. Darunter fallen auch seelische Verletzungen durch verbales Herabwürdigen und Erniedrigen. Ich orientiere mich an dieser gebräuchlichen Definition, allerdings im Bewußtsein, daß kreativer Aggressivität als Gegenpol zum Zerstörerischen vermehrte Aufmerksamkeit geschenkt werden muß. Trotz weitgehender Übereinkunft, was den Begriff Aggression betrifft, wirkt - wie wir täglich lesen oder an uns feststellen können eine zerstörerische Handlung nicht auf alle Menschen gleich gewaltsam, selbst wenn sie absichtlich erfolgt.. Das Kaputtmachen einer Puppe, das Ballern eines Polizisten mit Gummigeschossen, verbale Attacken gegen Ausländer, Brandanschläge auf Asylheime oder das Zertrümmern von Fensterscheiben bei Demonstrationen gegen staatliche Repression sind ohne Zweifel aggressive Aktionen. Doch sie werden nicht von allen Beobachtenden gleich bewertet. Soziale und ethnische Herkunft, Bildung, Geschlecht, politischer Hintergrund, Alter und ethische Orientierung prägen die persönliche Meinung. Betroffene haben eine andere Sicht als Unbeteiligte. Opfer urteilen anders als Täter. Was für die einen Krawall, ist für die anderen legitime Selbstverteidigung. Gewalt -65-
ist nicht Gewalt. Nicht einmal das Gewaltmonopol des Staats zur Erhaltung von Ruhe und Ordnung zum Schutz von Bürgerin und Bürger wird unwidersprochen akzeptiert. Je nach politischem Standpunkt erhält dieselbe Polizeiaktion Zustimmung oder Mißbilligung. Gewalt in mannigfacher Form gehört leider zum menschlichen Alltag. Folter, Galgen, Hexenverbrennungen, Pogrome, Kriege begleiten die Menschheit aus vorgeschichtlicher Zeit bis in die Gegenwart. Nach Erich Fromm (1973) ist der Mensch im Gegensatz zu den meisten Tieren ein wirklicher » Killer«, denn nur der Mensch scheint Lustgefühle zu empfinden, wenn er Leben grundlos und nur um der Zerstörung willen vernichtet. Und Hobbes schrieb im 17. Jahrhundert, der Mensch sei des Menschen Wolf. Die Schattenseiten der menschlichen Natur faszinieren uns. Mittelalterliche Hinrichtungen waren öffentlich und unterhielten die Massen. Männer und Frauen aller Stände pilgerten zu den Richtstätten. Michel de Montaigne entsetzte sich 1580 in einem Essay über die damals üblichen, öffentlich vollzogenen, grausamen Folterungen und Hinrichtungen: »Ich hätte es kaum geglaubt, daß es so scheusälige Seelen geben könne, die um reiner Mordlust willen Mord begehen... Menschen,... die ihren Geist anspannen, um unbekannte Foltern und neue Todesarten zu erfinden« (S. 418). Und er fürchtet, die Natur selbst habe dem Menschen einen Trieb zur Unmenschlichkeit mitgegeben. Folterszenen sind Teil sexueller Fantasien, immer mehr Menschen bekennen sich offen zu Sado-Maso-Praktiken. G.G. Jung nennt das Dunkle, Abgründige in uns Schatten. Die Auseinandersetzung mit diesem Archetypus ist für ihn ein unerläßlicher Schritt auf dem Weg der Individuation. Dieser Weg ist das Ziel: die Entwicklung zur reifen Persönlichkeit. Weichen wir von der Begegnung mit dem Schatten aus, begleitet er uns in Form von Haß, Unversöhnlichkeit, Mißgunst, Rachsucht und Neid; im Kollektiv ganzer Völker kann sein -66-
Verdrängen Kriege und die Verfolgung Andersdenkender initiieren. Manche Leserinnen und Leser mögen sich daran stoßen, daß in folgendem Exkurs über Aggressionstheorien einmal mehr nur Männer zitiert werden. Aber alle namhaften Hypothesen zur Entstehung der Aggression sind - angefangen bei Aristoteles von männlichen Wissenschaftlern aufgestellt worden. Gegenwärtige Untersuchungen dienen zur Hauptsache der Vertiefung, Differenzierung und der Bestätigung oder Widerlegung früherer, während und seit dem Zweiten Weltkrieg gemachter Erkenntnisse. Ist Gewalt wie Hunger und Sexualität ein angeborener Trieb? Freud zum Beispiel setzte Aggression gleich mit dem Todestrieb (Thanatos), der destruktiv zum Ende drängt im Gegensatz zum Lebenstrieb (Eros), dessen Ziel Erzeugung und Bewahren von Leben ist. Oder wird brutales Handeln im Laufe der Kindheit von Vorbildern gelernt und später nachgeahmt? Bedingen Frustrationen im frühen Kindesalter - wie die Schweizer Psychologin Marie Meierhofer, der Amerikaner Rene Spitz und andere in Untersuchungen an Krippen- und Heimkindern in den Sechzigerjahren feststellten eine dauernde Bereitschaft zu Mißtrauen und asozialem Verhalten? Oder ist - einmal mehr indirekt die Mutter schuld: Aggression eine Folge der als einengend und würgend erlebten mütterlichen Geburtswege? (Stanislav Grof, 1985) Verschiedene Lager stehen sich auf dem Feld der Aggressionsforschung dogmatisch verhärtet gegenüber und demonstrieren, was sie erforschen: aggressives Verhalten. Bittermäulige Verrisse, Lächerlichmachen, Übergehen: die Verfechter konkurrierender Überzeugungen beweisen, »wie sehr wir Menschen ein Gewaltproblem nicht nur haben, sondern ein Gewaltproblem sind« - Peter M. Pflügers Urteil über die 1992 durchgeführte Tagung der Internationalen Gesellschaft für Tiefenpsychologie zum Thema »Gewalt warum?« -67-
Die wichtigsten Aggressionstheorien werden im folgenden kurz zusammengefaßt. Da sie sich zum Teil widersprechen, erlaube ich mir, sie zu kommentieren, ohne Anspruch auf Allgemeingültigkeit, aber im Bewußtsein, daß jede Theorie mit entsprechenden Versuchsanordnungen belegt, widerlegt und auch manipuliert werden kann. Hinter allem Bemühen, die Entstehung menschlicher Brutalität und Grausamkeit zu erklären, steckt eine persönliche Meinung, welche sich zwar an der Wissenschaft orientiert, aber die Summe der eigenen Lebenserfahrung miteinbezieht. Die Trieb- oder Hydrauliktheorie von Konrad Lorenz mit der Behauptung, Aggression sei eine unausrottbare »Geißel der Menschheit«, ist weit verbreitet. Sie stellt im Menschen einen stets vorhandenen Drang zur Aggressivität fest, einen sich ständig steigern- den Triebdruck, der sich von Zeit zu Zeit entladen muß. Der Mensch funktioniert also wie eine Art Dampfkessel: Wenn Dampf abgelassen wird, nehmen die aggressiven Spannungen ab, dann steigen sie wieder an bis zur nächsten Entladung. Für Lorenz ist Trieb gleichbedeutend mit Instinkt. Er definiert Aggression als den »auf den Artgenossen gerichteten Kampftrieb von Tier und Mensch« (1974, S. 7), der unter natürlichen Bedingungen als lebens- und arterhaltend wirke durch Rivalenkämpfe, Brutverteidigung, Rangordnungen und Verteidigung des Lebensraums. Das Ausleben der Angriffslust diene der Aufrechterhaltung der psychischen und physischen Gesundheit des Menschen. Lorenz meint zwar, daß wir über die menschlichen sozialen Instinkte so gut wie gar nichts wüßten und daher den Auswirkungen des Aggressionstriebs so machtlos gegenüberstünden wie ein Wilder dem Blitz und dem Donner. Trotzdem rät er, Mittel und Wege zu finden, um diesen Trieb sinnvoll auszuleben. Die Triebtheorie ist gefährlich. Obschon die meisten Aggressionstheoretiker von ihr Abstand genommen haben, -68-
geistert sie in vielen Köpfen herum. Sie entschuldigt jede kriegerische Aktion, noch schlimmer, sie setzt sie in bestimmten zeitlichen Abständen voraus und erstickt so jede Bemühung zur Friedenserziehung im Keim. Lorenz und einige Vertreter der psychoanalytischen Richtung versprachen sich einen Katbarsiseffekt, das heißt eine Ventilfunktion durch Sport oder das Betrachten kämpferischer Handlungen. Akivsport mag zur Reduktion gewaltsamer Impulse beitragen. Doch niemand wird satt durch Lesen von Kochrezepten, und die sexuelle Erregung senkt sich nicht beim Anblick von pornographischem Material. Warum sollte ausgerechnet das Ansehen brutaler Filme als Gewaltbremse wirken? So nimmt auch die Aggressionsbereitschaft der Zuschauer kaum ab nach einem Fußballspiel; Beweis: die berüchtigten Schlägereien unter Hooligans nach Meisterschaftsspielen. Immer wieder werden Stimmen laut, die ein angeborenes, aber von Mensch zu Mensch unterschiedlich hohes Aggressionspotential für wahrscheinlich halten. 1985 publizierte der amerikanische Psychologe Richard Herrnstein eine umfangreiche Studie ( ›Crime and Human Nature‹ ), in welcher er behauptet, räuberische Kriminalität, besonders Gewalttätigkeit und Brandstiftung, sei genetisch bedingt (The Economist, 1993). Er und sein Kollege James Wilson fallen damit ins Denken des 19. Jahrhunderts und in rassistisches Gedankengut zurück: In einer Typologie Krimineller stellen sie fest, daß Leute mit tiefem verbalem Niveau, gedrungenkleinwüchsig und muskulös, mehr als andere zu verbrecherischem Verhalten neigen. Ein »Aggressionsgen« soll bei kriminellen Männern festgestellt worden sein, und einzelne Resultate der Zwillingsforschung scheinen ebenfalls zu belegen, daß aggressives Verhalten sich unabhängig von Umwelteinflüssen entwickelt. Studien mit Zwillingen beruhen aber -69-
überdurchschnittlich oft auf bewußt gefälschtem Material. In jüngster Zeit hat der Genetiker Han Brunner (Focus, 30/93) die unerklärliche Häufung von Gewaltschüben bei Männern in einigen niederländischen Familien untersucht. Er stellte einen Defekt des Gen-Abschnitts fest, der im Gehirn für den Abbau von Neuro-Transmittern (Übermittlungsstoffen) wichtig ist, die emotionale Zustände regeln. Brunner erwähnt aber auch eine mögliche Behandlung der Betroffenen durch Diäten, Enzymoder Gentherapien. Noch ist allerdings offen, ob Brunners Ergebnisse verallgemeinert werden können. Psychologen und Konfliktforscher äußern zur Zeit mehrheitlich Zweifel an einer rein genetisch oder typologisch bedingten Entstehung der Gewalttätigkeit. Abgesehen davon, daß die weiße Rasse ideologisches Kapital aus solchen Behauptungen schlägt, in Europa bereits die Vorherrschaft der »Europiden« proklamiert und neonazistische Geheimzirkel zum kontinentalen Kampf gegen die »Afroasiaten« anstacheln, wird durch eine derartige Theorie der Einfluß von Umwelt und Milieu völlig ausgeschaltet. Alle pädagogischen und therapeutischen Maßnahmen wären somit a priori nutzlos. So bestechend und problemvereinfachend die Gentheorie ist, sie sollte als kurzsichtig, undifferenziert und noch zu wenig belegt abgelehnt werden. Einige Humanethologen vertreten die These, Aggressivität entwickle sich aus einer Disposition (Anlage) zur Aggression, denn überall auf der Erde sei menschliche Aggression verbreitet und sie finde im Prinzip weltweit gleichen Ausdruck. Zum Beispiel sei sie als Xenophobie oft auf Fremde gerichtet. Der Ethnologe Christian Jäggi wirft dem Soziobiologismus, den Forscher wie Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eibesfeldt vertreten, vor, »von tierischen Verhaltensformen unhinterfragt auf den Menschen (zu; E.Z.) schließen«. Fremdenfeindlichkeit als eine Art biologischen Überlebenskampf darzustellen und daraus gesellschaftliche Schlußfolgerungen zu ziehen, sei -70-
»weder methodologisch haltbar noch wissenschaftlich akzeptierbar« (1992, S. 152). Die Argumentation für eine biologisch angelegte Aggression gegen Fremde beziehe sich auf das »Fremdeln von Kleinkindern, das aggressive Verhalten gegen Außenseiter bei gewissen Tierarten und die Aggressionen gegen gruppenfremde Eindringlinge im Tierreich« (S. 149). Wissenschaftlich abgesicherte Xenophobie gerät in bedenkliche Nähe zu rassistischen Positionen. Jäggi zitiert Anja Meulenbelt mit ihrer Feststellung, Rasse sei ein Begriff, der zur Viehzucht passe: »Es gibt nur eine Rasse, wenn wir vom Menschen sprechen, die Menschenrasse« (S. 151). Ohne Veranlagung - so die These - würden sich möglicherweise keine aggressiven Impulse entwickeln, und zur Zeit der Stammesfehden und Jagdzüge wäre ohne Kampfeslust das Überleben gefährdet gewesen. Inzwischen hat der Mensch aber seine Frontallappen, das Stirnhirn, ausgebildet, was ihn zu »höheren« geistigen Funktionen befähigt. Konflikte könnten also auf einer kognitiven Ebene der Einsicht in die (verheerenden) Folgen brutalen Handelns friedlich ausgetragen und als Langzeitplanung auch die Zukunft der Nachkommen mitberücksichtigt werden. Disposition zur Aggression: ja, Ausleben von Gewalt: nein, heißt die Devise, die den Menschen von heute leiten sollte. Udo Rauchfleisch, Gewalt-Experte an der Universität Basel, ist der Ansicht, daß Grausamkeit alltäglich und wir nicht nur Opfer, sondern unter bestimmten Voraussetzungen auch zu Tätern werden können. Nach ihm gehört Aggression ebenfalls zur Grundausstattung des Menschen und kann erst konstruktiv umgepolt werden, wenn wir in uns nach Feindbildern und Haßobjekten hineinhören und erkennen, daß wir Teil des Systems sind, das Unterdrückung ausübt. Eine gewaltfreie Welt ist für ihn eine Illusion - leider vermutlich zu Recht. Die Psychotherapeutin Alice Miller glaubt dagegen, ein wahrhaft geliebtes Kind werde als Erwachsener nicht gewalttätig. Das -71-
halte auch ich für wahrscheinlich - aber es wird immer eine Unzahl nicht geliebter, verstoßener Kinder geben. Jeder Aggression liegt eine Frustration zugrunde: Die Frustrations-Aggressionstheorie wurde von John Dollard und anderen amerikanischen Forschern entwickelt. Sie untersuchten die Wirkung, welche absichtliche Behinderungen, also Frustrationen, bei Versuchspersonen auslösten. Sie stellten fest, daß Wut, Ärger oder Angst die Bereitschaft zu feindseligen Reaktionen erhöhten. Wurden die Probanden geärgert, vom Versuchsleiter schikaniert, nicht ernstgenommen, ihre Antworten lächerlich gemacht, löste das bei ihnen stärkere Vergeltungswünsche aus als zum Beispiel ein scheinbar unbeabsichtigter Tritt ans Bein. Die Untersuchungen ergaben ferner: Furcht vor Strafe reduziert zwar aggressives Verhalten, schafft Angriffshemmungen. Verdrängte Aggressionen können aber als Ersatzhandlungen an Schwächeren ausgelebt werden. Als Sündenböcke eignen sich Frauen und sämtliche Randgruppen. Daß Frustration und Zurücksetzung Feindseligkeit auslösen, erfahren wir immer wieder. Das Leben hält für einige Menschen mehr Kränkungen bereit als für andere. Trotzdem mündet nicht jeder Frust zwangsläufig in eine Gewalttat. Je nach Situation und sozialem Hintergrund werden Zurücksetzungen unterschiedlich verarbeitet oder verdrängt. Die Formel ›Frustration gleich Aggression würde den Kampf aller gegen alle bedeuten, denn ein Dasein ohne Versagungen gibt es nicht. Die Menschen können nicht früh genug auf den Umgang mit Enttäuschungen vorbereitet werden. Eine Pädagogik, die das nicht berücksichtigt, ist realitätsfremd und unverantwortlich. Frust wird schon von den Kindern als Auslöser für Randale genannt. Bedenkt man, daß sie einem permanenten Druck durch Ärger, Zurückweisung, Angst, Überforderung oder Langeweile ausgesetzt sind, wundert es nicht, daß sie, als Seismographen der nach oben offenen Skala der Gewalt, immer heftiger -72-
ausschlagen. Die instrumentelle Aggression dient der Durchsetzung eigener Ziele und stellt die Aggressivität häufig in den Dienst einer falschen Sache, zum Beispiel Größen- und Machtphantasien. Auf instrumentelle Aggression zur Selbstverteidigung gehen viele Autounfälle zurück. Durch das Überholmanöver eines anderen Fahrzeuglenkers wird der eigene Selbstwert »überfahren«. Die umgehend aufgebaute Verteidigungshaltung bewirkt einen Erregungsschub und dadurch eine verminderte Urteilsfähigkeit. Beide Fahrer geben Gas und kollidieren oder stoßen frontal in einen korrekt entgegenkommenden Wagen. Tote, Schwerverletzte und Behinderte sind Opfer dieser sozialen Störung, die auf falscher emotionaler Erziehung beruht: Es gilt als legitim, sich aufzuregen, wenn ein fremdes Auto das unsere überholt. Schon die Kleinsten hören vom Papi ein »verdammte Sau«, ehe er das Gaspedal durchtritt, und nehmen später, wie ihre Eltern, gelassen zur Kenntnis, wenn »der Verkehr« ein neues »Opfer fordert«. Der Verkehr sind wir. Und die Toten sind in den meisten Fällen Opfer eines Tötungs- und nicht eines Kavaliersdelikts. Kein einziges Opfer wird »vom Verkehr gefordert«. Instrumentelle Aggression heißt für mich - simpel und boshaft ausgedrückt - daß wir die Herrschaft über ein Mordinstrument verlieren. Die Gefühls- oder Aktivierungstheorie nach Schachter belegt durch physiologische Messungen von Hautwiderstand, Blutdruck und Puls den Zusammenhang zwischen körperlicher und emotionaler Erregung (auch »arousal« genannt) und gesteigerter neurovegetativer Aktivität, die unter Umständen zu erhöhter Aggressionsbereitschaft führt. Gleichgültig, ob Freude, Glück, Sexualität, Trauer oder Wut das Nervensystem erregen: Die Spannung kann in Aggression umkippen. -73-
Eine Rund-um-die-Uhr-Präsenz von Bildern und Geräuschen hält den Erregungspegel vor allem in den Städten zusätzlich hoch. Sogar im Schlaf hindert Verkehrslärm viele Menschen an erholsamer Entspannung. Tagsüber erhöhen Katastrophen- und Kriegsberichte unseren Adrenalinspiegel. Der moderne Mensch ist unbewußt dauernd erregt, was ihn gereizt macht und anfällig für unbeherrschte Reaktionen. Rache kann ebenfalls mit der Gefühlstheorie erklärt werden. Erinnerungen und Emotionen lösen oft Jahre später grausame Vergeltungsschläge aus und können - wie wir es heute an vielen neuralgischen Punkten der Welt erleben - noch nach Jahrzehnten Kriege und ein Klima von Haß und Unversöhnlichkeit bewirken. Das Fehlen einer Tötungshemmung wurde lange auf die völlig unpersönlich gewordene Kriegstechnik zurückgeführt, das Töten anonym auf große Entfernung. Heute zeigt sich, daß besonders der männliche Mensch imstande ist, eine Tötungseuphorie auf »menschlicher« Distanz zu entwickeln, die ehrlicherweise unverständlich und auch viel unerklärbarer ist als beispielsweise die Kriegsführung mittels Computer im Golfkrieg. Ist der Mensch doch des Menschen Wolf? Muß sich seine Angriffslust von Zeit zu Zeit, vom Verstand losgelöst, entladen? Gegen diese und andere Annahmen wendet sich die lernpsychologische Theorie, ausführlich dargestellt von Albert Bandura und Herbert Selg. Lerntheoretiker sind überzeugt, daß der Mensch von Natur aus nicht festgelegt ist, sondern sich erst im Laufe der Entwicklung zu einem sozialen Wesen ausbildet. Das Kind lernt an Vorbildern (Modellen) seiner Umgebung, durch Beobachten und Identifikation mit ihnen, welche Verhaltensweisen sozial erwünscht, welche verpönt sind, was es zu tun hat, um Geltung und Beachtung zu erlangen und wie Konflikte am besten gelöst oder übergangen werden. Für die Lerntheorie ist auch Gewalt eine der sozialen Verhaltensweisen, die durch die Bedingungen der Umwelt hervorgebracht und variiert werden. -74-
Aggression wird also wie jedes andere Verhalten gelernt durch Beobachtung im Alltag, Erfahrung und Nachahmung. Familie, Subkultur und Massenmedien haben einen wesentlichen Anteil an der Gewaltfaszination von Jugendlichen, wobei nach dem 12. Altersjahr der Familie eine immer geringere Bedeutung zukommt, der Einfluß von Subkultur und Gruppe (sogenannte Peergroup) hingegen sprunghaft ansteigt. Die erlernten Bewältigungsmuster für Streß und Frustration bestimmen nach dieser Theorie den Umgang mit unangenehmen Emotionen. Wie wir mit einem seelischen Tief fertig werden, ist abhängig davon, wie wir als Kind mit Versagungen zurechtkommen lernten. Wir können uns zum Beispiel entmutigt zurückziehen: in eine Krankheit, in die Fürsorge und Abhängigkeit eines Menschen, die Isolation einer Scheinwelt, in Alkohol, Arbeit und andere Drogen. Vielleicht spielen wir mit dem Gedanken an Selbstmord oder entladen unsere Wut von Zeit zu Zeit in einem Anfall sinnloser Gewalt. Im günstigsten Fall haben wir gelernt, mit Frustrationen und Problemen konstruktiv umzugehen. Besonders aggressiv machen eingeschränkte Lebensbedingungen. Arbeitslosigkeit und Flüchtlingsdasein sind aufgrund dieser Fest- ; Stellung ein Nährboden für Kriminalität. Dennoch: auch ärgste Erniedrigung macht nicht jeden Menschen zum Dieb oder Mörder. Das Ausleben destruktiver Impulse wird durch äußere und innere Kontrollmechanismen verstärkt oder gehemmt. Aggression : wird stark von den zu erwartenden Konsequenzen beeinflußt. Sie wächst mit der Aussicht auf Vorteile (wie die Belohnung junger i Neonazis durch TV-Präsenz und Verständnis) und sinkt mit der ; Erwartung einer Strafe. Die innere Kontrolle kann aber auch ausgeschaltet werden: das Verschleiern der eigenen Verantwortung rechtfertigt oder bagatellisiert beispielsweise brutales Vorgehen. Die schädlichen Folgen werden geleugnet oder heruntergespielt, das Opfer wird -75-
entwürdigt, entmenschlicht und als schuldig befunden. Die Schuld auf das Opfer schieben: eine beliebte Taktik bei Angriffen auf Asylsuchende und Frauen, aber auch bei Unterlassung einer Hilfeleistung. Oft helfen wir nicht, weil wir uns nicht genügend kompetent fühlen. Aus Scham darüber beschuldigen wir das Opfer. Trotz der Unzahl von negativen Vorbildern rechnen die Lerntheoretiker - im Gegensatz zu den Befürwortern der Triebtheorien mit der Möglichkeit des aggressionsfreien Menschen in einer ebensolchen Gesellschaft. Die Auffassung, daß die Sozialisation gewalttätiges Verhalten einschränkt oder begünstigt, ist durch zahllose Studien belegt. Die Beziehung zwischen Vorbild und Nachahmung zeigt konkret, wie Brutalität gelernt wird, aber ebenso, was zum friedlicheren Umgang miteinander getan werden kann. Diese Theorie - eine der anerkanntesten Aggressionstheorien überhaupt - beinhaltet auch Hoffnung, da sie Strategien zur Reduktion von Gewalt aufzeigen kann. An der Realität vorbei geht die Hemmungs- oder Inhibitionshypothese, die sich auf Abschreckung beruft. Sie behauptet, der Anblick von Brutalität erzeuge Abscheu und führe damit zur Ablehnung eigenen gewalttätigen Verhaltens. Die grausamen Kriege und die Folterungen widerlegen sie. Realitätsgerechter ist hingegen die Theorie der Gewöhnung und Abstumpfung. Langanhaltende Reize werden mit der Zeit nicht mehr wahrgenommen. Wer an einer Bahnlinie lebt, erwacht nur in den ersten Nächten wegen des Ratterns der Züge. Man kann sich an Straßenlärm gewöhnen, aber auch an Gewalt. Bilder von hungernden Kindern, von Verletzten und brutalen Zerstörungen erschüttern von Mal zu Mal weniger. Blieb mir beim ersten Anblick buchstäblich der Bissen im Hals stecken, schaue und höre ich heute oft nicht einmal mehr hin, wenn die neuesten Horrorszenarien aus Bosnien und Israels besetzten -76-
Gebieten in der Tagesschau gemeldet werden. Gewöhnung und Abstumpfung haben zwar eine Schutzfunktion. Das macht sie indessen nicht besser. Um die gefährlichen gewaltauslösenden Mechanismen im Wechselspiel von Autorität und Gehorsam aufzuzeigen, sei noch auf ein umstrittenes, aber sehr aufschlußreiches Experiment hingewiesen. Bürgerinnen und Bürger demokratischer Staaten kritisieren, daß Menschen in diktatorischen Regimes aus einer vom Staat befohlenen und mit Drohungen und Freiheitsentzug durchgesetzten Autoritätsgläubigkeit heraus zu gehorsamen Instrumenten von oben verordneter Repression werden. Diese Überheblichkeit ist gänzlich unangebracht, wie die berühmtberüchtigten Untersuchungen der Amerikaner Stanley Milgram und Philip Zimbardo anfangs der sechziger Jahre aufzeigen. Angehörige der Mittelschicht, zufällig als Versuchspersonen ausgewählte Männer und Frauen, versetzten anderen Menschen anscheinend lebensgefährliche (!) Elektroschocks, weil es die experimentelle Situation, das heißt die Autorität des Versuchsleiters erforderte. Ihre Aufgabe bestand darin, als »Lehrer« einen »Schüler« mit Elektroschocks zwischen 15 und 450 Volt zu bestrafen, wenn dieser ein Wortpaar auf Abfrage falsch wiedergab. Die Stromstöße wurden nach jeder unrichtigen Antwort gesteigert. Niemand von den Teilnehmenden wußte, daß die Schmerzensschreie der Opfer von Tonbändern stammten. Milgram wollte herausfinden, wie lange ein Mensch einer Autorität gehorcht, die ihm befiehlt, einem anderen wehzutun. Das Ergebnis verblüffte und war erschreckend: Zwei Drittel der beobachteten Personen gingen bis ans Ende der Voltskala, wenn auch streßgeplagt, mit Zittern, Schwitzen und hysterischem Lachen - doch in der Annahme, daß die verabreichten Stromstöße tödlich sein konnten. Niemand hatte mit einer solchen Menge gehorsamer -77-
Menschen gerechnet. In Deutschland, wo der Test wiederholt wurde, gehörten 85 Prozent zu den Willfährigen, die bis zuletzt »mitmachten«. Zimbardo führte eine experimentelle Simulation der Gefängnissituation durch. Völlig normale, unauffällige Studenten wurden in seinem Experiment durch das Los entweder zu Gefangenen oder zu Wärtern bestimmt. Nach kurzer Zeit veränderte sich ihr Verhalten: die »Wärter« quälten und schikanierten mit sadistischer Lust die »Gefangenen«, welche ihrerseits um die Gunst der »Aufseher« buhlten. Das Unternehmen mußte abgebrochen werden, um die Teilnehmer vor schädlichen psychischen Folgen zu bewahren. Das Verhalten der Beteiligten war ähnlich überraschend wie beim Milgram-Experiment und wird von der Sozialpsychologie damit erklärt, daß die jeweilige Situation unser Handeln stärker bestimmt als Persönlichkeitseigenschaften und ethische Normen. Studien wie diese sind bedenklich, zwingt man den Versuchspersonen damit doch ein Stück Selbsterkenntnis auf, das unter Umständen traumatisch wirken kann. Dennoch zeigen sie, daß durchschnittlich nette Menschen wie du und ich in bestimmten Situationen zu willfährigen Werkzeugen einer grausamen Autorität werden können. Das Milgram-Experiment enthüllt: viele von uns sind auf Befehl bereit, zu foltern und zu töten. Eine bedrückende und ungeheuerliche Erkenntnis, ganz im Sinne von Elliot Aronsons Motto der Sozialpsychologie: »Leute, die verrückte Dinge tun, sind nicht notwendig verrückt.« Es ist schwierig, eine einheitliche Definition des Begriffs »Aggression« zu finden; und verschiedene Untersucher mit unterschiedlichen Hypothesen gelangen zu keinen übereinstimmenden Resultaten bei der breiten Palette möglicher -78-
Gewaltauslöser. Aufgabe dieser Wissenschaft wäre aber, Grundlagen zu schaffen für die Erkenntnisse, wie Kinder und Erwachsene zum positiven Umgang mit ihrem aggressiven Potential und zur friedlichen Regelung von Konflikten angeleitet werden können. Vermehrt müßten die Resultate über das Wesen chaotischer und destruktiver Kräfte in uns einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Welchem der verschiedenen wissenschaftlichen Erklärungsversuche wir auch den Vorzug geben - die Gefühlsund die soziale Lerntheorie sind zur Zeit relevant - die meisten lassen sich mühelos auf das Verhalten gewaltausübender Kinder und Jugendlicher übertragen. Bedeutsam scheint mir, daß die Thesen auf seelische Mangelsituation als Nährboden der Gewalt und auf die Verantwortung der Erwachsenen in der Rolle der Vorbilder verweisen. Erwachsene, die Jugendliche durch den Raster von Aggressionstheorien betrachten müssen, disqualifizieren sich selbst. Die erwähnten Ansätze sagen mindestens soviel aus über uns: wir Pädagoginnen, Lehrer, Eltern, Psychologinnen und Jugendberater haben in den fetten Jahren versagt. So stehen wir denn jetzt vor unseren Werten, die keine sind, denn sie tragen nicht, wenn das Eis dünner wird, der Wind kälter und die Reichtümer vergammeln. Das Auto und das Eigenheim ersetzen keine Ideale, der Urlaub geht zu Ende und die fetten Jahre auch. Die Kids sind arbeitslos und hängen freudlos herum, ohne Zukunftsaussichten im Ödland, das täglich mehr an Substanz verliert, an Boden, auf dem der Mensch gefahrlos gehen kann.
