Band 3 Karawane der Wunder
Vorwort Auch der dritte Band, in dem der Historiker Cyr Aescunnar auf dem Fluchtplaneten G...
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Band 3 Karawane der Wunder
Vorwort Auch der dritte Band, in dem der Historiker Cyr Aescunnar auf dem Fluchtplaneten Gäa, im Neuen Einsteinschen Imperium gelegen, Atlans Zeitabenteuer-Erzählungen den ANNALEN DER MENSCHHEIT hinzufügt, vereinigt in sich den Text von vier Taschenbüchern. Sie wurden in den Jahren 1975 bis 1977 geschrieben und jeweils etwa ein Jahr später veröffentlicht. Es sind das neunte bis zwölfte Abenteuer von mehr als 60 Berichten des »Einsamen der Zeit«, der zwischen 8000 vor der Zeitwende (nach dem Untergang des arkonidischen Atlantis) bis 2040 n. Chr. seinem Entritt in die Rhodan-Welt, im Auftrag der Superintelligenz ES und ebensooft aus eigenem Entschluß versucht, den barbarischen Bewohnern des dritten Planeten von Larsafs Stern den Weg zu Kultur und Zivilisation zu zeigen beziehungsweise zu erleichtern. Der arkonidische Kristallprinz und Thronfolger, der nach den strengen Prüfungen der ARK SUMMIA von ES einen Zellschwingungsaktivator und damit die potentielle Unsterblichkeit verliehen bekam, versteckt sich im Biotiefschlaf, beschützt von seinem Hochleistungsroboter Rico, in 2500 Meter Tiefe im leistungsfähigen Überlebenszylinder und wird, wie auch andere Bewohner des Planeten, vom Geistwesen ES scheinbar skrupellos manipuliert – zum Wohl der Erde. Der Planet Wanderer befindet sich nahe einem Endpunkt seiner kosmischen Bahnellipse in der Nähe des Solsystems, und so wird der Kosmopsychologe, Kosmokolonisations Infrastrukturplaner und ausgebildete Dagorkämpfer Atlan zum Werkzeug von ES: In chronologischer Folge erlebt er die Karawane der Wunder (Taschenbuch Nr. 162), wird zum Nomaden der Meere (Nr. 165), befreit den Planeten, der Im Bann des schwarzen Dämons steht (Nr. 173), und wird zum Kämpfer für den Pharao (Nr. 177). Die Originalromane erschienen ab 1976; nach knapp zwei Jahrzehnten haben viele seriöse Forschungen die wirkliche historische (Atlan-) Welt verändert. Viele Recherchen und eine
gründliche stilistische Bearbeitung stellten sich als unumgänglich heraus, und so finden sich zwischen dem originalen Text und der notwendigen verbindenden Rahmenhandlung viele neu geschriebene Passagen; diese textliche Betreuung wird bis zum letzten Zeitabenteuer nötig bleiben. Die vier Erzählungen des vorliegenden dritten Hardcover-Bandes umfassen die Zeit zwischen 1989 und 1915 vor der Zeitwende. Auf den Umschlag-lnnenseiten sind die phantastischen und beschwerlichen Wege Atlans und seiner Getreuen über Land und auf See und deren Knotenpunkte als Hilfe für die Phantasie dargestellt. Rainer Castor half mir dankenswerterweise beim Zähmen der Datenmenge. München, im Frühjahr 1993 Hanns Kneifel
Prolog Der schwarzhaarige Moderator von Gäa-TV hob langsam den Kopf und sagte sichtlich betroffen: »Noch lebt Lordadmiral Atlan. Das Ärzteteam der Überlebensstation ist, den Umständen nach, gemäßigt optimistisch; zwar schwebe der prominenteste Patient des Krankenhauses nach wie vor auf dem messerscharfen Grat zwischen Tod und Leben, aber es werde alles Menschenmögliche getan.« Für wenige Sekunden wurde das Bild des Arkoniden eingeblendet, dessen Körper als dunkle Silhouette in der Nähr und Heilflüssigkeit ruhte. Die goldfarbene SERT-Haube war nach oben geglitten; einige Ärzte in sterilem Hellgrün umstanden den Tank und verhinderten, daß die Fernsehzuschauer mehr als einen flüchtigen Blick auf Atlan werfen konnten. Der Sprecher schloß: »Wie wir erfahren konnten, berichtet der Statthalter des Neuen Einsteinschen Imperiums während seines postoperativen Überlebenskampfes faszinierende geschichtliche Erlebnisse aus seinem langen Leben. In der Umgebung der Intensivstation sind weder Ton- noch Bildaufnahmen gestattet. Einer der verantwortlichen Mediziner, Dr. Ghoum-Ardebil, drückte vorsichtigen Optimismus aus, was die Heilungschancen Atlans betrifft.« Cyr Aescunnar schaltete kopfschüttelnd den Empfänger aus. Er wußte es besser. Die KHAMSIN hatte Atlan am 25. August 3561 in letzter Sekunde nach Gäa, ins Versteck in der Dunkelwolke Provcon Faust, gebracht; er und seine kleine Mannschaft hatten das vulkanische Inferno des berstenden Planeten Karthago II überlebt. Seit diesem Tag lag der Arkonide im abgeschotteten Bereich des Medo-Centers und kämpfte um sein Leben. Nicht nur der Geschichtswissenschaftler war überzeugt, daß Atlans Überlebenschancen von Tag zu Tag gestiegen waren. Die höchstentwickelte medizinische Technik und die besten Arzte, über die das NEI auf Gäa verfügte, überwachten jede Sekunde des qualvollen Wiederherstellungsprozesses. Ein Umstand aber irritierte
Aescunnar und dämpfte seinen Optimismus: Seit neun Tagen schwieg der Arkonide. Cyr war allein in seinem Arbeitsraum. Die lange Unterbrechung in Atlans Berichten aus der fernen Vergangenheit der Erde hatte der Historiker dazu verwendet, sein Büro, die externe Forschungsstelle der Chmorl-Universität, gründlich aufräumen zu lassen. Alle Unterlagen waren geordnet und präzise katalogisiert. Er warf durch dunkle Brillengläser einen Blick auf den Chronometer. Kurz nach Mittag. Sonnenschein durchflutete die Räume; die Klimaanlage war ausgeschaltet, eine kühle Gäabrise wehte durch die weit offenen Balkontüren und ließ einzelne Staubteilchen tanzend funkeln. Aus der Pantry roch es nach starkem Kaffee. Cyr setzte sich auf die Lehne seines schweren Arbeitssessels und blickte das Regal an der Büro-Längswand an. Auf zwölfeinhalb Metern Länge, deckenhoch, stapelten sich Tausende alter Bücher, Folienbände, Buchchips, Lesespulen und Musicubys. In die Datenträger mit ihren grellfarbigen Rücken hatten er und die Roboter Ordnung gebracht. Eine innere Stimme sagte Aescunnar, daß Atlans seltsames, durch eine Änderung seines Zustandes nicht zu erklärendes Schweigen bald vorbeisein würde; oder schwieg der Arkonide, well es mit zunehmender Heilung die Notwendigkeit nicht mehr gab, sich vom angestauten Druck der Erinnerungen befreien zu müssen? Die Wahrscheinlichkeit, im nachoperativen Schock zu sterben, blieb groß, obwohl Atlans Zellschwingungsaktivator die Heilung entscheidend unterstützte. »Dann, Professor Aescunnar«, sagte er halblaut und nahm die Brille ab, »wird auch dein ›Opus magnum‹ unvollendet bleiben, wie so vieles im Leben.« Er begann gedankenlos die Brille zu putzen, holte sich einen Becher voll Kaffee und schaltete nacheinander die Monitoren ein, die Holografie-Projektoren und Tonleitungen sowie die Gegensprechanlage und aktivierte die Stand-by-Chips der verschiedenen Aufzeichnungsgeräte. Sein Arbeitsplatz, durch störungsresistente Lichtleiterkabel und Bildfunkbrücken mit dem Überwachungsraum von Medo-Center verbunden, war binnen einer Minute in voller Funktionsbereitschaft. Aescunnar setzte die Brille
auf und berührte ein leuchtendes Kontaktfeld. Leise Musik strömte in den Raum. Als er den Becher absetzte, summte der Interkom. Cyr tastete das Gerät ein. Überlebensgroß baute sich das Abbild Ronald Tekeners auf. Er nickte grüßend; sein Gesichtsausdruck bewies, daß er über Atlans Zustand informiert war. »Bevor ich’s vergesse«, Tekener kratzte sich hinter dem Ohr. »Ich habe eine Sendung unseres Historischen Korps an Sie organisiert. Irgendwann in den nächsten Tagen lassen wir die Daten zu Ihnen überspielen, Professor Aescunnar. Die Ärzte sind so verdammt zurückhaltend – wie geht es ihm wirklich?« Aescunnar hob die Schultern und brummte: »Ich meine, daß er sich zu erholen beginnt. Ein Teil der Verbände ist überflüssig geworden, einige Wunden vernarben, und seine Stimme klang unverändert kräftig. Sein Verstand scheint absolut klar zu sein. Ghoum-Ardebil äußert vorsichtig Zufriedenheit mit Atlans Zustand.« Der USO-Spezialist musterte die Einrichtung des Büros. »Wie weit sind Sie mit Ihren ANNALEN DER MENSCHHEIT, Cyr?« »Nun, es geht, verständlicherweise, zögerlich voran. Im RicoAtlan-Kalender bin ich inzwischen bei 3484 angelangt. Für diesen Block sind sämtliche Informationen verwendet und wissenschaftlich einigermaßen befriedigend eingegliedert worden; Bilder, Karten und die Dokumentationen der entsprechenden terranischen Funde.« »Die in unzugänglichen irdischen Museen lagern«, brummte Tekener. In der Beleuchtung seines Terminals traten die Narben der Lashat-Pocken auf seinen Wangen scharf hervor. »Unerreichbar für uns. Was hat unser Patient sonst noch erzählt?« »Bevor er sich entschloß, hoffentlich nur vorübergehend zu schweigen, berichtete er vom Bau des sogenannten Labyrinths auf Kreta. Diese Erzählungen bearbeiten meine Studenten und ich gerade.« Ronald Tekener nickte nachdenklich und sagte: »Ich bin jederzeit über die Point-Allegro-Administration von Solarmarschall Tifflor zu erreichen. Zumindest für Sie, Professor.
Wenn Sie etwas aus den USO-Archiven brauchen, für Ihre ANNALEN…« »Sie haben mir wahrscheinlich mit Ihrem Material mehr als genug geholfen.« Aescunnar deutete auf seine leere, spiegelnd saubere Arbeitsplatte, auf der nur der kreisförmige Rand des Kaffeebechers störte. »Danke, Tekener. In einigen Tagen wissen wir mehr über seinen Zustand. Ich glaube, er überrascht uns bald wieder mit einer neuen Erzählung.« »Ist er ansprechbar?« »Nein. Aber jede winzige Lebensäußerung wird überwacht. Atemfrequenz, Gehirnwellen, Zellmembranschwingungen… die Computer geben bei der geringsten Änderung lauten Alarm.« »Sollte er in den nächsten Tagen aufwachen und verstehen, was Sie sagen: Richten Sie die besten Wünsche von Tifflor, mir und Anson Argyris aus.« »Ich versprech’s«, sagte Aescunnar und hob die Hand. Tekener lächelte kaum wahrnehmbar und trennte die Verbindung. Cyr holte tief Luft und drehte den Sessel. Schweigend, am Kaffee nippend, musterte er die Einzelheiten der holografischen Großprojektion. Vor einem Tag war die kreislaufstützende und heilungsfördernde Flüssigkeit des gläsernen Beckens, auf ein hundertstel Grad auf Atlans Körpertemperatur abgestimmt, ausgetauscht worden. Unter den Antigravgittern, die den Körper in stabiler Lage hielten, brodelten dichte Vorhänge aus Sauerstoffbläschen. Atlan, die Arme ausgestreckt, lag ruhig da. Ab und zu bewegten sich seine Finger oder die Zehen, ein Handgelenk zuckte. Der entspannte Gesichtsausdruck schien zu beweisen, daß der Arkonide in tiefem Schlaf lag. Heilschlaf! dachte der Historiker und betrachtete die Kurven, Farbsäulen und Impulsanzeigen der Monitorenwand. Sämtliche Überwachungsinstrumente zeigten beruhigende Werte; selbst die Strömungsgeschwindigkeit der intravenösen Ernährung blieb auf niedrigem Niveau konstant. Die modifizierte SERT-Haube mit ihren vielfarbigen Kabelbündeln schwebte einen halben Meter über Atlans Kopf; über dem fast regungslosen, zwölf Jahrtausende alten Organismus.
»Was geht hinter dieser Stirn vor?« flüsterte Aescunnar. »Denkt er? Was denkt er, und woran? Ist er noch immer im Irrgarten der irdischen Geschichte? Oder in seiner Jugend, irgendwo im Großreich Arkons? Baut er Tempel, kämpft er gegen Invasoren? Langweilt er sich mit Roboter Rico in der Kälte der riesigen Überlebensanlage am Fuß von Sao Miguel?« Der Geschichtswissenschaftler zuckte mit den Schultern und leerte den Kaffeebecher. Aus der Pantry hörte er den leisen Gongschlag, das Zeichen der internen Verbindung zwischen der Historischen Fakultät und deren Außenstelle. Mit langen Schritten erreichte Cyr Aescunnar den Sessel und schaltete den Projektor ein. Sekunden danach stand das Holobild. Noami Corhadelys, eine seiner Referentinnen, lächelte geschäftsmäßig und sagte: »Sie fehlen uns mehr und mehr, Professor. Keine Schmeichelei; die unteren Semester gieren nach Ihren Vorträgen.« »Sie werden sich noch gedulden müssen.« Aescunnar schüttelte den Kopf. »Wenn feststeht, daß Atlan überlebt, und wenn er aus dem Tank geholt und in ein gemütliches weißes Bett gelegt wird, bleibe ich hier. Schließlich leite ich eines der ehrgeizigsten Projekte unserer Fakultät.« »Wissen wir, Professor. Deswegen melde ich mich. Wir arbeiten schließlich alle an den ANNALEN DER MENSCHHEIT mit. Wir haben sämtliche Archive der Fakultät durchstöbert. Hier steht ein Container voller Informationen, wild durcheinander: Buchchips ebenso wie alte Karten, Bücher und Promotionsarbeiten. Viertes und drittes Jahrtausend vor der Zeitenwende. Ich denke, Sie brauchen es dort, wo Sie gerade sitzen?« »Genau hier brauch’ ich alles.« Die ANNALEN gehörten zu einem Geschichtswerk, das nahezu jeden Terraner interessieren mußte, zumindest auszugsweise. Der Heimatplanet war verloren, das Sonnensystem unter der Kontrolle der Laren. Das Wissen über die Heimat der Menschheit durfte nicht vergessen werden; die Erde war mehr als nur ein Planet unter vielen. Je mehr die Menschen über ihre Heimat wußten, desto enger würde ihre Bindung an die Vergangenheit des menschlichen Geschlechts sein. Auch aus diesem Grund arbeiteten ein Dutzend wissenschaftlicher Disziplinen
zusammen. Das Ergebnis war eine Kultur-, Zivilisations- und Geistesgeschichte von den ersten Anfängen bis zur Mitte des vierten Jahrtausends, von der mehrere Bände – in riesigen Auflagen als Lesespulen, Buchchips oder in herkömmlicher Form auf Folienseiten gelasert – bereits erschienen waren. Cyrs ANNALEN stellten nur einen Ausschnitt dieses Riesenopus dar. Er wies auf seinen Schreibtisch. »Die USO leert ebenfalls ihre historischen Speicher. Wann wollen Sie übertragen, Noami?« »In einer halben Stunde könnten wir anfangen.« »Einverstanden«, sagte er. »Ich sitze da und warte, bis Atlan wieder zu sprechen anfängt. Ist es viel Material?« »Eine erhebliche Menge, eine Flut interessanter Daten und Informationen, Professor.« Die Magisterin hob die Schultern. »Ein Dutzend Kommilitonen lesen seit Stunden Daten in die Speicher ein.« »Also.« Er richtete stöhnend den Blick zur Decke. »Ich schalte die Datenleitungen und erwarte das Überspielen um fünfzehn Uhr. Einverstanden?« »Selbstverständlich, Professor Aescunnar.« Cyr grüßte, trennte die Verbindung und aktivierte zusätzliche Geräte. Die ANNALEN mußten eine fehlerlose Dokumentation werden Dazu gehörte, daß sämtliche zeitlichen Bezüge innerhalb der Erlebnisse Atlans präzise berechnet und aufeinander abgestimmt wurden. Die Historische Fakultät hatte ein Rechnerprogramm entwickelt, das die unterschiedlichen Jahresskalen berücksichtigte. Aescunnar rief das laufende Arbeitsprogramm auf den Monitor und verglich: In seiner Hyperpositronik rechnete Roboter Rico absolut exakt die Monate und Jahre nach »dem Untergang von Atlantis«, NUvA, und die Jahresskala vor oder nach Christi Geburt war nach dem unkorrekten Versuch des Mönches Dyonisius Exiguus erst vom nordenglischen Theologen Beda Venerabilis, 672 bis 735 n.Chr. etwa um 735 n.Chr. entwickelt und fixiert worden. Die Chronisten des Römischen Reiches rechneten »ab urbe condita«, seit der Gründung der Stadt Rom um 753 v.Chr. und nach einzelnen Regierungsjahren ihrer Caesaren. Die Geschichte des Islam begann 662 n.Chr. als der
Prophet Muhammad von Mekka nach Medina umsiedelte. Cyr kontrollierte die bisher bearbeiteten Daten und stöhnte: »Ägyptische Jahresskalen, hebräische, solche aus dem Reich der Mitte, Afrika ist so gut wie ›zeitlos‹; da wird nicht einmal Rico daraus klug.« Er warf einen langen Blick auf die Bilder der Intensivstation. »Und der hatte Jahrtausende dazu Zeit.« Noch hatte sich um den Überlebenstank nichts geändert. Wahrscheinlich traf wieder alles gleichzeitig aufeinander: Der Arkonide begann mitten in der Datensichtung zu sprechen, Texte und Bilder fluteten über die Monitore und die Angehörigen des KHAMSINTeams besuchten Aescunnar, um etwas über Atlans Zustand zu erfahren und sich gegenseitig zu trösten. Dreißig Minuten später hatte der Historiker keine Gelegenheit mehr, über etwas anderes als geschichtlich bedeutungsvolle Informationen nachzudenken: Sämtliche Übertragungsleitungen waren besetzt, schwarzweiße und farbige Bilder in zweidimensionaler und holografischer Wiedergabe füllten ununterbrochen die Bildschirme, und Oehmchen Orb kam mit einem prallvollen Antigravcontainer, aus dem sie Kühlschrank und Vorratsfächer in der Pantry auffüllte. Vier Minuten vor neunzehn Uhr senkte sich die SERT-Haube über Atlans Kopf und Schultern, und nicht unerwartet, aber übergangslos begann der Arkonide wieder zu sprechen. Aescunnar griff nach dem Kopfhörer, regelte Tonqualität und Lautstärke ein und war überrascht, wie sehr Atlans Stimme an Festigkeit und Ausdruckskraft gewonnen haste.
1. Vier Stunden nach Mitternacht regten sich die ersten Schläfer. Wie ein leiser nächtlicher Regen aus Myriaden einzelner Tropfen vereinigten sich unzählige Bewegungen, ein Rinnsal, das stetig anschwoll und schließlich mit lauten Geräuschen über Klippen stürzte und ein großes Mühlrad knarrend bewegte. Das Rad drehte sich schneller, der Anprall des Wassers nahm an Stärke zu; schließlich drehte sich das Mühlrad mit markerschütterndem
Knirschen malmend und riß mit schaumsprühendem Schwung Räder, Achsen und Steine mit sich. Zweieinhalbtausend Menschen, hunderte verschiedener Tiere, Traglasten und Wagen bildeten eine dunkle Kulisse in der weichenden Finsternis. Sklaven entzündeten die Feuer in den schweren Brustfeueröfen auf den Bäckerwagen und heizten, bis die Steine glühten. Beim Licht der ersten Fackeln fingen die Hähne in den großen Käfigen zu krähen an. Als sie schwiegen, von den Erwachenden gebührend verflucht, begannen die schwarzen kappadokischen Esel ihr mißtönendes Geschrei; obwohl nützliche Tiere, genügsam und belastbar, waren sie, ihren Gesang betreffend, Verirrungen der Evolution. Nach dem ärgerlichen Gebell der Hunde herrschte eine Stunde lang Ruhe. Die Bäcker formten Brotlaibe und schoben sie in die Öfen, nachdem die Sklaven die Glut herausgerissen, in Kupferschalen gefüllt und Paßsteine in die Ofenöffnungen gesteckt hatten. Abermals eine Stunde danach begannen Hirten und Frauen damit, die Kühe, Schafe und Ziegen zu melken, die gesammelte Milch durch feines Leinen zu filtern und schwere Krüge ins Lager zu schleppen; ein Drittel wurde zu Käse und später, entrahmt, zu gesalzener Butter. Aufseherinnen kontrollierten die Kochsklavinnen, die in großen Kupferkesseln fette, gutgewürzte Hirsesuppe bereiteten und die Milchsuppe mit Honig süßten, viele kalte Braten und Käselaibe aufschnitten. Gerüche krochen im Morgennebel zwischen massiven Scheibenrädern, Zelten und Deichseln über das niedergetrampelte Gras. Körbe voller Sammelobst und Beeren wurden herumgereicht; mitunter zuckten knallende Peitschen auf die Schultern angeblich fauler Sklaven nieder. Die Romet-Soldaten und die Aufseher des jungen Amenemhet zeigten mit Säumigen wenig Nachsicht. Abermals schob sich eine kurze Zeit, durch die letzte Träume geisterten, zwischen Arbeitsgeräusche und Dämmerung. Erst als die Pfadsucher ihre Pferde zäumten und sattelten, gab es neuen Lärm, der bis Sonnenuntergang anhalten würde. Schwarzbärtige Männer aus Susa mit Stoßlanzen und geschweiften Bögen, glattrasierte Axt- und Seilmänner aus den Heeren des Zariqu von Assur, die ihre gekräuselte Haarflut mit
Goldmetallbändern bändigten, Geländekundige aus Hattusa, die ebenso stanken wie ihre Wildesel, erleichterten sich außerhalb des Lagers und wuschen sich, dann aßen und tranken sie schweigend, hoben die Waffen auf und kletterten auf die Rücken der Reittiere. Fünfzehn Männer auf breitbrüstigen, trittsicheren Pferden, die im Galopp gewechselt wurden und nicht nach Schnelligkeit, sondern Kraft und Stärke gezüchtet waren, verließen im Wirbel dumpfen Huftrommelns das Lager in östlicher Richtung. Die Luft schmeckte nach Schnee. Seit dem Aufbruch von Assur blieb die Morgensonne zur rechten Hand. Durch die Ebenen der beiden Ströme, über Sindsha bis Haran, dem Wegekreuz der Karawanenpfade, von dort über die gute Königsstraße nach Norden; Baumeister des frühakkadischen Sharrukin hatten sie angelegt. Auf dem Königsweg zog die »Wunderbare Karawane« an Bi-Retsch vorbei, ging durch die Furt des Idiglat, wälzte sich nach Ma’haresch, kletterte auf das Hochplateau nahe Elbi-Stohn und zur Karawanenstation von Kanesh. Dort erwartete uns Iluschuma, Vertreter des karum, Assurs »Handelskammer«, und übergab uns den zweiten, größeren Teil der Karawane. Einige Kaufleute erholten sich einige Tage lang, sonderten ihre Saumtiere und Wagen aus und wanderten nach Nordwesten weiter zum Ufer des Nördlichen Meeres. Seit einer Handvoll Tagen kannten nur noch die Führer aus Harappa die Pfade, Hügel und Wasserstellen. Bis zum Ende der Langen Reise würden wir jeden Morgen in den Glutball von Schamaschs Gestirn blinzeln. Die Karawane kannte nur einen Befehl: ostwärts, vorwärts, weiter! Der Lärm des aufwachenden Lagers belästigte meine fachen Träume. Ich zog es vor, völlig aufzuwachen. Im Zelt brannte noch das winzige Ollämpchen. Ich drehte den Kopf und betrachtete das schmale Gesicht Asyrta-Marayes, das, im Schlaf gelöst, weich und verletzlich wirkte. Die junge Schwarzhaarige, schönstes Angebot des Sklavenmarktes von Kanesh, war seit dem Aufbruch an meiner Seite. Auch der Logiksektor erwachte und flüsterte: Kümmere dich um deine Wunderbare Karawane, Arkonide. Denk an die drei Ziele deiner Aufgabe!
Ich schlüpfte aus den Fellen, tappte zum niedrigen Klapptisch und zog die knielangen Stiefel an. Ich warf den bodenlangen Mantel um die Schultern, schlug gähnend den Zeltvorhang zurück und schloß die Augen im roten Sonnenlicht. Nur einer der beiden Robotleoparden stand auf, riß den Rachen auf und erwartete meinen Befehl. Der andere drehte den Schädel und blieb liegen. Der schwarze Falke kreiste über dem Lagerplatz. Ich stapfte unausgeschlafen durch die schlammige Lagergasse; die dicken Schwammsohlen und die eingeschraubten Sporen versanken im Morast. Unter den Bäumen lagen schmutzige Schneereste. Der Boden war tief und schwer; noch immer rechneten wir mit Schneestürmen. Ich kauerte hinter einem Busch, kehrte zum Zelt zurück und gähnte. Die Standarte klebte, klamm von nächtlicher Feuchtigkeit, an der Lederhaube. Ich sah zu, wie Ochsenpaare angeschirrt wurden, und erkannte die ältere Frau im Pelzumhang. Ihr Lächeln entblößte schwärzliche Zahnstummel. »Dein erstes Essen, Herr? Wie jeden Morgen?« »Ja, wie immer, teuerste Solcher.« Ich grinste und nickte. »Hör zu. Ich brauch’ etwas, das mich aufweckt. Ich fühl’ mich wie nasser Schnee.« Solcher sah aus wie ein kranker Geier; eine Köchin wie sie wurde nur alle Jahrzehnte einmal in Assur geboren. Ihr Herz war aus schierem Gold: Brauchte man ihre Hilfe, war sie liebenswert aufopfernd, was jedermann verblüffte. Mit allen außer mir und Asyrta schrie und keifte sie. Schon oft hatte ich ihren Wortschatz bewundert. »Sie kochen gerade die Suppe. Ich tu’ etwas aus meinen Beutelchen und Krügelchen hinein.« Sie deutete grinsend zum Zelt und machte eine obszöne Geste. »Auch für die Schwarzhaarige, die junge, dumme Sklavin, mein Sohn?« »Asyrta-Maraye ist seit drei Tagen frei. Keine Sklavin mehr.« Ich legte Solcher die Hand auf die magere Schulter. »Es wäre lieb, wenn du, Mutter der Würzung, weniger schroff zu ihr wärst. Du warst auch einmal eine junge, schöne Sklavin. Ich schlage sie nicht. Lehre sie zu begreifen, wie schön das Altern sein kann.« Solcher legte den Kopf schief und kicherte.
»Du bist zu gut für das reisende Gesindel. Wart nur! Eines Tages gehorchen sie dir nicht mehr. Ich hol’ den fetten Brei.« »Ich hab’ keine Angst, solange du meine Verbündete bist«, schmunzelte ich. Sie kicherte länger und schriller und sagte: »Meine Kräuter reichen aus, und ich kann das halbe Lager vergiften.« Sie trippelte zum Feuer. Der Extrasinn murmelte: Du hast reichlich bizarre Freunde unter den Barbaren. Im Zelt roch es abgestanden, aber es war noch warm. Ich säuberte meine Zähne, entfernte mit Hilfe schäumender Salbe die Bartstoppeln und wusch mich. Mein verschlafenes Gesicht starrte mich grämlich aus der plangeschliffenen, polierten Metallscheibe an; nachdem ich Heilsalbe auf wunde Körperteile gestrichen hatte, knotete ich das Schamtuch aus weißem Hapiland-Leinen, schlüpfte in den weichen Wildlederrock und strich über dessen Golddrahtstickerei. Die Gürtelschnalle aus vergütetem Arkonstahl klickte; meine Finger tasteten über die Hohlräume voller überlebenswichtiger Kleinigkeiten. Ich zog ein Wildlederhemd an, darüber eine knielange Felljacke mit hohem Kragen und befestigte über dem Zellaktivator den Brustschmuck, der mich als mächtigen Handelsherrn auswies. Der Aktivator versteckte sich in einer Bernsteinscheibe voller eingeschlossener Insekten. Ich schob die beiden langen und den kurzen Dolch in die Lederscheiden, die getarnten Energiewaffen und Lähmstrahler. Ich warf einen Blick auf die übrige Ausrüstung, die im aufgeschlagenen Truhendeckel lag, als Asyrta mit den Decken raschelte. Sie kreuzte die Unterarme vor den Brüsten und blickte mich schweigend an. »Guten Morgen«, sagte ich, »denn es war eine gute Nacht.« »Du hast geträumt und in fremder Sprache geredet, Herr. Mit einem Freund. Aber du hast seinen Namen nicht gewußt.« Ich setzte mich neben sie in den Faltstuhl und räumte den Tisch ab. Mein Erstaunen war nicht gering: Sie hatte erzählt, daß sie kaum älter als achtzehn Sommer sei. Und sie war ein Bündel aus Aberglauben und sklavischer Lebensangst, passiv, gehorsam wie ein gut erzogenes Tier. Nur in seltenen Augenblicken lachte sie und freute sich, ohne zu befürchten, zu schweigendem Gehorsam gezwungen zu werden. Ihre Schönheit war beträchtlich: Haut wie
dunkler Sand, dunkelbraune Augen, raffiniert geschminkt und scheinbar vergrößert, ein feingliedriger Körper mit runden Brüsten, langen Beinen und schlanken Fingern. Eigentlich gehörte sie nicht in Schnee und Kälte; sie war ein Kind langer Tage und heißer Sonne. Ich streichelte ihre Schulter und sagte: »Das mag sein. Hast du dich gefürchtet?« Sie schüttelte stumm den Kopf. Wenn sie einmal gelernt hatte, sich neben dem Karawanenherrn zu behaupten, würde unser Zug längst das nächste Ziel erreicht haben. Sie schmiegte ihr Gesicht in die Höhlung meiner Hand, schien zu erschrecken und unterdrückte den Augenblick erwachenden Vertrauens. Ich stand auf. »Wasch dich. Zieh dich an. Solcher bringt das Essen.« »Solcher haßt mich.« Sie flüsterte ängstlich und begann zu zittern. Ich zog sie hoch und legte meine Arme um sie. »Solcher, die wie eine Mutter zu mir ist, hütet mich eifersüchtig. Wenn du sie brauchst, wird sie helfen. Sie ist ganz anders als es scheint. Man hat sie ein Leben lang schlecht behandelt. Du brauchst keine Angst zu haben.« Asyrta bückte sich, zog die farbigen Felle um Schultern und Hüften und bat brüchig: »Geh hinaus, Herr, bitte. Sie soll mich nicht nackt sehen.« Ich nickte ihr zu, hob die Handschuhe auf und ging vors Zelt. Der Anflug guter Stimmung verging ebenso schnell wie die Sonnenstrahlen. Der Himmel, von tiefhängendem Nebel bedeckt, färbte sich milchig. Ich blickte mich wartend um und verstand die Vorwürfe des Logiksektors: Du hast zwar neunundneunzig Probleme, du Narr, die dir nicht zu reichen scheinen: mit Kauf und Erziehung einer Sklavin halst du dir das hundertste auf. Wenn ich schon versuchte, tiefe Spuren auf dem Barbarenplaneten zu hinterlassen, wenn man mich zwang, gegen meinen Willen zu handeln, dann bestand kein Grund, dies auch noch in freiwillig auferlegter Einsamkeit zu tun. Ich drehte den Kopf. Mit dem Gesichtsausdruck eines magenkranken Skeptikers näherte sich der Schreiber Nianchre. Er schien sarkastisch zu lächeln; seine Lippen waren vor Jahren von einem Dolchhieb zerschnitten, die Muskeln falsch zusammengenäht worden.
Nianchre konnte den Mund nicht mehr richtig schließen, dadurch war seine Sprechweise mitunter anstrengend für die Ohren anderer. »Dir, Herr Atlan, einen sonnigen Tag. Uns wünsche ich ebensolches. Hast du Befehle, die über das Maß des Normalen hinausgehen, König der Steppe?« Mit Nianchres Augen konnten nur die Robotlinsen Boreas’ konkurrieren. Er sprach so gestelzt, wie er schrieb. Für ihn war ich »König der Steppe«; er war meine rechte Hand; ein schlanker Mann von dreißig Sommern, die Stoffkapuze über dem kurzgeschorenen Schädel. Ihm gehorchten die Unterschreiber, die Wegsucher, Kämpfer und die selbständigen Jäger. Seine Befehle galten, als kämen sie von mir. »Keine Befehle. Wir fahren weiter wachsam und langsam nach Sonnenaufgang.« »Hast du für mich etwas zu tun?« Er rülpste, den Kopf zur Seite gedreht. Ich nickte. Er sah mich überrascht an. »Ich höre, Vater der Esel.« An die etwa fünf Dutzend durchaus respektvoller Anreden hatte ich mich gewöhnt. Der skurrilste Name war »Liebling der fernen Götter«. Ich kannte den wahren »Gott« dieser Karawane und sagte: »Asyrta-Maraye. Du kennst sie. In Kanesh gekauft.« »Wer sollte sie nicht kennen? Ihr Glanz ersetzt das Leuchten der Sonne. Da sie dein Herz erfreut, schenkt sie der wunderbaren Karawane die richtige Freude.« »Verausgab dich nicht. Ich hab’ ihr die Freiheit gegeben. Sie wird, glaube ich, bei mir bleiben. Du bist aus ihrem Land und sollst sie lesen und schreiben lehren, auch in anderen Sprachen. Sei wie ein Bruder zu ihr, sie fürchtet Solcher und mich. Damit tust du etwas für die Freude der Karawane.« »Dein Befehl ist meine Ehre.« Er verbeugte sich, die Hand auf dem Herzen. »Soll ich sie schlagen, wenn sie faul ist?« »Der beste Lehrer lehrt mit dem Herzen!« Ich schüttelte den Kopf und zeigte ihm die Faust. »Jäger und Aufseher gebrauchen die Peitsche nur bei faulen Verstockten. Verlang nicht zuviel; sie wird fleißig lernen .« »Man wird sehen. Wann kommen die Wegesucher zurück?«
»In zwei, drei Stunden kommen sie.« Ich sah Solcher mit zwei Helfern das Essen ins Zelt bringen. »Wenn die Karawane weiterzieht.« »Schick nach mir, Herr, und ich komme sofort!« Solcher hatte den Tisch von den Spuren der Morgenwäsche gereinigt, breitete ein Tuch darüber und stellte Schalen, Näpfe, Krüge, Becher und Brettchen darauf. Eine Glutpfanne wurde gebracht, kalte Luft wirbelte ins Zelt. Schweigend sah Asyrta zu. Sie wirkte in Fellen und halbwegs männlicher Kleidung exotisch und begegnete verständnislos den scheuen Seitenblicken Solchers. Die Alte hob mahnend einen Holzlöffel. »Eßt, meine Kinder. Solange die Suppe heiß ist.« Sie ließ den Zelteingang geöffnet. Die Suppe brannte auf der Zunge und verwandelte die Speiseröhre in schmelzende Bronze. Hitze breitete sich im Körper aus und mußte mit Bier gemildert werden. In der folgenden Stunde wuchs unsere gute Laune. Die ersten Ochsengespanne knirschten aus dem Lager, Zelte wurde abgebaut und verladen, und Handwerker beendeten die Arbeiten an Rädern, Felgen und Achsen. Die Asche der Feuer streute man aus und vergrub die Abfälle, um keine Wölfe anzulocken. Hochbeladene Esel, mit kurzen Seilen aneinandergebunden, schrien mit im Chor der dumpf brüllenden Ochsen. Ich streckte die Beine aus und sagte: »Sonnenwärme ist in unseren Därmen. Du wirst heut in Nianchres Wagen mitfahren, meine junge Freundin. Lerne das Lesen und das Schreiben!« Sie wußte nicht, was ich mit ihr vorhatte. Als Sklavin der Romet geboren und aufgewachsen, mehrmals benützt und verhökert, schließlich von dem weißhaarigen Karawanenherrn gekauft, dann freigelassen, schließlich der Prozedur des Lernens ausgesetzt – sie blieb verwirrt. »Was soll ich tun, Herr?« »Lernen, und klüger werden. Meine Gefährtin darf nicht dumm sein.« Ich leerte den Rest Bier in unsere Becher und blickte in ihre Augen. »Ich habe die Macht über diese Karawane, die mir nicht gehört. Ich bin drei Herrschern verantwortlich: dem von Assur,
deinem Gottkönig und dem Herrn meines Lebens. Ich will und werde eine lange Straße nach Osten schaffen. Ich will, daß du zu meiner rechten Hand wirst, wie unser Bruder Nianchre. Vergiß das Sklavenleben. Du sollst nicht nur mit mir schlafen, sondern auch neben mir befehlen. Willst du das – dann lerne! Wenn nicht, finden wir andere, nicht so angenehme Wege.« »Herr…!« Ihre Unsicherheit wuchs. Ich hob die Hand. »Ich bin nicht mehr dein Herr. Ich will das Wort nicht mehr hören. Nenn mich Atlan.« »Ich hab’ nicht viel gelernt. Du kennst alles«, flüsterte Asyrta. »Es ist wenig. Wie soll ich können, Herr Atlan, was du verlangst?« »Du wirst jeden Tag ein wenig lernen. Wenn wir am Ziel sind, wirst du selbst staunen und vielleicht klüger sein als Nianchre.« Ihre Wangen begannen zu glühen. Ich glaubte, es kam nicht vom Bier, sondern war Zeichen langsam erwachender Begeisterung. »Versuch mir zu vertrauen. Heut’ abend sprechen wir über alles. Nimm deine kleine Truhe, geh zu Nianchres Wagen. Sie wollen das Zelt abbauen.« Ich verstaute die Ausrüstung in den Satteltaschen und brüllte zum Zelt hinaus: »Meine Pferde. Sattelt den Schecken!« Als die Sonne drei Handbreit über dem Horizont stand, eine glühende Scheibe im Dunst, saß ich im Sattel. An vielen Orten des Großreiches züchtete man planmäßig Pferde, die ausdauernd, anspruchslos, wild und dickfellig waren. Man mußte sie hart reiten, und der Schecke zitterte zwischen meinen Schenkeln vor Ungeduld. Ich gab die Zügel frei und setzte die Sporen ein. Hinter mir verklang das stumpfe Klirren der Bronzemeißel, mit denen die Handwerker im Wegstein Worte und Zahlen in zwei Sprachen eingruben. Die siebente Steintafel ragte aus einem mannshohen Hügel auf, den wir aufgeschüttet hatten. Wir stellten jeden Abend einen solchen Stein auf. Ich galoppierte schnell in den Spuren der Wegsucher und überholte die ersten Gespanne. Hinter mir formierte sich ein schier endloser Zug. Waren Wagen und Saumtiere, kleine und größere Herden durch einen Teil des Landes gezogen, hinterließen sie
zwangsläufig eine Art Straße. Unter Nianchres Geschrei und den knallenden Peitschen trieben etwa hundert junge Hirten rund 170 Schwarzesel, zerrten je zwei Ochsenpaare einen der 77 vierrädrigen Wagen: Lasten, Handelswaren, Öfen, Mehltruhen, Küchen voller Kessel, die Wasservorräte und jene Wagen, in denen Kaufleute lebten. Wir stießen auf dem ersten wirklich neuen Teil der Fahrt in eine ungewöhnliche Art von Steppe vor. Die Spur vor mir führte durch niedriges Buschwerk, zwischen kleinen Hügeln hindurch und entlang schmaler Wasserläufe. Hin und wieder zeichneten sich am Horizont kleine Wälder ab. Gefolgt von beiden Leoparden hielt ich an, als ich eine Lanze erreichte, die im weichen Boden steckte. Weit vor mir bewegten sich undeutliche Punkte. Ich verschob eine Niete im Unterarmschutz und sagte: »Bilder und alle Ausschnittvergrößerungen, Boreas!« Ich kippte den runden Schild, dessen äußerste Stahlschicht, hochvergütet, als Blitzsignalgeber zu verwenden war. Im innersten Kreis leuchtete durch das grimmige Kriegergesicht der Bildschirm auf. Der Falke sendete eine Folge von Höhenaufnahmen. Nach Ricos Karten zogen wir parallel zu einem breiten Fuß in die Richtung auf einen namenlosen Binnensee, schon fast ein kleines Meer. Einen Teil des Ufers würden wir, vermutlich, umrunden müssen. Ich versuchte, jede wichtige Einzelheit des vorausliegenden Geländes genau abzuschätzen: Die zukünftige Straße mußte den am wenigsten beschwerlichen Pfaden folgen, und jeder, der sie dereinst benutzte, war auf Brunnen. Wasserläufe oder Seen angewiesen. Ich ritt langsamer den Hügel hinunter und dachte an die Größe und das Wagnis dieser Aufgabe. »Eine Karawanenstraße für Jahrhunderte, Atlan«, murmelte ich. Wenn wir jeden Tag nur die Strecke zurücklegten, die ein rüstiger Mann in fünf Stunden schaffte – also fünfmal tausend große Schritte pro Stunde, 25.000 am Tag – würden wir ein Jahr zum Ufer des östlichen Meeres brauchen. Ich rechnete mit dem Doppelten dieser Zeit und mit Anstrengungen und Zwischenfällen, von denen wir nicht einmal etwas ahnten. Acht Jahreszeiten.
Ich hatte genug gesehen: Zwei Punkte lösten sich vom Horizont, und zwei Hapiland-Fährtensucher galoppierten heran. Ich ritt weiter. Ihre Spuren umgingen den nächsten Hügel, führten 3000 Schritt am Waldrand entlang, durch einen Bach, auf eine tischebene Fläche hinaus. Weit voraus glitzerte Schnee auf hohen Bergen, in deren Tälern wir uns nach Osten kämpfen mußten. Als die Reiter heran waren, zügelten wir unsere schweißnassen Pferde. »Wie ist der Weg, Rechmire?« rief ich. Er lachte abschätzig und zauste die Mähne des dampfenden Pferdes. »Für heut’ und morgen – gutes Gelände. Schwerer Boden. Wann brennt die Frühlingssonne?« »In zwei Zehntagen. Reitet zu Nianchre. Ich treffe mich mit den Jägern. Habt ihr Wild geschossen?« »Nein. Die Jäger suchen rechts vom Zug. Wildschweine und fettes Rotwild.« »Spuren von Bewohnern? Hinterhalte? Fallen oder Siedlungen? Rauch von frühen Feuern?« »Nichts, Herr der Räder. Wir reiten durch leeres Land.« Wir trennten uns. Rechmire und sein Begleiter ritten zur Spitze der Karawane und würden sie auf dem leichtesten Weg anführen. Ich blickte hinter ihnen her. Die große Masse aus Menschen, Tiere und Gespannen bildete einen selbständigen Organismus, eine Schlange aus kreischenden Achsen, brüllendem Vieh, Geschrei und Peitschenknall, schreienden und furzenden Eseln, vermischt mit Meckern, Blöken und Hundegebell. Dumpfer Hufschlag kurzmähniger Pferde unterbrach das Kichern der Sklavinnen, mit denen die Reiter zotige Späße trieben. Nachzügler tappten in der Gestankfahne der Karawane hinterher oder klammerten sich an Naben und Wagenenden. Ein Schritt nach dem anderen. Die Felgen schnitten tiefe Rillen, in denen die zweirädrigen Wagen, von drei Pferden oder Eseln gezogen, schwankten und aus der Spur kamen. Acht Stunden fang schob sich die Karawane durchs Land, bis das Tageslicht abzunehmen begann. Ich saß vor dem auseinandergeklappten Tisch und betrachtete Höhenphotos und Karten. Als der Tagesstein endlich aus der weichen Erde des Hügelchens herausragte, als sich die Ruhe der Erschöpfung über das
Lager senkte und ich die Strecke des kommenden Tages einigermaßen zuverlässig abschätzen konnte, schallte das vertraute Gelächter scheinbar wie Donner über die im Kreis zusammengestellten Wagen und Zelte dahin. Aber nur ich hörte und verstand die Worte. ES sprach. Du hast deine Aufgabe begriffen, Arkonide, und auch die sinnlichen Freuden mit Derione sind längst vergessen. Neue Pfade, ein anderes Glück. Ihr seid auf dem Weg, und viele werden das Ziel erreichen. Noch ist das Land menschenleer, aber bald trefft ihr Gruppen, Horden und Stämme. Erzählt vom Prunk und Reichtum der Länder, aus denen ihr aufbracht. Zeigt ihnen, daß viele Straßen zu anderen Menschen führen, und daß es sich lohnt, auf ihnen zu reiten. Knüpft das Netz besserer Wege! Du sollst wissen, daß du viele Helfer hast, aber nur drei wirkliche Schwierigkeiten. »Ich weiß viel.« In Gedanken formulierte ich stöhnend meine Antwort. »Warum das alles? Muß ich wieder einen Flüchtling von Wanderer töten? Ist deine Rätsel- und Museumswelt noch immer in der Nähe des Larsaf-Systems?« Die Antwort war das dröhnende Gelächter der kosmischen Intelligenz. ES ließ sich viel Zeit mit der Erklärung. Ich war, offensichtlich allein, im Tiefseeversteck aufgewacht. Die gesamte Ausrüstung, einschließlich der Sprachprogramme, lag bis ins Detail bereit. Rico war selbst für meine überkritischen Ansprüche überzeugend menschähnlich und trug, ungewöhnlich, ein dünnes Gewand und geradezu kostbare RometSchmuckimitationen. Selbst seine Sandalen waren vergoldet. Nur ein geringer Teil der Informationen und Programme für die Herstellungsmaschinen war verschwunden, also in kaum entdeckbaren Speichern abgelegt. Rico, der mit dem Namen ReKorach ebenso kokettierte wie mit seinem bartlosen, mit MesdenetSchminke verzierten Gesicht, versicherte mir, daß er die Anwesenheit eines zweiten, tiefschlafenden Lebewesens registriert zu haben glaubte: Es gab keine Bestätigung dafür, und keinen Gegenbeweis. Ich wartete in steigender Unruhe auf den nächsten Ansturm des galaktischen ES-Lachens. Alles zu seiner Zeit, Hüter der Welt. Du wirst Handel treiben mit den Menschen entlang eures Weges. Handelt also mit Menschen und Ideen,
Metallen und Kenntnissen, Götterglauben und allem, was dir einfällt. An anderer Stelle wird eine andere Karawane zu euch stoßen; der Anführer wird dein Freund sein. Ich bürge dafür. Legt zusammen den langen Weg zurück, bis ihr unter Opfern und Verlusten den großen Fuß des lehmiggelben Wassers erreichen und den Menschen des fernen Ostens von den Kulturen des Westens erzählen könnt. Deine Straße, Atlan, wird zwei Weltteile miteinander verbinden, fast ein Viertel des planetaren Umfanges lang. Diese Straße, für eine kleine Ewigkeit gezogen, wird der Erfolg der Wunderbaren Karawane sein. Hütet euch vor den Bergen, Wüsten und wasserlosen Steppen. Wieder das makabre Gelächter. Vielleicht sprechen wir noch einmal miteinander. Ihr seid so gut ausgerüstet, wie ich es vom Kristallprinzen Atlan erwarten durfte. Dein Wille, zu überleben, wird zum wichtigsten Bestandteil der Karawane. Du, Vater der Esel, wirst es sicherlich schaffen. Nach dem letzten Gelächter schien das Schweigen endgültig. Ich hatte meinen Herrscher mühelos wiedererkannt. Ich wußte, daß entlang der gewaltigen Strecke jedes noch so winzigste Problem zur riesigen, kaum überwindbaren Schwierigkeit werden konnte. Ich hatte keine wirklich bedeutenden Helfer und Freunde bei diesem schwierigen Jahrtausendvorhaben. Asyrta-Maraye und Nianchre? Der Extrasinn sagte: Nun kennst du alle deine Aufgaben, Atlan. Mach das Beste daraus. Und: Du mußt überleben, unter Umständen als Einziger! Ich schloß die Augen und sehnte mich nach Asyrtas ungeschickten Liebenswürdigkeiten; wir alle würden in diesen vierundzwanzig Monden vieles lernen und unzählige Abenteuer überstehen müssen; einige würden das Ziel der Wunderbaren Karawane nicht lebend erreichen. In fünfzehn Tagesetappen, so geschwind wie möglich, näherten wir uns dem großen Binnensee. Dutzende wenig bedeutungsvoller Zwischenfälle hielten uns immer wieder viel zu lange auf: Scheibenräder brachen und mußten ausgewechselt werden, Bronzefelgen rissen ab, Tiere verendeten oder wurden geschlachtet, die Beute der Jäger zu Proviant verarbeitet. Die Köche und Handwerker der Karawane konnten jeden Bestandteil verwerten.