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Aggressionsanfällige Perioden in der kindlichen Entwicklung Die kindliche Psyche ist verletzlich und empfänglich für jede Gefühlsschwingung in ihrer Umgebung. Distanz und Kälte werden ebenso aufgenommen wie einfühlsame Zuwendung; Kinder sind mit speziellen Antennen ausgerüstet für Unterschwelliges und Nonverbales. Bei Fehlverhalten war - und ist - es naheliegend und bequem, den Müttern alle Schuld in die Schuhe zu schieben. Sehr langsam setzt sich die Erkenntnis durch, daß auch Väter und - in zunehmendem Maß - die Mitwelt für das Gedeihen eines Menschen verantwortlich sein könnten. Wo vor der Haustür der Tod durch Überfahrenwerden droht, Hinterhöfe durch Parkplätze ersetzt werden, die mehr Raum einnehmen als Spielplätze, ein Tierschutzgesetz besteht, aber keins für den Kinderschutz: da wächst sich kindliches Fehlverhalten zu einem gesellschaftlichen Problem aus. Kinderfeindliche Architektur, kleine Wohnungen, zu wenig Auslauf, nörgelnde Nachbarn: auch hier finden sich Wurzeln der Gewalt. Äußere Bedingungen bestimmen im wesentlichen unsere Lebensqualität, und das Mißbehagen der Eltern überträgt sich auf die Befindlichkeit der Kinder. Wenn von spezifischen Abschnitten im kindlichen Leben die Rede ist, in denen spätere Gewaltbereitschaft entsteht, sollten immer auch die äußeren Verhältnisse einbezogen werden. Eingeschränkter Wohnraum fördert selbst bei friedlichen Individuen bösartiges Verhalten. Die Umgebung ist stets eingebunden: unterstützend oder verheerend. Für die Entfaltung von Autonomie und Durchsetzungsfähigkeit ist in bestimmten Phasen der kindlichen Entwicklung eine erhöhte Aggressivität unabdingbar, ein -80-
zeitweises Sichabgrenzen, um den Reifeprozeß zu ermöglichen. Schwerpunktmäßig handelt es sich dabei um folgende Perioden: 1. die Lösung der dualen Mutter-Kind-Beziehung 2. die Trotzphase 3. die Periode der Rivalität mit Gleichaltrigen, der Identifizierung mit einem Elternteil 4. die Schulzeit und 5. die Pubertät In der oralen Phase der Säuglingszeit erkundet das Kind die Welt mit dem Mund. Die Welt, bestehend aus ihm und seiner Mutter, wird als »Einheit zu zweien«, die Mutter als Teil seiner selbst erlebt. In dieser auch als Dualunion bezeichneten Zeit nimmt das Kind mit den aggressiven Mitteln des Beißens und Zupackens Kontakt mit seiner Mutter auf. Es saugt, nuckelt an ihren Brustwarzen, packt ihre Ohrgehänge, zerrt an ihren Haaren. In der Sprache der Psychologie ist der Säugling das Subjekt, die Mutter das Objekt. Im Zustand dieser ursprünglichen Zweieinigkeit ist sie das einzige Liebesobjekt des Kindes. 1. Gegen Ende des ersten Lebensjahres erfolgt die Trennung dieser Verbundenheit mit der Mutter, ausgelöst und erleichtert durch das Abstillen und das erstmalige bewußte Wahrnehmen der mütterlichen Abwesenheit. Dabei wird die Mutter als frustrierend und »böse« erlebt. Aus der nährenden, guten wird aus kindlicher Sicht die versagende, böse Mutter. Die dadurch ausgelöste Abwehrhaltung des Kindes vernichtet die duale Einheit und teilt sie auf in das Subjekt und in sein Gegenüber. Das mütterliche Objekt wird zum Du und wandelt sich im Lauf der weiteren Entwicklung zur autonomen Person mit einem eigenen Leben. Dem Kind gelingt es jetzt, die abwesende Mutter als Bild in -81-
der Vorstellung dauerhaft zu bewahren, sie bei der Rückkehr wiederzuerkennen und von anderen Menschen zu unterscheiden. Es hat, im Psychologenjargon, die Objektkonstanz erworben. Das Bild der Mutter hilft, immer längere Trennungen von ihr zu ertragen. Zusätzliche Sicherheit verleihen sogenannte Übergangsobjekte: ein vertrauter Teddy, ein nach Mutter riechender Schal, ein Kuscheltuch. Ein Gefühl des Gehaltenseins, der Geborgenheit entwickelt sich: Urvertrauen, basierend auf einer sicheren Bindung an die Bezugsperson. Die Mutter kann übrigens in den meisten Fällen durch den Vater oder eine geeignete Fremdbetreuung ersetzt werden. Seelisches und körperliches Wachstum ist mit Trennung und Schmerz verbunden. Die Wut auf die böse Mutter verleiht dem Kind die positiven aggressiven Energien, die bestehende Symbiose zu vernichten und die Mutter gleichzeitig als selbständiges Objekt, abgegrenzt vom kindlichen Selbst, überleben zu lassen. Zur gelungenen Zerstörung der ausschließlichen Mutter-Kind-Einheit braucht es den Willen zur Abgrenzung auch von Seiten der Mutter. Eine »gute« Mutter vermag in dieser Phase, ihr Kind zu frustrieren. Manche Mütter haben große Mühe, auf die nährende und pflegende Rolle zu verzichten und sich aus der intimen Einheit mit ihrem Sprößling zu lösen. Damit behindern sie seine Entwicklung. Nur wenn die Trennung in Subjekt (Kind) und Objekt (Mutter) gelingt, wird das Kind frei zum Erwerb eigener Selbständigkeit. Sträubt sich die Muter dagegen, ihr Baby zum Kleinkind werden zu lassen, überlebt die frühe Beziehung, und die vorhandene Trennungsangst beim Kind kann nicht mit Hilfe der Mutter überwunden werden. Nach tiefenpsychologischer Auffassung sollte es sich mit der Mutter identifizieren und ihre lebensbewahrenden Funktionen in Zukunft selber übernehmen können. Kleinkinder drücken ihre natürliche Neugier, ihr -82-
Besitzergreifen und Erkunden der Umwelt durch spontane Aktivität aus. Sie gehen auf etwas zu, halten, ergreifen es, werfen ein Objekt weg, immer wieder. Nicht, um die Mutter zu nerven, sondern aus Freude, einen Gegenstand durch eigenes Wirken in Bewegung zu setzen. Der Genfer Psychologe Jean Piaget nennt dies primäre Kreisreaktion. Durch diese konstruktivaggressiven Handlungen können die Kleinen etwas bewirken und Einfluß nehmen. Sie werden in ihrem... Eigenmachtgefühl gestärkt. : Stellt sich die Mutter den kindlichen Bemühungen um Eigenständigkeit entgegen, bremst sie die schöpferische Kraft, welche in dieser Angriffslust steckt, und kann so den Keim legen zu späterer hoher Aggressionsbereitschaft. Im Prinzip geht es darum, wie aus siamesischen Zwillingen zwei selbständige Wesen werden. Dazu braucht es einen zerstörerischen Eingriff. Gelingt er, überleben beide, sie werden eigenständig und lieben sich trotzdem. Läßt sich die Trennung nicht vollziehen, müssen sie sich schlecht und recht arrangieren, erlangen aber nie eine vollständige Autonomie, sie sind auf Gedeih und Verderb ineinander verstrickt. Im Laufe zunehmender Identitätsbildung und Selbständigkeit empfindet das Kind die elterliche Überlegenheit als gewaltsame Einschränkung seiner Daseins-Erweiterung. Es ist nun in der Lage, Dinge zu benennen, eine längere Abwesenheit der Mutter zu ertragen, entwickelt ein eigenes Selbstbewußtsein und ist imstande, zwischen zwei Möglichkeiten zu wählen. Es kann selber bestimmen, ob es will oder nicht. Mit seinem Nein stellt es sich bewußt gegen die Eltern beziehungsweise gegen die Bezugspersonen, dank dem beginnenden Spracherwerb kann es sich auch verbal verweigern. Das Kind entwickelt ein Selbstbild und grenzt sich ab von den Eltern, was - obschon von ihm angestrebt - einer Vertreibung aus dem Paradies gleichkommt. Aggressiv, mit vehementen Wutausbrüchen, verteidigt es seine erworbene Selbständigkeit. -83-
2. Erschöpfte Eltern wissen, welche Anforderungen diese Zeit der Trotzphase (2./3. Lebensjahr, sogenanntes anales Entwicklungsstadium) an ihre Geduld und ihren Einfallsreichtum stellt. Für das Kind ist es eine wichtige Periode der Ich-Entwicklung, in der es auch zu Allmachtsphantasien und magischem Denken neigt. Erzieherisch bedeutet das Stadium der oft beängstigenden Wutanfälle und Schreikrämpfe eine Gratwanderung im Machtkampf zwischen Eltern und Kind. Ständiges Erfüllen von kindlichem Willen und Allmachtsphantasien führt unweigerlich zur Manipulation der Eltern durch einen kleinen Tyrannen, der in der Illusion aufwächst, seinen Wünschen würden keine Grenzen gesetzt. Aber auch das früher übliche »Brechen des kindlichen Willens« schadet der Entwicklung zur erfolgreichen Sozialisation: Überangepaßtes Duckmäusertum kann die Folge sein oder Herrschaftsgelüste, um das erlittene Unrecht zu rächen. Die Zeit der Ambivalenz zwischen Abhängigkeit und Eigenständigkeit ist aber auch durch Bekräftigungslernen (Lob oder Tadel) und Nachahmung der Bezugspersonen gekennzeichnet. Voraussetzungen für soziale Kompetenz, den Erwerb eines gesunden Selbstwertgefühls und das Bewußtsein eigenen Könnens. Beides, Frustration und Aggressivität, ist in der analen Phase wichtig zum Gelingen des Sozialisationsprozesses. Eine zu starke Einschränkung kann die gesunden kämpferischen Impulse des Kleinkinds in zerstörerische wandeln, die sich später destruktiv gegen andere oder gegen sich selbst richten und eine antisoziale Einstellung bewirken. Der Altersabschnitt zwischen zwei und drei Jahren ist besonders bedeutungsvoll für die Selbstentfaltung des Kindes, das von sich jetzt nicht mehr in der dritten Person, sondern als »ich« spricht, sich als einmalige Persönlichkeit erlebt und in dieser Einmaligkeit anerkannt werden will und soll. Mit dem -84-
Fortschritt seiner Sprachentwicklung und seiner motorischen Geschicklichkeit erweitert es zusehends seine sozialen Fähigkeiten. Es beginnt, sich mit anderen Menschen auseinanderzusetzen. Zuerst im Familienkreis, später mit Fremden, als Einübung in die Gemeinschaft. Kinder im Trotzalter brauchen eine besonders einfühlsame Umwelt: ein sturstrafender Erziehungsstil kann trotzigaggressives, ein ausgesprochen antiautoritärer emotionallabiles, ängstliches oder enthemmtes Verhalten bewirken. Das Wechselspiel zwischen Eingehen auf berechtigte individuelle Ansprüche und Aufschieben von Bedürfnissen zugunsten anderer, oder weil es der jeweiligen Situation zuwiderläuft, bewegt nicht nur Erziehende. Es gehört zum UrKonflikt unseres Daseins als soziale Wesen. Schon im Alter von zwei bis drei Jahren erlebt das Kind den Widerspruch zwischen Anpassung und Sichbehaupten, zwischen Individuum und Gemeinschaft, der im besten Fall im Laufe der Entwicklung zu Selbstliebe und Verantwortlichkeit auch für andere und für unsere Mitwelt führt. Der nächste Abschnitt der kindlichen Entwicklung ist besonders im Hinblick auf Jungen beschrieben. 3. In der phallischen (ödipalen) Phase (4.-6. Altersjahr) erweitert sich das soziale Umfeld des Kindes: es kommt zu Rivalität mit Geschwistern und Gleichaltrigen. Es ist die Zeit des körperlichen Kräftemessens und der Rollenspiele. Beides dient auch dem Einbinden aggressiver Energien. Jungen rivalisieren in dieser Periode mit dem Vater, beneiden ihn um seine Stellung, um die Beziehung zur Mutter, die sie als eigenes Liebesobjekt begehren und heiraten möchten - gleichzeitig fürchten sie die väterliche Rache (Ödipuskomplex). Über den -85-
sogenannten Elektrakomplex (der Wunsch des Mädchens, den Vater zu heiraten) findet sich wenig Literatur. Sofern keine sexuellen Übergriffe der Eltern erfolgen, »verzichtet« das Kind auf den von ihm begehrten Elternteil. Der Knabe überläßt die Mutter dem Vater und meistert seine Enttäuschung, seine feindseligen Impulse gegen diesen, indem er sich mit ihm identifiziert. Wird er später gleich wie sein Vater, erhält er dieselbe Anerkennung. Diese Identifikation erleichtert die Distanzierung von der Mutter. Sie gelingt umso besser bei einem guten Verhältnis zwischen den Eltern. Heute, bei den vielen alleinerziehenden Müttern, werden die Jungen zunehmend auf andere Vorbilder verwiesen. Sie finden sie in den prügelnden und umherballernden Medienhelden. An die Stelle der Väter treten Rambo und andere gewalttätige Supermänner. Das Verschwinden des väterlichen Identifikationsobjekts - aus welchen Gründen auch immer begünstigt die zunehmende Aggressivität unter Knaben. Doch auch für das Mädchen ist die Anwesenheit des Vaters von Bedeutung. 4. Beim Eintritt in die Schule wird das Kind zum Lernkind (Herzka, 1989). Von ihm wird verlangt, wozu nicht alle Menschen neigen: stundenlanges Stillsitzen und die Anpassung an ein Kollektiv. Im Schulalter ist ein gesundes Kind geistig und körperlich aktiv, neugierig und bereit, sich wie ein trockener Schwamm mit Wissen vollzusaugen. Mädchen und Buben sind aufnahmefähig, interessiert an verschiedensten Wissensgebieten, treiben daneben Sport und widmen sich dem Aufbau zwischenmenschlicher Beziehungen. Sie spielen gern und entwickeln eigene Regeln, die sie trickreich zu umgehen trachten, nach der Devise: laß dich nicht erwischen. Erwachsene sind aus Schülerperspektive allesamt Gruftis und doof; Kinder können sich nicht vorstellen, je 40 Jahre alt zu -86-
werden. Haben sie eine Lehrerin, einen Lehrer, die nicht den pädagogischen Zeigefinger heben, sind auch schwächere Kinder zu erstaunlichen Leistungen fähig. Vater und Mutter verlieren im Laufe der Schulzeit immer mehr von ihrer Vorrangstellung, werden zu gewöhnlichen Sterblichen. Dieser Vorgang, der die Ablösung von den Eltern einleitet, ist auch bedrohlich, macht angst und aggressiv. Altere Kinder werden frech, maulen und lassen sich Zuhause nichts mehr vorschreiben. Trotz aller Freude an der eigenen Leistung kann sich durch die Schule ein Streßsyndrom entwickeln: Angstzustände, unerklärbare Fieberschübe, Bauchweh. Das Kind fühlt sich über- oder unterfordert, findet sich unter den Kameradinnen und Kollegen nicht zurecht, wird von der Lehrperson falsch eingeschätzt, fällt zuletzt durch motziges Benehmen aus dem Rahmen der Gleichaltrigen. Besonders Knaben schwänzen die Schule, treiben sich auf der Straße herum, klauen, stören durch Geräusche und unbotmäßige Bemerkungen den Unterricht, so daß ihre Lehrer oft froh sind, wenn die Bengel der Schule fernbleiben. Schließen sie sich einer Bande von kriminellen und gewalttätigen Jungen an, werden sie manchmal geschnappt und in ein Erziehungsheim gebracht. Neuerdings werden die Unangepaßten als immer schwieriger geschildert, und die Frage drängt sich auf, wann und wodurch die Erwachsenen, auch die Lehrerschaft, als Unterstützende und Anteilnehmende versagt haben. 5. Die Pubertät steht unter dem Einfluß von hormonbedingten Veränderungen, die schließlich zu den Körperformen und Geschlechtsmerkmalen der erwachsenen Frau und des erwachsenen Mannes führen. Psychisch erfolgt eine Auseinandersetzung mit aggressiven und sexuellen Impulsen. Bekannt sind die Stimmungsschwankungen der Zwölf- bis Fünfzehnjährigen. Eine Lebensphase voller Widerspruch. Der junge Mensch, auf der Suche nach seiner Identität, von -87-
Selbstzweifeln hin- und hergerissen, ist entwicklungsbedingt geprägt durch eine Anfälligkeit für Macht- und Größenfantasien, die ihn empfänglich machen für das Pathos radikaler Ideologien. Pubertierende sind Opfer verschiedenster Ängste und aufgrund ihrer Identitätsdiffusion manipulierbar durch totalitäres Gedankengut. Dank ihrer Bereitschaft und Disposition zur Radikalität, einem weiteren Charakteristikum dieser Altersstufe, neigen sie zu Ausschließlichkeit und einseitigem Denken und vertreten ihre Ansichten mit einer sturen Überzeugung, die bei Angehörigen Unverständnis und endlose, unfruchtbare Diskussionen auslösen kann. Der Umgang mit Pubertierenden erfordert Takt und Fingerspitzengefühl und muß von Menschen ausgehen, die man lieben und hassen, denen man trotzen und auf die man sich verlassen kann. Die Pubertät ist die Zeit der Trennung: von der Kindheit, von den Anschauungen der älteren Generation, den Eltern und ihren Werten. Die jungen Menschen sind im Stadium zwischen Nichtmehr-Kind- und Noch-nicht-Erwachsensein. Unsicherheit und auch Trauer betäuben viele durch Provokation. Die Auseinandersetzungen zwischen den Generationen haben sich zwar in den letzten Jahren abgeschwächt, denn viele moderne Eltern erleichtern mit großzügiger Einstellung und der Zentriertheit auf Probleme ihres eigenen Lebensabschnittes die Ablösung ihrer Söhne und Töchter. Um sich von den Eltern zu befreien, müssen Jugendliche sich abgrenzen, gegen elterliche Anschauungen Widerstand leisten, in Opposition gehen können. Von Eltern, die sich äußerlich und in ihren Anschauungen wenig von ihren Kindern unterscheiden, wird die Ent-Bindung erschwert. Früher konnten Jugendliche mit langen Haaren und ausgeflippten Kleidern Reaktionen unter Erwachsenen auslösen. Zeichen ihres Andersseins, ihrer antietablierten Einstellung. Die Losung der 68er-Jugend hieß: Trau keinem über 30. Heute verbringen junge Menschen ihre Freizeit Zuhause, mit -88-
Freund oder Freundin, die Herkunftsfamilie ist das Nest, der Widerspruch zum Überkommenen ist minimal. Unter solchen Voraussetzungen entwickeln sich die Angepaßten, welche unkritisch die Einstellung ihrer Eltern tradieren. Besser beraten sind jene, die einen eigenen Lebensentwurf, neue Ideen zum Erwachsenwerden suchen. Nur: womit können Jugendliche die Öffentlichkeit noch provozieren? Braucht es Nazi-Schlagworte und Brutalität, um auf sich aufmerksam zu machen? Schon der Nationalsozialismus bezog die Befindlichkeit der Pubertierenden geschickt in seine Propaganda ein, umwarb sie mit Methode und fing sie in raffinierten Pubertätsfallen: Kinder und Jugendliche wurden vereinnahmt durch Schaffen von Führungsposten für Jungen und Mädchen. Wissend um die Skrupel und Selbstzweifel pubertierender Jugendlicher, aber auch um ihren Wunsch, Bestehendes in dieser Lebensphase aufzubrechen, Altes zu stürzen und mit Draufgängertum die Welt neu zu gestalten, holte das Nazitum sie dort ab, wo sie am empfänglichsten waren: es versprach ihnen neue Werte anstelle der alten verknöcherten Moral der Elterngeneration und erteilte ihnen die Erlaubnis, mit den Maßstäben der braunen Dogmen ihr Umfeld zu beurteilen. Bespitzeln und Denunzieren gehörten zum Alltag der Hitlerjugend, genau wie Lagerromantik, Uniform und Auszeichnungen, Fahnenweihen und abgestufte Führungspositionen. Überheblichkeit und arroganter Drive als Waffe gegen alles, was schwach war, krank oder nicht normal im landläufig üblichen Scheuklappenblick, wurde zum Schutzschild gegen Angst und Verunsicherung. Das Ausmerzen des Schwachen erhöhte den eigenen Selbstwert. Gewalt nährte die narzißtische Bedürftigkeit, löste scheinbar viele Probleme und verschaffte zugleich eine Zufuhr an Eigenwert, die den jungen Menschen Sicherheit und Stärke vortäuschte. -89-
Undifferenziert schwarzweiß sah die Welt aus durch die Propagandabrille des Dritten Reichs: böse oder gut. Ein Dazwischen gab es nicht. Die Mitmenschen waren normal, stark und arisch oder krank, schwach und lebensunwert, weil nichtarisch. Ein entmenschlichtes Menschenbild. Die Überhöhung der Herrenrasse, die Verdammung der Ausgegrenzten. Leider gehört weder die irregeleitete Jugend der Vergangenheit an, noch sind die braunen Rattenfänger verschwunden. Schamlos und gezielt wird von radikalen Jugend- und Kinderverführern die Anfälligkeit der Pubertierenden für Gewalt und Größenfantasien ausgenützt. Die weitverbreitete Abwehr gegen Ausländer und die Einigelung in Pseudotradition, verbunden mit einer Duldung altneuer Naziparolen, erleichtert die Delegation von Haß an die Jugend. Fremdenhaß gegen die Ängste, welche die Gegenwart verdüstern: Arbeitslosigkeit, Rezession, schwindender Wohlstand und das Schreckgespenst des Verzichts. Ängste, mit denen sich weder Regierung noch Volk bisher auseinandersetzten. Für junge Menschen bestehen verschiedenartige RechtsGruppierungen, die ihnen nebst Glatze oder studentischem Schmiß eine Gruppenidentität in Form einer rechtsextremen Weltanschauung verpassen. Demagogisch, umstürzlerisch und von aufhetzerischer Intoleranz, bieten die radikalen Ideologen den Jungen jenen Kick, den ihnen der Alltag vorenthält: Abenteuer und Lebenssinn, Lebensinhalt, Zukunftsperspektiven, Zusammengehörigkeit in der Gruppe und das Gefühl, jemand zu sein. Wie gehabt. Das Gruppengefühl senkt die Aggressionsschwelle, jede Feindbild-Erklärung steigert die Gewaltbereitschaft, -90-
Erlebnisdefizite verlangen nach Action. In vielen Gruppen ist Gewalt ein zentrales Thema und kann im Rahmen der Gemeinschaft als Droge wirken. Und wie bei anderen Drogen muß bald einmal die Dosis gesteigert werden. So verfestigt sich ein aggressives Verhaltensmuster: Tagsüber in Schule oder Lehre scheinbar angepaßt, in der Freizeit als Bürgerinnenschreck unterwegs, randalierend, vor wenig zurückschreckend. Ist die Pubertätsfalle einmal zugeschnappt, ist es sehr schwer, sich aus ihr zu befreien. Männlichkeits- und Gruppenbeweise erhöhen die Brutalität, und die Rechtfertigung jeder mörderischen Handlung erfolgt durch die Dehumanisierung der Opfer, wie sie erneut im Volk und sogar bei Politikern Brauch ist (obwohl inzwischen verboten), wo in Reden von »Asylantenpack«, »Gesindel« oder ähnlichem gesprochen wird. Von Abfall also. Und dies auf Menschen bezogen. Junge Täter werden durch solche Aussprüche indirekt belohnt, Minderwertigkeitsgefühl weicht einem Gefühl der Stärke, und die anerzogene Bremse in Form eines Gewissens wird gelockert, die Verantwortung vernebelt, die soziale Selbstkontrolle immer mehr ausgeschaltet. Rebellische Kinder und Jugendliche lassen sich aber, einmal auf Gewalt programmiert, weder in psychologischen Trainingskursen noch im Jungenknast so einfach wieder an die Kette legen. Fehlen Vorbilder von subtilen Handlungsmustern, die dennoch Power und Drive übermitteln und deren Nachahmung das Selbstwertgefühl der Jugendlichen positiv verstärken, besteht gegenwärtig die Gefahr, daß Kinder im Netz totalitärer Ideologien hängenbleiben oder auf andere Weise gewaltsames Handeln als Verstärkung ihres Selbstwerts erfahren. »Wenn ich schlage, spüre ich mich«, sagt ein 17jähriger -91-
Schläger, dem man diese Vorliebe überhaupt nicht zutrauen würde. Bei meiner Tätigkeit in Erziehungsheimen für verhaltensauffällige Jungen erlebte ich hautnah, wie fassungslos und aggressiv einzelne Buben reagierten, wenn eine beliebte Bezugsperson sie verließ, und wie andere sich bewußt weigerten, mit den Erziehenden auf mehr : als oberflächliche Vertrautheit einzugehen. »Sie gehen ja doch wieder«, hieß es etwa, »ich bin gewohnt, meine Probleme allein zu lösen«. Emotionale Immunität ist eine Überlebenshilfe gefrusteter 13jähriger, die nie eine dauernde Bindung zu einem Menschen aufbauen konnten, denn sie wurden in ihrem kurzen Leben oft schon von einem Dutzend verschiedener Bezugspersonen aufund weitergegeben. Möbel und Haustiere behält man länger. Stufen im kindlichen Reifeprozeß sind immer mit einem Beziehungswandel (Herzka) zwischen Kind und Eltern verknüpft.. Bis in der Adoleszenz der endgültige Abschied von den Eltern zugunsten einer Partnerschaft auf gleicher Ebene erfolgt. Jede Trennung wird begleitet von emotionalen Erschütterungen: Angst, Schuld, Trauer oder Wut. Je gelungener die erste Objektablösung erfolgte, desto mehr ist der betreffende Mensch von Urvertrauen getragen. Mißlungene Ablösungsprozesse können Ursache von Neurosen und anderen psychischen Störungen sein. Jugendliche ohne feste Bindung sind immer anfälliger für destruktive Verhaltensweisen als sogenannt gut gebundene Kinder.
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Verherrlichung der Grausamkeit als Panzer gegen Ungeborgenheit und Verlassensein Die amerikanische Kinderpsychologin Mary Ainsworth entdeckte vor Jahren den Typ der »Vermeider«-Kinder. Es sind Kinder mit einem Defizit an Sicherheit und Urvertrauen. Ihre Mütter (!) werden als verschlossen geschildert, als rigide, zwanghaft und zurückhaltend. Vor allem in den ersten Lebenswochen scheuen sie sich vor Körperkontakt mit ihrem Kind und richten ihre Fürsorge nicht nach dessen Bedürfnissen. Solche Mütter bieten keinen emotionalen Rückhalt, spiegeln die kindliche Mimik nicht und auch nicht die Freude, die ihnen der Säugling bereitet. In seinen Verlassenheitsängsten und Unlustäußerungen fühlt er sich allein. Sein Körper dagegen wird gepflegt, auch das Streben des Kindes nach Autonomie wird von der Mutter unterstützt: sie ist froh, wenn es bald selbständig ist. Fehlendes Urvertrauen kann lebenslange Bindungslosigkeit zur Folge haben. Auch später vermeiden solche Kinder nahe Kontakte und wehren Gefühle ab. Sie entwickeln früh eine außerordentliche Unabhängigkeit und Selbständigkeit. Ein elterliches Beziehungsmuster, das neben Gleichgültigkeit dem Kind die Grundlagen für ein autonomes Leben vermittelt, nennt der Familientherapeut Helm Stierlin »Ausstoßungsmodus«. Ausgestoßene Kinder können eine bestimmte Form von Narzißmus oder von sozialem Fehlverhalten (Soziopathie) entwickeln. Als jugendliche Einzelkämpfer halten sie sich nicht an Normen und Werte. Viele sind zwar ungewöhnlich kreativ, dabei aber auffallend unnahbar und durch nichts zu beeindrucken. Ihre Persönlichkeitsstruktur ist relativ stabil; da sie den Typ des Stuntman oder Krimihelden verkörpern, besitzen sie scheinbar ein exzessives Selbstwertgefühl. Obschon die Eltern ihrem Kind meist ein Zuhause bieten und es eher vernachlässigen als abweisen, wird -93-
das Desinteresse als Ausstoßung erlebt. Das Kind erfährt keine menschliche Anteilnahme und kann sie sich nicht aneignen. Die Immunität gegenüber Schuldgefühlen und Loyalität verdeckt seine Angst vor Schwäche, die Angst, nichts wert zu sein. Die narzißtische Persönlichkeit ist dauernd auf der Suche nach Bewunderern zur Selbstbestätigung, die soziopathische verfolgt nach Stierlin dasselbe Ziel, indem sie »andere beherrscht und demütigt... Der Narziß scheint auf subtilere Weise nach Macht zu verlangen, der Soziopath tut dies brutal und offen.« Beides deutet auf Machtgier und braucht sich nicht immer auszuschließen, was der Autor am Beispiel von SSFührer Heydrich verdeutlicht. Er »machte einen sanften und fast femininen Eindruck, war stets vorzüglich gekleidet und liebte Bach und gotische Kathedralen. Und doch war er so machthungrig und rücksichtslos, daß selbst Himmler... ihn schließlich fürchtete« (1976, S. 178f.). Das Bild vom unbehausten jungen Menschen, der ohne Urvertrauen in eine bedrohliche Gegenwart ausgestoßen wird, trifft heute auf Unzählige zu. Für viele bleibt nur die Flucht nach vorn: in den Gewaltrausch, angeheizt vom Brutalo-Konsum, gesteigert durch Drogen oder Alkohol. »Der Panzer gegen Angst und Verletzlichkeit verführt am erfolgreichsten zu einem Verhalten, das einer schwer korrigierbaren Fehlentwicklung gleichkommt. Denn bei vielen Kindern, glaubt Werner Rothenberger vom Frankfurter Schulamt, habe schon ›eine Verrückung der Wahrnehmung stattgefunden, die sie als positiv bewerten lasse, ›was Abscheu erzeugen müßte‹ « (Der Spiegel, 42/92, S. 47).
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Sind Jungen anders gewalttätig als Mädchen? Nach Auskünften deutscher Polizeikommissare werden brutale und vandalistische Akte im Jugendalter zu 92 Prozent von Knaben und jungen Männern begangen, während der weibliche Anteil an Gewalttaten 8 Prozent beträgt. Vornehmlich Jungen machen Randale, rauben, erpressen, drohen, verletzen. Knaben beziehen ihren Selbstwert unter anderem aus körperlicher Kraft und Überlegenheit. Ihre Aggressionen sind nach außen gerichtet: auf Objekte, auf Mitmenschen. Dieses Kraftprotzentum gab es in allen Kulturen und zu allen Zeiten. Verunsichernd und beängstigend ist indessen die neue Qualität dieser Auseinandersetzungen: eine Abgebrühtheit, die bisher Kindern fremd war; die Coolheit, mit der delinquente Jungen ihr brutales Tun schildern. Da männliche Jugendliche in der Pubertät zur Bandenbildung neigen, setzt der Gruppendruck ihre Hemmschwellen herab, und viele tun, was sie allein niemals gewagt hätten. Sie werden wahrgenommen und erreichen - auch negative - Geltung. Sie beschäftigen Jugendanwältinnen und bevölkern Heime. In Schulklassen und Ferienlagern: Buben ziehen mit ihrem Verhalten die Aufmerksamkeit auf sich, sie fallen auf. Ich erinnere mich noch, daß ich mich als junge Lehrerin vorwiegend mit den Jungen der Klasse abgab. Sie forderten mich heraus, ich fand sie origineller, kreativer, kurz, interessanter als die »braven«, angepaßten und langweilig wirkenden Mädchen. Diese werden in unseren Schulen links liegengelassen und für ihr prosoziales Verhalten indirekt bestraft. Jungen explodieren wie Vulkane. Mädchen ziehen sich in sich selbst zurück. Verweigern das Erwachsenwerden, verharren als magersüchtige Kindfrauen, -95-
hungern das Leben aus ihrem Körper, treten zum Kampf an gegen sich selbst, vielleicht in sinnloser Bewegungsmanie, im Langstreckenlauf. Asketisches Hungern und gestörtes Eßverhalten sind Ausdruck einer Selbstzerstörung auf Zeit. Junge Frauen rivalisieren im Gegensatz zu Jungen weniger gegeneinander als vielmehr mit einem Phantom: dem Frauenbild der Werbung. Hübsch, tüchtig, strahlend, mit vollem Haar, reiner Haut und schlank. Vor allem schlank. Ist Busen angesagt, jammern die Flachbrüstigen. Häufiger indessen hungern sich die Vollschlanken jedes Gramm Fett vom Leibe, jeden klaren Gedanken aus dem Hirn und jede Eigenständigkeit aus ihrem Selbstbezug. Hier handelt es sich um doppelte Gewalt: einerseits um die subtile, fiese Form machohafter Werbe-»philosophie«, andererseits um die jede körperliche und geistige Selbstentfaltung verhindernde, von einer Unzahl Mädchen angestrebte Nachahmung des »idealen« Frauenbildes. Plakativ auf die äußere Hülle reduziert, Abklatsch des trendigen Schönheitsbegriffs - erreichbar, wenn überhaupt, nur durch eisernen Willen zur Verachtung leiblicher Genüsse. Die Freude an den weggehungerten Kilos wird schnell zur Sucht, zur Gewalt gegen den eigenen Körper und beherrscht zwanghaft das gesamte Denken und Fühlen der Betroffenen. Eine magersüchtige Frau stellt für niemanden - abgesehen von ihren Eltern - eine Bedrohung dar: sie funktioniert angepaßt, raubt nicht, schlägt nicht, und wenn sie stirbt, gilt sie nicht als Gewaltopfer. Lautlos löst sie sich auf, verliert ihren Körper, ihre Grenzen. Nur so entgeht sie real und in ihren Fantasien der Konfrontation mit der Wirklichkeit. Als geschlechtsloses Neutrum ist sie kein Objekt männlichen Begehrens und braucht sich mit der eigenen Sexualität nicht auseinanderzusetzen. Ihre Schattenseiten verdrängt sie, indem sie zum Schatten ihrer selbst wird und ein Schattendasein im Mangel führt. Auch Jungen nehmen Drogen und begehen Selbstmord. Ihre -96-
Bereitschaft zu Brutalität und Gewalt nach außen ist aber ungleich höher als bei Mädchen. Selbst ihr freiwilliges Ende ist in zahlreichen Fällen unüberhörbar: Tod durch Erschießen. Mädchen und Frauen bevorzugen Medikamente. Nach psychobiologischer Auffassung (Doris Bischof-Köhler, Norbert Bischof, 1989, und andere) belegen Beobachtungen an Kleinkindern ein unterschiedliches Verhalten schon im Babyalter: kulturübergreifend zeigt sich in den ersten Lebenswochen eine größere Unruhe bei Jungen. Sie sind schwerer zu beruhigen als Mädchen. Gegen Ende des ersten Lebensjahres bevorzugen sie mechanisches Spielzeug, versuchen, Dinge auseinanderzunehmen und die Umwelt zu erkunden. Durch ihren großen Explorationsund Bewegungsdrang und da sie sich weniger an Verbote halten, erleiden sie als Kleinkinder häufiger Unfälle. Im Alter von zwei Jahren wählen Jungen am liebsten den Vater als Spielpartner, weil er körperlich robuster mit ihnen spielt und sein Spiel mehr Abwechslungen enthält als die mütterlichen, vertrauten Spielmuster, die dafür kleine Mädchen ansprechen. Diese fühlen sich eher zur Mutter hingezogen. Das bedeutet: Kinder bevorzugen beim Spielen den gleichgeschlechtlichen Elternteil, bevor ihnen die eigene Geschlechtsidentität bewußt ist. Mädchen zeigen - unabhängig vom Spielzeugangebot - eine Vorliebe für Puppen- und Rollenspiele, während Jungen sich in Jagd- und Wettkämpfen messen und ab drei Jahren, ähnlich wie Tierkinder, spielerisch miteinander kämpfen. Erwachsene stufen dieses Kräftemessen zu Unrecht als Aggression ein. Kinder, die viel raufen, sind nicht unbedingt streitsüchtig, und aggressive Kinder raufen nicht. Das beweist die ungleiche Mimik im Ernstfall oder im Spiel. Man spricht dabei vom sogenannten Spielgesicht. Die Verbundenheit -97-
zwischen den sich Balgenden bleibt erhalten. Bei gewalttätigen Auseinandersetzungen erfolgt später ein Kontaktabbruch, während nach den spielerischen gemeinsam etwas anderes unternommen wird. Gerauft wird mit vertrauten, gut bekannten Partnern. So wird bei älteren Jungen auch die Ranghöhe in der Gruppe festgelegt. Treten zum Beispiel im Kindergarten neue Kinder ein, steigt die Spannung innerhalb einer Woche an: zuerst ist sie minimal, die Kinder verhalten sich gegeneinander vorsichtig abwartend. Täglich steigert sich das aggressive Potential (der Neuen gegen die Gruppe und umgekehrt), gleichzeitig mit dem Gefühl des Vertrautwerdens. Der Erregungszustand wird als durchaus angenehm empfunden, seine Fortdauer gesucht und durch ein spannendes Spiel wie Raufen aufrechterhalten. Die dadurch ausgelöste Angstlust ist eine Strategie gegen Langeweile, die vor allem von Jungen benützt wird. Zugleich - wird vermutet dient sie als Einübung in (männliche) Ranghierarchie, wozu auch echte aggressive Auseinandersetzungen gehören, wie sie Buben überall lieben. Diese eigentlichen Dominanzkämpfe führen schon vom vierten Lebensjahr an zur Entstehung von Rangordnungen, die über viele Jähe konstant sind, wenn die Gruppe zusammenbleibt. Die Jungen halten sich an ihren Platz und akzeptieren die Vorrechte von Ranghöheren. Durch das Einhalten dieser Hierarchie werden Konflikte reduziert. Ein Indiz für kindliche Ranghöhe ist die Aufmerksamkeitszuwendung in Form von Angeschautwerden. Ein Kind in der Alpha-Position zieht schon im Kindergarten die zahlreichsten Blicke auf sich. Es steht im Zentrum der Aufmerksamkeit. Es sind vor allem Knaben, die, infolge ihres Bewegungs- und Erkundigungsdrangs, ihres angeborenen Geltungstriebs, ihrer von Zweifeln ungetrübten Einschätzung der eigenen Kompetenz in ihrem Tun mehr Beachtung finden, in höherem »Ansehen« stehen. Untersuchungen in gemischten Gruppen von Drei- bis Sechsjährigen zeigen jedoch, daß -98-
Mädchen ebenso Ranghöchste werden konnten. Am meisten beachtet wurden Kinder, welche als Organisatoren auftraten, unternehmend und einfallsreich waren, oft die Rollen des Beschützers und der Streitschlichterin übernahmen und sich sicher und ungezwungen bewegten. Das ließ auf Autonomie und Selbstvertrauen schließen. In zweiter Position rangierten die Aggressoren, vorwiegend Jungen, die andere, eher passive Kinder bedrohten, schlugen und ihnen das Spielzeug wegnahmen. Widerstand boten ihnen vor allem die Ranghöchsten, trotz geringerer Körperstärke oft mit Erfolg. In unterschiedlich geleiteten deutschen und japanischen Kindergärten organisieren sich die Kinder sozial nach dem gleichen Prinzip der Verhaltenshäufigkeit. Im Blickpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen, scheint ein universales Merkmal für Ranghöhe zu sein. Rangstrukturen in Mädchengruppen beruhen weder auf Körperstärke, noch werden sie über längere Zeit eingehalten. Mädchen zeigen ihren Dominanzanspruch durch ungefragt erteilte Ratschläge, pflegerischsoziales Verhalten oder die Zurechtweisung anderer »zu deren Bestem«. Die Psychobiologie schließt aus diesen Verhaltensweisen bereits im zarten Kindesalter auf das anlagemäßig bedingte Vorhandensein aller geschlechtsspezifischen Eigenschaften. Jungen (= Männer) sind schon in den Windeln durchsetzungsfähig, unruhig, risikofreudig, aggressiv und sachorientiert, Mädchen (= Frauen) mehr am Familiären und Pflegerischen, an einer guten Atmosphäre interessiert. Bischof-Köhler erklärt nach dem humanethologischen Ansatz die weibliche Fürsorglichkeit mit der größeren elterlichen Investition (Parental Investment), welche weibliche Säugetiere und Frauen zur Aufzucht ihrer Jungen leisten müssen. Im Gegensatz zu den Männchen, die nach vollzogenem Liebesakt -99-
für neue Sexualkontakte frei sind, unbeschwert vom Gewicht eines schwangeren Bauchs. Wie bei den Menschenaffen bestand bei den Männern der Urmenschen ein aggressivkämpferisches Verhalten im Wettstreit um Frauen, die sich der Sorge und Pflege ums Gedeihen ihrer Kinder widmeten. Kinderaufsicht, Feuerwache, Nahrung sammeln waren ihre Bereiche. So wurden schon die Urmütter auf Höhle und Herd geprägt, während die Männer Jäger, Kämpfer, Entdecker und Eroberer waren. Bischof-Köhlers Schlußfolgerung: Da der moderne Mensch genetisch ähnlich seinen Ur-Vorfahren programmiert ist, fällt den Männern aggressiver Wettbewerb leicht, Konkurrenzkampf ist ihnen geradezu ein Bedürfnis - die Frauen tun sich damit weiterhin schwer. Kulturübergreifend findet man außerdem bei jungen Männern eine Tendenz zur Selbstüberschätzung. Sie lassen sich durch Mißerfolge weniger einschüchtern und neigen dazu, Erfolg als Resultat eigenen Könnens aufzufassen. Mißlingen ist Pech oder bedingt durch widrige äußere Umstände. Mädchen tendieren eher dazu, einen Fehlschlag sich selbst zuzuschreiben und Erfolg mit »Glück gehabt« zu erklären. Nach Uta Enders-Dragässer sind die geschlechtsspezifischen Einschätzungen der Leistung jedoch ausschließlich auf die unterschiedlichen Erwartungen zurückzuführen, welche die Schule an die Kinder stellt. Bei Buben wird Begabung vorausgesetzt und schlechte Leistung mit Motivationsmangel oder ungünstigen Umständen erklärt. Ungenügende Leistungen bei Mädchen dagegen werden mit ihrer fehlenden Begabung begründet, Erfolge verdanken sie großem Fleiß. Kinder reagieren sensibel auf die Erwartungen der Umwelt und richten sich danach. Offensichtlich wird eine allfällig vorhandene Disposition zur Aggressivität oder zur Anpassung durch die Sozialisation gefördert. Jungen sind nicht selten vom Kindergarten an gewohnt, zu dominieren und mehr Beachtung zu erlangen, was -100-
ihre Überzeugung stärkt, Mädchen seien ihnen unterlegen. Wie ich aus eigener Erfahrung berichtete, werden Mädchen von den Unterrichtenden eher vernachlässigt, die Buben beanspruchen gut zwei Drittel der Aufmerksamkeit. In gemischten Klassen wurde festgestellt (Uta Enders-Dragässer, Claudia Fuchs und andere, 1989), daß Lehrpersonen Mädchen und Jungen nicht gleich behandeln. Knaben wird Kritik, aggressives und destruktives Verhalten großzügig zugestanden, ihre Aktivität wird mit Lob oder Tadel honoriert, während Mädchen für jungenhaftes Benehmen mit Sanktionen rechnen müssen. Bei ihnen gilt kooperatives, ausgleichendes Verhalten als selbstverständlich und »natürlich«. Schüler fühlen sich vernachlässigt, wenn den Schülerinnen 50 Prozent der Aufmerksamkeit geschenkt wird. Sie rebellieren und lernen, daß ihre Störmanöver von Erfolg, das heißt von Zuwendung gekrönt sind. Schülerinnen hingegen, die angepaßt und aufmerksam dem Unterricht folgen, erleben durch die geringere Zuwendung der Lehrkräfte, daß ihr Verhalten weniger »wert« ist als das ihrer Mitschüler. Die Autorinnen sprechen von einer an das Geschlecht gekoppelten Zweitrangigkeit. Dale Spender (1985) meint, Mädchen in koedukativen Schulen hätten »ihre Lektion gelernt«, nämlich die der Unterordnung des weiblichen Geschlechts unter das männliche. Diese Schulen bereiteten insofern auf das Leben vor, als männliche Dominanzstrategien und Aggressionen von beiden Geschlechtern verinnerlicht und damit patriarchale Machtverhältnisse verfestigt würden. Die Forschung hat herausgefunden, daß - im Gegensatz zu den ursprünglichen Erwartungen an die Koedukation - Mädchen sich in gemischten Klassen »weiblicher«, Knaben »männlicher« verhalten. Elisabeth Grünewald-Huber entwickelte ein Forschungsprojekt zur Koedukationsmathematik und schreibt: »Die ständige Präsenz des anderen Geschlechts bei der Identitätsfindung der adoleszenten Schülerschaft akzentuiert den -101-
Faktor Geschlecht.« Geschlechtsspezifische Interessen bilden sich nach dieser Autorin auch durch den sogenannten »geheimen Lehrplan« (Neue Zürcher Zeitung, 133/93): In unseren Schulen werden nach wie vor »auf der Ebene des unbewußten Lernens betont rollenstereotype Inhalte vermittelt«. Selbst bei neuesten Lehrmitteln könne kein einziges als ausgewogen bezeichnet werden. Die Leistungen der Mädchen in Mathematik und den naturwissenschaftlichen Fächern haben sich in gemischtgeschlechtlichen Schulen verschlechtert. Die Ergebnisse künden von einem Mißerfolg der schulischen Koedukation. Fälschlicherweise wurde angenommen, mit der Einführung des gemeinsamen Unterrichts sei eine wirkliche Gleichberechtigung der Geschlechter erreicht. Ausgegangen wurde dabei von einem männlichen Gleichheitsbegriff, der nicht hinterfragt wurde und die Bedürfnisse und den Entwicklungsstand der Mädchen einfach dem der Jungen anglich. In Deutschland wurde festgestellt, daß die Mehrzahl der Studentinnen in den Studienrichtungen Naturwissenschaft und Informatik/Mathematik aus reinen Mädchengymnasien stammen. Immer vehementer wird in feministischen Kreisen die erneute Trennung in Buben- und Mädchenklassen gefordert, wenn sich ein differenzierteres Eingehen auf die Mädchen nicht verwirklichen lasse. Die Rolle ausschließlich weiblicher Vorbilder wie in Klosterschulen wirke sich positiv auf Selbstbewußtsein und Selbstsicherheit der Schülerinnen aus. Fast völlig übersehen wird, daß auch Knaben am koeduzierten Unterricht leiden, »indem sie sich«, wie Grünewald-Huber feststellt, »durch Dominanz- und... Störverhalten in den eigenen Lernmöglichkeiten behindern«. Rücksichtsloses Sichvordrängen wurde lange Zeit nicht als Mangel eingestuft, da die Ellbogenmentalität in unserer Wettbewerbsgesellschaft eine Berufskarriere zu fördern scheint. -102-
Statt eine Rückkehr zum geschlechtergetrennten Unterricht zu erwägen, muß die Schule die Koedukation endlich weiterentwickeln und ihre Verantwortung »als Schlüsselort der Sozialisation junger Männer und Frauen« wahrnehmen. Das unterschiedliche Aggressionspotential und weitere Verschiedenheiten im Verhalten werden von den Anhängern und Vertreterinnen der sozialen Lerntheorie als nicht biologisch bedingt aufgefaßt. Nicht vererbt, sondern erworben sind all die Vorteile, die männlichem Imponiergehabe entstammen. Durch Sozialisation antrainiert. Und sozialisiert, das heißt erzogen und vorgelebt wird von Eltern, Schule und Gesellschaft. Untersuchungen belegen: Dasselbe Neugeborene, als Mädchen vorgestellt, wird als »zart, feingliedrig, schön, niedlich, der Mutter ähnlich« beschrieben, als Junge dagegen ist es »stark, munter, kräftig, groß, mit guter Motorik« ausgestattet. Auch kinderlose Erwachsene neigen zu solchen Zuschreibungen; Väter und Männer polarisieren stärker als Frauen. Ursula Morf-Rohr meint: »Es ist anzunehmen, daß solch zuordnende Wahrnehmungen auch das Verhalten dem Kind gegenüber mitbestimmen« (1984, S. 32). Männliche und weibliche Babies werden also, kaum geboren, aufgrund ihres Geschlechts verschieden behandelt. Mädchen werden mehr angelächelt und angesprochen, Buben mehr berührt, gestreichelt und gewiegt, was mit der Förderung physischer Aktivitäten erklärt wird. Mit Lächeln und Zuspruch versuchen Eltern, bei Mädchen soziales Verhalten zu fördern. »Wenn Mädchen seltener, kürzer und weniger abwechslungsreich beschäftigt werden«, seien die Auswirkungen, so Morf-Rohr »im späteren begrenzten Interessenhorizont der Mädchen zu suchen« (S. 33). Seit vorgeburtliche Geschlechtsbestimmung möglich ist, stimmen -103-
sich viele Eltern schon vor der Geburt auf das Geschlecht des Kindes ein. Von der Auswahl des Spielzeugs bis zur Behandlung in Familie und anderen sozialen Institutionen wird auf Jungen und Mädchen anders reagiert. Die Unterschiede sind oft subtil, aber vorhanden. Verschiedene Forschende bezeichnen die Haltung von Eltern und Erziehungspersonen als nicht allein maßgeblich für die geschlechtsspezifische Sozialisation. Bestimmend ist vielmehr das gesamte Umfeld, die patriarchale Gesellschaft, in der Männliches höher bewertet wird als Weibliches. In einer Kultur, die auf Rollenteilung basiert, wird von jedem Mitglied eine Zuordnung zu einem Geschlecht verlangt. Die Soziologin Carol Hagemann-White geht davon aus, daß nicht erst gewisse Rollenerwartungen, sondern allein schon die Geschlechtszugehörigkeit Teil des symbolischen Systems unserer zweigeschlechtlichen Kultur ist. Zwischenformen sind kulturell nicht zugelassen, obschon sie im Alltag existieren. Alles, was nicht eindeutig zugeordnet und etikettiert werden kann (Androgynie und Bisexualität), wird von der Mehrheit als Verunsicherung empfunden und abgelehnt. Beziehungen zwischen den Geschlechtern, zwischen seinen nächsten Bezugspersonen liefern dem Kind zur Zeit des Spracherwerbs Verhaltensregeln und Muster - auch nonverbale , die es verinnerlicht, selbst wenn es sie nur beobachtet. Ein Junge lernt, daß er als Mann die Frau besitzen, sich über sie stellen kann, er wird Zeuge von Männergewalt gegen Frauen, häufig am Fernsehen, vielleicht im familiären Umfeld, in der Schule. Gewalt wird in seine Geschlechtsidentität eingebaut, während das Mädchen, auch wenn es nicht mit einem inzestuösen oder gewalttätigen Vater aufwächst, nur schon als Zeugin von Mediengewalt die weibliche Opferrolle in sein Selbstbild als Frau integriert. In einer Welt, die aus einem Netz von Brutalität und Unterdrückung besteht, das sich dauernd in den Medien spiegelt, erlebt fast jedes Kind von klein an die Unterordnung des Weiblichen unter den männlichen -104-
Machtanspruch. Der Gewaltforscher Herbert Selg kommt zum Schluß, zwei Drittel aller Männer (!) neigten zu Gewalt - bedingt durch eine entsprechende Sozialisation. Eine positive, weniger gewaltträchtige Aneignung von Männlichkeit erfordert vor allem für Jungen einen Vater, der vorbildhaft andere Werte vertritt und über die Identifikation auch gefühlsmäßig Halt gibt. Väter sind aber vorwiegend abwesend. Körperlicher und emotionaler Kontakt zwischen Vater und Sohn untersteht noch zu sehr dem Schwülen-Tabu. Der Knabe sucht sich daher männliche Identifikations- und Machtfiguren außerhalb der Familie. Die Medien liefern sie massenweise. Gleichzeitig wird durch die Abgrenzung von der Mutter alles Weibliche, auch bei ihm selbst, abgewertet zugunsten eines Ich, das sich auszeichnet durch Aggression, Dominanz- und Konkurrenzverhalten, Sachlichkeit und gefühlsmäßige Blockaden. Die Kehrseite der guten, gewährenden und umsorgenden Mutter ist die »böse« Mutter. Versagung und Entbehrung werden vom Kind an der Mutter festgemacht, es sucht Zuflucht beim Vater. Die böse Mutter verfolgt uns oft lebenslang in Träumen, Bildern und Projektionen. Deshalb, sagt die Soziologin Dorothy Dinnerstein, suchen wir Schutz in patriarchalen Institutionen. Männlicher Schutz bedeutet für Frauen aber auch immer Bedrohung. Statt allenfalls Naturgegebenes durch Sozialisation zu verstärken, ist ein Abbau der Mann-Frau-Polarisierung durch eine Relativierung der männlich definierten Werte anzustreben und eine Aufwertung der bisher abschätzig als weiblich bezeichneten. Dadurch erst wird eine vielfältige Geschlechtsidentität für Jungen und Mädchen möglich und die negative Verbindung zwischen Männlichkeit und Gewalt -105-
abgebaut. Dinnerstein glaubt, daß weder Frauen noch Männer das Patriarchat in sich selbst überwinden können, solange Männer sich nicht als ganze Person an der Kindererziehung beteiligen. Wie bisher die Mütter: mit ihren »guten« und »bösen« Aspekten.
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IV. Die Faszination der Brutalität
Verführung durch Videos Boing. Boing, päng, päng. Gell, jetzt bist du tot. Ivan, fünf, aufgeweckt und lebhaft, ein richtiger Sunnyboy, richtet den Lauf seiner Pistole zur Begrüßung direkt auf mich. Ich hab' noch ein richtiges Laserschwert, das tötet ganz leise, trumpft er auf. Du fällst einfach um. Seine Mutter lacht, er solle seine Aggressionen nur abreagieren. Das Verdrängen bewirke das Gegenteil. Nämlich den so gefährlichen Aggressionsstau. Filmszenen machen es vor. Im Hinweis aufs Abendprogramm, zur Spätnachmittagsstunde: Revolverlauf gezoomt gegen Zuschauer. Geht ins Auge. Doch nur beim ersten Mal. Täglich sieht Ivan Fernsehgewalt, auch Tote, die wirklich tot sind. Gewalt und Brutalität begegnen ihm im Trickfilm der Kinderstunde, in der Tagesschau, in den Filmen der Erwachsenen, von denen er mehr mitbekommt, als seine Eltern ahnen. Unverdaute Gewaltbrocken. Wie Konflikte umgangen statt ausgetragen werden, hat er rasch gelernt. Gewalt ist gleich Recht, eine Gleichung, die in seiner Fantasie aufgeht. Warum sollte sie nicht auch für die reale Welt gelten? Irreales und Vorgestelltes vermischen sich beim Vorschulkind, Fiktion wird Wirklichkeit. -107-
Wie sagte schon Calderön: Der Traum, ein Leben? Das Leben, ein Traum? Was, wenn der Traum zum Alptraum wird? Unerklärbare Ängste, Schlafstörungen und andere Auffälligkeiten kleiner Kinder können mit ihrer noch nicht voll ausgebildeten Fähigkeit zusammenhängen, Reales und Irreales klar zu unterscheiden. Ein Kind, das fasziniert grausame Bilder betrachtet, scheinbar ungerührt, kann nachts von bedrohlichsten Fantasien gequält werden. Noch heute erinnere ich mich an Traumwiederholungen: Schneewittchens böse Stiefmutter verfolgt mich im Kleid meiner Mutter Nacht für Nacht. Ich sehe sie vor mir, mich um einen runden Tisch hetzend, bis ich von meinem eigenen Gebrüll erwachte. Die Werbebranche und die Politik haben die Verführungskraft durch das Bild schon längst erkannt und für ihre Zwecke ge- und mißbraucht. Die Bildsprache hat ihre eigenen vielfältigen Möglichkeiten, ihre Symbole, aber auch ihre Grenzen, denn sie ist nicht einfach ein Ersatz für die Wortsprache. Und - bis zu einem gewissen Grad - kann und müßte sie auch gelernt werden. Daher ist es verantwortunglos, Kinder zur eigenen Entlastung vor den Babysitter Fernseher zu setzen und dem Bilderschwall zu überlassen. Sogar Schulkinder wären manchmal froh, sie könnten ihre Filmeindrücke mit einer erfahrenen Vertrauensperson besprechen, Mißverstandenes klären, Beängstigendes mitteilen. Kinder von heute rezipieren bestimmt anders als Kinder vor 30 Jahren. Ihre Wahrnehmung und Bilderfassung erfolgt rascher, hat sich dem Medium angepaßt. Ob allerdings das Bildverständnis mit der Hektik und der zunehmenden Brutalisierung des Dargestellten Schritt hält, wage ich anzuzweifeln. Paul Virilio, ein Pariser Maler, befürchtet, daß der kulturelle -108-
Zwang zum Bild nicht nur die Ästhetik, sondern auch die Ethik der Wahrnehmung betrifft, indem wir heute im wörtlichen Sinn unseren »Augen nicht mehr trauen« dürfen. Videotechnik und Computergrafik betreiben nach seiner Auffassung eine »konstante Enteignung des Blicks«, Resultat der »zunehmenden Machtentfaltung von Bild und Ton«. Er empfiehlt eine »Ethikkommission der Wahrnehmung«, um die neuen, ungeheuer beschleunigten Darstellungen des Sichtbaren bewerten zu können. Die Gewöhnung an Gewalt und zusammengeschnittene Fernsehsequenzen lassen Fiktion und Wirklichkeit untrennbar verschmelzen. »Da das optische Vorüberrauschen nicht mehr aufhört, ist es schwer, wenn nicht sogar unmöglich, an die Stabilität des Realen zu glauben, an die Fixierung eines Sichtbaren, das sich fortwährend verflüchtigt« (Psychologie heute, 5/93, S. 55). Einmal mehr sind Schule und Elternhaus gefordert. Sie dürfen nicht länger die Kinder im Mediendschungel sich selbst überlassen. Ehe die Jugend in die virtuelle Realität flüchtet, sollten wir ihr wenigstens das Einmaleins der Bildsprache und die Unterscheidung zwischen imaginär und real beigebracht haben. Über den Einfluß von »gewöhnlichen« Fernsehprogrammen gehen die Meinungen auseinander: Der deutsche TV-Forscher Hans-Dieter Zimmermann spricht von verlorengegangenen Begabungsreserven durchs Fernsehgucken, einig mit der Kulturpessimistin Marie Winn, die im Fernsehen eine »Droge im Wohnzimmer« erkennt. Ihr Kollege Neu Postman aus den USA behauptet gar, Fernsehen mache uns »von Minute zu Minute dümmer«, während der inzwischen verstorbene Kinderpsychologe Bruno Bettelheim neben seine Forderung »Kinder brauchen Märchen« die These »Kinder brauchen Fernsehen« stellt. Bettelheim opponiert gegen Pädagogen, welche den Kindern aggressionslose Geschichten verschreiben, und behauptet, Kinder trügen zornige, gewalttätige, sogar -109-
sexuelle Fantasien in sich; TV-Bilder ließen sie diese ausleben, und die sofortige Rückkehr aus der Fantasiewelt in die Wirklichkeit sei jederzeit gewährleistet. Diese Auffassung wird von der großen Zahl jener Medienforscher nicht geteilt, die das TV-Konsumieren als eine Sucht bezeichnen. So viele Studien, so viele Meinungen: Von der Analphabetisierung durch Fernsehen ist die Rede, der Verkrüppelung der Fantasie, sinkender Kreativität, Kommunikationsverlust, aber auch von Horizonterweiterung und - Erfahrung von Lehrerinnen und Erziehern - einem Abbau vieler Hemmschwellen, der nicht durch die pädagogisch wohlkonzipierten Kinder- und Jugendsendungen entstanden ist. Herta Sturm, die sich seit über 20 Jahren mit der Wirkung des Fernsehens auf Kinder befaßt und unzählige Studien geleitet hat, sagt, wenn Außenreize den Menschen zu Anpassungs- oder Abwehrstrategien veranlaßten und Fernsehen ein solcher Außenreiz sei, dann ermöglichten TV-Darbietungen auch Verhaltensänderungen, das heißt Lernprozesse. Allerdings räumt sie ein, es gebe weder die Fernsehdarbietungen noch den Rezipienten. Bilder lösen Emotionen aus. Für Sturm ist die Präsentation der Inhalte - ruhig, hektisch, rasant, viele Bild-Wort-Wechsel, unvorhersehbare Schnitte, Schwenks und Zooms, laute Musik für die Wirkung maßgebend. Schon 1972 hat sie in ihren Untersuchungen die »Dominanz des Emotionalen« als Wirkungsfaktor nachgewiesen. Spätere Forschungen in Skandinavien und den USA haben Beweise erbracht für die hohe, körperlich meßbare Erregung, die mit jedem TV-Beitrag verbunden ist und als Aggressionspotential besondere Beachtung verlangt. Diese Erregung erklärt nach Sturm (Neue Zürcher Zeitung, 77/93), warum das vielzitierte »medienpolitische Argument, man könne das Fernsehen ja abschalten, zu kurz oder gar nicht greift... Schaltet man nämlich ab, fiele man in eine Erregungsleere, ein -110-
Erregungsloch; und wohin dann mit der hochgejagten physiologischen Erregung?... Die ›wundersame‹ Vermehrung der Fernsehkanäle mit dem dazugehörigen Druck der Einschaltquoten,... die rasantfetzigen Gewalt-Darstellungen...« hinterlassen Erwachsene und Kinder, die »mit der Fernbedienung in der Hand - regungslos und stundenlang vor dem Fernsehapparat sitzen, doch aufgeladen mit einer zunehmend steigenden Erregung, von der man nicht weiß, wann und wo sie sich entlädt.« Für Sturm geht es »um die Frage: wann, wo und wie sich fernseherzeugte Aggressionspotentiale verbinden mit alltäglichen, lebensrealen Hocherregungen - bis hin zu Gewalthandlungen, zum Draufschlagen. Leider gibt es etliche solcher recht direkter Verbindungslinien.« Sturms Fazit: »Die Fernseherregungspotentiale, zusammengeschaltet mit den lebensrealen Erregungs- und Aggressionspotentialen, ergeben: Wir sind mit einem Bündel bisher so nicht dagewesener Streßfaktoren konfrontiert.« Untermauert wird Sturms Beobachtung laut Pierre Weill im Tages-Anzeiger (28. 5. 93) durch eine neue Studie der University of Washington. Branden Centerwall, der Autor der Arbeit, hat Zahlen von Morden und Vergewaltigungen vor und nach der Einführung des Fernsehens miteinander verglichen. Er stellte fest, daß in einem abgelegenen Dorf nach Installation des Fernsehens Gewaltdelikte innerhalb von fünf Jahren um 160 Prozent zunahmen. In zwei anderen, fernsehlos gebliebenen Dörfern veränderte sich das aggressive Verhalten im gleichen Zeitraum nicht. In den USA und Kanada erhöhte sich in den Jahren 1945 bis 1975 die Zahl der Morde um 93 Prozent respektive 92 Prozent; in Südafrika, damals noch ohne Fernsehen, sank gleichzeitig die Tötungsrate unter Weißen um 7 Prozent. Auf Einwände von TV-Anstalten (zum Beispiel NBC), deren Untersuchungen höchstens eine leichte Verhaltensänderung unter den Zuschauern feststellten, entgegnet Centerwall, auch wenn nur 8 Prozent der Bevölkerung unter -111-
dem Einfluß von TV-Konsum gewalttätig würden, führe dies bereits zu einer Verdoppelung der Morde. 18jährige Amerikanerinnen und Amerikaner haben im Schnitt 40 000 Morde beobachtet. Soziologen ermittelten 1989, daß nur 24 Prozent von 600 Oberstufenschülern im Kanton Zürich noch nie einen Brutalo-Film gesehen hatten, über 46 Prozent solche Filme aber mehrfach konsumierten. Auch unter 13jährigen würden Porno-Videos getauscht. Teenager kopieren Sprache, Kleidung, Gangart ihrer Idole. Einzelne ahmen auch ihre fiktiven Handlungen im wirklichen Leben nach. Weill meint, der kommerzielle Erfolg gewaltreicher Filme und Serien deute darauf hin, daß »in naher Zukunft das Morden auf dem Bildschirm weitergehen wird und nach Centerwalls Theorie auch auf der Straße.« Leider nehmen viele Medienverantwortliche solche Resultate nicht zur Kenntnis, und viele Studien hinken dem realen Sehverhalten der Kids hinterher, denen es längst nicht mehr um die »normalen« TVProgramme geht. Die jugendlichen Videogucker sitzen anderer Inhalte wegen vor der Glotze: Horrors und Brutalos locken, ihrem Sog sind sie verfallen. Die Fans von Zombie-Filmen, ›Freitag dem 13.‹ , von ›Satanskralle‹ , ›Tanz der Teufel‹ und harten Pornos sind nicht fernsehsüchtig. Viel schlimmer: sie gieren nach Gewalt, lechzen nach Blut, nach Folter und SM-Orgien, nach einem übersteigerten Erregungspegel. Viele Erzieher und Lehrerinnen kennen das Montagssyndrom. Wilder und noch aggressiver sind dann die Kleinen, überrollt vom wochenendlichen Medienspektakel. Da braucht es keine Langzeitstudien. Schon kurzzeitlich betrachtet schadet unkontrollierter Videokonsum, das werden alle pädagogisch Tätigen bezeugen, besonders wenn sie sich mit Kindern aus sozial benachteiligten Familien befassen. Diese Kinder - hierin -112-
stimmen auch die meisten Untersuchenden überein - werden durch Medien-Brutalität aggressiv aufgeputscht. Videosucht und TV-Konsum führen besonders bei kleinen Kindern zu einem Überlappen von Fiktion und Wirklichkeit. Der Verlust des eigenen Bildes, der Fähigkeit, sich in der Fantasie die Welt zu schaffen, führt zu großer Manipulierbarkeit. Allerdings liegen erst wenige Untersuchungen vor zu den Auswirkungen der Brutalo- und Horrorvideos. In Schweden wird eine Abstumpfung gegenüber Gewaltszenen festgestellt, Kinder hätten Kopfweh, es würde ihnen schlecht, Angstzustände seien zu erwarten. Die heute 13 bis 17jährigen sind die erste Generation, die mit Videos großgeworden ist, weitgehend unter Ausschluß verantwortlicher Erwachsener, welche diese Produkte inhaltlich nur vereinzelt zur Kenntnis nehmen. Wo dies - in letzter Zeit vermehrt geschieht, sind Eltern und Lehrkräfte schockiert über die Brutalität. Schüler schauen den Cocktail aus Blut, Gemetzel, Sexismus und Haß oft schon vor Schulbeginn an. Das Bild zum Tag. Geil auf Ekel-Schocker ist ein großer Teil der Video-Konsumenten, wenn auch einige nur aus Langeweile oder Gruppendruck mitmachen. Vor allem Mädchen halten oft nur ihrem Freund zuliebe durch oder weil sie nicht als feige gelten wollen. Mutproben, die aus dem Betrachten besonders widerlicher Szenen bestehen, verursachen anfänglich nicht wenigen Bauchweh. Nach Überwindung dieser Hemmungen sind, wie einer meiner ehemaligen Heimschüler meinte, diese Filme »totale Action und megageil, schließlich weiß man ja, daß alles nur gespielt ist.« Die Sucht nach Gewalt verlangt immer stärkere Reize. Schon werden im Handel reale Vergewaltigungs- und Tötungsszenen angeboten. Für Erwachsene ist es nicht schwierig, an solche -113-
Produkte zu gelangen. Biedermänner, Videoten, die dem feierabendlichen Blutrausch huldigen, haben leider auch Kinder, welche heimlich die Bestände der Eltern abgrasen. Manchmal genügt die Unterschrift der Großmutter, um das begehrte Band zu erhalten. Fest steht, daß nicht nur schlechte, zur Schule negativ eingestellte Schülerinnen und Schüler anfällig sind für Brutalo-Konsum. Die dargestellten »Helden«, die Gewaltverherrlichung sind ein Mittel, Jugendliche aus dem ereignislosen Alltag zu entrücken, mit einem SecondhandSelbstvertrauen auszustatten. Erwachsenen ist die Video-Welt eher fremd. Das zeigt auch die Diskussion, welche 1992 der Film »Benny's Video« des österreichischen Regisseurs Michael Haneke auslöste. Beinahe eine Groteske: Da wollte in Zürich ein Zensor diesen Film verbieten lassen, der darstellt, was ein Großteil der Youngsters täglich tut: sich Videos hineinziehen. Morgens, zum Mittagssandwich und zum Abendbrot. Zelluloid anstelle von Leben. Das Abenteuer hat sich auf den Bildschirm verlagert. Die Wahrnehmung verändert sich, wenn der Kontakt zur Umwelt ausschließlich über die Mattscheibe erfolgt, die Welt wird anders erfahren. Die Situation, in welche der sich selbst überlassene Benny gerät, mit Statussymbolen abgespeist, das Leben bei heruntergelassenen Rolläden über Videos auf dem Bildschirm konsumierend, in einer Familienatmosphäre, die das Filmpublikum erstarren läßt, zeigt, auf die Spitze getrieben, Bennys Entfremdung zu sich selbst, seinen Rückzug in autistische Mechanismen bis zur Beinahe-Sprachverweigerung, zur Freude an Apparaten, am Seelenlosen, die Unfähigkeit, mit einem ebenfalls geschädigten Mädchen ungezwungen zu plaudern, bis hin zum Mord. Nicht wenige Jugendliche erleben Anflüge von solcher Innenleere, die sich mit der Bilderflut nicht füllen lassen - ohne daß es, wie bei Benny und seinen Eltern, den Protagonisten -114-
einer entseelten Familie, zur letzten Konsequenz kommt. Der Sozialpsychologe Werner Herkner beantwortete 1983 (S. 451) die vieldiskutierte Frage nach der Wirkung brutaler Filme auf die Zuschauer mit einer Liste aggressionsfördernder Bedingungen. Aggressive Verhaltensweisen werden gelernt, das heißt im Gedächtnis gespeichert. Die Wahrscheinlichkeit einer nachahmenden Ausführung des Geschehen wird unter anderem erhöht: - wenn die aggressive Modellperson vom Beobachter positiv bewertet wird (was bei den kindlichen Idolen durchwegs der Fall ist); - wenn der Imitator erwartet, in seinem aggressiven Verhalten bestärkt zu, werden (wie die jungen Neonazis durch TVAuftritte, auch durch das Verständnis, das ein Teil der Bevölkerung ihren Ausschreitungen entgegenbringt); - wenn Zielgruppen vorhanden sind, die dem gezeigten Opfer ähnlich sind (Frauen, Schwarze, Ausländer); - wenn der Film spannend, aktivierend ist; - wenn die dargestellte Aggression gerechtfertigt scheint (Jugendliche finden schnell einen Rechtfertigungsgrund); - wenn der Film in erster Linie die Handlungen des Aggressors und weniger die Leiden des Opfers zeigt; - wenn der "Zuschauer eine positive Einstellung zu aggressiven Verhaltensweisen hat... (wie sie in radikalen Gruppen verlangt wird). Gewaltfördernd sind gewiß auch unverhüllt zum Kampf auffordernde Parolen in Massenmedien, die detaillierte Erläuterung von Waffenarsenalen radikaler Gruppen samt Anweisung, wie die gezeigten Gegenstände in Mordwerkzeuge verwandelt werden können, und das Bekanntwerden von jungen -115-
Führern der rechtsextremen Szene. Ihre Auftritte im deutschen Fernsehen bis zum Brandanschlag von Mölln (1992) mit den ersten Toten waren zu lang, zu häufig und zu unwidersprochen. Obschon viele Medienforschende einen Zusammenhang zwischen Gewalt im Fernsehen und einer Zunahme kindlicher Gewalthandlungen feststellen, werden diesbezügliche Resultate von Programmdirektoren, Videoherstellern und anderen Verantwortlichen für das Wohl des Kindes immer wieder in Zweifel gezogen und allerneueste Untersuchungen gefordert. Immer mehr festigt sich der Verdacht, die Medien spiegelten nicht nur die Realität wider, wie sie es zu tun vorgeben, sondern sie erzeugten jene Wirklichkeit, über die sie dann berichten. Gewaltdarstellungen im Film werden kaum alleinige Auslöser für Raub und Körperverletzungen sein. Aber im Zusammenhang mit anderen belastenden Faktoren (Armut, Wohlstandsverwahrlosung, unansprechbare Eltern, Schulüberdruß, schlechte Wohnverhältnisse, Ausländerstatus und andere) und einer entsprechenden Persönlichkeitsstruktur können Brutalos und Horrorfilme direkten Anstoß zu Gewalttätigkeiten liefern. Kinder, die in jeder Beziehung gesund und belastbar aufwachsen, werden zunehmend zur Ausnahme. Nicht nur Problemkinder reagieren wie Seismographen auf die Auswüchse der Gesellschaft, aber sie besonders. Wenn Gewaltszenen hundertfach auf sie einstürmen, Kinder täglich Zeugen von realer und gespielter Brutalität werden, lernen die meisten schnell, wie Gewalt scheinbar Probleme löst: indem der Stärkere siegt. Im Film die Regel - im Alltag keine Ausnahme. Werfen wir noch einen kurzen Blick ins vorweihnachtliche Spielparadies der Fünf- bis Zehnjährigen. Zu (noch) vertrauten Weihnachtsliedern, dem Kaufauslöser für die ältere Generation, lockt Traditionelles: Stofftiere, Puppen, Eisenbahnen, Legos. Die Kids haben höchstens ein müdes Lächeln übrig fürs -116-
Altbewährte und stürzen sich mit Vehemenz auf Computerspiele, die unverhüllt Brutalität demonstrieren. Ein Dreikäsehoch mit leuchtenden Augen, begeistert: »Hier sieht man erst, wie man Leute umbringen kann. Da kommt man auf die Idee.« Er findet solche Spiele »schon gut, ja nur, sie sind halt brutal. Aber sonst? Gut.« Die Turtles mit dem harmlosen Namen sind eine Killerbande, richtige Kotzbrocken. Ihre Bewegungen zeigen das Ritual der Gewalt. Im Zeitlupentempo werden Feinde geklatscht. Tot hinfallen. Wieder aufstehen. Makabres Spiel. Verführung von Unwissenden, denn die Kleinen wissen nicht - noch nicht -, was sie tun. Die Fabrikanten und Vertreiber solchen Spielzeugs wissen es hingegen sehr wohl; ebenso die Eltern, die diese Abscheulichkeiten kaufen, ohne sich dem Drängen der Kinder zu widersetzen. Abnehmer von Kriegsspielzeugen bewegen sich - ohne es zu wissen - in bester Männer-Gesellschaft: Goethe (»Edel sei der Mensch, hilfreich und gut«) - bestellte 1799 bei seiner Mutter in Frankfurt eine Spielzeug-Guillotine als Weihnachtsgeschenk für seinen vierjährigen Sohn August. Frau Anja, eine Frau mit wenig Schul- aber viel Herzensbildung und Zivilcourage, die ihrem »Hätschelhans« nach Möglichkeit jeden Wunsch zu erfüllen trachtete, lehnte schlichtweg ab: »Lieber Sohn! Alles was ich dir zu gefallen thun kan, geschieht gern und macht mir selbst Freude - aber eine solche infame Mordmaschine zu kaufen - das thue ich um keinen preiss - wäre ich Obrigkeit die Verfertiger hätten an Halseissen gemusst - und die Maschine hätte ich durch den Schinder öffendtlich verbrennen lassen was! die Jugend mit etwas so abscheuliches spielen zu lassen ihnen Mord und Blutvergiessen als einen Zeitvertreib in die Hände geben - nein da wird nichts draus« (zitiert nach Eckart Kiessmann, 1993, S. 150 f.). Viele Computerspiele »zeichnen sich durch besonders -117-
zynische Formen der Gewaltausübung aus - zum Beispiel beim Überfahren von Fußgängern bringt ein alter Mann mit Stock weniger Punkte als eine junge Mutter mit Kinderwagen«, schreibt Christian Doelker von der Medienberatungsstelle Pestalozzianum in Zürich 1992. Nach Simon Wiesenthal existieren »allein in den USA 140 Computerspiele mit nationalsozialistischer Ideologie... ›Hitler-Diktator‹ , ›Clean Germanys ›Overkill‹ und ›Anti-Neger-Test‹ sind nur einige Beispiele dafür. In der Bundesrepublik Deutschland zirkulierte unter Jugendlichen 1991 ein besonders widerwärtiges Computerspiel mit dem Titel ›KZ-Manager‹ . Eine von drei Vorfragen, um überhaupt ins Spiel einsteigen zu können, lautete darin: ›Wohin gehört ein Türke?‹ Als richtig gilt die Antwort ›in die Mülltonne‹ , als falsch die Antwort ›an den Eßtisch‹ oder ›an deinen Arbeitsplatz^ Ziel des Spiels ist es, mit 20 000 Reichsmark möglichst viel Schaden anzurichten, zum Beispiel Konzentrationslager zu bauen, Gaskammern zu installieren oder Türken und Juden zu vergasen. Als Belohnung winkt eine ›Karriere‹ vom einfachen KZ-Wächter bis zum KZ-Chef« (Jäggi, 1992, S. 75f.). Als 1990 über 100 solcher Spiele auf den Index für jugendgefährdende Schriften kamen, gingen sie weg »wie frische Semmeln«. Spielerisches Killen als Symptom einer pervertierten Gesellschaft, Nihilismus total. Aalglatt, ihrer Verantwortung entwischt, präsentieren Erwachsene ihre Werte: eiskalte Berechnung, welche vor nichts zurückschreckt. Wo die Kasse klingelt, stimmt die Moral.