Häute, Gehörn, Klauen, Knochen und Sehnen. Ich ließ das Fett auskochen und einen Teil als Schmiere für die massigen Bronzelager verwenden. Von Tag zu Tag gingen Aufbruch und Einrichtung des abendlichen Lagers ein wenig schneller. Ebenso zögerlich wich der Nebel. Die Kraft der Sonne nahm zu. Frische Grasflächen breiteten sich hellgrün unter unseren Blicken aus, die Bäume trieben Knospen und Blätter, Insektenschwärme summten und belästigten Mensch und Tier. Während wir unsere Straße in den Boden eindrückten und Meilenmale setzten, legte die Karawane jeden Tag eine größere Strecke zurück als am Vortag. Mit der Wärme des Frühlings wich auch die Beklemmung, besserte sich die Stimmung; wir blieben nicht mehr länger frierende Fremde in diesem Land. Selbst die Tiere wurden übermütig. Schafböcke und Ziegenböcke besprangen die Muttertiere. Die Esel verfielen in eine Art Raserei und kopulierten, wenn immer es möglich war. Hengste trieben Stuten über die Ebene. Die Stiere ritten den Kühen auf. Scheinbar unaufhaltsam route und tappte die Karawane in weitem Zickzack nach Osten und hinein in die Tage des Sommers. Die Kraft der Sonne schien auch Asyrta-Maraye zu durchdringen. Sie lernte nicht nur lesen und schreiben; sie verlor langsam die Angst, die Scheu und das Mißtrauen jenen Menschen gegenüber, die nicht Sklaven waren. Es gab wenige Kranke, und die Brüche und Verletzungen konnten wir ohne Schwierigkeiten versorgen. Dennoch warnte, viel zu häufig, der Extrasinn: Du hast den Frühling überlebt, Arkonide. Sommer und Herbst verbergen noch ihre Schrecken vor euch. Ich verglich und korrigierte die photographisch hergestellten Karten, die Entfernungslinien und die Ausschnitte der Landschaft, die von Boreas’ Linsen stammten und mir Details der Wirklichkeit zeigten. Häufig ritt ich mit den Fährtensuchern, um die nächsten Meilen abzustecken. Je weniger beschwerlich es für die Gespanne war, desto leichter wurde es folgenden Generationen, diesen Weg zu benutzen. Ich saß in Nianchres Wagen und schrieb Bemerkungen in die leeren Flächen der Karten.
»Bald werden wir mit Bewohnern dieses Landes zusammentreffen«, sagte ich. »Aber erwartet keine prunkvollen Städte!« »Räuber oder Wegelagerer, Herr?« sagte Nianchre. Ich schüttelte den Kopf. »Es sind zu wenige. Und wir können uns sehr gut wehren. Wir werden wahrscheinlich ein wenig handeln und viele Fragen stellen.« »Kennst du ihre Sprache?« Asyrta sah fragend vom Schreibpergament auf. Ich schüttelte langsam den Kopf. Auf den großen, einige Jahre alten Karten erkannte ich die Punkte und feinen Linien von Siedlungen und Straßen, wahrscheinlich nur ausgetretenen Pfaden. Auf den schärferen Ausschnitten, weitaus stärker vergrößert, sah ich dürftige Hütten und Häuser. Über die Bäche führten keine Brücken. Die Siedlungen erstreckten sich zwischen dem großen Binnenmeer, das sich in Nord-Süd-Länge ausdehnte, und dem Flachsee östlich davon, dessen Oberfläche nur ein Fünftel des Namenlosen Meeres maß. Wir hatten vier Straßen gekreuzt, auf denen zu anderen Jahreszeiten Händler reisten. Das Erdreich dieser Bänder war so stark verdichtet, daß kaum mehr Gras darauf wachsen konnte. Unsere Wegesucher ritten auf das Südufer des kleinen Flachsees zu, und während ich über den Weg der nächsten Tage nachdachte, hörte ich wieder das Wispern des Logiksektors: Bleib wachsam, Atlan. Niemand kennt das Land, niemand weiß etwas über seine Bewohner! Am nächsten Tag versteckte sich die Sonne hinter Hochnebel und Dunst. Im Westen wuchs eine riesige Wolkenbank. Gegen Mittag, als ich auf den Spuren der Pfadfinder ritt, wich unvermittelt das Licht. Die Wolke hatte sich vor das Gestirn geschoben; es fröstelte mich plötzlich. Unruhig wieherte der Hengst. Die Menschen warfen ängstliche Blicke nach Westen, wo die Wolke ungewöhnlich schnell Form und Aussehen veränderte. Sie schien sich uns in rasender Geschwindigkeit zu nähern. In einer plötzlichen Windstille erschien jedes Geräusch doppelt so laut und scharf wie eine Messerspitze. Ich riß das Pferd herum und galoppierte auf den Wagen Nianchres zu. Der Wimpel an der Standarte hing bewegungslos herunter. »Ein Sturm«, sagte ich laut. »Schützt euch. Verschließt die Plane.«
Nianchre und Asyrta stiegen auf das Sitzbrett und starrten über den langen Zug hinweg zum dunklen Horizont. Ein Sturmstoß, der nicht zu spüren war, heulte heran. Asyrta rief: »Wenn wir im Hapiland wären, würde ich sagen: ein Sandsturm, Atlan!« Ich preschte den Zug entlang und schrie den Wagenlenkern zu, anzuhalten und die Tiere zu beruhigen. Die Fahrzeuge hielten stokkend, in unregelmäßiger Reihenfolge. Wie gelähmt stierten die Menschen die Wolke an. Die Tiere der kleinen Herden drängten sich dicht aneinander und bildeten Gruppen. Es war nicht der erste schwere Sturm, den wir erleben würden viele Gewitter, tagsüber und nachts, waren über uns hinweggezogen, aber mit Tieropfern waren die verschiedenen Götter besänftigt worden. »Ein Schneesturm kann nicht schlimm sein«, rief ich, »denn es ist warm! Nur der Boden weicht auf.« Im gleichen Moment ritt ein Mann aus der Umgebung von Kanesh an uns vorbei und brüllte: »Es ist der Zorn der Götter, Herr! Sand und Schnee und Blitz!« Ich schrie hinter ihm her: »He! Kennst du diesen Sturm? Kann er uns gefährlich werden?« Der Begriff Zorn der Götter raste durch den Zug. Fast augenblicklich brach an einigen Stellen Panik aus. Es war schlimm, wenn ein Wagen zusammenbrach und mit Balken hochgestemmt werden mußte. Aber plötzlich ließen Hunderte alles stehen und liegen. Sofort handelten die Soldaten. Sie sprengten rücksichtslos in die Menge, ihre Peitschen pfiffen. Die Panik setzte sich fort und breitete sich aus wie Wellenringe im Wasser. Ich riß das Pferd herum, ritt schräg aus der Richtung der Karawane heraus und auf die Nachhut zu. Nach dreißig Galoppsprüngen erreichte mich der erste heulende Sturmstoß. Er schmetterte mir eisige Kälte, Eiskristalle und Sand ins Gesicht. »Hinter die Wagen! Legt euch auf den Boden! Deckt die Köpfe zu!« schrie ich, aber meine Stimme ging im Lärm unter. Noch niemals hatte ich einen derart schnell heranrasenden Sturm gesehen. Dunst und Dunkelheit schlugen über der Karawane zusammen. Alle Schreie und Geräusche erstarben. Nur ein schrilles Brausen war in
der Luft. Ich sprang, kaum daß ich den Rand des Zuges erreicht hatte, aus dem Sattel und klammerte mich an den Hals des Pferdes. Der nächste Ansturm warf uns beide ins hohe Gras hinter einer sturmgepeitschten Buschreihe. Es geht um euer Leben, dröhnte der Logiksektor. Der Sturm aus dem Westen war von unbeherrschter Wildheit. Binnen einiger Augenblicke durchjagte eine scheinbar massive, gelbschwarze Fläche die gesamte Länge der Karawane. Aus dem schrillen Brausen wurde ein Heulen, dann ein erderschütterndes Geräusch, das Menschen und Tiere halb besinnungslos machte. Klirrende Kälte kam mit dem Sturm einher; er wirbelte Massen dicker Schneefocken heran, mit scharfen Sandkörnern durchsetzt. Sie wirkten wie Waffen, die jede Hautfläche aufrissen. Das Pferd vor mir, zwischen dessen Läufen ich mich gegen den Boden preßte, versuchte immer wieder, hochzukommen. Ich versuchte, die Läufe festzuhalten. Um mich hatte ich keine Angst, aber ich brauchte mir nicht vorzustellen, wie der Sturm unter Menschen, Gerät und Tieren hauste, und wie es aussehen würde, wenn er vorbei war. Verschwommen spürte ich, wie ein losgerissenes Ochsengespann haarscharf neben meinen Stiefeln vorbeiraste, angstgepeitscht, blind und mit langgezogenen dumpfen Schmerzensschreien. Ich krümmte mich blitzschnell zusammen. Der Sturm heulte und kreischte wie eine Herde Damonen und ließ hinter jedem Gegenstand, der zu groß war, als daß er ihn hätte mitreißen können, eine Düne aus Schnee und Sand entstehen. Dazwischen krachten immer wieder Donnerschläge. Selbst mit zusammengekniffenen Lidern sah ich den zuckenden Schein von Blitzen, die unmittelbar rund um die Karawane einschlugen. Wir waren dem furchtbaren Wüten des Gewittersturms völlig hilflos ausgeliefert. Aus herzschlaglangen Zeitabschnitten wurden Ewigkeiten, in denen wir auf alle nur denkbare Weise geschunden wurden. Sand knirschte zwischen den Zähnen und verstopfte die Ohren. Der Würgegriff des Sandes legte sich auf die Nase, ich litt an Atemnot. Öffnete ich den Mund, so schluckte ich eisigen Sand.
Plötzlich änderte sich wieder etwas. Die Geräusche, die wir mehr spürten als bewußt hörten, bekamen eine drohende, tiefere Tonart. Ein Summen wie von einer Milliarde riesiger Bienen ließ die Umgebung beben und zittern. Ein harter Schlag traf meinen Nacken, ein zweiter die Hand, dann prasselte Hagel hernieder. Die Schloßen mußten so groß wie Taubeneier sein, denn ihre Einschläge schmerzten wie von Schleudersteinen. Rings um uns ratterte und knatterte es. Tausende und aber Tausende Sekel Eis stürzten auf uns herunter, mit furchtbarer Wucht. Und immer wieder Blitz und Donner. Ich spuckte eine Handvoll stinkenden Sand aus, den Kopf zwischen den zitternden Schenkeln des Schecken. Mein ganzer Körper schmerzte vom Trommelfeuer aus Eis. Dann, nach einer erstaunlich kurzen Zeitspanne, war der ganze Spuk vorbei. Die plötzliche Stille war schmerzhaft. Aufstehen, sofort! Du mußt aufstehen, Atlan! befahl der Logiksektor. Ich schrie vor Schmerzen, als ich mich taumelnd hochstemmte. Keinen Augenblick zu früh, denn der Hengst reagierte sofort, als er mich nicht mehr spürte. Er schlug im Liegen mit den Hufen aus, wieherte dumpf und sprang unsicher auf die Beine. Ich griff nach dem Zügel. Jetzt, als die Kälte nach Osten weiterjagte und es von Moment zu Moment heller wurde, wich die vorübergehende Blindheit. Warmes Blut lief mir in die Augen, ich wischte es mit dem Ärmel ab und drehte langsam den Kopf. Der Hengst zerrte am Zügel. Eine verblüffende Erscheinung! erklärte völlig überflüssigerweise der Logiksektor. Der Sturm hatte eine weiße, kniehohe Spur durch die Landschaft gezogen. Die Sonne, die hinter dem Wolkenrand hervorstach und augenblicklich heiß zu brennen begann, ließ eine vierhundert Schritt breite Bahn erkennen, die sich wie eine glatte Straße über Hügel, quer durch entlaubte Wälder, über Weiden und Bachläufe zog. Sie endete am westlichen Horizont, ging schnurgerade weiter und hatte auf ihrem Weg die Karawane verschüttet und aufgelöst. Nur zweihundert Schritt weiter rechts oder links, und wir hätten alle den Wirbelsturm vorbeiziehen sehen.
Die Spur führte weiter nach Osten und endete dort, wo ich die Wolke erkennen konnte. Jetzt erhob sich eine breite Bahn aus dampfendem Nebel. Der Dunst verhüllte gnädig das Elend, das die Wunderbare Karawane teilweise vernichtet haste. Ich bedeckte die Augen mit der Hand und atmete einige Male tief durch. Dann griff ich in die Hagelschicht und reinigte mein Gesicht, bohrte in den Ohren und schneuzte den Sand aus der Nase. Ich hatte in meine Zunge gebissen, denn der Speichel war blutig. Leise redete ich während dieser Zeit auf den Schecken ein, der sich langsam beruhigte. Schließlich stieg ich ächzend in den Sattel und ritt auf den nächststehenden Wagen zu. Der Zorn der Götter hatte ganze Arbeit geleistet. Ein schneller Rundblick zeigte mir niederschmetternde Bilder, aber auch solche, die hoffen ließen. Die Herden der Rinder und Pferde hatten am wenigsten gelitten. Sie waren zwar weithin verstreut, aber ich sah die Hirten und ihre zottigen Hunde bereits an der Arbeit. Ich vergaß dieses Problem. Hinkende Schafe mit triefend nassen Fellen tauchten aus dem dampfenden Eis auf. Die toten Tiere sah ich nicht unter der Schicht aus Hagelkörnern. Zwei Wagen waren umgeworfen, die Deichseln zerbrochen, die Zugseile gerissen. Mit dem dröhnenden Schmerzensschrei eines Ochsen, der sich beide Läufe gebrochen und ein Horn bis zum Knochenzapfen gespalten hatte, brach der tausendstimmige Chor aus menschlichen und tierischen Kehlen los! »Die Karawane ist nur noch ein Spottbild ihrer selbst.« Ich riß den Hengst herum und sprengte entlang des schmelzenden Eisstreifens nach vorn. Dort sah ich Nianchres Wagen. Als ich näher kam, bemerkte ich, daß die Lanze mit der blitzenden Bronzespitze und dem Wimpel vom Blitz getroffen, geschmolzen und verbrannt war. Eine breite Spur verkohlten Holzes lief über die Flanke des Wagens zur Achse und über die geschmolzene Nabe und die verkohlten Speichen bis in den Boden. An dieser Stelle war das Eis geschmolzen. Ich parierte das Pferd neben dem Wagen und brüllte: »Asyrta! Nianchre?« Zweistimmiges Stöhnen antwortete mir aus dem Innern. Ich sprang aus dem Sattel auf den Bock hinauf, riß den nassen Vorhang
zur Seite und entdeckte Nianchre, der versuchte, das Mädchen wachzurütteln. Nachdem wir ihr einen Becher Wein eingeflößt hatten, kam sie wieder zu sich. Als sie wieder klar atmete und ansprechbar war, wußten wir, daß der Blitz sie beide geschockt haste. Ich winkte Nianchre, der kopfschüttelnd aus dem Wagen blickte und sagte: »Aufs Dach hinauf. Wir müssen Ordnung schaffen!« »Richtig. Wo sind die Jäger, die Krieger, die Wegesucher?« Wir standen auf dem Wagen und blickten die breite Zone des Schreckens entlang. Es war zu überlegen, was wir als erste Schritte befehlen und unternehmen konnten. »Zuerst unseren Wagen dort hinüber!« befahl ich. »Die anderen werden folgen. Der Boden vor dem Hügel ist trocken.« Mit zischelnder Stimme rief Nianchre einige Treiber her. Sie erhielten klare Befehle, entwirrten die Leinen, holten einen Zugochsen, schirrten ihn ein, und dann rumpelte der Wagen weiter. Als er nach 500 Schritten am vorbestimmten Platz stand, sahen wir, wie das Rad endgültig zusammenbrach und sich der Aufbau langsam nach rechts vorn senkte. Sie stützten den Wagen mit der Reservedeichsel ab. Wir schafften es, die Eselstreiber mit Flüchen und Peitschenhieben zu ihren Tieren zurückzubringen. Die Ladungen wurden eingesammelt und wieder aufgeschnallt. Überall liefen die verschiedenen Tiere aufgescheucht zwischen den Menschen hin und her. In gestrecktem Galopp, die Flanken der Pferde aufreißend, kamen die fünfzehn Wegesucher zurück und halfen uns, ohne auch nur eine Frage zu stellen. Bis es Abend wurde, würden etwa hundert entschlossene Frauen und Männer die alte Ordnung wieder soweit hergestellt haben, wie es unter diesen Umständen möglich war. An drei Stellen loderten große Feuer abseits des schlammigen Weges.
2.
Ich war allein im Zelt, lag im Faltstuhl und trank dünnes, kaltes Bier. Eine der größeren Truhen war aufgeklappt. Im Innenteil des Deckels hatten die Projektoren eine makellose holografische Darstellung aufgebaut. Das Lager war ruhig: zwischen den Wagen brannten Fackeln, und Feuerschein spiegelte sich auf bronzenen Schilden und den ledernen Planen der Gespanne. Hunde bellten, und Esel stießen ihr schrilles Wehgeschrei aus. Nach einem langen Gespräch mit Rico, einer Überspielung der letzten SondenAufnahmen und der Reproduktion etlicher Karten zeigte er mir überraschende Aufnahmen – diese Überzeugung drängte sich mir auf, als ich die Reiter sah – eines kleinen Heeres, dessen Existenz offenbar mit meiner Karawane zu tun hatte. Ich sah die Bilder, hörte und verstand die Sprache, definierte die Geräusche. Der Anführer, den sie »Rantiss« nannten, war mir bekannt. Aber so sehr ich in meiner Erinnerung forschte, die mich sonst nie im Stich ließ, ich erkannte ihn nicht, erkannte ihn nicht wieder. Er wirkte überaus selbstbewußt, hart und tüchtig. Durch Hufgetrappel, knarrende Sättel und das scharfe Schnauben der Pferde hörte ich die Erklärungsversuche des Roboters. »So wie du von ES auf diese Reise geschickt wurdest, Atlan, sind auch meine Positroniken teilweise manipuliert worden. Seit etlichen Monden verfolge ich Rantiss und seine wilde Truppe mit den Sonden, und ich weiß nicht, ob auch dieser Befehl von ES stammt. Aber jetzt ist die erste zusammenhängende Sequenz vorhanden, und du wirst bald wissen, welche Bedeutung Rantiss und seine Leute haben.« »An welchen Orten hast du diese Beobachtungen gemacht?« »Hundert Romet-Meilen nordwestlich des Punktes, den deine Karawane heute erreicht hat.« Ich vertiefte mich in die Bilder und konzentrierte mich darauf, deren Bedeutung richtig zu verstehen. Je mehr ich sah, desto sicherer wurde ich, daß ich Rantiss kannte; unter anderem Namen, in einer anderen Maske vielleicht? In nur einem Mond hatte er es geschafft, mit Drohungen und Autorität, als Anführer und Vorbild, aus einem Haufen halb verwahrloster Männer mit Waffen und Pferden eine etwa 200 Köpfe
starke Truppe zu erziehen und zu schulen. Ihre innere Disziplin entsprach noch nicht ganz der äußeren. Sie waren und blieben wild und kämpferisch, aber auf den ersten Blick und aus der Sicht der Sondenlinsen wirkten sie ausnahmslos entschlossen und zielbewußt. Der gleiche unausgesprochene Drang, der Rantiss beseelte, trieb auch seine Reiter an. Die ersten Bilder stammten aus den Mittagsstunden. Sie waren keinen halben Mond alt, dachte ich. Die Natur an den Seiten des fast unsichtbaren Pfades, dem die Reiter folgten, stand in kräftigem Grün. Die Waffen der Männer blitzten, ihre Kleidung war sauber, und alle Tiere schienen sorgsam gestriegelt und standen gut im Futter. Ich blickte Rantiss an und durchforschte mein Gedächtnis, aber die zähen Nebel, die ES aus unbekannten Gründen geschaffen hatte, wichen nicht. Asyrta kam herein, warf mir einen langen Blick zu und setzte sich neben mich. Ich deutete auf die Bilder; sie lächelte und sah schweigend zu. Nur ab und zu fuhren ihre Finger durch das lange blauschwarze Haar. Rantiss ritt auf einem prächtigen, großen Hengst an der Spitze seiner Reiter. Er spähte nach rechts und links; nichts entging ihm. Es war eine herrliche Gegend für ein Reiterheer. Eine Steppe übersichtlich und fruchtbar. Voller jagdbarer Tiere; Wasservögel in morastigen Flecken, Gazellen und Rehe, Wildschweine und Hirsche, und Füchse, deren buschige Schwänze man an die Lanzen band. Rantiss ritt rechts vor dem Hauptfeld, hinter ihm in Dreierreihen liefen 600 Tiere. Jeder Mann hatte zwei Packpferde, die Decken, Waffen und Proviant trugen. Im kräftesparenden Galopp ritten sie nach Südosten. Die Männer saßen weit vorn in den Sätteln, um die Pferde zu schonen; sie riefen sich Scherzworte zu. Die Hufe der Pferde erzeugten ununterbrochenen leisen Donner. Rantiss hob, ohne anzuhalten und sich umzudrehen, den Arm steil in die Höhe. Das Sonnenlicht blitzte reflektierend auf der doppelten Schneide des Kampfbeils. Von der vordersten Gruppe der Reiter löste sich ein einzelner Mann, dessen Schädel bis zu einer Linie, die von Ohr zu Ohr ging, kahlgeschoren war. Langes,
dunkelbraunes Haar flatterte bei jedem Galoppsprung. Er ritt schärfer, bis er an der Seite des Anführers war und hob die Arme mit den Zügeln bis zur Brust. »Was gibt es? Gefahren?« Rantiss lachte heiser und spuckte Staub aus. »Nein. Aber ich weiß, daß dir diese Steppe bekannt ist. Wie weit ist es bis zum Ostrand des Flachsees?« Der andere schüttelte den hageren Kopf. Seine bernsteingelben Augen leuchteten, als er grinsend sagte: »Du fragst mich das jeden Tag dreimal. Du weißt selbst, wie weit es ist. Ich bin sicher, daß dich ein Dämon vorantreibt mit einer unsichtbaren Peitsche.« »Du magst recht haben, Skath«, gab Rantiss zurück. »Es ist wichtig, meinen Freund zu treffen. Ich weiß, daß er mich braucht!« »Es sind noch fünfzehn Tage bis dorthin. Oder zwei Zehntage, vielleicht, wenn wir zu lange lagern.« »Was denken die anderen?« Sie ritten schneller. Ihre Knie berührten sich beinahe. Vor einer Stunde hatten sie die Pferde gewechselt; die Tiere waren ausgeruht. Der eckige Helm von Rantiss trug einen breiten Goldstreifen um die Stirnblende, der runde Schild leuchtete wie poliertes Silber. Im Köcher raschelten die Pfeile. Hinter ihnen jagten die anderen her, eine lange Schlange, die nicht einmal Staub aufwirbelte. Skath rief: »Sie denken wie ich, Rantiss. Sie fragen sich, was wir versäumen, wenn wir langsamer reiten und länger rasten.« Rantiss’ Lachen war heiser. Er hatte sich auf der Welt wiedergefunden, als ob er bisher blind gewesen wäre und plötzlich zum erstenmal Farben und Dinge sähe. Er lebte und wußte, daß er ein starker, kluger und schneller Kämpfer war, zusätzlich viele andere Dinge kannte oder zumindest ahnte. In seinem Herzen waren drei Wünsche gewesen, deren er sich immer wieder erinnerte: Männer zu suchen und zu finden, die das größte Wagnis des Barbarenlandes auf sich nahmen und mit ihm eine unermeßlich weite Strecke bis zu einem undeutlichen Ziel zusammen ritten und kämpften.
Eine große Menge Menschen und Tiere zu treffen, die sein Freund mit Strenge und Klugheit lenkte. Dieses Treffen lag irgendwo dort vor den Bergen, die man bisweilen erahnen konnte, jenseits des Sees. Er wußte nicht einmal den Namen des Freundes, aber er besaß das Bild vieler Träume – er würde ihn erkennen, wenn er ihn sah. Der dritte Wunsch, der in ihm saß wie der giftige Stachel des Skorpions, war das Bild des Zieles. Unglaublich weit entfernt im Osten zwischen den Schleifen des gelben Flusses und dem Meer, sollten die Stämme gesammelt und miteinander verbunden werden. Diese drei Träume oder Zwänge trieben ihn unablässig zur Eile und ließen ihn über sich hinauswachsen. Er entdeckte nach und nach, daß er mehr konnte als nur reiten und Bogenschießen. Er rief dem Unterführer zu: »Wir versäumen vielleicht die richtige Stunde. Ich weiß, daß mein Freund in Gefahr kommt, und nur wir können ihn retten. Deswegen habe ich aus euch eine Gruppe von Männern gemacht, die tödlicher ist als eine Feuersbrunst in der Herbststeppe.« »Niemand versteht dich, Rantiss. Aber wir gehorchen dir!« versicherte Skath grimmig. »Alaca versteht mich!« sagte er hart. Sein Lachen war wie Bronze. Auf seinem Weg – die Gruppe zählte dreißig Männer und etwa fünfzig gute Pferde – hatte er die anderen aufgelesen, eine Handvoll nach der anderen. Er hatte sie angeworben. Ihre Frauen oder Väter erhielten Silberplatten, Bernstein oder Kupfer, kleine Brocken arsenhaltiges Antimon und Zinn, um daraus Bronze zu kochen. Man tauschte Metall gegen Pferde und Männer, denen man alles versprach, wovon ein Mann träumte: Gefahren, Kämpfe, Kameradschaft, Räusche und Frauen. Auf diese Weise wuchs in einem Mond die Truppe an. Und kaum befanden sich die neuen Männer einen Tagesritt von ihrer Siedlung entfernt, einer der erbärmlich barbarischen Siedlungen, in denen die Menschen neben dem Vieh schliefen, erfaßte sie die erbarmungslose Faust des Anführers. Er war der Stärkste und Klügste, und er setzte sich durch. »Alaca ist ein Kind«, sagte Skath einschränkend.
»Ein Kind versteht mehr von Träumen und dem Zwang, Großes zu tun, als du Tölpel«, gab Rantiss bissig zurück. Er riß an der Schnalle des Helmes, löste die Kopfbedeckung und band sie mit äußerster Geschicklichkeit am Sattelknauf fest. Nur ein Drittel der Männer konnte mit Sattel reiten, aber alle hatten sie sich an Zaumzeug und Steigbügel gewöhnt. »Warum bin ich nicht bei meinen Ziegen und meinen Schwestern geblieben!« schrie Skath auf. Zur Hälfte meinte er es ernst. Von den kühnen Versprechungen, die Rantiss gemacht hatte, waren noch nicht viele eingetroffen. Zuerst wurden die Neuen gepackt, von ihren stinkenden Fellen befreit und in den nächsten Bach geworfen. Dort wusch man sie mit Sand und mit Brocken einer fetter, schäumenden Masse, die Rantiss in seinen Satteltaschen fand. Läuse, Zecken und Flöhe flüchteten aus dem Haar und von den Körpern der Männer. Dann wusch, kämmte und schnitt man ihr verfilztes Haar und steckte sie in Kleidung aus Leinen, Fellen und Leder. Sie waren schon nach der ersten Behandlung dieser Art nicht mehr wiederzuerkennen. In den Pausen des Rittes lehrte Rantiss sie, mit den Waffen umzugehen. Sie lernten schnell, well sie auf schmerzhafte Weise lernten. Die Waffen aus den Lasten der Troßpferde waren gut, ausgewogen und leicht. Nach einem Viertelmond gab es keine stinkenden, verlausten Hirten und Bauern mehr, sondern stolze Krieger. Sie lernten, richtig zu reiten, Sättel aus Leder, Bronzeschnallen und Fellen zu gebrauchen, ihre Füße in Schlingen aus Lederschnüren zu stecken, die rechts und links der Pferderücken herunterhingen. Sie lernten ebenso gründlich Bogenschießen und die Handhabung des Schildes. Tausend Würfe mit der Lanze führten auch beim Dümmsten irgendwann zu einem Treffer. Rantiss brachte ihnen bei, wie man Pfeile herstellte. Er verband ihre Wunden und gebrauchte geheimnisvolle Salben. Sie lernten, ohne Müdigkeit acht Stunden zu reiten, das Pferd zu schonen, auf die Eigenarten des Tieres einzugehen. Fast jeder Ritt gedieh zu einem Kampfspiel. Sie lernten ferner, mit Messer oder Dolch und Löffel zu essen. Rantiss war ein Mann, der alles wußte und alles konnte. Er übertraf jeden von ihnen
mühelos. Und an einem bestimmten Punkt vergaßen die Neuen, woher sie gekommen waren. Sie gehörten jetzt zu den Kameraden. Sie waren einzelne, aber geborgen in der Menge; eine Erfahrung, die gleichermaßen neu und faszinierend für sie war. Und jeden Tag ritten sie weiter nach Südosten. Sie begriffen, warum man Pferde nicht schindete. Sie lernten, sich nach dem Essen die Speisereste aus den Zähnen zu stochern. Sie lernten, wie man Wild am Spieß briet, Fische fing, ausnahm und würzte, daß Hirsebier ein gutes Getränk war, wenn man nicht zuviel davon trank. Und daß es wichtig war, Körper und Kleidung sauber zu halten. Sie aßen Beeren, lernten den perfekten Gebrauch der verschiedenen Waffen und lernten, daß es nur zwei Dinge gab, denen man zu gehorchen hatte: dem eigenen Können und dem Anführer. Hatte jemand Schwierigkeiten auf diesem langen Weg zur Einsicht, dann half Rantiss nach. Er war der beste Kamerad, der klügste Freund, trinkfest wie keiner und von rücksichtsloser Härte, wenn es nötig war. Es gab keinen der Zweihundert, der nicht Rantiss’ Freund war- und umgekehrt. Einige Rucke am Zügel. Die zwei Reiter, die sich weit vom Zug entfernt hatten, blieben vor einem breiten Hohlweg stehen, nachdem die Pferde langsamer geworden waren. »Merk dir eines, Skath«, sagte Rantiss deutlich, »wir sind Freunde und Krieger. Jeder weiß, wo das Ziel und wie weit der Weg ist. Wir versuchen, zu überleben und alles, wovon wir träumen, Wirklichkeit werden zu lassen. Ich bin nicht anders als ihr, Skath.« »Wir wissen es«, knurrte der andere. »Und wir wissen auch, daß du dein Wort halten wirst.« Er meinte die Versprechungen, die Rantiss gemacht haste. Sie waren keineswegs verlogen, aber ganz sicher lagen sie nicht offen vor den Reitern im Gras. Rantiss ballte die Faust und versicherte grimmig: »Ich schwöre es dir, schwöre es euch: Jeder, der den langen Ritt überlebt, wird ein kleiner Fürst werden. Deswegen auch lehre ich euch soviel.«
Er senkte den Arm im wildledernen Hemd. Mit ausgestrecktem Arm wies er die anderen Reiter an, geradeaus weiter zu galoppieren. Die Spitze der kleinen Armee kam heran und donnerte vorbei. Erdbrocken und Fetzen von Gras und breitblättrigen Pflanzen flogen von den Hufen der Pferde nach hinter. Mit ausgestreckten Hälsen folgten die Packpferde. In der Mitte des Zuges ritt Tantri auf dem Schimmel. Vor sich im Sattel aus mehreren Fellschichten hielt er das Mädchen, die mit beiden Händen ihrem erklärten Liebling zuwinkte. Skath beobachtete Rantiss ganz genau; er wußte, daß er auf diesem Ritt mehr erkennen und mehr lernen würde als in einem Jahrzehnt seines Dorfes, wo dreimal jährlich eine kleine, erbärmliche Karawane vorbeikam und die Brunnen verschmutzte. In dem Moment, da sich die Augen von Rantiss und Alaca trafen, zerbrach das harte Gesicht des unbarmherzigen Anführers. Eben noch eine Maske aus bronzener Haut und mit Staub gebundenem Schweiß, verwandelte es sich in das offene Gesicht eines Mannes von weniger als dreißig Sommern. Rantiss hob grüßend die Hand und bewegte die Finger. Er lachte Alaca an, so lange, bis dieser Teil des Heeres vorbei war. Ehe Rantiss seinen verblüfften Blick bemerken konnte, drehte Skath den Kopf und sah zu, wie die Pferde des Trosses mit den Rehen und Gazellen vorbeigaloppierten. Sie waren kurz nach der Morgendämmerung von den Jägern erlegt worden. »Es wird Zeit, daß wir wieder Brot bekommen«, sagte Skath laut, als die schwerer bewaffnete Schlußgruppe vorbeidonnerte. »Ich habe dort hinten Stroh gesehen und Häcksel an den Büschen. Wir sind in der Nähe einer Siedlung«, gab Rantiss zurück. Von dieser Siedlung würden sie allerdings keine Männer anwerben. Zweihundert und ein Anführer waren genug. Aber sie mußten Bernstein, Kupferbarren oder Waffen gegen Brot oder Mehl eintauschen. Vielleicht bewirtete man sie auch gern, well sie Nachrichten aus fernen Gebieten brachten. Schnell überlegte Rantiss, was der Gruppe fehlte. Es gab Fleisch, Salz, Wasser und noch immer Wein in Schläuchen, Schinken von
Wildschweinen, einige kalte Bratenstücke und Säcke voller Obst. Milch, Beeren und Brot würden sie vielleicht von den Bauern bekommen – wenn ihn seine Beobachtungsgabe nicht getrogen hatte. »Los! Weiter! Zwei Männer allein sind schutzlos!« sagte er. Ihre scharfen Absätze bohrten sich in die Flanken der Pferde. Die kaum gebändigten Hengste wieherten auf und fielen sofort in einen harten Galopp. Das Leder der breiten Sattelgurte knarzte, die Felle, vor und hinter dem Reiter zu Rollen genäht und genietet, raschelten. Die Stiefel ruhten sicher in breiten Steigbügeln. Leise klapperten Schilde und Speere gegeneinander, als Rantiss und Skath, sein schwarzhaariger Unterführer, in Sichtweite hinter dem Zug herritten. Gegen Abend sahen sie im fahlblauen Himmel des frühen Sommers weit voraus die schräg davonfasernden Rauchsäulen von Herdfeuern. Fast unhörbar schlugen in der Siedlung die Hunde an. Diesmal war es ein friedfertiges Dorf von weniger als hundert Hütten. Das weiche Fell lag halb auf dem Boden, halb auf dem Bündel Stroh vom letzten Herbst. Vor den Sohlen seiner Stiefel breitete sich die Glut des Feuers aus. Rantiss lehnte sich zurück und entspannte sich. Was war es? Welcher Dämon flüsterte ihm ein, an dieser Stelle nach rechts, an einer anderen nach links abzubiegen, hier eine Furt zu benützen, dort jenen Paß anzusteuern? Es gab keine Antwort. Rantiss wußte es noch nicht. Aber sein Traum führte ihn auf diesem Weg; er wußte, daß er das Ziel erreichen würde. Woher wußte er die Richtung und den Weg? Wen stellte das Bild im innersten Kreis seines leichten und dennoch widerstandsfähigen Schildes dar, dieses einzigartigen Schildes, dessen Herstellung er nicht einmal erahnen konnte? Fetzen undeutlicher Erinnerung zogen an ihm vorbei und gaukelten ihm im Flackern der Flammen merkwürdige Bilder von Er hob den Becher, nahm einen tiefen Schluck des im Bach gekühlten bitterer Hirsebieres und schloß die Augen. Die Dorfbewohner versorgten – es waren knapp 200 Menschen aller Altersklassen, barbarisch, abergläubisch und furchtsam – für zwei Barren schlechten Kupfers die Pferde und lieferten viele Laibe
überraschend wohlschmeckenden Brotes, das gegen einen Brocken Steinsalz getauscht worden war. Die Ruhe einer Zone, in der kein Überfall zu befürchten war, hüllte Rantiss ein. Er fühlte sich entspannt. So wie damals auf dem Meer, gebratenen Fisch essend, das Mädchen in den Armen, Wein in den Tonpokalen… schlagartig erlosch die vage Erinnerung an sonnendurchflutete Tage und Nächte, die nach Salz und Honig rochen, vom Zirpen der Grillen durchwebt. Der weißhaarige Freund, der die Syrinx blies -Dunkel senkte sich schlagartig über die Andenken eines früheren Erlebens. »Rantiss, du träumst ja!« Er öffnete die Augen. Alaca, das Mädchen aus der Steppe, stand vor ihm und hielt den Kopf schief. Ihr kurzes schwarzes Haar – sie hatten es mit Bronzedolchen geschnitten, nachdem es dreimal mit warmem Wasser und schäumendem Reinigungsfett gewaschen worden war – warf im zuckenden Licht der Flammen blaue Reflexe. Rantiss blickte das elfjährige Mädchen an und dachte unwillkürlich wieder an ein junges Reh. »Ich träume, richtig. Setz dich hierher«, sagte er leise. Neben ihm lagen und hingen die Waffen, an die Speere gebunden, die im Boden steckten. Zwei schlafende Männer auf der anderen Seite der zusammenfallenden Glut, Skath, der wie ein Panther durch das Lager streifte und überall seine wachsamen Augen hatte, die anderen Feuer und der Geruch nach Braten und Fett – eine unendliche Ruhe, aus Müdigkeit geboren, überkam ihn wie die Folge eines Rausches. Alaca kam um das Feuer herum und setzte sich neben ihn auf das Fell. Man hatte aus einem Wildlederhemd ein Kleid mit Schmuckgürtel für sie gemacht. Ihre dünnen, kindlichen Beine wirkten mitleiderregend, aber ihr Gesicht war nicht mehr das eines Kindes. Die Narben auf ihrem Rücken verschwanden nur langsam. Rantiss faßte einen Entschluß, über den sich am meisten seine Männer freuen würden. »Geht’s dir gut, Kleine?« murmelte er und streichelte ihre Hand. »Bin müde. Und hier tut mir alles weh!« versicherte sie und deutete auf ihre mageren Hüften. Wieder machte die Erinnerung des Anführers einen Sprung von dreizehn Tagen: Wie immer war er an der Spitze des kleinen Heeres geritten. Aus dem Augenwinkel
nahm er am Rand eines abgeweideten Feldes eine Bewegung wahr. Zuerst dachte er an Gefahr. Mit wirbelndem Kampfbeil war er aus der Geraden abgebogen und auf den vermeintlichen Feind zugesprengt, entschlossen, den gellenden Alarmschrei auszustoßen, der seine Männer in todeswütige Kämpfer verwandeln würde. Dann erkannte er, was dort vor ihm im Gras lag. Ein Kind. Zehn Herzschläge später sah er, daß es ein verwildertes Mädchen mit verfilztem, schwarzem Haar war. Ihr Rücken war von den mageren Schultern bis zu den dünnen Oberschenkeln mit einem Muster von Striemen überzogen, von denen einige noch bluteten. Der Hengst schlitterte fünf Pferdelängen weit auf den Hinterfüßen dahin, und Rantiss war mit einem riesigen Satz aus dem Sattel, noch ehe das Tier schnaubend stand. Das Kind schrie leise auf und versuchte, vor ihm wegzukriechen. Rantiss kauerte sich auf die Hacken nieder und blickte in ihre verängstigten Augen. Leise und beruhigend, wie zu einem scheuenden oder kranken Pferd, sprach er zu ihr. Sie verstand ihn nicht, aber der gleichmäßige Tonfall beruhigte sie so weit, daß sie nicht mehr zu flüchten versuchte. Auf keine seiner Fragen erhielt er eine Antwort. Schließlich lächelte er das Mädchen an, schob seine Arme unter den zitternden Körper und hob Alaca hoch. Er setzte sie mit ungewohnter Behutsamkeit auf das Pferd und führte es langsam zurück zu der wartenden Reitergruppe, die sich von der größeren Masse abgesondert haste. Nachdem er den Männern die Striemen auf dem Rücken des Kindes gezeigt hatte, sagte Rantiss kurz und mit einer kalten Stimme, die nur wenige Männer gehört hatten: »Zwanzig von euch reiten zurück zur Siedlung. Jeder schießt zwei Brandpfeile in die Dacher. Schlagt nieder, wer sich euch entgegenstellt. Und kommt sofort wieder hierher, zu uns!« Einer der Männer stammelte verwirrt: »Rantiss! Sie haben uns Brot gegeben und Futter für die…« Mit klirrender Schärfe in der Stimme sagte Rantiss leise: »Möchtest du mein Beil in den Schädel? Ich habe befohlen. Ich möchte sofort große Flammen sehen.«
Wortlos sprengten die Männer davon. Eine halbe Stunde später brannten zwanzig Hütten der Siedlung mit schwarzen, dicken Qualmfahnen. Rantiss lenkte seinen Hengst mit den Knien. Das Mädchen in seinem Arm, halb über seiner Schulter hängend, war vor Erschöpfung eingeschlafen. Sie brauchten zehn Tage, bis sie mit ihnen sprach, bis sie nicht mehr gefüttert werden mußte und nachts schlafen konnte, ohne schreiend aufzufahren und zu wimmern. Niemals erfuhren Rantiss und Skath, welche Tragödie stattgefunden haste. Noch zwei Monde, und Alaca würde weniger dürr sein, eine glatte Haut haben, und schon jetzt ritt sie wie einer von ihnen. Diese Erinnerungen waren bewußt und dauerten nur ganz kurze Zeit, dann streckte Rantiss den Arm aus, und Alaca kuschelte sich an seine Schulter. »Hast du genug gegessen, meine Prinzessin?« sagte er leise. Fast jede Bewegung des Mädchens berührte ihn auf seltsame Weise. Sie schlug mit ihrer winzigen Faust auf ihren kleinen Bauch. 200 Männer verwöhnten sie. »Ganz voll. Warum schaust du so traurig, Rantiss?« Sie hatte dieselbe Haarfarbe wie er; schwarz mit blauen Reflexen. Als er sie anblickte, hingerissen und an sich selbst zweifelnd, streckte sie ihm die Zunge heraus. »Müde?« brummte er und grinste. Sie kicherte. »Nur in den Beinen. Nicht im Kopf. Erzählst du mir von der anderen Prinzessin?« Er hatte sich ein unbeholfenes Märchen zusammengereimt, das von einem schönen und unglücklichen Mädchen handelte, das durch die halbe Welt wanderte, um in einem fernen Land Königin zu werden, in unvorstellbarer Pracht und Mächtigkeit, an der Seite eines großen Mannes. Jeden Abend erzählte er Alaca ein weiteres Kapitel. »Ich bin müde«, protestierte er. »Morgen werden wir nicht reiten. Du kannst uns helfen. Wir ruhen uns aus, auch die Pferde. Geh dort hinüber, such Skath und sag ihm, was ich gesagt habe. Dann wird er dir eine viel längere Geschichte erzählen.«
Sie zog eine Grimasse. Vorsichtig wischte er einen Streifen schwarzes Fett aus ihrem Gesicht. Sie sprang auf die Füße und blieb vor ihm stehen. »Du bist faul, Rantiss! Du wirst niemals eine Prinzessin bekommen du Klotz!« Sie lachte und wirbelte davon. »Ich habe ja dich, Prinzessin!« rief er ihr nach, aber sie hörte es nicht mehr und bewegte sich zwischen den Männern hindurch, als sei sie im Sattel gezeugt und in einem solchen nächtlichen Lager geboren worden. Rantiss blickte ihr nach. Er vermochte sich über die Natur seiner Gefühle keine Rechenschaft zu geben; er kannte keinen Namen für diese Gedanken. Sie erreichte hundert Schritt weit entfernt den Unterführer, deutete in Rantiss’ Richtung, und als Skath eine fragende Bewegung machte, nickte Rantiss. Dann schloß er die Augen. Der Schlaf kam schnell, mit ihm kamen die Träume. Sie bestanden aus einem wirren Muster aus Abenteuern und fremden Ländern, aus stürzenden Pferden, zischenden Pfeilen, sterbenden Kämpfern und Gesichtern, die vorbeizogen. Als er zehn Stunden später aufwachte, war davon nur noch ein Eindruck übrig: ein schlanker Mann mit schmalem, sonnengebräuntem Gesicht und halblangem, weißem Haar unter einem golden und weiß blitzenden Helm. Es war das Gesicht des Kriegers in seinem runden Schild. Sie standen einen Tag später vor Morgengrauen auf, kletterten ächzend in die Sättel und ritten dicht hintereinander zwischen den äußersten Langhütten, den Feldern voller Weizen, Gerste und Hirse weiter. Als die Männer davonritten, erwachte das Dorf. Die niedrigen Büsche und Fruchtbäume, in deren Zwischenräumen sich Reittiere und Lasttiere bewegten, besprengten die Arme und Schenkel mit Tautropfen. Auf Rantiss’ Helm glitzerten die Tropfen ebenso wie auf seinem strahlenden Schild. Ein feiner Sprühregen fiel auf die Pferde. Neben Rantiss sagte, immer wieder von Gähnen unterbrochen, der Unterführer: »Für heute haben wir zwei Möglichkeiten. Entweder gibt es im weiten Umkreis der Siedlung keine Wegelagerer und Räuber, well die Barbaren sie erschlagen und vertrieben haben…« Zustimmend nickte Rantiss und sagte brummig:
»Oder die Gegend wimmelt von ihnen. Die Dörfer haben aber gesagt, das Land ist frei von Räubern. Nur Wölfe soll es geben.« »Im Sommer sind sie ungefährlich.« Vor zehn Tagen waren sie einer Karawane begegnet, die Erz nach Assur transportierte, auf einem riesigen Umweg, well sie unterwegs Sklaven mitnehmen wollte. Die verwilderten Männer hatten sich zunächst gefürchtet, aber sie starrten lange dem Zug der Reiter nach, als man nach zwei Stunden des Austauschs von Neuigkeiten voneinander schied. Nein, sagte der Karawanenherr, niemand habe etwas von einer riesigen Karawane gesehen oder gehört, die nach Osten zog. Aber es gäbe wohl soviel Straßen zwischen den Bergen und hier, sagte er, wobei er seine Hände mit gespreizten Fingern zweimal vors Gesicht hob. »Trotzdem werden wir sichern, Skath!« »Einverstanden.« Nebelschleier lagen noch über den Feldern und saftigen, umzäunten Weiden voller Vieh, als die Sonne den Horizont mit Licht überflutete. Unsichtbare Vögel riefen in den Büschen einander zu. Rantiss drehte sich um, bis er das noch halb schlafende Mädchen im Sattel eines der Männer entdeckte. Wieder schrieb ihm eine unbegreifliche innerliche Gewißheit die Richtung des Weges vor, und abermals konnte er nur kleinere Richtungsänderungen bestimmen. Die Ersatzpferde an langer Leine hinter sich, die gespannten Bögen in der rechten Hand, sprengten Skath und Rantiss schräg auseinander, um sich vor die Spitzengruppe der Reiterei zu setzen. In diesem Gelände konnten sie leicht bis zu 15.000 Großschritte in einer Stunde zurücklegen. So ging es weiter. Ein Tag nach dem anderen. Sandflächen wechselten mit morastigen Streifen ab, einmal ritten sie durch einen Wald, dann wieder durch mannshohe Gräser. Einen Tag fang begleitete sie ein Schwarm schwarzer Vögel, die mißtönende Schreie ausstießen. Die Reiter verwuchsen mit dem Land, als sei es ihre Heimat. Abends schlugen sie das Lager an einem winzigen See auf, dann an einem Waldrand, mehrmals mitten in der Steppe, und einmal in einer Schlucht, in der das Geräusch des Wasserfalls die ganze Nacht zu hören war. Das Land blieb flach, und an den
Wolken konnten sie erkennen, daß der Fachsee nicht mehr fern war. Dahinter entdeckten sie an manchen Tagen, meistens am Morgen, den Schimmer ausgezahnter Gebirge. An einem späten Nachmittag, als sich gerade eines der häufigen Gewitter zusammenbraute, sahen Rantiss, Skath und Tantri weit voraus eine Menge schräger Rauchsäulen. Plötzlich schob sich von rechts ein ausgefahrener Weg vor die Pferdehufe und schlängelte sich auf die flackernden Flammen am Horizont zu. Rantiss rief: »Ich erkenne einen Hügel. Dort brennen die Feuer.« Soweit es mit bloßem Auge zu erkennen war, lagen zwischen dem bewohnten Hügel und den Reitern kleine Wäldchen, Buschreihen entlang von Kanälen und bearbeitete Felder. Je näher die Reiter an den Ursprungsort der Rauchfahnen kamen, desto erstaunter sahen sie, was an ihrem Weg lag. »Es ist mehr als nur ein bewohnter Hügel. Es sieht wie ein Kastell aus, wie eine Festung«, widersprach Skath. Seine Augen sahen schärfer und weiter als die der meisten Reiter. »Mag sein. Ob sie uns gern aufnehmen?« Der Proviant wurde zum Teil knapp. Immer nur Braten und Wasser, hin und wieder Beeren und Früchte – es war zu eintönig. »Es sieht so aus, als ob sie kämpfen würden«, versicherte Tantri und lachte breit, als er den Bogen von der Schulter nahm. Die drei Anführer ritten weiter. Mehr Einzelheiten wurden sichtbar. Dann entdeckten sie am Fuß des Hügels eine Rinderherde, die von flüchtenden Hirten hinter den Wall getrieben wurde. Einzelne Gruppen von Feldarbeitern verhielten sich nicht anders. Langsam drehte sich Rantiss um. Die vielen hundert Tiere hinter ihm erzeugten eine fatale Staubwolke, die in der sinkenden Sonne auch von den Dörfern gut zu sehen war. Alles sah nach Kampf aus; die Bewohner des Kastells schienen der Reiterhorde aus der Steppe zu mißtrauen. Schließlich entschloß sich Rantiss und sagte zu seinen Unterführern: »Ich reite voraus und versuche, sie zu überzeugen. Ihr folgt langsam und sehr wachsam mit den Kriegern, ja?«