Die Ängste der Jungen Es fällt auf, daß die Geschlechterdiskussion sich vorwiegend der Mädchen und Frauen annimmt, Wege aus der weiblichen -118-
Opferhaltung sucht, Erziehungsziele zur Verwirklichung von Gleichberechtigung aufstellt und dabei vergißt, wie wichtig eine Neuorientierung auch in der Erziehung des männlichen Kindes ist. Hier liegt noch vieles im argen. Mit einem Teddy für den Zweijährigen ist es nicht getan, solange der Siebenjährige angehalten wird, seine Fäuste zu gebrauchen, wenn ihm Unrecht geschieht und sich nicht so weinerlich anzustellen. Verletzt er sich beim Fußball, heißt es auch heute allzuoft: »Ein großer Junge weint doch nicht.« Noch immer wird Männlichkeit mit Körperstärke und Gefühlsunterdrückung gleichgesetzt. Die Psychologie strickt an diesen Männlichweiblich-Mustern wacker mit: Skalen bezeichnen den Grad an männlichen, weiblichen oder androgynen Eigenschaften, die ein Individuum besitzt. Als weiblich gelten alle Attribute des Dienenden, Anpassungsfähigen, Empathischen (Einfühlsamen), Emotionalen. Männlich ist Durchsetzungsfähigkeit, Furchtlosigkeit, Härte gegen sich und andere. Die Werbung hat die Darstellung des makellosen Männerkörpers entdeckt, ein zusätzlicher Beitrag zur Verunsicherung pubertierender Jungen. Körperkult ohne Einbezug geistiger Qualitäten beschleunigt die Wiedergeburt des Kraftprotzentums. In einer Zeit, die vielen jungen Männern an Idolen wenig anderes bietet als Leinwand- und Videocliphelden in Gestalt kalter, unbarmherziger Killer, gepaart mit wenig attraktiven Jobs und drohender Arbeitslosigkeit im realen Alltag, bleibt ihnen - um dem Männerbild von Werbung und Gesellschaft einigermaßen zu genügen - nur die Flucht in machohaftes Gehabe. Sportlich, trainiert, kräftig, stark, männlich. »Nie vor Gefahren bleich«, hieß es in der früheren Landeshymne der Eidgenossen. Zur Umsetzung dieses Ideals verhilft die Peergroup, die Bande, die Gang. Auch wenn sich noch immer eine Minderheit von Jungen ihre -119-
Selbstbestätigung durch direkte Gewalt holt, zeigt der Rechtsrutsch im politischen Denken ganzer Nationen eine Zunahme an Akzeptanz von brutalen Inhalten. ›Die bösen Buben‹ heißt ein Film von Bruno Moll über vier Heiminsassen. Mit »bösen Buben« habe ich einen großen Teil meines Lebens verbracht, als Heimleiterkind und später als Lehrerin bei sogenannten Schwererziehbaren. Gewalttätig, unzuverlässig, kriminell, verlogen und faul, so stellen sich noch heute Außenstehende die Knaben vor, die in ein Heim eingewiesen werden. Doch viele von ihnen sind sensibel, intelligent und sympathisch. Es gibt zu denken, daß die Säuglingssterblichkeit im ersten Lebensjahr bei Buben höher ist, daß mehr an Asthma erkranken, in schulpsychologischen Diensten und Erziehungsberatungsstellen Jungen viermal häufiger erscheinen als Mädchen und daß die Lebenserwartung der Männer erheblich geringer ist. Frau ist schnell mit Erklärungen zur Hand: Buben sind wilder, machen sich mehr bemerkbar, leben riskanter und unfallträchtiger. Es wäre auch denkbar, daß Jungen von Natur aus sensibler und für psychische und physische Schäden anfälliger sind. Das paßt aber nicht ins Bild vom starken Mann. Buben im Vorpubertäts- und Pubertätsalter werden im allgemeinen seelisch vernachlässigt, auch wenn Studien belegen, daß Lehrkräfte sich häufiger mit Jungen abgeben. Aus meiner beruflichen Tätigkeit und aus der Erfahrung mit eigenen Söhnen weiß ich um die Verletzlichkeit der Knaben. Der niedliche Kronprinz, Stolz der Mutter, wird über Nacht zum pubertierenden Flegel, der seine stinkigen Socken herumliegen läßt, sich auf sein Bett, in seine Musik verkriecht, einsam und verunsichert onaniert - umgeben von schönen Mädchen auf Postern und einschlägigen Illustrierten, belastet von der Einsicht, daß solch hübsche Geschöpfe für ihn unerreichbar bleiben. -120-
Hinter dem verschlossenen, widerborstigen, aufsässigungehorsamen Jungen versteckt sich ein verunsichertes Kind, das sich selbst nicht mehr versteht, weder seinen Körper mit den Hormonschüben noch seine empfindliche Seele. Wo sind Väter und Lehrer, denen Buben ihre Sorgen und Minderwertigkeitsgefühle gestehen können? Wieviele Jungen fürchten in dieser Zeit um ihre Normalität, weil sie zu niemandem Vertrauen haben und nie lernten, über ihre Ängste zu sprechen, etwa schwul oder pervers zu sein, nicht anziehend genug, zu wenig kräftig und muskulös? Mädchen haben es da besser. Sie sind verbal begabter, emotional offener, von Natur aus und verstärkt durch die Sozialisation. In der Zeit der Pubertät fällt es ihnen leichter, über ihre Probleme zu reden. Mutter und Freundinnen nehmen oft Anteil, bereiten auf die erste Periode vor. Die Mutter weiß, was in ihrer Tochter vorgeht, was mit ihrem Körper geschieht. Väter blicken bewundernd, Mütter auch neidvoll auf die heranwachsende Tochter. Damit möchte ich keineswegs die Schwierigkeiten einer weiblichen Pubertät herunterspielen. Aber in dieser Zeit haben es auch Buben schwer. Nur werden ihre Probleme von ihnen selbst mit ruppigaggressiver Verschlossenheit und von ihrem Umfeld mit verärgertem Nichtwahrnehmenwollen und unbeholfener Kritik übergangen: Alle müssen da durch - und damit hat sich's. Niemand bewundert die schlaksigen Jungen, die nicht wissen, wohin mit Armen und Händen, die sich ihres plötzlich steif gewordenen Penis schämen, deren Stimme sich unvermittelt überschlägt. Ihre Gesichtszüge vergröbern sich, die Pickel zwischen dem sprießenden Bartflaum machen weder interessant noch attraktiv. Es ist die Zeit, da viele Jungen zusätzlich mit Schulschwierigkeiten kämpfen, sich verloren und allein fühlen. Sie wenden sich mit ihren Problemen nicht an ihre Mütter und die Mütter negieren die Not ihrer Söhne. Niemand hat ihnen beigebracht, mit einem Sohn umzugehen, der plötzlich den -121-
Körper eines Mannes besitzt, seelisch aber noch ein Kind ist. »Er kommt schon damit zurecht. Er ist doch ein Bub«, denkt die Mutter, wenn sie ihm wortlos eine Packung Kleenex neben sein Bett legt. Für viele Mütter ist bereits der Penis des Kleinkinds eine ständige Erinnerung an das Männliche, begehrlich einerseits und doch fremd, so daß einige bei sich eine gewisse Befangenheit im Umgang mit dem nackten Jungen feststellen, die sie beim Anblick ihrer Töchter nie befällt. Mütterliche Zärtlichkeit wird in der Pubertät von den Söhnen im allgemeinen vehement abgelehnt, was viele Mütter frustriert. Diese Reaktion wiederum löst bei den Jungen Wut, aber auch Schuldgefühle aus. Zum Vater besteht vielfach ein gebrochenes oder überhaupt kein Verhältnis. Anders als bei Naturvölkern beschränkt sich in unserem Kulturkreis der »Mannbarkeitsritus« auf ein Aufklärungsbuch, das der Vater seinem Sohn in die Hand drückt, und dem technischen Sexualkundeunterricht in den Schulen. Aufklärung im Zeitalter von Aids beginnt zwar schon im Kindergarten. Die zentrale Botschaft heißt, »es« nie »ohne« zu tun. Was Liebe ist, kann nur schwer vermittelt werden. Das müßte den Kindern von den Eltern vorgelebt werden. Für viele männliche Individuen kann Sex durchaus von Liebe getrennt werden. Sexualität ist ein Bedürfnis wie Hunger, das einfach gestillt wird, wenn's sein muß mit der Frau, die gerade zur Hand ist. Die Lebenshilfe der Straße ist direkt und deftig, druckst und murkst nicht um den heißen Brei herum. Die Kollegen übertreffen einander in Prahlereien über »aufgerissene« Girls. Überprüfen läßt sich nichts. Kleine Möchtegernvergewaltiger sind die Folge, die sich oft mangels einschlägiger Erfahrung minderwertig vorkommen, vielleicht zusätzlich unter einem - wie sie glauben - zu kleinen Penis leiden. Der Macho: auch ein Produkt des Negierens der Angst kleiner und großer Jungen und ihres Alleingelassenseins mit allem Bedrohlichen, das ein Bubenleben verdüstert. -122-
Die Psychoanalytikerin Christiane Olivier erklärt, die Leiden kleiner Jungen begännen in der analen Phase, zur Zeit der Sauberkeitserziehung und mit dem Innewerden der mütterlichen Penislosigkeit, was sich der Knabe nur als Verlust, das heißt als Kastration dieses Körperteils erklären könne. Seine weitere Kindheit werde überschattet durch die Angst, die Mutter werde ihm sein kostbares Körperteil rauben, denn sie ist der Mensch, der in der modernen Kleinfamilie Tag und Nacht um ihn ist. Für Olivier ist Kastrationsangst nicht - wie Freud behauptet - eine weibliche Angst, sondern die Angst kleiner Buben. Die einzige Waffe, die dem Jungen bleibt, ist die Beherrschung der Frau, die Unterdrückung, die Macht über sie. Im mutterdominierten Kinderzimmer beginnt nach Olivier der Krieg der Geschlechter, und solange die Väter nicht Einlaß fänden in Früherziehung und auch Männer Kindergärtner würden, die ganze Kleinkindererziehung in weiblichen Händen sei, blieben Buben mit ihren Ängsten allein, unverstanden und erst noch gedemütigt durch die Dauerpräsenz weiblicher Wesen, die sich nie in männliche Vierjährige hineinversetzen und sie verstehen könnten. Unabdingbar sei daher eine Pädagogik, die weder von mütterlicher All-Macht noch durch väterliche Unnahbarkeit und Abwesenheit geprägt sei, sondern Mädchen und Jungen eine Identifikation mit dem gleichen Geschlecht und ein angstfreies Kennenlernen des Gegengeschlechts ermögliche. Männer und Frauen müßten sich in Familie und Schule zu gleichen Teilen der Kindererziehung widmen. Solange das nicht der Fall sei, würden Buben launenhaft, aggressiv, schwierig, denn sie müßten ihre Haut vor dem »mütterlichen Begehren« retten. Daher drehten sich die Fantasien der kleinen Jungen um Krieg, um Eroberungen, um Siege oder Schnelligkeitsrekorde. Der Knabe und später der Mann umgibt sich aus Angst vor Verweiblichung und daraus folgendem Penisverlust mit Abwehr, ist weder sanft noch -123-
gefühlvoll, wird als junger Mann aggressiv, seine Sprache ist vulgär. Eine eigentliche »Antifrau-Haltung« wird sich beim Heranwachsenden entwickeln, er träumt davon, Frauen zu beherrschen, zu ficken und zu verlassen. Oliviers Ansatz ist zumindest bedenkenswert. So wie sie den Einbezug der Männer in die Früherziehung fordert, scheint mir der gezielte (und nicht zufällige) Einbezug von Frauen in die Erziehung pubertierender Jungen, besonders auch schwieriger und gewalttätiger, notwendig. Diese Männerdomäne der Erziehung wird noch heute verteidigt mit dem fadenscheinigen Argument, nur Männer seien dieser schweren Aufgabe gewachsen, denn jungen Gewalttätern könne nur mit körperlicher Überlegenheit begegnet werden. Frauen hätten Angst und böten sich als Opfer geradezu an. Solange Sozialpädagogen den Mythos der schwachen und unfähigen Frau verbreiten und ihren Schützlingen weiterhin suggerieren, was diese eh ausleben - daß Überlegenheit Macht durch Gewalt und daher eine männliche Eigenschaft sei -, werden vor allem brutale Burschen keine Gelegenheit erhalten, ihr Weltbild zu korrigieren und Erfahrungen mit anderen Konfliktlösungsmustern und positiven weiblichen Verhaltensweisen zu sammeln. Durch Lehrerzimmer, Erziehungsheime, von Gefängnissen nicht zu reden, geistert das Bild vom starken Mann, der mit einem Faustschlag alles ins Rechte rückt und vom weiblichen Opferlamm, das zu Aggression reizt und unter Buben und Männern nichts verloren hat. »Zwang zur Leistung«, sagt Arno Gruen, »ist das Kreuz des Mannes«, und: »Erfolg ist der Maßstab, an dem der Mann gemessen wird, nicht seine Fähigkeit zu lachen, zu spielen oder zärtlich zu sein« (l986, S. 85). Mit Christiane Olivier glaube ich, daß ohne selbstbewußte, -124-
nicht kaptativmütterliche, sondern menschlich reife Frauen die Männer aus ihrer Sackgasse von Gewalt- und Machtstreben nicht herausfinden. Zu dieser gemeinsamen Aufgabe gehört bestimmt eine Erziehung, die jedem Jungen das Recht auf Angst und Trauer, auf Furcht und Verunsicherung einräumt. Jungen sollen weniger zur Tapferkeit, sondern zum Heulen ermuntert werden. Daß sie im Spiel nur kämpfen und Kriege führen, stimmt nur bedingt: Unsere Söhne eröffneten spielerisch ein Restaurant, spielten wochenlang das »Mami-Papi«-Spiel, das uns Eltern einen Spiegel vorsetzte, nebst Städte- und Eisenbahnbau, Legokreationen und Wildwestschlachten. Kleine Buben lieben zwar Autos, Traktoren und Motorengeräusch und beginnen fast unisono zu brummen, erblicken sie ein Spielzeugauto. Doch sie backen auch Kuchen und helfen in der Küche. Jungen sind nicht kleine Monster, sondern sensible, originelle und liebenswerte Kinder, die viele dieser Eigenschaften ins Erwachsenenalter hinüberretten, wenn ihre Bezugspersonen nur einigermaßen auf sie eingehen, ohne sie zu vereinnahmen. Ich habe beinahe vierzig Jahre meines Lebens unter Jungen und Männern verbracht und weder beruflich noch als Frau und Mutter große Enttäuschungen erlebt. Mit einigen meiner ehemaligen sehr schwierigen Schüler verbindet mich heute ein freundschaftliches Verhältnis, und meine Freunde sind allesamt das Gegenteil von Machos. Trotzdem klage ich die Männergesellschaft für die gegenwärtige Eskalation von Gewalt in vielen Bereichen an, weil unser heute noch etabliertes System männlich im Sinn einer machtbesessenen Phallokratie ist, letztlich frauen-, kinder- und lebensfeindlich. Die Menschheit wird nur überleben, wenn die Alleinherrschaft des Machos aufgebrochen wird. Dies wird in naher Zukunft kaum der Fall sein. Vor den verheerenden Folgen egomanischer Männerherrschaft kann nicht genug gewarnt werden. -125-
Es ist die Tragik der Angst, auch der verdrängten männlichen Angst, daß sie »Seelen auffrißt«. Aus den Ängsten der Buben wächst männlicher Größenwahn. »Des Mannes Mythos zerstört ihn selbst und alles..., was er berührt«, meint Arno Gruen (1986, S. 104). Die Trauer eines Jungen in der letzten Stunde einer längeren psychologischen Beratung illustriert das Versagen von Familie und anderen Institutionen bei kindlichen Nöten: Der sechsjährige Jan, trotz mieser häuslicher Verhältnisse ein sonniger Junge, setzt sich auf meinen Schoß, nimmt einen Teddy auf die Knie, umarmt ihn und sagt: »Tschau Bärli. Du hast es schön, du kannst hier bleiben. Aber ich darf vielleicht nie mehr kommen. Schade.« Sieben Jahre später ist aus dem gefühlvollen Kind ein scheinbar stumpfer Schlägertyp geworden, der seine Ängste hinter rohem Zynismus verbirgt, sich mit unsinnigen Mutproben und Überfällen Geltung verschafft und für den ein Messer zum Schulalltag gehört, so selbstverständlich wie für frühere Generationen der Pausenapfel. Die Welt vorpubertärer Buben ist voller Geheimnisse, seltsamer Fantasien und selbsterstellter Tabus zur Abwehr des Irrationalen und eine Entdeckungsreise wert. Im Grunde wissen wir wenig von diesem Lebensabschnitt. Das Alter zwischen acht und zwölf ist vor allem kognitiv erforscht, im Gegensatz zur frühen Kindheit und zur Adoleszenz. Lehrpläne geben keine Auskunft über die Träume und Sehnsüchte, die Befindlichkeiten dieser Zeit. Jungen sind wenig mitteilsam, und kaum jemand interessiert sich für ihr Innenleben.
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V. Das Liebäugeln mit dem Faschistoiden
Mord beginnt mit Worten Worte können streicheln. Worte können verletzen, vernichten. Worte können fertigmachen. Rufmord ist die Vorstufe von Mord. Vor zehn Jahren noch hätte es niemand für möglich gehalten: rassistische Witze sind wieder salonfähig. »Fünf Tamilen haben in einem Aschenbecher Platz«, sagt der junge Typ im vollbesetzten Zug, und: »Weißt du, wie viele Dachlatten aus einem Türken hergestellt werden?« Schweigen. Einige grinsen. »Neulich hat sich ein Türke verbrannt. Die Freunde sammeln nun für die Witwe. Fünf Liter Benzin haben sie schon«, witzelt ein deutscher Diskjockey. »Eingang für Juden - Ausgang für Asche.« »Packt eure Sachen, bevor eure Wohnungen und KebabBuden in Flammen aufgehn.« Juda verrecke, kill the Tamils, Türken raus: Aufrufe zum Mord. Auf verbale Gewalt folgt die Tat. Rassistische Witze, fremdenfeindliche Aussprüche von Politikern und entsprechende Schlagzeilen in Zeitungen sind die Vorhut von Brandanschlägen und Überfällen, von Pogromen und ethnischen Säuberungen. In seiner Dokumentation ›Rechtsextremes Denken‹ (1993) zitiert der Spezialist für Rechtsradikalismus H. Joachim Schwagerl Beispiele aus deutschen Zeitungen und Publikationen, die zeigen, wie weit rassistisches Denken in -127-
Deutschland Fuß gefaßt hat und wie Ängste vor Arbeitslosigkeit, Verbrechen und der »roten Gefahr« propagandistisch von den Hintermännern neonazistischer Ideologien am Leben erhalten und geschürt werden. »Asylflut - geht Deutschland unter?« Von »Scheinasylanten«, »Durchrassung«, »Asylantenpack« ist auch in der Schweiz die Rede. In deutschen Polizeipräsidien und Landesratsämtern hängen rassistische Hetzgedichte, fremdenfeindliche Schmähschriften werden per Telefax oder via Rundbrief in Büros und Ämtern verbreitet, oft mit vollen Namen ihrer Verfasser. Auf Fußballplätzen wird hemmungslos: »Jude nach Auschwitz« gebrüllt, wenn sich Fans über den Schiedsrichter ärgern. Niemand muckt auf. Monatelang rissen sich deutsche Fernsehanstalten wegen der Einschaltquoten um Rechtsradikale. Das Publikum der Talkshows unterstützte ihre Naziparolen. Kampfkraft für Deutschland. 50 Jahre nach Auschwitz, Treblinka und Buchenwald. »Viele trauen sich jetzt auszusprechen, was sie früher nur gedacht haben«, meint Ignaz Bubis, Vorsitzender vom Zentralrat der Juden in Deutschland. Viele trauen sich auch, auszuführen, was sie früher nur gesagt haben. Ausschreitungen häufen sich: gegen jüdische Friedhöfe, Holocaust-Gedenkstätten, geistig oder körperlich Behinderte, Homosexuelle und Schwulentreffs, gegen Asylsuchende und Ausländerinnen, vor allem Türken. Wenn die Alten im Schlepptau der Politiker von »Asylantenpack«, »linker Zeckenbrut«, »Kanakenschwemme« reden, an Weihnachten »Advent, Advent, der Türke brennt« skandieren wer will dann den Jungen verwehren, in ihren Hetzblättern eine noch wüstere Tonart anzuschlagen? Rocksongs, die »Schläger der Nacht« heißen oder »tätowiert, kahl, brutal« hätten von Anfang an verboten werden müssen, da -128-
sie Gewalt verherrlichen und zum Rassenhaß aufstacheln. Doch die Gefährlichkeit dieser Texte wurde bis vor kurzem heruntergespielt (siehe auch Tages-Anzeiger, 7. 11. 92). Die rechte Subkultur in Deutschland erwachte nach der Wiedervereinigung unter den farbenblinden Augen des Staatsschutzes: knallharte Sprache, einfache punkähnliche Rhythmen. Namen als Programm: Werwolf, Wotan, Radikahl und Störkraft. Ein Werwolf ist im Volksglauben ein Mensch, der zeitweilig Wolfsgestalt annimmt, Leichen ausgräbt (!), nach Blut giert, Mensch und Tier zerreißt. Wotan (Odin), der germanische Gott, ist stets überlegener Herr in der Schlacht und verlangt Menschenopfer. Nun singen auch andere Musikgruppen provokative Texte, und ein Merkmal von Pubertät und früher Adoleszenz ist, das Beständige in Frage zu stellen durch demonstrative Herausforderungen und zynisches Herabsetzen. Auch englische Songs rufen auf zur Gewalt, doch wird ihr Inhalt hier von vielen nicht verstanden. Begeistert aufgenommen wurden von Skinheads und ihrem Anhang Texte der rassistischen Störkraft (einer der härtesten Skinhead-Bands): ... fremde Völker nisten sich ein und behaupten auch noch deutsch zu sein eines Tages wacht ihr alle auf, rettet die Rasse, die man ausverkauft. Ich weiß, in jedem Deutschen steckt ein Mann, der das Verderben noch verhindern kann. Tönen die faschistoiden Parolen für Normalempfindende älterer Jahrgänge nicht irgendwie bekannt? Kostproben der Gruppe Tonstörung:
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Wetz dir deine Messer auf dem Bürgersteig, laß die Messer flutschen in den Juden rein. Blut muß fließen knüppelhageldick, und wir scheißen auf die Freiheit dieser Judenrepublik. In der Synagoge hängt ein schwarzes Schwein, in die Parlamente schmeiß die Handgranate rein. (Tages-Anzeiger, 3. 12. 92) Tausende gelangweilter und unzufriedener Ossis grölen im Konzertsaal mit, biertrunken und dadurch schon halb entschuldigt - Alkohol ist keine verbotene Droge und im Rausch Begangenes ein Kavaliersdelikt. Die Texte dieser Gruppen sind von so beispielloser Brutalität und Menschenverachtung, daß frau sich fragt, wie Massen junger Männer beschaffen sein müssen, bis sie ernsthaft, und das scheint bei einigen der Fall zu sein, den Inhalt dieser Songs in die Tat umsetzen möchten. Erste Alarmsignale: Juden werden mit nächtlichen Telefonanrufen belästigt: »Hier spricht Hitler«, dann folgen irgendwelche Schweinereien und Morddrohungen. In die Alltagssprache eingebürgert haben sich Wendungen wie ein »Fraß wie im KZ«. Schriftsteller, Theatermacher und Künstler einer Nation sind in Krisenzeiten gefordert, Kritik am moralischen und politischen Konsens zu üben. In den Produkten einiger Sprachgestalter macht sich aber eine Gleichgültigkeit gegenüber der Bedeutung von Wort und Metapher bemerkbar, die schockiert. Heißt analog zu Urs Allemanns Babyficker ein nächster Ingeborg-BachmannPreis-Titel: »Ich töte Türken«? Eine Fiktion, wie beim Babyficker. Der »fickt Baby, na, na«, und ein anderer eben, der tötet. Türken. Haha. Solange eine literarische Elite-Jury Geschriebenes prämiert, das vor allem dank seines abscheulichen Titels ein provokativer -130-
Hit zu werden verspricht, ist es jungen Rockern nicht zu verargen, mit Texten, die in ihrer Szene ankommen, ihr Siegheil zu suchen. In beiden Fällen sind es Erwachsene, denen Urteilsfähigkeit oder Zivilcourage, vermutlich aber beides, abgeht. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde. Eine Phrase? Wo sind sie, die Rechtsgelehrten, die moralischen Gralshüter, die Verteidiger der Wahrheit? Haben sie sich politisch engagiert im Kampf um die Würde des Menschen? Haben sie die Heil-HitlerRufe unterbunden, die Jungen, die vor laufender Kamera und Millionen Zuschauern aussagten: »Neger, Juden, Türken machen wir kalt wie in Buchenwald«, dafür zur Rechenschaft gezogen, zum Boykott gegen rechtsradikale Machenschaften aufgerufen und dadurch ihre eigene Menschenwürde bewahrt? Statt dessen Diskussionen um Gesetzesverschärfung, ohne daß die bestehenden Gesetze ausgeschöpft werden, Streitigkeiten um die Frage, welche Ausdrücke unter Strafe fallen sollten, während die Mordgesellen ihre faschistischen Parolen täglich in den Medien ausstreuen konnten. Worte sind nicht Schall und Rauch. Unser Umgang mit ihnen zeigt, wie abgegriffen Sprache für uns ist. Allzu leichtsinnig werfen wir mit Phrasen um uns, die wir so nicht meinen. Wer Worte nicht ernst nimmt, kann mit Grauen erleben, was ihr Schall bewirkt. Spätestens, wenn Rauch aus brennenden Häusern aufsteigt.
Rechtsblind, bis der Umsturz droht Mann ohne Feind ist wie Fisch ohne Wasser. Armee ohne -131-
Feindbild wie Vogel ohne Luft. Im richtigen Moment sind sie gekommen, die politisch Verfolgten und die Wirtschaftsflüchtlinge. Was wären Politiker ohne sie und die wenigen noch in Europa anwesenden Juden? Zur Übernahme von Eigenverantwortung gezwungen. Den Kommunisten kann mann nichts mehr in die Schuhe schieben, die Gefahr von links wird zwar bei jeder Gelegenheit weiterbeschworen, aber inzwischen haben deutsche Regierungsvertreter gemerkt, daß eine andere Vergangenheit sie rechts überholt und ihnen womöglich den Weg abschneidet. Nicht ungern ist die Männerherrschaft im gegenwärtigen Rechtstrend mitgerutscht: Recht und Ordnung, das klingt so männlich, und Neonazis sind nun mal keine Chaoten, sondern straff organisiert wie die Altnazis, auf geheimen Waffenplätzen den Kampf übend. Sturz der Regierung, nieder mit der Demokratie. Europa erwache, Deutschland, wir kommen, Deutschland den Deutschen, Schlesien den Heimatvertriebenen. Männlichkeit und Recht und Freiheit. Drescht Türkenköpfe, macht Asys platt. Sieg Heil. Bald ist mit Heimat wieder halb Europa gemeint. Der deutsche Sprachraum. Lang hat's gedauert, bis Politiker hellhörig wurden. Nun bangen sie um ihre Macht. Wer stoppt die Rechtsradikalen? titelt die Presse im In- und Ausland. Die brandschatzenden, mörderischen Skinheads erscheinen mit einem Mal als das, was sie sind: die tumbe Vorhut eines raffiniert im Hintergrund agierenden, vernetzten Systems rechtsradikaler Köpfe. Rhetorisch und dialektisch geschult, legen sie bis hinauf in die höchsten Ämter von Politik und Wirtschaft ihre ideologischen Sprengsätze. Über 1600 Straftaten registrierte die Polizei allein 1992 im wiedervereinigten Deutschland, »davon über 500 Brand- und Sprengstoffanschläge. Die Bilanz: 17 Tote, mehr als 800 Verletzte« (Der Spiegel, 49/91). Die Woche (9. 6. 93) spricht -132-
von mindestens 49 Menschen, die seit der Wiedervereinigung von meist Jugendlichen umgebracht worden seien. Einige 100 Opfer überlebten eher zufällig. »Knapp vermeldet und schnell vergessen.« Selbst jetzt wird nie versäumt, neben die Gewalt von rechts sogleich die von links zu stellen, denn noch immer ist Linkslastigkeit fürs männliche Bürgertum (auch in der Schweiz) die ärgste Bedrohung. Die sogenannte »Fichenaffäre« (Fichen = Akten) deckte Anfang der neunziger Jahre auf, daß jahrzehntelang Zehntausende von unbescholtenen Bürgern und Bürgerinnen in der Schweiz, darunter viele Kulturschaffende, von der Bundespolizei bespitzelt und als links und damit staatsgefährdend registriert wurden. Noch jetzt wissen deutsche und schweizerische Behörden aber nicht, wieviele Rechtsextreme ihr Unwesen treiben. Vor allem junge Menschen seien nicht organisiert, heißt es. Wird dadurch die Gefahr von rechts vermindert? 1983 schrieb der Sozialpsychologe Gerhard Schmidtchen in einer Untersuchung über deutsche Jugendliche ( ›Jugend und Staat‹ ), die Rechtsextremen befänden sich in einer solchen Minderzahl, daß er sie aus seiner Befragung ausschließe. Auch seien sie für den Staat ungefährlich, denn sie befürworteten Ruhe und Ordnung. Im selben Jahr wurde das Würfelspiel ›Mensch, ärgere Dich nicht‹ als ›Jud, ärgere Dich nicht‹ jüdischen Einrichtungen, Redaktionen und öffentlichen Stellen zugeschickt. Wer am meisten Juden in die Gaskammern bringt, ist Sieger des Spiels. Nebst anonymen und offenen Hetzschriften und Flugblättern schüren die unbekannten Demokratiefeinde seit Jahren auch anderweitig Krisenstimmung, nicht erst seit der mißlichen Wirtschaftslage: Computerdisketten mit etwa 40 rassistischen und hitlerfreundlichen Spielen wurden vor 1990 hergestellt und sind unter Jugendlichen im Umlauf. »Über die Urheber und Hintermänner ist kaum etwas bekannt. Mit alledem versuchen die Anhänger rechtsextremer Bestrebungen Tag und -133-
Nacht die Bedingungen für eine radikale politische Änderung zu schaffen... und die geweckten Aggressionen zu nutzen«, schreibt Schwagerl (1993, S. 51). Schon in den Siebzigerjahren zeigte das deutsche Fernsehen Dokumentationen über die Jugendgruppe »Stahlhelm«, die in Kursen Jungen trainierte, unter Leitung ehemaliger SS-Männer. Heute werden in mehreren Orten Deutschlands heimlich gezielte Ausbildungslager für junge Rechtsextremisten durchgeführt, sogar, wie einer im Dokumentarfilm ›Komm und sieh‹ aussagte, unter Leitung von Bundeswehrangehörigen. Die jungen Typen müssen sich schon sehr sicher fühlen, daß sie öffentlich sagen: »Ein Umsturz geht nie ohne Bürgerkrieg. Da würd' ich halt auch auf Deutsche schießen. Schließlich bin ich hart ausgebildet für.« So tönt's, und die Verharmlosung offizieller Sprecher, es handle sich (im Oktober 1992) nur um eine verschwindend kleine Minderheit, greift längst nicht mehr. Die Menge verständnisvoller Mitläufer und Sympathisanten läßt sich nur ahnen. Die Gefahr von rechts wurde so lange systematisch heruntergespielt, daß einem berechtigte Zweifel an der politischen Ausrichtung vieler Zeitgenossen kommen, nicht nur unter der schweigenden Mehrheit. Die Bevölkerung stellte 1992 in Rostock neben die Krawalljugend Stände mit Getränken und Essen, die Polizei guckte weg, von Regierungsseite wurde der anwachsenden Gewalt unter Skinheads höchstens ein müdes Kopfschütteln geschenkt, was beinahe einer offenen Unterstützung der mörderischen Brut gleichkommt. Aber: Alles besser als linker Terror. Solingens Bürgermeister erklärte im Fernsehen, seine Stadt kenne keinen organisierten Rechtsextremismus. Als würde dadurch der von drei Jungendlichen verübte tödliche Brandanschlag erträglicher.
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Deutschland tat sich schwer mit der Aufarbeitung der HitlerZeit. Das Leben war nach dem Zweiten Weltkrieg hart. Die Bundesrepublik arbeitete sich aus den Trümmerhaufen direkt ins Wirtschaftswunder. Für Schuldverarbeitung und Trauer blieb keine Zeit. Endlich wollte man leben, etwas Bleibendes leisten, genießen. Die Westdeutschen verdrängten das Vergangene und klärten ihre Kinder ungenügend auf über ihr »Irregeleitetworden-Sein«, der Osten ging in ein anderes totalitäres System über, das den Nationalsozialismus zwar verurteilte, aber nicht verarbeitete. Unterschwellig lebten alte Ressentiments weiter und werden jetzt an die Kinder delegiert. »Meine Eltern haben kaum mit mir darüber geredet. Dafür hat Großvater mir von seiner Zeit bei der Waffen-SS erzählt, und daß Hitler ein prima Mann war«, heißt es etwa in Ost und West. Inzwischen geschieht täglich, was niemand für möglich gehalten hätte. Immer jünger werden die neuen Nazis. Politiker bangten um das gefährdete Ansehen Deutschlands in der Welt und riefen am 4. November 1992 zur ersten Antirassismus-Demonstration auf. Selbst bei diesem solidarischen Akt mit den Verfolgten ging es der Polit-Prominenz in erster Linie um ihr schwindendes internationales Prestige. Aber nicht nur Deutschland, auch das übrige Europa schwimmt auf der rechten Welle mit. Die Zündschnüre der Fascho-Unkultur sind weltweit verkabelt. Geschriebenes als Import aus der Schweiz und den USA. Hakenkreuze und andere Embleme, Flugblätter, Plakate, Aufrufe, eine Flut von Drucksachen und Büchern. Reißenden Absatz finden Landserromane und KZ-Verniedlichungen, die der Jugend den geschichtlichen Hintergrund ersetzen, der oft einzig aus Hitlers Geburtsdatum besteht. In vielen westlichen Staaten, zum Beispiel in Frankreich, -135-
entstehen Nazinester, in denen Alt- und Jungrassisten vergangener Führerherrlichkeit nachtrauern und Strategien für die Zukunft entwerfen. Ihnen liegt viel daran, die sogenannte Auschwitz-Lüge zu enttarnen. Der Brite David Irving und Eidgenossen wie Alt-Nazi Max Wahl, die Ex-Lehrer Jürgen Graf und Bernhard Schaub sowie Andreas Studer, selbsternannter Leiter eines ›Freien Instituts für Humanität und Kreativität‹ , diese Weißwäscher der Geschichte tun die Massenmorde an Juden als »arrogante Lüge der Sieger« ab und arbeiten zielstrebig an einer Verharmlosung der KZ-Greuel; bisher ohne rechtliche Konsequenz in der Schweiz (SonntagsZeitung, 4. 4. 3). Verständlich, daß sie gegen das Anti-Rassismus-Gesetz als »Maulkorbgesetz« mobil machen. In Schriften, die im In- und Ausland nicht wenige Abnehmer finden, werden Konzentrationslager als Erholungsheime dargestellt und Hitler zu einem der bedeutendsten Männer, die je lebten, hochstilisiert. Tausendfältig von arroganten, unwissenden Glatzköpfen nachgebetet zur Untermauerung ihrer Aufgüsse aus Hitlers Giftküche. Nun ist die Angst da: Könnte die rechtslastige Gesellschaft das Schiff des Staats zum Kippen bringen? Als erste Maßnahme wird die Brille auf dem rechten Auge weggeschoben. Noch immer scheinen die Reaktionen verlangsamt, zögerlich. Doch jetzt will Bundeskanzler Kohl den Rechtsextremismus mit aller Härte des Gesetzes bekämpfen, und das Anti-Rassismus-Gesetz soll 1993 endlich vom Schweizer Parlament definitiv verabschiedet werden. Damit hätte die Schweiz erstmals die Möglichkeit, rassistisches Gedankengut in Wort und Schrift gesetzlich zu verbieten. Die rechten Schläger hingegen wittern bereits Neues. Neues Feindbild, neue Chance. Im Juni 1993 gehören Brandanschläge auf Häuser, in denen türkische Familien wohnen, zum Inhalt bald jeder -136-
Nachrichtensendung. Die Gegenattacken junger Türken beschleunigen den Prozeß, den die rechten Drahtzieher mit ihrer Agitation erhoffen: Sturz der Demokratie und Übernahme der Macht.
Sympathie mit den rechtslastigen Schmuddelkindern, zweierlei Rechtsprechung und wiedererwachtes Machotum »Rassenhaß? I wo. Die haben nur eins über den Durst getrunken. Keine geplante Aktion, nichts Organisiertes. Eine Bierschlägerei, das kann's immer wieder geben.« Sprüche von Stammtischtätern Hakenkreuze, germanische Runen und trickreich abgewandelte Naziembleme, um den Verfassungsschutz zu foppen, die rechtsextremen Jugendlichen kennen kein Tabu und brüllen heraus, was Eltern und Politiker nicht so unverhüllt auszudrücken wagen: Ausländerhaß, Antisemitismus, Autoritätssehnsucht. In der Schweiz versteht ein erheblicher Teil der Bevölkerung, daß man gegen Ausländer aggressiv vorgehen kann. Braunes Unkraut wird hier seit langem gedüngt und aufgepäppelt mit faschistoiden Aussprüchen rechtslastiger Prominenz, Sondersendungen im Fernsehen und ›Blick‹ -Schlagzeilen, vom Publizisten Jürg Frischknecht (1991) recherchiert und gesammelt. Der Autor von ›Schweiz, wir kommen‹ warnt übrigens eindringlich vor dem Kokettieren mit der Ambivalenz beim Thema Rassismus. Berichterstattungen, vielfach reißerisch aufgemacht, können Rechtsradikale zur Nachahmung animieren. Längst schon stehen die Randalierer aufgrund ihrer Aufmärsche, -137-
ihres Gebrülls und der Nazisymbole im Scheinwerferlicht von Fernsehen und Presse. Jugendliche erlangen durch Provokation eine Bedeutung, die sie mit »normalem« Verhalten nie erreichten. »Ich schmeiße mit Steinen, also bin ich«, diktierte ein Skin der Polizei ins Protokoll. Gewalt macht aufmerksam. Zur Beachtung durch die Massenmedien kommt die Akzeptanz durch jene braven Bürger, die wie in Mölln sogar junge Mörder reinzuwaschen und die Morde - nach dem ersten Entsetzen - einer türkischen Verschwörung in die Schuhe zu schieben versuchten. »Skinheads sind keine rechte RAF, sie sind nicht aus politischen Gründen zu Gewalttätern geworden. Sie sind Gewalttäter, die sich politische Begründungen ausleihen... Ihre besondere Gefährlichkeit ist in der Masse ihrer Sympathisanten begründet - die Bundesrepublik erlebt die erste Jugendrevolte, die der Beifall der Stammtische umweht«, schreibt der Spiegel-Reporter Cordt Schnibben (Der Spiegel 50/92, S. 36). Stammtischapplaus gibt es inzwischen überall, doch nicht allein Stammtischtäter machen sich mitschuldig an der Eskalation von Gewalt gegen Minderheiten. Väterliches Verständnis prägte in Ost und West jahrelang auch das Verhalten von Polizei, Psychologen und Richtern, welche die jungen Täter schnappten, begutachteten und verurteilten. Politisch? Rassistisch? In diesem jugendlichen Alter? Etwas alkoholisiert vielleicht. Aber Bubenstreiche haben wir alle gemacht, da sollte man das rechte Auge zudrücken. Neben dem Vatertick werden die Therapeutenhandschuhe übergestreift, sobald Rechtsextremisten auftreten. Zur Einfühlung in die zarten Seelen der Klienten. Fadenscheinig begründeten bisher auch Jugendrichter mediengewandt ihre schwer nachvollziehbaren Freisprüche. Mit Beschönigung und Verharmlosung zur Bagatelle wurden die Vergehen angeklagter Neonazis entschuldigt, bei denen eindeutig belastendes Material vorlag. Ein TV-Kommentator dazu, bissig: Er frage sich, ob nicht diese Richter der »Beihilfe zu...« angeklagt werden -138-
müßten. Im Zeitalter der Massenkommunikation können indessen nicht Hunderte von Straftaten, Übergriffe auf Leib und Leben, von Politikern monate-, ja jahrelang verharmlosend erstens als nicht politisch motiviert und zweitens eingleisig mit der desolaten persönlichen Situation der rechtsradikalen Jugend zu erklären versucht werden, während ausgerechnet diese Benachteiligten in mehreren TV-Fernsehsendungen schamlos Hitlergruß und demokratiefeindliche Ideen von sich geben dürfen. Im Fall des Schweizers Strebel wurde das Urteil nicht öffentlich bekanntgegeben, zum Schutz der sensiblen Psyche des rechtslastigen Volksaufhetzers. Solange die Gerichte - unzählige Beispiele auch in der Schweiz belegen es - zweierlei Maß für die Rechtsprechung bei linken oder rechten Delinquenten anlegen, offene Versäumnisse durch die Polizei bei der Täterverfolgung bagatellisiert, Angriffe Rechtsradikaler auf Linke, Autonome und Antifaschisten mit unterschwelligem Beifall zur Kenntnis genommen werden, solange die Justiz ihre unheilvolle Tradition der Blindheit auf dem rechten Auge fortführt, bei Brandstiftung, Mord und Staatsverhetzung ihre Rechtsmittel parteiisch ausschöpft, wird die Gewalt eskalieren: gegen Ausländer, gegen Behinderte, Schwule und zuletzt gegen den ganzen Staat. Der faschistoidgewalttätige Hintergrund der altneuen Ideologie zieht vor allem Männer an. Es gibt aber auch junge gebildetet Frauen, die »Führerdeutsch« reden, als lebten sie 1937. In der Jugendsendung ›Schlachthof‹ (BR) durften sie ihre Einstellung zum deutschen Weibstum bekennen: Muttersein, Kinder gebären postum für den Führer, reinrassig und arisch der Nachwuchs, die Mutter Zuhause am Herd, wo sie außer mit vorkriegszeitlicher Hausmannskost ihre Kinder mit germanischen Mythen, Volksliedern und Anekdoten über Onkel Adolf füttert. -139-
Über einen Mann stoßen die weiblichen Fans zum NaziProgramm. Die Unterwerfung unter einen deutschen Macho erhebt die Nazibraut zugleich über alle anderen Kreaturen. Nach dem Vorbild des Dritten Reichs pflegen diese HitlerVerehrerinnen germanisches Brauchtum, flechten sich Kränze ins Haar, treten zum Fahnenappell und zu Heldengedenkfeiern an, wo sie NS-Prosa rezitieren. Um »das Schlimmste« zu verhüten, gründeten sie in Hamburg Horte reindeutscher Kinder. »Das Schlimmste« wäre, wenn ihre Kinder aus dem Kindergarten türkische Sprachfetzen mitbringen würden, denn sie sind überzeugt von der biologischen Ungleichheit der Rassen. Die Gruppe bietet ihnen Rassenkunde-Unterricht an und, in einer sich auflösenden Welt, feste Strukturen, scheinbar naturgegeben und von unveränderbarem Charakter (Der Spiegel, 50/92). Darum: Ausländer raus. Vielen Männern gefallen dienende Frauen. Jenen zum Beispiel, welche sich Russinnen durch eine Ehevermittlung bestellen, weil die noch nicht so emanzipiert seien wie Deutsche. Frau soll, was sich auch viele der bürgerlich arrivierten Männer erträumen, ihrem Partner und Vater ihrer Kinder das Heim bieten, in dem er sich erholen, sich regenerieren kann, ehe er sich wieder dem harten Kampf im männlichen Wettbewerb stellt. Frau und trautes Heim: Tankstelle für Sex und Nahrung. Die Sanfte und der Macho. Die Schöne und das Biest. 1989 schreibt der Soziologe Walter Hollstein weinerlich: »Weibliche Chefs, die auch Männern vorstehen, werden... häufiger. Die traditionelle Position des Mannes als Lenker der Außenwelt schwächt sich ebenso wie seine Rolle als Haupternährer der Familie. Immer mehr Männer müssen Haushaltspflichten übernehmen« (S. 13). Im allgemeinen ist für die Frau sehr wenig von einer Erosion männlicher Macht zu spüren. Im Gegenteil: das Machotum hegt wieder im Trend. -140-
Zwei Beispiele: Gallini, ein Italiener, führt Männerclubreisen in die Dritte Welt durch, »dort hat nämlich noch der Mann das Sagen in der Familie«, und der Anglo-Amerikaner John Bellicchi aus Boston brachte die Iron-Man-Bewegung in die Schweiz. In Seminaren lernen männliche Individuen, von Frauen unbelästigt und top secret, »wie feminine Männer wieder zu alten Machos werden« (Die Weltwoche, 46/92). Der schlaffe Softie auf dem Weg zum wilden Mann, zum »Eisenhans«. Workshops für 750 Franken mit schamanistischen Initiationsriten, Boxkämpfen und der Kreation eines Riesenpenis im Teamwork vermitteln die umwerfende Erkenntnis, die das brachiale Selbstverständnis der neuen (uralten) Männlichkeit begründet: »Eure Liebe ist euer Schwanz. Euer harter großer Schwanz.« Der Berner Sozialpsychologe Markus Klingenberg nimmt an, daß besonders Männer, »die ihre weibliche Seite zu stark betont haben«, für das Iron-Man-Phänomen anfällig sind, als Reaktion auf die feministische Emanzipation. Die Frage sei immerhin erlaubt, wie viele der Männer, die sich für den neuen Macho interessieren, die Trampelpfade der männlichen Egozentrik vorher wenigstens kurzfristig verlassen haben. Vermutlich landet eine Mehrheit in den neuen Gruppen, die weder als Softies lebten noch eine im feministischen Sinne gleichberechtigte Partnerschaft zu verwirklichen suchten, sondern als Gegner selbstbewußter Frauen in den Sog des reaktionären Miefs gerieten. Primitivste Durchsetzung phallischmythischer Werte siedelt die neue Männeridentität in bedenklicher Nähe faschistoider Ideologien an. Die Verherrlichung der Stärke im wilden Mann, von der neuen Männerliteratur gepriesen als »König, Krieger, Magier und Liebhaber« (Roger Moore/Douglas Gillette) läßt allgemein eine Steigerung aggressiver Selbstbestätigungsformen zur Befriedigung männlicher Arroganz befürchten. Der an Aids verstorbene Neonaziführer Michael Kühnen hielt -141-
eine »aufstrebende Kultur« nur durch die »granitene Wucht der Männlichkeit« für möglich, in der »weibliche Einflüsse« stören. Nicht nur den Rechtsradikalen und Führertreuen gefallen solche Aussprüche. Diese reaktionäre Geschlechterrollenauffassung unterstützt die geheimen Wünsche all jener Männer, für die Familie und heile Welt dasselbe sind. Die Frau gehört wieder an den Herd. Selbständige Frauen sind nicht nur für »Iron Men« und Neonazis widerliche Emanzen, unweiblich, eine ständige Verunsicherung.