»Denke daran, daß es bald dunkel wird!« Tantri deutete in die Richtung des fallenden Sonnenballs. Rantiss sah hinüber zum Hügel, zehn Bogenschüsse weit vor der Spitze der Reiterei. »Entweder sind wir morgen Gäste im Kastell, oder wir sind die Herren des Kastells. So oder so werden wir gewinnen«, meinte er, setzte die Sporen ein und galoppierte davon. Der lange Wimpel an seiner Stoßlanze zuckte hin und her wie der Kopf einer angreifenden Schlange, die ihr Opfer ins Auge gefaßt haste. Rantiss drückte den Helm fest auf den Schädel und schloß das Kinnband. Er rückte den Köcher zurecht und lockerte die kleinen Wurfspeere in der Lederhülle. Dann schwang seine Schulter nach vorn; der linke Unterarm glitt wie von selbst in die Griffe des Rundschilds. Der ausgetretene und aus tiefen Räderspuren bestehende Weg folgte den Feldrändern und den Bewegungen des Geländes. Der Hügel, auf dem die dunkelbraunen Palisaden aufragten, ging in die Weiden um die Siedlung über und war von Bäumen und Büschen befreit worden. Diese Beobachtung machte Rantiss nachdenklich: die Mauern, die sich spiralig um den Hügel zogen, stimmten bedenklich. Sie bestanden aus Stein und Baumstämmen und bildeten eine Stufe; das Erdreich über ihnen war waagrecht aufgeschüttet. Nur die schräg eingeschnittene Straße, die zu zwei halb gemauerten Türmen hinaufführte, durchbrach diese Anordnung. Der Hügel war nicht hoch, aber auf seiner Kuppe fanden etwa hundert Hütten und stumpfgiebelige Scheunen Platz. Rantiss entdeckte Pferdekot, einen verlassenen Wagen voller Stallabfälle, die man wohl auf die Felder brachte. Er mußte daraus schließen, daß die Bewohner des Kastells keine Halbwilden waren. Nach einer Weile kam er an den Fuß des Hügels, wo die steinige Straße einen Knick machte und aufwärts führte. Abseits der scharfen Linksschwenkung machte er eine verblüffende Entdeckung. Auf einer Weide, deren Gras von Schafen und Ziegen kurzgefressen worden war, erhob sich ein auffallender Erdbuckel, von schütterem Gras bewachsen. Rund um diese Erhöhung, die von einem Steinblock gekrönt wurde, waren zahlreiche Holzpfähle in den Boden gerammt, und eine Menge Astgabeln stützten
querliegende Balken. Auf dem langen Balken waren viele verrottete, pergamentierte Kadaver von Pferden aufgespießt; die Bohle war vom After bis zu den aufgebrochenen Kiefern durch das Pferd getrieben worden. Rantiss zwang den scheuenden Hengst einmal rund um diese erschütternde Opferstelle. Rantiss entdeckte erschrocken modernde Reste von kostbarem Zaumzeug, fand keine Sättel, keine Steigbügel, aber Golddraht in den verfilzten und zerfallenden Mähnen der Tiere. Die Kadaver zeigten Spuren von Nagetieren und aasfressenden Vögeln. Mitten durch die Rücken der Pferde, deren Schädel zum Hügel hin wiesen, war ein Holzpfahl in den Boden geschlagen worden. Er ging vom Kopf bis zum Ende der Wirbelsäule eines Mannes, der auf diese Weise aufrecht auf dem Pferd mumifiziert worden war. Auch seine Haut und Kleidung zeigten die Spuren des Alters, des Zerfalls und der Aasfresser. Das Gesicht, zerhackt und verwüstet, zeigte keinen erkennbaren Ausdruck. Zwölf Pferde, zwölf anscheinend junge Männer, oder waren es mehr? Rantiss vergaß das Zählen und ritt kopfschüttelnd wieder zurück auf die Straße. Dieses Bild war offenbar Bestandteil des Brauchtums dieser Steppenbewohner. Und wenn die Männer ebenso wie die Pferde als Grabbeigaben eines Fürsten lebend geopfert worden waren? Er schüttelte sich schaudernd und setzte die Sporen ein. In wirbelndem Galopp stob er zwei Drittel der schrägen Zufahrt hinauf. Schon jetzt sah er, daß sich Hunderte Bewohner der Siedlung in Gruppen, mit Äxten, Schilden und Speeren bewaffnet auf den Wällen befanden, abwechselnd auf ihn herunterstarrten und argwöhnisch die Reiter anblickten, die langsam näher kamen. »Beim Papaios!« schrie ein bärtiger Mann vom Turm herunter. »Wer bist du? Was wollt ihr?« Rantiss legte den Kopf in den Nacken und starrte nach oben. Einige Männer trugen Waffen, die den Eindruck machten, sie seien mit Sorgfalt gefertigt und würden mit Können gehandhabt. »Wir sind zweihundert Reiter mit Ersatzpferden«, rief er laut zurück, aber als er das offene Mißtrauen in den grobflächigen Gesichtern sah, war er von der Sinnlosigkeit seiner Worte
überzeugt. »Wir wollen uns einen Tag lang ausruhen, Mehl und Bier von euch tauschen, Futter für die Tiere und gutes Wasser.« »Wir sind arm. Wir lassen uns nicht von euch überfallen. Wir können uns wehren, Fremder!« schrie der Mann. Er schien zugleich stolz, unsicher und wütend zu sein, eine gefährliche Mischung. »Hör zu, Bauer!« rief Rantiss hinauf. »Wir wollen weder euer Land noch eure Frauen. Wir stehlen nicht, wir wollen tauschen.« »Geht weg! Laßt uns in Ruhe! Wir wollen keine Fremden. Aus der Steppe ist noch niemals etwas Gutes gekommen!« »Wie kann ich dich überzeugen?« brüllte Rantiss wütend. »Du bist auch nur einer von den streunenden Räubern. Geht weg! Schnell!« schrien die Dorfbewohner. Der Anführer schwieg und sah sich aufmerksam um. Er versuchte die Stimmung abzuschätzen. Möglicherweise konnte er seinen Männern noch einige Tage Geduld und Hunger abverlangen. Bisher hatte er die ungerechtfertigten Beleidigungen geschluckt. Jetzt gab er laut zurück: »Wir sind keine Räuber. Wir werden die Nacht auf euren Feldern rasten. Ihr braucht keine Angst zu haben. Aber ich warne euch, uns anzugreifen.« »Geht weg, reitet fort. Ihr seid wie die Hunde bei der fetten Herde«, schrien die Männer hinter den Palisaden. Rantiss lächelte kalt und rief mit mühsam erzwungener Ruhe: »Denke daran, daß wir beißen, ehe wir bellen!« Er riß das Pferd herum und ritt den Weg abwärts. Er erwartete jeden Augenblick einen Schleuderstein oder einen Pfeil in den Rükken. Die Frauen und Männer auf dem Wall und in den Türmen brüllten ihm Flüche und Verwünschungen nach. Ein fast tierischer Instinkt zwang ihn im richtigen Augenblick, sich umzudrehen und den bisher mit ausgestrecktem Arm gesenkten Schild hochzunehmen. Gerade als er den Kopf hinter den Schildrand senkte, hämmerte ein Pfeil an den Rand, erzeugte ein häßlich knirschendes Geräusch und wirbelte davon. Rantiss fluchte und duckte sich tief auf den Hals des Pferdes, das einige Herzschläge später in rasendem Tempo den Hang hinunterstob und in einer Geraden den Weg verließ. Noch einige Schleudersteine und Pfeile flogen ihm nach, aber
Rantiss war schon zu weit entfernt. Tantri und Skath ritten heran, aber sie brauchten nicht mehr einzugreifen. Zwischen den ersten Reitern und dem Fuß des Hügels trafen sie sich. »Was befiehlst du?« fragte Tantri knapp. Er hatte begriffen, was dies alles zu bedeuten haste. Es verblüffte ihn, daß Rantiss wie ein Wolf grinste und den Schild hob. »Wir lagern außerhalb. Ich werde euch sagen, was ich glaube.« »Dein Ernst, Rantiss?« Tantri schlug auf den Schwertgriff. »Mein völliger Ernst. Wir lagern wie immer. Zunächst. Wenn unsere Feuer brennen, sag ich, was ich erwarte.« »Unbegreifliche Ideen hast du, Anführer«, murmelte Skath und rift, anscheinend tief enttäuscht, zurück zu den anderen. Ohne große Eile schlugen sie auf einer abgeweideten Fläche ihr Lager auf. Die Ebene war baumarm; während des Rittes gesammelte Wurzeln, Zweige und Baumreste versorgten zehn Feuerstellen. »Tantri!« Rantiss kaute ein Stück hartes Fadenbrot und schwenkte ein Stück Fleisch mit kaltem Fettrand in der anderen Hand. Der Unterführer, wie alle in voller Rüstung, aber unbewaffnet, schob sich näher. Er zog die Schultern hoch und fragte: »Kühnster aller Reiter?« Skath tappte heran und rülpste dröhnend. Rantiss spuckte aus. »Wir bilden zwei Gruppen. Hundert Männer und Alaca schlafen, die anderen wachen. Die Pferde werden nicht abgesattelt. Jeder Mann wird mit den Waffen neben sich schlafen oder sich schlafend stellen. Ich schwöre euch, daß diese Bastarde versuchen werden, unsere Pferde zu stehlen und uns zu überfallen. Wir schlagen sie, wenn sie uns zu schlagen versuchen. Hast du das verstanden, du krummbeiniger Sohn vieler Väter?« Tantri fing an zu strahlen. Jetzt hatte er begriffen. Er schlug Rantiss auf die Schulter; der Anführer verschluckte sich. »Ich bin nicht der Mann«, sagte er hart, »der arme Bauern überfällt. Ich will nicht, daß Menschen leiden und sterben, du Esel. Wenn sie angreifen, dann nicht deswegen, well sie übermütig sind.« »Sondern?« Skath starrte zum Hügel hinüber. »Weil es zu lange Zeit zu viele Räuber gab, immer wieder, Jahr um Jahr, Generation um Generation, von denen sie überfallen
wurden. Ich hoffe, daß sie nicht versuchen, uns nachts zu überfallen«, sagte Rantiss halblaut. »Und wenn sie es doch tun?« fragte Alaca, die leise zu ihnen getreten war. »Dann werden wir uns auf unsere Art wehren.« Rantiss wickelte sich gähnend in seine Felldecke. Sechs Stunden lang konnte er schlafen. Dann weckte ihn ein Stiefel, der gegen seine Schulter stieß. Die Feuer waren zu dunkelroten Glutkreisen zusammengesunken. Zuerst blinzelte Rantiss und stand auf, dann wurde er völlig wach. Seine Männer verhielten sich mustergültig. Entweder schliefen sie wirklich, oder sie taten, als ob sie schliefen. Die Pferde waren unruhig geworden. Lautlos trat Rantiss zurück und tastete nach den Waffen. Er drehte langsam den Kopf und sah zwischen zwei Feuern hindurch. Undeutlich erkannte er umherhuschende Körper und, weiter entfernt, einige Reittiere. Im Halbrund um das Lager gab es raschelnde und leise klirrende Geräusche. »Sie kommen. Sie wollen die Pferde wegtreiben«, zischte jemand in seiner Nähe. Eine Herde dieser Größe war in der Steppe so kostbar wie ein Goldschatz. Rantiss hatte jetzt Schild, Bogen und Köcher in den Fingern und lehnte sich an einen Baumstamm. Die Reiter warteten auf seine Befehle. Schon jetzt mußten sie, wie er, vor Ungeduld zittern. Er blieb in der Deckung und ließ seinen Blick umherschweifen. Die Bewohner des Kastells wunderten sich vermutlich darüber, daß seine Truppe keine Wachen ausstellte. Als er in unmittelbarer Nähe des Gluthaufens, der in der Richtung der Siedlung lag, den ersten Mann auftauchen sah, der unmöglich zu seinen Reitern gehören konnte, sprang er auf, zog den ersten Pfeil aus dem Köcher und schrie: »Das Holz in die Feuer! Ausschwärmen, fünfzig Mann mit Fackeln auf die Pferde! Schießt Pfeile auf die Räuber!« Fast im selben Atemzug sprangen 200 Mann auf die Beine. Ein gewaltiges Chaos brach aus. Ein Dutzend Pfeile heulte kreuz und quer durch einen Teil des Lagers. Männer brüllten, bewaffnete Reiter rannten zu ihren Pferden; fünfzig Mann steckten die Fackeln in die auflodernden Feuer, in die andere Stroh und Holzspäne
warfen, dann ritten sie mit Ersatzpferden hinaus in die Ebene vor der Siedlung. Gleichzeitig entbrannten an etwa fünfzig Plätzen heftige Kämpfe. Äxte wirbelten durch die Luft und donnerten auf Schilde. Spitze, gellende Schreie ertönten. Die zehn Feuer schienen plötzlich zu erwachen. Mannshohe Flammenbündel schossen in die Höhe. Die jähe Helligkeit ließ viel erkennen, aber nicht alles. Überall kämpften Dörfer gegen Reiter. Eine Kette von Reitern hatte die Ersatzpferde umzingelt und trieb sie mit quer gehaltenen Speeren, Bögen und Lanzen von der Siedlung fort. Alles war in der Nacht besprochen, jeder Mann war eingeteilt worden. Rantiss sah einen jungen Mann, in Felle gekleidet, einen Dolch zwischen den Zähnen, mit einem Reiter kämpfen; er zog die Bogensehne aus und jagte dem Dörfer einen Pfeil zwischen die Schulterblätter. Es war, als habe sein erster Schuß ihm alles gezeigt, die Ausdehnung und das Schema des erwarteten Angriffs. Rantiss fief aus dem Bereich der Flammen hinaus an den Rand des Lagerkreises, sah sich wild um und setzte einen Fußhebel an, als einer der nächtlichen Räuber rückwärts taumelte, um dem geschwungenen Kampfbeil eines Reiters zu entgehen. Wieder ertönten aus verschiedenen Richtungen Todesschreie. Jemand rannte in ein aufstiebendes Feuer hinein, eine Hand gegen den Unterleib gepreßt, aus dem die Därme hervorquollen. Er schrie kreischend, als ihn die Flammen ergriffen. Rantiss sah ein neues Ziel; ein Junge führte drei Pferde weg. Er blieb starr stehen, zielte bedächtig und durchbohrte den Oberschenkel des Jungen. Sein Opfer schrie gellend und fiel zu Boden, die Pferde rissen sich wiehernd los und rannten davon. Abseits auf dem flachen Gelände, jagten fünfzig Reiter die flüchtenden Siedlungsbewohner. Fackeln wurden geschwungen und beschrieben auflodernde Lichtkreise. Männer sprangen in die Höhe und fielen mit zerschmetterten Schädeln zu Boden. Reiter stachen mit langen Lanzen aus vollem Galopp die Bauern nieder. Rantiss verschoß noch sieben Pfeile, dann brüllte er: »Skath! Unsere Pferde! Schnell!«
Er packte eine schwelende Fackel, schwang sie im Kreis und sah, wie die rote Flamme aufzuckte. Der Unterführer schrie vom anderen Ende des Lagers eine Antwort und kam quer durch den unregelmäßigen Kreis galoppiert, Rantiss’ gesattelten Hengst am Zügel. Rantiss sprang auf und schrie: »Hinter mir her! Wir dringen in die Siedlung ein.« Gewaltiges Geschrei antwortete ihm. Die Männer hatten nur darauf gewartet. Jetzt rannten sie auf die Pferde zu und sprangen in die Sättel. Hin und wieder blitzte eine Bronzeaxt auf und schlug einen Bauern nieder. Ein Reiter, einen Pfeil in der Schulter, sank zu Boden. Ein anderer riß ihn am Gürtel hoch und schleppte ihn, halb aus dem Sattel hängend, aus der Gefahrenzone. Die ersten Reihen der Reiter formierten sich, denn vor dem Lager schien der Kampf aufgehört zu haben. Die ersten Patrouillenreiter stießen zum Haupthaufen. »Keinen Leichtsinn, Freunde.« Die Stimme des Anführers dröhnte über die Weide. »Die Siedlung ist voller Männer. Nötigenfalls warten wir auf die Dämmerung.« »Wir haben verstanden!« kam es aus vielen Kehlen. An einigen Stellen wurde noch immer gekämpft. Wieder jagten einige Reiter los und beendeten die Versuche der Bauern, sich aus der tödlichen Umklammerung der Berittenen zu befreien. Überall lagen dunkle, bewegungslose Körper im feuchten Gras. Zwei Reiter befanden sich mit dem jungen Mädchen weit außerhalb des Bereichs, in dem gekämpft wurde. Inzwischen löschten die meisten Reiter, die als Kolonne schweigend auf die Siedlung zuritten, die Fackeln aus. Es sollte so aussehen, als ob den Bauern der Raubzug gelungen wäre. Immer wieder hetzte Rantiss hin und her. Er griff in Kämpfe ein, schmetterte den Schild auf die Köpfe rennender Bauern, trat aus dem Sattel einen Jungen zur Seite und sammelte seine Männer um sich. Die Kreise um den Kampfplatz wurden immer größer, dann packten auch die Bewacher der kleinen Herde die Reservetiere und schlossen sich der Kolonne an, die bereits mit der Spitze den Fuß des Hügels erreicht haste. Seitlich des Zuges, der durch vereinzelte Fackeln in seiner Länge erkennbar war, hastete Rantiss nach vorn. Was dachten diejenigen Männer, die in der Siedlung
zurückgeblieben waren? fragte er sich, in den Steigbügeln stehend. Etwa fünfzig mochten es gewesen sein, die sich bis zum Lager gewagt hatten. Vielleicht gelang es den Reitern, die anderen zu überraschen. Sie nahmen jetzt die Schräge des aufwärts führenden Weges, und einige Männer ganz weit vorn besaßen den Mut, mit Tuchstücken vor dem Mund kaum verständliche Befehle zu brüllen. Man solle ihnen helfen, die Pferde wären da. Rantiss winkte Skath und überholte seine Männer. Er zwang den schäumenden und keuchenden Hengst geradeaus den Hang aufwärts bis zu den im Feuerschein erkennbaren Türmen. Auch dort oben warteten Männer, die mißtrauisch geworden waren. Im gleichen Augenblick prallten einige reiterlose Pferde gegen die einen spaltbreit geöffneten Tore, drückten sie zur Seite; hinter ihnen drangen die ersten Reiter ein. Rantiss blieb zurück, legte einen Pfeil auf die Sehne und wartete. Seine Männer wußten, wie zu kämpfen war. Er würde versuchen, sie vor Hinterhalten oder Schüssen in den Rücken zu bewahren. Neben ihm tat Skath das Gleiche. »Dort, rechts, ein Schleuderer!« stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Rantiss zielte und schoß. Mit durchbohrtem Hals wurde der Mann mit der ledernen Schleuder über die Brüstung des Turms geworfen und fiel zwischen die Hufe der Pferde. Ein Bogenschütze tauchte auf, Skath schoß, und neben diesem Verteidiger starb ein anderer, der einen Speer schleudern wollte. Hinter den Toren erscholl der dröhnende Lärm eines wilden Kampfes. Der drei Mannslängen breite Eingang schien noch immer die Leiber der Pferde und Reiter aufzusaugen wie ein Schlund. Plötzlich fing eines der strohbedeckten Häuser Feuer. Brennende und grell gackernde Hühner flatterten nach allen Seiten. Die Flammen wurden höher und höher. Einige Männer sprangen über die oberste Mauer und rannten davon. »Gleich haben wir den Sieg!« Skath schoß einen Pfeil nach dem anderen ab. Verteidiger, die kein anderer Reiter sah, fielen im Bereich des Tores. Als sich die letzten der Kolonne mit geschwungenen Hammeräxten nach vorn warfen und in die Siedlung eindrangen, schrie Skath dem Anführer ins Ohr: »Los, Rantiss! Ein paar Frauen müssen sie für uns übriglassen!«
Rantiss nickte schweigend und lockerte den Zügel. In gestrecktem Galopp galoppierten sie durch die zersplitterten Tore in die Siedlung hinein. Tote lagen auf den runden Fußkieseln, mit denen man den Weg hinter dem Tor gepflastert haste. Riesenhafte prasselnde Flammen und hochwirbelnde Funken des brennenden Hauses beleuchteten ein Drittel des Hügels. Zwischen Bäumen und langen Schatten hinter den Mauern machten die Reiter Jagd auf Männer. Krachend schlugen Pfeile in hölzerne Vordächer und in Balkentüren. Frauen und Kinder schrien und flüchteten ins Innere der Häuser. Sämtliche Geräusche wurden überlagert vom Hufschlag und dem keuchenden Schnauben der Tiere. Rantiss und Skath ritten langsamer und wachsam ins Dunkel spähend, um den Hügel herum. Als sie zum Tor kamen, das von ihren eigenen Männern verschlossen wurde, war die Auseinandersetzung so gut wie beendet. Rantiss hob die Hände trichterförmig an den Mund und rief, so laut er konnte: »Hier befiehlt Rantiss! Hört auf mit dem Kampf. Sperrt die Kinder und die Frauen in ein Haus. Wir haben die Siedlung genommen.« Noch immer wurde die Umgebung des brennenden Hauses erhellt. Die Männer gehorchten. Kreischende Kinder schluchzten in den Armen alter Frauen, als man in die Häuser eindrang und die Bewohner ins Freie trieb. Mädchen und Frauen verstummten, sobald sie die Krieger sahen. Dumpf brüllten Rinder in den Ställen. Andere Tiere vollführten ein gewaltiges Geschrei, als abermals die gesamte Siedlung durchsucht wurde. Fackeln schwankten zwischen den Mauern. Die Bevölkerung bestand aus ungefähr 300 Kindern und weiblichen Gefangenen oder Besiegten; es gab nur noch wenige Männer, von denen jeder verwundet war. Die Reiter stellten Gruppen zusammen, alles ohne Haß oder Wut. Kinder und Alte wurden weggetrieben. Schweigend sah Rantiss zu, wie eine makabre Ordnung hergestellt wurde. Mit gewaltigem Krach fiel das Gerüst des verbrannten Hauses in sich zusammen und schickte eine Wolke aufleuchtender Funken und Ruß in die Luft. Noch drei, vier Stunden bis zur ersten Helligkeit. »Stellt Wachen auf.« Rantiss nahm einem Reiter die Fackel aus der Hand. »Denkt an die Tiere!«
Man führte die Pferde in die Ställe zu den Rindern. Dort hatten sie Ruhe, Wasser und frisches Futter. Schließlich blieb ein gutes Hundert Frauen übrig. Rantiss, Tantri und Skath gingen auf den Haufen zu, der von allen Reitern umringt wurde, die nicht auf Wache waren. Schweigend musterten die Männer die Frauen. Ältere und jüngere, häßliche, gezeichnet von Arbeit und Kinderzahl, dicke, schlanke, kurzhaarige und langhaarige. Rantiss wählte zuerst. Er entschied sich für eine junge Frau mit schlankem Körper und schwellenden Rundungen. Sie hatte ihn, seit er sich der Gruppe genähert hatte, mit einem merkwürdigen Ausdruck in ihren Augen verfolgt. »Komm«, sagte er. »Wo ist das reichste Haus auf dem Hügel?« Er faßte ihren Oberarm und zog sie mit sich. »Dort, das mit dem Vordach«, sagte sie trotzig. Rantiss lächelte sie an, aber sein Lächeln erreichte die Augen nicht. »Warum habt ihr den Kampf herausgefordert?« fragte er, als sie zwischen Haushaltsgeräten, Strohhaufen, umgeworfenen Bänken und anderem Gerümpel auf den Platz vor der ebenerdigen Terrasse zustolperten. »Das ist Männersache. Ich weiß nichts«, murmelte sie. »Wie heißt du?« »Powet. Und du?« »Rantiss. Man nennt mich den Adler der Steppen.« Als er Powet nach vorn schob, um sie als erste durch den Eingang gehen zu lassen, geschah, was er erwartet hatte. Sie bückte sich unter dem hölzernen Türsturz, faßte in ihr Leinengewand und drehte sich, einen kleinen, dreieckigen Bronzedolch in der Hand, blitzschnell um. Rantiss wich nicht einmal aus; er drehte seinen Körper, dann traf der Schaft der Fackel das Handgelenk der Frau. Der Dolch fiel klirrend auf den Lehmboden. Rantiss trat ihn zur Seite, und machte einen schnellen Schritt. Er packte mit der Rechten die Halskette, riß sie mit einer einzigen, wilden Bewegung in zwei Teile. Powet stand erschrocken vor ihm und schrie erschreckt auf. »So nicht«, sagte er und zog den Fellvorhang wieder vor die Tür. Die Fackel blakte.
»Zünd die Lampen an, mach Feuer im Herd, bereite ein Bad und das Lager«, sagte er leise. Als sie sich bückte, um den Dolch aufzuheben, trat er mit dem Stiefel darauf. »Ich befehle.« Rantiss faßte in ihr langes Haar. »Und du wirst alles tun, was ich befehle.« Während Rantiss den Raum durchsuchte, behielt er sie im Auge. Es gab fünf Öllampen in dem schmalen Raum, die sie entzündete. Als die Flammen ruhig brannten und von draußen der Lärm der Männer zu hören war, die Tonkrüge mit Bier gefunden hatten, warf Rantiss seine Fackel ins Herdfeuer. Powet tat schweigend, was Rantiss ihr befohlen haste. Auf derbe, direkte Art war sie hübsch; Rantiss verfolgte jede Bewegung ihres Körpers mit hungrigen Blicken. Zuerst trank er warme Kuhmilch, mit Honig gesüßt, aß Brot von diesem Vormittag. Powet fand gebratenes Fleisch und kühles, bitteres Bier. Dann sah er zu, wie sie in einer Art Wanne aus Tierhäuten kaltes und warmes Wasser mischte und aus einer Truhe ein Leinentuch hervorholte. Nachdem er, Beil und Dolch in Griffnähe, sich von ihr hatte waschen lassen, trocknete er sich ab, warf das Tuch achtlos zur Seite und streichelte sie sachte. Im Morgengrauen wälzte sich Skath auf den Rücken, zog sich an und suchte einige Reiter zusammen. Sie ritten langsam aus der Siedlung hinaus und suchten bis eine Stunde nach Sonnenaufgang das Gebiet zwischen dem Lager und dem Hügel ab. Sie stießen auf einen verwundeten Reiter und vier Getötete aus ihren eigenen Reihen, sammelten einige Traglasten überraschend schöner Waffen ein und zählten 44 erschlagene Bauern. Einer lebte noch; ein Hieb spaltete seinen Schädel. Am Himmel erschienen die ersten Rabenschwärme, sammelten sich zu einer lärmenden schwarzen Wolke und begannen laut zu krächzen. Rantiss stand auf, zog sich an und blies die Flammen der Öllampen aus. Er schnallte den Gurt um, steckte Dolche und Messer in die Scheiden, nahm Schild und Beil und ging hinaus. Unbarmherzig helles Sonnenlicht lag auf dem Hügel. Die Häuser warfen lange Schatten. Unnatürliche Ruhe breitete sich aus; er konnte nur ein wenig Kindergeschrei und die Laute der Tiere hören.
Langsam und nachdenklich wanderte er zwischen den Hütten entlang. Dort lag ein Toter, hin und wieder huschte eine alte Frau gebückt und scheu in einen Eingang zurück. Ein Hahn krähte wie wild. Ein Hund zerrte an der Hand eines Leichnams. Aus einem Stall kamen drei Rinder und tappten zu einem Brunnen, der ein Stück weiter abwärts am Hügel überlief. Die Beute würde gering sein; Beile, Dolche und einige Werkzeuge aus Kupfer und Bronze, Stücke aus Leinentuch, gutgegerbte Felle. Vielleicht noch Pfeilspitzen und Angelhaken; Dinge, die man immer gebrauchen konnte. Aber sie würden fette Schinken finden, Braten und getrocknetes Fleisch. Gerste und Weizen, vielleicht auch Mehl. Rantiss lachte bitter auf; viele Frauen waren heute nacht geschwängert worden, also würde das Dorf nicht aussterben. Sicher gab es, irgendwo versteckt, noch eine Handvoll geflüchteter Männer. Die nächsten Fremden würden weniger abweisend aufgenommen werden. Man würde sie bestechen, damit sie blieben. Hinter der Scheune, auf einem Strohhaufen, hatten sich vier Reiter ausgestreckt. Sie schnarchten. Einer erwachte gerade, als Rantiss vorbeiging und gleichzeitig zwei Wächter näher kamen. »Sagt ihnen«, – Rantiss machte eine umfassende Bewegung, – »daß sie tun sollen, was getan werden muß. Das Vieh, die Feuer, die Säuglinge. Wir sind keine Barbaren. Und haltet sie an, gut für euch zu kochen. Sucht nach Schinken und Fleisch, Freunde.« »Bier gibt es ohnehin keines mehr.« Rantiss lachte, langsam aus seiner Versunkenheit erwachend, dem Reiter ins bärtige Gesicht. »Wir werden hier rasten und nicht nur unsere Pferde, sondern auch uns pflegen. Ihr seid schon viel zu verwahrlost, Reiter!« »Und wer hat dich in den Hals gebissen, Adler der Steppen?« sagte der Reiter frech und wich geschickt Rantiss’ Fußtritt aus. Der Anführer ging weiter und winkte gelangweilt ab, als er zwei alte Männer bemerkte – alt, nun, sie waren etwa vierzig Sommer, und in diesem Land alterte man schnell und gründlich –, die sich hinter Rindern und Schafen verbergen wollten.
Er wollte vier, vielleicht sechs Tage rasten. In dieser Zeit würden die Dörfer mehr für die Sieger arbeiten als für sich selbst. Sie verstanden viel vom Vieh, also waren sie die Richtigen, die wertvollen Pferde zu versorgen. Plötzlich fiel ihm Alaca ein; starke Unruhe beschlich ihn; der vierte Posten, den er fragte, gab ihm eine beruhigende Antwort. Sie war gut bewacht und schlief ruhig. Einmal bückte er sich und hob einen merkwürdigen Gegenstand auf. Ein weißgebleichter Totenschädel, abgesägt und poliert wie Elfenbein. Alles unterhalb der Augenlöcher war entfernt, außen sah er weiches Leder mit Kreuznähten. Eine Trinkschale, durchfuhr es ihn, und er dachte schaudernd an die Begräbnisstätte des unbekannten Hauptmanns dort am Fuß des Hügels. Er ging ins Haus zurück und sah, daß Powet aufgewacht war. Sie sah ihn schweigend und mit stechendem Blick an. Er legte die Waffen ab und öffnete die Gürtelschnalle. »Du bist sehr schön«, sagte er und strich mit den Fingern über ihr Gesicht. »Wir werden einige Tage bleiben. Du wirst nicht nur an den Tagen, sondern auch nachts meine Stunden verschönern.« Sie fuhr mit der Zunge über ihre Lippen und starrte ihn unverwandt an. Die Pferde wurden auf die Weiden der Dörfer getrieben; man kämmte die verfilzten Mähnen und Schwänze, behandelte Wunden und Verletzungen, sonderte mehrere Tiere aus und schenkte sie den Besiegten. Zwischen den Reitern und den Bewohnern der Hütten entwickelte sich jenes Verhältnis, das Rantiss kannte – verhielt sich der Sieger milde und vernünftig, dann waren die Unterlegenen recht schnell bereit, ihre Sklaverei zu akzeptieren Zudem wußten die Überlebenden des nächtlichen Kampfes, daß die Herrschaft der Truppe nur vorübergehend war. Die Ausrüstung wurde Stück um Stück durchgesehen und ergänzt. Die Behälter wurden mit neuen Nähten versehen, die Sättel eingefettet und gereinigt, die Schilde poliert, Waffen wurden ausgebessert. Es war Sommermitte, und sie liefen halbnackt herum, lagen in der Sonne, ließen sich das Haar scheren und die Bärte stutzen. Sie schöpften neue Kraft; Rantiss brauchte so Grausamkeiten und unkriegerisches Verhalten nicht erst zu unterbinden Hin und wieder halfen die Krieger sogar den
Dörfern. Wie er erwartet hatte, war nach zwei Tagen der gesamte Vorrat an Bier verschwunden. Die weggelaufenen Männer kamen nacheinander zurück und stellten fest, daß niemand daran dachte, sie in die Sklaverei zu verschleppen. Allerdings lief der Aufenthalt der 196 Reiter darauf hinaus, daß die Siedlung bis zu einem bestimmten Punkt ausgeplündert wurde. Nach fünf Tagen wurde Rantiss unruhig. Er spürte den Drang, im Sattel zu sitzen und an der Spitze seiner Männer dem Treffpunkt entgegenzugaloppieren. Von Stunde zu Stunde konzentrierten sich seine Gedanken wieder auf den eigentlichen Grund des Vorhabens, und er wußte, daß alles andere, einschließlich Powet, nur Mittel zum Zweck waren, den unbekannten Freund zu treffen. Darüber hinaus bildete Alaca ein zu versöhnendes Element zwischen den Dörfern und den Reitern. Als an einem Abend Skath und einige Männer kamen und fünf Stück erlegtes Wild abluden, sagte Rantiss kurz: »Skath. Wir bleiben noch einen Tag. Am übernächsten Morgen reiten wir. Sag es den anderen.« Nach unmerklichem Zögern erwiderte der Unterführer, der Rantiss wie kein anderer kannte: »Ich hoffe, du denkst nicht daran, die Frau mitzunehmen?« Schweigend schüttelte Rantiss den Kopf, obwohl er mitunter daran gedacht haste. Eine Stunde später wußte es jeder im Bereich des Dorfes. Die Reiter würden den Kastellhügel verlassen. Der Morgen war mit rotleuchtenden Wolken hereingebrochen; der Tag hatte angefangen. Sie ritten um den Fuß des Hügels, wieder zurück in die alte Richtung. Ein Taubenschwarm flatterte tief über den Feldern. Wieder hatte sich alles geändert – die gewohnten Geräusche, Bewegungen und Gefühle erfüllten die Kolonne und die Gedanken der Männer. Die Bauern standen auf dem Hügel und starrten ihnen nach. Was sie dachten, war unklar. Sicher schien nur, daß sie aus ihrer Selbstzufriedenheit herausgerissen worden waren. Rantiss fühlte sich großartig; seine Gedanken eilten ihm weit voraus. Er kannte keine Unsicherheit, was den Weg und das Ziel betraf. Als die ersten Reiter den Rand des kleinen Waldes im
Südosten erreichten, rannte eine Gestalt mit wehendem Haar zwischen dem Unterholz hervor. »Warte, Rantiss«, rief Powet. »Nimm mich mit!« Rantiss zügelte sein Pferd, wurde langsamer, warf ihr einen angespannten Blick zu. Powet lief heran, packte den Stiefel und den Steigbügel und begann auf ihn einzureden. Rantiss drehte den Kopf und sah geradeaus. Er ritt weiter, ohne schneller zu werden. »Rantiss! Nimm mich mit! Ich will mit euch gehen.« Rantiss schwieg und setzte die Sporen ein. Die Kolonne ritt weiter, während Powet verzweifelt neben ihnen herlief und immer mehr zurückblieb. Die Reiter sahen mit unbeteiligten Gesichtern zu. Bald waren die letzten Packpferde hinter dem Buschwerk verschwunden. Vorbei, vergessen; trotzdem tat sie ihm leid. Auf kaum erklärbare Art hatte er Powet, obwohl er sie nicht liebte, akzeptiert. Sein Körper verschmolz mit den gleitenden, langgezogenen Bewegungen des Pferdes und reagierte auf das Gelände, stellte sich auf den neuen Abschnitt des Rittes ein, fand zurück in den gewohnten Rhythmus. Am Nachmittag hatte Rantiss das deutliche Gefühl, daß der Zeitpunkt des Treffens nahe bevorstand.
3. Von Südosten kommend, mündeten zwei Flüsse in den nahezu runden Fachsee. Sie entsprangen einem Gebirge, das sich mondsichelförmig, mit der Öffnung nach Osten, um die Steppen und Wüsten in der Mitte zwischen dem Aufbruchsort und dem Zielpunkt spannte. Wie an einem unsichtbaren Faden bewegten sich die knapp zweihundert Reiter auf das Tal zwischen hohen Bergen zu, das an seinem Ende den einzig möglichen Paß besaß. Nach einer Handvoll langer Tagesritte überlegte Rantiss, wie die Tage vergangen waren. Eine ununterbrochene Steigerung der Schwierigkeiten begann vier oder fünf Tage nach Verlassen des Hügels. Das Gelände stieg an und wurde welliger. Aus der grünen Steppe wurde eine trockene Zone von brauner Färbung, voll harter,
stacheliger Gewächse. Der Fußlauf, an dem sie entlangritten, führte wenig Wasser, und es gab auch nicht viele Fische. Noch fanden sie genügend Gras und Wasser für die Pferde. Der Durchschnitt der täglichen Geschwindigkeit und der Entfernungen, die sie zurücklegten, nahm ab. Aber er war noch hoch genug. Die bewaffnete Kolonne folgte dem Fuß, hin und wieder überquerte sie ihn. Sie schossen Wild, mager und zäh, aber genießbar. Sie kreuzten eine verlassene Handelsstraße. Immer weiter stiegen sie auf, folgten im Zickzack dem schmaler werdenden Flußbett, entdeckten unregelmäßig geformte Hochplateaus und suchten noch immer einen Weg. Einen Tag später fanden sie heraus, daß sie eine Art Stufe im Gelände erreicht hatten. Jetzt ging es einige Zeit fang fast ohne Steigung über ein kaltes, vom Wind kahlgeblasenes Hochplateau. Aber auch hier gab es noch Wasser und Futter für die Pferde. Die Nahrungsmittelvorräte der Truppe gingen, obwohl sie sparsam waren, zur Neige. Sie fingen in einfachen Fallen kleine Nagetiere und brieten sie in der Glut winziger Feuer. Sie fanden auch Beeren und Pilze, aber Rantiss verbot ihnen, von den Pilzen zu essen. Die Zeit schien plötzlich zu hatten und zu jagen. Fast zweihundert Reiter mit ihren vielen Tieren, versuchten, so schnell wie möglich den Paß zu erreichen. Denn wenn sie ihn erreichten, konnten sie wieder absteigen in das Gebiet, das ihnen Rantiss beschrieben haste. Seine Aufgabe bestand nicht darin, sie zu führen, sondern ihnen zu erklären, daß sie an der vorhergesagten Stelle diejenigen Freunde treffen würden, die er ihnen geschildert haste. Einmal, als sie sich nacheinander einen kaum begehbaren Pfad hochtasteten und ein weiteres Schlangenlinien-Tal entdeckten, drehte sich Skath vor ihm um und rief: »Du weißt genau, Rantiss, daß ich dir glaube und gehorche.« »Ja. Richtig. Spare deinen wenig wohlriechenden Atem, Krieger«, knurrte Rantiss. Die Sonne schlug wie mit bronzenen Hämmern auf die Männer hinunter. Sie schwitzten und stanken mit ihren Pferden um die Wette.
»Du hast mir niemals erklärt, wen du treffen willst, Besessener!« rief der Freund zurück und bückte sich tief, um dem federnden Ast eines Krüppelgewächses auszuweichen. »Du siehst das Bild in meinem Schild?« rief Rantiss. Zwischen den hitzeflirrenden Felswänden voller Schründe und Klippen hallte das Echo hin und her. »Inzwischen kennt es jeder Reiter, Alaca eingeschlossen!« Skath keuchte und zerrte am Zügel. »Der Mann sieht so ähnlich aus. Ich träume von ihm, und wenn wir ihn treffen, werde ich ihn erkennen. Wir sind wie Brüder. Er ist der klügste, stärkste und gerissenste Kerl, den du jemals kennenlernen wirst. Er ist zweimal so gut wie ich.« »Ich glaube dir jetzt kein Wort!« schrie Skath. »Du wirst mir glauben, du krummbeiniger Schurke«, gab Rantiss zurück. »Brich deinem armen Pferd nicht die Beine.« Er horchte tief in sich hinein; Stunden später, als sich die Reiter noch immer auf dem Grund der Felsenschlucht vorantasteten und keinerlei Lebensspuren entdeckten, zweifelte er zum erstenmal an der Richtigkeit seiner Gedanken und Vorstellungen. An diesem Abend gab es für die Pferde zum erstenmal seit langer Zeit wieder Trockenfutter. Das Essen der Männer fiel ähnlich mager und lustlos aus. Aber Rantiss trieb sie ununterbrochen vorwärts, und er selbst wurde von seinem inneren Dämon getrieben. Die Jahreszeit verging in einer Reihe von heißen, gewittrigen Tagen, einander zum Verwechseln ähnlich: Durst und Hitze, saftige Talkessel und lange Geröllhalden, Felsen und Hügel, Berge, die nur zu verschwinden schienen, um noch höheren Bergen hinter ihnen Platz zu machen, kleine Seen und Bergziegen mit langem, gekrümmtem Gehörn, deren Fleisch zäh war wie Gurtleder. Pferde brachen sich die Beine, wurden getötet; man briet ihr Fleisch an den Lagerfeuern. Die Männer verloren ihr letztes Fett und wurden zu schwarz gebrannten, verwilderten Gestalten. Hin und wieder rauschte ein Gewitter herunter, dann sprangen sie wie übermütige Kinder im Regen hin und her und verloren fast den Gestank, den sie sonst verströmten.
Jetzt folgten sie Rantiss ohne zu fluchen und willig, denn wenn sich jemand von der Truppe entfernt hätte, wäre er in der Einöde verloren gewesen. Adler und Geier kreisten hoch über ihnen. Dreimal am Tag änderte die Truppe die Richtung, aber nur, um den leichtesten Weg zu suchen. Am wenigsten schien unter den Strapazen, die sie alle ausmergelten, Alaca zu leiden. Sie blieb unverändert fröhlich. Die ersten Blätter der Krüppelgewächse begannen sich zu färben, als die Spitze der Kolonne sich über die Flanke eines Berges schob, dahinter verschwand und die nächsten Reiter den lauten Schrei hörten. Sie verstanden nicht, was Rantiss und Skath riefen, aber es klang gut. Sie zogen die Zügel straff, aber die Tiere wären auch freiwillig stehengeblieben. Rantiss stützte seinen Körper schwer auf die Oberschenkel und starrte schweigend hinunter. Hinter ihm pflanzte sich der Schrei »Wir sind da!« durch die auseinandergezogene Reihe der Reiter fort. »Endlich! Dort unten werden wir sie treffen, Skath«, sagte Rantiss fast in ehrfürchtigem Ton. »Du warst ein hervorragender Führer, mein Freund«, stimmte Skath zu. »Auch mich haben nur meine Träume geführt.« Mehr Reiter tauchten hinter ihnen auf und blieben stehen. Sie genossen den Anblick. Die furchtbare Öde der Felsen und Schluchten war vergessen. Hinter ihnen stach der Gipfel des höchsten Berges jener Kette in den Himmel. Sie standen vor der letzten, weich abfallenden Flanke des Gebirges. Einen Tagesritt weit oder noch länger sank das Gelände ab, hier oben noch immer sandig und steinig, dann in Geröll übergehend, das von kleinen Büschen durchsetzt war und schließlich in dunkelgrünen Wäldchen, Weiden und Buschzonen endete. Das Tal dahinter war riesengroß, aber auch jenseits des kleinen Sees ragten Berge auf. Mehr Einzelheiten waren nicht zu erkennen. »Heute abend sind wir am Ufer des Sees!« versprach Rantiss. »Jetzt steht die Sonne am höchsten. Los, Freunde – hinter mir her!«
Sie alle waren viel zu erschöpft, um sich richtig freuen zu können. Aber da sie jetzt ihr Ziel vor Augen hatten und das Gelände für die Pferde leicht genug war, erfaßte sie eine hoffnungsvolle Freude. Sie waren nicht reich und hatten Hunger auf gutes Essen und füllige Weiber, aber sie waren frei und unabhängig. Den Männern erschien das immer wieder ausgeschmückte Treffen als Verheißung, als weiteres Ziel auf dem langen Weg. Daß die eigentlichen Schwierigkeiten noch vor ihnen lagen, vergaßen sie nur allzugern. Die Pferde witterten das saftige Gras und griffen schneller aus. So bildeten sich fünf Gruppen, die in mäßiger Ordnung den langgezogenen Hang vorsichtig und gerade, dann schräg traversierend, hinuntergaloppierten. Nachdem sie Hirsche und Wildschweine aufgescheucht, eine Herde Gazellen aus den Büschen getrieben und viel Wild geschossen hatten, erreichten sie tatsächlich bei Sonnenuntergang den See. Aber sie waren völlig erschöpft. Die meisten schliefen ein, noch während sich die Braten an den Feuern drehten. Und ganz plötzlich, einen und einen halben Tag später, schlug Rantiss mit der flachen Hand knallend auf die Kruppe seines rotbraunen Hengstes. Er gab die Zügel frei und setzte die Stacheln an seinen Stiefeln ein. Er löste sich von der Spitze des Zuges, wurde schneller, stellte sich federnd in den Bügeln auf und galoppierte davon. Von den wirbelnden Hufen des Tieres wurden Grasfetzen und Erdbrocken nach hinten geschleudert. Eine Art Wahnsinn ergriff ihn. Das leichte Blinken dort vorn, fast jenseits der Grenze, bis zu der hin er sehen konnte, hatte diesen Galopp ausgelöst. Dort waren sie! Er beugte sich tief über den Hals des Pferdes und schoß in einer langen Gerade auf den bewußten Punkt zu. Hinter ihm trieben Skath und Tantri die Männer zu größerer Eile an. Sie hatten einen ganzen Tag fang rasten können; die Pferde würden durchhalten. Erbarmungslos zwang Rantiss seinen Hengst weiter. Mittlerweile konnte er unterscheiden, daß es sich nicht um einen einzelnen Reiter handelte, sondern um eine weit auseinandergezogene Gruppe. Es gab keinen Zweifel! Die Träume wurden hier und jetzt zur Wahrheit.
In dem Maß, wie sich Rantiss den Begleitern seines Freundes näherte, schien sich die Welt seiner Erinnerungen und Gedanken zu öffnen. Es war ihm, als reite er aus einem Hohlweg hinaus auf eine Lichtung. Ein solches Gefühl mußte ein Mann in einem Boot haben, das eine Fußmündung verließ und in den freien Ozean hinaussteuerte. Jetzt wußte er plötzlich mehr. Sein Freund mit den rötlich leuchtenden Augen hieß Atlan. Zusammen mit ihm hatte er, Rantiss, gegen Fabelwesen und den Herrscher einer bronzezeitlichen Insel gekämpft und die Insel in den Jahren danach in ein Paradies verwandelt. Sie hatten jetzt einen neuen Auftrag bekommen. Woher diese Erinnerungserweiterung kam, wußte Rantiss nicht. Er fühlte, wie eine große Last von ihm abfiel. Alle Träume und Geschichten, mit denen er zweihundert Männer ein knappes halbes Jahr über eine gewaltige Strecke hinweggezwungen hatte, erwiesen sich als Wahrheit. Er galoppierte auf einen schmalen Bachlauf zu, hielt den Hengst an und ließ ihn trinken. Er schirmte die Augen mit der Hand ab und starrte nach vorn. Er sah Menschen, Packesel, Pferde und Wagen. Der Lichtreflex war von einer wimpelverzierten Lanze gekommen, auf deren Spitze eine Art Bild funkeln mußte, nicht genau zu erkennen. Rantiss zwinkerte überrascht, als er eine große Menge Rinder über einen niedrigen, grasüberwachsenen Hügel ziehen sah. Sie hatten sogar Herden! Nun wichen die letzten Zweifel: so plante sein Freund. Seltsam, dachte er, als er mit großem Abstand vor seinen Leuten einen Bogen schlug, um die Menschenmasse an der Spitze der Karawane zu treffen. Seltsam, ich zweifle nicht einen Herzschlag fang daran, daß diese Karawane von Atlan angeführt wird und nur auf mich und meine Männer wartet. Der Schaum vom Gebiß des Pferdes flog ihm ins Gesicht. Seine Knie begannen zu schmerzen. Der Hengst konnte nicht mehr; der Galopp war eine qualvolle Folge harter Sprünge und Stöße. Das Tier troff vor Schweiß. Die Lungen gingen wie Blasebälge. Rantiss hatte nun seinen Bogen beendet und ritt von vorn auf die Karawane zu. Seine Augen, denen triefender Schweiß immerfort ein Blinzeln entlockte, versuchten, Einzelheiten zu erkennen. Er sah einen
einzelnen Reiter, der ein auffallend hochbeiniges, geschecktes Pferd ritt. Der Mann trug achtlos einen Schild, und als der sich bewegte, zuckte ein Sonnenreflex zu Rantiss hinüber wie ein Blitz. Der einzelne Reiter, einen Bogenschuß weit vor dem würfelförmigen Wagen mit den vier Ochsen und der langen Stichlanze daran, mußte einen ähnlichen Schild haben wie er selbst. Zwei Geparden liefen plötzlich neben dem Pferd und beäugten den Reiter. »Und wenn es nicht Atlan ist?« rief Rantiss sich selbst zu. Jetzt war der Reiter auf ihn aufmerksam geworden. Rantiss ließ keine der üblichen Zeichen und Gebärden aus. Sie waren einzelne Punkte in einer fremden Umgebung, sie hatten den ungeschriebenen Gesetzen der Zeit zu gehorchen. Er galoppierte langsamer, hob den rechten Arm und kehrte die ungeschützte Handfläche in Augenhöhe nach vorn. So ritten sie aufeinander zu; auch der andere Mann machte diese universelle Friedensgebärde. Rantiss hob den Schild. Jetzt sah er, daß auch der andere Schild glänzte und leuchtete wie ein Spiegel. Sie waren noch einen Bogenschuß weit entfernt, als Rantiss das weiße, nackenlange Haar des anderen erkannte. »Atlan!« schrie er mit aller Kraft. Dann setzte er zum erstenmal die Stacheln ein. Sein Hengst war in zwanzig Sätzen an der Seite des anderen Reiters. »Rantiss!« brüllte Atlan auf und sprang aus dem Sattel seines langsam gehenden Tieres. Rantiss schwang ein Bein aus dem Bügel und sprang in vollem Galopp ab, rannte auf den anderen zu. Sie erkannten einander. Ein dunkelhäutiger Romet und eine schöne Frau sahen überrascht den beiden Männern zu, wie Geparden sprungbereit. Als Rantiss mit einem artistischen Satz aus dem Sattel sprang und mit ausgebreiteten Armen auf Atlan zurannte, breitete auch Atlan die Arme aus und blieb starr stehen. Beide Männer lachten brüllend, wie Narren, fielen sich in die Arme, schlugen sich auf die Schultern und die Rücken, schüttelten sich die Hände, lachten wieder, sprangen wie übermütige Schafböcke in die Höhe, schrien Worte und Sätze in schauerlichem Kauderwelsch, und schließlich blieben sie erschöpft stehen. Inzwischen war die Karawanenspitze näher gekommen.
»He! Aus dem Weg!« schrie der Ochsentreiber nach vorn. Atlan und der Mann, der aus der Steppe aufgetaucht war, packten ihre Pferde und wichen zwischen die Büsche seitlich aus. Während die ersten Wagen und Gruppen der riesigen Karawane knarrend und knirschend herankamen, sagte Rantiss schwitzend und glücklich: »Ich hoffe, du kennst den Rest des langen Marsches. Bis hierher habe ich es geschafft. Meine Männer suchen das Land, in dem sie Fürsten sein werden.« »Ich kenne das Ziel, Rantiss. Und wir werden viel miteinander sprechen. Den Herbst wandern wir noch, aber in zwei, drei Monden brauchen wir ein festes Lager. Wieviel Männer hast du?« »Fast zweihundert. Und sie sind durch meine harte Schule gegangen.« »Wir werden alles gut überstehen. Warte, bis wir das Zelt aufgebaut haben. Wo sind deine Leute?« Rantiss sah sich um. Schließlich entdeckte er die Spitze der Reiterkolonne, die auf die Mitte der Karawane zielte und in ihrer Größe nicht abschätzbar war. »Dort sind sie. Sie haben Ruhe und Entspannung nötig, denn wir sind über das Gebirge gekommen. Oder besser gesagt, durch das Gebirge. Es war anstrengend.« »Wir hatten eine gute Karte und schlichen im Zickzack durch die Täler. Die Wagen, du verstehst?« »Natürlich. Wann rasten wir?« Sie sahen gleichzeitig nach der Sonne. Rantiss fühlte eine Zuversicht, die aus dem Eindruck kam, er habe gestern abend Atlan zum letztenmal gesehen, habe mit ihm gestern gesprochen und getrunken. Er war sicher, daß sie durch eine lange Geschichte verbunden waren, aber ihm fehlte jede deutliche, farbige Erinnerung daran. Eines war wichtig: Sie waren noch immer die zuverlässigen Freunde. Atlan sagte: »Bei Sonnenuntergang. Dich und deine Männer werden wir aufnehmen wie liebe Gäste. Wir werden euch verwöhnen, Rantiss.« Rantiss senkte den Kopf und wedelte Fliegen vor dem Gesicht weg. »Ich fürchte, die meisten haben es nötig.«
Sie blieben neben ihren Pferden stehen und sahen zu, wie die Wunderbare Karawane an ihnen vorbeirollte. Menschen, Tiere, Wagen, Lasten, Herden, Treiber, Vieh, Staub und abermals Lasten; es mußten Tausende sein, schätzte Rantiss. Inzwischen waren auch seine Leute herangekommen. Skath und Tantri ritten heran. »Ich habe es euch versprochen!« schrie Rantiss begeistert und lachte breit. »Das hier ist der Vater der Karawane, der Überwinder der Entfernung. Wir reiten neben der Karawane bis zum Abend. Dann werden wir euch alles erklären. Sagt es den Männern. Alles geschieht heute abend.« »Wir gehorchen!« antworteten die Unterführer und ritten zurück zu der wartenden Kolonne. Und so wälzte sich die Karawane, auf ihrer nördlichen Seite eskortiert von knapp zweihundert Reitern, weiter nach Osten. Am Abend hatten die Reiter, die sich mit Hirten, Treibern und mit den Kriegern und Jägern unterhalten konnten, mehr erfahren. Es bereitete ihnen keine Schwierigkeiten, sich in die seit Hunderten von Tagesmärschen entwickelte Ordnung hineinzufinden. Es gab keine ernsthaften Auseinandersetzungen. Am Abend, als sich alles zerstreut hatte und Ruhe herrschte, trafen sie zusammen: Atlan, Rantiss, die Unterführer, Alaca, die Schreiber und die Romet. Viele andere bildeten einen Kreis um ein Feuer und um flache Tische, auf denen Krüge, Becher und Nahrungsmittel standen. Atlan schien mit unumstößlicher Gewißheit zu wissen, daß die Karawane die Hälfte ihres Weges hinter sich gelassen haste. Er sprach lange mit den Wegefindern, Nianchre und Rantiss und schilderte, daß Steppen und Wüsten sich vor ihnen ausdehnten; Tage und Monde voller Strapazen würden die Karawane heimsuchen. Aber zusammen mit den Kriegern des hochgewachsenen und breitschultrigen Rantiss würden Gespanne, Herden und Menschen ihr Ziel erreichen: den Fuß des gelben Wassers und, vielleicht, die Küste des östlichen Meeres.
4.
Die Textzeile auf dem strahlend weißen Wiedergabeschirm stabilisierte sich. Der Arkonide schwieg, die SERT-Haube hob sich am Kopfende des Überlebenstanks. Cyr Aescunnar nahm blinzelnd die Brille ab und drehte den Sessel zur Seite, bevor er den Kopf in den Nacken legte und medizinisches Spray in die Augen sprühte. Das Brennen und der Tränenfuß hörten schlagartig auf. Cyr schloß und öffnete die Lider, atmete tief durch und sagte sich, daß er wohl den Rest seines Lebens im Halbdunkel verbringen sollte. Diese Art Arbeit ruinierte die Augen. Er suchte eine dunkle Brille heraus und setzte sie auf. Stechendrote Digitalziffern sagten ihm, daß es elf Uhr nachts und ein paar Minuten spät war: Auf dem Megabildschirm leuchtete die Mercatorprojektion der Erdoberfläche. Die Landmasse des europäisch-asiatischen Großkontinents beherrschte das Bild. Cyr zündete sich eine lange, schwarze Zigarette an und setzte sich zu Scarron Eymundsson und Oemchen Orb, die bisher schweigend zugehört und mitgelesen hatten. Leise sagte Cyr: »Pharao Ammenemes oder Amenemhet, der Erste, aus der zwölften Dynastie, regierte im zweiten Jahrtausend vor der Zeitwende; Atlan und Rantiss führen die Karawane in die Richtung auf das spätere China.« »Die Seidenstraße?« sagte Scarron und las auf einem Monitor: Ägypten (Hapi-Land): Mittleres Reich, Amenemhet I. 1991 bis ]962. »Bisher kenne ich fast alles, was Atlan berichtete. Es fällt mir schwer, zu glauben, daß die Superintelligenz weitere Enthüllungen über sein Wirken auf Terra zuläßt. Aber das ist nebensächlich. Wann nehmen sie endlich Atlan aus diesem Tank und legen ihn in ein Bett? In einem Zimmer, in dem man ihn besuchen kann?« Oemchen nahm die Hand von Atlans Freundin und sagte leise: »Es wird noch Tage und Wochen dauern, hat Ghoum-Ardebil versichert, mindestens!« Ganz Point Allegro war in Sorge um das Leben des Statthalters. Seine verzweifelten Freunde, Angehörige der KHAMSINRaumschiffsbesatzung, fanden sich häufig, aber in unregelmäßigen Abständen in Aescunnars Büro ein; die einzige Möglichkeit, zuverlässig über seinen Zustand informiert zu werden. Aescunnar
rauchte schweigend und trank einen Schluck Wein, stand auf und trat vor die Karte der verlorenen Erde. Die Landschaft, in der sich die Karawane ostwärts wand, glühte in stechender, dreidimensionaler Deutlichkeit. Aescunnars Blicke verfolgten die dünne Linie, die von Kanesh, dem späteren türkischen Kültepe, ausging und sich in vielen winzigen Kurven nach Osten schlängelte. Halblaut meinte Cyr: »Die Ärzte sind sicher, daß Atlan jenseits des lebensgefährlichen Grates ist. Auf der richtigen Seite.« Er lächelte. »Er bleibt uns erhalten, Scarron. Bis er wieder der Mann ist, als den wir ihn schätzen, wird es aber viele Monate dauern.« »Könnt ihr mich noch eine Weile aushalten? Oder wird er heute nicht mehr weitersprechen, Cyr?« Scarron stand vor den Holoprojektionen der Bildübertragung aus der Intensivstation und zog den Kopf zwischen die Schultern. »Das weiß niemand«, sagte der Historiker. »Und deswegen halte zumindest ich hier Dauerwache. Trink noch ein Glas Wein; wir werden erleben, was passiert.« Der wenig bekannte oder gänzlich unbekannte Teil der Straße begann auf einem Hochplateau der anatolischen Landschaft, führte in Schlangenlinien an der Stadt Täbris vorbei und zwischen dem Elbrusgebirge und dem Südufer des Kaspischen Meeres ostwärts. Aescunnar und seine Studenten hatten die computergespeicherte Erdkarte durch Informationen aus Atlans Bericht präzisiert – Geländemerkmale der Zeit, die fünfundfünfzigeinhalb Jahrhunderte zurücklag, Tagesetappen, Länge der Aufenthalte – und jene Linie konstruiert, die das Höchstmaß an Genauigkeit, die größtmögliche Annäherung an die frühgeschichtliche Wirklichkeit darstellte. Cyr deutete auf die dreidimensionalen Einzelheiten und sagte: »Seit dem 20. Jahrhundert zeigen uns Ausgrabungen in jenen Gebieten, daß dort, wo sich vor der Neukultivierung vieler Erdlandschaften karge Wüsten befanden, Atlan und Rantiss Feuchtsavannen und bewaldete Steppen vorfanden. Die Wüsten waren allesamt kleiner als im Jahr Zwotausend nach der Zeitwende.«
Er nahm eine Schaltung von Die Vergrößerung wuchs den Schirmrändern entgegen. Farben und Strukturen veränderten sich: Aus gelben, bräunlichen und grauen Zonen wurden grüne Bereiche. Die Linie führte nun durch Savannen und Wälder. Wasser, jagdbares Wild und ausgedehnte Weiden sorgten damals für das Überleben der Karawane. Die Linie näherte sich dem Aralsee, umging dessen Südende und endete vorläufig, nach vielen Windungen, in der Dsungarei nördlich der Tien-Schan-Hänge abermals an einem kleinen See, dem Treffpunkt von Rantiss’ Reiterschar mit Atlans Karawane. Scarron blickte die Karte an, schätzte die gewaltigen Entfernungen und fragte: »Gab es damals schon viele Karawanenstraßen, Cyr?« »Atlan sprach von ihnen.« Er nickte. »Die Menschen überwanden erstaunlich große Entfernungen, wanderten langsam auf Tausenden von Wegen, die Nachbarstädte, aber auch beispielsweise Ägypten und Babylonien mit dem Ostmeer verbanden. Kupfer, Bronze und Antimon wurden von Mesopotamien bis nach Mohendscho-Daro am Indus transportiert.« »Hat Atlans Karawane die Mittelmeerkulturen tatsächlich mit dem Nahen Osten und dem frühen China verbunden?« »Das erfahren wir, wenn seine Erzählung beendet ist. Er wanderte auf vorhandenen Straßen und kreuzte andere Handelswege, schuf neue Abschnitte und suchte die am wenigsten riskante Route. In einigen Tagen weiß ich mehr über das Handelsstraßennetz.« »Und woher kam Rantiss?« rief Aescunnars Lebensgefährtin. »Aus dem osteuropäischen Raum. Zwischen kleinen Siedlungen ritt er nach Südosten. Schon damals wurden Pferde domestiziert und gezüchtet. Im Süden nannte man sie ›Esel von den Bergen‹. Die Erfindung von Sattel und Steigbügel ging mehrmals wieder verloren; für organisierte Reiterei haben wir keine geschichtlichen Beweise.« Die eingeblendeten Entfernungsmarken sagten aus, wie unfaßbar groß die Entfernungen waren: rund 8000 Kilometer Luftlinie zwischen Kanesh-Kültepe und dem Mittellauf des Huang Ho. Für die Karawane bedeutete es etwa 16.000 Kilometer. Nach sieben Monaten hatte Atlan mit dieser schwerfälligen Masse die halbe
Wegstrecke zurückgelegt. Der Begriff Wunderbare Karawane traf zu, dachte Cyr. Erstaunlich, großartig… einzigartig! »Und wie paßt diese Sorge von ES um die junge Menschheit? Warum trat ES versteckt auf und ließ Atlan, Rico und Rantiss so lange im unklaren?« fragte Scarron. »Die Flucht von Androiden oder anderen Spielfiguren rief jedesmal Aufregung hervor, und Atlan mußte eingreifen.« »Der Kunstplanet Wanderer, soviel wissen wir, driftete auf seiner galaktischen Bahn in die relative Nähe zum Solaren System. Deswegen blieb die Erde der einzige Fluchtpunkt.« Aescunnar war sicher, daß er und die Historische Fakultät sämtliche Dokumentationen seit Atlans Landung mit dem Expeditionskommando Arkons auf Terra kannten, damals Planet III von Larsafs Stern. Daß Atlans Berichte absolut wahrheitsgetreu waren, stand ebenso fest; hätte der Arkonide voraussetzen müssen, daß sich Wissenschaftler für die Größe von Hirsekörnern oder Sklavenpreise in Relation zum Brotpreis interessieren würden, hätte er sein berühmtes Gedächtnis heillos überfordert. »Der Reiteranführer Rantiss ist natürlich jener Ranthys, der an Atlans Seite die Ungeheuer auf Kefti oder Kreta besiegt hat?« fragte Oemchen. Aescunnar nickte lächelnd. »Atlan war ein Fremdling und identifizierte sich zu Recht als ›Einsamer der Zeit‹. Außer Rico. und der nur mit Einschränkungen, hatte er keinen gleichwertigen Gesprächspartner. ES gestattete ihm, sich an Ranthys zu erinnern. Und umgekehrt. Auch Rantiss wurde eine Art Einsamer der Zeit. Deshalb führten sie sich beim Zusammentreffen so übermütig auf.« »Ich kann die beiden gut verstehen.« Scarron strich ihr langes Haar in den Nacken. »Sag mir etwas über China in grauer Vorzeit, Cyr.« Ihre Blicke hefteten sich einige Atemzüge fang auf die Landschaften im Osten des Kontinents. Schweigend setzte sie sich zu Oemchen. Cyr rückte die Brille zurecht und sagte: »In den Ländern dort gab es viele einzelne Siedlungen, die voneinander nicht viel wußten. Die Proto-Chinesen waren auf dem Kulturniveau der Bronzezeit, kannten eine einfache Form des Go-
Spiels; die Überschwemmungen des Huang Ho verhinderten die Ausbildung einer Staatsgemeinschaft. Das erste relevante Datum chinesischer Geschichte liegt bei 1600 vor der Zeitwende. Genaue Zeitbestimmungen sind nur mit Rechnern zu lösen; die Umrechnung von julianischem zu gregorianischem Kalender ist die geringste Schwierigkeit. Atlan hat vermutlich diese kleinen Stämme nicht zusammengeführt. Das wäre ein Jahrhundertproblem gewesen.« Ein Signal blinkte. Oemchen setzte das Glas ab und sagte: »Cyr. Man will mit dir sprechen.« Das Gesicht einer älteren Ärztin, von Konzentration gezeichnet erschien auf einem Monitor. Gleichzeitig war zu sehen, wie sich die SERT-Haube millimeterweise senkte. Die Nachtwache flüsterte: »Er spricht weiter, Professor. Schalten Sie Ihre Geräte ein.« »Sie waren nicht ausgeschaltet.« Er setzte sich und griff nach den Kopfhörern. »Geht es Atlan besser?« »Unverändert. Wir rechnen mit einer ruhigen Nacht und erwarten auch morgen keine Probleme. Wie Sie sehen, signalisieren alle Überwachungsmonitoren, daß sich sein Körper erholt. Sein Verstand und sein Erinnerungsvermögen sind unverändert exzellent.« Scarron, Oemchen Orb und Cyr Aescunnar warteten, bis das goldfarbene Verstärkergerät über Atlans Kopf und Schultern anhielt. Signale blitzten und blinkten. Die Anzeigen der Sprachregler zuckten auf und nieder. Als der Arkonide wieder zu sprechen begann, schillerte das gesamte Spektrum seiner Erlebnisse auf. Herbst am Rand der Wüste, ein weiterer Tag im Leben der Karawane: Feuer, Herden, Gespanne, Insekten und die Lebensäußerungen von mehr als 2500 Menschen.
5. Der Herr der Zahlen und Rechnungen, mein Vertreter Nianchre, Romet aus No-Amun am Hapi, sprach mit »neuer Stimme«. In der
Energie des Blitzes, der die Standartenlanze gestreift, ihn und Asyrta-Maraye geschockt und betäubt hatte, war die Teillähmung seiner Gesichtsmuskeln ausgelöscht worden. Er vermochte die Lippen zu schließen und hatte begeistert im Spiegel gesehen, daß auch sein irritierendes Dauerlächeln der Vergangenheit angehörte. Die Geparden strichen maunzend um mein Zelt, das, weit geöffnet, mit ausgespanntem Vordach, auf trockenem Gras stand. »Es ist gelungen, Vater unzähliger Meilen, die wenigen Krieger dieser Siedlung ohne Namen zu überzeugen. Sie haben die Waffen in den schäbigen Hütten gelassen.« »Sie haben schnell erkannt«, sagte ich, »daß wir für ihre Leute nur Vorteile bringen. Und sie helfen uns, so gut sie können.« Die Schäden des Hagelsturms waren fast beseitigt; der »Zorn der Götter« hatte sechs Menschen das Leben gekostet. Wir begruben sie unter dem Hügel, dessen Steinsäule die Wegkreuzung markierte. Einen Steinwurf weit brannte eines unserer Feuer, um das ein bunt gemischtes Völkchen lagerte. Ein Gepard pirschte hinüber und legte sich zwischen Rantiss’ Krieger. Nianchre zählte auf: »Das Bratenfest hat die Dörfer überzeugt. Es wird lange dauern, bis unsere Herden wieder gewachsen sind.« Wir hatten nach dem Sturm unter der Schicht eisiger Hagelschloßen sterbende und tote Tiere hervorgezogen: Ziegen, Schafe, Rinder und Pferde. Selbst Hühner waren in den Käfigen erschlagen worden Die Menschen hatten geschuftet, ohne daß man sie hätte antreiben müssen; die Dörfer, an deren Siedlung der Sturm vorbeigezogen war, halfen uns, brieten das Fleisch, schleppten die Häute in die Gerberlohe aus dem Harn der Menschen und Tiere, Vorräte wurden neu verstaut, und die Essen der Bronzeschmiede würden noch tagelang glühen. Viele Gespanne warteten darauf, repariert zu werden. »Einige von uns haben sich entschlossen, im Dorf zu bleiben. Sie fanden gute Frauen. Aber etliche Barbaren ziehen mit uns.« Es war abzusehen, daß wir einen Platz ganz besonderer Art finden mußten. Schutz vor Stürmen, Wasser, Holz für Hütten und Ställe, und die Möglichkeit, alle Vorräte trocken und zahllose Menschen beschäftigt zu halten. Noch herrschte der späte Sommer,
und wir fühlten keinerlei Vorahnungen von Herbststürmen oder kommender Kälte. Boreas drehte seine Runden schon seit Tagen weit im Osten, und vielleicht zeigten seine Aufnahmen uns bald eine Gegend, wo wir unsere Winterlager aufschlagen konnten. Ich nickte Nianchre und Rantiss zu, stand auf und sagte: »Gehn wir zu den anderen. Kosten wir die Stunden aus, in denen es keine Schwierigkeiten gibt.« »Zum Feuer«, meinte Rantiss. »Dort gibt’s Bier und Braten und kluge Gespräche.« Die Menschen der Karawane und die reitenden Krieger ließen es sich gut gehen, so lange wir es verantworten konnten. Beim Anbruch des Winters mußten wir uns an einem Punkt befinden, der dieser großen Masse Menschen das Überwintern möglich machte. Rantiss hob die Hand und zerklatschte Stechmücken am Unterarm. »Wir sind jetzt zwanzig Tage mit euch geritten, Atlan. Wie lange soll es so weitergehen?« Ich deutete in die Richtung, in der ich die Barriere der gewaltigen, das ganze Jahr über mit Eis und Schnee gekrönten Berge wußte. »Wir können einen schmalen Fuß entlang bis zu einem See ziehen. Dies wird möglich sein, ehe Schnee fällt. Nach der Schneeschmelze geht unser Weg zuerst nach Osten, dann nach Südosten, schließlich nach Süden. Und dann stoßen wir auf den Strom der gelben Wasser. Wir können ihn entlang ziehen oder einmal eine gefährliche Abkürzung nehmen, well er in einem hohen Bogen nach Norden zieht und wieder zurückkehrt.« Du schilderst es wie einen mittelschweren Nachmittagsritt, bemerkte der Logiksektor sarkastisch. Ich untermalte meine Schilderung mit entsprechenden Zeichnungen in der Asche vor uns. Rantiss kannte die Karten; ich sprach zu den anderen. »Wo lagern wir?« fragte Nianchre. »Ich hoffe, dort am See. Bis zu diesem Tag müssen wir alles um uns herum kennen. Viele Menschen müssen versorgt werden.« »Ich verstehe«, sagte Rantiss. »Meine Männer werden Jagdgebiete suchen und einen Platz, an dem wir hausen können.« Eine gewaltige Menge, 2700 Menschen ungefähr. Wir würden uns viel einfallen lassen müssen. Und nach dem Winter lagen Steppen
und Wüsten vor uns. Sie waren nicht zu umgehen; wir konnten ihnen nicht ausweichen. »Das wollte ich von euch verlangen!« bestätigte ich. »Was halten deine wilden Reiter von der Karawane?« Rantiss und seine Unterführer lachten dröhnend. »Sie sind unserer Meinung. Karawane der vielen Wunder, kurz, die Wunderbare Karawane!« Tantri zerdrückte eine Laus aus seinem Nackenhaar. Wir hatten lange Besprechungen hinter uns. Tantri, Skath und Rantiss waren ebenso mit der zweiten Hälfte des Marsches einverstanden wie ich was Karten und Photos betraf. Sie teilten meine Ansicht, daß es leichter sein würde, mit wenigen Menschen eine solche Entfernung zurückzulegen als mit dem gewaltigen Troß, den wir mitschleppten. Nun, es ging nicht anders. »Wieviel Stämme oder Siedlungen habt ihr getroffen?« fragte einer der Reiter. Der Oberschreiber hob den Arm und erwiderte: »Es waren zweiunddreißig, von einer winzigen Jägergruppe angefangen bis zum Stamm von dreihundert Köpfen. Wir haben allen geholfen, haben getauscht, ihnen von den Straßen und dem fernen Osten erzählt. Etwa hundert insgesamt, aus jeder Gruppe, schlossen sich uns an.« »Und so werden wir es immer halten, bis wir die See erreichen!« stimmte ich zu. Der Abend verging friedlich wie viele andere. Wir tranken, sprachen über dies und das, machten rauhe Scherze und wurden allmählich müde. Jeder Teilnehmer der Karawane, der weiter dachte, begann sich Sorgen zu machen, wie wir den winterlichen Aufenthalt überstehen würden. Der Weg zu den nördlichen Hängen des Gebirges führte fünfzehn Tage fang durch eine trostlose Einöde. Die Karten sagten das gleiche, wie die Bilder die Boreas lieferte. Sie ließen nur wenige grüne Stellen erkennen. Wir schleppten uns, gewaltige Wolken gelbroten Staub aufwirbelnd, an einem schmalen Fußbett entlang. Unsere Herden hinterließen einen fast kahlen Streifen Land. Der Staub stieg in pulvrigen Wölkchen unter den Hufen der Esel hoch, trieb in Schleiern unter den Felgen der Wagen in die Luft und wurde vom warmen Westwind gleichmäßig verteilt.
Bald sahen wir wie wandelnde Statuen aus. Der Staub verkrustete unsere Nasen, die Augen begannen zu tränen und zu schmerzen; wir glaubten, keine Luft mehr zu bekommen. Den Tieren erging es nicht anders. Jedesmal, wenn das Wasser des ausgetrockneten Flusses bis an den Rand unseres Weges ging, stürzten Menschen und Tiere hin, um sich zu waschen und zu trinken. An einem Tag gab es zwischen Mittag und Abend ein kurzes, heftiges Gewitter. Der Regen war uns willkommen, aber nachher sah die Karawane unbeschreiblich aus. Hin und wieder entdeckten wir dürre Gehölze, aus denen magere, rotbraune Tiere flüchteten. Die Bilder, die der hoch fliegende Boreas funkte, ließen erst in unmittelbarer Gebirgsnähe grüne Flächen erkennen. Und wieder änderten sich die Bilder. Das Aussehen der Landschaft nahm einen niederschmetternden Charakter an: Büsche und Grasflächen waren schwarz und völlig leblos. Vor Tagen hatte hier ein Rennfeuer gewütet; kein grüner Halm, kein Insekt, kein einziges Fleckchen Grün war zu erkennen. Der Staub mischte sich mit grauer und weißer Asche. Schweiß bildete breite Rinnsale in unseren Gesichtern. Das Schreien der geschundenen Tiere wurde bald leiser als das kraftlose Fluchen der Menschen. Rantiss’ Reiter schwärmten aus, aber auch sie erlegten kein Wild. Wir begannen, die schwächsten Tiere auszumustern und zu schlachten. Während der langen Reise waren eine Menge Kinder gezeugt und geboren worden. Ihr Zustand war nach zehn Tagen Marsch entlang des Rinnsals beklagenswert. Dasselbe galt für die neugeborenen Tiere; bisher gab es fast jeden Tag irgendwo Nachwuchs. Die Hirten taten, was sie konnten, aber es waren viele Ausfälle zu beklagen. Geier schwebten über der Karawane und blieben lange unsere einzigen Weggenossen; schwarze Sicheln in einem gnadenlos hellen Himmel, der sich unvermittelt bewölkte und eiskalte Stürme schickte. Die Tage waren noch immer stechend heiß, dagegen kühlte es in den Nächten stark ab. Einerseits wurden die Menschen durch die Strapazen abgehärtet und griffen in ihrer Not zu allen erdenklichen Überlebensmöglichkeiten, aber zugleich begannen wir, von der Substanz zu zehren. Das schlimmste war die Verzweiflung, die von
Tag zu Tag mehr Menschen packte und am Sinn der Qualen zweifeln ließ. Wir schienen das Ende der Welt erreicht zu haben, die sagenhafte Ödnis die vor dem Abgrund der Welt-Scheibe lag. Noch ein paar Tage, murmelten die Menschen, und wir würden in den eisigen Flammenschlund der Verdammnis stürzen. Der spitze Dolch zeigte auf einen blau eingefärbten Punkt der Karte im Innendeckel der Kiste. Dieser Punkt war ein kleiner See und unser Ziel. »Das ist er. Noch schätzungsweise zehn Tage!« sagte ich und stand auf. Asyrta warf mir einen zweifelnden Blick zu. »Wir reiten voraus. Ich und fünfzig Männer!« sagte Rantiss ruhig. »Wir nehmen die besten, kräftigsten, also die ›schnellen‹ Tiere mit und bereiten alles von Ihr seid dann entlastet.« »Es wäre eine Möglichkeit. Wir sind, wenn wir den See erreichen, mit unserer Kraft am Ende«, murmelte Nianchre. »Das ist zu erwarten«, bestätigte meine Freundin. Wir waren abgemagert, sehr verschmutzt und ebenso hungrig. Noch war die Not nicht ausgebrochen, aber das Stadium, in dem die kleinste Erschütterung die Katastrophe auslösen konnte, stand kurz bevor. Es brauchte nur eine Krankheit auszubrechen, und wir waren verloren. Knapp ein Mond hatte genügt, uns das drohende Verhängnis klar erkennen zu lassen. »Ich schicke noch heute Skath und die besten Reiter los! Boreas kann sie kontrollieren.« Rantiss hatte sich entschieden. »Einverstanden.« Ihr müßt sämtliche Möglichkeiten aktivieren, sagte der Logiksektor. Nichts anderes blieb uns übrig. Auf Rantiss konnte ich mich verlassen; er brauchte keinerlei Anweisungen. Er nickte uns nacheinander zu und stapfte aus dem Zelt. Wir waren müde und verwahrlost. Es machte uns nichts mehr aus, und dies war eines der vielen schlechten Zeichen dieser Tage. Vor der Jurte, der noch weitere Bewährungsproben bevorstanden, warteten Skath und einige Wegesucher, die besten Späher, die ich je kennengelernt haste. Ich hob den Schild und schaltete die Bildfunkanlage des Robotvogels ein. Der schwarze Falke kreiste zwischen Berghängen, Schluchten, Seeufer und sumpfigen Zonen.
»Bilder, Boreas. Tiefer herunter und immer wieder Vergrößerungen!« ordnete ich an. Wir beugten uns über das Bild im Schildmittelpunkt. Niemand von denen, die mich bei solchen Arbeiten beobachteten, glaubte an Wunder oder die Einwirkung von Göttern. Nacheinander sahen wir die Bilder, die uns einigermaßen zufriedenstellten. »Wir müssen am steilen Seeufer unsere Zelte aufschlagen. Und weitab der Zuflüsse, well diese beim ersten warmen Sonnenstrahl überfließen.« »Das entscheiden wir, wenn wir dort sind. Wieviel Tage, Atlan?« fragte Nianchre stockend. Er versuchte noch immer, seine Auffassung von Ordnung durchzusetzen; mit wenig Erfolg. »Zehn, wenn wir es schaffen, die anderen vorwärtszuhetzen. Eine Ewigkeit, wenn etwas dazwischenkommt.« »Wir alle werden tun, was irgend möglich ist!« Es wird nötig sein. Versuche, die Karawane schneller zu machen! warf der Extrasinn ein. Ich blickte meine schöne Freundin an. Auch Asyrta zeigte die Spuren der harten Tage, aber sie kümmerte sich, zusammen mit Alaca, um die Kinder der Karawane und versuchte, ihnen das Leben so leicht wie möglich zu machen. Alaca und sie hatten binnen eines halben Tages Freundschaft geschlossen. Asyrta lächelte zaghaft zurück. Sie sagte leise: »Es ist bisher gutgegangen, es wird auch weiterhin ohne Katastrophe abgehen.« »Warten wir’s ab«, murmelte Nianchre niedergeschlagen. Wir warteten darauf, daß etwas passierte, was nicht passieren durfte. Besonders ich war skeptisch. Die Herden waren noch in der Nacht weitergezogen, jetzt folgte die Karawane in der Spur der Hufeindrücke. Während wir dem Winterlager entgegenkrochen, brachte uns jeder Tag zugleich näher an unser Ziel heran, zur fernen Küste. Fluchend und peitschenknallend, mit mahlenden Felgen, schreienden Eseln, wiehernden Pferden und dumpf brüllenden Ochsen machte sich die Karawane abermals auf. Sie sah keineswegs wunderbar aus. Wir erreichten die Gegend am See, nachdem wir einen Tag fang über einen ausgetrockneten Salzsee gewandert
waren. Er war wie ein Spiegel gewesen, blendend und furchtbar. Als die erste Gruppe das jenseitige Ende erreichte, jagte ein Windstoß die ersten Schneefocken heran. Ich krümmte meine Schultern und fröstelte innerlich, drehte mich im Sattel und winkte meinen Wegesuchern. »Die Gruppen sollen sich selbst Stellen suchen, an denen sie bleiben wollen. Ich werde nachsehen, ob sie es richtig machen!« »Wir verständigen die Sprecher, Herr!« Im Lauf der letzten Monde hatten sich, wie nicht anders zu erwarten, Sympathien, Freundschaften und eheähnliche Gemeinschaften entwickelt. Gruppen dieser kleinen Verbände sollten gemeinsam ihr Winterlager einrichten. Die Männer, die noch abgerissener und mitgenommener aussahen als die meisten von uns, sprengten in verschiedene Richtungen davon. Die lange Reise hatte ein vorläufiges Ende gefunden.
6. Vier Monde lang dauerte der Winter. Mein Zelt, ein halbkugelig geformter Jurtenbau, war knietief in Sand eingegraben; unter dem Boden befand sich eine Schicht Stroh, Gras und trockene Blätter. Bis zur Schulterhöhe war die Jurte von Schneeverwehungen umgeben. Schneidend kalter Sturm tobte über das Land, wühlte den See auf, rüttelte an den Bäumen, die schwarzen Fingern glichen. Es war eisig kalt. Die Läuse starben, wenn man Kleider und Pelze nachts hinaushängte. Überall dort, wo es Windschatten gab, also in Höhlen, kleinen Schluchten, auf der Ostseite von Felsen, halb eingegraben in Hügeln, in Hütten aus Lehmziegeln und Reisig, in Lehm verpackt, überwinterten rund 2700 Menschen jeden Alters. Wir hatten Unterstände für das Vieh gebaut und jeden Grashalm, den wir hatten finden können, eingebracht und getrocknet. Die meisten Kleintiere befanden sich in den Unterkünften der Karawanenteilnehmer. Viele Arbeiten, zu denen kein Feuer benötigt wurde, konnten in den hundertzwanzig Tagen erledigt werden; andere mußten warten. Als der Winter endete, hatte unter dem
Großvieh eine natürliche Auslese stattgefunden: Alle kranken und schwächlichen Tiere waren getötet und verwertet worden, die gesunden blieben uns. Trotzdem entstanden im Viehbestand gewaltige Lücken. Mehl besaßen wir keines mehr, und andere wichtige Nahrungsmittel reichten nur noch Tage. Das hatte den Vorteil, daß die Öfen der Bäcker kein Holz mehr brauchten und wir mehr für Herde und Öfen der Behausungen verwenden konnten. Wir hatten uns verkrochen und eingeschlossen; dicht aneinandergepreßt überstanden wir die heulenden Stürme, den Schneefall, der uns immer wieder verschüttete und durch diese Isolierung die Behausungen warm hielt, die eisige Kälte und die Arbeit, uns auszuschaufeln und zwischen den Hütten Verbindungen herzustellen. Zu derselben Zeit entdeckte Boreas auf seinen weiten Fügen eine große Siedlung, etwa zehn oder fünfzehn Tagereisen entfernt, auf unserem Weg nach Osten. Wir würden dort anhalten und um Hilfe bitten müssen. Vierundzwanzig Menschen starben, neunzehn Kinder wurden geboren, einige Menschen zeigten die ersten Spuren von Mangelerkrankungen, die ich mit meinen Heilmitteln kurieren konnte. Es gab viele winzige Probleme, aber keine größeren Sorgen. Wir kamen durch, mit kümmerlichen Portionen, aber dieser Umstand schadete wohl niemandem. Es gab mehr als genug Zeit, die Kleidung aller auszubessern und nachzunähen. Wir bearbeiteten Felle, schärften Waffen und Werkzeuge, reparierten alles, was klein genug war, um durch die Türen der Unterkünfte hineingebracht zu werden. Bedächtig arbeiteten wir auf den Moment zu, an dem wir weiterziehen konnten zu jenem Punkt, an dem wir uns niederlassen wollten. Wenn der letzte Schnee geschmolzen war, würden wir anschirren und aufladen. Rantiss saß mir gegenüber: hager, mit zu langem Haar und struppigem Bart, in Leder und Pelze gekleidet, übergeschlagenen Beinen und nachdenklichem Blick. »Wir haben es gut überstanden, Atlan, nicht wahr?« fragte er leise und angespannt. Er besaß alle Informationen, die auch ich haste.
»Ich denke ja«, erwiderte ich. »Das Frühjahr wird hart werden. Der Stamm, den wir gesehen haben, wird uns auch nicht viel helfen können, denn auch sie haben ihre Vorräte aufgezehrt. Uns bleibt eine harte Zeit. Aber sie wird leichter, wenn wir wandern. Hierzubleiben wäre tödlich.« »Ich bin deiner Meinung.« Er gab mir recht. »Meine Leute haben die Disziplin nicht verlernt. Sie werden helfen, wo sie können.« Sie hatten gezeigt, daß sie überall zupackten und viele Arbeiten beherrschten. Sie würden uns auch auf dem zweiten Teil des Vorhabens unterstützen. »Das weiß ich. Ich fürchte mich vor dem Frühling«, sagte ich voller Skepsis, »vor dem Sommer und den Steppen und vor allen Unfällen, die wir bisher nicht erlebt haben.« Er nickte bedächtig, ich wußte, daß er dasselbe dachte wie ich: Wir würden alles überstehen, das Ziel erreichen und finden, was wir suchten. Wir brachten die Grundbestandteile von Kultur und Zivilisation mit uns. Keiner von uns erwähnte ES, unter dessen Befehl wir handelten. Schleppend verging die Zeit. Im Gleichmaß der Tage und Nächte, während Sturm und Kälte abflauten, verwischten sich die Zeitbegriffe. Und an einem Morgen, als wir aus den Hütten, Höhlen, Zelten und Jurten krochen, mit klammen Fingern und feuchter Kleidung, sahen wir, daß die Sonne strahlte, der Schnee in der Wärme dahinschmolz. In der Nacht begann der Frühling, und von Tag zu Tag wurde es wärmer. Jetzt wußten wir, daß jede Arbeit und jede Anstrengung dazu dienen würden, die Wunderbare Karawane wieder in einen lebendigen Organismus zu verwandeln, der wie ein wehrhafter Tausendfüßler unaufhaltsam bis an die Stelle kroch, wo der Fuß mit dem gelben Wasser ins Meer mündete. Für uns begann eine Periode größerer Schwierigkeiten. Schon weit vor der Siedlung stutzten wir. Rund vierzig Pferde verursachten eine Menge Lärm und Geräusche. Vor uns, jenseits des Waldes voller frühlingshaft grüner Blätter, hörten wir lautes langgezogenes Stöhnen aus Hunderten Kehlen.
Dazwischen ertönten spitze Schreie. Das Schlagen großer Trommeln hatte uns hierher gelockt. Rantiss und Tantri sahen mich fragend an. »Sie feiern uns vermutlich, wie?« sagte Tantri. »Nein«, antwortete ich, ohne es genau zu wissen. »Boreas sah, daß sich ein langer Zug auf einen Hügel zubewegt. Ich denke, es ist eine Frühlingsfeier.« »Sehen wir nach.« Wie immer bildeten wir die Vorhut der Karawane; Wegesucher, Reiter aus Rantiss’ Gruppen, einige Soldaten und Asyrta. Langsam erholten sich die Pferde auf den fetten Weiden vom Mangel des Winters. Das Stöhnen klang seltsam inbrünstig und grausam, die Schreie waren ekstatisch. Wir lockerten die Zügel und umritten schweigend und aufs äußerste gespannt den Wald, der sich zwischen Wiesen und bestellten Feldern hinzog. Rhythmischer Gesang schlug an unsere Ohren, als wir freie Sicht hatten und abseits der fernen Siedlung eine Prozession bemerkten, die auf den kleinen Hügel zustrebte. Eine Gruppe Männer, in Fellstiefeln und ledernen Hosen, breite Gürtel um die Hüften, über seltsam geschlungenen Röcken, ging voran und stimmte die dumpfen Schreie an. Sie trugen lange Holzstangen, an deren Spitzen Figuren aus hochpolierter Bronze und aus Kupfer staken; Stammeszeichen oder Standarten. Dem Dutzend braunbärtiger Männer mit schulterlangem, verfilztem Haar und fanatisch rollenden Augen folgte ein langer Zug, dessen Teilnehmer wild umhersprangen. Was wir sahen, verschlug uns die Sprache. »Alles andere… aber keine Begrüßungszeremonie!« Rantiss war fasziniert und angewidert. Barbarische Bräuche! Haltet euch tunlichst zurück! flüsterte der Logiksektor. Den halbnackten Männern, deren Rücken von Striemen und Wunden aufgerissen waren und bluteten, folgten etwa hundert dunkelhaarige Männer. Sie sprangen in die Höhe und zur Seite, wälzten sich schreiend auf dem Boden. Jeder schlug auf seinen Nachbarn ein; mit Stöcken, die Dornen und Zacken trugen, fügten sie sich selbst und den anderen kleine, schmerzhafte Wunden zu. Alle schienen bis zur Besinnungslosigkeit berauscht zu sein. Ein dämonischer Zwang zur Selbstverstümmelung ging von ihnen aus.