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VI. Der Mann als Platzanweiser und Stör-Phall
Ein- und Ausgrenzungen in einer patriarchalen Welt: Mann definiert die Frau »Die soziale Unterlegenheit des weiblichen Geschlechts ist nicht einfach ein Produkt geschlechtlicher Arbeitsteilung, sondern ebenso Resultat einer Monopolisierung politischer Macht durch die Männer. Sie erlaubt nur dem männlichen Geschlecht großräumige Freizügigkeit, ohne die Raubzüge und Abenteuerfahrten nicht möglich sind. Über diese Erfahrungsmöglichkeiten definieren Männer, wer... ihresgleichen ist und schließen die Frauen aus der mündigen Menschheit aus.« Regina Becker-Schmidt, 1991 Noch immer wünscht der Mann die Vorherrschaft über alle Bereiche des Lebens, die mit Dominanz, Macht, Geltung, Ruhm, Überlegenheit, Ansehen und Reichtum verbunden sind. Deshalb trennt das männliche Weltbild nicht nur Rassen, sondern auch die Geschlechter und beruft sich dabei auf die »Natur«. Naturgegeben gehört die Frau zum familiären Bereich. Dort darf sie sich einsetzen. Tag und Nacht. Jahrelang und unentgeltlich. Frauen sitzen weiter in den Hinterhöfen der Macht. Aus den hohen Rängen verbannt. Als Pflegerinnen und Therapeutinnen heilen sie die von Männern geschlagenen Wunden und neigen zu Schuldgefühlen, die Männern im allgemeinen fremd sind, da -143-
sie Schuld und Ängste an Frauen delegieren. Unsere Gesellschaft läßt sich einteilen in schuldbewußt Ängstliche und in Macher. In Abhängige und Überlegene. Die Grenze verläuft entlang der Geschlechter. Biologisch bedingt, sagen viele. Die Frau (be)hütet, der Mann exploriert. Doch: »Der Männer, die ihre Frauen gegen Tiger und ihre Kinder gegen Löwen verteidigen, bedarf es seit längerem nicht mehr. Der Nordpol ist bereits erreicht; Lindbergh hat den Atlantik längst allein überflogen.... Eroberer und Abenteurer, wie sie... Ernest Hemingway klassisch beschrieben hat, sind in unseren Tagen zu einem Anachronismus geworden« (Hollstein, 1989, S. 14). Allein, der Mann exploriert weiter und ist um neue Abenteuer nicht verlegen: Im Wort Kernkraft steckt genug Eruptives, um die halbe Welt in Asche zu legen, und das Austüfteln immer neuer, noch wirkungsvollerer Waffen allen Abrüstungsplänen zum Trotz ist bestimmt so erregend wie die Ersteigung eines Achttausenders. Mit dem einzig großen Unterschied, daß der Bergsteiger sein eigenes Leben einsetzt, moderne Waffen hingegen Tausende von Leben vernichten können. Das Spiel mit der Massenvernichtung scheint eine Abart des männlichen Spieltriebs zu sein und entspricht der Vorliebe zur Demonstration von Ranghöhe. Uneingeschränkt verfolgen Männer das Machbare, grenzenlos scheinen die Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik. Vermessenheit ersetzt Verantwortung. Wer, außer ein paar Ehrgeizlingen, will den Krieg der Sterne, artifizielle Welten, Jupitersonden, Atombomben, chemische Waffen, Gentechnologie, mafiose Wirtschaftspraktiken und Kriege, um nur einiges aus dem großen Angebot männlicher Errungenschaften herauszupicken? Wer setzt und hebt Normen auf, verbrennt Ketzer, spricht einen einzigen nach Jahrhunderten frei, gründet Religionen, bekämpft Andersdenkende im Namen irgendeiner Ideologie? Und wer verhilft weltweit dem -144-
Faschismus, dieser Macho-Ideologie, zur unerwarteten und überflüssigen Auferstehung? Der deutsche Philosoph Ulrich Schmidhäuser erkennt darin den männlichen Drang nach Unsterblichkeit durch sein Werk, das der Mann braucht, »anders als die Frau, um allgemeine Anerkennung zu erfahren« - die hat ja »die Möglichkeit, mit dem eigenen Kind ein ›Werk‹ zu schaffen, das allein schon die eigene Existenz erfüllen und rechtfertigen kann« (1991, S. 50f.). Diese Art der Egozentrik bringt es mit sich, daß mann sich auch unendlich lange in seinen Schöpfungen narzißtisch spiegeln möchte. Gebärneid als Triebfeder männlicher Kreativität? Das erklärt teilweise die Angst des Mannes und seine Abwehr gegen eine Päpstin, gegen Bischöfinnen, Regierungsfrauen in höchsten Ämtern, Komponistinnen, Architektinnen, Philosophinnen, weibliche Militärs. Einzelne, im Verhältnis zu den Männern wenige, dienen als Alibifiguren. Für Kriege und Fehlschläge aller Art werden trotzdem Frauen und Mütter mitverantwortlich gemacht. Eines der beliebtesten Männerspiele war und ist das Spiel um Grenzen. »Grenze« ist eine Trennungslinie zwischen zwei Ländern, zwei Bereichen. Die selbsternannten Herren der Schöpfung haben die Welt erobert und in Sektoren geteilt, legen Grenzen fest, politisch und geografisch. Sie etablieren auch die Grenzen des Erlaubten, des sogenannt Schicklichen, gestatten oder verbieten die Übertretung gewisser Bereiche. Männlichem Selbstverständnis entspricht auch, zu bestimmen, was als weiblich zu gelten hat. Seit Jahrhunderten definiert Mann die Frau und setzt diese Form von Gewalt trotz weiblicher Gegenwehr bis zum Ende des zweiten Jahrtausends fort. Die Geschichte strotzt von männlichen Fehlurteilen: Für Aristoteles war das Weib ein Ding zwischen Pflanze und Mensch. Mittelalterliche Konzilteilnehmer debattierten ernsthaft -145-
über die Frage, ob Frauen eine Seele hätten. Der Arzt Paul Möbius ereiferte sich noch Anfang des 20. Jahrhunderts über den »physiologischen Schwachsinn des Weibes«. Das geringere Hirngewicht der Frau läßt in den USA die gleiche Diskussion erneut aufleben. Frauen, die sich künstlerisch und wissenschaftlich betätigen, galten noch vor 100 Jahren als pathogen, landeten wie die Bildhauerin Camille Claudel nicht selten im Irrenhaus. Für Sigmund Freud war die Frau, »weil ihre Anatomie es will«, ein defizitärer Mann, sexuell passiv, und die Vagina »eine Herberge des Penis«, nur im intimen Bereich der Familie konnte sie ihre Weiblichkeit entfalten. Das Kind galt ihr, so Freud, als Penisersatz. C. G. Jung postulierte in seiner Anima-/Animustheorie zwar eine Integration männlicher und weiblicher Anteile in die Persönlichkeit im Verlauf der Individuation, aber die Begegnung mit dem Animus sollte der Frau nicht etwa zu individueller Eigenständigkeit auf künstlerischem, geistigem und wissenschaftlichem Gebiet verhelfen, zum Ausleben ihrer »männlichen« Seiten. Unattraktiv, ein Mannweib, würde sie dadurch; der Frau obliege vielmehr, als Muse ihren Partner zu beflügeln, geistig zu befruchten, um auf indirekte Weise an seinen Schöpfungen teilhabend ihre Ganzheit zu erfahren. Die Psychologie - obschon eine Beziehungswissenschaft - ist von Männern dominiert. Die Persönlichkeitsbeurteilung entspricht männlichen Norme, ihre Kriterien weisen Frauen leicht als »defizitär« aus. Medizin, Biologie und Technik gründen auf einem männlichverzerrten Welt- und Menschenbild, und in vielen Kliniken ist die Frau als Patientin und Versuchsobjekt den Männern ausgeliefert. Künstlerische, literarische Werke von Frauen wurden bis vor kurzem mehrheitlich ignoriert, und berühmte Architektinnen lassen sich noch jetzt an einer Hand abzählen. -146-
Gustav Mahler verbot seiner ebenfalls komponierenden Frau Alma nach der Verheiratung weitere Kompositionen. Ihr Beruf war fortan, als liebende Gattin ihren Mann glücklich zu machen. »Gelehrte und künstlerische Frauen sind das Ergebnis der Entartung. Nur durch Abweichung von der Art, durch krankhafte Veränderungen kann das Weib andere Talente als die zur Geliebten und Mutter befähigenden erwerben...« schrieb Möbius 1907. Heute mag uns das erstaunen. Aber 1987 (!) verkündete der Gynäkologe Kurt Klemm: »Die Uraufgabe des Weibes ist schlechthin die Erhaltung der Rasse und der Art. Demzufolge ist die Nichtreproduktion des Weibes ein pathologischer Zustand, und was pathologisch ist, ist zugleich krankhaft, ganz klare Definition« (zitiert nach Coreal987, S. 84). 1993 verbieten Juristen Deutschlands Frauen, über eine Abtreibung selbst zu bestimmen, und aus dem neonazistischen Umfeld stammt folgendes Zitat: »Um den Erhalt des deutschen Volkes zu sichern, müßte jede deutsche Frau durchschnittlich vier Kinder gebären« (Schwagerl, 1993, S. 134). Da wundert es kaum, daß der Papst mit seinen kardinalen Penisträgern die Kinderzahl von Frauen steuert, die fern dem vatikanischen Luxus ums nackte Überleben kämpfen. Slogan: Catholics wanted, dead or alive. Trotz auf dem Papier vollzogener Gleichberechtigung reduzieren Männer das Neutrum »Weib« auf seine Gebärfähigkeit und versuchen mit mehr oder weniger System, Frauen vom öffentlichen Raum fernzuhalten, die weibliche Konkurrenz auszuschalten. Maja Nadig (1984) meint, daß Frauen noch immer »aus der öffentlichen Kultur, in der Entscheidungen gefällt werden und ›Geschichte gemacht wird‹ , ausgeklammert werden... Blaustrumpf, Mannweib und Lesbe werden als Bannsprüche verwendet, um die Frau an ihrem legitimen Machtanspruch und an der Rivalität mit dem Mann zu hindern« (S. 49-53). Zur Aggressionshemmung erzogen, vermögen viele Frauen -147-
die kulturelle Barriere nicht zu sprengen. Sie wirkt von innen weiter. Mit dem Mythos von seiner Überlegenheit gelingt es dem Mann, seinen Herrschaftsanspruch aufrechtzuerhalten. Eine Form von Gewalt, die mithilft, die Hälfte der Menschheit zu unterdrücken. Was zu einer menschlichen Ganzheit gehört, wird durch die Rollenzuschreibung aus einseitigmännlicher Optik auf zwei Geschlechter verteilt. Unsere Medien spiegeln täglich diese Zweiteilung. Die Tagesschau zum Beispiel wählt aus einer unübersichtlichen Fülle von Ereignissen jene, die patriarchale Werte verkörpern: Kriege, sportliche Wettkämpfe, Wahlschlachten. Die Männerwelt besteht aus Siegen und Niederlagen, Herrschern und Abhängigen. Die Opferrolle wird von den Frauen übernommen. Sie werden zu Flüchtenden, Kriegsversehrten, trauernden Witwen und Müttern von Gefallenen. Selbst im Sektor Kultur dominieren Männer als Dirigenten, Regisseure, Filmer, Choreographen. Frauen musizieren, spielen, tanzen unter ihrer Leitung. Ausnahmen bestätigen die Regel. Männer sagen, wo's lang geht.
Lieber tot als Macht los Nach der Zerstörung des Matriarchat: »Der Mann ist jetzt nicht mehr integriert in seine Sippe, er... kommt waffenklirrend daher, als Eroberer mit seinen Kriegerhorden, er erobert, unterjocht und befiehlt mit lauter Stimme.« Heide Göttner-Abendroth, 1992
Neuropsychologen haben herausgefunden, daß die Trennung der Hirnhälften bei weiblichen Gehirnen weniger ausgeprägt ist -148-
als bei männlichen. Das Corpus callosum, der sogenannte Balken, der die Hirn-Hemisphären miteinander verbindet, ist bei Frauen dicker, weil er mehr Nervenfasern enthält. Zwischen der rechten Hälfte, die für Bilder, räumliches Denken, Träume, Irreales und für Emotionales zuständig ist, und der abstrakten, sprachlichen, linken Hemisphäre entsteht eine größere Durchlässigkeit. Deshalb sei angeblich alles, was Frauen denken, von Emotionen überlagert. Männer hingegen könnten, dank ihrer größeren Lateralität, strenger zwischen Emotionen und Ratio trennen, seien daher in ihrer Logik nie durch daherschwappende Gefühle irritiert. Diese anatomische Verschiedenheit kann verständlich machen, warum manchen Männern, wenn es um Ideen geht, Leben - vor allem das Leben anderer - weniger zu bedeuten scheint als die Verteidigung einer Ideologie. Vordergründig geht es um Religion oder Vaterland. Dahinter verbirgt sich, mehr oder weniger getarnt, der männliche Machttrieb. Mann wehrt sich für die Wahrheit, das Recht, das Gesetz. Für einen abstrakten Begriff. Keine Tränen trüben den Feldherrenblick, Mitleid mit Frau und Kind ist ausgeschaltet. Des Mannes rechte Hirnhälfte weiß nicht, was die linke tut. Der schon erwähnte antifeministische Philosoph Schmidhäuser propagierte 1992, daß es die »verdammte« Pflicht des Mannes ist, »nicht nur den Acker zu bestellen,' sondern auch in den Krieg zu ziehen und darüber nachzudenken und mit anderen zu beschließen, was als Recht zu gelten hat und wie die für alle gute Ordnung zu verwirklichen ist« (S. 55). Männliche Arroganz: Nur der Mann kennt die gute Ordnung und muß sie verwirklichen um den Preis von Tod und Zerstörung. Für die Matriarchatsforscherin Heide Göttner-Abendroth ist die patriarchale Gesellschaft krank. Sie sagt: »Wir können es ablesen am Ausmaß von Kriegen, Gewalt, Aufständen und Revolutionen, schnell entstehenden und zerfallenden Weltreichen und dem nicht enden wollenden sozialen Chaos, -149-
das die Geschichte durchzieht« (1991, S. 103). Neue Weltordnungen entstehen auf Schutthalden und Gräbern, und ein Autor wie Schmidhäuser drückt aus, was dumpf in vielen Männerköpfen brütet, nämlich, daß »der Mann vor allem überzeugen oder auch nur imponieren will, durch das, was er ›leistet‹ , was ›ohne eine gewisse Aggressivität nicht möglich ist« (S. 59). Solche Männer können sich eher von menschlichen Regungen als von ihren Ideologien und Ismen trennen. Um sich die Gefolgschaft der Untergebenen zu sichern, werden Begriffe wie Freiheit, Vaterland, Volk geschaffen, Feinde konstruiert und gegen sie mobil gemacht. Fahnen, Nationalhymnen, Landessprachen, Nationalhelden, Wappen, Abzeichen, Uniformen und anderes werden zu Symbolen von Vaterland und Freiheit, zu stark emotionalisierten Werten. Militärmusik erhöht den Kampfgeist, Hymnen verstärken den Medaillenwert an Olympiaden. Fahnen sind Zeichen von Macht und territorialer Aneignung: auf dem Mond, an den Polen, auf staatlichen Gebäuden nach gewonnenen Schlachten. Sozusagen Markierungen mit männlicher Duftnote. Kriege werden zwar geführt »im Namen des Volkes«, »zum Schutz des Volkes«, »zur Verteidigung des Volkes«, zur »Erhaltung von Recht und Ordnung«, selten aber effektiv zum Schutz der Menschenrechte, häufig aus wirtschaftlichen und meisten, aus machtpolitischen Interessen einzelner. Für ideologische Opfergänge, wie machthabende Männer sie über ganze Völker verhängen, lassen sich Frauen ebenfalls weniger begeistern. Die Geschichte kennt keinen weiblichen Hitler, keinen weiblichen Stalin oder Mao, keinen Dschingis Khan, keine jugoslawische oder afrikanische Kriegsführerin, keine Bossin im Drogenkartell, keine Chefin im Pentagon. Es gibt Soldatinnen, Offizierinnen, aber nicht in den höchsten Rängen. Die Frau ist Mitläuferin, Mittäterin, Initiantin beim Völkermord ist sie nicht. Der Falklandkrieg unter Margret -150-
Thatcher ist im Vergleich zu männlichen Machtdemonstrationen kaum erwähnenswert. Und die gern zitierten Terroristinnen, Bombenlegerinnen und Mörderinnen als Beweis für die Unmenschlichkeit entfesselter Frauen bleiben, gemessen an den Heerscharen gewalttätiger Männer, eine lächerliche Minderheit. Einzelne grausame KZ-Aufseherinnen und tötende Krankenschwestern sind bisher Ausnahmeerscheinungen. Im Zusammenhang mit der Brutalisierung unseres Alltags könnte sich das allerdings ändern. Im allgemeinen sind Frauen und Kinder aber nicht Täterinnen, sondern Opfer, die übermäßig unter den Folgen männlicher Doppelmoral zu leiden haben. Männer wollen die Welt unter ihre Faust kriegen: Waffen müssen beschafft, hin- und hergeschoben und irgendwann eingesetzt werden. Männer kontigentieren Waren und Flüchtlinge, Geld für Militärflugzeuge, die Machtbesessenen legen Akten an, horten Karteikarten, teilen ein in Schwarze und Weiße. Bespitzeln Harmlose, beobachten das Falsche, akribisch notieren sie Unwesentliches, kategorisieren, katalogisieren, systematisieren, theologisieren, fundamentalisieren, wägen ab, werten auf, stigmatisieren, entwürdigen, beleidigen, diskriminieren, eifern, nehmen gefangen, vergewaltigen und töten. Nationalismen sind wieder im Kommen. Jeder Kleinstaat braucht einen Repräsentanten der Macht. Die Welt: ein einziges Gerangel um Spitzenposten. Ein Tanz der Sesselkandidaten, die den einmal ergatterten Sitz freiwillig niemals mehr hergeben. Unter jedem Hintern eine Ideologie, die der Draufsitzer mit dem Leben anderer erhockt. Der Mann: der große Kontrolleur, vom Geheimdienstchef bis zum Kardinal. Die wirklichen Gefahren für die Menschheit werden verharmlost und verschwiegen. Stör- und Grenzphälle jeder Art -151-
sind Teil des Restrisikos, das die Titelträger von heute in der Hoffnung eingehen, es werde erst kommende Generationen treffen. Opfer sind Gaben an höhere Mächte. Auf den Altären der Machtideologie werden Unzählige geopfert: Verkehrstote, Verstrahlte, in Kriegen Getötete. Machtgier tut sich schwer mit dem Einhalten gewisser Grenzen. Kein Tötungstabu verhindert die Wiederaufnahme hundertfach verjährter Stammesfehden. Archaische Rachegelüste rechtfertigen jede Brutalität bis zu Massenvergewaltigung und Genozid. Männliche Machtbesessenheit lebt sich ungehindert aus in ihrer ärgsten Form. Der Kampf um Grenzen und Recht wird geführt bis zur totalen Zerstörung. Durchschnittene Kehlen, vergewaltigte Frauen, Kinder mit fehlenden Gliedern und zerrissenen Herzen. Töten eine Sucht. »Wenn du einmal drin bist im Ganzen, dann kommst du nicht mehr raus«, sagt Iwan, der junge Kroate, in einem Interview. Solange Machthaber und Philosophen Krieg und Gewalt verbrämen als unerläßlich zur Herstellung von Ordnung und Gerechtigkeit, ist es nur logisch, daß Jugendliche mit Feuer, Messer und Baseballschläger bekämpfen, was auch ihre Weltordnung stört: Behinderte, Andersdenkende und Andersaussehende.
Männermoral, dehnbar wie Kaugummi »Das kommt daher, daß sie Hornhaut an den Fingern haben vom Geldzählen, und sie betrügen mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der sie atmen, so daß -152-
sie einfach betrügen müssen, auch wenn es sie etwas kostet. Sie haben die erstaunlichsten Dinge erfunden, Telephon, Telegraphie, sogar drahtlos, damit sie (die Männer) sich gegenseitig betrügen können...» Ruth Berlau, Schriftstellerin, Lebensgefährtin von Bertolt Brecht Männer setzen Wert-Maßstäbe. Sie errichten philosophische Systeme, als Gesetzgeber und Ordnungshüter hängen sie weiblichem Rechtsempfinden und fraulicher Ethik das Etikett »unterentwickelt« an. Lawrence Kohlberg, ein Moraltheoretiker, untersuchte anhand von Situationen, welche verzwickte moralische Entscheidungen fordern, die Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit. Ein Beispiel: Ein Mann hat kein Geld, seiner todkranken Frau ein Medikament zu kaufen. Dilemma: Soll er in der Apotheke das Heilmittel stehlen und seiner Frau das Leben retten oder sich auf legalem Weg um die Medizin bemühen und allenfalls den Tod seiner Frau in Kauf nehmen? Kinder und Frauen würden häufiger als Männer in die Apotheke einbrechen. Kohlberg verglich die Antworten auf solche an den Haaren herbeigezogenen Grenzsituationen und teilte sie in sechs Kategorien ein, die er »Stufen des moralischen Urteils« nennt. Zuunterst ist die kindliche Ebene, weiter oben thront die männliche Moral: bedingungslose, sture Gesetzestreue auf einem überparteilichen Niveau. Männliche Prinzipienhaftigkeit postuliert gleiches Recht für alle, auf der Basis souveräner Rationalität und universell gültiger Urteilsbildung. Sie ist neutral, sachbezogen, unparteilich. Affekte unterstehen der rationalen Kontrolle. Die Frau dagegen ist auf einer niedrigeren Stufe stehengeblieben. Sie bezieht nach Kohlberg ihre Zweite-Klasse-153-
Moral aus der Sorge um andere, aus Rücksichtnahme auf deren Urteile, dem Streben nach Anerkennung und Vertrauensbildung. Frauen fühlen sich verpflichtet, die Schwierigkeiten dieser Welt konkret anzugehen und den Menschen in ihrer jeweiligen Situation zu helfen. Gnädig räumt Kohlberg ein, die »moralische Halbwüchsigkeit« des weiblichen Geschlechts könne durch seinen Ausschluß aus maßgeblichen Schlüsselpositionen der Gesellschaft erklärt werden. Im Zug der Emanzipation würden die Frauen moralisch reifen. Einerseits wurde die Frau seit Jahrhunderten auf die Rolle der beziehungsfähig Fürsorglichen festgelegt, andererseits wird ihr diese Aufopferungsbereitschaft nun zum Vorwurf gemacht. Die amerikanische Psychoanalytikerin Jean Bakes Miller verlangte schon 1976 die Anerkennung der »besonderen Bindungsfähigkeit« der Frauen als Ausgangspunkt einer anderen, fortgeschritteneren Einstellung zum Leben. Diese Eigenschaft hat aber offensichtlich in unserer Gesellschaft und bei männlichen Psychologen keinen Stellenwert. Nur in einer Welt der Härte, des Egoismus und der Rücksichtslosigkeit können Mitleid und Fürsorge mit moralischer Schwäche gleichgesetzt werden, mit Stehenbleiben auf einer kindlichen Entwicklungsstufe. Die an Frauen delegierten sozialen Eigenschaften müßten nicht diskriminiert, sondern auch Männern gelehrt werden. Statt den jungen Frauen zu gratulieren, die sich zunehmend aus ihrem Empathienetz freistrampeln, sich männliches Durchsetzungsvermögen aneignen, sollte im Sinne von Miller das weibliche Verständnis von Moral gesellschaftlich aufgewertet werden. Geschieht diese positive Neubewertung nicht, trägt Millers Betonung einer besonderen Frauenmoral zur Verfestigung der Rollenunterschiede bei und kommt damit dem patriarchalen Denken entgegen. -154-
Nie wurde in den vergangenen Jahrhunderten von Männerseite der Dialog mit den Frauen gesucht, und noch heute ist er eher die Ausnahme. Bei Aristoteles hieß es: »Dem Weibe bringt das Schweigen Zier«, bei Paulus: »Das Weib schweige in der Gemeinde«. Frauen und Kinder sollen von den Männern zwar gesehen, aber nicht gehört werden. Männer legen die Zweigeschlechtlichkeit zu ihren Gunsten aus. Noch immer bestimmen sie über Gut und Böse, was sich je nach Zweck und Nutzen sehr eng oder sehr weit fassen läßt, mit anderen Worten: Trotz vorgegebener Objektivität ist MännerMoral nach allen Seiten dehnbar wie Kaugummi und wird, hat mann den Geschmack daran verloren, ausgespuckt. Männliche Überheblichkeit untersagt Frauen - aufgrund der ihnen zugeschriebenen besonderen Form der Hinwendung zum Mitmenschen - gewisse männliche Verhaltensweisen als »unweiblich«. Konkurrenz, Egoismus und die Unterdrückung des Gefühls wird nur Männern zugestanden und ihre Faszination an Gewalt mit ihrem »Hang zum Todestrieb« (Iris Young) erklärt. Wehe, wenn Frauen sich in Notwehr brutal gebärden. Schlagende, männliche Geschlechtsteile attackierende Frauen gelten als widerlich, da werden »Weiber zu Hyänen«. Von Männern gefesselte Frauen erregen dagegen das phallische Lustzentrum. Es gibt kaum etwas, vor dem Männer zurückschrecken, wenn es nur Macht, »Eintagsruhm«, das Eingehen in die Lokal- oder Weltgeschichte oder Unsterblichkeit des Namens verspricht. In den meisten Fällen sind die Ziele männlicher Aktionen zusätzlich mit finanziellen Annehmlichkeiten verbunden. Denn hat der Mann es nicht, wie Schmidhäuser fragt, »eben doch tatsächlich ›nötiger‹ , ›existentiell‹ nötiger, etwas allgemein und objektiv Vorweisbares zu leisten?« (1991, S. 52). Die existentielle Notwendigkeit umfaßt außer ehrbarer Arbeit -155-
auch »objektiv Vorweisbares«, das der moralischen Rechtfertigung bedarf. Von der kleinsten krummen Tour bis zu kriegerischen Eroberungen gelingt es der männlichen Kaugummi-Moral, eine Legitimation zu finden, die sowohl ein Mini-Delikt als auch ein Kapitalverbrechen rechtfertigt.
In den Fantasien zeigt sich das Gesicht der Welt als Totenkopf »... diese drastische Enttabuisierung, mit der eine Brutalisierung einhergeht, scheint mir beispiellos in der Kulturgeschichte.« Hans Peter Duerr, Ethnologe Gewalt und Sexualität waren schon immer ein Paar Stiefel: Männerstiefel. Von de Sade bis zur heutigen künstlerisch hochwertigen, aber moralisch fragwürdigen Gewalt-Avantgarde in Film und Gegenwartskunst zeigt sich dies immer unverhüllter. Folgendes ist exemplarisch für unsere Zeit der Exzesse und der Schamlosigkeit: »Ein japanischer Student, der in eine junge Schwedin verliebt war, hatte sie in Stücke zerteilt und jeden Abend ein Stück davon gebraten und verzehrt. Er wurde für unzurechnungsfähig erklärt und freigesprochen - und in mehrfachem Sinne befreit: vom Gefängnis und von seinem Wahnsinn« (Neret, 1992, S. 145). Der Mann gelangte durch das Ausleben seiner Obsessionen, durch einen zweifachen Tabubruch (Mord und Kannibalismus) zu geistiger und seelischer Gesundheit. Diese authentische Geschichte steht in einem Fachbuch über ›Erotik in der Kunst‹ . Sexuelle Visionen, die an Pornographie erinnern, gehören zu -156-
den beliebten Motiven in Malerei und Plastik. Das offene Ausleben von sadistischen Gelüsten, die Teile unseres Trieblebens sind, wird den meisten Menschen zum Glück von ihrem immer noch funktionierenden Gewissen untersagt. In Träumen und Fantasien jedoch inszeniert sich das Grauen, zeigt die Welt ihr wahres Gesicht. Künstler vermögen dreidimensional zu gestalten oder auf die Leinwand zu bannen, was sie umtreibt. Dabei entpuppen sie sich als unverbesserliche Machos, »die der Frau nicht das Recht zur Initiative zugestehen, ebensowenig wie das Recht, ihren Willen zu bekunden, Entscheidungen zu fällen, zu handeln. Vielmehr ist die Frau, die zu allen Zeiten und zu aller Gefallen die beherrschende Rolle in den plastischen Künsten gespielt hat, nur ein Objekt des Begehrens gewesen, eine aufblasbare Puppe, mit der der Künstler machen konnte, was er wollte... Der Ausbruch der Moderne hat ihr kaum Gewinn gebracht. Vor allem hat man sich daran gemacht, jenen Körper nach und nach zu zerstören, der als Inbegriff der Schönheit galt, man hat ihn in schematische Darstellungen umgewandelt, ihn vereinfacht, verlängert, abgeflacht, ihn aufgeblasen oder zur Explosion gebracht. Man schwankt hin und her zwischen den Fadendünnen und den Aufgedunsenen, dem Monster und dem Biest« (S. 10). Der Kunsthistoriker Gilles Neret, von dem dieser Text stammt, sieht in den Zerstückelungen und Überschneidungen, den losgelösten Geschlechtsteilen, abgeschnittenen und transplantierten Brüsten auf den Bildern zeitgenössischer Maler einen Sex, der zum Apparat geworden ist. Die Verdinglichung der Frau, gesehen durch die männliche Brille, zeigt das Unverbindliche von Sex und Zärtlichkeit, eine gewalttätige Kultur, in der sich die erotische Aggressivität von Werbung und Überangebot - auch an Reizen - in ein Instrument zur brutalen Zerstörung des weiblichen Körpers wandelt. Aus diesen Destruktionen starrt das männliche Begehren nach dem total unterwürfigen Weib, in seine Teile zerlegt, -157-
ungefährlich und bis in die letzte Schamlippenfalte beherrschbar. Das erotisch Geheimnisvolle ist verbannt aus einer Welt, in der die Vereinzelung in der Anonymität von Autisten sich immer mehr in selbstbefriedigenden Handlungen niederschlägt. Gewalt macht geil. Liebe ist out. Der Narziß ergießt seinen Samen über gefesselte, pralle Leiber; Objektfrauen, zu Stühlen und Tischen entwürdigt, stehen anstelle einer menschlichen Begegnung. Der große Masturbator blickt ohne Hoffnung auf ein Morgen.