Der schwere, feuchte Boden roch, die Körper der Vorbeiziehenden stanken dumpf und tierisch, wir glaubten, das Blut riechen zu können. Unsere Pferde scheuten, wir mußten sie hart an den Zügel nehmen. Aber diese Besessenen beachteten uns gar nicht. Sie glotzten uns mit weit aufgerissenen Augen an aber schienen nicht einmal die zwei Geparden zu sehen, die neben meinem Schecken standen. Stöhnende, wimmernde und blutende Männer wälzten sich wie Wesen aus einer dämonischen Welt an uns vorbei. Wir schwiegen entsetzt und sahen weiter zu. Einige jüngere Männer, augenscheinlich nicht berauscht, führten sechs kleine Pferde an den Halftern. Die struppig verwahrlosten Tiere standen in grellem Gegensatz zu den verzierten Zäumen, den geputzten ledernen Zugriemen und den Fellen und Decken, mit denen sie behängt waren und zogen einen offenen, kastenförmigen Wagen mit vier wuchtigen Scheibenrädern, die erbärmlich verzogen waren. An den Ecken des Wagens ragten Stangen hoch, mit kupfernen Standartentieren geschmückt, zwischen sich einen gefochtenen und bespannten Baldachin. Knirschend bewegte sich das Gespann näher, durch aufgewühlte und zerstampfte Erde. Gebannt starrten wir den Körper an, der auf dem Wagen lag. »Unzweifelhaft«, sagte ich gepreßt, »tragen sie ihren Herrscher zu Grabe.« »So wird es sein.« Rantiss gab mir recht. Der kalkweiß bemalte Körper war nur mit Stiefeln, Rock und einem offenen ärmellosen Hemd bekleidet. Man hatte die Haut mit einer dicken Schicht Wachs überzogen und mit Schmuck, Waffen und Fellen umgeben. Ich sah daß der Leib vom Brustbein an geöffnet und wieder zugenäht worden war. In Krügen aus glasiertem Ton, die neben der Leiche standen, befanden sich wohl die Eingeweide. Der Zug wirkte auf uns, als sei er schon lange unterwegs. Hinter dem Wagen kamen jeweils ein Dutzend junge Männer und Frauen. Ihre Hände waren mit Lederriemen vor den Körpern gefesselt. Obwohl es trotz der warmen Sonne feucht und kühl war, schienen weder die halbnackten Jünglinge noch die Mädchen zu frieren. Fünf Mädchen waren auf derbe Art schön; auch sie blickten erschöpft und abwesend, stöhnten und keuchten laut im Rhythmus des
schauerlichen Gesangs, der an den Nerven zerrte und uns halb krank machte. »Sind es die Diener und Konkubinen des Fürsten?« flüsterte Asyrta atemlos neben mir. Ich warf ihr einen kurzen Blick zu. Auch sie war entsetzt über die Raserei, die alle Teilnehmer dieser Prozession gefangenhielt, aber auch sie konnte ihren Blick nicht vom grausigen Geschehen losreißen. »Du kannst recht haben«, sagte ich leise. Stumpfsinnig und voll Todesangst folgten die jungen Leute dem Leichnam. Als der Wagen an uns vorbeischwankte, roch es betäubend nach Safran, Räucherwerk, Dillsamen und Eppich – und nach der Angst menschlicher Kreaturen. Wieder tänzelten unsere Pferde nervös auf der Stelle und versuchten auszubrechen. Ein paar Atemzüge danach kroch das Zentrum des tobenden und kreischenden Infernos heran. Die Menschen hatten schon Entsetzen verbreitet, aber der Rest des Zuges, der wie eine in die Länge gezogene Schlange schmaler wurde und in ein paar taumelnde Nachzügler auslief, vierhundert Schritt lang, war erfüllt von Schwingungen besessener Selbstquälerei. Ein morbide Freude am Schmerz ging von den Menschen aus; abstumpfende Raserei fremdartiger und unmenschlicher Inbrunst. Selbst die älteren Männer, die schwere Trommeln vor den Bäuchen trugen und mit Schenkelknochen von Rindern auf die straffen Häute einschlugen, waren von den Schultern bis zum blutüberkrusteten Gurt voller frischer und verschorfter Wunden. Alle befanden sich in einem unnatürlichen Bann. Ihre Trauer um den Toten war echt und dennoch falsch, well sie übertrieben wirkte. Die schweißüberströmten, blutenden Körper hatten fast alles Menschliche verloren. Sie vergaßen den Rhythmus der langgezogenen Rufe keinen Herzschlag lang. Unbarmherzig prügelten sie einander. Aus den Ohren hatten einige kleine, zackige Stücke herausgeschnitten. Die Gesichter sahen wie Masken aus Schlamm, Blut und Schweiß aus. Sie schienen Tiere geworden zu sein, völlig gefangen in ihrer Raserei. Die Spitze des Zuges hatte längst den Hügel erreicht. Die Augen der Frauen und Männer glänzten blind. Die chaotische Prozession zog stinkend, von Fliegen
umsurrt, vorbei. Schreie und Stöhnen wurden unmerklich leiser, nur langsam wich der Bann von uns, als die letzten entkräfteten Leute weitertaumelten. Nach einer Weile, in der wir die Tiere beruhigen mußten, sagte ich zu Rantiss: »Nimm Asyrta, Freund, und reite in die Siedlung. Du weißt, was zu tun ist.« Er winkte Tantri und Skath heran und befahl ihnen, mit mir zu reiten. Dann packte er Asyrtas Pferd am Zügel und ritt los! Seine Männer folgten ihm und schüttelten sich, als wären sie aus einem Alptraum ins Sonnenlicht hinaufgetaucht. Auf einen Wink hin ritten auch meine Soldaten und Wegefinder hinterher. »Wenn wir einige Tage mit ihnen leben wollen, müssen wir sehen wie sie sich verhalten«, sagte ich, warf mein Pferd herum und galoppierte, die zwei Geparden vor und zwei Reiter hinter mir, im großen Bogen am Zug vorbei, auf den Hügel zu, der von ein paar traurigen Bäumen bestanden war. Wie zum Hohn strahlte die wärmende Frühlingssonne über diese grausam-exotische Szenenfolge. Wir erreichten den Hügel gleichzeitig mit der Gruppe jenseits des Wagens. Zitternd und keuchend standen die Pferde unweit des offenen Grabes, einer viereckigen Grube von jeweils zwölf Schritt Kantenlänge. Der Aushub bildete einen Hügel auf der Spitze des Hügels. Die Unterführer Rantiss’, wahrlich keine Männer von übertriebener Scheu und Zurückhaltung, hielten sich eng an mich, als sie ahnten, wie die Zeremonie weitergehen würde. Nach und nach erreichten alle Teilnehmer dieser schauerlichen Feier die Grube. Uns beachteten sie nicht. Jene Männer, die Dreizacke mit Rasseln an den Spitzen trugen, verursachten mit den Trommlern zusammen einen höllischen Lärm, der durch Mark und Bein fuhr. Am Grabrand fand sich ein heulender und wimmernder Haufen von Männern zusammen, die die Leiche des Fürsten vom Wagen nahmen und auf den Schultern hielten. Andere schleppten Laub und Felle aus dem Wagen und bereiteten in der Grube eine Art Lager. Unter dem irrsinnigen Dröhnen der Trommeln wurde der Leichnam auf dieses Fellager gesenkt. Die Krüge aus dem Wagen wurden rund um den Toten aufgestellt, und die Träger zogen sich zurück. Sofort begann eine neue Prozession. Viele Männer mit
Lanzen, Standarten und Knüppeln kamen heran. Jeder von ihnen rammte nach beschwörenden Gesten und mit lautem Klagen seinen Stab schräg in die schwarze Erde, so daß ganz zum Schluß eine Art Zeltgerüst über dem Toten aufragte. Trommler und Männer mit Metallrasseln steigerten abermals ihren Larm, als die jungen Diener und Konkubinen sich um die Grube aufstellten. Sie schienen zu träumen oder zu schlafen, sie schwankten wie in Trance hin und her, vorwärts und zurück. Ein breitschultriger Mann, eine blutige Hammeraxt über der Schulter, trat hinter sie. Noch einmal steigerte sich der unheimliche Lärm. Mein Schecke sprang hoch und keilte wie besessen aus. Ich stob, um ihn zu beruhigen, den Hügel hinunter und zwang das Tier wieder hinauf. Mit gleichmütiger Miene holte der Mann mit der Bronzewaffe aus und führte einen waagrechten Schlag gegen den Hinterkopf des ersten Jünglings. Der faustförmige Kopf der Waffe traf genau. Der Schädel brach, Blut und Gehirn spritzten nach allen Seiten, die Wucht des Hiebes warf den Sterbenden ausgestreckt nach vorn und in die Grube. Er schlug mit dem Rest des Kopfes gegen die Stangen über der Leiche. Die Menge brach in satanisches Kreischen und Heulen aus. Mein Körper überzog sich mit Gänsehaut, ich schüttelte mich, als ob ich aus einem Traum entfliehen könne, aber der Extrasinn schrie: Verhaltet euch ruhig. Sie bringen euch sonst um in ihrer Raserei! Mischt euch nicht ein! Wir versuchten, das Ganze mit kaltem Blut zu sehen, aber die Eindrücke waren zu stark. Nacheinander starben die Jünglinge und die jungen Frauen. Immer wieder drang der hammerartige Kopf des Beiles in die Schädel ein und schleuderte zuckende Körper ins Grab. Und bei jedem Sterben stieg ein Lärm zum Himmel, der uns aufs neue erschreckte. Schließlich bildeten die Körper, aus denen hellrotes Blut lief und in der Erde versickerte, ein wirres Muster auf drei Seiten des toten Fürsten. Inzwischen hatten die Gespannführer die Pferde ausgeschirrt. Mähnen und Schwänze waren stark gekürzt worden. Die Tiere versuchten auszubrechen, als der Gestank des Blutes in ihre Nüstern drang. Aber ein Haufen schreiender Menschen warf sich auf die Tiere, packte sie am Schwanz, um den Hals, an den Läufen, zog und zerrte sie an den Rand, und wieder
trat das furchtbare Henkersbeil in Tätigkeit. Auf die Leichen der Diener und Mädchen stürzten die blutenden, im Todeskampf wild um sich keilenden Pferde, eines nach dem anderen. Als das letzte Tier neben dem toten Fürsten verblutete, riß das unglaubliche Geschrei mit einem Schlag ab. Auch die Trommler und die Rasseln schwiegen. Wir hörten nur noch das Atmen und Keuchen der Menge. Dann: ein einzelner Trommelschlag. Und wieder begannen sie zu rasen. Alle Menschen stürzten sich auf den Erdhaufen. Mit bloßen Händen schaufelten sie Erde und Sand in die Grube, schleppten Steine und warfen sie in die lockeren Erdkrumen. Da dies alles in plötzlicher Lautlosigkeit stattfand, waren diese Handlungen für uns nicht weniger erschreckend. Binnen kurzer Zeit wölbte sich ein kalottenförmiger Hügel über der Grabstätte. Gnädig verdeckte er die Spuren des rituellen Gemetzels. Zum Schluß brachten etwa dreihundert Personen die doppelte Menge von Bruchsteinen und großen Kieseln herbei und packten sie in die schwarze Erde. »Tantri«, sagte ich leise, »reite zur Karawane und bringe sie auf dem besten Weg zur Siedlung. Achtet auf die bestellten Felder, ja?« »Es soll geschehen, Herr!« antwortete er heiser und mit flackernden Augen. Er drehte sein Tier auf der Stelle und ritt in westlicher Richtung davon. »Und wir sehen nach, was Rantiss erreicht hat«, sagte ich ebenso leise. Wir entfernten uns von der Stätte der gräßlichen Zeremonie und fragten uns, wie diese Menschen unter normalen Umständen lebten, wenn sie zu solcher Grausamkeit sich und anderen gegenüber fähig waren. Kurz darauf erreichten wir die Siedlung mit überraschend großen Häusern, strohgedeckt und langgezogen. In der Nähe des Bachlaufs, der an einer Stelle durch einen Wall aus Lehm und Steinen aufgestaut war, entdeckten wir ein großes Haus, aus dessen gemauertem und aus gebrannten Lehmziegeln bestehendem Schornstein gewaltige Rauchwolken aufstiegen. In der Mitte der Siedlung, gekennzeichnet durch einen ausgetretenen Platz, einen Brunnen und einen Kreis grünender Bäume, entdeckten wir die Pferde unserer Gruppe. Scheu sahen aus dunklen
Türhöhlungen Kinder hervor. Ein seltsamer, trunken machender Geruch hing in der Luft. Es war früher Nachmittag. »Rantiss! Asyrta!« rief ich. Aus dem Innern eines Hauses, das durch weit vorspringende Dächer und Säulen wie ein simpler Palast wirkte, kam die Antwort. »Wir sind hier! Kommt herein!« »Wir kommen!« schrie Skath zurück. Woran lag es, daß wir unsicher zu werden begannen? Während wir die Pferde an einen Baum banden, ich emen Geparden als Wache zurückließ und dem anderen winkte sahen wir uns um. Die Siedlung machte, obwohl von den Spuren des Winters gekennzeichnet, einen guten Eindruck. Die Bewohner schienen reich und fleißig zu sein, die Kinder sahen wohlgenährt aus, und was wir in diesem kurzen Rundblick erkennen konnten, sah sorgsam behandelt aus. Vorsichtig, die Finger um die Dolchgriffe, gingen wir zwischen weißgekalkten, von breiten Bronzebändern zusammengehaltenen Holzsäulen hindurch, auf einen Eingang zu, hinter dem sich ein sandgefüllter Innenhof öffnete. Dort standen unsere Männer und Asyrta im Halbkreis um einen alten, weißhaarigen Mann herum. »Warte, Alter. Hier kommt unser Fürst«, sagte Rantiss. Sein Gesicht trug den Ausdruck angespannter Wachsamkeit. Er winkte ns Wir betraten den Hof, kamen näher und blickten in die überraschend klaren Augen des Greises. Rantiss machte eine einladende, erklärende Bewegung und sagte zu uns: »Dies ist der ältere Bruder des toten Fürsten. Der Fürst starb nach dem Frühlingsfest, vor fünf Tagen. Seit dieser Zeit zieht der Trauerzug von Siedlung zu Siedlung. Der Bruder, Dsiga ist sein Name, sagt, wir könnten ein paar Tage bleiben. Bis sie einen neuen Fürsten haben, wahrscheinlich den ältesten Sohn des Toten, regiert er.« Ich trat auf den Alten zu, der nicht nur offene Augen, sondern ein gutes, glattgeschabtes Gesicht haste. Wir begrüßten einander, indem wir unsere Handgelenke packten. Der Alte bohrte seine Augen in mein Gesicht und betrachtete mich lange und prüfend.
»Du versprichst, daß du nur handeln willst, daß deine Leute uns nicht zwingen, sich zu fürchten oder zu wehren?« fragte er schließlich mit dünner aber fester Stimme. »Ich versprech’s. Wenn meine Leute sich etwas zuschulden kommen lassen, werden sie bestraft.« »Gut. Kommt, lagert an dem Platz, den ich den bewaffneten Reitern gezeigt habe. Wenn ihr gehandelt habt und gesättigt seid, sollt ihr auf eurem Weg weiterziehen. Aber wir haben nicht mehr viel gemahlenes Korn, müßt ihr wissen.« »Ich danke dir«, sagte ich. »Wir selbst wollen so schnell wie möglich weiter.« Draußen erhob sich der Lärm, den einige hundert erschöpfte Menschen erzeugten. Der Bruder des Herrschers führte uns hinaus. »Deine Leute«, fragte ich, »die vom Begräbnis zurückkommen und erschöpft sind und bluten… was tun sie?« Er deutete auf das Haus mit dem rauchenden Kamin. »Seht selbst!« Wir gingen mit dem schweigenden, erschöpften Zug mit. In dem fensterlosen Haus befanden sich Kessel voll Wasser. Das Feuer erhitzte große Steine, und auf den flachen Teilen der Steine ging von gemahlenen Samen eines bestimmten Hanfes fahler, graublauer Rauch aus. Die Barbaren gingen hinein, zogen sich aus und setzten sich auf den Boden, auf Holzbänke und feuchte Steine, auf Körbe, aus Weidenrohr gefochten und andere Sitzgelegenheiten. Sie waren erschöpft und taumelten, aber der Rauch im langgestreckten Innenraum schien sie aufzumuntern. Immer mehr drängten an uns vorbei, wir husteten, unsere Augen tränten. Dann packten einige die heißen Steine mit hölzernen Zangen und warfen sie in die Kessel. Dampf zischte auf und breitete sich nach allen Seiten aus. Der Hanfsamengeruch ließ uns schwindlig werden; wir zogen uns zurück und ließen den schweren Fellvorhang vor die Tür fallen. Drinnen schwitzten mehr als hundert Menschen mit ebensolcher Inbrunst wie sie sich gepeitscht und verwundet hatten. »Sie schwitzen. Der Dampf reinigt den Körper und läßt das Blut schneller kreisen«, erläuterte der Alte. »Dann gehen wir ins kalte Wasser und schlafen. Morgen sind wir wieder ganz gesund.«
Wir warteten eine halbe Stunde, dann stolperten die nackten Bewohner dieses bemerkenswerten Ortes aus dem Dampfhaus. Sie schleiften Stiefel und Kleidung hinter sich her und ließen sich in das aufspritzende Wasser fallen. Wir froren plötzlich; alles, was wir bisher gesehen hatten, erfüllte uns mit Staunen und Nachdenklichkeit. Die Leute schwitzten, wuschen sich im Wasser, das eiskalt sein mußte, schließlich betäubten sie sich mit Hanfsamen. Und nachdem sie ihren Rausch ausgeschlafen hatten, waren die furchtbaren Wunden vergessen? Ich wußte, daß wir hier weder lange bleiben noch besonders glücklich werden würden. Ich verabschiedete mich und ging zurück zu den Pferden. Ich mußte über alles nachdenken. Asyrta holte mich ein und griff nach meiner Hand. »Atlan, wir bleiben nicht lange, nein? Ich fürchte mich unter diesen Barbaren«, sagte sie leise. »Wir bleiben keine Stunde länger als nötig. Denk an den Zustand der Karawane, Geliebte.« Sie nickte und ließ sich in den Sattel helfen. Wir ritten langsam durch das ausgestorben wirkende Dorf zurück zur Karawane. Ich hatte plötzlich ein Gefühl, das ich nicht schätzte, es würde in den nächsten Tagen Unheil geben. Zunächst ging alles gut. Nianchre und ich bestimmten jene Waren, die wir gegen Korn und Mehl eintauschten. Wir handelten einige Ochsen ein, natürlich wollten die Siedler unsere Bronze, die mit fünfzehn Hundertteilen Zinn zusammengeschmolzen war und dadurch viermal so hart wurde wie Kupfer. Wir reinigten die Wagen, entfernten alles Überflüssige, sammelten Holz und lehrten die Barbaren die Kunst der Schmiede. Einige kleine Familien entschlossen sich, hierzubleiben Zwei Dutzend Reiter traten den Jägern des künftigen Fürsten bei ebenso viele Barbaren wollten mit uns gehen, aber niemand von uns wollte sie haben Wir musterten die Herden durch und teilten die Tiere auf, wir mußten erreichen, daß wir schneller wurden. Die Abstände von Wasserstelle zu Wasserstelle würden größer sein als bisher.
Wir verkauften die ältesten Pferde an die Barbaren und bekamen dafür Korn. Ständig befanden sich neugierige Leute in unseren Reihen, und wir lehrten sie eine Menge besserer Arbeitstechniken. Wir schafften es, den Bedarf eines ganzen Tages an Wasser in Schläuchen, Kupfergefäßen und Tonkrügen mitzuschleppen. Die Tiere würden ihr Wasser ab und zu mit sich tragen müssen. Noch erlaubte der schwierige Boden keine großen Geschwindigkeiten. Unermüdlich rechnete und schrieb Nianchre, wir hatten immer wieder Gold und Silber eintauschen können, es gab säckeweise wertvolle Steine, deren Namen wir nicht kannten, überaus seltene und kostbare Felle waren von uns eingehandelt oder gegerbt worden, abgesehen von riesigen Mengen Leder, die aus den Häuten unserer eigenen Tiere stammten. Der menschliche Teil der Karawane hatte die Winterpause nicht schlecht überstanden, aber jeder sah dankbar zu, wie die letzten Schneereste schmolzen, spürte voller Freude, wie die Sonne von Tag zu Tag stärker und wärmer wurde. Die Soldaten halfen uns, die Wagen so auszurüsten, daß wir schneller reisen konnten. Schließlich, an einem frühen Nachmittag, erschienen zwei Fremde in meiner Jurte, wo ich nach Bildern von Boreas die Karte ausarbeitete. Ich blickte überrascht hoch; zunächst erkannte ich sie nicht. Sie bemerkten mein Erstaunen und begannen zu lachen, ließen sich in die Faltsessel fallen und schwiegen, als ich sie genau musterte. Sie waren von den Zehen bis zum Hals neu eingekleidet, sahen anders aus… endlich begriff ich. Zunächst wurde ich verlegen, denn wir alle hatten nicht gemerkt, daß Alaca zu einer jungen Frau herangewachsen war. Sie bewegte sich noch immer wie ein Fohlen, aber jetzt sah selbst ich, der bisher immer mit anderen Problemen beschäftigt gewesen war, daß sie in einigen Jahren eine Schönheit sein würde. »Offensichtlich wart ihr lange Zeit im Schwitzhaus der Barbaren. Und wer hat eure Köpfe so angenehm verwandelt?« Rantiss hatte seinen Bart rasiert, sein Haar war kürzer und schmiegte sich locker an seinen Schädel. Ein Hauch äußerster Sauberkeit strahlte von beiden aus. Das Gesicht des Mädchens war schmaler geworden durch das schulterlange Haar. Heller Stoff,
dünnere und bessere Felle, frisch geschliffene Waffen, neue Stiefel: Sie waren völlig verändert. »Es war deine Freundin, Vater der Achsen«, sagte Rantiss. »Wir brechen morgen auf, Alaca, meine besten Leute und ich. Hundert Leute mit 250 Pferden. Wir bereiten die Strecke von Wir haben alles abgesprochen.« Ich stand auf und fand einen Bierkrug und Becher. Wir hatten tatsächlich alles Erdenkliche geplant. Wir hoben die Becher und ich sagte: »Es wird uns entlasten. Die Nachbarschaft dieser Barbaren mißfällt jedem. Hast du besondere Vorstellungen, Rantiss?« fragte ich. Er würde uns fehlen, aber aus größerer Entfernung half er uns mehr. An seiner Stelle erwiderte Alaca: »Wir wollen einen Weg finden, der uns in das Land zurückführt weit im Westen. Wir sind und bleiben hier Fremde.« Ich dachte nach. Den zweiten Teil des Weges würde Rantiss selbst kennenlernen. Die Straße, die wir gezogen hatten, besaß zahlreiche, unübersehbare Markierungen, bis zurück nach Kanesh. Doch, er würde zurückfinden. Ich lächelte, sah den unsicheren Blick des jungen Mädchens und entgegnete: »Ich hoffe, ihr reitet erst zurück, wenn wir das Ziel erreicht haben?« »Das haben wir versprochen!« Zusammen mit Rantiss verließen uns zwei Drittel der Herden. Die dreihundert Hirten und Jäger hatten den Auftrag, so schnell wie möglich und so langsam wie nötig zu wandern, und niemals stehenzubleiben. Wir würden versuchen, zwischen Rantiss’ Reitern, unseren Wegesuchern, der Karawane und den Herden ununterbrochene Verbindungen bestehen zu lassen. Die Hirten nahmen uns auch Packesel und Pferde ab, und als die Karawane sich schließlich endgültig in Bewegung setzte, waren wir nur zweitausend und eine Handvoll Menschen. Neunundzwanzig Tage zwischen Neumond und Neumond vergingen nahezu ereignislos. Jeden Abend lagerten wir am Wasser, und nur ein einziger Tag war dazwischen, an dem wir keine Quelle, einen Bachlauf, einen winzigen See oder, in Nordspalten des
Gebirgsrands, eine mächtige Schneeschicht fanden. Die Gegend aber hatte sich erschreckend verändert. Rechts, an den südlichen Hängen der Berge und Hügel, tröstete reiches Grün unsere Augen. Wir folgten in einem weit geschwungenen Bogen den Bergen nach Südosten. Links und vor uns erstreckte sich eine braungraue Beinahe-Wüste. Vereinzelte dürre Pflanzen wuchsen, kein Gras, sondern hartschalige blattarme Dornenbüsche. Wieder begannen uns Staub und Sand zu belästigen. Jeden Tag stieg die Sonnenbahn höher, Hitze und Helligkeit nahmen zu. Wir hatten längst die bleiche Haut des Winters verloren, wurden brauner und magerer. Ab und zu unterbrach die spiegelnde, hitzeflirrende Oberfläche eines Salzsees oder eines kristallig geronnenen Stückes Fluß die eintönige Ebene. Dann dachten wir zuerst – die Uferzonen dieser glasartig glatten Flächen sahen täuschend einem Bach- oder Seeufer ähnlich – endlich würden Staub, Hitze und Qual vorbei sein; beim Näherkommen sahen wir, daß wir uns abermals geirrt hatten. Mindestens fünfmal am Tag brachen Treiber, Fahrer oder alte Menschen zusammen. Einige entkräftete Opfer mußten wir begraben, die meisten betteten wir in die Wagen und hofften, daß sie sich erholen würden. Es waren weder Wassermangel noch Hunger oder die Hitze, die jene Teilnehmer umbrachte, sondern alles zusammen und der Umstand, daß in dieser barbarischen Welt ein Mensch uralt war, wenn er fünfzig Sommer überlebt haste. Und eines Tages kamen wir an die Stelle, von der aus wir sechs Tage fang geradeaus durch die Wüste zu wandern hatten. Nicht durch eine Sandwüste voller Dünen, sondern über eine Hochebene hinweg, hart und in der Nacht eisig kalt, auf der an den Tagen die dünne Luft uns taumeln ließ, wo es buchstäblich nichts gab, kein jagdbares Tier, keine handgroße Fläche, auf der Gras wuchs. Sechs Tage fang konnten die Tiere mit dem wenigen Trockenfutter, aber auf keinen Fall ohne Wasser auskommen. Dies war die letzte Rast vor dem großen Sprung. »Rantiss hat sein Versprechen gehalten«, flüsterte Asyrta-Maraye an meiner Schulter. »Und nun ist er weit vor uns.«
Ich lachte kurz auf. Seine Männer hatten den Bach, der hundert Schritte weiter nördlich als winziges Rinnsal im steinigen Boden versickerte, mit einem Wall aufgestaut. Es gab genug Wasser. Unsere Tiere tranken, wir füllten an einer anderen Stelle jedes einzelne Wassergefäß. Es war Nacht; wispernder Wind blies winzige Staubfahnen hoch. Der volle Mond – ein kleiner Betrag fehlte noch am Rand der bleichen Scheibe – verwandelte die Wüste in eine Ebene der Geheimnisse. Die Furcht vor Versagen und Tod marterte mich. Wieder einmal verfluchte ich ES, der uns auf diesem Spielbrett aus Sand, Staub und Felsen herumschob. »Für Rantiss ist der Sprung höchstens drei Tage lang.« Ich hatte alle Bilder des Robotfalken gesehen. Wir verließen, bisher fast nach Süden wandernd, genau in östlicher Richtung den letzten Gebirgsausläufer. Unser Ziel war die Biegung des gelbschlammigen Flusses, zugleich verlief unser Weg in den letzten Tagen leicht abwärts. Aber bis zum Fußufer gab es nur unfruchtbare Wüste. »Die Kadaver der verendeten Pferde werden unsere Wegweiser sein, Atlan?« Auch sie fürchtet sich! Jeder hat Angst vor der Wüste! flüsterte der Logiksektor. Ich zog sie an mich und strich über ihr Haar. Seit dem Tag an dem ich mit Bronzebarren für sie gezahlt hatte, waren tausend winzige Änderungen in und an ihr vorgegangen; unendlich langsam. Fast alles, was es in dieser barbarischen, erbarmungslosen Welt zu lernen gab, hatte Asyrta gelernt; innere und äußere Fähigkeiten. Asyrtas Klugheit äußerte sich im stiller. Sie haßte dramatische Vorgänge freute sich aber diebisch über jedes der vielen Probleme, während sie es beharrlich, in stiller Konzentration löste. »Wir werden sicherlich einige Kadaver finden. Sei ruhig, Liebste wir kommen durch. Es ist die letzte große Mühsal.« »Du weißt, daß ich dieses Land nicht mag, die Bewohner nicht verstehe?« Sie blickte in die Richtung der Berge. Dort befanden sich vermutlich unsere Herden. »Auch ich will zurück. Ich schaudere, wenn ich an einen zweiten Winter hier denke«, antwortete ich brummend. Ich sprach die Wahrheit… aber wie wir es anstellen sollten, wieder an die Ufer des
großen Binnenmeeres zu kommen, das wußte ich nicht. Mit Rantiss, Alaca und den übriggebliebenen Reitern den ganzen erbärmlich langen Weg zurück, und wenn die Strecke in einem Jahr zu schaffen war? Der Logiksektor wisperte: Denk daran, daß ES immer für eine verblüffende Lösung gut ist. »Du bist sicher, daß wir am Strom weniger grausame Menschen finden?« »Ich glaube es fest.« Wir standen in der schweigenden Wüste. Der Höhe des Mondes nach war es etwa Mitte der Nacht. Hinter uns waren sämtliche Wagen rn Halbkreis zusammengefahren worden. Das Vieh fraß trockenes Gras. Da wir kaum Holz hatten, gab es nur zwei Feuer. Jeglicher Glanz war von der Wunderbaren Karawane abgefallen. In sieben Tagen würden wir froh sein, wenn wir noch alle lebten. »Komm, Atlan«, flüsterte Asyrta. »Wir müssen schlafen. Zum letztenmal in der Jurte.« »Du hast recht. Wir werden alle Kräfte brauchen.« Schweigend gingen wir zurück zum Kuppelbau aus künstlichem Filz, neben dem Wagen mit der Standarte. In dieser entscheidenden Nacht liebten wir uns heftig und schweigend; wir fühlten uns klein, unbedeutend und von einer so gigantischen Gefahr bedroht, daß wir zur völligen Passivität verdammt waren. Noch im Morgengrauen, in der schneidenden Kälte vor der Dämmerung, brachen wir auf. Der Todesmarsch begann.
7. Am zweiten Tag, gegen Mittag, erfuhren wir zum erstenmal, was die Verbindung aus kochender Sonnenhitze, übermäßiger Anstrengung und dem völligen Fehlen von Wind und Schatten den Lebewesen antun konnte. Es schien die kritische Schwelle zu sein, die wir jetzt überschritten. Vor uns lag ein Pferdekadaver ohne Zaumzeug und Sattel, von der stechenden Sonne mumifiziert und von Geiern ausgeweidet. Sie sprangen nur träge krächzend zur
Seite, als die Gruppe aus Soldaten, Wegfindern und Reitern herankam. »Rantiss war hier«, sagte einer hinter mir. Er sprach undeutlich, well auch seine Lippen trocken waren wie Holz. Wir alle hatten tränende, entzündete Augen. Die Helme fühlten sich an wie Bronze frisch aus der Form. »Jetzt sind wir hier«, sagte ich. Mit schmerzenden Muskeln drehte ich mich im Sattel. Lethargische Ruhe lag über der Karawane. Alle zwanzig Schritt ritt ein Bewaffneter. Seine Aufgabe war, darauf zu achten, daß niemand zuviel Wasser trank und daß dieser Befehl eingehalten wurde. Wir besaßen noch mehr als die Hälfte unseres Wasservorrates. Um die Vorräte zu strecken, tranken die Menschen jeden Tropfen Milch, den Rinder, Ziegen, Eselinnen und Schafe hergaben. »Weiter!« befahl ich. Sie wußten nicht, was ich mit Rantiss ausgemacht hatte, und das war gut so. Nicht einmal Nianchre und Asyrta wußten dies. Wir ritten am Kadaver und den Geiern vorbei. Jede überflüssige Bewegung rief Bäche von Schweiß hervor, der augenblicklich verdunstete. Hinter uns kam die Karawane. Die Ochsen zogen nur unwillig die Wagen. Die Peitschen waren sinnlos geworden. Hin und wieder legten sich die Tiere hin und waren durch nichts zu bewegen, wieder aufzustehen. Unsere Spur, noch immer durch Wegsteine mit Pfeilen und Zeichen markiert, war von zusammengebrochenen Tiere gesäumt. Es ging nicht anders; wir schnitten ihnen die besten Fleischstücke aus den Körpern und ließen den Rest liegen. Rings um uns verschwammen die Horizonte in der Unendlichkeit. Unerträgliche Hitze, solange sich auch nur ein Bruchteil der Sonnenscheibe auf der Wüste zeigte, eine winzige Dämmerung, dann setzte eisige Kälte ein, meistens von dünnem Wind begleitet, der wie ein Messer in unsere Haut schnitt. Die Menschen bedeckten sich mit Körben und starren Häuten, um etwas Schatten zu haben. Es gab nur eintönige Geräusche: knirschende Felgen, knarrende Verbindungen von Holz und Leder, das schwerfällige Tappen der Ochsen. Nur die Esel schrien laut, denn nichts konnte sie davon abhalten, zu jeder Stunde des Tages zu
schreien. Nicht einmal die Köter unserer Karawane bellten. Es war keine freiwillige Ruhe, sondern das Schweigen kommenden Todes. Wieder brach ein Rind zusammen, fiel mit schlagenden Läufen zur Seite und verendete mit hervorquellender, blauer Zunge und verdrehten Augen. Die Hitze begann hundert Herzschläge nach Sonnenaufgang, und am späten Nachmittag war sie nicht geringer. Selbst Sprechen strengte an. Jeder Teilnehmer erhielt zu Mittag vier Becher Wasser. Es schmeckte warm, fade, abgestanden. Aber auf magische Weise verwandelte es sich in leichten Wein oder sprudelndes Quellwasser, je nach Vorstellungskraft. Die Tiere erhielten auch ihre Ration. In den Stunden nach dieser Unterbrechung kam so etwas wie eine bizarre Kraft über Menschen und Tiere. Die Ochsen reagierten plötzlich wieder auf die Peitsche, die Wagen schwankten und knarrten weiter. Wir hinterließen eine fast schnurgerade Linie. Bei jedem freiwilligen Aufenthalt wurde die Karawane leichter. Wir setzten die Wegesteine; die Wassergefäße leerten sich. Der Verstand begann sich zu verwirren. Wir sahen plötzlich ganz deutlich riesige Wasserflächen, von denen sich Schwärme rosabäuchiger Vögel erhoben. Dann mußten die Bewaffneten ihre gemarterten Pferde überanstrengen, um die Menschen zurückzutreiben, die auf diese Erscheinung losrannten und alles andere vergaßen. Dann wieder tauchten aus der vernichtenden Glast der kochenden Wüstenei grüne Erscheinungen wie Inseln auf. Uralte, dichtbelaubte Bäume mit gewaltigen Kronen, schwarze Schatten, eine Verheißung von Kühle und Wasser. Dann stutzten selbst wir an der Spitze des Zuges, aber wir schleppten uns weiter. Diejenigen, deren Willen stark war, brauchten die Nähe eines Freundes, hin und wieder ein aufmunterndes Wort, um nicht aufzugeben. Unsere Lippen waren trocken wie der Sand, über den wir ritten. Die Stimmen rasselten und knarrten, well die Drüsen keinen Speichel mehr absonderten. Unsere Mundhöhlen füllten sich mit Staub, der ätzte und Schmerzen hervorrief. Er setzte sich überall ab. An jeder Stelle, wo Stoff oder Leder die Haut berührte, bildeten sich im Lauf des Tages entzündete Stellen.
Unter dem Stoff und den Fellen schwitzten wir, Leder färbte sich dunkler. Die Menschen fingen zu stinken an; es war ein ungesunder, scharfer Geruch, der in unsere von Staub verstopften Nasen drang. Trotzdem arbeitete bei der Hälfte aller Teilnehmer ein seltsamer innerer Mechanismus. Wir ritten weiter, sahen nach Osten, tasteten uns sozusagen von einem Kadaver zum nächsten. Über den gefallenen Tieren kreisten die Geier. Sie waren Wegweiser und ständige Begleiter der Karawane. Schwarze Zeichen des strahlend blauen Himmels. Uns schwindelte, wir erlagen der tödlichen Faszination der gleichförmigen Bewegungen vor dem gnadenlos lichterfüllten Hintergrund. Die andere Hälfte der Karawanenangehörigen aber gehörte zu jenen Menschen, die wenig eigenen Antrieb hatten und geführt werden mußten. Dies bürdete uns eine zusätzliche Last der Verantwortung auf. Wir mußten immer wieder die Spitze der Karawane verlassen und die lange Reihe der Gefährte und Gruppen abreiten. Wir sammelten die liegengebliebenen Leute auf, zogen sie in die Sättel und schleppten sie zurück zur Karawane, luden sie auf einen Wagen ab, wo sich andere um sie kümmerten und ihnen Wasser oder sauer gewordene Milch einflößten. Einmal blieb ich zurück und sah die Spur die wir durch den Staub gezogen hatten. In Abständen von vierhundert Schritten lagen Kadaver. Soweit ich erkennen konnte, deuteten sie alle mit den Köpfen nach Osten, wie die Tiere, die unter den Männern Rantiss’ zusammengebrochen waren. Aber wir hatten nicht ein einziges Grab entdeckt, wenn auch unsere Karawane neun Menschen in aller Hast und Eile verscharrt hatte. Wer schlich langsamer? Wir oder die Stunden? Die strahlende, alles durchdringende Sonne schien im Gewölbe des Himmels festgeschweißt zu sein. Wir litten unsagbar, aber die meisten taten dies schweigend und hofften, es würde am nächsten Tag besser werden. Asyrta hing im Sattel wie ein Sack, über den Hals des Tieres gekrümmt, ritt mit fieberhaft aufgerissenen Augen und schwitzte. Die Karawane glitt weiter durch diese unglaubliche Einöde. Ich kannte viele Wüsten, aber diese Fläche aus Staub, Hitze, Einsamkeit und trostloser Weite bildete die absolute Ausnahme. Diese Wüste
war einmalig: einmalig tödlich. Die Sonne sank viel zu langsam hinter den Horizont. Die Hitze verschwand, als habe sie es niemals gegeben. An ihrer Stelle kam die Kälte wieder zu uns in diesem Land, das keinerlei Temperaturen speicherte. Wir begannen zu zittern. »Weiter! Weiter! Wenn wir lagern, sterben wir!« krächzte ich. Nianchre warf mir im letzten Licht einen langen Blick zu. Tantri und Skath wußten, was ich meinte. Solang wir in Bewegung waren, half uns der eigentümliche Prozeß, der den Menschen bisher hatte überleben lassen. Derselbe Vorgang, der an anderen Orten den Bau von gewaltigen Tempeln, Palästen und Bewässerungsanlagen in bewundernswerter Eile und Schönheit ermöglicht hatte, würde die Karawane über eine erstaunliche Entfernung bringen. »Er hat recht. Wir können im Reiten essen und trinken. Schlafen wir lieber in der Hitze!« »Dann«, lallte undeutlich Nianchre, »müssen einige von uns ans Ende des Zuges. Die anderen werden nicht so verrückt sein wie wir.« »Das übernehme ich mit meinen Männern.« Tantri röchelte und spuckte einen Brei aus Staub aus. »Danke«, sagte ich erschöpft. Hier an der Spitze gab es nur noch vier Menschen, deren Verstand nicht von den Ereignissen überstrapaziert worden war. Ich und Asyrta, Nianchre und jetzt Skath. Wir waren stolz darauf und verfluchten gleichzeitig unsere Stärke. Unsere Augen waren überall. Wir sahen die Männer im Sattel schwanken, ehe sie zu Boden fielen und von den halb blinder Tieren mitgeschleift wurden. Wir griffen ein, ehe sich kleine Dramen zu einer Katastrophe erweitern konnten. Jetzt orientierten wir uns an Kadavern und an Sternen. Der wolkige Mond beleuchtete die Wüste, sein irrsinniger bleicher Glanz vollendete, was die brütende Sonne nicht geschafft hatten. Von hinten hörten wir Schreie und das Knallen der Peitschen. Wie ein Zug Sterbender wälzte sich die Karawane weiter. Mein photographisch genauer Verstand sagte mir, daß es Mitternacht war. Wir hielten an. Die Menschen ließen sich zu Boden fallen, wo sie gerade standen. Sie waren so erschöpft, daß sie nicht ans Essen
dachten, und so schwach, daß man vielen von ihnen das Wasser und die Milch einflößen mußte. Wir waren verpflichtet, beispielhaft zu handeln. Wir wuschen mit nassen Fellstücken und Fetzen der Kleidung unseren Pferden die Nüstern und ließen die Tiere trinken. Wir achteten darauf, daß sie nur geringe Mengen Wasser in größeren Abständen zu sich nahmen. Wir tranken selbst, dann schliefen wir. Ich fand mich unter dem Standartenwagen wieder, auf einer Lage hastig hingeworfener Felle liegend, die Arme um Asyrta geschlungen. Wir waren zu erschöpft; wir hatten unsere Gesichter flüchtig gereinigt. Aber wir schliefen, zu unserer Überraschung weit über die Dämmerung und den Sonnenaufgang hinaus. Der Extrasinn wiederholte beschwörend: Du weißt genau, daß du jede Strapaze überstehen kannst. Selbst wenn alle um dich sterben – dein Überlebenspotential ist hoch, Dagorkämpfer! Am Mittag des vierten Tages verschlechterte die Hitze sogar die Funkbilder von Boreas so sehr, daß ich nicht erkannte, ob unsere Planungen aufgingen. Kurzum, ich wußte nicht, ob wir in fünfzig Stunden tot oder gerettet sein würden. Ich fühlte mich wie ein Leichnam, der noch nicht begriffen hatte, daß seine Zeit schon vorbei war. Eigentlich durften wir alle nicht mehr leben. Rinder und Esel hatte die Hitze umgebracht. Wir verteilten die zum Teil kostbaren Lasten auf die ReserveReitpferde und auf die überladenen Wagen. Die Karawane schlich weiter. Sechs Wegesteine waren gesetzt worden. Die Aufenthalte benutzten wir dazu, auch unsere Toten zu verscharren. Die Menschen schnitten den sterbenden Tieren die Halsschlagadern auf und tranken das kochendheiße Blut. Ich schwor mir, nicht nachzugeben, und wenn wir sie alle blutig schlagen mußten oder die Wagen selbst zogen. Wir sahen vor unseren gequälten Augen nichts anderes als Gelb, das unter den Pfeilen des Sonnenlichts erschüttert wurde und in Wellenlinien tanzte. Jetzt ritt ich mit Asyrta an der Spitze der Karawane. Alle Männer, die bisher bei uns gewesen waren, folgten entlang des auseinandergezogenen Zuges. Sie handhabten Speer und Peitsche, um die anderen nach Osten zu treiben, mit brutaler
Gewalt vorwärts zu schlagen. Wir tranken unser letztes Wasser zwei oder drei Stunden nach dem höchsten Sonnenstand. Jetzt würde es keinen Aufenthalt mehr geben – die Alternative für die Schinderei war Tod für alle Menschen und alle Tiere und das endgültige Scheitern meiner Mission. Der letzte Punkt berührte mich nicht sonderlich, als ich den Becher leertrank und zurückgab. Aber das Scheitern nach all den Kämpfen und Qualen, den immer wieder begonnenen Versuchen, uns trotz allem aufzuraffen das würde mich umbringen. Längst dachte ich nicht mehr an ES und seinen Auftrag. »Atlan!« flüsterte undeutlich Asyrta neben mir. Ich stierte in ihre Augen. Für mich gab es nur noch eine einzige Hoffnung. Die Rettung hing von einem anderen Menschen ab. Bisher hatte ich mich, rund sechs Jahrtausende lang, nur auf mich verlassen müssen. Zum erstenmal hing mein eigenes Leben – und nur das war wirklich wichtig, wie ES immer wieder betonte – von der Zuverlässigkeit eines anderen Menschen ab. »Wann sind wir am Fuß?« fragte Asyrta. Sie war besser und widerstandsfähiger als zehn gewöhnliche Männer, aber jetzt war auch sie von Todesangst geschüttelt. »In sechsunddreißig Stunden«, erwiderte ich. Dies war die exakte Wahrheit mit einigen Stunden Spielraum. »Werden wir sterben?« »Nein!« Ich verbrauchte meinen letzten Rest an eigener Überzeugung. Wir würden nicht sterben. Nicht alle. Der Marsch war kein bewußtes Gehen oder Reiten mehr, sondern Fortbewegung aller, die noch einen Muskel bewegen konnten, in Trance oder Raserei. Spät am Nachmittag waren Asyrta und ich kaum mehr fähig, im Sattel zu sitzen. Alle drei Stunden hatten wir die Pferde gewechselt, die inzwischen einige Schalen voll Milch getrunken hatten, well es keinen Tropfen Wasser mehr gab. Ein gräßliches Jucken hatte mich überfallen, gegen das auch der Zellaktivator nicht mehr half. Meine Achselhöhlen, die Lenden und besonders die Füße fühlten sich an, als befänden sich Sandflöhe und noch exotischere Insekten unter der Haut. Nie zuvor in meinem Leben war der Zwang so groß gewesen, die Haut mit dem Dolch aufzureißen. Aber wir mußten weiterreiten. Der Versuch, das
Jucken zu ignorieren verbrauchte meine letzten Reserven und war schlimmer als der Durst unter dem wir litten. Den Hunger, harte Realität, spürten wir nicht. Unsere Hirne spielten immer wieder jene Szenen durch, in denen wir Wasser erreichten, mit letzter Kraft hineinrannten bis zu den Schultern, uns abkühlten und riesige Mengen tranken. Zwischen Nachmittag und Sonnenuntergang erreichte ein hohes Winseln meine Ohren. Mühsam drehte ich mich im Sattel um und sah wie aus dem Rachen und den Ohren eines Geparden eine heilgraue Rauchsäule stieg. Die Mechanik versagt. Er wird detonieren! zischte das Extrahirn. Ich rief, so laut ich es vermochte: »Hinaus in die Wüste, schnell!« Das staubbedeckte Tier, ein Bild gefährlicher Schönheit und Schnelligkeit, stand regungslos, mit aufgerissenem Fell, dann warf es sich herum und raste in wildem Sprunggalopp hinaus in die Einöde. Fast niemand hatte den Zwischenfall bemerkt, denn alle trotteten stumpfsinnig vor sich hin und waren betäubt von Hitze, grellem Licht und Staub. Kurze Zeit später gab es weit entfernt eine schmetternde Detonation; ich hatte den Blitz der Explosion kurz vorher gesehen. Langsam verhüllte eine runde Staubwolke den Ort der Vernichtung. Ein Schwarm Geier flog plötzlich vor uns hoch und stob schwerfällig nach allen Seiten. Als wir näherkamen, stach mörderischer Gestank in unsere Nasen. Wir hielten an. »Ein Mensch, zweifellos«, murmelte Nianchre erschüttert. Arme und Beine waren sternförmig ausgestreckt. Die Gesichtszüge des Mannes, der seiner Waffen beraubt worden war, hatten die Geier weggehackt. Der Körper war teilweise zerrissen von den Schnäbeln der Aasfresser, zum anderen hatten Hitze und Sonne die letzte Spur Feuchtigkeit verdampft. Er sah aus wie eine gebratene Mumie. An seinem Fleischlosen Handgelenk befand sich, nunmehr viel zu groß, ein mehrgliedriges Bronzearmband. Wer war er? Einer von Rantiss’ Truppe? Ich glaubte, dies ausschließen zu können. War er vor Durst gestorben oder hatten seine Kameraden ihn erschlagen? Wortlos trieben wir unsere erschöpften Pferde an.
Die nächste Krise kam mit dem Beginn der Dunkelheit. Aber wenn wir stehenblieben, war alles verloren. Dann starben wir alle. So machten wir weiter, trotzig und eigensinnig. Ich versuchte, in der klammen Kälte die Schritte oder die keuchenden Atemstöße meines Pferdes zu zählen. Ich stellte mir schreckliche und dramatische Szenen vor: Bilder der Gefahren, an die ich mich erinnerte, an Kämpfe, an Liebe mit den Geschöpfen dieses unbarmherzigen Planeten. Ich stieß immer wieder an eine unsichtbare Mauer mit wenigen Fenstern, die begrenzten Ausblick erlaubten. Meine Erinnerungen waren und blieben in der Qual des trostlosen Marsches schemenhaft und ungeordnet. Ich biß in meine Lippen, versuchte, Speichel zu erzeugen, beschäftigte mich mit sinnlosen Dingen. Nichts half für längere Zeit. Wahre und eingebildete Schmerzen mündeten schließlich in grausame Erschöpfung. So erging es allen anderen, nicht nur der Handvoll Reiter an der Spitze dieses jämmerlichen Zuges, der sich im silbernen Halbdunkel der mondbeschienenen Wüste dahinschleppte. »Morgen früh werden… viele von uns gestorben sein«, lallte Nianchre. Ich schwieg lange und antwortete schließlich: »Einige ja. Es… es ging nicht anders.« Wir quälten einzelne Worte hervor, als wären sie zwischen den Zähnen zu unförmigen Brocken aufgequollen. »Wie weit ist es noch?« »Morgen mittag«, sagte ich. »Ich weiß es, der Vogel sagte es mir.« Noch besaß ich einen winzigen Trumpf. Alles hing davon ab, ob Boreas sich in derjenigen Position befand, in die ich ihn vor Stunden beordert haste. »Morgen mittag? Das ist zu spät. Sie werden alle verdurstet sein«, murmelte gebrochen Asyrta. »Nein!« Ich hielt das Pferd an. Ich ließ mich aus dem Sattel fallen und hielt mich an einer Schlaufe fest. Meine Knie zitterten, ein merkwürdiger Frost schüttelte meinen Körper. Ich starrte geradeaus nach Osten und wußte, daß ich jetzt die ersten, tödlichen Halluzinationen haste. Dort, genau an der Linie, an der die Ebene der mondlichterfüllten Halbwüste in den tiefschwarzen Himmel
voller Sterne überging, sah ich eine riesige Staubwolke. Sie wurde durch das Mondlicht erst deutlich und wallte wie Dampf silbern auf. Ein Anfall von Qual packte und beutelte mich. Ich hatte Angst. Ich war vollkommen allein, viele Lichtjahre weit von Arkon entfernt, sämtlichen Zufälligkeiten dieser gräßlichen Welt ausgeliefert, ohne die geringste Möglichkeit, mich zu wehren. Und dazu noch willenloses Werkzeug dieser unfaßbaren Gemeinschaftsintelligenz ES. Diese verfluchte kosmische Kreatur, die andere Menschen und mich quer über einen Planeten jagte, nur well ihm die Kultur dieser Barbaren aus irgendeinem Grund wichtig war… meine Gedanken rissen ab. Der Logiksektor unterbrach scharf: Sieh genau hin! Ich blinzelte und wischte Staub und getrocknetes Sekret aus den Augen. Die silberne Staubwolke kam näher. Ich warf einen schnellen Blick auf die Reiter vor mir und stieg ächzend auf den Rücken des Pferdes, das jeden Augenblick unter mir zusammenzubrechen drohte. Es setzte sich willig in Bewegung. Mein Schecke, den ich seit zwei Jahren ritt. Ein Tier mit dem Mut einer kämpfenden Löwin. Der Gepard, der sich in meiner Nähe auf die Hinterkeulen gesetzt hatte, stand auf und schüttelte sich in einer Staubwolke. Der Hengst trottete halb besinnungslos in die Richtung der anderen Pferde und Reiter. Ich wurde unsicher und blinzelte abermals. Aber die Staubwolke blieb. Ich bildete mir sogar ein, ein rumpelndes, trommelndes Geräusch zu hören. Der Hengst stellte die Ohren auf und drehte sie nach vorn. Das ist Realität. Du hast keine Wahnvorstellungen, Arkonide, dröhnte das Extrahirn. Das Tier unter meinen Schenkeln schien plötzlich seine unwiderruflich letzten Kräfte zu mobilisieren. Es wurde unruhig und begann zu traben. Es stöhnte und keuchte, aber es trabte! Es zog die Luft durch die Nüstern und stieß sie schnaubend wieder aus. Wasser! Ich erreichte die Gruppe bei Nianchre. Sie sahen sich nicht einmal nach mir oder nach dem ersten Wagen der Karawane um, die noch immer in Bewegung war. Sie blickten die näher kommende Wolke an. Jetzt lösten sich, schemenhaft im Geisterlicht des Mondes, dunkle Punkte aus der Wolke stießen
keilförmig vor, zuerst nur einer, dann mehrere nebeneinander, schließlich eine kleine Kavalkade. Ich hörte undeutlich hinter mir ein wirres Geschrei. Vor der Wolke aus Staub, die sich nach beiden Seiten ausbreitete, zugleich niedriger wurde, erkannten wir Pferde und Reiter. Zwei Reiter wurden schneller und stoben wie Rasende heran. Ihre Pferde gaben das letzte her. Zitternd vor Kälte, Durst und Erregung kauerte ich im Sattel. Das Tier geriet in merkwürdige Aufregung. Roch es Wasser, witterte es Rettung? Wir sahen weit und verhältnismäßig gut im Mondlicht. Die Hufgeräusche und jetzt auch schrille anfeuernde Schreie wurden lauter und deutlicher. Die Menschen der Karawane wußten nicht, was eigentlich geschah, vergaßen aber ebenfalls Müdigkeit und Erschöpfung. Die zwei Reiter donnerten, weit aus den Sätteln gebeugt, auf unsere Gruppe zu und rissen ihre Pferde dicht vor uns zurück. Die Tiere stemmten die Vorderhufe in den Boden und schlitterten auf den Hinterläufen ein ganzes Stück, bis sie aufsprangen und sich schüttelten. »Hier sind wir, Atlan!« rief Rantiss laut. »Dreißig Reiter, alle Reservetiere frisch und ausgeruht. Und alle mit Wasserschläuchen beladen. Die Männer wissen, was zu tun ist.« »Wir werden die Karawane mit uns nehmen, wenn wir zurückreiten«, versicherte Alaca lachend. »Euch geht es nicht gut, wie ich sehe.« Dann donnerte der Rest der 120 Tiere heran. Einige blieben bei uns stehen, die Schläuche flogen durch die Luft, und wir dachten an nichts anderes mehr, als zu trinken und unseren Pferden genügend Wasser zu saufen zu geben. Also hatte Rantiss seine Männer so gründlich geschult wie immer. Sie blieben an verschiedenen Stellen der langgezogenen Reihe von Wagen und Lasttieren stehen, hielten die Packpferde an, verteilten an die Soldaten das Wasser. Kupferkessel wurden von den Wagen gerissen und gefüllt. Die Tiere brauchten nicht herangeführt zu werden; sie kamen von selbst. Ochsen wurden blitzschnell ausgeschirrt. Pferde, die keine Wasserlasten trugen, kamen in die Joche. Mit dem letzten Wasser aus einem Schlauch reinigte ich mein Gesicht und blies die verstopfte Nase leer.
»Wir sind vier Stunden geritten!« Rantiss hielt für Asyrta den gluckernden Wasserschlauch. Das Wasser war tatsächlich eiskalt, abgekühlt durch Verdunstung während des schnellen Rittes. »Alles haben wir bedacht.« In diesem Moment ratterte polternd und schlingernd, von acht Pferden gezogen, der Führungswagen der Karawane an uns vorbei nach Osten. Unsere Pferde drängten sich um zwei Kessel. Die erste größere Mannschaft ritt auf den Pferden der Retter vorbei. »Ihr hättet keine Stunde später kommen dürfen!« sagte ich hustend und immer wieder Staubreste ausspuckend. Es war erstaunlich, was diese Wassermenge ausmachte, denn plötzlich erwachten alle unsere Kräfte. Wir spürten starker Hunger. Unsere Mägen, in denen das Wasser hörbar gluckerte, knurrten laut. »Wir haben den Anbruch der Nacht abgewartet. Unsere Pferde bleiben so länger leistungsfähig.« Rantiss umarmte seine Unterführer. Drei Wagen, voll mit Kranken und Erschöpften, fuhren langsam an unserer Gruppe vorbei. Ein Zug Lastpferde, ein zweiter, bestehend aus Eseln, wurde vorbeigetrieben. Die Tiere hatten genügend getrunken. Für sie stand die Rettung fest. »Das bedeutet, daß wir noch vor Sonnenaufgang am Wasser sind?« fragte Asyrta laut. Sie packte aus einer Satteltasche Trockenfleisch aus. Wir kauten das zähe Zeug, es machte uns nichts aus. »Nicht alle. Wir versuchen, unsere Tiere zurückzubringen und die Schläuche wieder zu füllen. Reitet weiter, wir treffen uns auf alle Fälle.« Alaca goß Wasser über unsere Köpfe. Es war alles auf das beste ausgerechnet. Ihr Plan war aufgegangen. Aber unser Versuch hatte beinahe tödlich für die gesamte Karawane geendet. Wir verteilten zwei pralle Schläuche voll Wasser, leerten ein paar Becher und ritten weiter, nachdem wir den Tieren Maul, Nüstern, Augen und Ohren gewaschen hatten. Wieder polterten und knirschten beladene Wagen an uns vorbei. Tiere schrien aufgeregt. Aber sämtliche Laute die jetzt kurz vor Mitternacht, in dieser Halbwüste ertönten, waren keine Geräusche des Schreckens mehr, sondern Äußerungen der Hoffnung und wieder erwachtem Leben.
Zwei Drittel unserer Gruppe stiegen auf frische Tiere um und ritten los die müden Tiere hinter sich herziehend. Mehrmals wurden wir von Reitern und Pferden überholt, die in ihrer Arbeit fortfuhren, auch den Rest der Karawane zu retten. Der Weg führte zwischen staubigen Grasbüscheln und Farnbüschen abwärts. Wir ritten über den breiten Streifen aus aufgewühltem Boden, der immer feuchter wurde, in die Richtung des Flusses. Der Mond sank unter den Horizont, die Sterne verschwanden einer nach dem anderen. Je tiefer wir kamen, desto mehr grüne Pflanzen umgaben uns. Wir waren zweifellos in der Nähe des Wassers, wenn wir uns auch erst am Rand eines breiten, flachen Fußbetts befanden. Vor uns liefen Räderspuren schräg abwärts. »Nun sind wir dort, wohin wir wollten, Atlan«, sagte AsyrtaMaraye leise »Wir stoßen in neues Land vor.« »Es wird ebenso leer sein wie die Länder, durch die wir kamen«, sagte ich. »Die Karawane wird sich auflösen, jeden Tag wird sie kleiner werden.« »Und ich sehne mich, bald dieses Land zu verlassen«, meinte sie. »Ich auch, Geliebte«, gestand ich ruhig. Vor kurzer Zeit war die Hälfte der Reiter mit vielen schwerbeladenen Pferden an uns vorbei wieder nach Westen geritten, um den Rest der Karawane und die zusammengeschrumpften Herden möglichst schnell hierher zu bringen. Diejenigen, die in der Nacht mit Wagen oder auf Pferden weggeschafft worden waren, befanden sich bereits dort vorn im Lager, das Rantiss angelegt haste. Wir sahen Lichtschein; Feuer und Fackeln. »Und wir gehen dorthin zurück?« fragte Asyrta mit skeptischem Lächeln und deutete nach Westen. Ich wußte, wovon sie träumte. Es war auch mein Traum. »Zuerst allerdings werden wir uns erholen. Rantiss hat einige kleine Siedlungen gefunden.« »Ich weiß, daß Erholung für uns wichtig ist.« Asyrta lehnte sich aus dem Sattel und nahm meine Hand. Nach zwei Stunden, kurz nach Sonnenaufgang, erreichten wir das Lager auf einem leicht erhöhten Punkt, einer Art Bank aus Kies und Lehm,
der aus dem Trog des leeren, überaus grünen Fußbetts hervorwuchs. Überall sahen wir Teile unserer Herden; Ochsen, Esel und Pferde, und Lämmer, die auf den Wagen mitgenommen worden waren. Vor uns stiegen fast senkrecht die grauen Fäden von Rauch in die Luft. Wieder einmal hatte Rantiss bewiesen, welch hervorragenden Verstand er besaß und daß seine Befehle ausgeführt wurden. Sogar meine Jurte war aufgebaut worden, neben dem überstaubten Wagen Nianchres. Ich kümmerte mich um nichts mehr. Neben Asyrta ritt ich auf das Lager zu und gab mich in den nächsten zwei Tagen den Wonnen der Erholung hin. Wir badeten im kalten Wasser des Flusses, seiften unsere Haare ein, ölten die Haut, behandelten die Wunden, ließen uns Essen bringen, gaben unsere schmutzigen und mitgenommenen Kleider und Stiefel den Sklaven zum Waschen und Ausbessern, und einen halben Tag später, nachdem Asyrta und ich einen Schlaftrunk genommen hatten, schliefen wir fünfzehn Stunden ununterbrochen. Wir hatten den Weg gefunden. Es war uns geglückt, eine gewaltige Straße zu ziehen, die von einem Gebiet hinausführte, das Heimat einiger hoher Kulturen war. Auf dem unregelmäßigen Netz der Karawanenstraßen fand dort ein reger Austausch von Menschen Ideen und Material statt. Die Typen der Menschen veränderten sich von Westen nach Osten. Zuerst waren sie schlank, langgliedrig und braunhaarig, oft hellhäutig oder sogar blond. Je weiter wir reisten, desto kleinwüchsiger wurden die Angehörigen der Stämme. Ihr Haar schien von Mond zu Mond des Reiseweges dunkler zu werden; hier trafen wir stämmige Menschen mit leicht gelblicher Haut, dunklen Augen und dünnen, glatten, blauschwarzen Haaren: Jäger und Fischer, einfache Ackerbauern, aber keine großartigen Handwerker. Vielleicht gelang es der Spur, die wir gezogen hatten, die Bewohner der Steppe mit den Kulturen des Westens und mit den Bewohnern der östlichen Gebiete zusammenzubringen, die nomadisierenden Stämme der Steppen und Gebirgsränder mit den kleinen Siedlergruppen. Jedenfalls würde ich dafür sorgen, daß unsere Kultur und unsere Fähigkeiten, zwei Jahre fang bewiesen und weiter
entwickelt, sich hier ausbreiten konnten. Die Händler wurden die Straße sehr bald benutzen. Nianchre saß mir gegenüber und lächelte. Da er nicht gerade sehr häufig zu lächeln pflegte, musterte ich ihn voller Neugierde. Sieben Tage befanden wir uns jetzt hier, und die Reiter hatten berichtet, daß sich unsere Herden näherten, jenseits des anderen Ufers. »Du scheinst Grund zum Lächeln zu haben«, sagte ich und betrachtete seine Rollen und Schreibtafeln. »Nachdem, was wir alles hinter uns haben«, erwiderte er nachdenklich, »ist jeder weitere Tag, an dem die Sonne scheint, ein Grund zum Lächeln. Außerdem gibt es etliche Fragen zu klären.« »Wobei ich nicht alle Antworten habe. Was gibt es?« Nianchre wies auf die Kolonnen, die er sorgfältig nebeneinander geschrieben und addiert haste. »Wir haben alle Werte, die wir mit auf den Weg nahmen, durch geschicktes Tauschen und Handeln verzehnfacht. Wenn ich den Preis rechne, den jene Dinge in Assur wert sind, so stimmt diese Zahl.« »Es freut mich. Aber es ist nicht meine Aufgabe«, sagte ich. »Rantiss wird die kleine Karawane zurück nach Sonnenuntergang führen.« Der Romet, dessen geschorener Kopf makellos glänzte, stimmte zu. »Ich halte es für meine Pflicht, es dir zu sagen. Wir werden diese Werte den Kaufleuten abliefern, wie es in den Verträgen stand. Nun zu denjenigen, die mit uns gegangen sind.« Ich sah aus dem Eingang der Jurte hinaus auf die Szenen unseres Lagers. Gruppen, zusammengeführt durch Sympathie oder Familienzugehörigkeit, bildeten sich langsam und scharten sich um diejenigen, die so etwas wie ihre Familienfürsten waren. »Du weißt, daß alle Sklaven die Freiheit bekommen, sobald wir hier sind. Sie werden trotzdem meist mit ihren vorherigen Herren gehen.« Wieder senkte er den Kopf und zog ein anderes Pergament hervor.
»Fünf kleine Gruppen von Handwerkern, Siedlern, einigen Jägern, mit Vieh und Werkzeug, sind davongezogen. Sie haben Land genommen in der Nähe der kleinen Stämme.« »So sollte es sein«, sagte ich. »Recht so!« Das Land weit im Umkreis war bergig, mit niedrigen Wäldern, voller Büsche und mit einer tiefen Schicht Ablagerungen bedeckt, die tiefen, fruchtbaren Boden bildeten. Alles, was man säte und pflegte, würde gedeihen. So wie der Hapi würde auch jedes Frühjahr dieser Fuß sein gelbes, schlammiges Wasser über das Land ausbreiten. »Die Hirten haben die Herden vermehrt und vergrößert. Viel Vieh ist in der Wüste verendet!« Nianchre war plötzlich wieder der unbestechliche Schreiber und Rechner. »Es sind auch viele Menschen gestorben.« »Aber ihrer mehr wurden geboren.« Ein Teil der Menschen, des Viehs und der Gerätschaften zerstreute sich am Mittellauf des Flusses in alle Richtungen. Der Rest würde langsam den Fuß abwärts ziehen. Jeder blieb, wo es ihm gefiel. »Was werdet ihr tun, Asyrta und du, Herr Atlan?« erkundigte er sich nach einem Augenblick nachdenklichen Schweigens. »Das kann ich dir nicht genau sagen. Ich denke, ich werde eines Tages aus der Karawane verschwunden sein. Die Zimmerleute, Freigelassenen oder Wagenlenker werden mich nicht vermissen.« Ich sah sie jetzt schon vor mir, die ständig schrumpfenden Herden und Menschengruppen, die Reiter um Rantiss – abgesehen von den Männern, die bei ihm blieben und den langen Weg in die entgegengesetzte Richtung gehen würden, so am Abend ihnen die Sonne ins Gesicht scheinen würde. Sehr ernst antwortete der Mann aus No-Amun: »Alle werden dich nicht vermissen. Wohl aber Rantiss, Tantri und Alaca. Und ebenso Skath und – ich auch.« Wenn ich überschlägig rechnete, so würden hier noch viele Jahre vergehen, bis sich die Menschen der weit verstreuten Siedlungen zu einer gemeinsamen Kultur zusammenfinden würden. Ich hatte hier nichts mehr zu suchen. Hoffentlich entließ ES mich – schließlich
hatte ich sein Spiel von Anfang bis zum Ende durchgehalten. Ich schenkte Nianchre ein ehrliches, warmes Lächeln. »Bevor ich gehe, werde ich von allen, die mir ans Herz gewachsen sind, langen Abschied nehmen. Ich habe jedes Versprechen gehalten erinnere dich!« Bedächtig route er ein Binsenmark-Schreibblatt zusammen und erklärte feierlich: »Daran hat niemals einer der zweieinhalbtausend Menschen gezweifelt. Nur einige Reiter sind mürrisch.« »Warum?« »Sie dachten, daß sie hier prunkvolle Reiche finden, in denen sie Herrscher werden. Statt dessen gibt es hier nur Siedlungen von zweihundert Köpfen, oftmals kleiner.« »Menschen vergessen schnell. Sie werden zu guten Herrschern über kleine Gemeinschaften werden«, vertröstete ich ihn. »Du gehst gern mit Rantiss zurück?« »Ja. Mit ihm, seinen Reitern und den gefüllten Wagen.« Wir lachten gleichzeitig auf. »Den Weg kennt ihr inzwischen«, sagte ich. »Und je schneller ihr seid, desto ungefährlicher ist er.« »Du sagst es.« Er stand auf und legte mir die Hand auf die Schulter. Er sah mich mit großen, klugen Augen eine Zeitlang schweigend an und sagte dann mit überraschender Weisheit: »Wir alle, bis hinunter zum jüngsten Hirten, haben etwas Gewaltiges unternommen. Ich kenne einen großen Teil der Welt; wenn es stimmt, daß die Welt ewig ist und, wie du sagst, ihre Oberfläche ohne wirkliche Grenzen, dann werden kommende Generationen erkennen, was diese Straße wirklich bedeutet. Nur so können sich die Welten verbinden.« »Es waren in Wirklichkeit nur eine Handvoll Männer und ein junges Mädchen, die dies vollbracht haben. Nicht mehr als zwei Dutzend. Ihr Wille hat diese vielen Menschen hierher getrieben.« »Du hast recht, Atlan. Wir sehen uns morgen.« Wir schüttelten uns die Hände. Er ging durchs rege Lagertreiben zurück zu seinem Wagen. Der Wimpel bewegte sich lustlos im
trägen Wind, der die Gräser aufrauschen ließ. Mein Gepard lag neben dem Eingang und schaute Nianchre nach. Boreas hockte auf einer Zeltstange. Zehn Tage weiter flußabwärts, im Lager der geschrumpften Karawane, saßen wir alle um einen riesigen Haufen weißer Glut. Ich hätte einen Becher Wein trinken wollen, aber der nächste Krug Wein war ein Fünftel des Planetenumfangs entfernt. »Ich werde bald gehen«, bemerkte ich plötzlich. Der Logiksektor flüsterte verwirrt: Woher weißt du das mit solcher Bestimmtheit? Rantiss drehte sich ruckartig herum. »Höre ich recht? Ich habe dich schon beobachtet, Freund. Du erleichterst dein Gepäck!« Es stimmte, was er sagte. Alle Gegenstände, die ich nicht mehr brauchte, schenkte ich Frauen und Männern, für die sie wichtig sein konnten. Ich behielt nur meine Waffen, von den Maschinen der Tiefseekuppel angefertigt, und die wichtigsten Artikel der Ausrüstung. Was wir besaßen, Asyrta und ich, konnten unsere Pferde tragen. Auch Alaca besaß Dinge, Schmuck etwa, der bisher in meinem Besitz gewesen war. Daher wußte es Rantiss vermutlich. »Ja. Ich weiß nicht genau, wenn es sein wird, aber wir sollten diesen schönen Abend zu einem Abschied machen«, sagte ich. »Ohne Atlan«, meinte Alaca, die in den Armen des Reiteranführers lag, »das kann ich mir nicht vorstellen. Bisher gab es ihn immer und überall, zu jeder Stunde sah man ihn. Und jetzt, plötzlich… nein, Atlan, du mußt bei uns bleiben.« Asyrta-Maraye schwieg. Wir hatten dieses Thema oft und lange besprochen. Vor ihr hatte ich keine Geheimnisse. Ich hatte ihr nur einige Dinge nicht berichtet, mit denen sie nichts anfangen konnte. Lachend wandte ich mich an Rantiss’ einstiges Findelkind: »Du wirst überrascht sein, Königin des Sattels, wie schnell ihr mich vergessen werdet.« Nach kurzer Überlegung korrigierte ich mich. »Nein. Vergessen werdet ihr mich nicht so schnell. Aber ihr werdet jedes Problem ohne mich ebensogut lösen wie vorher.« »Das bezweifle ich. Du warst der beste Mann auf der Erde und auf dem Pferderücken, den ich je gekannt habe. Er hätte uns noch
schneller den Sieg über die Siedlung gebracht, nicht wahr, Tantri?« grollte Skath. »Das glaube ich!« stimmte Skath zu. Vier der besten Pferde, darunter mein gescheckter Hengst, stande ständig bereit, wohlgenährt und hervorragend gepflegt. Selbst der Verstand der schönen Romet, der kosmische Ebenen in der Größenordnung von ES nicht begriff, war mit einer wundersamen Verwandlung des Ortes einverstanden. Ihr Wunsch, endlich Sandstrand, Seewasser und Sonne unter Palmen zu erleben, erleichterte das Verständnis eines Wunders. »Freunde«, sagte ich leise, »wenn wir Wein hätten oder Bier, würden wir ein riesiges Fest mit Musikern, tanzenden Sklavinnen und Reiterspielen feiern. Aber mir ist nach Stille zumute. Ich sage euch, daß ich weggehen werde. Wenn alle schlafen, mitten in der Nacht.« Ich sah in verstörte Gesichter. Sie verstanden mich nicht, well sie die Gesetzmäßigkeiten nicht kannten, die ES schuf. Das Experiment war beendet, der Protagonist hatte zu verschwinden. Ich hatte nur die aberwitzige Hoffnung, daß ES mir viele ruhige Stunden in Asyrtas Armen gönnte. Solcher spuckte ins Feuer, dann fragte sie vorwurfsvoll: »Und wer, Atlan, wird für euch kochen? Wer wird seine Kräuter über deinen Braten streuen?« Ich war plötzlich unmäßig gerührt. Solcher war auf ihre Art wohl die bemerkenswerteste Frau der Wunderbaren Karawane. Ich drückte ihren Arm und sagte leise: »Wir werden sehr leiden, Solcher. Es wird eine böse, hungrige Zeit werden ohne deine vielfältigen Künste.« Der Abend endete ruhig und versöhnlich. Sie begriffen, daß sie nichts ändern konnten. Einzig und allein Rantiss sah mich immer wieder an. Als sei er sicher, mich wiederzusehen. Oder als glaubte er mit mir an anderen Orten andere Abenteuer bestanden zu haben. Unsinn, wie ich wußte, denn er war erst viel später zur Karawane gestoßen. Oder spielte mir schon wieder die manipulierte Erinnerung einen Streich?
Der Vollmond versteckte sich hinter dem Horizont, die Sterne gaben zu dieser Stunde nicht genug Licht. Weder Asyrta-Maraye noch ich waren müde. Wir tranken kühles Wasser aus herrlichen Keramikschalen, die aus der nahegelegenen Siedlung stammten. Plötzlich zuckte Asyrta an meiner Schulter zusammen und flüsterte: »Atlan, Liebster – ganz tief in mir fühle ich Unruhe. Es wird etwas Furchtbares geschehen. Komm, schnell, ins Zelt.« Ich hatte durch schmerzhafte Erkenntnisse lernen müssen, solche Gefühle zu beachten, stand auf und zog sie in die Höhe. Im Zelt war unser gesamtes Gepäck bereit zum Aufbruch. Wir setzten uns in den weit offenen Eingang und lauschten auf die spätabendlichen Geräusche des Karawanenlagers. Unvermittelt, in unheimlicher Schnelligkeit und Lautlosigkeit, begann sich um uns ein verändertes schwarzes Universum zu drehen: ein Kosmos fremdartiger Gedanken. Ich richtete mich auf, am ganzen Körper zitternd und plötzlich in kalten Schweiß gebadet. Undurchdringliche Einsamkeit umgab mich, ich hörte ein Rauschen und vermißte die Laute unserer kappadokischen Esel und das Bellen der Lagerhunde. Großartiges, undurchdringliches Schweigen stockte rings um mich. Ich hatte eine völlig neue Welt betreten, tastete um mich herum und flüsterte: »Asyrta? Wo bist du? Ich sehe nichts…« Ein Kern schmerzhafter, schwacher Helligkeit bildete sich im tiefen Halbdunkel. Das Rauschen kam und ging, wurde lauter und schwächer. Der Extrasinn versuchte mich zu beruhigen: Brandung, Arkonide! Keine Panik! Das kalte Entsetzen wich, als ich den ewigen Atem des Meeres wiedererkannte, zugleich das Zirpen von Grillen. Ich stand auf und machte mit zitternden Knien einige Schritte auf die Helligkeit zu. Ich sah, daß ich in einer großen, trockenen Höhle war. Als ich aus der felsigen Öffnung schwankte, sah ich einen hellen Sandstrand im Licht der frühen Nachmittagssonne; der Logiksektor wisperte: mehr als sieben Stunden weiter westlich, Arkonide! Ich roch wohlbekannte Düfte. Salzwasser, ätherische Ole der schütteren, hartblättrigen Gewächse, einen Hauch modernder Algen und trocknender Fische. Augenblicklich erkannte ich die Küste des Binnenmeeres wieder, aus deren Nähe wir aufgebrochen waren. Wo
war Asyrta? Im selben Augenblick dröhnte ein donnerndes Gelächter aus der Höhle, erzeugte Echos, route über den leeren Strand und verlor sich über den Myriaden blitzender Sonnenreflexe auf den Wellen. Das Erkennungs-Lachen meines Sukkubus schmerzte in meinem Schädel; ich hörte seine Stimme und verstand. »Richtig, Arkonide Atlan! Du wirst begreifen, daß ES seine Helfer nicht nur schindet und in Gefahren verwickelt, sondern auch belohnt. Du hast deine Aufgabe ebenso glänzend erledigt wie deine bemerkenswerten Freunde; sie überstehen auch die Gefahren des Rückweges. Die Karawane der Wunder schuf eine Straße für Jahrhunderte, die viele Pfade, Wege und Teile anderer, unveränderlicher Passagen in sich vereinigt wie ein Strom seine Nebenflüsse. Rantiss und Nianchre werden ihren Leuten berichten, welch gutes Land es entlang der Straße gibt unendlich viel Raum für freie, fleißige Menschen. Die Leute von Kanesh entdecken bald die Steppenvölker mitsamt deren makabren Riten. Jene, denen ihr das Reiten mit Sattel und Steigbügel gelehrt habt, züchten Pferde und legen auf deren Rücken große Entfernungen zurück. Ich werde Alaca und Rantiss mächtig und reich machen. Du wirst sie nie wiedersehen, Atlan.« Das Gelächter, das nur in meinem Verstand existierte, war leiser und klang nur mäßig sarkastisch. »Abermals waren wir zwei tugendsame Wächter dieser Welt, Atlan. Genieße die Tage und Nächte des späten Frühjahres und Sommers in dieser namenlosen Bucht einer namenlosen Insel. Eines fernen Tages werde ich dich sicher in dein kaltes Versteck bringen und, wenn es nötig wird, wieder aufwecken, selbst wenn du selbst beschlossen haben solltest, zu deinen Barbaren zu gehen. Beha-Ti, die Unvergleichliche, und Dercone sind längst Asche; Asyrta-Maraye, die Schöne, wird deine Stunden ergiebig füllen. Die Höhle ist fein ausgestattet, Boreas zerbarst in einer Detonation, der zweite Gepard ist im Tiefseeversteck, Ricos Spionsonden werden euch schützen. Nicht alle Entwicklungen kann ich auf Wanderer nachspielen. Aber entlang des Flusses des schlammigen Wassers wird in wenigen Jahrhunderten eine gewaltige Kultur entstehen, deren Erscheinungsbild selbst einem erfahrenen Kristallprinzen und Kosmokolonisator exotisch erscheinen mag. Selbst die Stämme durch landschaftliche Hindernisse getrennt, finden zueinander. Zwar ist das Lebensschema aller Barbaren gleich, aber immer wieder bringen sie fertig, selbst mich durch bizarre Variationen zu verblüffen. Nicht anders ergeht es dir.«
Ich ließ den intellektuellen Nachhall seiner Erklärung ausklingen und formte, mühsam, meine Gedanken in laute Worte. »Ich habe versucht, ein Schiff zu finden, das mich nach Arkon zurückbringt. Warum hilfst du mir nicht? Warum bringst du mich nicht zu den Kavernen des zweiten Planeten, ES?« »Ich brauche dich hier, Atlan. Ein potentiell unsterblicher Wächter des Planeten ist wichtiger als alle meine Pläne für die Barbaren. Ich denke in kosmischen Zeitabläufen, nicht in Monden, Arkonide!« »Alle Vorteile bei dir? Das ist, wie deine Zwangsaufträge, ungerecht und unfair!« »Wenn dich Rico, dein nur mäßig von mir manipulierter Roboter, zu einem notgelandeten Raumschiff führt, nimm es und flieg nach Arkon!« ES lachte nicht mehr. »Was du in deiner Heimat erlebst, mag nicht in deinem Sinn sein, riskier es ruhig. Solange du auf Larsaf Drei schläfst oder reitest, wirst du mit mir zusammenarbeiten; ein Vorschlag, der den mißlichen Umständen entspricht.« Der Logiksektor sagte knapp: Deine Möglichkeiten sind begrenzt. Vermindere sie nicht noch mehr! »Ich werde tun, was du verlangst, weil ich tun muß, was du willst.« Ich senkte mißmutig den Kopf. »Ich bin auf einer Insel?« »Ja. Hin und wieder legen Schiffe aus Keftiu an. Es ist denkbar, daß du den rauhherzigen Steinzeitlern im Inneren des Eilandes hilfst, heilige Quellen zu erschließen, und verhütest, daß sie ihre Wälder abbrennen lassen. Aber damit habe ich nichts zu schaffen. Genieße den Sommer, einsamer Arkonide.« Ein leises Lachen verging. Ich kletterte hinunter zum Strand und kauerte mich vor den auslaufenden Zungen der niedrigen Brandung in den hellgelben, feinen Sand. Noch immer trug ich die Kleidung des Karawanenführers; Ricos Sonden waren nicht zu entdecken. Der Kreis hatte sich geschlossen; meine Aufgabe war beendet. Länger als neunzehn Monde lang hatten Asyrta und ich alle Gefahren und Entbehrungen geteilt: Ich würde buchstäblich jede Stunde genießen, denn wir waren frei, und Rico gehorchte jedem Befehl. Seine technischen Möglichkeiten waren beträchtlich. Ich atmete tief den würzigen Geruch des Wassers ein und drehte mich um, als ich leichte Schritte hörte.
»Ich bin aufgewacht und hab’ dich gesucht, Liebster.« Asyrta streifte das Lederwams ab und zog die Spangen aus ihrem Haar. »Wo sind wir? Weißt du’s? Ich bin verwirrt.« Ich stand auf und umarmte sie. »Auf einer Insel, die mit Boreas’ Augen gesehen, die Form einer Sandale hat. Wir bleiben hier, bis unsere Umgebung unwirtlich und kalt wird. In der Höhle, unserem steinernen Zelt, wohnen wir. Vor uns liegt ein langer, heißer Sommer, den wir uns verdient haben, Geliebte.« Wir waren, bis auf kreischende Möwen und Zikaden, inmitten vollkommener Einsamkeit. Noch bevor wir zu schwitzen begannen, zogen wir uns aus und gingen ins seichte Wasser; es war warm genug. Wir wagten uns hinein, spürten die Kühle bald nicht mehr und schwammen, tauchten und prusteten wie übermütige Kinder, ließen uns von der Sonne trocknen und suchten nach einer Süßwasserquelle. Ich schlang die Kleidung zu einem Bündel zusammen, kletterte in die Höhle zurück und stellte den Bildfunkkontakt zu Rico her. Asyrta und ich zählten lachend auf, was wir brauchten; Rico versprach innerhalb von vierundzwanzig Stunden einen Container, der auch einen kleinen Gleiter enthielt; ein getarntes Segelbötchen mit »unsichtbarem« Antrieb. Noch immer sah er wie ein einflußreicher Romet aus, der sein eigenes Haar wie eine Perücke trug. Seine grünen Augen strahlten auf, als er antwortete: »Atlan! Ge…« Er hüstelte affektiert. »Ich hatte errechnet, daß ihr eine solide Grundausrüstung braucht. Ihr findet sie im dunklen Hintergrund der Höhle. Für die ersten Tage habe ich, während ihr schlieft wie tot, alles Wichtige hineinbugsiert. Schalte den Kommunikationskanal nicht ab, Herrscher der tausend Achsen.« »Schon allein deshalb nicht, well du der einzige Freund bist, den ich in diesen Tagen habe. Erledige die Liste; ich melde mich bald wieder.« Ich zog Asyrta tiefer in die Höhle hinein. Als wir im Licht arkonidischer Dauerleuchtkörper sahen, in welchem Durcheinander ES unsere Ausrüstung und Teile der Inneneinrichtung der Jurte hatte fallenlassen, mußten wir lachen. Zuerst säuberten und
glätteten wir den Sand, dann rollten wir den großen Fellteppich aus, schließlich stellten wir Sessel und Tische darauf. Erst als ich meine Truhen auseinanderzog, fand ich Ricos Weinkrüge.
8. Wir zerrten das Boot über den Sand, setzten uns in den Schatten des flatternden Segels und mischten Wasser in den schweren roten Wein. Im Lauf weniger Tage hatten wir versäumten Schlaf nachgeholt, unsere Haut hatte sich gebräunt, wir waren ausgeruht und fröhlich. Wechselnde Winde hatten uns an der Westküste der Insel einmal weit nach Norden, an einem anderen Tag noch weiter nach Süden und wieder zurück getrieben. Ich schaltete das Wiedergabegerät ein: Musik ohne halbe Töne, dargestellt in fünfstufiger Acht-Abstufung, die wir am Gelben Fuß kennengelernt hatten, zirpte und leierte über den Strand, im unregelmäßigen Takt der Brandung. Asyrta verteilte Öl, das nach Zeder duftete, auf ihren langen Schenkeln. Hitze und langes Schwimmen hatten uns ermüdet. Ich setzte die dunkle Brille auf und schloß die Augen. Als ich an unsere Wohnstatt dachte, mußte ich lächeln: Wir hatten die Holzsessel, mit seltenen Pelzen gepolstert, abseits unseres Lagers aufgestellt, ebenso wie Öllampen, großhenklige Weinkrüge mit wächsernen Verschlüssen, die Kochstelle und die Waffen, die ich seit drei Siebentagen nicht angerührt hatte. Ich streckte die Beine aus. Die meiste Zeit des Tages liefen wir nackt umher, ölten uns gegenseitig ein und tranken Quellwasser mit Wein gemischt. Ich nahm einen letzten Schluck und zog das Vibromesser, um den fast armlangen Fisch abzuschuppen und auszunehmen. »Weit und breit keine Palmen, Asyrta!« rief ich. »Wie fühlst du dich – trotzdem?« Sie bürstete ihr langes Haar und ließ hin und wieder einen Tropfen Öl auf die Bürstenborsten fallen. Ohne die MesdenetSchminke, die ihre Augen ins Unglaubwürdige vergrößerte, sah ihr schmales Gesicht ganz anders aus. Auf dem Nasenrücken schälte sich silbern die Haut.
»Wie im Schatten der Tempel von Menefru-Mire oder No-Amun«, lachte sie. »Ich bin hungrig, Weißhaariger!« »Überlebst du die nächsten zwei Stunden?« »Nur wenn du den riesigen Fisch brätst.« Ich schleppte ihn in die Höhle, würzte das Fleisch mit Kräutern und Öl, in dem wiederum andere, mir unbekannte Essenzen gelöst waren, röstete Fadenbrot und führte ein langes, oftmals unterbrochenes Gespräch mit Rico, der mir einzelne Bilder der kleinen, schnellen Karawane Rantiss’ einspielte. Zufrieden betrachtete ich die Zusammenstellung von Tisch, Leinentuch, Löffeln, Messern und Schüsseln und wendete die Teile meiner mühsam geangelten Beute. Dampf und fettiger Rauch zogen durch Spalten der Höhle ab. Ricos Sender speisten die spinnwebbedeckten Lautsprecher in den finsteren Ecken der Höhle mit leiser Musik aus verschiedenen Gegenden der Welt. Eines Tages, dachte ich, würde es ein gewaltiges Vergnügen sein, mit einem großen Schiff die kümmerlichen Häfen dieses Meeres anzulaufen und nicht nur jene Anlagen, deren Grundrisse ich gezeichnet haste. Asyrta hatte im Süßwasser gebadet, war in dünnes weißes Hapiland-Leinen gekleidet, und meine Haut prickelte noch immer vom trocknenden Salz. Eigentlich war keiner von uns wirklich hungrig; eine trunkene Müdigkeit zog sich wie die Spur des Sonnenlichts durch unsere Tage und Nächte. »Dort wären wir nicht allein«, sagte ich leise. »Wein oder nur Wasser?« »Beides, Liebster.« Sie lächelte und streckte die Hand aus. Die Insel war groß; über der Bucht sahen wir runde Felsformationen an den Hängen und Klippen, mit verkrüppelten Bäumen und Büschen besetzt, in der schüsselförmig vertieften Mitte voll Wald, der genügend Regenwasser speicherte, um die kleine Quelle zu speisen. Es gab einen Südstrand und einen Weststrand, und es gab auch eine Feuerstelle. Bisher hatte sich nur ein einziges Mal, weit am Horizont, ein Schiff gezeigt. Ich mischte Wein und Wasser in einem Krug. Fische, Wein und Fadenbrot, selbstgebacken auf Steinen und heißen Bronzeplatten, Beeren, Früchte, deren Namen ich nicht kannte, Honig, geräucherter
Speck, scharfgewürzter Schafskäse, ausgelassenes Fett – das alles und einige Nahrungsmittel mehr hatten sich in der Höhle gefunden. Asyrta brachte eine Holzplatte zum Tisch. Sie war begehrenswert, ihr schwarzes Haar war rückenlang, und aus dem Gesicht einer verschüchterten Sklavin war das Gesicht einer jungen Frau von zwanzig Sommern geworden. Sie war hinreißend und leidenschaftlich; vielleicht hatte ich in den letzten Jahrhunderten heißblütigere Mädchen lieben können ich wußte es nicht. ES verbarg diese Erinnerung. Sie ließ den Löffel sinken. Ich sagte: »Der Fisch ist ausgezeichnet. Wo findest du eigentlich die Beeren und die Gewürze?« Ich zerteilte das dampfende, schneeweiße Fleisch. »Dort oben, im Wald. Sie riechen nicht anders als die in den Steppen, Atlan.« »Unbegreiflich«, murmelte ich. Sogar für einen Krug feingemahlenes Salz hatte unser Wohltäter gesorgt. Ich war unfähig, auch nur die geringste Kleinigkeit zu vergessen; mein perfektes Gedächtnis speicherte sie – es sei denn, die Erinnerungen wurden gelöscht. Aber auf der Insel ohne Namen verdrängte ich binnen kurzer Zeit all die tausend beschwerlichen Erlebnisse der langen Reise. »Nichts ist unbegreiflich, Atlan – eine ernste Frage?« »Ja, natürlich«, murmelte ich kauend. Ich aß lieber große Fische, well sie leicht zu entfernende Gräten hatten. »Wir bleiben hier, bis es Herbst wird. Was geschieht dann? Wie lange willst du mit mir zusammenbleiben?« »Eine Ewigkeit. Es ist nicht entscheidend, Asyrta, was ich will. Ich will vieles; selten bekomme ich es. Ich will für immer mit dir zusammenbleiben«, antwortete ich. Ich meinte es ernst, aber ich konnte die nahe Zukunft nicht steuern. Ich wußte nicht, was ES plante. Bei seiner pragmatischen, zynischen Haltung lebenden Wesen gegenüber konnte ich nicht erwarten, daß er seine Aufmerksamkeit an eine ehemalige Sklavin verschwendete. Ich versuchte, kein falsches Wort zu sagen und zog sie in meine Arme.
»Aber ich selbst bin nur der erbarmungswürdige Knecht eines mächtigen Herrschers. Er wird mich an seinen Hof zurückholen, so schnell, wie er uns hierhergebracht hat.« »Ich weiß, Atlan. Vergiß nicht, daß ich deine Gefährtin bin, seit sechshundert Tagen. Daß ich, was Nianchre wußte, von ihm lernte!« sagte sie und lächelte in sich hinein. Ich liebte ihre Augen: Sie waren blitzschnell, gewohnt, die wichtigen Einzelheiten sofort zu erfassen. Ich liebte die Augen besonders, wenn sie dunkler wurden während unserer leidenschaftlichen Umarmungen. »Ich vergaß es nicht«, sagte ich. »Ich werde es niemals vergessen. Aber ebensowenig will ich dich belügen. Ich weiß nicht, was mein Herrscher mit mir vorhat.« Sie hob den Becher und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Ihr Gesicht nahm den Ausdruck einer der steinernen Skulpturen vor den Tempeln ihres Landes an. »Das kann indes bedeuten, daß du plötzlich verschwindest und ich allein zurückbleibe?« »Das kann es bedeuten, ja!« mußte ich zugeben. »Wird es so geschehen?« Ich hob die Schultern, dann erwiderte ich kopfschüttelnd und ehrlich: »Ich weiß es nicht.« Ich krümmte mich innerlich. Natürlich verstand ich ihre Sorgen. Ich hatte sie gekauft, und sie hatte geglaubt, gehorchen zu müssen, well sie Sklavin und ich Herr gewesen war. Dadurch, daß ich ihr Zeit und Gelegenheit zu einer freiwilligen Entscheidung gelassen hatte, war dieser Umstand gemildert, nach kurzer Zeit aus der Welt geschafft worden. Seit Beginn der langen Reise näherten wir uns von Tag zu Tag mehr; spätestens seit dem Winterlager, als wir Zeit für lange Gespräche gehabt hatten, liebten wir uns. Es war nicht die einzigartige, ausschließliche Liebe, aber eine dauerhafte, die sich auf gegenseitiges Verständnis und gemeinsam überstandene Gefahren und Entbehrungen gründete. Sie flüsterte: »Kannst du den Willen deines Herrschers ändern, Atlan?« Du kannst es versuchen, sagte der Logiksektor. Hilf ihr, wenn du kannst! Ich hob die Schultern.