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VII. My home is my castle - Der Keim der Gewalt in der Familie
Familienmythen als Tarnkappe für Gewalt Ein Mythos ist ein »anschaulich erzählter, für wahr gehaltener Bericht über eine in der Vorzeit spielende Handlung mit übermenschlichen ›Akteuren‹ in erklärender und beglaubigender Absicht vorgetragen«, lautet eine der zahlreichen Definitionen im ›Historischen Wörterbuch der Philosophie‹ (1983). Der Epoche seiner Entstehung verdankt der Mythos sein Weltbild. Seinem Wesen entspricht daher ein archaischer Zeitbezug. Die großen Mythen der Menschheit sind mit den Religionen der Völker verbunden, zum Beispiel die Schöpfungs- und Weltentstehungsmythen und die klassischen Mythen der Antike. Mythische Ereignisse beinhalten verbindliche Beispiele für Handlungsmuster in ähnlichen Situationen und stellen durch Wiederholung des mythischen Archetypus, einer Ursituation, den Menschen in eine »Zeit außerhalb der Zeit«, wie es in der Einleitung zu einem indianischen Mythos heißt. Das Mythische zeigt sich auch in den politischen Mythen von Kommunismus und Nationalsozialismus und läßt sich oft, besonders seit dem Zweiten Weltkrieg, nur schwer vom Ideologiebegriff abtrennen, was sich im Blut-und-BodenMythos, im Mythos der nordischen Rasse und ähnlichem ausdrückt. Ideologisch geprägt sind auch die Mythen der modernen Psychologie, welche - seit Freuds Mythendeutungen als Sprache des Unbewußten - von der Populärpsychologie übernommen werden. Dazu zählen die unausrottbaren -159-
Familienmythen, die als Stütze des männlichen Herrschaftsanspruchs dienen. Sie verdanken ihre Entstehung dem Bürgertum des späten 19. Jahrhunderts, sind dem Familienideal jener Zeit verhaftet und können falsche Vorstellungen und überholte Leitbilder erzeugen. Ein bevorzugtes Thema mancher Mythen ist die Sühne für ein Vergehen. Die Erlösung anderer (Prinzessin oder König) von einem Fluch oder einer Bedrohung, die nicht dem (meist männlichen) Helden gelten, kann durch ein Opfer erfolgen. Auch die Familienmythen haben ihre Opfer: die Mütter. Doch im Gegensatz zu den Heldenopfern der Märchen erringen sie als Dank für ihre Aufopferung weder Reichtum noch Ruhm oder Krone. Die Anerkennung unserer phallokratischen Gesellschaft besteht in unentgeltlichem 24-Stunden-Job und Vorwürfen bei allfälligem Mißlingen der schwierigen Erziehungsarbeit. Besonders verhängnisvoll haben sich der »Die FraugehörtinsHaus-Mythos«, der »Mutteristanallemschuld-Mythos« und die männerschonende Mär vom Inzesttabu ausgewirkt. Nur unter der Tarnkappe einer pseudoheilen Familienwelt konnten bis vor wenigen Jahren Kinder geschlagen und vergewaltigt werden, ohne daß die Mißhandlungen nach außen drangen. Kindern glaubte man eh nicht, auch Frauen waren an Prügeln selber schuld. Der Sozialwissenschaftler Robert Hettlage schreibt: »... wenige Institutionen (haben; E. Z.) so zur Idealisierung eingeladen wie die Familie. Weil sie sich wegen ihrer besonderen Funktionen als ›natürlicher‹ , ›primärer‹ und affektiver Schutzraum dafür geradezu anbietet, wird die Familie häufig als Gegenwelt zur Gesellschaft hochstilisiert« (Psychologie heute, 3/93, S. 21). My home is my castle - gewiß ein Satz aus Männermund. Mein Heim, ein Schloß, eine Burg. Wehrtürme, Schießscharten und Zugbrücken erscheinen vor unserem inneren Auge. Zutritt für Unbefugte verboten, verwehrt mit Gewalt. Männergewalt. Was innerhalb der Mauern lebt, ist Herrschaftsbesitz. Am besten -160-
gehütet und geschützt: das Familiengeheimnis, verborgen für Außenstehende, ein Tabu. Krankhafter Jähzorn, Gewalt gegen Kinder, gegen Eltern, ein schwuler Sohn, eine magersüchtige Tochter, Mutters Bulimie, Seitensprung des Ehepartners. Drogensucht, Alkohol, Inzest und Aids: jede Abweichung vom sogenannt Normalen kann, so sie verleugnet wird, zum Familiengeheimnis werden, und eins der häufigsten ist die Anwendung von Gewalt in verschiedensten Schweregraden. Wegen dem Mythos von der angeborenen Mutterliebe leiden unzählige junge Frauen unter unnötigen Selbstzweifeln, wenn sie in den Wochen nach der Geburt eine Schwangerschaftsdepression befällt, sie sich als Gegenteil einer glücklichen Mutter fühlen. Ihnen fällt es anfänglich schwer, eine positive Beziehung zum Kind zu finden. Sie haben die Schwangerschaft als Bereicherung erfahren und empfinden nach der Geburt sehr ambivalente Gefühle für das Neugeborene. Im allgemeinen schweigen Frauen über diese sie beunruhigenden Empfindungen, die sie - aufgrund des Mutterliebe-Mythos - als unnatürlich ansehen. Sie fühlen sich leer, trauern der totalen Symbiose mit dem Kind in ihrer Gebärmutter nach. Gleichzeitig entwickeln sie Schuldgefühle. Schon früh beginnt, was die Zuschreibung der mütterlichen Allein-Verantwortung für kindliches Fehlverhalten bewirkt: eine unsichere, zwischen schlechtem Gewissen und Wut hin- und herpendelnde Mutter. Der Mutteristanallemschuld-Mythos hält sich, obschon sich Mütter gegen die generelle Schuldzuweisung zur Wehr setzen. Untersuchungen an schwer gestörten Kindern in den fünfziger und sechziger Jahren haben die Qualität der frühen MutterKind-Beziehung in Zusammenhang mit den psychischen Störungen der Kinder gebracht. Kritiklos werden heute die Befunde dieser Studien zur Erklärung jeder psychischen Auffälligkeit herangezogen, vor allem in populärwissenschaftlichen Schriften. Die psychologische Fachliteratur beherbergt ebenfalls -161-
weiterhin seltsame Definitionen. Schauerliche Zuschreibungen sind noch nicht aus allen Lehrbüchern verbannt. So werden als »schizophrenogen« Mütter bezeichnet, die durch emotionale Kälte und sich widersprechende Botschaften, sogenannte Double binds (»ich liebe dich« im Tonfall von »geh mir aus den Augen«), ihre Kinder in den Wahnsinn treiben. »Darüber hinaus wurden diese Mütter auch als abweisend, überprotektiv, sich selbst aufopfernd, unzugänglich für die Gefühle anderer, rigide und sexuell verklemmt und vor Intimitäten zurückschreckend« charakterisiert (aus Davison/Neale, Klinische Psychologie, 1984, S. 375). Mütter machen ihre Töchter magersüchtig, sie sind schuld, wenn die Kleinen bettnässen, Nägel kauen, klauen, in der Schule versagen, Drogen nehmen, aber auch, wenn ihr Nachwuchs sich mit vierzig zum dritten Mal scheiden läßt - und bald wird womöglich ein Mitglied (männlich, politisch rechts angesiedelt) irgendeiner Kommission über Jugendfragen herausfinden, Mütter hätten das jugendliche Gewaltpotential verursacht, durch ihre Berufstätigkeit zum Beispiel. Die heute übliche Kleinfamilie erhielt ihren privaten »Stellenwert erst im Laufe des 19. Jahrhunderts, als die sogenannte ›bürgerliche Familie‹ entstand. Die Kernfamilie zog sich aus dem größeren Familienverband zurück und schottete ihr Privatleben von der Öffentlichkeit ab« (Ursula Nuber, 1993). Es war die Familienform der wohlhabenden Schichten. »Für die Mehrheit war eine eigene Familie, in der die Aufgaben zwischen Mann und Frau strikt zwischen ›drinnen‹ und ›draußen‹ aufgeteilt waren, unerreichbar.« Nach Hettlage und Nuber erlebte die »Familienidylle« ihren Höhepunkt in den 50er Jahren. Die nostalgisch verklärten Erinnerungen lassen vergessen, daß in jenen Jahren die »grünen Witwen« entstanden und Körperstrafe die am meisten angewandte Strafform war. Die Rezession begünstigt den Muttermythos. Das Patriarchat delegiert Sorge, Pflege, Aufzucht der Kinder und Haushalt -162-
wieder an die Frau. Biologisch allein ist die Forderung nicht mehr begründbar: Frau gehört an den Herd, zum Kind. Eingesperrt in den Betonblock, Blick ins Grüne, als Ersatz für Nest und Höhle. Nahrung sammelt sie im Supermarkt, trifft andere Verbannte, und alle singen das Lied vom Familienglück im verrauchten Cafe, wo sie sich auf einen Schwatz zurückziehen, den Säugling im Umhängetuch, das Kindergartenkind in Rufnähe, ein Schulpflichtiges bei seinen Freunden vor dem Videorecorder oder auf der Straße. Im Einkaufskorb das gesammelte Gut: Fleisch für den erschöpften Mammonjäger, Gesundes für die Kinder, für die Mutter Valium. Die nimmt auch Bachsche Blütentropfen, doch manchmal verhilft Chemie rascher und nachhaltiger zur rosaschimmernden Familienoptik. Das Dasein der von der Gesellschaft ins Abseits gedrängten Mutterglucke wird zeitweilig getrübt durch das Tag-und-NachtMutter-Syndrom: Haß auf sich selbst, Angst, als Mutter zu versagen, Ausbrüche gegen das Kind bis zu sinnlosem Schlagen und Schuldgefühlen, welche in Selbstmitleid, Selbstverachtung und erneute Wutanfälle umkippen können, ein Teufelskreis, der sich zwischen Aggression und zu starker Fürsorge und Bindung ans Kind bewegt. Schuldgefühle äußern sich oft in Überbetreuung. Die Fassade der familiären Harmonie ist durch die Offenlegung von Kindsmißhandlung und Inzest im engsten Familienkreis am Abbröckeln. Eine Diskussion ist aufgebrochen über ein Thema, das bisher als Tabu gewahrt blieb. Sexuelle Ausbeutung und Gewalt hängen aufs engste mit männlichen Machtansprüchen zusammen. My home is my castle bedeutet für viele Menschen ein Heim wie ein Potemkinsches Dorf. Fassade, menschliche Leere und die Tünche der heilen Familie zur Tarnung der mehr oder weniger raffinierten Repression. In den Wohnungen und Eigenheimen jeder sozialen Schicht. -163-
Der Riß in der Fassade: Gewalt gegen Kinder und die Mär vom Inzesttabu Mißhandlungen, zum Beispiel in Form von Sklaven- und Fabrikarbeit, Pflegekinderelend und schwarze Pädagogik haben, nebst Kriegen und Hungersnöten, das Leben von Kindern schon immer überschattet. Kinder waren zu allen Zeiten Opfer von Erwachsenen. Eine offensichtliche Realität unserer Zeit ist jedoch die Diskrepanz zwischen Kinderfreundlichkeit einerseits und Ausbeuten von Kindern andererseits, zum Beispiel die weitverbreitete Kinderprostitution, vor allem, aber nicht nur, in Drittweltländern. Daß Kinder auch im engen familiären Umfeld Opfer von Gewalt und sexuellen Übergriffen werden, ist erst in jüngerer Zeit durch verschiedene literarische Zeugnisse ins Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit gelangt. Betroffene, das heißt erwachsene Frauen, wagten nach Jahren des Schweigens und Leidens erstmals, ein gesellschaftliches Tabu zu brechen. Seither häufen sich die Meldungen über Fälle von inzestuöser und anderweitiger Ausbeutung von Kindern. Noch immer jedoch sind diese Handlungen durch eine Mauer der Abwehr, des Schweigens oder der Bagatellisierung geschützt. Die nachweisbar kinderfeindlichen Strukturen in Familie und Gesellschaft begünstigen das Vertuschen und sind Ausdruck einer außerordentlichen psychischen Verdrängung, die auch Mißhandlungen in der eigenen Kindheit ausblendet. Nicht zu übersehen ist der Zusammenhang zwischen dem jeweils relevanten Menschenbild und den daraus resultierenden -164-
Normen, Wertvorstellungen und dem Stellenwert der Gewalt in der Gesellschaft, vor allem auch in der Familie und gegen Frauen. Trotz Kohlbergs Behauptung, Männermoral sei objektiv, herrscht heute in moralischen Fragen eine nie dagewesene Indifferenz -Werbung, Politik, Film, Musik, Kunst: erlaubt ist, was schockiert. Kein normaler Mensch wird wohl ernsthaft die Inzest-Schranke abschaffen wollen, aber ein Buch wie ›Der Babyficker‹ wird ausgezeichnet, und - ein weiteres Beispiel Pädophile können öffentlich am Bildschirm um Verständnis werben. Das Thema Babyficken wird, da dem Schriftsteller in der Fantasie alles erlaubt und beinahe jedes Thema um Liebe und Picken schon ausgewalzt ist, als provozierende literarische Sichtweise honoriert, als gedanklicher Balanceakt auf dem Seil des guten Geschmacks. Auf männlichzynische Weise wird ein pathologischer Gedanke durchgespielt. Was als sexueller Tagtraum zur Aggressions-Entlastung dienen könnte, wird, tausendfach verbreitet, zum Indiz einer Verletzung kindlicher Würde und zum Beweis, daß Kinder zum Beispiel weniger schützenswerte Wesen sind als Tiere, denn ein Roman »Ich ficke Hunde« hätte bestimmt massive Reaktionen bei Tierfreunden ausgelöst. Kinderporno bleibt kinderentwürdigend, auch wenn er der Vorstellung eines Schriftstellers entspringt. Worin solche Fantasien gipfeln können, hat die Vergewaltigungswelle auch von Kindern im Jugoslawienkrieg gezeigt. Florence Rush schreibt in ihrem Buch ›Das bestgehütete Geheimnis‹ , sexuelle Ausbeutung von Kindern sei eine jahrtausendealte Tradition. Schon in den alten Hochkulturen habe man Kinder sexuell mißbraucht. In unserem Kulturkreis galt das Phänomen der Kindesmißhandlung noch vor 30 Jahren als eher seltene Tat Krimineller und Geisteskranker, gleichzeitig wurde und wird Gewalt gegen Kinder noch lange als Selbstverständlichkeit -165-
betrachtet, besonders wenn sie sich in elterlichen Strafmaßnahmen ausdrückt. Der Begriff »Inhaber der elterlichen Gewalt« illustriert dies überdeutlich. Augenfällig strafbar sind Handlungen, die ein Kind körperlich schwer gefährden oder verletzen, nicht weniger unheilvoll sind aber feindliche oder ablehnende Ausdrucksweisen und die emotionale Vernachlässigung. Nach Schätzungen wurde jeder dritte bis vierte Erwachsene als Kind einmal sexuell belästigt, am häufigsten als Inzest in der eigenen Familie. Chronische Ausbeutung führt bei vielen Kindern zu schweren psychischen Störungen, die später eine Paarbeziehung und das Verhältnis zu den eigenen Kindern nachhaltig belasten können. Allein in der Schweiz werden, wie Fachstellen vermuten, jedes Jahr 45 000 Kinder sexuell mißbraucht. 1987 wurden im Kanton Zürich lediglich zwei Fälle von Kindsmißhandlung gemeldet, jährlich werden aber im Zürcher Kinderspital 50 bis 60 Kleinkinder mit Verletzungen eingeliefert, deren Art auf Gewalteinwirkung hinweist. Bis 1897 vertrat Freud die Ansicht, sexueller Mißbrauch in der Kindheit könne unter anderem eine Ursache von Neurosen sein. Kurze Zeit später nahm er diese unpopuläre These zurück, indem er die Vergewaltigungsgeschichten seiner Analysandinnen als Fantasieprodukte abtat. Auch beim Begründer der Psychoanalyse: männliche Doppelmoral und arrogantes Verfügen über Frauen, die Freud infantilisierte und deren Anklagen er nicht mehr ernst nahm. Bis heute werden Frauen und Kinder von vielen Männern mit unvorstellbarer Herablassung behandelt, mit einer fatalen Mischung aus Gleichgültigkeit, Verachtung und sexueller Besitzgier, die Liebe genannt wird, obschon sie im Ausleben von Überlegenheit oder Abhängigkeit besteht. -166-
Inzest und Gewalt, blick- und schalldicht abgeschirmt durch undurchdringliche Mauern, welche dem Heim das Schloßähnliche verleihen und dem Hausherrn die Macht eines antiken Tyrannen. Wie es zu diesem Fehlverhalten vor allem von Vätern gegenüber ihren Kindern kommt, kann psychologisch mit so unterschiedlichen Ansätzen wie etwa den folgenden erklärt werden: Norbert Bischof, Professor für Psychologie an der Universität Zürich, weist in seinem Buch ›Das Rätsel Ödipus‹ (1985) die Bedeutung einer primären und einer sekundären Vertrautheit für das Gelingen einer erwachsenen Partnerschaft nach. Sein Anliegen geht dahin, »... deutlich zu machen, daß die Mutterbindung des Kindes und die eheliche Partnerschaft vom Typus her verschieden sind. Dies bekundet sich vor allem darin, daß die Vertraulichkeit, die sich im Dunstkreis der primären Nestwärme entwickelt, eine spätere sexualerotische Beziehung verhindert«, respektive verhindern sollte. Die sekundäre Vertrautheit verbindet in der Regel Individuen, die einander ursprünglich als Fremde gegenübertreten. Für die Liebe zwischen Mann und Frau gilt daher, »daß sie auf dem ›ruppigen Ast der Aggression (Konrad Lorenz) erblüht und diese Abstammung nie ganz verleugnen kann« (S. 168). Die sekundäre Bindung ist »die Synthese von Fremdheit und Vertrautheit, von Erregung und Sicherheit, von Intimität und Autonomie« (S. 497), also eine der großen Lebensaufgaben des Menschen. Eine sexuell und menschlich befriedigende Paarbeziehung kann aber nur gelingen, wenn zuerst eine Lösung aus der primären Bindung erfolgt, was in einer Gesellschaft der verwischten Generationsgrenzen und der fehlenden Schranken der Initiation erschwert wird. Bischof plädiert für eine Zeit des Alleinseins nach dem Verlassen des elterlichen Nests. Diese Zwischenstufe wird oft übergangen, was bedeutet, daß die »Partner der Aufgabe, autonom zu werden, ausgewichen sind« (S. 497). Das »affektive Modell der primären Bindung« wird in -167-
der Partnerschaft weitergeführt. Nichterwachsene Erwachsene sind keine selbstverantwortlichen Menschen und geraten in mannigfache Schwierigkeiten, wenn sie zusätzlich für ein oft ungeplantes Kind zu sorgen haben. Handgreifliche Auseinandersetzungen zwischen den Eltern, junge Väter, die auf das Kind eifersüchtig sind, überforderte Mütter begünstigen gewaltsame Umgangsformen und körperliche Mißhandlung. Väter, seltener Mütter, suchen Trost und Zärtlichkeitsbeweise bei ihren Kindern. Der Vater, der am kindlichen Penis lutscht, glaubt, sein Kind mit dieser Liebkosung zu erfreuen, denkt er an seine eigene puritanische Erziehung. Schwächere zu dominieren befriedigt außerdem das Machtbedürfnis gerade auch jener Männer, welche noch nie auf eigenen Füßen standen und dadurch zu einem Mangel an Autonomie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung neigen. Statt Verantwortung für andere, für ihre Familie zu übernehmen, verlangen sie von ihren Mitmenschen Zuneigung und Bewunderung. Als Grundlage für Inzestvermeidung und Unterlassung aggressiver Triebbefriedigung nennt Sigmund Freud die Kultur. Er definiert Kultur als die Summe der Leistungen und Einrichtungen, die dem Schutz des Menschen gegen die Natur(katastrophen) und der Regelung mitmenschlicher Beziehungen dienen. So verstanden wird Kultur in die Persönlichkeitsentwicklung integriert als Überich, das uns daran hindert, zur Erlangung eigener Befriedigung aggressiv und sexuell enthemmt zu reagieren. Das Böse, das man nicht tun soll, bewirkt einen Liebesverlust und wird aus Angst vor diesem Defizit vermieden. Schuldgefühle warnen vor der aggressiven Tat. Triebverzicht durch Kultur ist also Teil des Über-Ichs. Die Befriedigung der Lust mittels primitiver Selbstdurchsetzung wird durch das Bedürfnis nach menschlicher Gemeinschaft in Schach gehalten. Die gesellschaftliche Sicherheit wird durch eine Einbuße an Lust erkauft. Diese Eingrenzung löst in der -168-
Person einen Konflikt zwischen Triebstreben und Selbstbewahrung aus, der sogar neurotische oder pathologische Züge annehmen kann. Geschlagene Frauen und Kinder in überfüllten Frauenhäusern sind Ausdruck männlicher Sprachlosigkeit, männlicher Selbstentgrenzung, einer Selbstbeherrschung, welche die Grenzen ihrer eigenen und der ihnen anvertrauten Körper überschreitet. My home is my castle enthält nebst heimeliger, aber verlogener Idylle alles, was sich an Abscheulichem auf intimem Raum realisieren läßt. Zwischen einem vorgestellten Vergewaltigungsakt und brutaler Umsetzung in der Realität liegt Freuds kulturelle Hemmschwelle. Die Ausführung jeder menschlichen Tat beginnt auf der imaginären Probebühne und verdinglicht sich über die Sprache, auch über die literarische. Nach dem Linguisten Benjamin Whorf formt die Sprache unser Denken und dadurch unsere Wirklichkeit. Brutale Sprache mit frauenoder kinderverachtenden Metaphern fördert abwegiges Verhalten und eine Minderbewertung des Weiblichen und des Kindes. Ein Beispiel dafür ist der Begriff »sexueller Mißbrauch«. Er beinhaltet einerseits die Verharmlosung eines schweren Delikts, andererseits suggeriert Miß-Brauch das positive Brauchen eines Kindes, das heißt das Verfügendürfen über einen anderen Menschen. Die Ärztin Cecile Ernst hat einige Risiko-Bedingungen zusammengefaßt, welche gewaltauslösend auf Eltern wirken können: - soziale Isolation der Mutter - angstvolle, selbstunsichere Mütter - alkoholkranke Väter - Eltern, die selbst als Kinder mißhandelt wurden. -169-
Insgesamt läßt sich keine typische »mißhandelnde Persönlichkeit« bei Eltern nachweisen. Hingegen seien gehäuft »schwierige« Kinder unter den mißhandelten: Risikokinder, Frühgeburten, nach der Geburt von der Mutter getrennte. Eine frühe Bindung an die Mutter wurde dadurch verhindert und scheint für das höhere Mißhandlungsrisiko mitverantwortlich zu sein (Tages-Anzeiger, 31.8. 87). Peter Strunk (1989) und andere Autoren sehen einen weiteren Aspekt, der Mißhandlungen begünstigt: die Rollenumkehr oder Parentifizierung des Kindes. Manche Eltern sind unfähig, ihr Kind als schwach und hilflos anzunehmen, sie fallen auf durch eine fehlende Rollenabgrenzung innerhalb der Familie. Vätern, die ihre Kinder sexuell ausbeuten und mißhandeln, fehlt es oft an Selbstachtung: aus diesem Defizit heraus üben sie Macht aus über Abhängige. Niemand aber ist abhängiger als ein eigenes Kind. In jedem Fall von Gewalt und Ausbeutung wird dem Kind ein schweres Trauma zugefügt. »Zentral ist dabei die Verpflichtung zur Geheimhaltung, die das Kind zur Sprachlosigkeit, Wehrlosigkeit und Hilflosigkeit verpflichtet«, schreibt J. Rutgers (1990). Das Kind wird zum verfügbaren Objekt durch permanente Fremdbestimmung. Täter und Opfer bedürfen daher dringend fachkundiger Hilfe und Unterstützung, um ihr Schweigen brechen zu können. Nur so kann beiden geholfen werden. Diese Schweigemauer, die mißhandelte Kinder und mißhandelnde Familie umgibt, ist auch ein Produkt der immer noch patriarchalischen Familienhierarchie, obschon inzwischen auch die Mutter als Täterin identifiziert wird und die Rolle des Opfers sich nicht, wie angenommen, ausschließlich auf Mädchen beschränkt. Die kindliche Sexualität ist noch sehr selbstbezogen. Ein Kind empfindet jedes Eindringen in seine Intimsphäre als Angriff auf seine Autonomie, ganz gleich wie die Handlungen im Detail aussehen. Dazu gehört auch das Aufdecken von so schäm- und -170-
schmerzhaften Erlebnissen wie Inzest und Mißhandlung durch Fremdpersonen. Kindsmißhandlungen und sexuelle Ausbeutung sind Offizialdelikte und daher anzeigepflichtig. Doch meist besteht zwischen Opfer und Täter eine Abhängigkeit. Dem kleinen Kind bleibt oft keine andere Wahl, als die Lebensgemeinschaft mit dem Täter aufrechtzuerhalten. Seine Familie ist zugleich seine Welt und wird nach außen entsprechend idealisiert. Auch das ältere Kind hat sich kaum soweit von seinen Eltern gelöst, daß es bereit ist, Vater oder Mutter anzuklagen. Der Widerspruch zwischen Angst vor dem Aggressor und einem drohenden Verlust des Zuhauses bei Anzeige des Täters führt bei allen Betroffenen zu einer Leugnung der Tat. Die Familienangehörigen befinden sich in einem Loyalitätskonflikt zwischen Liebe und Verrat. So ist vielleicht zu erklären, daß Mütter oft sehr wohl bemerken, was mit ihren Kindern geschieht, und dennoch schweigen. Die Erfahrung zeigt, daß auf das Aufdecken von Inzest fast immer der Zerfall der Familie folgt. All das und die Tatsache, daß viele Väter ihre mißhandelten Kinder durch massive Drohungen (etwa mit dem Tod der Mutter als Strafe) zum Schweigen zwingen, rückt Verdachtsmomente ins Zentrum. Noch immer wird Inzestopfern, die sich zu einem Bekenntnis durchringen, erst nach mehrmaligem Anlauf geglaubt. Lehrpersonen und alle, die beruflich mit Kindern zu tun haben, sollten bedenken, daß Kindsmißhandlungen auch die Persönlichkeitsentwicklung beeinflussen. Beratungsstellen helfen im Zweifelsfall weiter. Mißhandlung kann sich bei einem Kind ausdrücken in: der fehlenden Fähigkeit, sich zu freuen, schwachem Selbstwertgefühl, Rückzug, unkindlichpseudoerwachsenem Verhalten, Perfektionismus, erhöhter Wachsamkeit und Mißtrauen, Lernund Leistungsstörungen sowie Verhaltensproblemen, die zum Teil auch aus der oft jahrelangen -171-
Vernachlässigung herrühren. Diese kann sogar zu Sprachverzögerung und Wachstumsretardierung führen. Die Kinder sind nicht selten schmutzig und fallen auf durch ungepflegte Kleider. Viele der erwähnten Symptome ließen sich bei Lena feststellen. Obschön beinahe zwölf Jahre alt, wirkte sie körperlich wie eine Neunjährige, als sie das erste Mal zur Untersuchung in eine kinderpsychiatrische Praxis kam. Lena wies Schürfungen an den Beinen auf, die von einem angeblichen Zusammenstoß mit ihrer Freundin beim Rollschuhfahren herrührten. Ihr Verhalten war infantil und altklug zugleich. Sprach sie, war der Tonfall ihrer Eltern zu vernehmen: kontrolliert, zwanghaft beherrscht, ohne Spontaneität. Unbeobachtet seufzte sie oft. Ihr Bedürfnis nach Zuwendung wurde ständig abgeblockt durch eine schroffe Abwehr, die nicht nur ihre affektive Entfaltung beeinträchtigte, sondern das Hinaustreten aus dem geschlossenen, engen Kreis des gestörten Familiengefüges verhinderte. Lena fühlte sich nach jeder Stunde dazu gedrängt, eine tragische Geschichte von verletzten, verunfallten Kindern und weinenden Eltern auf der Schreibmaschine zu tippen. Offensichtlich bestand ein verzweifelter Wunsch nach Hilfe. Aber das starre System ihrer Familie erlaubte keinen Ausbruch. Statt dessen idealisierte sie ihre Eltern, die Sonntage Zuhause glichen nach ihren Schilderungen Bilderbuchidyllen. Im Gegensatz dazu die Realität: Lenas Vater war häufig betrunken, verging sich sexuell an der Tochter, beide Eltern schlugen sie, die Mutter hatte ihre Stelle wegen Trunksucht verloren, ein älterer Bruder teilte mit Lena das Zimmer und oft auch das Bett. Die Verleugnung der mißhandelnden Eltern zeigte sich in der Überbetonung ihrer harmonischen Familie. So war es ihr möglich, die Eltern als »gut« darzustellen. -172-
Lena, ein Schicksal unter tausend ähnlichen. Und noch immer finden Psychologen, Lehrer und Richter, die Schilderungen der Mädchen seien Fantasien, Wunschträume oder Racheakte. »Wir können uns hart machen gegen die Impulse des Mitleids, wir können wehrlose Menschen töten, Kinder sogar, und wir können uns der Scheu verschließen, die wir gegenüber der psychohygienischen Illegitimität des Inzests empfinden«, schreibt Bischof (1985, S. 566). Gedemütigte Kinder schweigen im allgemeinen. Nichts dringt aus dem tabuisierten Bunker Familie, und wenn, dann erst später, wenn die Mißhandelten groß und geschädigt sind. Das Familiengeheimnis bleibt gewahrt. Nicht alle Kinder prügelnder Eltern warten jedoch verschüchtert, bis ihre Zeit der Rache gekommen ist und sie die Gewalt an eigene Nachkommen weitergeben können. Sie leben ihre Wut in Schlägerbanden aus.
Hobbyväter, Klettenmütter und die Unterdrückung kindlicher Gefühle
Nicht nur grausame und inzestuöse Väter hinterlassen bleibende Schäden. Auch ein selten oder nie anwesender Vater erzeugt im Kind einen fundamentalen Mangel, ein Gefühl der Leere. Hinter tage- und wochenlanger väterlicher Absenz ahnt es die Wahrheit: kein Interesse an ihm, keine Lust, keine Zeit. Diese Erkenntnis tut weh, stumpft gefühlsmäßig ab und läßt sich mit ein paar sonntäglichen Spiel-Einheiten nicht vertuschen. Hobbyväter sind wie Kometen, aber ohne deren Glanz. Ihr Vatersein nehmen sie so ernst wie etwa eine Verabredung mit -173-
Kollegen, den Besuch der Stammkneipe, das Fußballtraining und was sonst in der Freizeit anfällt. In einem schlecht geregelten Turnus ist auch mal das Kind dran. Mach ich doch gern, sagen sie, schieben mit hohlem Kreuz den Kinderwagen durchs Kaufhaus, törnen die lieben Kleinen ganz schön an vor dem Schlafengehen, zum Ärger ihrer Partnerinnen, welche die überdrehten Schreihälse nachher beruhigen dürfen. Diese Väter würden mehr tun, gewiß. Aber das Geschäft, der Dauerstreß. Sind sie geschieden, ergeben sich zusätzliche Schwierigkeiten. In vielen Familien existiert indessen nicht einmal ein Freizeitvater. Die zunehmende Zahl alleinerziehender Mütter widerlegt eindrücklich das dreieinige Familienglück: Mutter, Vater, Kind. Immer weniger Familien entsprechen diesem heil(ig)en Bild. Die »Einelternfamilie« wird zum Normalfall, bestehend aus Mutter und (Einzel)kind. Frauen brechen aus dem Mief einer kaputten Beziehung aus, samt Nachwuchs. Die von Mitscherlich beschriebene »vaterlose Gesellschaft« hat Hochkonjunktur. »Die physische Abwesenheit oder psychische Absenz der Männer der mittleren Generation ist wieder einmal, unter anderen Konstellationen, zu einem Generationsproblem geworden«, stellt der Politologe Claus Leggewie fest (Die Woche, 9. 6. 93). »Berufstätig bis zur Geburt des Kindes«, sagen die werdenden Väter, in der Gewißheit, Beruf und Familie erweise sich für ihre Frauen als Stolperstein - mehr oder weniger bewußt in den Weg gelegt von Männern, die ihnen beim Darüberstraucheln gentlemanlike aufhelfen und sie wieder an den angestammten Haus- und Herd-Platz führen, in die kleine Wohnung, wo ihnen bald einmal sämtliche Decken auf den Kopf fallen und die Kinder als Solarium oder Blitzableiter für ihr Unbehagen herhalten müssen. Beides gleichzeitig. Mit Kind und Hausarbeit fühlt frau sich einerseits unter-, andererseits überfordert. Was ihr fehlt, sind - nebst eigenem Geld - der Austausch mit ihren ehemaligen Arbeitskolleginnen, mit Gleichaltrigen und -174-
Gespräche, die sich nicht nur um Babynahrung, Verdauung und supersaugfähige Windeln drehen. Trotz Mutterglück kann sie vereinsamen. Hollstein schreibt über den Durchschnittsmann: »Allerdings beteiligt sich... nur eine Minderheit der Männer an jenen Aufgaben der Kindererziehung, die direkt mit der Hausarbeit verbunden sind. Diesen Bereich überläßt der Schweizer im wesentlichen seiner Frau« (1989, S. 69). Wir leben in einer Zeit der Inflation. Die Entwertung aller Bereiche erfolgt in atemberaubendem Tempo. Gegenwärtig boomen Workshops und Therapien, in denen sich die desorientierten Opfer des Wertezerfalls Hilfe erhoffen, wo sie den verschütteten Zugang zu ihren inneren Quellen, den Gefühlen, wieder freilegen können und zu ihrer leibseelischen Ganzheit finden. In Männergruppen fallen vom Feminismus gebeutelte Softies sich gegenseitig schluchzend in die Arme, harte Männer wälzen sich im Schlamm, grunzen von Bäumen herunter, und Frauen lernen in Selbstverteidigungskursen ihre Angst vor dem Aggressor zu überwinden. In der Gruppe erleben Mann und Frau emotionale Befreiung: das Wir-Gefühl löst Blockaden und Verkrampfung, fängt Schmerz und Trauer auf, kompensiert Verlustängste durch Nähe, spiegelt jede Seelenregung zehnfach wieder: mein Frust ist auch dein Frust, deine Freude meine Freude. Die Team-Euphorie dringt bis in wirtschaftliche Kaderspitzen. Nur die von ihren Männern oft tagelang alleingelassene Mutter-Kind-Gruppe wird davon ausgeschlossen. Aktive Mütter eröffnen Selbsthilfe- und Spielgruppen. Das stärkt ihr Selbstvertrauen und reduziert ihre Schuldgefühle. Dabei bleiben Frauen und Kinder aber unter sich. Mütter werden einerseits hochstilisiert zu blutleeren Madonnen, andererseits zu Verführerinnen ihrer Söhne und Rivalinnen der Töchter. Am häufigsten dienen sie jedoch der -175-
Gesellschaft als Mülleimer. Jede kindliche Auffälligkeit wird ihnen zugeschoben. Keine Kindheit ohne Mutterschatten. Mal liebt sie zu wenig, mal zu viel. Ganze Generationen: Opfer mütterlicher Willkür? Erst in den letzten Jahrzehnten ist die Gesellschaft auf die Idee gekommen, eine erwachsene Frau mit einem Kleinkind in eine kleine Wohnung, vielleicht im achten Stock, zu sperren und gleichzeitig zu bemängeln, wie sie ihr Kind erzieht. Begreiflicherweise ist für manche Mutter nichts bedrohlicher als das Weinen ihres Kindes. Nicht nur Wutgebrüll bis zum Beinahe-Ersticken, bereits mildes Quengeln löst bei ihr Unlust und Widerwillen aus. Hat sie schon ihre persönliche Freiheit eingeschränkt, will sie wenigstens durch ein strahlendes Kind belohnt werden. Ihre Kinder sollen nicht weinen, weder zornig noch traurig sein. Söhne und Töchter, die in einem derartigen Schonklima heranwachsen, haben Mütter, die bei jeder Verstimmtheit Trost spenden, wegen Bagatellen mit ihnen leiden und ihnen das Recht zur Äußerung von Unlust rauben. Es sind die Mütter, welche Trauer, Schmerz und Wut der Kinder nicht aushaken. Einmal hörte ich ein dreijähriges Mädchen schreien: »Laß mich doch einmal weinen!« Eine gesunde Reaktion. In der Folge entwickeln die Kids Strategien, die als unerwünscht erlebten Emotionen zu verdrängen oder abzuspalten. Das dauernde Tränenwegwischen vermittelt dem Kind nicht so sehr Trost und Beruhigung, es ist vor allem ein feiner Gefühlsterror, der ihm signalisiert, sein Mißmut sei etwas beinahe Unanständiges, nicht angebracht in Gegenwart einer Mutter, die es so gut meint, daß sie »allzeit bereit« ist. Christiane Olivier schreibt in ihrem Buch ›Jokastes Kinder‹ (1992), die höhere physische Gewaltbereitschaft bei Jungen entwickle sich aus den nicht geglückten Ablösungsversuchen -176-
von einer begehrenden und bindenden Mutter, die sich - durch die Abwesenheit der Väter in einer patriarchalischen Gesellschaft - zu stark an ihr gegengeschlechtliches Baby binde, das den abwesenden Vater und Ehemann ersetze. In ihren Fantasien erreichten die Mütter durch das männliche Baby ihre Ganzheit. Der Junge hingegen beginne schon in der analen Phase, sich von seiner Mutter zu distanzieren, auf aggressive Art, um sich von der Frau überhaupt zu trennen. Auf Oliviers Überzeugung, zu starke Mutter- und Frauenbezogenheit sei bedenklich für die gesunde Entwicklung kleiner Jungen, denn sie bewirke eine Verachtung des Weiblichen und den Zynismus der Männer, wurde schon im Abschnitt »Die Ängste der Jungen« hingewiesen. Die Tochter, im Unterschied zum Sohn, wird von der Mutter, laut Olivier, nicht in ihrer Geschlechtsrolle begehrt, deshalb muß sie sich immer »als Mädchen beweisen«, fühlt sich nie »ganz« und »richtig«, auch als Erwachsene nicht. Der Vater, der ihr diese Ganzheit geben könnte, ist abwesend. Zur Anpassung erzogen, entwickelt sie eine versteckte, keine offene Aggressivität. Frauen, die ihre Lebensaufgabe vornehmlich in der Mutterrolle sehen, sind besonders gefährdet, sich in dieser Beziehungsfalle zu verheddern. Das ständig nahe Beisammensein strapaziert das Mutter-Kind-Verhältnis und fördert die Entstehung der Klettenmütter, welche ihrerseits in den Fantasien von Mann und Frau als bedrohliche Monster, als verschlingende Urmütter auftreten, weil sie ihre Kinder nicht abnabeln können. Auch berufstätige Mütter leiden unter dem Gluckentick. Ob Mutti Normalverbraucherin eine Stelle sucht erleichtert, daß die Kleinen zur Schule gehen -, ob eine Frau reduziert, voll, freiwillig oder aus finanziellen Gründen berufstätig ist, außerhäusliche Arbeit wird bei fast allen Müttern -177-
zeitweilig von Schuldgefühlen begleitet, zumindest wenn ein Kind erkrankt oder in der Schule Probleme hat. Nicht selten resultiert aus schlechtem Gewissen ein Klammereffekt: die Unfähigkeit, sich vom Kind im rechten Moment zu lösen, sich zurückzunehmen, ohne an seinem Ergehen desinteressiert zu sein, aber auch ohne materielles Ersatzgut anstelle von Zuwendung zu deponieren. Väter delegieren durch ihre Abwesenheit die elterliche Verantwortung an die Mütter. Das ist ihr Beitrag zur Entstehung der Klettenmutter. Auch wenn die Bindung an die Söhne nicht so kraß ist, wie Olivier annimmt, ist die Mutter an der männlichen Emotionsabwehr beteiligt. Beispielhaft und einflußreich wirkt außerdem unsere maskuline Beziehungskultur. Zwei Männer, die sich umarmen, streicheln, küssen, wecken in unserer Gesellschaft noch immer Befremden. Öffentliche Zärtlichkeit unter Männern - außer beim Siegerjubel im Sport - ist tabuisierter als wahnwitzige Grausamkeit und Massaker. Die Abwesenheit der Väter rächt sich an den Jungen. Oliviers These, eine Erziehung ohne Männer schaffe gewalttätige Söhne, scheint sich erschreckend zu bewahrheiten. Es falle auf, stellt Leggewie fest, wie viele der jugendlichen Täter Söhne alleinerziehender Mütter seien. Man könne durchaus die These aufstellen, Rechtsextreme gehören einer neuen, vaterlosen, »fatal mütterzentrierten« Generation an. Möglich, daß überproportional viele Söhne alleinstehender Mütter gewalttätig und rechtsradikal sind - doch statt »fatal mütterzentriert« müßte es wohl eher heißen »fatal väterverlassen«. Es besteht die Gefahr einer neuen Schuldzuweisung an alleinstehende Mütter, wenn die Ursachen der Jugendgewalt an der Mütterzentriertheit festgemacht werden. Mit ihrer dauernden Abwesenheit verweigern die Väter ihre Verantwortung. Damit tragen sie bei zu den »fatal -178-
mütterzentrierten« Söhnen und ihrer Neigung zu Gewalt. Ein gesellschaftliches Problem von derartiger Tragweite ist nur auf der Basis partnerschaftlicher Familienmodelle zu lösen, mit dem Bewußtmachen kindlicher Bedürfnisse und den gravierenden Folgen, wenn sie nicht gestillt werden: Kinder, die weder Reue, Scham noch Liebe kennen, eigentlich überhaupt keine Gefühle außer Langeweile und Haß.