»Vielleicht. Ich muß warten, bis er mich ruft. Dann erst kann ich mich mit ihm verständigen.« »Wie erfolgt diese Verständigung?« Ich erklärte es ihr mit allerlei Gleichnissen, und sie begriff. »Ich meine, wir sind nichts anderes als Sandkörner an einem riesigen Strand, die von gewaltigen Winterwellen hin und her geworfen werden.« Asyrta nickte melancholisch. Ich stürzte den Inhalt meines Bechers hinunter und packte meinen Zellschwingungsaktivator. »Du sagst es in einem Gleichnis. Aber dennoch ist es so!« »Bei Horus«, sagte Asyrta schließlich. »Nichts in diesem Leben ist vollkommen. Ich habe schon zuviel Glück gekostet – ich fürchte mich vor dem Leben nach der Wiedergeburt.« Ich gab keine Antwort und trank den Rest Wein aus dem Mischkrug. Dann stand ich auf und ging hinter Asyrta her zum Strand. Sie saß im Schatten der Bordwand unseres kleinen Bootes und hatte geweint. Ich ließ mich neben ihr in den Sand fallen, streichelte ihre Schultern und sagte leise: »Du darfst nicht verzweifeln. Es wird sich eine Lösung finden, die dich und mich glücklich macht.« Sie hob die Schultern, drehte den schmalen Kopf mit der scharfrückigen Nase und sah mich an. »Ich bin nicht verzweifelt. Ich weiß, daß dir etwas einfallen wird, einen glücklichen Augenblick ein bißchen länger zu machen.« Was mich immer wieder erschütterte und verblüffte, war die Bereitschaft der Menschen, zu glauben und zu vertrauen. Ich weiß nicht, was sie dachten und wen sie vor sich zu haben glaubten. Mein weißes Haar und meine rötlichen Augen konnten diese Merkwürdigkeit nicht erklären. Warum vertraute Asyrta-Maraye darauf, daß ich in der Lage war, eine Art Wunder zu vollbringen? Ich vermochte nicht, ihr zu erklären, daß ich nicht der Mann war, der Unmögliches möglich machen konnte. »Mir fällt sicher etwas ein«, murmelte ich matt und stand auf, um das Boot vom Sand zu schieben. »Jetzt aber fällt mir das Segeln ein.« Sie sprang auf und lachte mich an. »Willst du wieder versuchen, zu fischen?«
»Ja. Vielleicht«, erwiderte ich und sprang, als das Boot auf den Wellen schaukelte und Asyrta das Dreieckssegel losschlug, ins Heck. Eine kühle Brise ergriff uns, blähte die Leinwand und schob uns nach Osten. Wir mußten kreuzen, und ich hatte keine Gelegenheit, die Bronzehaken auszuwerfen. Ich fing also keinen Fisch, nicht einmal einen ganz kleinen für die Köder. Wir blinzelten, well wir in die blutrote Scheibe der untergehenden Sonne hineinsegelten. Endlich schob sich die Insel zwischen Boot und Gestirn, und wir ruderten zum Strand. Als ich auf den Sand sprang und das Boot hinaufschieben wollte, stutzte ich. »Hast du jemanden gesehen? Es war jemand hier!« stieß ich hervor. Aber dann, als ich den Strand einmal hinauf und hinunter gelaufen war, mußte ich eingestehen, daß es keine Fußspuren gab. Asyrta schirmte die Augen ab. »Ich sah niemanden. Auch war kein Segel auf dem Wasser. Was ist das, Atlan?« Sie deutete auf Linien und Kurven, die tief in den feuchten Sand eingegraben waren. Die Ausläufer der Wellen leckten daran. Zuerst erkannte ich die Bedeutung der Zeichen nicht, aber plötzlich – Arkonidische Schriftzeichen! Lies, ehe sie ausgelöscht werden! schrie alarmiert der Logiksektor. Ich las langsam. NIMM SIE MIT ZU DIR. Asyrta war neben mir stehengeblieben und berührte mich scheu am Nacken. »Ich kann diese Schrift nicht lesen«, sagte sie füsternd. »Was bedeutet sie?« »Die Schrift meines Fürsten«, erwiderte ich. Sie spürte, daß diese Erscheinung wieder eine rätselhafte Überraschung war. Ich küßte sie und sagte erleichtert: »Mein Fürst läßt mich wissen, daß wir zusammenbleiben. Du wirst dort hingehen, wo ich sein werde. Wir können aus einem kurzen Augenblick viele lange Jahre machen.« Wir liefen Hand in Hand, wie Kinder, zur Quelle und stellten uns unter den Strahl, bis das Salzwasser von unseren Körpern und aus dem Haar gewaschen war. In dieser Nacht lagen wir lange wach, dicht aneinandergeschmiegt, und wir waren glücklich. Ich verlor fast alle Angst vor der Zukunft. Zwei Tage später weckten mich am
Mittag undeutliche Stimmen. Ich sprang von den Fellen hoch, schlang das Lendentuch um meine Schenkel und packte die Waffe. Ich stürzte aus dem Eingang und sah ein Schiff, dessen hochgeschwungener, stolzer Bug neben unserem winzigen Boot auf dem Sand lag. Männer standen dort, das Segel hing lose von der Schrägrah. Ich erkannte darauf einen schwarzen, gemalten oder aufgenähten Stierkopf. Ein Schiff aus Kefti! sagte der Logiksektor. Die Männer, etwa ein Dutzend, wirkten wie Krieger, Seeleute und Händler in einer Person. Sie umstanden das Boot und sahen unsere Fußspuren, die einen schmalen Pfad getreten hatten. Ich zog den getarnten Strahler aus der Scheide und blieb im Halbschatten des Höhleneingangs. Plötzlich rief schräg über mir eine kehlige Stimme etwas in einer Sprache, die ich sofort erkannte, obwohl sie rauh und fremd klang. »Hier ist die Quelle. Bringt Krüge und Wasserschläuche, Männer!« Sie suchten also Wasser. Suchten sie auch Sklaven? Würden sie in die Höhle eindringen? Ich war sicher, daß zwei Männer direkt in den Höhleneingang hineingesehen und mich erblickt hatten. »Sind es Räuber?« flüsterte Asyrta. Ich schüttelte den Kopf und legte den Finger an die Lippen. »Was tun sie?« »Sie holen Wasser!« hauchte ich als Antwort und entsicherte den Lähmstrahlerdolch. Fünf Männer warteten beim Schiff. Sie verhielten sich merkwürdig, denn jeder, der an einem solchen Strand ein benutztes Boot und Feuerstellen sah, würde seiner berechtigten Neugierde nachgeben und die Bewohner dieses Strandes suchen. Etwa zehn Männer – zielstrebig und tüchtig sahen sie aus – schleppten nach kurzer Zeit prall gefüllte, tropfende Tierhäute zum Schiff und verluden sie, riefen sich Kommandos und Scherzworte zu. Das Schiff schien leer oder kaum beladen zu sein. Die Männer schoben das salzüberkrustete Schiff zurück in sein Element, sprangen hinein und ließen sich an Bord helfen. Knarrend bewegten sich Ruder. Als das Schiff drehte, um in den Wind zu kommen, gingen wir vor die
Höhle. Der Steuermann im Heck hob den Arm und bewegte ihn grüßend hin und her. Dann widmete er sich wieder seiner Arbeit. »Das verstehe, wer will«, sagte ich leise. Dann dachte ich an ES und verstand einiges mehr. »Der Strand ist voller Rätsel.« »Sie wollten uns nicht stören.« Asyrta lachte fröhlich. »Sie merkten, daß wir glücklich sind. Und nur ein Ziel haben, nämlich uns selbst immer besser kennenzulernen. Nicht wahr, geliebter Weißhaariger?« Ich dachte an den schwindenden Sommer, den Herbst und das kühle Schweigen in Ricos technischem Reich. Ich nahm ihre Hand und küßte inbrünstig schweigend die Fingerspitzen. Langsam nickte ich und sagte: »So ist es, Asyrta. Ich liebe dich.« Sie hob beide Arme, strahlte mich an und winkle. Dann schrie sie aus voller Lunge: »Männer aus Kefti! Wir wünschen euch eine heitere und glückliche Seefahrt. Kommt bald wieder!« Sie winkte dem Schiff nach, dessen Kielwasser strudelnd schäumte. Niemand winkte zurück. Ich legte meinen Arm um sie und sagte leise: »Wenn’s Männer von Kefti sind, wünsch’ ihnen lieber guten Handel. Guter Handel ist, wenn sie andere übers Ohr gehauen haben.« Das Schiff verschwand hinter den Wellenkämmen. Ein neuer Tag brach an; wir ließen Salz und Sand auf den Fellen in der Höhle zurück, aber keinen Tropfen Wein. Als uns Müdigkeit ergriff und tiefer in die Bewußtlosigkeit einsinken ließ, dachte ich kurz, daß ES wieder mit uns spielte, uns Hand in Hand von der Insel in die Tiefseestation und zu Rico brachte, einem weniger stark beeinflußten Werkzeug jenes Wesens, das sich wie ein Gott aufspielte. Der Roboter leitete unseren Biotiefschlaf ein, und eine große, dunkle Woge endgültigen Vergessens schwemmte uns zurück in diffuse, farbensprühende Träume. Eine Pause trat ein. Atlan schwieg; keineswegs erschöpft, wie es Aescunnar schien. Er hielt inne, holte tief Luft, um
zusammenhängend berichten zu können: jedes weitere Wort half ihm, jeder Satz bedeutete ein winziges Intervall auf dem schmerzvollen Weg zur Genesung. Der Historiker hielt den Atem an. Seine Gedanken und Impressionen lösten sich nur widerstrebend vom sonnendurchglühten Strand des südwestlichen Sardiniens. Er wartete geduldig, zumal sich die SERT-Haube nicht um einen Millimeter hob. Rico hatte den größten Teil seines positronischen Universums aktiviert, um meinen Verstand während der Reanimationsphase zu beschäftigen: Vor meinen Augen breitete sich die holografische Riesenprojektion der Weltkarte aus, an einigen Stellen voller unbestimmbarer Punkte und Schlängellinien. Ich erkannte Inseln und Küsten des Binnenmeeres und das riesige Dreieck der Hapimündung. Eingehüllt in flauschigen weißen Stoff lag ich im Sessel, dessen Vibrationen meinen Körper ebenso durchdrangen wie die Schwingungen des Zellaktivators. Mühsam arbeitete mein Verstand: jeder Gedanke schien sich durch zähen Schlamm zu kämpfen. Auf kleineren Monitoren wechselten lange Bildschleifen. Sie zeigten Romethandwerker beim Bau eines Schiffes, eine Folge kleiner Hafensiedlungen, Wolken, Wellen und Sonnenaufgänge. Rico gestikulierte beruhigend und sagte: »Du mußt schlafen, Gebie… Atlan. Überfordere Deinen Verstand nicht. Für deinen Körper wird gesorgt.« Mein Gehör arbeitete zuverlässig. Ich spürte weder Hunger noch Durst. Die dünnen Schläuche der intravenösen Ernährung störten mich ebensowenig wie die ersten Schlucke jener Mischung aufbauender Breinahrung, die meinen Magen füllten. Langsam drehte sich der schwere Spezialsessel, die Lichtflut versiegte, und ich trudelte, während erste Erinnerungen auf mich zukrochen, in einen stundenlangen, erholenden Schlaf hinein. Als ich aufwachte, inmitten prachtvoller holografischer Landschaften, begann ich zum erstenmal bewußt Asyrta-Maraye zu vermissen. Solarlampen badeten meinen bleichhäutigen Körper, Vibrationen erzeugten in der Muskulatur bohrenden und ziehenden Schmerz. Ich war unfähig zu gehen, als Rico mich und die überlebenswichtigen
Gerätschaften wieder in die große Schaltzentrale brachte; die Automatik stützte meine Schultern und meinen Kopf. Aber ich konnte sprechen und einigermaßen verständlich artikulieren. Robotsonden-Vergrößerungen zeigten ein Schiff, das in eine Morgendämmerung voller prachtvoll gefärbter Wolkenformen hineinsegelte. »Rico! Warum ist Asyrta-Maraye nicht bei mir?« »Ich zöge es vor, wenn du mich Riancor-Rechme nennen würdest, Atlan.« Der Robotkörper schien, so weit meine Eindrücke richtig waren, ein neues Höchstmaß an innerer Perfektion und lebensechter Verkleidung erreicht zu haben. Riancor sah aus wie ein reicher Würdenträger, der irgendwo zwischen Menefru-Mire und KypnyGubal aufgewachsen war; nicht mehr ganz ein Romet und noch kein braunhäutiger, hakennasiger Mann von Amurru. Sein nackenlanges schwarzes Haar schimmerte bläulich im Licht der Scheinwerfer. »Asyrta wurde vor drei Monden geweckt, versorgt und ausgestattet, von mir auf eine neue Maske vorbereitet und hat den Überlebenszylinder verlassen. Du wirst sie bald sehen können.« Ich bedeutete ihm schweigend, die Objektive der Spionsonde in einen anderen Winkel zu steuern und den Ausschnitt zu vergrößern. Das Schiff wuchs in der Projektion auf mich zu. Es war, als seine ich dem Steuermann über die Schultern, mit einigem Nachdenken verstand ich Riancor-Rechmes Erklärung. »Das Ziel der Prunkbarke, die bisher nur auf dem Hapi fuhr, ist Keftiu. Ich habe fünfzig Männer gezählt: Schiffssoldaten des Gottkönigs, einige gut ausgebildete Bogenschützen, ein paar Sklaven und zwei Sklavinnen für die Schiffsherrin.« Kurz vor dem Augenblick, als sich das Gestirn über den Horizont hob, sahen sie das erste Segel. Noch spiegelte sich kein Sonnenstrahl auf den langgezogenen Wellen der Dünung. Aber hinter dem Dunst, unter dem prachtvollen Gewölk, war die Ahnung von Bergen und Buchten. Neben schwarzen Felsen eines vorgelagerten Kaps glitt ein langgestrecktes Schiff entlang, sein Bug schnitt durch das Wasser. Das taufeuchte Segel des Hapischiffes hing schwer und schlaff. Zwanzig Riemen auf jeder Seite des Rumpfes bewegten sich kraftvoll und im gemessenen Takt. Die Ruderer verliehen dem
Küstensegler eine beachtliche Geschwindigkeit; die Trommelschläge waren stark gedämpft. Ich las im Heck den Schiffsnamen: LOB DES HERRSCHERS. Das fast kiellose Schiff – ich wußte, wie es gebaut war hatte einen hochgezogenen Bugsteven in der Form der heiligen Schilfblüte und war nicht aus Binsen, sondern aus Holz erbaut, aus Brettern von Zedernstämmen, von Kypny ins fruchtbare HapiMündungsdreieck geflößt. Die Handwerker hatten so gut gebaut, wie sie es verstanden, aber der erste schwere Sturm hätte die LOB in ihre Einzelteile zerlegt. Vierzig Blätter beschrieben eine gekrümmte Linie durch die Luft und wirbelten einen Regen funkelnder Tropfen hoch. Die langen weißen Schaufeln wurden eingesetzt und durchgezogen. Sie hinterließen eine Doppelreihe kleiner, spiralig schäumender Wasserwirbel. Ein braunhäutiger Mann, gegen die morgendliche Kühle in einen bodenlangen Wollmantel gehüllt, mit einem weißen Stoffschurz bis über die Knie, der um die Hüften von einem zweifach handbreiten Ledergürtel gehalten wurde, lehnte auf der obersten Stelle des Heckaufbaus, den Balken des Steuerruders zwischen dem rechten Arm und dem Körper. Cheper, der dreißigjährige Steuermann, wachte über den Schlaf der Herrin und über das Schiff. Dort, wo sie in der Nacht mit gutem Wind aus Osten die winzige, namenlose Insel passiert und den Schwarm spielender Delphine im geheimnisvoll leuchtenden Wasser gesehen hatten, ging die Sonne auf. Der Horizont färbte sich grau und weiß, schließlich rosenblattfarben. Aber noch immer kam kein Wind auf. Cheper fröstelte und zog den Mantel enger um seine Schultern. Die feinen Härchen und das Leder des vergoldeten Helmes waren feucht vom Morgentau. Das Segel voraus wurde deutlicher. Ein rotes Segel, praller gefüllt als das riesige rotgoldene Rahsegel der LOB. Es wehte also dort vorn ein ablandiger Wind; nicht selten im Sommer und in diesem Bereich des Meeres. Leichte Schritte näherten sich. Über das feuchte Deck kam die ältere Sklavin auf Cheper zu. Sie rieb ihre großen, dunklen Augen und gähnte, sagte murmelnd: »Sollen wir die Herrin wecken? Hast du das Segel gesehen?«
»Neit-aqer«, sagte Cheper mit dunkler, rauher Stimme, »lassen wir die Herrin schlafen. Sie hat die halbe Nacht gewacht.« »Aber… das Segel!« Cheper lachte lautlos. Er deutete geradeaus. »Es wird zwei Stunden dauern, bis wir das Schiff treffen. Ist es ein Handelsschiff, wird es Eile haben. 1st es ein Pirat, so werden wir kämpfen. Laß die Herrin ruhen.« »Wann, denkst du, Steuermann, werden wir Knossos erreichen?« »Vielleicht liegen wir bei gutem Wind schon heute im Hafen«, sagte er. Für einen Augenblick gerieten die Riemen an Steuerbord ein wenig außer Takt, aber sie fingen sich wieder und zogen das Schiff weiter auf die ferne Insel zu. Die Sonnenstrahlen vergoldeten die Wellenspitzen, lösten den Dunst auf und trafen auf die hohen Berge; über dem Horizont zeigten sich die hellen Dreiecke der Gipfel. Das Segel schien praller zu werden. Unruhig sah sich Cheper um; wenn würde der Wind sein Schiff erreichen? Die Männer an den Riemen waren rechtschaffen müde, denn sie hatten seit sechs Stunden ununterbrochen gerudert. Als die feuerrote Kugel der Sonne sich riesengroß aus dem Meer geschoben hatte, war das andere Schiff voraus. Es hielt genau auf die LOB zu. Erste, wärmende Sonnenstrahlen trafen Tauwerk, Holz und Segel des Hapi-Seglers und ließen die Feuchtigkeit verdunsten. Cheper hustete, spuckte über die Reling und sagte laut: »Nunmehr solltest du die Herrin wecken, Neit-aqer!« Sie nickte besorgt und kletterte die Stufen des Niedergangs hinunter. Kurze Zeit später kam die Schiffsherrin herauf, erschauerte in der morgendlichen Kühle, sah sich um und sprang zu Cheper aufs Deck. Jedesmal, wenn er sie anblickte, durchfuhr es ihn wie der Stich des Skorpions: Sie war die schönste Frau, die er jemals gesehen haste. »Ich sehe das Segel. Ein Schiff von Keftiu, Cheper?« Der Steuermann zog seine buschigen Brauen hoch, blickte irritiert ins eigene Segel, das sich zu bewegen begann, dann entgegnete er gelassen:
»So scheint es. Wenn sie gegen Nachtende die Leinen losgeworfen haben, können sie von einem Hafen der Nordseite gekommen sein. Ein breites Schiff, Herrin, vielleicht keine Piraten.« »Wind? Schon jetzt?« Zweiunddreißig Tage und Nächte fang waren sie von MenefruMire bis hierher gesegelt und gerudert. Die Herrin hatte in dieser Zeit fast alles gelernt, was er, Cheper, wußte. »Nicht sehr viel, Herrin. Er begünstigt das andere Schiff.« »Die Glut ist bereit, das Pech und die Waffen?« Jetzt lachte er laut und siegessicher. »Wie immer. Wir haben rudern gelernt, aber das Kämpfen nicht verlernt.« Die Herrin trug eine Jacke aus Leder, mit golddurchwirktem Wollstoff ausgeschlagen. Ihr langes schwarzes Haar lag über dem hochgestellten Kragen und glänzte in der Sonne. Das entgegenkommende Schiff schwenkte scharf ein und jagte, von gutem Wind getrieben, auf die LOB zu und ging auf Rammkurs. Im gleichen Augenblick begann das tauschwere Segel des eigenen Schiffes zu flattern und zu knattern. Cheper brüllte einen langen Befehl. Vier Riemen wurden im Vorderschiff eingezogen, sechs oder sieben Männer kamen nacheinander auf Deck und blieben wartend stehen. »Ich bringe das Schiff in den Wind. Wir kreuzen und passieren sie steuerbords. Pfeile und Bögen, Pech und Glutkörbe bereitstellen. Für alle Fälle«, schrie er laut. Die Männer hoben die Arme und hasteten an die Plätze. Das entgegenkommende Schiff hatte den Wind im Rücken, und die LOB war unfähig, scharf zu kreuzen. Aber als sich jetzt das Segel füllte, als die schwere Rah herumschwang und das Schiff sich nach Steuerbord umlegte, erkannten sie, daß sie dem Gegner ausweichen konnten. Der andere Kapitän war von dem Manöver verwirrt, aber er änderte augenblicklich den Kurs. Cheper fragte in unerschütterlicher Ruhe: »Meinst du, Herrin, daß wir dem Fremden da ausweichen können?« »Ich weiß es nicht, Steuermann. Es sieht nach Kampf aus. Stellen wir uns!«
Das Romet-Schiff, mehr als siebzig Ellen lang, schnitt fast im rechten Winkel zu seiner bisherigen Richtung durch die Wellen. Tauwerk und Holzverstrebungen knarrten und ächzten, Gischtfocken sprühten auf das überhöhte Vorderdeck. Mit einem Satz schnellte sich die junge Frau hinunter und verschwand im Schiff. Einige Befehle des Steuermannes bewirkten, daß weitere Ruderer heraufkamen, die Bögen spannten und Pfeile bereitstellten. Gluttöpfe wurden gebracht, die Asche weggeblasen, die Flammen entfacht. Die Frau band ihr Haar hoch, setzte den ledernen Helm auf und griff nach dem Bogen. Als sie über das Deck nach vorn rannte, sah sie die Männer an ihren Plätzen. Noch drei Bogenschußweiten war das minoische Schiff entfernt, als Cheper wieder Flüche und Kommandos brüllte. Die Ruderer setzten die Riemen ein. Die beiden Steuerruder wurden ächzend bewegt. Leinen flogen los, das riesige Segel schwang herum, flatterte wild, dann fing sich das Segel wieder; abermals machte die LOB eine scharfe Wende. Fast parallel zu ihrem bisherigen Kurs packte der Wind das Schiff und schob es stampfend und krängend auf die Küste zu. Der entgegenkommende Segler hatte auf einen Treffpunkt zugesteuert, den die LOB bald erreicht hätte. Jetzt sah es aus, als ob der vermutliche Kaperer an Steuerbord an dem Hapischiff vorbeistoßen würde. Die Befehlshaberin stand hochaufgerichtet im Bug, zwischen den hölzernen Säulen mit vergoldeten Verzierungen. Ihre helle Stimme übertönte das Klatschen der Wellen. Sie rief in minoischer Sprache: »Kapitän! Willst du einen Kampf? Wir haben bessere Vorschläge!« Gleichzeitig bevölkerte sich das Deck der LOB mit mehr als dreißig Bogenschützen. Sie hatten lange Pfeile auf den Sehnen. Die Spitzen der Geschosse bestanden aus Werg, Erdpech und Tierfett. Ein Feuerhagel würde das gegnerische Schiff überschütten und das Segel in Brand setzen. »Ihr kommt aus dem Hapiland?« brüllte der Kapitän, ein breitschultriger Mann mit schwarzen Locken. Er stand im Bug seines Schiffes, direkt über dem aufgemalten Auge. »Wir kommen dorther, Kapitän. Wir wollen nicht- kämpfen, aber wir können kämpfen.«
Weder Asyrta noch Cheper konnten deutliche Anzeichen bemerken, daß sich die Mannschaft des Minoers zum Kampf gerüstet haste. Schilde, Speere und blitzende Enterbeile lagen auf Deck. »Was wollt ihr?« »Wir suchen gute Schiffe, erfahrene Kapitäne und Mannschaften. Wir zahlen gut, in Gold. Bist du von Knossos?« »Ja! Aus Mallia!« Die Schiffe rauschten einen halben Bogenschuß voneinander entfernt vorbei. Das Schiff aus Mallia war schwer, reichlich mitgenommen und lag tief im Wasser. Die Elitesoldaten des Gottkönigs ließen die Bögen sinken. »Wir wollen reden!« schrie der Kapitän zurück. Gleichzeitig scherte sein Schiff aus dem Wind. Die Rah fiel, das Segel erschlaffte. Auch Cheper ließ das Schiff wenden, ging wieder in den Wind und fuhr dem anderen hinterher. Schließlich, als die Ostküste der Insel voll im Sonnenlicht lag, als die fünf nebeneinanderliegenden Berggipfel und der Berg Ida sich scharf gegen den pastellenen Himmel abhoben, segelten beide Schiffe nebeneinander. Die Mannschaft des Handelsschiffes aus Keftiu machte noch immer keine Bewegung, die auf einen versuchten Überfall hindeutete. »Reden wir, schöne Romet!« schrie der Mann, die Hände trichterförmig an den Mund gelegt. Die Frau rief: »Wir wissen, daß die minoischen Seefahrer groß und tüchtig sind. Wir brauchen solche Männer!« »Wer braucht sie? Ihr vom Hapi-Dreieck?« »Ja. Wir haben Land, einen Hafen und Helfer. Jeder Kapitän, der mit Schiff und Mannschaft zu uns kommt, kann ein reicher Mann werden.« »Wohin sollen wir segeln?« »Überall dort, wo es Wasser gibt. Die LOB DES HERRSCHERS geht nach Knossos. Wir bleiben dort einen Mond lang. Komm zu uns, Kapitän, und du erfährst alles. Du wirst, wenn wir dich anwerben, viel Gold erhalten. Und alles andere. Kann dich dieses Angebot begeistern?« »Wie lange bleibt ihr in Knossos?«
»Einen vollen Mond lang«, gab Asyrta zurück. »Du willst uns dort treffen?« »Ich bin Kapitän Myron. Mein Schiff ist die SILBERNER DELPHIN. Wir treffen uns im Hafen. Gute Fahrt. Sprich mit Biades, meinem Freund.« Er hob die Hand, die Bronzenägel an seinem ledernen Unterarmschutz glänzten auf, und dann schrie er Befehle zu seiner Mannschaft hinunter. Das breitbäuchige Schiff schwankte hin und her, der Wind blähte das Segel, und die SILBERNER DELPHIN wurde schneller. Cheper stemmte sich gegen die Steuerruder und drehte das Schiff herum. Sie nahmen wieder den Kurs ein, der sie in weitem Zickzack nach Knossos bringen würde. Unzählige Schwierigkeiten lagen hinter ihnen, und bis zu dem Tag, an dem sie den Auftrag des Gottkönigs im Palast ausgeführt haben würden, gab es sicherlich noch mehr davon. Auf einem Turm im Landesinnern, auf der Spitze eines hohen Hügels, stieß ein Mann in ein langgezogenes Rohr aus Bronze. Er hatte im Osten, vor den Türmen des Hafens, ein rostrotes Segel gesehen. Ein langgezogener, röhrender Ton durchbrach die Ruhe des späten Morgens. Ein anderer Wächter, der auf der obersten Plattform eines weißen Turmes neben Asche und Ruß des Hafenfeuers stand, hörte den Ton und sah das Segel. Er sah mehr: überall an dem Schiff, das langsam näher kam und aus dem Kurs getrieben wurde, glänzte und funkelte es wie Gold. Es war selten, daß andere als minoische Schiffe in diesen Hafen kamen – der Grund dafür war, daß es auf dem Meer kaum andere Schiffe gab. Phryger, Thraker und Leute aus Keftiu waren, mit einigen Ausnahmen, die einzigen, die sich weiter von den Inseln und Küsten entfernten, als ein Mann mit schlechten Augen sehen konnte. Der Ausguck auf dem uralten, mit Kalk bestrichenen Turm hob die Hände an den Mund und schrie: »Ein fremdes Schiff fährt in den Hafen ein!« Majestätisch fiel die Rah. Das Segel wurde gerefft und geschnürt. Vierzig Riemen bewegten sich in gleichmäßigem Takt und hinterließen eine Doppelspur kleiner ruhiger Flächen. Knossos war erreicht.
Sieben Schiffe und zwei Dutzend Fischerboote lagen im Hafen. Die kleinen Boote waren weit auf den Sandstrand hinaufgezogen worden. Zu dieser Stunde zwischen Morgen und Mittag befanden sich alle Bewohner des Hafens außerhalb der Häuser. Fischer schleppten ihren Fang zum Markt, Netze wurden geflickt, der Schmied hämmerte; seine Esse rauchte. Bauern aus der Umgebung tauschten Geflügel, Früchte und Schweine gegen Tonwaren und Fisch ein. Zwischen dem Wasser und den Häusern mit den Sonnensegeln quirlte geräuschvolles Leben. Hundert Schritte vor der Mole aus wuchtigen Steinen schleppten Soldaten den Ankerstein zum Bug der LOB DES HERRSCHERS. Die Ruderer drehten das Schiff. Der Ankerstein versank aufklatschend im Hafenwasser. Mit dem Heck voraus kam das Schiff zur Mole und legte an. Leinen flogen ans Ufer und wurden von herumstehenden Inselbewohnern festgemacht. Dann gab es das bekannte Bild. Die Mannschaft machte das Schiff klar, schoß Tauwerk auf, beseitigte die Unordnung, verschwand unter Deck, kam wieder herauf, und überall war ein riesiger, braunhäutiger Mann mit Lederhelm und weißem Schurz, der Befehle gab. Eine Stunde später wurde eine Laufplanke zwischen Heck und Mole ausgebracht. Sieben Personen kamen an Land. Ihr Auftritt rief allgemeines Staunen hervor. Zuerst kamen zwei Soldaten in glänzenden Brustpanzern, ledernen Stiefeln, mit goldenen Streifen besetzten Helmen und leichten Streitäxten an breiten Gürteln. Hinter ihnen folgte der Kapitän des Schiffes, der keine Frage nach dem Woher, Wohin und welcher Ladung beantwortet hatte, die von den Inselbewohnern ins Schiff hinuntergerufen worden waren. Cheper trug zwei Dolche und quer über dem Rücken ein Bündel halbmannslanger Wurfspeere im Köcher. Er wandte sich an einen mittleren Jahren, der sich von den Bauern, Fischern und Handwerkern abhob. Er sagte halblaut: »Ich bin Cheper, der Kapitän. Gleich kommt meine Herrin an Land. Sie ist eine Fürstin; das Auge des Königs am Hapi ruht mit Gefallen auf ihr. Wir suchen einen Mann, der Biades heißt.« Jetzt kam ein junges Mädchen herunter, sehr scheu und sehr schön. In ihren Armen trug sie einen länglichen Gegenstand, mit einem weißen Tuch verhüllt. Sie stellte sich zwischen die
schweigenden Soldaten, die mit scharfen Augen alles musterten, was sich bewegte. »Biades ist der Hafenkapitän. Ihm obliegt die Aufsicht über alle Schiffe.« »Deswegen suchen wir ihn.« Cheper sah sich um. Ein zweiter Soldat kam vom Schiff, hinter ihm balancierte die Schiffsherrin über das schwankende Brett. Sie trug ein weißes Kleid mit goldenen Säumen, halbmondförmigen Brustschmuck und goldene Sandalen. Ein Soldat hielt ihre Hand und trug die Kartusche ihres Namens und eine Rolle voller Pergamente auf dem Rücken. Die Menge umringte die Ankömmlinge. Die Menschen murmelten laut und sagten, daß ein solch prachtvolles Schiff noch nie in Mallia, Knossos oder Gurnia angelegt habe. »Das schmale Haus mit dem weißen Segel über dem Dach«, wurde den Fremden gesagt. »Biades steht auf den Stufen.« »Sei bedankt, Mann«, sagte Cheper. »Ihr werdet alles erfahren. Wir wollen einen Mond fang hier bleiben.« Die Gruppe der Fremden ging durch das Gedränge. Die sieben Personen, selbst das junge Mädchen, machten den Eindruck, als wäre ihnen nichts fremd. Sie waren sicher und kampfgewohnt. Die Soldaten schirmten die Herrin so geschickt ab, daß man nicht einmal ihren Schmuck sehen konnte. Durch Eingeweide von Fischen, Sand, Schuppen und Tangfetzen gingen die Fremden bis zu den steinernen Stufen, auf denen sie ein Mann in lederner Kleidung erwartete. Er hatte dunkle, stechende Augen und nur drei Finger an der linken Hand. »Du bist Biades, der Kapitän dieses Hafens?« fragte Cheper halblaut. Er sah in das dunkelgebrannte, von Runen und Kerben zerfurchte Gesicht eines Vierzigjährigen, der lange zur See gefahren sein mußte. »Ja. Ihr kommt von dem Prunkschiff, das nicht fürs Meer gebaut ist?« Cheper grinste breit; sie hatten sich verstanden. »Der Kapitän ist wichtiger als die Planken, Biades. Wir sind hier, weil wir jedem guten Kapitän der Insel einen Vorschlag machen wollen. Dies ist die Herrin des Schiffes, der LOB DES
HERRSCHERS. Fürstin Maraye wird dir alles erklären. Du solltest uns als Gäste betrachten. Nebenbei, wir zahlen mit Gold.« Biades nickte langsam und sah unerschrocken prüfend von einem Gesicht zum anderen. Er war nicht leicht zu beeindrucken; ein Mann nach Chepers Herzen. Biades bemerkte die verschlossenen Mienen der Soldaten, erkannte die Erfahrung, die Cheper ausstrahlte, sah das unerfahrene junge Mädchen und das Gesicht der Herrin. Cheper deutete schweigend auf das Haus, hinter dessen offenen Fenstern und schlanken Säulen sich Vorhänge bauschten. »Wir sind keine Markthändler, Biades. Deshalb sollten wir im Haus darüber sprechen.« »Wahr gesprochen.« Zwei Soldaten blieben vor der Tür des Raumes stehen. Biades stellte fest, daß die Fremden kein Risiko eingingen. Er ließ Schemel, Sessel und Wein bringen, setzte sich hinter die Tischplatte und wartete, bis die Becher vollgeschenkt waren. Als er merkte, daß sich seine Gäste zu entspannen schienen, sagte er: »Und nun, Fürstin Maraye, was kann ich für euch tun?« »Du kannst mithelfen«, sagte die junge, schöne Frau mit weicher Stimme, »einen Hafen, eine Stadt und ein Reich der Kapitäne und Schiffe zu errichten, wie es auf diesem Meer noch niemals erlebt wurde.« Sie streckte die Hand aus. Der Soldat zog ein Pergament aus der röhrenförmigen Hülle und breitete es auf der Platte aus, stellte Steine, Weinbecher und einen Krug voller Tuschebinsen auf die Ecken. »Was ist das?« »Die Linien sind Küsten. Die Flächen sind Land und Inseln. Die Türme sind Häfen, Dörfer, Städte, kurzum Plätze, an denen Menschen hausen. Hier sind Flüsse, dort sind Felsen. Diese Zeichnung ist das, was ein Fischadler sehen würde, wenn er in großer Höhe schwebt: Das Meer und seine Küsten; ein Schatz, wertvoller als andere Schätze.« Biades starrte mit großen Augen die Zeichnung an. Sie war unvorstellbar übersichtlich. Diese Insel war Keftiu! Schweigend und mit größer werdender Faszination versuchte er, alle Küsten und
Teile zu suchen, die er selbst kannte aus seiner Zeit als Kapitän. Nach langer Zeit schaute er auf, schluckte und sagte heiser: »Herrin, du hast recht gesprochen. Diese Zeichnung ist ein Schatz.« Maraye machte eine großzügige Bewegung und erklärte in fehlerfreiem Minoisch: »Ich schenke sie den Kapitänen von Mallia, Knossos und Gurnia.« Biades ließ beinahe seinen Weinbecher fallen, blickte Cheper und Asyrta an und flüsterte fassungslos: »Ein Geschenk? Aber…« Cheper hob lachend die Hand und sagte eindringlich: »Höre gut zu, Vater des Hafens! Hier, dieser Turm, das ist Gubal. Die Stadt hat einen guten Hafen. Hinter der Stadt beginnen unendliche Wälder riesiger, duftender Zedern. Stadt und Hafen werden schöner, größer und mächtiger werden. Asyrtas Geliebter baut dort mit unzähligen Helfern. Güter und Kostbarkeiten, Menschen und Ideen kommen aus allen Richtungen nach GubalKypny; die Menschen dort sind keine Seefahrer. Wir brauchen Kapitäne mit guten Schiffen, die für uns fahren, handeln und neue Häfen finden. Deswegen sind wir hier. Dein Freund Myron von der DELPHIN brüllte deinen Namen zu uns herüber, heute im Morgengrauen.« Cheper lehnte sich zurück und hob den Becher. Er würde einer der Kapitäne sein, die neue Küsten und Handelspartner entdeckten. »Darum seid ihr mit dieser meeruntüchtigen Barke gekommen, weil es keine guten Schiffe im Hapiland und in Gubal gibt?« Cheper stieß einen Fluch aus und versicherte: »Wir wissen genau, warum wir gute Schiffe brauchen! In Gubal wird jener Mann, Ahiram, eine Werft bauen und Handwerker ausbilden. Niemals waren wir weiter als vier Bogenschüsse vom Ufer entfernt. Jedesmal, wenn es guten Segelwind gab, mußten wir zum Strand, in eine geschützte Bucht, eine Fußmündung. Ein Schiff für Kinder! Und deshalb brauchen wir Männer wie dich, Biades! Und Schurken wie Myron, den nur Waffengewalt davon abhält, auf Handelsfahrt Schiffe zu kapern. Wie lange bist du auf dem Meer
gefahren, auf unsichtbaren Straßen von Hafen zu Hafen? Wie viele Jahre?« »Zweiundzwanzig Jahre.« »Dann weißt du genau, was uns fehlt. Bisher ist Gubal nicht viel mehr als ein Außenhafen des Herrschers. Zwischen Gubal und dem Hapiland spielt sich auch heute aller Handel ab. Die Menschen sind eingewanderte Nomaden. Sie verstehen nicht viel, sind wie Teig, der nicht gärt. Wir brauchen Leute wie euch, die mit uns Gubal zu einer Hafenstadt machen, reicher als Knossos.« »In der Tat ein großartiges Vorhaben«, gab der Hafenkapitän zu. Im Gegensatz zu den meisten Männern war er glattrasiert. »Komm nach Gubal, und du wirst erkennen, daß mächtige Kräfte am Werk sind. Lerne meinen Geliebten kennen! Er ist der klügste Mann, den es gibt«, sagte Maraye. »Weil er dein Geliebter ist?« fragte Biades sarkastisch. »Weil er klug und unvergleichlich ist, bin ich seine Geliebte.« Der Kapitän nickte; eine Antwort, die ihm gefiel. Er versuchte, alles, was er gehört hatte, wohl zu bedenken und Fehler herauszufinden. Er wußte, daß noch sehr viele Fragen gestellt und beantwortet werden mußten. Sie hatten viel Zeit; der Herrscher im Palast von Knossos würde die Fremden ebenso befragen. Er kratzte sich unter der Achsel. »Weil ich nicht der Herr Keftius bin, kann ich euch zwar helfen, aber nichts entscheiden. An wie viele Schiffe habt ihr gedacht?« »An nicht weniger als hundert«, sagte Asyrta nachdrücklich. »Knossos ist nicht der erste Hafen, in dem ihr Kapitäne aufgefordert habt, zu euch zu kommen?« »Nein. Wir fragen jeden Kapitän, der aussieht, als wäre er kein geborener Betrüger. Wir haben einen guten Blick für jedes Schiff, das aussieht, als würde es die nächsten Stürme überleben, mitsamt der Mannschaft!« Cheper lachte dröhnend. »Ihr habt euch eine große Aufgabe gestellt«, sagte der Hafenkapitän versonnen und sah wieder der Fürstin ins Gesicht. Sie wirkte selbstsicher und unangreifbar wie eine Götterstatue.
»Wir wissen, daß wir sie lösen können. Nicht in einem Mond. Es wird Jahre dauern, Gubal zu einer Stadt zu machen, über deren Glanz an allen Küsten gesprochen wird.« »Da dieser Zustand nach all dem, was ich denke, in weiter Ferne liegt, sollten wir über das Näherliegende sprechen.« Biades grinste karg. »Zunächst, wo werdet ihr wohnen? Auf dem Schiff?« »Nein. Vielleicht gibt es für Cheper, Neit-aqer, das Mädchen und mich ein Haus? Sesostris läßt mich in Gold zahlen.« »Zweifellos läßt sich finden, was ihr sucht. Nötigenfalls auch ohne Gold.« Sie fanden ein Haus. Cheper sprach mit den Kapitänen; manches Talent Gold und Silber wechselte den Besitzer. Sie zeichneten Teile der Karte nach, gaben abfahrenden Schiffen Ratschläge mit und begrüßten ankommende Boote. Der Name und der Standort Gubal war bald in aller Munde. Jeder Kapitän, der in diesem Mond in den Häfen von Knossos, Mallia und Gurnia anlegte, wußte davon. Er würde mit anderen Kapitänen sprechen und diese Nachrichten verbreiten. Der Herrscher von Knossos und Keftiu sprach lange mit Maraye und Cheper und versicherte, sie zu unterstützen. Sie vergaßen, daß jeder von ihnen unvermittelt eingeschlafen war, einen langen Traum gehabt hatte und nach dem Erwachen mehrere Sprachen kannte, so gut, als wäre es die eigene. Sie freundeten sich mit den Minoern an, tranken Wein und liebten deren Töchter. Keinen Augenblick fang vergaßen sie den hochgewachsenen Geliebten der Herrin und ihren Auftrag. Im Grunde arbeiteten sie ununterbrochen an dem Plan. Keiner von ihnen dachte je daran, daß sie nur Werkzeuge waren.
9. Riancor-Rechmes Experimentierfreude war in den rund siebzehn Jahren seit der idyllischen Zeit nach der Wunderkarawane zugleich mit der positronischen Ausrüstung gestiegen. Überdies würde ich ihn, wenn ich es nicht besser wüßte, von einem lebenden Menschen nicht mehr unterscheiden können; der Höchstgrad an Perfektion
schien erreicht. Wahrscheinlich irrte ich wieder. Aber sein »Henket«, das selbstgebraute Bier nach Rezepten aus Menefru-Mire oder NoAmun, aus Malz, Getreide und Datteln, war stark, beruhigte mich und half mir schneller einzuschlafen. Ich hielt einen kühlen, halbvollen Tonbecher in der Hand und ging nachdenklich zwischen den wechselnden Hologrammwänden hin und her. Vor den lebensechten Abbildungen der Sharrukin-Tochter Encheduana schwebte ein akkadisches Tontäfelchen, eng beschrieben. Ricos Stimme drang aus den Lautsprechern. »Encheduana, die schon lesen und schreiben konnte, bevor sie dich, den Baumeister ihres königlichen Vaters kennenlernen durfte, hat Leid durch Dichtkunst kompensiert.« »Wie das? Was meinst du?« brummte ich und las die Worte der ersten Keilschriftreihen. Ich stieß dreimal auf den Namen Inanna. Riancor ließ sich nicht unterbrechen. »Sie schrieb, nachdem du ohne Spuren aus Akkade verschwandest, einen Zyklus von Inanna-Hymnen; Lobpreisungen des göttlichen Morgen- und Abendsterns.« Ich setzte mich, blendete den Hymnenzyklus aus und erfreute mich in schweigender Erinnerung, bis ich mir zuflüsterte, daß Encheduana ebenso wie Nefer-meryt längst zu Staub zerfallen und deren Bilder von der höchst lebendigen Asyrta-Maraye verdrängt worden waren. Ich schaltete die Aufnahmen zurück in die Speicher, widmete mich dem Anblick des primitiven Hafendörfchens, das die Romet »Kypny« und die Ortsansässigen »Gubal« oder »Gubia« nannten. Rico näherte sich dem Sessel vor den Pulten, Konsolen und Paneelen, füllte den Becher auf und sagte: »Du mußt spätestens in einer Stunde wieder schlafen und danach unter die Solarlampen, Hafenherrscher Ahiram-Acran.« »Ist das der Name, den ES für mich bestimmt hat?« »Er paßt zu deiner neuen Maske«, sagte Rico. »Wir sprachen lange darüber, daß du während dieser überfallähnlichen ESEinsätze ein Depot, Magazin oder Zugriff auf einen arkonidischen Flottensilo haben solltest.« »Richtig.« Ich nickte und trank in kleinen Schlucken. Wohltuende Müdigkeit breitete sich in meinem Körper aus. »Ich erinnere mich
an das Sherengi-Desaster, das beinahe mein Leben gekostet hätte. Was schlägst du vor?« »Ich habe Transmitter aktiviert. Ein schwebefähiger Container steht bereit, angefüllt mit allen nützlichen Gerätschaften und Vorräten. Du könntest ihn in eine Höhle des Zederngebirges steuern oder in einer Wüste verstecken. Ich habe mit den Sonden eine Reihe verschiedener guter Verstecke gefunden.« Ich nickte und gähnte. Inzwischen kannte ich mein Ziel, meine Maske und meinen neuen Namen, aber nicht die Aufgabe, die ES mir zugedacht haste. Ich gab Rico den leeren Becher und drehte den Monitoren und Projektionen den Rücken zu. »Wir sprechen alle Vorbereitungen noch einmal in allen Einzelheiten durch, Rico.« Ohne Hast ging ich über Teppiche, die ihre Muster und die Oberflächenstruktur veränderten, entlang an Ricos prächtig modellierten Wänden und in meine Privaträume. Unter einem klaren Sternenhimmel, in dem eine silberne Mondsichel schwebte, stand mein Lager in körnigem Wüstensand, umgeben von den Hilfsgeräten, die wie schweigende, skeletthafte Diener aussahen. Ich streckte mich aus und schloß die Augen; ich dachte an meine wenig beneidenswerte Lage. Längst würden sie auf Arkon nicht mehr an mich denken. Die arkonidische Station auf dem zweiten Larsafplaneten, in der ich Hyperfunksender fände, war für mich ebenso unerreichbar wie für jeden Barbaren der Larsaf-IIIWelt: Wir konnten den Wandelstern als leuchtenden Punkt zwischen anderen Gestirnen bewundern und ihn mit göttlichen Eigenschaften ausstatten, so wie Encheduana es getan haste. Existierte jener einsame Fremde noch, Proteos, der das Gemetzel auf Kefti überlebt haste? Welchen Aufgaben segelte Asyrta-Maraye nach? Was hatte der gottähnliche Herrscher im Großen Haus zu Menefru-Mire mit Kypny-Gubla vor, Amenemhet, der Erste dieses Namens? Ich wußte nichts. Hier lag ich, etwa 6030 Jahre nach dem Untergang von Atlantis, und als ich an Asyrta-Maraye dachte, sagte ich mir, daß der nächste Aufenthalt zwischen den Barbaren durchaus seine angenehmen Stunden haben würde: Es lag nur an mir, den Spielraum freien Willens, den ES mir und uns ließ, entsprechend zu gestalten. Ich schlief halbwegs zufrieden ein.
Rico schleuste einen getarnten Container aus, ein kleines Boot, das ich rudern und segeln konnte, voller Nahrungsmittel und überlebensnotwendiger Ausrüstung. Ich suchte im Südwesten der sandalenförmigen Insel jene Höhle und jenen Strand, der Asyrta und mir einen langen Sommer als einsamer, schattiger Wohnsitz gedient hatte, schwamm viel, ließ mich bräunen und vertiefte mich in die Dagor-Techniken, mit denen ich meinen Körper stark und geschmeidig machte; sein Zustand entsprach tatsächlich sechsunddreißigeinhalb Arkonjahren. An diesem Punkt hatte der Zellaktivator ein mögliches, sehr viel später eintretendes Altern angehalten. Im dämmerigen Raum der Höhle betrachtete ich die Bilder der Sonden, die Rico und ich steuerten. Ich hörte alte arkonidische Musik und die Lieder der Barbaren, schlief traumlos und lange und verstaute schließlich meine Ausrüstung im Boot, aktivierte die Gleitersteuerung und landete vor dem Morgengrauen in der Dünung vor Gubal. Kurz nach Sonnenaufgang segelte ich in den Hafen ein. Es war nur eine Frage von wenigen Stunden, bis ich ein Haus und die nötige Dienerschaft gefunden haste; die Dokumente vom Hapiland waren überzeugend. Ich hatte meine Vorstellungen und brauchte eine große Menge Baumaterial; zuerst zogen ich und die Handwerker in die riesigen Zedernwälder, um Holz für Dachstühle, Möbel, Schiffe, Haushaltseinrichtungen und fürs Kaminfeuer zu schlagen. Die schwere, langstielige Axt pfiff durch die Luft und bohrte sich tief in den keilförmigen Spalt des Stammes. Aus der Krone der Zeder raschelten Blätter und Rindenteilchen. Als ich die Axt zurückriß und eine Wolke des harzigen Zedernölgeruchs in die Nase bekam, hörte ich ein anderes Geräusch. Ein fahles Sausen, einen hämmernden Einschlag. Eine Handbreit vor meinem Gesicht zitterte ein langer Pfeil im Baumstamm. Ich ließ meinen Körper vom Schwung der Axt nach hinten reißen, sprang vom Stamm weg und schrie gellend: »Ein Überfall! Nomaden! Zu den Gespannen, Freunde!« Dort lagen unsere Waffen. Wir gingen niemals unbewaffnet in die Wälder. Die Ochsen begannen zu schreien, als von überall her rennende Menschen auftauchten. Die Wildeselhengste des leichten
Wagens stiegen schreiend hoch und zerrten an den Zügeln. Ich lief geduckt bis zum Stapel entasteter Stämme, sah mich um und brüllte: »Zu mir her! Holt die Waffen! Schnell!« Durch ein Gebüsch neben mir schnitt prasselnd ein blitzender Speer. Ich sah hinter mir ein unbekanntes Gesicht, holte mit der Axt aus, traf mit einem furchtbaren Schlag den Schild und brach dem Angreifer den linken Arm. Der Mann schrie laut und ließ die Keule fallen. Ich warf mich herum und war bei meinen Waffen. Augenblicke später hatte ich meinen linken Arm durch den Schild geschoben, spannte meinen Bogen und jagte den ersten Pfeil in die Schulter eines Angreifers, der nach den Zügeln der Wildesel griff. Nomaden! Immer wieder Nomaden. Ich konnte hoffen, daß es nicht viele waren. Sie kamen aus Amurru, dem Westland. Kleine Gruppen, selten mehr als zwei, drei Sippen mit ihrer Habe. Menschen, deren Meer die Wüste war und die kaum etwas zu verlieren, aber viel zu gewinnen hatten. Rund um Gespanne, Schlitten und wuchtige Scheibenräder entbrannte ein schneller Kampf. Ich sprang auf einen riesigen Baumstumpf und legte einen zweiten Pfeil auf die Sehne, schoß ihn in den Oberschenkel eines jungen Angreifers, der einen Speer nach Siren werfen wollte. »Siren! Hinter dir!« schrie ich. Er drehte sich herum und schlug dem Angreifer mit der Doppelaxt eine Art Schwert aus der Hand. Zwei Holzfäller rannten hinter einem flüchtenden Nomaden her und warfen ihn zu Boden, indem sie einen Speer zwischen seine Beine schleuderten. Langsam drehte ich mich im Kreis und schoß gezielt einen Pfeil nach dem anderen ab. Dies war der fünfzehnte Überfall, den ich miterlebte. Schräg unter mir rollte ein Baumstamm von dem Stapel und erschlug einen älteren Mann im Fellgewand. Ich sah kein Ziel mehr, sondern nur Gruppen von Männern Gubals, die einen Nomaden fingen und fesselten. Ich senkte den Bogen, steckte den Pfeil in den Köcher zurück und sprang von dem Baumstumpf. »Wir haben gewonnen!« brüllte Siren vom anderen Ende unseres flüchtigen Lagers. »Ein paar kräftige Sklaven. Der Rest ist schwächlich und muß erst gefüttert werden!«
Er trieb einen jungen Mann mit wildem Haarschopf und schwarzem Kräuselbart auf mich zu. Aus allen Richtungen zerrten und schleppten meine Leute verwundete und gefangene Nomaden unter Flüchen und Geschrei heran. »Wir gehen und holen den Rest. Diesen Kampf hätten sie sich sparen können.« Siren bohrte im Ohr und fragte grinsend: »Wußten sie vorher, wie gastfreundlich wir sind?« Es war ein Dutzend Männer zwischen fünfzehn und vierzig. Einer war schwer verletzt, einer vom Baum erschlagen, alle trugen Schrammen und Wunden. Im Nu waren sie gefesselt und wurden in der Nähe des Feuers zu Boden geworfen. Ich blickte einen nach dem anderen an und schüttelte mich: arme Wüstenschakale, die mehr aus Not zu rauben versuchten denn aus Bösartigkeit. Wir hatten Verwendung für sie. Ich trat zwischen sie, ließ den Arm mit dem Schild sinken und sagte: »Ihr seid unsere Gefangenen, Sklaven, Leibeigene. Ihr werdet gut behandelt. Wo sind eure Frauen und alles übrige?« Keiner antwortete; sie starrten uns schweigend und mißtrauisch an, waren unbeschreiblich ungepflegt und ausgemergelt. Siren versetzte seinem Gefangenen einen Tritt, der den Mann aufs Gesicht warf, bückte sich und bohrte ihm die Spitze des Dolches in den Hals. »Unser Fürst hat geruht, eine Frage an dich zu richten. Wie willst du mit einem Dolch im Hals reden, stinkender Mann ohne Haus?« »Dort… beim Bach, bei der Quelle«, röchelte er mit hervortretenden Augen. Siren grinste wie ein Schakal und murmelte: »Gehen wir, Freunde. Holen wir sie. Wir füllen unsere goldene Stadt mit schönen Bürgern.« Er warf mir einen schrägen Blick zu und setzte sich mit zwei Dritteln unserer Leute in der angegebenen Richtung in Bewegung. Nach einigen Schritten verschmolzen die Männer aus Gubal unsichtbar mit dem Gebüsch. Ich lehnte mich gegen den Stapel Stämme, fischte aus dem Netz im Wagenkorb den Krug und nahm einen Schluck gemischten Weines. Der Logiksektor murmelte: Das
alles, Arkonide, obwohl du nicht im geringsten weißt, wozu es gut ist. Dir fehlt jede Motivierung! Er hatte mich bisher schmächlich im Stich gelassen, behielt aber recht. Jeden Morgen, wenn ich aufwachte, sah ich den gräßlich glühenden Spalt am Horizont. Wenig später fluteten blendende Kaskaden Sonnenlicht über das Land. Die Zedern schwitzten aromatisches Öl aus, der Wind brachte den Geruch nach Gubal und erfüllte Tage und Nächte mit diesem Aroma. Die Ruinen einiger Siedlungen, die nacheinander, längst vergessen, hier existiert hatten, waren zu Fundamenten für unsere Stadt geworden. Zwischen Menefru-Mire und Kilikien setzten sich entlang des östlichen Ufers des Oberen Meeres die Menschen in Bewegung. Dies taten sie offensichtlich schon seit einem Jahrtausend; die Ruinen von Gubal sprachen beredt davon. Es kamen mittelgroße, schwarzhaarige Menschen mit hellbrauner Haut, jene Leute aus Amurru, den westlichen Ländereien. Überall, wo ihre unsichtbaren Straßen durch die Wüste führten, gab es Kämpfe. Kleine Scharmützel, selten mehr als hundert Kämpfer. Auch dies geschah seit einem Jahrtausend. Und inmitten dieser Wirren sollte ich einen Plan verwirklichen, der nicht von mir war? Meinen Träumen gegenüber war ich mißtrauisch. Aber wenn ein Traum immer wieder nach dem Erwachen präsent blieb, mußte ich annehmen, daß er von meinem Sklavenmeister stammte, von ES. Gubal sollte die Drehscheibe für ein Volk werden, das an vielen Punkten der Küsten, auf Inseln und auf dem Oberen Meer handelte und Ideen, Menschen und Güter transportierte, auf Wegen, die ich nicht kannte, mit Schiffen, die es noch nicht gab. Unter der Leitung von Kapitänen, die noch nicht gemietet waren. Von einem Hafen aus, von dem nicht viel mehr existierte als Wasser. Und das alles im Namen einer Stadt, deren Mauern ich erst zu bauen begann? Ich kannte mich: mit dem, was ich nach meinem Erwachen vorgefunden hatte, würde ich tun, was mein stets wiederkehrender Traum diktierte. Am Abend wälzte sich unser langer Zug geräuschvoll durch das Landtor. Ochsengespanne schleppten Zedernstämme; leichtere
Lasten waren auf knirschenden Schlitten festgebunden, schwerere auf Wagen mit wuchtigen Scheibenrädern. Etwa fünfzig Nomaden waren gefangengenommen worden. Als mein leichter Wagen zwischen den beiden Tortürmen über die Brücke ratterte, hatten die Arbeiten aufgehört. Im Augenblick gab es sicherlich mehr als hundert Baustellen in der Stadt rund um den ovalen Naturhafen. Siren, mein Lenker, sagte leise: »Ahiram, mächtiger Fürst. Immer wieder wundert es jeden, daß Tempel für Götter gebaut werden, die niemand kennt. Häuser entstehen für Bewohner, die es nicht gibt. Der Hafen wird gebaut für Schiffe, deren Holz noch im Wald steht. Wann wirst du uns das erklären?« Ich stützte mich im gefochtenen Weidenkorb ab und sagte: »Gubal, die Strahlende, wird in zweimal zwölf Monden voll Menschen sein. Der Hafen voller Schiffe. Und wir sind reich und lassen uns verwöhnen.« Schon jetzt kamen Handelskarawanen, teilten sich und rumpelten in verschiedene Richtungen weiter. Jeder, der brauchte, was er nicht hatte, kam nach Gubal. Abgesehen von zufälligen Besuchen irgendwelcher Uferschiffer und unbeholfenen Barken aus dem Hapiland gab es keine Schiffe. Auf seine Art hatte Siren recht, aber er hielt zu mir und träumte offenbar meine Träume. »Wie gut, daß jeder hier etwas daläßt – oder wenigstens arbeiten kann.« »Warte nur! Vor sechs Monden… wie sah es hier aus?« fragte ich müde. »Öde«, sagte er widerwillig und lenkte meinen Wagen über eine aufgerissene Straße in die Richtung meines Hauses. Sehr häufig fanden wir unter dem Schutt von eineinhalb Jahrtausenden massiv gebaute Kanäle für Abwasser. Es gab im schmalen Küstenstreifen am Fuß des Zederngebirges genügend Menschen. Wir hatten saftige Weiden, Amenemhet brauchte unser Zedernholz und schickte Auswanderer, Handwerker, wertvolle Geschenke und Ideen; die mehr als 3000 Menschen, die ich hier gefunden hatte, bauten Stadt und Hafen. Weil sie nach meinen Plänen bauten – die meinen
Träumen und einer Erfahrung entsprangen, begannen wir bei der Kanalisation, bei den Aquädukten und bei der Stadtmauer. »Und wie sieht es jetzt aus?« »Ganz anders. Aber wir sind einfache Menschen, Fürst. Wir kennen deine Ideen nicht. Wissen nicht, was du vorhast.« Ich legte die Hand auf seine Schulter und sagte: »Ich weiß es. Für heute haben wir genug getan. Verteil die Nomaden, wie wir es immer gehalten haben. Ich fahre allein weiter.« »Morgen?« »Morgen, bei den Fundamenten am Hafen, Siren.« »Nicht heute in der Schänke?« »Nein. Ich will allein sein.« »Vielleicht«, sagte er mit breitem Grinsen und schwang sich aus dem Korb, »besuche ich dich noch mit Wein und ein paar Sklavinnen.« Ich erwiderte halb mürrisch, halb begeistert: »Ihr werdet vielleicht willkommen sein, Freund Siren.« Auf einer der höchsten Klippen hatten wir die Fundamente meines Hauses errichtet. Ich spannte die Tiere aus und überließ sie den Sklaven, ging in einen fast fertigen Raum und setzte mich in den hochlehnigen, fellüberzogenen Sessel. Ich überblickte nahezu die gesamte Stadt und den Hafen. Letztes Sonnenlicht lag auf den bewaldeten Gipfeln des Gebirges, das im Norden Gubals rechtwinklig seinen Verlauf änderte und weit ins Meer vorsprang. Hier war ich also, ein Fürst am äußersten Einfußbereich des Amenemhet. Müde, in einer Umgebung, wie ich sie mir nicht gewünscht hatte, mit dem vergrabenen Schatz von Ausrüstungsgegenständen. Ich mußte dieses Haus fertigbauen und die Zisterne, um überhaupt ein Heim zu haben. Ich gähnte und lehnte mich zurück. Du solltest schlafen, Atlan. Du hast zweihundert Tage fang gearbeitet wie ein Zugochse. Entspann dich! sagte der Logiksektor beruhigend. Vielleicht war der Ratschlag gut und richtig. Ich zog die harzbedeckten Stiefel aus, warf mich auf mein Lager und zerrte die Felle über mich. Kurze Zeit später war ich tatsächlich eingeschlafen.