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VIII. Auswege aus dem Labyrinth Gewalt
Vorläufige Standortbestimmung In den vorhergehenden Kapiteln wurden Bedingungen aufgezeigt, unter denen Kinder- und Jugendgewalt entstehen kann. Ursachen, die teils verknüpft, teils unabhängig voneinander immer einem Mangelzustand entspringen. Überfluß auf der materiellen bewirkt oft ein Defizit auf der emotionalen Seite. Unkenntnis über den Verlauf der kindlichen Entwicklung verhindert Autonomie, erschwert die Bindung an Bezugspersonen, erzeugt Angst vor späterer Trennung. Benachteiligtsein durch Notsituationen - Armut und Verelendung - fördert Gewaltbereitschft ebenso wie Verwöhnung, welche die »Subito«-Kids hervorbringt: sie ertragen keinen Aufschub ihrer Bedürfnisse. Immer jüngere Burschen geraten in den Sog der Gewalt. Ende 1992 soll es in Deutschland rund 50 000 gewaltbereite Jugendliche zwischen 16 und 20 Jahren gegeben haben. Arbeitslosigkeit und fehlende Zukunftsvisionen tragen bei zur überhandnehmenden Hoffnungslosigkeit und Sinnkrise, Vertrautes wird fremd, die Mobilität zerstört das soziale Netz. Frustrationen bringen die Seele zum Kochen. Der Körper rastet aus, das Gewissen schweigt. Verantwortung wird zum Fremdwort. Fassen wir den Ist-Zustand zusammen: Positive Vorbilder für junge Menschen fehlen weitgehend, an ihre Stelle sind -180-
gewalttätige Helden in fiktiven Lebensräumen getreten, Angst und Lieblosigkeit anstelle von Beheimatung. SecondhandRealität ersetzt Wirklichkeit. Die Akzeptanz der Brutalität verhindert gemeinsames Bemühen, Konflikte zu lösen. Mitleidlos und brutal erleben Kinder die Welt der Erwachsenen und spiegeln sie eins zu eins wider: die Leere der Konsummentalität, das Verdinglichen von menschlichen Beziehungen durch zunehmende Vereinzelung in einer narzißtischen Gesellschaft. Mitgefühl wird dem Egotrip geopfert. Der Sozialdarwinismus feiert ein globales Comeback: Alle sind bestrebt, sich vor dem ökologischwirtschaftlichpolitischen Kollaps noch einen Teil an Wohlstand und Besitz für die Zeit danach zu sichern. Das große Alle-gegen-Alle kennt keine Rücksicht, sondern nur Angst und Selbstbehauptung. Die grandiosen Fantasien der noch immer vom Machbarkeitswahn erfüllten Phallokraten bieten keinen Schutz vor dem Zerfall. Die Menschheit fürchtet sich vor den nationalen Kriegen selbsternannter Führer, seit das Gleichgewicht des Schreckens keine Sicherheit mehr bietet. Die Umwelt nimmt ebenfalls Partei gegen ihre Ausbeuter. UV-Strahlen lassen Schafe erblinden, das Plankton sterben, Sonne macht nicht mehr braun, sondern Hautkrebs, und in zusehends kürzeren Abständen jagen verheerende Stürme auch über die nördliche Halbkugel. Gewalt, wohin frau blickt. Die Beziehung zwischen Haß und Fäkaliensprache zeigt sich im Vokabular der Rechtsextremen, aber auch in der allgemein sieht-, hör- und spürbaren exzessiven Gewaltverherrlichung. Die Enttabuisierung besteht zum einen in der Mißachtung jeder Verantwortung zum Schutz der Kinder und andererseits in der Skrupellosigkeit, mit der alle Werte über Bord geworfen -181-
werden. Was einzig gilt, ist Kommerz und Rendite, das Gesetz des freien Marktes. Die Rattenfängermethoden totalitärer Ideologien zeitigen eine über alle Verbote und Grenzen hinweg wachsende Anhängerschaft. Nazirock und Faschokultsymbole füllen die Leere der zubetonierten, abenteuerlosen Daseinsperspektive westöstlich vereinigter Landstriche und Städte. Bringen Drive und Power ins Hängerleben und anstelle der abgetakelten Feindbilder Kommunismus und Kapitalismus den altneuen Sündenbock: den Fremden. Wer anders ist - behindert, schwul, schwach - kriegt eins drauf. Ohne moralische Orientierungshilfen stehen alt und jung verunsichert in einer pluralistischmultikulturellen Landschaft, die wenig beiträgt zum Erhalt der eigenen Identität, außer daß sie in jedem und jeder von uns rassistisches Gedankengut freisetzt. Manche Opfer des Neonazismus getrauen sich nicht mehr, Anzeige zu erstatten, denn die Sympathie vieler von der Politik Enttäuschten gilt den jungen Rechts- und Geschichtsverdrehern. Es gehört zur doppelten Tragik der Verletzten, daß sie wenig öffentliches Interesse erregen, selten genug ein privates. Erst die Toten machen betroffen; doch die Beileidsworte von Solingen erstickten im Krawall und in der Furcht vor neuen Morden. Es brauchte die Tötung eines Zweijährigen durch Kinder (1992), um eine Nation wie England aufzurütteln. Wenigstens vordergründig. Mit Haßtiraden gegen die jungen Mörder und dem Ruf nach Todesstrafe, auch nach Kindergefängnissen, will das entsetzte und beunruhigte Volk derartige Verbrechen in Zukunft verhindern. Die jungen Tabubrecher, die keine Schranken kennen - woher auch? -, wurden um ihre Kindheit gebracht. Nachholen läßt sie sich nicht mehr. Düstere Perspektiven sollen nicht zur Ohnmacht verleiten und -182-
die Beschäftigung mit dem Thema Kinder- und Jugendgewalt beschließen. Zur Aus- und Entgrenzung junger Menschen haben Staat und Gesellschaft, Schule und Familie auf besondere Weise mitgeholfen. Diese Institutionen besinnen sich langsam auf ihre Verantwortung und schicken Vertreter in Talkshows und Gesprächsrunden im Fernsehen. Jahrelang konnten Rechtsradikale am Bildschirm äußern, was ihnen an häßlichen Gedanken durchs Gehirn schoß, Reaktionen einer breiteren Öffentlichkeit blieben aus. Die politische Klasse schien entweder nie hinzuhören oder ähnliche Ansichten zu vertreten. Jetzt hat die Mattscheibe die Fronten gewechselt. Gewalt ist plötzlich das Thema: Lichterketten, Selbstverteidigungskurse für Frauen und Mädchen, Krisenintervention für Schülerinnen und Schüler, Kurse für Lehrkräfte, Warnungen an Eltern: ein erster Schritt. Bevor wir aber Schulprogramme mit einer Menge Arbeitsblätter und Trainingsangebote für aggressive Kinder in Umlauf bringen, wäre ein Moment der Besinnung einzuschalten: Was heißt Gewalt für mich? Kann ich meine dunklen Sehnsüchte und Triebe soweit akzeptieren, daß ich sie weder direkt ausleben noch verdrängen noch auf andere projizieren muß? Kreativität und Aggressivität gehören als Tag- und Nachtseite jedes Menschen in seine Persönlichkeit integriert. Der Haß auf Schwule und Lesben, Rechte oder Linke, Schwarze, Rote und Braune und die Abneigung gegen alles Andersartige, verbunden mit der Sehnsucht nach »dem Geführtwerden durch einen vorbildhaften Führer, der alle Sorgen abnimmt, dafür aber absolute Gefolgschaft fordert« (Schwagerl, 1993, S. 187), zeugen auch von der Bedrohung, die der unverstellte Blick ins eigene, ungeschminkte Gesicht bedeutet. Es gehört zum Weg der Individuation und ist ein lebenslanger Prozeß, das GoetheWort »zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust« als nicht nur für andere gültig zu betrachten. Erst wer von den eigenen -183-
Größen- und Machtfantasien Abschied genommen und sich auf die damit verbundene Trauer eingelassen hat, ist erwachsen und weiß, daß sich hinter Gewalt oft Angst versteckt, hinter Macht Ohnmacht, hinter dem Täter ein Opfer. Aggressivität ist aber nicht nur eine Störkraft. Sie ist eine Urkraft, die es zu kultivieren gilt. Vitalität und Produktivität wurzeln in aggressiven Energien. Weder offenes Ausleben noch Verbieten sind daher der Schlüssel zum Umgang mit Aggressivität. Unterdrückte Gewalt entfesselt umso schlimmere Kräfte. Kurzfristig ist es vielleicht möglich, Gewalt mit verhaltenstherapeutischen Methoden anzugehen: Umpolen durch positives oder negatives Verstärken. Dabei handelt es sich aber mehrheitlich um Symptombekämpfung. Um den kulturellen Standard der Gegenwart zu erreichen, brauchte die Menschheit etwa eine halbe Million Jahre; emotional blieb sie im archaischen Bereich stecken. Intellektuell und im technischen Knowhow hat sie sich weiterentwickelt und dabei Zivilisation mit Fortschritt verwechselt. Seit den Ungeheuerlichkeiten von Auschwitz und des Jugoslawienkriegs im Herzen Europas sprechen viele Frauen und Männer resigniert von der »Bestie Mensch«, von der dünnen Decke der Zivilisation, unter der Grausamkeit und Brutalität jederzeit geweckt werden können. Der Mensch habe sich seit Jahrtausenden nicht verändert. Jugendgewalt ist ebenso alt; in den letzten Jahren hat sich indessen ihre Qualität beängstigend verändert. Dieser Erscheinung gilt unsere Aufmerksamkeit. Gewalt in der jetzigen Ausprägung ist nicht von heute auf morgen entstanden und wird nur unter großen gemeinsamen Anstrengungen einzudämmen sein. Patentrezepte gibt es keine. Jede und jeder muß sich auf ihre und seine Weise damit auseinandersetzen. -184-
1. Wir müssen Abschied nehmen vom ElendsMythos »Die Revolte von rechts fordert mit massiven Mitteln Autorität ein - worauf in der richtigen Weise zu hören wäre.« Claus Leggewie Das Bequeme am Mythos vom gewaltauslösenden Einfluß sozialer Benachteiligung ist, daß er jedem einleuchtet und gleichzeitig viele Menschen der Mühe enthebt, sich mit dem unangenehmen Thema Kinderund Jugendgewalt auseinanderzusetzen. Doch die Theorie der gewalttätigen Unterschichtskids stimmt nur noch bedingt. 50 Prozent der »verlorenen« Kinder sind äußerlich überbehütet und wohlversorgt. Sie stammen aus ganz normalen Elternhäusern. Trotzdem fühlen sie sich verlassen; hier müssen Eltern und Lehrerschaft ansetzen. Unsere Unterhaltungskultur zelebriert einen Kult der Brutalität. Terror, Gewalt in Spielen, häßliche Reden gegen Minderheiten sind salonfähig geworden. Warum der Aufschrei, wenn das Quälen und Töten von Menschen plötzlich aus dem Freizeitsektor ausbricht? Weil Kinder tun, was sie täglich sehen, wenn sie durchs Medienfenster die Welt betrachten? Kürzlich verwundete ein l7jähriger zwei jüngere Jugendliche bei München schwer, weil er sich »langweilte«. Der Mordfall von Solingen wurde von Bundeskanzler Kohl als »schreckliche Heimsuchung«, als »asoziale Gewalttätigkeit« ins pathologische Einzeltätertum verschoben. Am selben Tag begann in Koblenz der Prozeß gegen einen Jugendlichen, der bei zwölf Schüssen auf eine Gruppe Ausländer ein »befreiendes und befriedigendes Gefühl« empfunden hatte. Ein krankhafter Einzelfall? »Es ist einer von Tausenden von Fällen. 6336 kriminelle -185-
fremdenfeindliche Aktionen, darunter 596 Brand- und zwölf Sprengstoffanschläge registrierte das Bundeskriminalamt 1992« (Sonntags-Zeitung, 6. 5. 93). Das Entsetzen über die Gleichgültigkeit der quälenden, mordenden Jungtäter paart sich mit einem voyeuristischen Drang zur Ausleuchtung des Milieus, das diese Häufung jugendlicher Aggressoren hervorbringt. Doch wir haben immer weniger Grund zum Aufatmen. Inzwischen sind in Gewaltdelikte viele Kinder aus guten Verhältnissen verwickelt. Auffallend, wie dieser Hintergrund da er nicht ins gängige Täterbild paßt - von Politik und Medien nur am Rand erwähnt wird. Seitenlange Abhandlungen über das traurige Schicksal des 16jährigen Christian, den Brandleger von Solingen, der den Tod von fünf Türkinnen verschuldete, kaum ein Wort über den gutbürgerlichen Background der beiden Mittäter. »Arztsohn haßt Türken« weckt weniger Verständnis als die Geschichte vom vaterlosen Jungen, der negative Erfahrungen mit Türken gemacht hat. Oder soll eine bestimmte Gesellschaftsschicht geschont werden? Derart einseitig darf nicht länger informiert werden. Die Psychologen- und Pädagogenzunft und ebenso die Gerichte müssen die neuen Gegebenheiten zur Kenntnis nehmen. Es ist eine Tatsache, daß die Gewaltwelle vor keiner Haustüre haltmacht. Die Theorie von den Elends-Kids ist eine unzulässige Vereinfachung, unreflektiert übernommen zur Entlastung des bürgerlichen Blocks. Nicht nur soziale Benachteiligung erzeugt Gewalt. Die Verantwortungsverdrossenheit in Sachen Kindererziehung, wie sie auch die Mittel- und Oberschicht erfaßt hat, muß thematisiert werden. Schonungslos: der mütterliche Taxidienst zu diversen Freizeitangeboten, das hedonistische Denken, Straße und Glotze als Elternersatz. -186-
Kindergewalt löst sich aus dem Versteh- und dadurch noch Entschuldbaren. Sie rückt bedrohlich nahe und entläßt niemanden so leicht aus der Verantwortung. Weder Fernsehen, Videos noch rechtsextreme Kinderverführer haben allein die sinkende Brutalitätsschwelle und die Abgestumpftheit gegen Grausamkeit verursacht. Nicht länger dürfen sich Schule und Freizeitfamilie um die Erziehungsarbeit drücken, Leitbilder als veraltet abtun, alles »entschuldigen« und »verstehen«, nur um sich keine Unannehmlichkeiten einzuhandeln. Leggewie meint: » ›Faschos‹ sind meist die Opfer der Aufhebung der Kindheit«, für die alle Respektspersonen und Autoritäten um sie herum verantwortlich sind. Wir müssen Lebensräume schaffen, damit Kinder nicht falschen Vorbildern nacheifern und tun, was bis vor kurzem nur sozial benachteiligten Kindern zugetraut wurde.
2. Ein positives Selbstwertgefühl reduziert Unsicherheit, vermindert Ängste und dadurch die Neigung zu Gewalt Das Selbstwertgefühl ist schwankend und störungsanfällig. Aus der anfänglichen Symbiose mit der Mutter entsteht im Laufe der ersten zwei Lebensjahre das Bewußtsein einer Eigengestalt, das Selbstbild. Aus diffusen Emotionen, Bildern, Tönen und Gerüchen, wechselnden, sich auch widersprechenden Eindrücken formt sich unbewußt das Bild, welches das organisierte Wissen des Organismus über sich selbst sowie über die Welt ist, in der sich sein Verhalten abspielt. Dieses Selbstbild ist zur Bewältigung situativer Anforderungen, aber auch ganzer Lebensbereiche und Abschnitte von Bedeutung. Ein wesentlicher Aspekt dieses Bildes ist das Selbstbewußtsein, das sich zwar ein Leben lang entwickelt, sich aber auch verändern kann, das aber doch auf dem in der -187-
Kindheit erworbenen Vertrauen basiert. Menschen mit geringem Selbstwertgefühl neigen vermehrt zu gewalttätigem Handeln. Gewalt und Brutalität verleihen Macht, und wer mächtig ist, genießt in unserer Gesellschaft Ansehen. Faschistoide und totalitäre Gruppierungen üben durch ihre Gewaltverherrlichung eine nicht geringe Faszination auf unsichere, nach Beachtung strebende Jugendliche aus, die im privaten Leben oft als sehr angepaßt und unauffällig erscheinen. Alkohol und Ansporn durch Gesinnungsgenossen, aber auch dauerndes Heruntergemachtwerden lassen ichschwache Menschen unerwartete Grausamkeiten begehen. Ohnmacht aus IchSchwäche ist der Motor zu vielen Verbrechen, welche scheinbar aus heiterem Himmel die Existenz von Opfern und Tätern vernichten. Die Pflege des Selbstwertgefühls im Rahmen einer Beziehungskultur ist daher eine Aufgabe, an der sich eigentlich jeder Mensch beteiligen müßte. Wie schnell sind wir dabei, jemanden, den wir gar nicht kennen, schnippisch abzufertigen. Demütigende Bemerkungen Kindern gegenüber sind an der Tagesordnung, auch falsche Verdächtigungen. Einem Kind, das stolz auf seine Zeichnung ist, sagen wir etwa: Aber der Himmel ist doch nicht grün. Hast du schon eine violette Tanne gesehen? Dieser Mann ist ja größer als sein Haus. Komm, ich zeige dir, wie ein Hund aussieht. Und was der unüberlegten Kommentare mehr sind. Kinder müssen (und wollen) in ihrem Tun ernstgenommen werden. Ihr Spiel ist an Bedeutung der Arbeit eines Erwachsenen gleichzusetzen. Es ist ihre Welt, die sie gestalten und schon bald an elterlichen Werten messen. Werden Kinder, wenn sie im Haushalt helfen wollen, ständig abgewiesen, weil es ohne ihre Hilfe schneller geht, empfinden sie das als Abwertung ihrer Person. Statt zu nörgeln, sollen Eltern über Mängel hinwegsehen und das Kind für seine Hilfe loben. Viel Lob, wenn es angebracht ist (!) als Anerkennung einer Leistung, -188-
Aufmunterung statt Kritik bei Unvermögen oder einem Mißgeschick. Das Kind muß spüren, daß die Eltern es um seiner selbst willen und nicht wegen seines Könnens lieben. Eine große Zahl Jugendlicher und Erwachsener ist der Meinung, ihre Eltern liebten nur ihre guten Leistungen und ihre brave Seite. Das führt bei diesen Menschen einerseits zu Minderwertigkeitsgefühlen, andererseits zu Leistungsansprüchen, denen sie selbst nie genügen können, sowie zu einer Abspaltung ihres dunklen Anteils, ihres Schattens. Noch über den Tod der Eltern hinaus hoffen viele Menschen, mit übersteigerten Anforderungen zu erreichen, was ihnen als Kind versagt blieb: die Anerkennung der Mutter oder des Vaters. Da sie sich von den Eltern nie in ihrer Ganzheit mit allen Schwächen und Unzulänglichkeiten angenommen und geliebt fühlten, ist es ihnen kaum möglich, sich selbst zu lieben. Wo aber Selbstachtung fehlt, ist ein Mensch in seiner Beziehungsfähigkeit behindert. Schwierigkeiten in der Partnerbindung stellen sich ein, es kommt zu Machtkämpfen, eventuell zu Gewaltakten. Wer sich über die Ängste seines Kindes lustig macht, beschämt es tief, erfüllt es mit Selbstverachtung und Unsicherheit. Um sein gestörtes seelisches Gleichgewicht zu finden, kann dieses Kind als Erwachsener Macht und Befriedigung darin finden, »die Ängste anderer zu manipulieren« (Alice Miller, 1983). Unsicherheit als Nährboden der Grausamkeit. Wie in der Kindheit vor den Eltern kuschen solche Menschen vor Autoritäten, vor einem Führer und weiden sich an der Furcht der ihnen Unterstellten. Viele in ihrem Selbstwertgefühl Verletzte fühlen sich auch als »hilflose Helfer« zu noch Hilfloseren hingezogen. Als Heimerzieher, Psychologinnen in sozialen Berufen können sie ihre Ohnmachtsgefühle in Macht über andere verwandeln. In -189-
eine sanfte Gewalt, welche sich »nur« in der Abhängigkeit ihrer Klienten und Klientinnen zeigt. Die Länge und Art einer Therapie sind auch Gradmesser für das Selbstwertgefühl der Therapeuten. Ausufernde Therapieangebote sind symptomatisch für eine Leistungsgesellschaft, deren Standards immer weniger Menschen genügen können. Nicht Dominanz und Unterwerfung sollte aber unsere Beziehungen bestimmen, sondern ein vorurteilsfreies Miteinander, in dem auch berechtigte Kritik Platz hat, sofern sie nicht verletzend daherkommt. Seelisch im Gleichgewicht ist nur, wer lernt, sich gegen Fremdbestimmung abzugrenzen, wer sich nicht durch andere fernsteuern läßt. Dies gelingt umso besser, je höher das Selbstwertgefühl eines Menschen ist. Die Kriege draußen sind Abbild der Kriege in uns.
3. Ohne Eigenliebe wird Nächstenliebe zur Abhängigkeitsfalle Geringes Selbstvertrauen ist nicht nur - wie im letzten Abschnitt festgestellt wurde - eine schlechte Voraussetzung für helfende Berufe, es wächst im Gegenteil der Eindruck, die Therapieszene sei besetzt von Menschen, denen die Hilfe am Mitmenschen zugleich Selbsttherapie bedeutet. Wer sich aber selber nicht genügend liebt, seine eigenen Schwächen akzeptieren und mit ihnen umgehen kann, überträgt seine eigenen Probleme auf die anderen. Wer von einer unglücklichen Partner(innen)schaft in die nächste gerät, führt sämtliche Schwierigkeiten auch bei Mitmenschen auf »Beziehungskrisen« zurück. Wer auf Geschwister eifersüchtig ist oder sie als -190-
neidisch erlebt, ist sensibilisiert für Geschwisterproblematik. Abgesehen von der Gefahr der Projektion eigener Konflikte auf die anderen, geraten Helferinnen und Helfer, die unter Minderwertigkeitsgefühlen leiden, automatisch in die Abhängigkeitsfalle. Frauen vor allem erliegen der Täuschung, ihr Wohlbefinden, ihr Selbstwertgefühl seien gekoppelt ans Ergehen der durch sie Betreuten. Sie haben diese fatale Art der Nächstenliebe längst verinnerlicht. »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst« (3 Mose 19, 18). Dieses Gebot könnte heute heißen: Komm mit dir selber ins reine, ehe du auf den Helfertrip gehst. Es meint aber auch: Nimm den Nächsten so ernst wie dich selber. Durch Wohltätigkeit in der herablassend-anbiedernden Art gewisser Kreise, die etwa »für die armen Kriegswaisen«, die »bedauernswerten Heimkinder«, die »tragischen Aids- oder Gewaltopfer« Lose verkaufen oder einen Basar organisieren, die Suppenküchen für Junkies betreiben und ihnen am liebsten jede Eigenentscheidung abnähmen, wird der Hinweis »wie dich selbst« mißachtet. Hilfe ist wichtig, aber sie darf weder in eigensüchtige Inszenierung selbstloser Aufopferung noch in Machtmißbrauch gegen Ohnmächtige ausarten. Ob jemand eine Machtposition als Mutter, Vater, als Karrieremensch, älteres Geschwister, als Soldat, Polizist, Parlamentarier oder als Präsident der USA innehat, das menschliche Bedürfnis zu herrschen und zu prägen dürfte sich im Sinn des biblischen Leitsatzes nie eigensüchtig und ausbeuterisch gegen andere wenden, schon gar nicht gegen Untergebene und Schwache. Das jüdischchristliche Gebot von der Nächstenliebe steht im Alten und im Neuen Testament und blieb insofern mißverstanden, als der zweite Teil, das »wie dich selbst«, meist übersehen wurde. Daraus ergaben sich dann die AufopferungsAuswüchse falsch interpretierter Christlichkeit, die im DienenDanken-Dürfen-Syndrom von Pfarrersgattinnen oder im -191-
selbstlosen Nonnendasein hinter Klostermauern ihre prägnantesten Verwirklichungen fanden. Die Delegation des Pflegerischen an die Frau kann sich übrigens nicht auf Jesus berufen. Für ihn waren Frauen in jeder Hinsicht den Männern ebenbürtig. Aus durchschnittlicher Männerperspektive galt und gilt Nächstenliebe als Postulat vor allem für Frauen. Die männlichen Würdenträger aller christlichen Konfessionen leben besonders den zweiten Teil des Gebots vor - die Selbstliebe. Liebe zum und Hilfe am Nächsten wurden schon immer als speziell weibliche Aufträge verstanden. Die Zweiteilung zwischen Selbst- und Nächstenliebe im Sinne einer Rollenteilung läßt sich bis heute in Spitälern feststellen: die anerkannten, gut verdienenden Ärzte (und einzelne Ärztinnen) in Chefpositionen auf der einen, die gestreßten, mit wenig Eigenkompetenz und Lohn ausgestatteten Krankenschwestern und Pflegerinnen auf der anderen Seite. Oder in der Familie: die sich für Mann und Kinder aufopfernde Mutter. Viele Mütter und Krankenschwestern - zwei repräsentative Beispiele - leben für und durch die Liebe zum Nächsten. Doch ihre Kinder und Patienten bedrücken sie als entmündigende, bedrohliche ÜberFrauen und Helfermonster. Es tut dem eigenen Ego ungemein wohl zu spüren, daß fremde Existenzen ohne unsere Hilfe kaum lebensfähig sind. Der fehlende Selbstwert erhöht sich um den Preis gegenseitiger Abhängigkeit: Die Helfenden fühlen sich zurückgewiesen, wenn die Betreuten eigene Wege gehen wollen. Mit raffinierten Seelenködern werden die Hilfsbedürftigen - seien es Kinder, Patientinnen, Gefangene, Asylsuchende, psychisch Angeschlagene - in seelische Fallen gelockt. Mordende Krankenschwestern und Klettenmütter zeigen die Kehrseite einer falsch verstandenen Liebe zum Mitmenschen: die Zerstörung der ihnen Anvertrauten, zu »derem Besten«, wie sie Tötungen von unheilbar Kranken und die Abhängigkeit der -192-
Kinder zynisch nennen. Jede Aufopferung, jedes Opfer ist Ausdruck von Gewalt. Mütter, welche sich für ihre Familien aufopfern, entmündigen mit ihrer Überfürsorge erwachsene Kinder, begleiten 30jährige zum Arzt, legen ihnen einen Eisbeutel aufs Herz und ein verlogenes »Dankeschön« in den Mund. Verstehen wir das Gebot ganzheitlich, heißt lieben: den ändern und gleichzeitig sich selber ernst nehmen. Die Selbstliebe gestaltet sich indessen nicht immer einfach. Lieben heißt auch: die Schwächen akzeptieren, die Schatten, die verborgenen dunklen Seiten. Von klein auf wurden wir dazu erzogen, Häßliches zu tarnen, eine Maske zu tragen. Das macht uns unduldsam gegenüber den Schwächen der Mitmenschen. Ein positives Selbstwertgefühl ist identisch mit einer Selbstliebe, die zur Nächstenliebe führt und darüber hinaus zur Sorge für alles Lebendige. Damit wird Fürsorge aus dem Kontext des Therapeutischen - das immer auf einem Machtverhältnis beruht - herausgenommen und in einen großen Mitwelt-Zusammenhang gestellt. Im altmodischen Begriff der Ehrfurcht, die in Albert Schweitzers Ethik eine zentrale Bedeutung hatte, steckt das spannungsvolle Verhältnis, welches das Wesen echter Liebe ausmacht: die Verehrung im Sinn von Nähe und Zuwendung und die Furcht als respektvolle Distanz. Bei den Hopi- und Pueblo-Indianern gelten als »unsere Nächsten« auch Tiere, Pflanzen und die göttliche Mutter Erde. Wird ein Reh erlegt, bitten die Jäger erst Mutter Erde um Verzeihung für die Wegnahme eines ihrer Geschöpfe, dann beten sie zum Reh, es möge ihnen vergeben. In einer kleinen Grube wird etwas Blut und ein Teil des Reh-Ohrs mit Keimlingen begraben, darüber ein Gebet gesprochen. Mutter Erde möge das Geschenk, das der Jäger ihr zurückgibt, -193-
annehmen. Der Mensch brauche Nahrung, aber er wird einst ebenfalls in den Schoß der Erde zurückkehren. Diese Ehrfurcht vor der Schöpfung im Sinne einer Beseeltheit aller Geschöpfe ist das Gegenteil von »Macht euch die Erde Untertan«. Damit fing das Unheil an. Zwischen diesen beiden Auffassungen liegen sämtliche Schattierungen menschlicher Umwelt-Wahrnehmung: vom animistischen Denken der Indianer bis zum skrupellos unverantwortlichen Plündern der Natur durch die sich aufgeklärt und in jeder Beziehung überlegen fühlenden Zivilisationsgeschädigten, für welche Macht und Mammon jede Ausbeutung rechtfertigen. Gewalt ist ein Teil davon. Bei uns mehren sich die Menschen, welche der weisen indianischen Haltung zumindest anerkennend gegenüberstehen, indem sie zum Beispiel auf unnötigen Fleischgenuß verzichten, keine Tropenhölzer kaufen oder Organisationen unterstützen, die sich dem Schutz der Umwelt widmen. Die Eigenliebe eines Menschen ist abhängig von seinem Selbstbild und wird stark mitgeprägt von Eltern und anderen Respektspersonen. Wird vor allem Originalität und Einmaligkeit der kindlichen Persönlichkeit hervorgehoben, entwickeln sich Menschen, die sich selbst positiv - nicht selbstverliebt gegenüberstehen und die gewappnet sind gegen die Faszination, durch subtile Beherrschung Hilfsbedürftiger ihre Eigenliebe zu erhöhen.
4. Nur Ich-starke Menschen können Grenzen anderer respektieren und sich selber abgrenzen Umfragen ergeben, daß die 68er-Eltern mit ihrer Erziehung -194-
ohne Strukturen im Rückblick von vielen Kindern als überfordernd erlebt wurden, im Sinn von »müssen wir heute schon wieder machen, was wir wollen?« Nur in einer strukturierenden Umwelt kann sich ein Heranwachsender orientieren, festhalten und ein soziales Wertesystem entwickeln. Grenzenlosigkeit ist keine Basis für autonomes Verhalten. Sicherheit fördert echtes Selbstvertrauen, ein Sichwohlfühlen in der eigenen Haut führt zum Aufbau einer positiven Identität. Ich-Schwäche führt zur Unfähigkeit, persönliche und fremde Grenzen wahrzunehmen, zum Suchen von Grenz-Erfahrungen in Erlebnissen, die der existentiellen Verunsicherung und Leere eine Grenze setzen durch Anspannung aller Sinne oder durch Zustände rauschhafter Ent-Grenzung. Beides erfüllt sich in gemeinsamen Aktionen, Mutproben, wie Jugendliche sie beim Brückenspringen, U-Bahn-Surfen, aber auch in krasser Gewaltanwendung bei körperlichen Auseinandersetzungen suchen. In Situationen der Selbstentäußerung werden physische Grenzen und moralische Stopsignale mißachtet, zum Beispiel in jenen Handlungen, welche einem gesteigerten Druck zur Anpassung an die Gruppe entspringen, dieser Krücke zur Stütze ihres angeschlagenen Selbstwertgefühls. Elternhaus und Schule teilen sich in die Verantwortung, gangbare Wege im Zusammenleben mit ihren Schutzbefohlenen zu suchen, die den Kindern ein Höchstmaß an Autonomie ermöglichen, gestützt auf ein zunehmendes Verantwortungsbewußtsein sich selber gegenüber, aber auch gegen andere Lebewesen, seien es Tiere, Pflanzen oder Mitmenschen. Autonomie bedeutet allerdings nicht unbegrenzte Selbstbestimmung, sondern größtmögliche, dem Alter des Kindes angepaßte. Der befriedete Frei-Raum des Kleinkinds soll -195-
sich mit jedem Entwicklungsschritt ausweiten. Zur Gewaltprävention gehört zunehmend das Recht auf Kritik anstelle blinden Gehorsams. Je verständiger ein Kind, desto mehr soll es aufbegehren dürfen und sein Leben nach eigenem Gutdünken gestalten. Im Dialog mit Eltern, Geschwistern und in der Schule muß es lernen, eigene Bedürfnisse zurückzunehmen und sich mit der oft frustrierenden Realität auseinanderzusetzen. Darf es seinen Ärger, seine Wut auf Eltern und Angehörige ausdrücken, ohne sich deswegen schuldig zu fühlen, lebt es in einer Idealfamilie, wie sie selten zu finden ist. Denn zumindest unterschwellig lassen Eltern ihre Kinder spüren, daß »wir es doch gut meinen und besser wissen, was euch wohltut«. Wer als Kind lernt, auf gewisse Dinge ganz, auf andere eine Zeitlang zu verzichten, kann im späteren Leben mit Frustrationen und Versagungen besser umgehen, dessen Selbstwertgefühl basiert weniger auf Äußerlichkeiten, sofern er nicht einfach tut, was »man« von ihm erwartet. Ichstarke Menschen sind nicht so sehr auf das »man« angewiesen, sie beziehen ihre Identität weniger über Trends und Statussymbole. Sie sind autonom, in sich selbst verwirklicht. Die Freiheit des einzelnen endet dort, wo sie den Bereich des Nächsten tangiert. Kinder, denen Freiräume des Träumens und Verweilens, der Fantasie zugestanden werden, in deren Spiele keine ordnungsfanatische Mutter einbricht, achten die Eigenwelt der anderen. Von klein auf zu Toleranz und freier Meinungsäußerung erzogen, haben sie gelernt, fremde Bedürfnisse zu respektieren. Autonomie hat mit gegenseitigem Grenzensetzen zu tun. Ein erfolgreiches Freistrampeln aus den familiären Bindungen dauert oft ein halbes Leben, weit über die Zeit der adoleszenten Ablösung hinaus. Manche schaffen es nie und bleiben ihren Eltern lebenslang in Haßliebe verbunden. Andere lösen sich -196-
mindestens vorübergehend - von den übernommenen Wertvorstellungen. Das zeigen die zum Teil gegensätzlichen politischkulturellen Ansichten junger Erwachsener und ihrer Eltern. Ist das eine Erklärung dafür, daß die antiautoritären 68erEltern nicht eine sozial und ökologisch motivierte Jugend herangezogen haben? Ein Großteil ihrer Nachkommen ist egozentrisch, konsumorientiert und nicht gefeit vor Gewalttätigkeit und Fremdenhaß. Jedes Kind hat das Recht - und muß darin bestärkt werden -, Körperkontakte, die es nicht mag, abzulehnen. Es darf nein sagen zu mütterlichen Küssen und Streicheleinheiten, nein zum Vater, der es hochheben will. Eltern müssen dieses momentane Abgewiesenwerden ertragen lernen, ohne Verstimmung. Auch sie sind nicht allezeit zu Liebkosungen bereit. Schon im Kindergartenalter ist einem Kind beizubringen, daß es allein über seinen Körper verfügen darf und weder Eltern noch Fremdpersonen ein Recht haben, es zu umarmen, wenn es nicht mag. Auf diesem Gebiet wird viel gesündigt. Kinder sind keine Schmusepuppen für Eltern, Onkel und Tanten. Vom Kind nicht gewünschte körperliche Berührungen sind ein Eingriff in seine Privatsphäre. Darf es früh und selbstverständlich unliebsame Körperkontakte ablehnen, ist es eher vor sexueller Ausbeutung geschützt. Zusätzlich ist besonders für Mädchen der Besuch eines Selbstverteidigungskurses zur Stärkung ihres Selbstvertrauens zu empfehlen. Jungen können in östlichen Sportarten lernen, konstruktiv mit ihren aggressiven Gefühlen umzugehen. Zur Selbstbestimmung erzogene Menschen werden einen Weg finden zwischen ungezügelter Auflehnung in Anarchie und totaler Anpassung, zwischen Gewalttätigkeit und Opferhaltung.
5. Der Dialog kann Gewaltausbrüche -197-
verhindern Kleine Kinder haben eine untrügliche Wahrnehmung für Zwischenmenschliches. Sie reagieren sehr sensibel auf Stimmungen und Befindlichkeiten ihrer Umgebung, trösten intuitiv bei Mutters leichter Unpäßlichkeit und spüren unterschwellige Spannungen zwischen den Eltern. Die Zerrüttung einer Partnerschaft mag noch so leise und nicht vor ihren Ohren erfolgen, die Kleinen spüren das nahende Unheil, auch wenn sie es nicht benennen können. Die Fähigkeit zum Dialog erfolgt später weitgehend über die Sprache. Immer wieder beklagen Eltern die Verschlossenheit ihrer Kinder. Nie würden sie von sich, von der Schule erzählen. Mag sein, daß diesen Kindern schon als Kleinkind das unbekümmerte Sichäußern vermiest wurde mit Belehrungen, Zurechtweisungen, erwachsener Besserwisserei. Ein Dialog ist ein Gespräch zwischen zwei Gleichberechtigten. Kinder, deren Äußerungen geringschätzig belächelt oder als Sprüche aus Kindermund im Familienkreis herumgereicht werden, fühlen sich nicht ernstgenommen und verstummen, wenn sie älter sind. Sie entwickeln Hemmungen, über ihre Gefühle zu sprechen. In vielen Familien ist es unüblich, daß die einzelnen sagen, was sie denken. Konstruktive Gespräche finden nicht statt. Entweder wird geschwiegen, über Belanglosigkeiten geredet oder gestritten in der Art, daß ein Elternteil über den anderen oder über ein Kind herzieht. Wer sich sprachlich nicht ausdrücken kann, ist kaum in der Lage, eine befriedigende Beziehung zum Du einzugehen. Sprachlosigkeit ist ein Gefängnis der Seele. Darunter leiden ganz besonders Männer, die durch brutale Handlungen auffallen. Sich ausdrücken können, seine Gefühle den Mitmenschen preisgeben, erfordert Bewußtheit und geistige Beweglichkeit. -198-
Jugendliche, denen Worte fehlen, reden mit Fäusten: die Sprache der Gewalt. Sein Gegenüber verstehen lernt, wer seine eigene Befindlichkeit in Wort fassen kann und darf; eine Aufgabe, die auch die Schule vermehrt wahrnehmen muß. Übung macht auch hier die Meisterin. Statt andere verprügeln: auf andere hören. Es ist nur die halbe Wahrheit, wenn immer behauptet wird, Knaben hätten Mühe, über Gefühle zu reden, und pubertierende Jungen einer Abschlußklasse seien zum Beispiel für Lyrik nicht empfänglich. Gedichte bilden, besonders für aggressive und schwierige Jungen, eine Brücke zu ihren Gefühlen. Im Gespräch über das, was der Dichter ausdrücken wollte, sprechen sie unversehens über eigene Ängste und Nöte. Gedichte wie Theodor Storms ›Am grauen Strand, am grauen Meer...‹ oder Hermann Hesses ›Einsam im Nebel zu wandern...‹ lassen über Generationen hinweg offenbar etwas anklingen, das selbst bei Jungen im Brutalo-Zeitalter ankommt. Dialogfähigkeit fehlt nicht nur schwierigen Jungen, sondern auch vielen Erwachsenen. Politiker - live am Bildschirm vergeuden ihre Energien im Diffamieren der Gegenpartei, ähnlich primitiv geht es in vielen Parlamentsdebatten zu. Allgemein müssen wir uns um eine Wiederbelebung der Gesprächskultur bemühen. Auch leise Töne können helfen, Auseinandersetzungen beizulegen. Stille ist in unserer Welt zur Mangelware geworden: Lärm läßt uns im wörtlichen Sinne keine Ruhe finden. Ohne Stille kein Zu-Hören, keine Einfühlung in andere. Carl Rogers begründete 1957 die sogenannte klientenzentrierte Gesprächspsychotherapie: Therapeut und Klient begegnen sich in einer Beziehung, die vom Helfenden positive Zuwendung (Wertschätzung), Echtheit (Kongruenz) und Empathie (Einfühlung) verlangt, was zu einer -199-
Persönlichkeits- und Verhaltensänderung beim Hilfesuchenden führt, sofern er die Zuwendung des Therapeuten annimmt. »Die Selbstentfaltung wird wesentlich durch echte menschliche Begegnung gefördert. Der sogenannte gestörte Mensch, der Klient, unterscheidet sich für Rogers diesbezüglich in nichts von irgendeinem anderen Menschen...«(Alexa Franke, 1982, S. 64). Der Dialog im Alltag beruht zwar nicht auf therapeutischen Gesprächstechniken. Trotzdem könnten wir von Rogers lernen, unser Gegenüber ernst zu nehmen und ihm vorurteilslos zuzuhören. Rogers selbst ging so weit, seine Art der Gesprächsbeziehung zu einer Gesamttheorie des menschlichen Daseins auszuweiten, die sich »auf die Therapie anwenden läßt, auf die Ehe, auf das Verhältnis Eltern und Kinder, Lehrer und Schüler, Hoch- und Niedriggestellte, auf den Umgang von Menschen verschiedener Rassen« in der festen Überzeugung, »daß diese Philosophie auch in der Politik im Umgang mit anderen Nationen zu mehr Menschlichkeit beitragen würde und daß sie an die Stelle der Formel ›Macht schafft Recht‹ treten sollte« (zitiert nach Franke, 1982, S. 70). Rogers hat - als untypischer Vertreter der Gattung Mann - das männliche Dominanzstreben allzu gering eingeschätzt. Seine Lösungsvorschläge scheitern an der Eigendynamik der Macht, am Beharrungsvermögen von Intoleranz und am Trugschluß, seine personenzentrierte Gesprächstherapie sei anwendbar in sämtlichen Konfliktsituationen im Alltag und in der Politik. Trotzdem: ohne gegenseitige Gesprächsbereitschaft wird Gewalt zwischen Herrschern und Unterdrückten, Männern und Frauen, zwischen religiösen Fundamentalisten und Liberalen, Faschos und Linken mit beispielloser Brutalität eskalieren. In Familie, Schule und auch Politik ist dem Dialog mit dem Kind erhöhte Aufmerksamkeit zu schenken. Kinder haben Anrecht auf ein gesprächsbereites Gegenüber, sie müssen zur Artikulation ihrer Gefühle und Ideen angewiesen und ermuntert werden durch Vorbilder und Zuhörende; nur so können sie -200-
aufwachsen in einer Gesellschaft, in der ihre Stimmen gehört werden, ehe sie sich gewaltsam Gehör verschaffen müssen.
6. Erziehung zur Rollenvielfalt reduziert die Entstehung von Vorurteilen Anfang der achtziger Jahre erforschte die Amerikanerin Patricia Linville den Zusammenhang zwischen Denkstruktur und Vorurteilen. Sie untersuchte die Selbstwahrnehmung, die Vielfältigkeit in der Selbstdarstellung ihrer Versuchspersonen, indem sie sie aufforderte, sich selbst anhand einer Liste mit Eigenschaften zu beschreiben und anschließend zu sagen, welche dieser Charakterisierungen einander ähnlich oder unähnlich seien. Je einfacher das Selbstbild der Untersuchten, desto weniger klafften die Eigenschaften auseinander, umso anfälliger hingegen waren die Personen für Gefühlsschwankungen. Je komplexer die Selbstbeschreibungen, desto immuner waren die Befragten gegen negative Gefühlseinbrüche. Personen mit einem einfachen Selbst und mit beschränkten Denkmustern zeichneten sich durch extreme Urteile und emotionale Urteilsschwankungen aus. Sie neigten vermehrt zu Vorurteilen. Jene mit komplexem Denken urteilten ausgeglichener und differenzierter. Weitere interessante Unterschiede wurden in bezug auf die Problembewältigung gefunden. Menschen, deren vielschichtiges Selbst aus vielen Beziehungen zusammengesetzt ist kulturellen, beruflichen, persönlichen, emotionalen und leistungsmäßigen - , sind unabhängiger, autonomer und widerstandsfähiger gegen Belastungen. Wer Beruf und Freizeit völlig trennt, da sie verschiedenen Bereichen angehören, wird von schlechten Stimmungen weniger überschwemmt als jemand -201-
mit einfacherer Selbststruktur, der sich vielleicht nur über seine beruflichen Leistungen versteht. Das Alltagsverständnis erwartet bei einfach strukturierten Personen eher eine größere psychische Stabilität als bei einer komplexen, schillernden Persönlichkeit, zum Beispiel bei einem Künstler. Solche Menschen sind schwer zu fassen und gelten als wenig belastbar. Untersuchungsbefunde zeigen jedoch das Gegenteil. Es wäre daher wünschenswert, die Erweiterung der Selbstkomplexität durch vielfältige Rollenerfahrungen einzuüben, die zur Bereicherung der Identität beitragen. Das Verständnis eines Menschen über sich und andere wird dadurch beweglicher, vielseitiger, emotional stabiler und weniger aggressiv. Wer vielfältige Rollen trainieren kann, verliert eingleisige Denkmuster und wird dadurch toleranter. Teilnahme am politischen Leben, in Aktionsgruppen und verschiedenen Organisationen dient der Rollenkomplexität und lockert die Eingleisigkeit des reinen Leistungsstrebens. Eine größere Zahl von Identitäten vermindert Isoliertheit und reduziert den Alltagsstreß. Größere Rollenvielfalt gehört auch in die Schule. Die Rolle im Klassengespräch ist eine andere als im Rollenspiel, in dem Kinder in die Person des gemiedenen Türkenkindes oder des anderen Geschlechts hineinschlüpfen können. Im freien Unterrichtsgespräch nach der Pädagogin Lotte Müller wurde schon 1950 die Lehrperson an den Klassenrand verwiesen. Jede Selbsttätigkeit in bezug auf das zu Lernende, jede Mitbestimmung fördert das Selbstwertgefühl, trägt bei zur Rollenvielfalt und zum Gefühl der Kompetenz und Autonomie. Fußball spielende und in Handwerkerbetrieben schnuppernde Mädchen sollten bald so selbstverständlich werden wie strickende und putzende Jungen, die vielleicht in einer Kinderkrippe oder einem Behindertenheim ihre Schnupperlehre machen. Die Zukunft gehört dem Säuglingspfleger und der -202-
Pilotin. Wachsen Kinder in eine Rollen- und Berufsvielfalt hinein, wird die Toleranz beider Geschlechter gegeneinander zunehmen, das sture Festhalten an überholten Rollen abnehmen. Vielseitigkeit ermöglicht flexibleres Denken, einen hoffnungsvolleren Ausblick auf die Zukunft und eine größere Belastbarkeit in Krisenzeiten. Solche Menschen suchen eher nach Lösungsmöglichkeiten, bevor sie Frust und Panik undifferenziert und pauschal an anderen abreagieren, seien das nun Fremde, Frauen oder Minderheiten im eigenen Land.
7. Männerförderung erweitert die Rolle des Mannes. Gewaltprävention beginnt im Kinderzimmer Neben Autorinnen fordern auch besonnene Männer immer lauter dazu auf, sich vom männlichen Macht- und Besitzstreben zu distanzieren. Vor allem Männer in leitenden Positionen, denen der Beruf Karriere und Freizeitbeschäftigung in einem ist, zeichnen sich durch mangelnde Rollenvielfalt und starre Persönlichkeitsmuster aus. Diese Protagonisten männlicher Dominanz verhelfen Untugenden wie Aggressivität, rücksichtslosem Konkurrenzkampf und abgeblockten Gefühlen zu dauerndem Ansehen. Verschiedentlich habe ich darauf hingewiesen, daß in der Jungenerziehung Werte wie Fürsorglichkeit, Zärtlichkeit und Einfühlungsvermögen als weiblich und schwach vernachlässigt werden zugunsten von Sachlichkeit, Durchsetzungsvermögen -203-
und instrumenteller Vernunft. Männer bleiben anfällig für Macht, faschistoide Ideen und für Parteien, die, sofern sie den Staat fürs erste nicht in Frage stellen, nicht rechtsradikal genug sein können. Hängt das etwa mit der »abstrakten« Moralität des männlichen Denkens zusammen, die uns immer wieder sehnsüchtig nach den »niederen Werten« der weiblichen Moral wie Verständnis und Mitleid ausschauen läßt? Männer dürften zum Beispiel nicht länger unüberlegt Kinder in die Welt setzen und die Erziehung den Frauen überlassen. Ein Umpolen des männlichen Leistungs- und Machtdenkens zugunsten eines intensiven Kontakts mit kleinen Kindern wäre für die meisten Männer ein Weg zu neuen Werten, zu unbekannten Dimensionen außerhalb der phallischen Sichtweise. Wahres Vatersein entstünde aus der Synthese von Hingabe und Strenge. Der Mann fände seine Ganzheit durch das Zulassen von Gefühlen der Sanftheit, Weichheit und des Staunens über das Wunder der menschlichen Entwicklungsfähigkeit, die nie größer und beeindruckender ist als in den ersten zwei, drei Lebensjahren eines Kindes. Durch die Zuwendung zu den hilflosesten Geschöpfen der Menschheit erhält die »Würde des Menschen« eine neue Qualität. Männer würden gefühlsmäßig profitieren, weniger vergewaltigen, weniger töten ohne ihre Männlichkeit verleugnen zu müssen. Eine »Vermütterlichung der Väter«, wie sie Elisabeth BeckGernsheim 1984 forderte, könnte einen gesellschaftlichen Prozeß zur Entwicklung emotionaler Kräfte auch bei Männern in Gang setzen. Väter entdeckten Werte, die sie bislang verächtlich als weiblich bezeichneten, als nicht mit ihrer männlichen Überlegenheit zu vereinbaren, da ihnen die Erfahrung fehlte, wie bereichernd der Umgang mit kleinen Kindern auch für Erwachsene sein kann. Geduld und Einfühlsamkeit würden Gegengewichte zu der im Beruf dominierenden männlichen Logik schaffen, mit der Gefühle abgewehrt werden. -204-
Statt verbissen um ihre Karriere zu kämpfen, könnten sie sich zuhause beim Kinderhüten und Hemdenbügeln entspannen. Eine schöne Sache. Für die geplagten Männer und für ihre Familien. Manches Managerseminar könnte so eingespart und dasselbe Resultat ökonomischer und erst noch ganzheitlicher erreicht werden: statt in künstlicher und sehr kostspieliger WorkshopAtmosphäre eine im Familiengefüge eingebettete Meditation in der Waschküche. Entspannung, vielleicht nicht total, aber billig und sinnvoll. Nicht nur als rahmschleckende Hobbyväter, die sich beruflich und außer Haus in verantwortlichen Positionen und leitenden Stellungen behaupten, im Kreis der Familie jedoch nur zu gern in die Rolle des zu bemutternden Jungen zurückfallen - wenigstens, wenn gewisse Arbeiten wie Putzen und ähnlich Unattraktives anstehen. Männer sollten, um ihre Rolle auszuweiten, nicht weiter nur die Rosinen aus dem Teig picken, auf Kosten der ohnehin überlasteten Frauen, denen zum Dank das Etikett »schwach« angehängt wird, sondern als gleichberechtigte Partner auch im Haushalt mit anfassen, vielleicht teilzeitlich arbeiten und regelmäßig die Verantwortung für ihre Kinder übernehmen. Männerförderung hätte (parallel zur Frauenförderung) brachliegende Fähigkeiten, das Unterentwickelte und von Männern Verdrängte zu entfalten. Die geförderten emotionalen Seiten würden personenbezogene Bedürfnisse und dadurch ein vermehrtes Interesse am eigenen Kind wecken. Zu hoffen wäre auf die Forderung von Männerseite nach einer Reduktion der Arbeitszeit und der freiwilligen Teil-Abgabe von gesellschaftlichen Privilegien. Es geht um eine partnerschaftliche Teilung aller Bereiche des privaten und öffentlichen Raumes. Wenn Männer sich nicht länger sträubten, ihren Teil auch an langweiligen, mühsamen, unspektakulären häuslichen Arbeiten zu übernehmen, könnten sie den Frauen damit die gleichberechtigte Ausübung wichtiger öffentlicher Aufgaben erleichtern (ohne dauernde Doppelbelastung), ihnen -205-
eine Teilhabe an politischer Macht und der Gestaltung der Welt auch aus fraulicher Perspektive ermöglichen. Umfragen belegen, wie schwer Männern die Auflockerung ihrer Machtpositionen fällt: theoretisch sind zum Beispiel junge Zürcher Mediziner und Juristen selbstverständlich für gleichberechtigte Arbeitsteilung in Beruf und Familie. In der Praxis - es wurde nach der Lebensplanung gefragt - wären knapp 30 von über 200 Befragten bereit, nach der Geburt ihr Kind für kurze Zeit selbst zu betreuen. Wir leben alle auf dem gleichen Planeten - die Egomanen, die ihn und die Menschheit zerstören, mit eingeschlossen. Nur väterliche Fürsorge kann kommende Männer vom Machtwahn befreien, von der Losung: Lieber tot als machtlos. Neue Vorbilder müssen her: Männer mit der Einsicht, daß die Welt heute nur noch verwaltet werden kann in partnerschaftlicher Verantwortung, welche männliche und weibliche Aspekte des Denkens vereinigt, und zwar auf allen Gebieten, nicht nur den schwerpunktmäßig Frauen oder Männern zugeschriebenen.
8. Politiker und Politikerinnen müssen sich mit den Ursachen zur Brutalisierung unserer Gesellschaft ernsthafter auseinandersetzen und der Menschenverträglichkeitsprüfung höchste Priorität vor anderen Kriterien einräumen Die gewalttätigen Jugendlichen von heute bestimmen morgen die Welt mit. Welche Wertvorstellungen wird diese auf Gewalt -206-
geprägte Generation an ihre eigenen Kinder weitergeben? Wie wird sie mit den Alten umgehen, den Behinderten, Kranken und Schwachen? Mit Grauen nehmen manche Regierende erstmals wahr, was da an Horror auf uns zukommen mag. Die jahrelange Zentriertheit auf die linke Gefahr rächt sich: Gewehr bei Fuß, so reagierte die deutsche und die schweizerische Politikerklasse seit dem Zweiten Weltkrieg auf jedes Räuspern aus linken Kreisen. Unzählige wurden überdies fälschlicherweise als Staatsfeinde registriert. Erstaunt entdeckten sie ihre Namen in den Akten der Staatssicherheitsdienste. Unter so viel emsiger Bespitzelung der linken Szene entfaltete sich das rechte Spektrum unbelastet und schamlos direkt, zum Beispiel mit deftigen staatsfeindlichen Aussprüchen am Fernsehen und in diversen Publikationen. Zu lange fühlte sich die Politklasse von rechts außen nicht bedroht, wurden rechtsextreme Gewalttäter behandelt wie ungezogene Buben. Der Verniedlichung der Neonazis folgt das böse Erwachen: der deutsche Staat - Exekutive und Legislative wird mit der aufgehenden braunen Saat nicht fertig. Endlich erkennt die Mehrheit der Staatsanwälte und Politikerinnen, daß eine ihrer Hauptaufgaben darin besteht, eine weitere Ausbreitung des Rechtsradikalismus zu verhindern. Dazu sind alle Kräfte demokratischen Denkens gefordert, nicht zuletzt die Zivilcourage, gegen den Strom zu schwimmen, das heißt sich gegen rechtslastige Schlagworte, Behauptungen und Texte zu wehren. Die Politik ist nicht unschuldig am gegenwärtigen Mißtrauen gegen den Staat und an einem Klima, in dem nicht nur Skins nach einem Führer verlangen. Bestechlichkeit und Doppelmoral sind strafbare Delikte und zerstören die Glaubwürdigkeit politischen Handelns. Billig tönt es, wenn Regierende sich reinwaschen, ehe sie die Lage analysiert haben. Propagiert werden Familienwerte und -207-
alte Tugenden - zur »Aufmunterung« werden die Leistungen im sozialen Bereich gekürzt. Dem Kind, den neuen Formen von Familie, der Jugend muß in der Politik eine höhere Priorität zukommen. Die Kids dürfen nicht nur in Schul-, Jugendkriminalitätsund Scheidungsstatistiken auftauchen, sie müssen optisch in Erscheinung treten. Ihre Mitbestimmung ist gefragt: im Städtebau, im Planen von Spielzentren, im Errichten von Freiräumen, die ihnen gehören. Berichte von Jugendkommissionen sollen endlich ernstgenommen werden und damit die Bedürfnisse der Jugend, auch der nichtangepaßten; und die seit Jahrzehnten erhobenen Studien über Ursachen der Gewalt - auch in den Medien müssen nicht sinnlos wiederholt und erweitert, sondern endlich diskutiert und reflektiert werden. Besonders Politiker konservativer Parteien nehmen an, ein verschärftes Jugendstrafverfahren könne Gewaltdelikte verhindern. Ob fünf oder neun Jahre Jugendknast: was kümmert das einen gewaltsüchtigen Jungkriminellen? Beispielhafter und erfolgversprechend ist das Antigewalttrainingsprojekt (AAT) der Jugendstrafanstalt Hameln. Jens Zweifel, ein Diplompsychologe, setzt sich dort seit 1986 mit jugendlichen Gewalttätern auseinander. Wiederholungstäter - wie andere Leute einen Hang zum Alkohol, haben sie einen Hang zur Gewalt - werden im AAT mit Fitneßtraining, Einfühlung in die Lage des Opfers im Team mit Psychologen, Psychiatern, Sozialarbeitern wohl nicht zu Pazifisten, aber zu weniger extremen Schlägern. Das Modell weist eine geringe Rückfallquote auf, müßte deshalb weite Beachtung finden und von der öffentlichen Hand finanziert werden. Wie der Staat die Anliegen der Jugend vernachlässigt oder -208-
vertritt, kann Gewalt fördern oder vermindern. Aggressive Jungen haben ohnehin kein Interesse an traditioneller Politik. Ihre Bereitschaft und Befähigung zu demokratischer Verantwortung und Mitbeteiligung muß zuerst geweckt werden. Jugendpolitik kann nicht länger im Elfenbeinturm stattfinden. Es braucht Kinder- und Jugendparlamente, und die Gesellschaft muß sich bewußt werden, daß Kinder sich heute geistig früher entwickeln, dank der Medienpräsenz mehr wissen und auch fähig sind, kompetent ihre Meinungen zu äußern. Ein schweizerisches KinderUmweltschutz-Parlament fordert Mitspracherecht im Bereich von Gemeindeverwaltungen und verlangt, daß Kinderängste in Bezug auf Zerstörung der Umwelt von Politikerinnen und Politikern zur Kenntnis genommen werden. Der Warteraum zwischen Kindheit und Erwerbsleben wäre konstruktiver zu nutzen, und zwar nicht nur von den Kindern der Mittel- und Oberschicht. Außer für Drogentherapien könnte Geld flüssig gemacht werden für Ideenbörsen und Kreativitätsförderung im Kindesalter. Nicht fertiggebaute Jugendzentren tun not, sondern Stätten der Selbsttätigkeit. In Frankfurt an der Oder entstand das Projekt Jugend gegen Gewalt‹ . Eine Schule, die für ihre brutalen Ausschreitungen berüchtigt war, geht konkret und mit Erfolg gegen Gewalt vor. Die Kinder erklären, seit sie »eine Verantwortung haben«, seien sie weniger anfällig für aggressive Ausschreitungen. Das macht Sinn, hebt Langeweile und Öde ihrer Existenz auf. Menschen, die Verantwortung übernehmen, tragen Sorge. Für sich und andere. Ein Gegenpol zur Destruktion. Der Überforderung von Eltern könnte mit subventionierten Elternweiterbildungskursen vorgebeugt werden. Entwicklungspsychologie gehört in den Lehrplan der Oberstufe. Kompetent geführte Krippen und Kindertagesstätten müssen -209-
eine Selbstverständlichkeit und nicht von sturen Politikerinnen mit dem Untergang der Familie und mit Rabenmüttern gleichgesetzt werden. Wir brauchen eine Gesellschaft, die sich von ihrer Verlogenheit, ihrer Doppelbödigkeit verabschiedet und nicht Männer und Frauen mit zweierlei Maß mißt. Verheerend und indirekt gewaltfördernd ist die neue Sparpolitik: Was kurzfristig im sozialen Bereich gespart wird, muß längerfristig in Rehabilitation von Suchtkranken, Jugendheim- oder Gefängnisinsassen investiert werden. Gewalt muß, wo immer möglich, verhindert werden, und dazu braucht es Geld: für psychologische Aufklärungen, Familien- und Elternbetreuung. Verhaltensauffällige Kinder sollten früh eine geeignete Behandlung erhalten, ohne daß ihnen das Stigma des Abnormalen anhaftet. Solange eine psychiatrische Behandlung oder eine Heimeinweisung noch immer als Makel verschwiegen werden muß, Mütter immer noch öffentlich für alle Übel ihrer Nachkommen haftbar gemacht werden, ersetzen Notfallmaßnahmen die Prävention. Wertvoll wäre eine intensivere Zusammenarbeit im interdisziplinären Bereich der Sozialwissenschaften mit der Politik. Wenige Steuerzahler stellen sich vor, was an halb ausgewerteten Forschungsprojekten, an Datenmaterial in den Schränken universitärer Institute lagert. Doppelspurigkeiten sind an der Tagesordnung. Jede Abteilung forscht zu ihrer Selbstbefriedigung und veröffentlicht zu ihrem Ruhm. Durch Koordination der verschiedenen Projekte könnte eine Menge Geld und Zeit gespart und außerdem die Öffentlichkeit gezielter informiert werden. Das Thema Kindergewalt, in einem großen umfassenden Projekt unter verschiedensten Perspektiven vom familiären Umfeld bis zum Versagen der politisch -210-
Verantwortlichen angegangen, einmal umfassend und nicht in Dutzende von Studien aufgesplittert: eine Aufgabe von großer Dringlichkeit. Die Ergebnisse von Aggressions- und Konfliktforschungen müssen einem breiten Teil der Bevölkerung zugänglich gemacht und positiv umgesetzt werden im Verhaltensrepertoire von Politikern und Parlamentarierinnen. Der Zürcher Kinderpsychiater Heinz Stefan Herzka hält in Ergänzung zur internationalen Konvention der Rechte des Kindes (analog zur Umweltverträglichkeitsprüfung) eine Kinderverträglichkeitsprüfung für notwendig: »Unter Kinderverträglichkeitsprüfung verstehe ich ein Verfahren, welches die Auswirkungen aller größeren privaten und staatlichen Projekte und Pläne auf die Lebenswelt von Kindern und Jugendlichen abklärt. Ein solches konsultatives Verfahren sollte aber mit der Zeit institutionalisiert und verankert werden. Die Durchführung muß einem interdisziplinären Gremium übertragen werden, dem neben verschiedenen Fachleuten, die sich theoretisch und praktisch mit Kindheit befassen, auch Laien angehören. Bei der Zusammensetzung müssen die unterschiedlichsten Generationen ebenso wie die existentiellen Beziehungen zu Kindern... vertreten sein. Auch Kinder und Jugendliche sollten ihm angehören. Zu prüfen sind die Auswirkungen auf die alltäglichen Erfahrungen, auf die Entwicklung von Wertvorstellungen, von individuellen Entfaltungsmöglichkeiten, von Konfliktstrategien sowie sozialen Einstellungen und anderes mehr. Die abschätzbaren Auswirkungen müssen in einem Gutachten analysiert und formuliert werden.... Ein solches Gutachten hätte nach bestem Wissen und Gewissen die Interessen der Erwachsenen von heute denjenigen der Kinder und Jugendlichen gegenüberzustellen. Zielkonflikte müßten offengelegt, Widersprüche aufgezeigt und Entscheidungshilfen -211-
angeboten werden. Eine solche Kinderverträglichkeitsprüfung würde nicht zuletzt das Bewußtsein der Öffentlichkeit für die Interdependenz zwischen Kindern und Erwachsenen fördern und dies auch Entscheidungsträger Innen klarmachen« (1992, S. 19f.). Ohne Kinder- und Menschenverträglichkeitsprüfung wird die Politik der Zukunft versagen. Weite Bevölkerungskreise fühlen sich vom Staat nicht vertreten. Unverhohlen sympathisieren viele Menschen mit faschistoiden Ideen, mit jungen Brandstiftern. Das bürgerliche Leitmotiv: Eigentum und Eigennutz an erster Stelle klingt vielen hohl, denn sie stehen der Straße näher als den Villen. Die Welt ist voller Hakenkreuze, Brutalität zum Normalfall geworden. Niemand weiß heute, ob er/sie nicht der physischen Zerstörung durch Demokratiefeinde zum Opfer fällt. Keine und keiner wiege sich in Sicherheit, weil sie die Sprache des Landes sprechen. Die jungen Rassisten von heute sind die Staatsbürger von morgen, und ihr schweigender Anhang ist nicht am Abnehmen.
9. Humor ist ein Mittel gegen Gewalt Wer sich in den Ausbildungsstätten angehender Lehrerinnen und Lehrer umsieht, entdeckt eine Fülle didaktischen und methodischen Materials, hinter der die Persönlichkeit der Lehrkräfte oft verschwindet. Nicht zu ihrem Vorteil. Viel Papier und Energie wird auf die Darstellung und Einübung quasi neuer Methoden verwendet. Vorgefertigte Lektionen häufen sich, auch Anti-Gewalt-Unterricht kann im -212-
Multipack bezogen werden: Körpertraining gegen Gewalt: 12 Übungen mit Begleittext und Einführungsworten. Gewalttraining, in dem Lehrkräfte nur Durchlauferhitzer sind für Lektionen, die jemand anderer für andere Kinder in anderen Konfliktsituationen erstellt hat, ist indessen weniger erfolgversprechend, als wenn auf Aggressionen spontan reagiert wird. Eine Möglichkeit, die viel zu selten erwähnt wird, ist das Auffangen gewalttätiger Reaktionen mit Humor. Humorvolle Pädagogen scheinen auszusterben, in der Erziehung ist Humor kein Thema. Das hängt wahrscheinlich mit der Psychologisierung unseres Alltags zusammen. Lachen und Fröhlichkeit wirken in der ernsten, problemverstellten Psycholandschaft beinahe obszön. Konfliktanalysen sind angesagt, Probleme werden dramatisiert, erst recht, wenn es um Gewalt, Aggression und ähnlich Bedrohliches geht. Da bleibt das Lachen im Hals stecken. Die Stimmung ist gedrückt, unheilverkündend. Humor ist - besonders in schwierigen Situationen - eine wirkungsvolle Waffe: unblutig und nicht verletzend. Eine witzige Bemerkung kann eine explosive Situation entschärfen und zum Einlenken führen. Außerdem vermag eine gelöste Stimmung Kinder eher zum Arbeiten anzuregen als eine verdrießliche. An ihrer Aufgabe zerbrochene Lehrer verbreiten ebenfalls keine Begeisterung, wenn sie - vom Disziplinarstreß ruiniert - die Zeit bis zur Frühpensionierung lustlos abhocken und sich in fruchtlosen Vergleichen mit früheren Klassen ergehen. Damals waren die Kinder noch respektvoll, folgsam und fleißig. Nostalgie: so zutreffend wie die Verklärung der heilen Familie. Humor lockert auf und entspannt, ist nie ätzend oder beschämend. Scharf zu verurteilen ist dagegen jede Art von Ironie oder Zynismus in Auseinandersetzungen mit Kindern. -213-
Diese Art Witzigkeit verstehen Kinder selten. Ein Kind vor der Klasse bloßzustellen ist nicht humorvoll, sondern gewalttätig. Verletzende Bemerkungen wie »aus dir wird nie was« gehören keineswegs einer ausgestorbenen Lehrergeneration an. Humor bewegt sich auf einer Ebene, die Kindern zugänglich ist und die sie lieben. Entwaffnend sind auch Lehrerinnen, die über sich selbst lachen können, sich nicht tierisch ernst nehmen, und Lehrer, die keinen Imageverlust erleiden, wenn sie einen Fehler zugeben. Langeweile und Sturheit begünstigen aggressive Enthemmung, Ausschreitungen gegen Lehrer und Altersgenossinnen. Die Persönlichkeit des Lehrers, der Lehrerin entscheidet mit, ob Gewalt in Klassen Einzug hält, ob sie das Klima vergiftet und wie ihr begegnet werden kann. Eine gewisse Leichtigkeit im Tonfall und im Umgang mit Kindern entschärft aggressive Ladungen, die sonst hochgehen und mehr Unheil anrichten als eine unterbrochene Lektion. Humor, Überlegenheit und Spannung im Unterricht: drei Eigenschaften, die im Kampf gegen Gewalt einen gewissen Erfolg versprechen. Durch Humorlosigkeit zeichnen sich nicht nur Seelenkundler und Pädagoginnen aus. Bitterböse und zynischer geht es unter Politikern zu. Solange Rechthaberei und Machtgier sachliche Argumentation ersetzen, Selbstkritik ein Fremdwort ist, tönt hämisches Lachen aus Regierungsälen, trägt bei zur Polarisierung und Verhärtung der Standpunkte. Humor hat eine Beziehung zum Leben, zum erfrischenden Lachen. Ernst und Langeweile werden häufig zusammen mit dem Tod genannt: todernst, todlangweilig, totenstill. Ein Merkmal von Machtbesessenheit und Despotismus ist Humorlosigkeit - welcher Diktator ist bekannt für seinen Sinn für Humor? Lorenz verstieg sich gar zur Behauptung: »... Menschen, welche lachen, schießen nie!« (1974, S. 256). Sinn für Humor als Gegengewicht zu Intoleranz und -214-
Vorurteilen bedarf der Aufwertung und der Pflege. Angestaute Wut läßt sich in befreiendes Gelächter umpolen, erhobene Fäuste öffnen sich vielleicht zum Händedruck. Es kostet Pädagogen und Eltern nichts, sich auf dieses einfache Erziehungsmittel zu besinnen, und im Alltag versöhnt Humor oft mit Mißverständnissen und Rivalitäten.
10. Kreativität ist die beste Antwort auf Gewalt »The best way to answer violence is creativity.« Hundertwasser Wenn Eigen- respektive Nächstenliebe unser Handeln bestimmten, gepaart mit Kreativität, würde anstelle mafioser Übervorteilungspraxis das geistige Potential vieler Männer und Frauen für eine Menge überzeugender Lösungen von Konflikten sorgen. In diesem Sinn erzogene Menschen hätten Spaß an Auseinandersetzungen in Form von Spielen, bei denen es nicht um Siegerinnen oder Besiegte, wohl aber um die originellsten Kompromisse mit den geringsten gegenseitigen Einbußen ginge. Streiten im Alltag würde zu einer kreativen, sinnvollen Tätigkeit. Es könnte sich so etwas wie eine Kultur der Auseinandersetzung entwickeln. Für viele tönt das vielleicht ein bißchen naiv, blauäugig und utopisch. Aber in der Enge einer durch das Böse begrenzten Welt überlebt nur, wer sich wenigstens zu gedanklichen Utopien aufrafft. Hundertwassers Architekturmodelle, seine Idee, die Bewohner ihre Hausmauern eigenhändig verzieren und ihre Dächer bepflanzen zu lassen, sind sicher bessere Mittel gegen Alltagsfrust als genormte graue Hausfassaden, -215-
erlaubnispflichtige Kübelbäumchen und das Verbot, Tiere und Kinder in der Wohnung zu halten. Kreativität sollte nicht von oben gelenkt sein. Junge Menschen, die in einer alternativen Fabrik wie in Zürich die Wohlgroth oder in Berlins »Szenehäusern« ihre besondere Art von Kultur pflegen, in Gemeinschaft mit Gleichgesinnten ihren Ideen Ausdruck verleihen, sollte Beifall statt Widerstand zuteil werden. Warum nur ärgern sich viele so sehr über die jugendliche Alternativkultur, mußte das ›Kanzlei‹ in Zürich - ein Ort der Begegnung auch für sozial Benachteiligte - sturem Rechts-Denken weichen? Woher diese Angst vor jedem unkonventionellem Gesinnungshauch, jeder unüblichen Äußerung? Neid auf eine Unbekümmertheit, die sich Positionsstreber nicht leisten können? Und weshalb erregen junge pöbelnde Bierhelden, die ihre Fantasielosigkeit stur auf vier Rädern austoben, nicht denselben heftigen Unwillen wie ein paar Radfahrer, die provokativ oder gedankenlos den Verkehr behindern? Kreativität, eine Antwort auf Gewalt. Rollenspiele, Theater, Tanz, Bewegung aus der Wut im Bauch, Gruppenbilder, Einzelgemälde, Texte, Gedichte, Musik, Improvisation, Filme und Videos von Jugendlichen: geeignete Mittel, um destruktives Verhalten einzudämmen - und immer wieder Konflikttraining. Im Kindergarten, in der Familie, der Schule, im Betrieb. Auch Körperarbeit gehört dazu. Angefangen beim rechten Sitzen, Gehen, unverkrampften Sich bewegen. Kleine Kinder haben im allgemeinen ein völlig unbefangenes Verhältnis zu ihrem Körper, ungehemmt und rhythmisch bewegen sie sich zu Musik, und erst später, wenn sie sich ihres Geschlechts bewußt werden, entstehen Hemmungen oder Affektiertheit. Hochgezogene Schultern, eingeklemmte Hintern, ungelöst hastiges Gehen können auch auf unterdrückte Aggressivität hinweisen. Das bedeutet zurückgehaltene, gestaute Energie und -216-
kann spielerisch gelockert werden. Die eigene Stimme wird in unserer Kultur ohnehin vernachlässigt. Soviel Aufmerksamkeit wir auf unser Aussehen verwenden, so wenig kümmern wir uns um die Stimme. Unser Verhältnis zu ihr ist gebrochen. Hören wir uns auf Kassetten sprechen, heißt es: »Schrecklich, das bin doch nicht ich«. Wir kennen die Färbung unserer Stimme nur unvollkommen. Singen, rufen schreien, brüllen, flüstern, jauchzen, jodeln, heulen, pfeifen: alles Mittel, um unsere Gefühle und Aggressionen nach außen zu entlassen und uns gleichzeitig zu entlasten. Die Stimme ist ein Instrument, das jeder hat und nur wenige außerhalb der Umgangssprache benützen. Und da wird Wert gelegt auf beherrschte Förmlichkeit. Wer griffe sich nicht an den Kopf, träfe er eine Frau, welche sich laut singend mit Freunden unterhält, einen Mann, der sich nach jedem Satz eins pfiffe, einen Schüler, der seine Antworten faucht. Wir getrauen uns als gewöhnliche Sterbliche weder öffentlich zu weinen, noch unsere Freude springend und hüpfend in einer belebten Straße auszuleben oder mit der Faust vor Ärger etwa auf einen Containerdeckel zu hauen. Aus gehemmten Aus-Druck entsteht umso häufiger hemmungslose Zerstörungswut. Mit Rock gegen Haß. Immer mehr Rockgruppen versuchen, auf ihre Weise Aggressionen zu kanalisieren und kulturübergreifend gegen Gewaltausbrüche anzusingen. Musik, eine Kraft gegen Vandalismus, gegen Langeweile und Unausgeglichenheit. »Mehr Musik, bessere Bildung«: Ein dreijähriger Schulversuch (1988-1991) in Schulen aus elf Kantonen der deutschen und der französischen Schweiz bestätigt die These vom Bildungswert der Musik. Die Versuchsklassen erhielten wöchentlich fünf Lektionen Singen/Musik. Entsprechend -217-
reduziert wurden andere Fächer. Trotz diesem »Abbau« entstand im Vergleich zu den Kontrollklassen kein Verlust an Wissen. Ausdrucksfähigkeit, Schulmotivation, soziale Kompetenz, Toleranz und Verständnis für die Mitmenschen haben sich hingegen deutlich erhöht. Eine Aufwertung des Musikunterrichts scheint aufgrund dieser Resultate angebracht, nicht nur im Hinblick auf die Leistungssteigerung, sondern vor allem auch wegen des aggressionssenkenden Effekts. M. Csikszentmihalyi, unter dem Kürzel Mihaly bekannt, beschrieb 1985 in seinem Buch ›Das Flow-Erlebnis. Jenseits von Angst und Langeweile: im Tun aufgehen‹ eine Gruppe kalifornischer Bildhauer und Maler, die er bei der Entstehung ihrer Werke beobachtet hatte. Nach Beenden der Arbeit erlosch das Interesse der Künstler an ihrem Werk. Sie stellten Bild oder Skulptur weg und begannen mit der gleichen Intensität etwas Neues. Mihaly entdeckte diesen Zustand, ganz von einer Tätigkeit gefangen zu sein, auch bei anderen Menschen und nannte in flow (fließen, Fluß). Ein Flow-Erlebnis löst ein totales Glücksgefühl aus, einen Zustand absoluten Insichselbstseins, ein Aufgehen in dem, was er oder sie gerade tut. Flow stellt sich ein beim Extremklettern, Schachspielen, beim Sticken, Lesen. Beim Musikhören, aber auch beim Schlendern, beim ungezwungenen Im-Cafe-Sitzen und Leutebetrachten. Meditieren und Dösen können es auslösen. Dieses Aufgehen im Augenblick ist eine Voraussetzung schöpferischer Aktivität und ein notwendiger Ausgleich zu unserer rationalen Kultur mit ihrer Verdrängung des »Unnützen«. Flow dient auch der Umsetzung von aggressiven Impulsen in Kreativität, ganz im Sinne Hundertwassers. Im Zustand der Übereinstimmung mit sich selbst und seinen Gefühlen ist der Mensch autonom. Vor allem Männer, die von klein an auf Leistung getrimmt werden, können im Sichhingeben an ein nicht effizientes Tun ihrem Selbst näherkommen, ihre Angst vor der Leere, die immer -218-
auch eine Angst vor der Angst ist, überwinden und einen Abbau an destruktiven Gefühlen erleben. Ein Flow-Erlebnis haben Kinder auf jeder Entwicklungsstufe beim Spielen. Ein Spiel, dem das Kind total hingegeben ist, sollte nicht ohne zwingende Notwendigkeit unterbrochen werden. Es fördert die geistige Entwicklung und sämtliche Sinne. Mit dem Rollenspiel entwickelt sich das Zusammenspiel mit anderen, das Einüben sozialen Verhaltens. Spielen ist zum Ausagieren von Gefühlen wichtig. Im Spiel übernimmt das Kind die Rollen von Außenstehenden, von Eltern und Angehörigen. Das erlaubt ihm, Frustrationen, Ängste, aber auch Wut, Haß und Neid zu verarbeiten, auszuleben. Neid auf jüngere Geschwister, die angeblich mehr geliebt werden, auf den gleichgeschlechtlichen Elternteil. Neid ist die Wurzel heftiger Empfindungen. Eifersucht hat eine Schlüsselstellung inne bei Beziehungsdelikten, die zum Auslöschen ganzer Familien führen. In der Spieltherapie werden die Konflikte und Familienkonstellationen verhaltensauffälliger Kinder sichtbar und können durch spielerische Darstellung und Wiederholung zur psychischen Gesundung verhelfen. Viele Kinder suchen das Flow-Erlebnis in ihren Tagträumen. Sie liegen auf dem Bett, hören Musik und tun nichts; zum Ärger der Mutter, die dieses Müßigsein bald einmal glaubt mit einem mehr oder weniger zufälligen Auftrag stören zu müssen. »Geh doch bitte..., hilf mir doch schnell..., wie steht's mit den Aufgaben? Du würdest gescheiter aufräumen.« Sätze, die jedes Kind besonders schätzt. Aus Erwachsenensicht wirkt dieses Herumhängen unproduktiv, eben faul, im Sinne von Zeitvertrödeln. Doch das Kind tankt in diesen Stunden auf, regeneriert seine Kräfte, um den Alltagsfrust besser zu überstehen, aber auch, um Ideen zu sammeln, die es später einmal in Taten oder künstlerische Darstellungen umsetzen kann. -219-
Hundertwassers Credo zur Kreativität ist vermutlich eine der wirksamsten Alternativen zum sinnlosen Demolieren. Jugendliche, die wegen ihrer schöpferischen Einfalle beachtet werden, erringen positive Aufmerksamkeit und Ansehen nicht nur unter ihresgleichen. Die Prophylaxe zum Abbau von Aggression und Langeweile: totaler Einsatz für eine freigewählte Tätigkeit. Die Befriedigung gilt weniger der vollbrachten Leistung als der körperlichgeistigen Herausforderung. Einen eindrücklichen Ausweg aus der wachsenden Resignation Jugendlicher schilderte der engagierte New Yorker John Simon, Leiter eines Jugendzentrums, in seinem Bericht über das Dom-Projekt, so genannt nach einem großen, freitragenden Bauwerk, das er in den siebziger Jahren mit SlumJugendlichen in härtestem Einsatz errichtet hatte. Die Freiwilligen stammten alle aus einem Milieu von Armut, Drogensucht, Kriminalität und kulturellen Gegensätzen. Diese jungen Menschen erbrachten eine erstaunliche Leistung, weil jemand ihnen eine Chance und den Glauben an ihre Fähigkeiten gab. Der Dom: ein vielbesuchtes Freizeitzentrum, in welchem die jungen Leute sich von Jazztanz bis zum Szenejournalismus eine ihnen zusagende Rolle wählen konnten, die Dutzende vor Psychiatrie oder Knast bewahrte. Ernstnehmen junger Menschen heißt, ihnen Freiräume anbieten zur Verwirklichung und Gestaltung einer ihnen entsprechenden Daseinsform, die auch Züge einer Gegenkultur enthalten darf, solange sie nicht zu Rassismus, Gewalt und Zerstörung aufruft. Simon schreibt: »Ich hasse es jedoch, soziale Projekte mit ökonomischen Zahlen zu rechtfertigen... Selbst wenn das Dom-Projekt entschieden mehr kosten würde als heute, würde ich trotzdem argumentieren, daß es eine bessere Anlage öffentlicher Gelder darstellt als unnütze Subventionen, -220-
sinnlose Kanäle, Kredite und Unterstützungen für multinationale Konzerne, oder makabre Cruise-Missile-Systeme« (1984, S. 207f.). Solange bei uns eine Menge Geld ausgegeben wird für endlose Sitzungen und Untersuchungen im Bereich Sozialarbeit, anstelle ausbaufähiger alter Lagerschuppen neue, ästhetisch möblierte Jugendzentren angeboten werden, muß sich niemand über zunehmenden Vandalismus beklagen. Sterile Räume schützen so wenig vor Gewalt wie neue Kneipen vor Alkoholmißbrauch. Jugendliche im Abseits, Skins, aggressive Arbeitslose, Süchtige, von Brutalität Faszinierte und andere Abgestürzte brauchen eine Herausforderung, eine positive Provokation, ein Angebot, das sie bis an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit führt und einen konstruktiven Aggressionsschub auslöst. Denn der Weg ist das Ziel.
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