Ein Alptraum walzte über mich hinweg. Jedes Bild war von gläserner Klarheit und verankerte sich unauslöschlich in meiner Erinnerung. Wieder würde ich im erbarmungslosen Licht des mittelmeerischen Sommers jede einzelne Sequenz dieser Traumbotschaft wiedererkennen, als hätte ich sie niedergeschrieben und gezeichnet. Ich kenne deinen photographisch exakten Verstand, Arkonide! gellte eine Stimme. Ja, ich bin es: ES. Ich habe dich aus langem Schlaf geholt. DER KOKON DES TRAUMES BRACH AUF. Aus Traum wurde Wirklichkeit. Ein langgezogenes Gelächter marterte mich; das Lachen dieses gottähnlichen Kollektivwesens auf Wanderer, dem Kunstplaneten makabrer Überraschungen. Evolution durch Terror, Hilfe für diesen geschundenen Planeten durch Kampf, Zwang und Sklaverei? Empor aus dem nebligen Dunkel der Bronzezeit! Mit ES und Atlan hinauf zu den lichterfüllten Gipfeln geistiger Klarheit! Weg vom Götzenglauben, auf den langen Weg zu den Sternen! RICHTIG, ARKONIDE! Wieder dieses Gelächter, dem ich nicht ausweichen konnte. ES sagte: »Ich war es, der Amenemhet dazu brachte, dich zum Gaufürsten von Kypny zu machen! Ich war es, der in dein Gepäck exakte Karten des Meeres steckte. Ich schuf sie. Sie werden deutlich bleiben, bis deine Kapitäne die Karten selbst zeichnen können oder die Uferlinien im Gedächtnis haben. Von mir stammt der Plan von Stadt und Hafen, den du gezeichnet hast; ich bin der Herr der Träume. Ich habe deine Helfer auf sklavischen Gehorsam eingeschworen. Ich werde dafür sorgen, daß der Plan Wirklichkeit wird. Alles client zur Vorbereitung einer Aktion in der Zukunft. Auch die Mannschaft, die in den nächsten Jahren zu dir stoßen wird, client diesem Planeten. Hörst du? Vergiß es nicht: Nein, ich vergaß, daß dir das Vergessen unmöglich ist. DU WIRST DIE UNSICHTBAREN STRASSEN DES MEERES ZIEHEN! Wenn der Sommer geht, wird eine goldene Barke in Gubal anlegen. Dann wirst du belohnt für das, was du erarbeitet hast. Nur ein Bild der Erinnerung.« Ein Blitz zuckte durch meinen Verstand. Der Schleier riß. Ich sah Asyrta-Maraye. Sie lebte! Liebte mich und fieberte ungeduldig dem Augenblick entgegen, an dem wir uns wiedersehen.
»RICHTIG! Arkonide, Wächter des Planeten! Hüter der Evolution, die viele ihrer Kinder frißt und noch mehr verschlingen wird! Sie war mit dir in der Tiefseekuppel und wird im Herbst hierher kommen. Bereite ihr einen würdigen Empfang, Atlan. Und verfluche mich nicht zu oft; auf Wanderer würden mir die Ohren summen, wenn ich welche hätte. Ich werde wieder mit dir sprechen, wenn es an der Zeit ist! Lebe wohl, Arkonide!« Der Traum riß ab; ich glitt in einen kurzen, tiefen Schlaf. Ich befand mich im Zentrum des Chaos. Ich wachte auf und erkannte Siren, der mich an den Schultern rüttelte. »Es ist Mitternacht, Fürst Ahiram!« sagte er lallend. »Wein und Mädchen. Musik und Wein!« Ich setzte mich taumelnd auf. Ich hätte ihn erwürgen mögen, meinen einzigen Freund mit gelben Zähnen, halber Glatze, Schmutz unter den Fingernägeln und einem Herzen wie Gold. »Verdammt seist du, dein Wein und die Weiber!« knurrte ich und stand auf. »Bringt Fackeln, schließt die Vorhänge. Musikanten! Feiern wir, selbst wenn wir verzweifelt sind.« »So ist es recht«, murmelte er zufrieden und schlug mir zwischen die Schulterblätter, daß ich gegen die Mauer stolperte. Mein Schädel dröhnte. Zwischen den Zähnen hatte ich einen Geschmack, als hätte ich alten Fisch gekaut. Ich riskierte es, die Augen zu öffnen. Der Spuk, den ich erwartet hatte, war verflogen. Das unfertige Zimmer war voller Weinlachen, zertrümmerten Tonbechern und umgefallenen Krügen. Blutrot trocknete Wein auf einem weißen Lammfell. Neben mir regte sich jemand. Siren? Ich drehte den Kopf und kämpfte einen Schwindelanfall herunter. »Ahiram-Herr«, sagte eine schläfrige Stimme. »Siren hat gesagt, ich soll bei dir bleiben und dich trösten, wenn es nötig ist.« Ich zog Decken, Leinentücher und Felle weg und sah die junge Frau, deren Schönheit mir im Licht der Fackeln und Öllampen aufgefallen war, Stunden zuvor. »Niemals war es nötiger als jetzt«, murmelte ich mit tauben Lippen und dicker Zunge. Sie gähnte, blinzelte, rieb sich die Augen und stand auf. Langes schwarzes Haar fiel über gebräunte Schultern. Ich stierte sie an und schüttelte dann unvorsichtigerweise den Kopf.
»Ich werde dir sagen«, ich redete leise und langsam, »was heute getan wird. Nichts. Ich nehme ein Fischerboot, du holst einen Korb mit Essen. Wir verbringen den Tag auf dem Meer, jenseits des Hafens.« Vom Fenster oder besser dem leeren Raum zwischen rohen Säulen herüber sah sie mich an und lächelte anmutig. »Siren muß es gewußt haben. Alles, sagt er, ist bereit.« Ich legte die Hand auf meinen Zellschwingungsaktivator und spürte dankbar die Impulse, die meinen schweren Kopf in kurzer Zeit klären würden. »Er ist ein wahrer Freund«, gab ich zu. Die Krisis war vergessen. Ich glaubte, daß ich mit neuen Kräften und besseren Ideen weiterzuarbeiten beginnen sollte. Aber nicht heute. Ich begann mich an die tausend Einzelheiten des Traumes zu erinnern, der kein Traum, sondern ein Befehl von ES war. Die Frau hieß Ashait und schien sich ehrlich zu freuen. Wir fuhren mit meinem Wagen zum Hafen, der seinen Namen noch lange nicht verdiente. Ein kümmerliches Fischerboot lag da. Ich zerrte es ins Wasser, hob Proviant, Decken und Tücher und zuletzt Ashait hinein, ergriff die brüchigen Riemen und begann zu rudern. Mein Zustand zwischen Schlaf, Rausch und Wachheit ließ mich plötzlich die Schäbigkeit des Hafens erkennen, während wir uns langsam hinausbewegten. Das Wasser war völlig still, es gab eine unterseeische Strömung, die sich vor dem Klippenrand umkehrte und uns mit sich zog. »Du bist so still, Fürst Ahiram«, sagte Ashait. »Dein Blick ist grimmig?« Von hier aus sah ich eine Karawane durch das Landtor hereinkommen. Selbst unter diesen ärmlichen Umständen war Gubal ein bekannter Umschlagplatz, aber nur auf dem Landweg, denn was als »Schifffahrt« bezeichnet wurde, war lächerlich. Langsam zeichneten sich in meinem nebligen Gedanken Pläne und Ideen ab. »Mein Blick ist verschleiert, well ich gestern zuviel Wein getrunken habe, Schönste der jungen Zedern«, murmelte ich unwillig, well das Boot Wasser zog wie ein Schwamm. »Still bin ich, well mir gerade einiges eingefallen ist.«
Ich ruderte weiter. Wenn wir mehr und größere Fische fangen würden, hätten wir bessere Gasthäuser; jeder, der die Stadt besuchte, würde mehr Geld hier lassen, das die Wirte reicher machte. Vielleicht würden sie besser kochen und keine so häßlichen Mägde beschäftigen. Mit guten Fischerbooten würde mehr Fisch an Land gebracht werden. Außerdem brauchten wir Handwerker, die Schiffe ausbessern konnten. Also sollten wir in einigen Tagen die ersten Fischerboote auf Kiel legen; im halbfertigen Werftgebäude neben den Hallen und den Holzlagern. Ich ruderte schweigend weiter. »Sie sagen, du willst den Hafen bauen lassen, Fürst?« fragte Ashait munter. Ihre Stimme schnitt schmerzend in meine Gehörgänge. »Ja. Ich bräuchte dreißigtausend Arbeiter, die ununterbrochen Steine brechen«, versicherte ich leise. »Nimm den Krug und schöpf!« Langsam klärten sich meine Gedanken. Ich ruderte schneller und kräftiger. Die Sonne begann zu brennen. Ashait plapperte fast ununterbrochen. Vor meinem inneren Auge entstand die Vision eines lebendigen Hafens; voller Menschen, Frachten und Hebebäume, Farben, Geräuschen und Gelächter. Es würde lange dauern, bis diese Vision verwirklicht sein würde. Ich begann zu schwitzen und verließ mit dem lecken Boot, das betäubend nach Fisch stank, den Bereich des Hafens. Meine Pläne mußten revidiert werden. Ich würde es mit weniger Arbeit und in kürzerer Zeit schaffen. »Wohin willst du, Ahiram? Das Boot ist voller Wasser!« Ich ließ ein Ruder los und deutete auf die kleine Bucht zwischen den südlichen Hafenfelsen, die nur mannshoch über den Wellen lagen. »Dorthin. Sonnen, Schwimmen, Schlafen.« »Ich freue mich«, sagte sie einfach. Als das Boot auf den Sand knirschte, wußte ich genau, daß die Aufgabe in der Zeit, die ich mir gestellt hatte, mit den vorhandenen Mitteln und Helfern nicht zu schaffen war. Heute jedenfalls dachte ich nicht daran. Wir taten, was wir uns vorgenommen hatten. Ich
schwamm und tauchte so lange, bis ich klar im Kopf war. Als wir am Abend in den Hafen zurückkamen, erfuhr ich, daß eine Gruppe von mehr als hundert Nomaden gefangengenommen worden war. Zusätzliche Bauarbeiter, flüsterte der Extrasinn. Die kostbarste Fracht kam aus dem Mündungsdreieck des Hapi. Das Stengelmark der schilfartigen Pflanzen wurde in feine Scheiben geschnitten und zusammengeklebt. Poliert, begradigt und zu langen Bahnen zusammengefügt, ergab dieses Material eine elfenbeinfarbene, nur im Trockenen haltbare, leicht vergilbende Folie, auf der geschrieben und gezeichnet werden konnte. Die schwerfälligen, überladenen Schiffe aus dem Reich Amenemhets brachten die Folie zu uns. Die Händler verteilten sie in kleinere Gebinde und tauschten sie gegen alle denkbaren Waren. Von GubalByblos aus erreichten kleinere Mengen dieses Schreibmaterials viele Orte im östlichen Bereich der Küsten. Unsere wachsende Stadt trug also den Namen des Materials, das hier gehandelt wurde. Ich bin sicher, du sorgst dafür, daß sich dieser Umstand bald ändert, sagte der Logiksektor. Ich nickte. »Ganz bestimmt.« In Gubal war mein Wort Gesetz und wurde durch eine kleine Truppe Soldaten und Schreiber unterstützt; fast eine überflüssige Maßnahme. Die Leute wußten, daß Fortschritt ihnen nur nützen konnte. In den nächsten Tagen entfesselte ich eine Flut von Aktivitäten: Gespanne schleppten riesige Mengen von Quadern in die Stadt, die wir im Gebirge gebrochen hatten. Von Sonnenaufgang bis zur Dunkelheit war Gubal erfüllt vom Klirren der Bronzemeißel und vom Krachen der Blöcke, wenn sich Holzkeile dehnten, die wir in die Löcher geschlagen und mit warmem Wasser übergossen hatten. Die Stadtmauer wuchs, bildete eine Wand zu mehrstöckigen Häusern, meist stand sie frei und wurde mit angehäuftem Geröll und Erdreich abgestützt und bepflanzt, mit Zedern natürlich. Tag und Nacht arbeiteten auch die Sägen und verwandelten mächtige Zedern kreischend in Bretter, Balken und Sägemehl. Eine Truppe befand sich draußen, wo der Nar lafka durch die Felder der Bauern floß. Dort entstand ein Aquädukt, zum größten Teil unterirdisch. Die Stadt sollte für Jahrhunderte unabhängig vom Regenwasser
werden. Wir verwendeten Steine, dichteten die Fugen mit teurem Erdpech ab, das wir gegen Schinken Holz und Wolle eingetauscht hatten. Jeden Tag näherte sich die Arbeitsgruppe ein Dutzend Schritte mehr der Stadtmauer. Ich mußte mich zur Geduld zwingen. Langsam hob ich den Tonbecher und trank Würzwein, mit Wasser gemischt. Mein Blick ging über den Hafen und über die zwei Landzungen, die in einigen Jahren bebaut sein sollten. »Du bist ungeduldig. Ahiram-Atlan?« fragte Siren. Wir saßen in einer Schänke, einem einfachen Holzbau. Daneben stand das Fundament des neuen Hauses. Ein Halbmond unterschiedlicher Bauwerke sollte den Hafen umgeben. »Ja. Wir brauchen mehr Arbeiter, Siren«, sagte ich. Eine Magd stellte einen frischen Krug Weingemisch zwischen uns. »Es kommen jeden Tag neue Wanderer, die sich ansiedeln. Sie sind sehr feißig, wenn sie erst einmal begriffen haben.« »Wir werden mit dem Hafen anfangen, sobald die Mauer fertig ist.« »In einem Mond könnten wir von dort die Arbeiter abziehen. Wann kommt der Bote aus Hapiland?« »Ich weiß es nicht«, erwiderte ich. »Er kann schon mit dem nächsten Schiff hier eintreffen.« Siren hob seine runden Schultern und breitete seine Arme aus; ein häßlicher, aber treuer Mann. Seine Stärke war die Fähigkeit, scheinbar Unmögliches zu arrangieren. »Wir haben uns nichts vorzuwerfen, Fürst. Ich werde Aufseher und Schreiber zusammenrufen. Noch etwas: Überall, wo Material und Arbeiter frei werden, ziehe ich sie ab für den Bau deines Hauses.« »Ich danke dir. Ja, laß uns mit den Männern sprechen. Der Bau des Hafens wird eine gewaltige Anstrengung.« Es war Mittag. Senkrecht schlugen die Sonnenstrahlen herunter und verwandelten das Wasseroval in einen funkelnden Spiegel. Hitze kochte in jedem Winkel, die Geräusche der Steinmeißel waren wie das unaufhörliche Zirpen riesiger Grillen. Nach der Ernte würden die Bauern aus dem Umland kommen und in der Stadt arbeiten. Wo war Asyrta-Maraye? Wann kamen die Schiffe und
bevölkerten den Hafen? Wir sollten wirklich mein Haus fertigbauen. Je mehr ich über alles nachdachte, desto mutloser wurde ich. Mir fehlte die Motivation. Alles störte mich, ich arbeitete halbherzig und lustlos. Ich trank einen Schluck kühlen Wein, blickte an Sirens Kopf vorbei und murmelte: »Wer ist der Mann? Kennst du ihn?« Zwischen tiefen Gräben, behauenen und unbehauenen Quadern, Sonnensegeln und Schutt kam ein mittelgroßer, schlanker Mann auf uns zu. Er trug einen Dreizack, hatte schütteres Haar, einen hellen Bart und war sonnengebräunt. »Kenne ihn nicht. Es kommen viele Fremde in die Stadt.« »Gleich werden wir’s wissen«, sagte ich und blickte dem Näherkommenden blinzelnd entgegen. Mit flinken Schritten sprang er über das Geröll und blieb schräg neben unserem Tisch stehen. »Ich suche den Fürsten Ahiram, Gaufürst des Herrschers von Menefru-Mire.« Ich hob mit mäßigem Schwung die Hand und rief: »Du hast ihn gefunden. Wer bist du?« »Gerth Vi’Gant, der Krückenmacher. Ich komme, dir meine Arbeit anzubieten, Herrscher.« »Noch haben wir nicht so viele Krüppel«, sagte ich lachend und deutete auf einen der Schemel, »daß wir einen Krückenmacher brauchen. Nimm Platz, Gerth.« Er setzte sich, nachdem er sich höflich verbeugt haste. Überraschenderweise hatte er hellblaue Augen. Er schien von weither zu kommen. »Krücken, Herr«, sagte er leichthin und nahm dankend einen Becher Wein, »sind aus Holz, wie jedermann weiß. Es gibt auch welche aus Elfenbein oder Knochen; letztlich teure Bedarfsartikel für reiche Krüppel. Ich kann alle Arten Holz in jeder Weise bearbeiten.« Vielleicht kann er Schiffe und Boote reparieren und bauen? flüsterte das Extrahirn. Ich beugte mich vor und fragte aufmerksam: »Wenn du eine große Halle hast, wenn man dir Männer, Helfer und Werkzeuge gibt, natürlich auch Holz, könntest du Boote und Schiffe bauen?« Er lächelte, verschüttete Wein in seinen Bart und sagte:
»Im Land, aus dem ich komme, segeln viele Boote, die ich gebaut habe.« »Und woher kommst du?« »Ich bin in Mallia geboren, am Strand von Keftiu. Dort baut man gute Schiffe.« Schiffbauer aus Keftiu! Erinnerung flackerte auf. Ich blickte Gerth verblüfft an und sagte scharf: »Bist du sicher, daß du halten kannst, was du versprochen hast, Bootsbauer?« Er hob die knochigen Schultern und kratzte sich ausdauernd im Bart. »Wenn ich die Unterstützung bekomme, die ich brauche, werdet ihr bald gute Schiffe segeln können. Wie ist der Lohn?« »Er wird der Qualität deiner Schiffe entsprechen. Komm mit«, sagte ich, trank den Wein aus und sprang auf. Plötzlich, wie aus heiterem Himmel, hatte mich seltsame Erregung gepackt. Wenn Gerth hielt, was er versprach, hatte ich ein Problem gelöst. Siren blickte mich fragend an, ich winkte und sagte: »Dort hinüber.« Wir gingen durch die glühende Hitze zum langgezogenen Rechteck, das bald Werft, Holzlager und Hallen für den Bau von Schiffen sowie das Magazin enthalten sollte. Noch standen erst die Fundamente, lagen Trümmer und rohe Blöcke herum; alles atmete trostlose Unfertigkeit aus. »Dieses Fundament«, sagte ich und packte Gerth an der Schulter, »soll die Werft werden. Ich werde sie mit dir fertigbauen. Richte sie ein, wie du’s brauchst. Komm zu mir, wenn du Schwierigkeiten hast. Auch Siren wird helfen, wo er kann. Ich will, daß du als erstes fünfzehn Fischerboote baust. Hol die Fischer zu Hilfe. Ich schicke dir Männer und Werkzeuge.« »Hört sich gut an. In wieviel Jahren soll das alles fertig sein?« fragte Gerth erschrocken. Meine Antwort machte ihn ratlos: »Ich gebe dir drei Monde, das Wichtigste zu tun!« antwortete ich. »Du kannst sofort anfangen.« »Wo wohne ich?« »In meinem Haus. Auch dort beginnen in den nächsten Tagen die Handwerker.«
Gerth streckte mir die Hand entgegen. Er schien bemerkenswert selbstsicher zu sein, jedenfalls zeigte er weder Unterwürfigkeit noch falsche Bescheidenheit. »Abgemacht. Ich werde tun, was ich kann. Allerdings bitte ich um einen kleinen Vorschuß, Herr!« »Siren wird dir verschaffen, was du brauchst.« »Danke, Herr!« »In der Tat sind mein Vertrauen und meine Großzügigkeit sehr ausgeprägt. Bis auf weiteres.« Ich ging zurück zur Schänke. Ich wollte den Krug leertrinken und einen langen Gang durch die wachsende Stadt machen. Das plötzliche Erscheinen des Krückenmachers hatte mir Mut gemacht. Ich begann Gubal, diesen provinziellen Trümmerhaufen baufälliger Hütten, mit anderen Augen zu sehen. Das Gleichnis vom halbleeren oder halbvollen Krug fiel mir ein; ein Unterschied in der Betrachtungsweise. Ich sah Gubal als halbvollen Krug als noch nicht fertige Stadt. Jeder Tag brachte sie dem erhofften Zustand näher. Vier Stunden später, nach dem ich auf hundert Baustellen Ratschläge erteilt, Lob und Tadel ausgesprochen, Befehle und Anordnungen gegeben und die Männer angefeuert hatte, stand ich auf dem höchsten Punkt der Stadt, neben meinem Haus. Ich warf einen nachdenklichen Blick auf die doppelt mannsgroßen Zedern, die entlang der Straße wuchsen, dann ging mein Blick wieder zum Hafen. Das Wasser war ohne Wellengekräusel und smaragdgrün. Jenseits der beiden Felsspitzen der Einfahrt hing fahler weißer Dunst über dem Meer. Aus dem Nebel tauchte wie eine Vision ein Schiff auf. Ich erkannte es auf den ersten Blick: ein Schiff aus dem Hapiland. Das Segel war gerefft und an der Rah festgezurrt, die Ruderer schufteten an den langen Riemen mit den vergoldeten Bändern. Der Bote des Amenemhet, sagte der Logiksektor. Er wird Rechenschaft verlangen. Ich blinzelte überrascht. So zeitig hatte ich das Schiff nicht erwartet. Vielleicht hatten die Leute aus dem Hapiland guten Wind gehabt. Was hatte ES gesagt? Eine Mannschaft würde zu mir stoßen; ich solle mich auf ein dramatisches Ereignis vorbereiten… keine
Ahnung, was das sein sollte. Ich zuckte mit den Schultern und ging die geröllübersäte Straße hinunter. Das Schiff lag mit dem Heck auf dem Sand, die Besatzung fing an, Ballen, Krüge und Pakete durch das flache Wasser auf den Strand zu tragen. Ich blieb hinter dem Ruder stehen, blickte hinauf und rief: »Hier bin ich! Kam für mich Besuch aus dem Hapiland?« Nach einigen Augenblicken beugte sich ein mittelgroßer, kahlgeschorener Mann mit wertvollem Brustschmuck, breiten Zierarmbändern und weißem Schurz über die zerbrechliche Reling und rief: »Du bist Gaufürst Ahiram-Acran?« »So ist es«, gab ich zur Antwort. Ununterbrochen stapften beladene Träger vorbei und schienen verwirrt zu sein, sie erkannten die Stadt nicht wieder. Zu viele Gerüste, zu viel Stein, und vor der Mauer und den Pfeilern des Aquädukts der schwarze Rauch der Ziegelbrennereien. »Ich und einige Männer kommen als Geschenk des Amenemhets. Wir bleiben, um dir zu helfen. Der Bote ist auch mitgekommen. Er hat die friedvolle Überfahrt genossen.« Nacheinander kamen die Männer über eine verzierte Leiter. Sklaven schleppten ihren Besitz in Kisten hinterher. Ich betrachtete sie ernst und ging voraus, bis wir eine Reihe Steine erreichten und ich mich setzte. Der Kahlköpfige setzte sich neben mich, legte mir den Arm um die Schultern und sagte halblaut: »Ich bin Ka-aper. Ich habe den Hapigans-Gau verwaltet und kam, um dir zu helfen. Die vier Männer sind meine Helfer. Sie beherrschen die Kunst, zu schreiben, Listen anzulegen und sprechen wie ich die Sprache dieses Landes. Verwaltungsarbeit wird nicht mehr länger dir zur Last fallen, Gaufürst, sondern unser armseliges Bemühen ausfüllen.« Ich lächelte sinnend in mich hinein. »Mir scheint, heute ist ein glücklicher Tag. Ein Schiffsbaumeister, dann ihr, schließlich der Bote – das ist Grund, ein Fest zu feiern. Ich schlage vor, die ganze Einwohnerschaft daran zu beteiligen.« »Dies obliegt«, sagte Ka-aper höflich, wenn auch zurückhaltend, »allein deiner Entscheidung, Ahiram-Acran.«
»Dann soll es so geschehen. Was sagt und denkt der Gottähnliche?« fragte ich. »Sein Herz wird schneller schlagen, wenn ihm der Bote berichtet, was er sah. Dort kommt er, der Mann Neb-Nefer.« Fünf ausgebildete Verwaltungsfachleute, flüsterte der Logiksektor, werden schnell Ordnung schaffen. Hoffentlich. Ich begrüßte die Männer und versuchte, da sich inzwischen jene Menschenmenge gesammelt hatte, die jedesmal die Ankunft eines Hapilandschiffes begrüßte, vorläufige Quartiere für die Romet zu finden. Es gelang nach einiger Mühe; schließlich kam Siren mit meinem Wagen, den er zwischen Löchern und Steinen der Hafenstraße hindurch lenkte. »Wir haben neue Freunde bekommen und neue Helfer. Jetzt werden wir Neb-Nefer zeigen, was wir geschaffen haben«, sagte ich. Es entstand binnen weniger Augenblicke ein chaotisches Durcheinander, dem wir entflohen, indem sich Neb-Nefer und ich in den Wagenkorb schwangen und Siren die Eselshengste peitschte. Die oft überfallene und niedergebrannte Stadt war einst überlegt gebaut worden; wichtige Straßen liefen auf einen Platz zusammen zwischen dem Landtor und dem zukünftigen Seetor auf halber Höhe des amphitheaterartigen Gebietes aus Einschnitten und Abhängen. »Ihr baut auf den Ruinen einer alten Stadt?« fragte der Bote interessiert. Überall, wo Menschen arbeiteten, hoben sich winkende Arme. Die Bevölkerung samt der eingegliederten oder versklavten Nomaden rief uns Scherzworte und Willkommenssprüche zu. »Ja, so ist es. Vor vielleicht zweihundert Jahren wurde Gubal überfallen und geschleift. Wir fanden eine Kanalisation, die außerhalb des Hafens ins Meer mündet. Nun, da wir für die Jahre einer Ewigkeit bauen müssen, fehlen weniger die Balken oder Quadern, sondern ein Heer starker Arbeiter.« Ich entsann mich, für Meni-Narmer einst diese Siedlung als Ziel eines Beutekrieges vorgeschlagen zu haben; listenreich hatten wir uns des Stadtherrschers aus dem fruchtbaren Dreieck bemächtigt und die Kette der Reichseinigung rund geschmiedet. Neb-Nefer griff in die Zügel, ließ anhalten und studierte aufmerksam die Männer, die auf Steinen herumschlugen, Ziegel
strichen und den Stadtstempel hineindrückten, jene, die Holz bearbeiteten und es mit einer Beize aus rätselhaft stinkenden Substanzen bestrichen. Nach einer Weile sagte er: »Viele Menschen scheinen nicht hier geboren, aber zugewandert zu sein. Wir wissen: Eine große Wanderung zwischen dem Meeresufer und dem Zederngebirge findet seit langer Zeit statt. Kommen auch die aus dem Süden?« »Die meisten, Herr.« Siren ruckte an den Zügeln. »Wir bekommen die besten Nomaden, jene, die den langen Weg überlebt haben. Dort, seht, den Gebirgsriegel, der sie nach Gubal zwingt. Die Bauern vertreiben sie von den Feldern, also kommen sie in die Stadt. Dank des Goldes, das Amenemhet schickt, können wir sie arbeiten lassen. Ihre Söhne werden Häuser besitzen und Kaufeute, Kapitäne und Händler sein.« »Ich seine es deutlich«, sagte der Bote, als wir von Baustelle zu Baustelle weiterfuhren und Siren und ich die Planungen erläuterten. »Ka-aper wird versuchen müssen, alle zu sammeln, die ein Handwerk beherrschen.« Ich nickte; dieser Einfall war nicht gerade neu. Halblaut sagte ich: »Als ich kam, gab es nur wenige gute Fachleute. Inzwischen haben sich aus der Masse der Zuwanderer einzelne Talente hervorgetan. Inzwischen gibt es eine Handvoll künstlerischer Begabungen. Ka-aper hätte vor zwei Monden wenig Glück gehabt.« »Dies denke ich auch, Gaufürst.« Wir kamen auf das kurze Stück der befestigten Straße und, schneller, zwischen den Türmen des Landtores hinaus. Überall rauschten Bäche, teilweise befestigte Bauernhäuser lagen verstreut zwischen Olivenbaumhainen, Feigenbäumen, Zedern, Tannen und Zypressen, Schafe und Rinder weideten auf saftigen Weiden. Wir fuhren auf die Stelle zu, an der Steinmetze, Pechkocher und Erdschaufler an der Wasserleitung arbeiteten und am versteckten Auffangbecken. »Die Aufgabe von Ka-aper wird auch sein, durch Tausch, Kauf und Gegenkauf größere Felder zu schaffen«, schrie ich durch das Klappern von zwölf Hufen und das Klirren der bronzenen Felgen. »Es wird ihn nicht lange aufhalten. Braucht ihr Soldaten?«
Ich wiegte den Kopf. »Nicht, um Ordnung zu halten. Das schaffen wir ohne Mühe. Sie würden uns entlasten, well wir Zusammenstöße mit Nomaden haben. Unsere Arbeit wird häufig gestört.« »Ich werde es in Menefru-Mire vortragen«, schrie Neb-Nefer zurück. Einige Stunden später hatte er gesehen, was es zu sehen gab. Ich spürte tief in meinem Innern, daß es wenig Grund zum Mißmut gab. Wir hatten genügend Reserven. Es galt, Gesetzmäßigkeit in die Arbeit zu bringen und Spezialisten herauszubilden. »Amenemhet hat den Wunsch geäußert, einen Tempel zu errichten. Er wird Priester der Isis senden, wenn du es verlangst.« Wir fuhren im großen Bogen durch bäuerliches Land, das tiefen Frieden und satte Ruhe des Wohlstands ausatmete, zurück zum Landtor. »Zuerst brauchen wir feste Häuser gegen Stürme und die Kälte des Winters. Wenn alle Leiber versorgt sind, werden wir für die Seele sorgen«, sagte ich. »Habt Geduld! Wir sind nur ein Spucknapf, verglichen mit dem Hapiland.« Neb-Nefer nickte mir zu. »Dies scheint auch mir die richtige Reihenfolge zu sein, Gaufürst!« Vom Bericht dieses unbestechlichen Boten mit seinen scharfen Augen und dem kalten Verstand, der an Regierungsaufgaben eines durchorganisierten Staatswesens geschult war, hing das Wohlwollen des mächtigen Gottesherrschers ab. Solange Gubal nicht aus sich heraus leben konnte, waren wir auf die Launen Sesostris oder seines Nachfolgers angewiesen. Ein Befehl des Gottkönigs konnte uns vom Erdboden hinwegfegen wie vor Jahrhunderten, als die Stadt niederbrannte. In zwanzig Jahren vielleicht war Gubal-Byblos selbständig und retch genug, um unabhängig zu sein. Ich legte meine Hand auf die Schulter des Boten. »Zufrieden mit dem, was deine Augen gesehen haben?« Er lächelte zurückhaltend und massierte mit zwei Fingern seine Hakennase.
»Ich bin es. Der Herrscher wird auch zufrieden sein. In einem Jahr werden wir Gubal nicht wiedererkennen.« »Das verspreche ich dir!« betonte ich. Als wir durch die Stadt zurückfuhren, hielt Siren immer wieder an und schrie zu den Arbeitern, Handwerkern, Wirten und Mädchen hinunter, daß sie sich am Hafen einfinden sollten. Diese Nacht würde ein Fest gefeiert werden. Seine Botschaft wurde mit begeistertem Geschrei aufgenommen: Braten und Wein für alle. Rund um den Hafen drängten sich etwa fünftausend Menschen um mehr als hundert Feuer, an denen sich junge Schweine, mit Brot und Gewürzen gefüllte Hammel, allerlei Vögel und Fische am Spieß drehten. Tischplatten waren aufgeschlagen, viele schwitzende Wirte schenkten aus prallen Tierhäuten Wein aus. Leichter Wind vom Meer trieb Gerüche und Rauch in die Richtung der Stadt. Musikinstrumente wurden gezupft, geblasen oder geschlagen. Fackeln schwankten durch das Tohuwabohu wie erschreckte Glühwürmchen. Männer fluchten und lachten, während sie durch die Menge torkelten, einen Becher in der einen, fettriefende Hühnerschenkel oder ein Stück Braten in der anderen Hand. Frauen lachten und kreischten. Leise plätscherten die Wellen an den Strand, hoben und senkten den Bug der LOB DER ZWEI LÄNDER. Ich war ausgeschlafen und hatte meinen Bart entfernt. Ein goldener Stirnreifen hielt mein schulterlanges Haar zurück. Ich trug eine Art Hemd, das Schultern und Oberarme bedeckte, einen breiten Gürtel und den weißen Schurz der Romet über kniehoch geschnürten Sandalen, hielt die Hand der aufgeregt lachenden Ashait und beachtete das Murmeln des Extrasinns nicht: Du bist nur ein Werkzeug. Genieße die wenigen Stunden der Zerstreuung. Du wirst erleben, was ES versprach. Laß die Dinge auf dich zukommen. Stürz dich ins Getümmel! Zeig ihnen, daß du kein unbarmherziger Herrscher bist. Du kannst sicher sein, daß Asyrta-Maraye zurückkommt, auch sie ein Werkzeug. Gubals Aufbau ist nur der Anfang. Du bist der Hüter des Planeten, Vermittler von Kultur und Zivilisation. Du hilfst ES, ES hilft dem Barbarenplaneten! Ich blieb bei einer der zweihundert Zypressen stehen, die wir gepflanzt hatten, um der Hafenstraße richtigen Schatten zu verschaffen. Ashait fragte leise:
»Hüpft dein Herz schon vor Freude? Bin ich schuld, daß du oft so grimmig blickst?« Ich zog sie an mich und streichelte ihre warme Schulter. »Nein, Ashait. Du bist die einzige Freude in meinem arbeitsreichen Leben.« »Dieses Fest – es war deine Absicht?« »Ja«, sagte ich. »Es ist ein Unding, immer zu schuften wie die geprügelten Ochsen. Das größte Fest wird es geben, wenn diese kleine Stadt fertig ist.« »Bis zu diesem Tag ist’s noch lange hin.« »Wir werden es erleben, Ashait. Komm, trinken win Suchen wir unsere Freunde!« Wir wurden erkannt; man trank uns zu. Wir ließen uns vom fröhlichen Gedränge mitreißen. Das Fest fand zwischen Gräben und Fundamenten, auf Blöcken und Quadern, an Bord des Schiffes und im Sand statt. Zuerst stieß ich auf Gerth, den Krückenmacher. Seine blauen Augen strahlten wie kleine Fackeln. Er war angetrunken, sank vor uns auf ein Knie und schrie undeutlich: »Ich habe alles bedacht, Fürst! Wir werden die besten Schiffe bauen! Ich habe mit Ka-aper gesprochen! Ein Mann nach meinem Herzen, der genau weiß, was diese Stadt braucht. Eines braucht sie nicht: besseren Wein!« Er stützte sich schwer auf seinen Dreizack und glühte förmlich vor Begeisterung. Ich trank mit ihm einen Becher Wein, er bewunderte die Schönheit Ashaits, küßte sie bedauernd auf die Stirn und wankte weiter, um gebratenen Fisch zu ergattern. Vom Rost tropfte Fett in die schwarzrote Glut; die Gazellenschlegel waren mit schmalen Streifen Schweinespeck gespickt. Ka-aper und Siren, über deren Körper das düstere Rot spielte, hockten auf einem roh bearbeiteten Steinbrocken mitten auf der Hafenstraße. Ich sah sie erst, als mich Ashait in ihre Richtung zerrte. Beide Männer redeten aufeinander ein, als gelte es, einen Wettstreit zu gewinnen; sie gestikulierten, und ihre Augen leuchteten fanatisch. Ich nahm Ashait um die Hüften und hob sie auf den Steinblock. Ich rief: »Laßt mich mitstreiten! Rückt zur Seite!«
Sie erkannten mich und halfen mir hinauf. Wir befanden uns wie auf einem Felsen in der brüllenden Brandung aufgeregt schwitzender und grölender Menschen. Ich lehnte mich zurück, hob den Krug und stieß Siren an. »Seid ihr etwa zu Freunden fürs Leben geworden, du und Kaaper? Worum ging es bei eurem Gebrüll?« »Freunde? Noch nicht. Aber wir gehen auf derselben Straße kluger Gedanken«, sagte Siren. Ein merkwürdiger Mann, der Treue und Freundschaft nach völlig unergründlichen Gesichtspunkten verteilte. Er war gerissen wie ein Wüstenfuchs. Hinter seiner kahlen Stirn wucherten Ideen und Einfälle; da er nicht nur verschlagen war, sondern trinkfest wie kaum ein zweiter, vergaß er nie etwas. Zu meiner Überraschung fing Ka-aper laut und in überlegten Worten zu sprechen an. Kühne, abenteuerliche Visionen loderten auf. Er hatte bisher einen kühlen, trockenen Eindruck gemacht. Der dunkelrote Wein hatte Ka-apers Zunge gelöst. »Ich seine, wie die Furche des Sämanns, unsichtbare Wege von hier zu allen Küsten, Schiffswege mit erfahrenen, wagemutigen Kapitänen mit Mannschaften wie aus Bronze.« Der Romet holte tief Luft. Sein Blick richtete sich nach Westen. »Wir machen aus den Nomadensöhnen Kaufleute und Kapitäne, Handelsherren und solche, die mit Klugheit und Wissen handeln. Ich seh’s deutlich: Sklaven, Handwerker Gold und Bronze, Edelsteine, fremde Tiere und vielleicht sogar Eisen… das soll aus Gubal werden. Ein Kessel, in dem’s siedend überschäumt. Dieser gelbzähnige Schurke Siren, du, Gaufürst Ahiram-Acran, und ich, unwürdig stammelnder Knecht des Sonnenähnlichen – wir schaffen es!« Ashait lehnte sich gegen mich und preßte meine Hand auf ihre Brust. Man reichte uns Bratenstücke und gefüllte Becher herauf. Ich hob den Arm und rief: »Vergeßt nicht Asyrta-Maraye. Wenn ihre LOB DES HERRSCHERS anlegt, segeln hundert Schiffe in ihrem Kielwasser. Aus allen Häfen, aus denen wahre Seefahrer kommen.« »Amenemhet ist sicher, daß ihr Schiff niemals Keftiu erreicht hat«, sagte Ka-aper und senkte den Kopf. »Wir bauen unsere eigenen, also bessere Schiffe, Ahiram.«
»Um eigene Kapitäne auszubilden, brauchen wir ein halbes Jahrzehnt«, sagte ich. Siren legte mir die Hand auf den Unterarm. »Asyrta ist von göttlichem Ursprung. Wie Hathor oder Isis. Sie alle sind unsterblich.« Er nickte, als wisse er es ganz genau. »Glaub’s mir!« Ich warf ihm einen langen, prüfenden Blick zu; sicherlich hatte er diese Vergleiche nur gebraucht, um Ashait zu erklären, daß sie im Wettstreit mit einer Göttin verloren haben würde, ehe sie zu kämpfen begann. Er lächelte füchsisch; sein Gesichtsausdruck blieb undeutbar. Ich trank Wein, biß in den würzigen Braten und wischte Fett von meinem Kinn. Dieses erste Fest stellte zweifellos einen Wendepunkt dar. Ob ich jemals genau wissen würde, wie viele Menschen von ES manipuliert wurden? Siren? Asyrta? Ka-aper oder gar der Gottähnliche Per’Ao zu Menefru-Mire? Ich fragte mich auch, ob noch vor Ende des Herbstes alle Dächer Gubals dicht und die Lücken in den Mauern geschlossen waren? Der Extrasinn versuchte mich zu beruhigen: Baue dein Haus fertig, Arkonide, rüste es mit dem Inhalt des Containers aus und bleib weiterhin die wichtigste Gestalt der Stadt und des Umlandes. Möglicherweise bringst du die Barbaren auf den Weg zu den Sternen, zum zweiten Planeten oder dazu, schon in einem Jahrtausend an den Bau eines Raumschiffs zu denken. Ich hob ratlos die Schultern. Nach dem Wendepunkt der jüngeren Stadtgeschichte, in den folgenden Monden, würden wir den Bau der wichtigsten Verteidigungs- und Wohnelemente Gubals beenden: Jeder, der die kleine sechstausendköpfige Gemeinschaft angriff, würde an den Mauern und den Hafentürmen scheitern. Zwei Tage danach steuerte ich den Container durch die Finsternis, setzte ihn auf der Terrasse ab und verteilte den Inhalt in den Wohnräumen und Magazinen. Um Horus, den Fischadler-Robotvogel, zu aktivieren, genügten ein paar Augenblicke. 10. Wie ein gewaltiger Wurm erstreckte sich die Staubwolke in Krümmungen von Südwest nach Nordost. Winzige Punkte, von denen der Staub
aufgewirbelt wurde, waren Menschen, Tiere und Gespanne. Fast eine Tagesreise war die Wolke entfernt; der Kopf des staubüberpuderten, knarrend dahinkriechenden Wurmes zielte auf Gubal und das Meer. Zweitausend Tiere, vierhundert Gespanne, Mengen von Traglasten, ein gewaltiges Vermögen wurde herangeschleppt. Sie kamen von Kanesh im Land der Hatti, aus dem Hulaja-Fußland im Norden Gubals. Tausend Menschen aller Hautfarben, vieler Sprachen und jeglichen Alters. Wie eine Vision stand vor ihnen ein Bad im kühlen Wasser des Meeres. Sie waren halb wahnsinnig vor Hunger, Durst, Schmerz und Entbehrung. Stinkende Ochsen schwankten schwerfällig hin und her und stemmten sich in die Joche. Das Fell war von Schweiß, Staub, getrocknetem Kot und geronnenem Blut unkenntlich. Nur rollende Augen, triefende Mäuler und wedelnde Ohren verrieten, daß noch Kraft in den Tieren war. Sie schleppten die Wagen mit kreischenden Achsen und massigen Scheibenrädern hinter sich her und gehorchten irgendeinem Instinkt, längst nicht mehr dem Stachel und der Lederpeitsche des Treibers. Myriaden Fliegen bildeten schillernde Schwärme. Sklaven und Träger trotteten neben den Gespannen und hatten jeden Gedanken an Flucht längst vergessen. Nur noch ein Name hämmerte unaufhörlich in ihren Gedanken: Gubal. Leichte Wagen mit Speichenrädern, federnden Holzachsen und Bronzelagern, mit gefochtenen und von Leder eingefaßten Wagenkörben, rollten entlang des Zuges. Die Räder schnitten scharfe Spuren in den Sand. Drei Halbeselhengste waren an die Doppeldeichsel geschirrt. Soldaten mit doppelt mannslangen Lanzen, Langbögen und Köchern voller gefiederter Geschosse, standen in den Wagen. Auch die Gesichter der Romet zeigten die Entbehrungen. Edelsteine, Halbedelsteine, riesige Klumpen Erdpech, Gold, Silber, Zinn und Kupfer, Holzkohle und Wein, Waffen und ausgesuchtes Saatgut in wachsversiegelten Krügen Schmuck, Seile aus Tiersehnen, Häute, Wolle und Sklaven, Handwerker und Soldaten, Schminke und Bahnen gewebter Stoffe, seltene Vögel in Käfigen, eine zahme Löwin und Zuchthengste – das waren die Dinge, die sie mit sich führten. Die Waren und die Sklavinnen gehörten fünfundzwanzig Handelsherren, von denen dreiundzwanzig mitgereist waren. Einer war unterwegs gestorben, ein anderer lag fiebernd auf einem Wagen, die anderen zitterten seit einigen Monden um ihren Besitz. Zwanzigmal waren sie überfallen worden.
Neunzehnmal hatten die Soldaten die Wegelagerer weggetrieben, getötet, verwundet oder als Sklaven in den Zug eingereiht. Einmal waren ein Gespann und einige junge Sklavinnen auf Nimmerwiedersehen verschwunden. Obwohl niemand wußte, wie weit sie von Gubal entfernt waren – die Schätzungen gingen von einem Viertelmond bis zu drei Tagen – , trieb sich der Zug sozusagen selbst vorwärts. Jetzt befanden sich die ersten Wagen voller Soldaten in einem Teil des Landes, wo die Wüste in die Berglandschaft überging. Der Karawanenweg, kenntlich an den Resten zusammengebrochener Wagen und Stangen, auf die klappernde Totenschädel gesteckt waren, mündete in eine Schlucht, nicht mehr als ein dreieckiger Spalt zwischen Hügeln, mit verbranntem Gras bewachsen. Weit dahinter sahen die entzündeten Augen die verheißungsvollen Wälder. Der riesige Vogel, weiß und silbern, mit der Silhouette eines Fischadlers, der seit zwei Tagen die Karawane abfog und mit geduldiger Neugierde alles betrachtete, entschwebte und zog am Firmament große Kreise. Die Nomaden hockten an einer Stelle, an der sich die mühsam aufrechterhaltene Ordnung auflösen würde. Dort entsprang der Bach oder Fuß Nar Jarka. In dem Moment, da Tiere und Menschen Wasser witterten und sahen, würden sie kein anderes Ziel mehr kennen. Das war die Falle: In einem halben Tag würde die Spitze des Zuges dort eintreffen. Vierzig Tage nach dem Fest warteten wir hinter dem Hügel. Sechs Kampfwagen, die uns Amenemhet und Sesostris geschickt hatten, zugleich mit neunzehn Soldaten. Mit meinem Wagen waren wir sieben Gespanne; einundzwanzig Männer. Wir wußten, was auf uns wartete. Horus, so nannte ich den vollrobotischen Fischadler, hatte uns die Szene gezeigt, durch zwei Hügel von uns getrennt. Seit einem halben Mond beobachtete ich die Karawane. »Siren«, sagte ich halblaut, »ich denke, es wird ein schneller Sieg sein. Wenn die Nomaden die Karawane überfallen, dann bricht Chaos aus.« Er sah mich zweifelnd an, hob die Schultern und knurrte: »Einundzwanzig Männer, unter ihnen der größte Feigling der Küste, werden die Nomaden zerfetzen wie Holzspäne unter der Axt des Fällers. Herr, ich liebe dich, aber ab und zu zweifele ich daran, daß Ra, herrsche er ewiglich, dir genügend Verstand mitgegeben hat.«
Aufmerksam hörten die neunzehn Elitesoldaten zu. Sie waren mit großen Bogen bewaffnet, mit Streitkolben und langen Dolchen. In jedem Kampfwagen befanden sich zwei Lanzen mit eisernen Spitzen. »Wart’s ab, Siren.« Ich kippte den runden Schild und schaltete einen Kontakt im edelsteinbesetzten Armschutz aus Bronze. Das Mittelfeld des Schildes glühte auf und zeigte das Bild, das die Augen des Vogels sahen, in farblich und stereoskopisch korrekter Wiedergabe. Siren fuhr zurück, als habe ihn eine Schlange gebissen. »Werk der Unterwelt!« stöhnte er auf. »Ein Zauberschild! Dies ist die Karawane?« Seine Neugierde siegte schließlich. Ich winkte einige Soldaten herbei, aus Gubals schlagkräftiger kleiner Truppe, die nichts anderes zu tun hatte, als die Gegend ruhig zu halten. »Richtig. Sie nähert sich der Quelle. Dort lauern Nomaden mit Feuer, Steinen und Waffen. Sie hätten leichtes Spiel, die Teilnehmer der Karawane sind halbtot und erschöpft. Wir greifen hier ein…« Wir mußten die Nomaden – etwa hundert Männer und eine Handvoll ausgemergelter Halbwüchsiger – vor der Quelle treffen. »Alles verstanden?« fragte ich. »Wundert euch über nichts, was ich tue. Es wird uns den Sieg bringen.« Ich packte die Lanze. Neben mir stand Kasokar, der Anführer der Romet, zeigte auf den Schild und fragte verwundert: »Fürst! Ich habe derlei noch nie geträumt. Wie kann das sein?« »Es kann sein«, erwiderte ich. »Du weißt, woher ich wirklich komme. Dort gehören solche Dinge zum Spielzeug für Kinder.« »Es muß ein wunderbares Land sein!« »Ja«, sagte ich ernst und dachte an Arkonwelten. »Aber es ist sehr fern! Bereit, Freunde? Noch Fragen?« Sie waren im rohen Handwerk des Krieges wohl erfahren, handhabten Wagen und Waffen wie wahre Meister. Sie kämpften mit entschlossener Überlegung, so, wie Gerth seine Schiffe baute: mit Muskeln und Verstand, ohne innere Beteiligung, scheinbar ohne jegliche Furcht und mit der Schnelligkeit wütender Schlangen. Hunderte Männer würden gegen sie verlieren. Ich lächelte in mich
hinein und dankte im stiller Ka-aper, Neb-Nefer und der Klugheit des Amenemhet. »Keine Fragen. Du führst. Wir folgen und verhindern, daß die Karawane Schaden nimmt. Sollen wir Gefangene machen?« »Weil wir Meister des Kampfes und die Nomaden arme Hunde sind wollen wir milde sein. Außerdem brauchen wir immer Arbeiter, die im Steinbruch ans Leben in Gubal gewöhnt werden müssen.« »Wir haben verstanden, Fürst. Wir werden tun, was du anordnest.« Ich verwandelte meinen Schild wieder in eine Defensivwaffe und nickte. »Wie ich es erwartete, Kasokar. Los! Wir warten bis zum letzten Augenblick.« Die Gebißstangen wurden in die Mäuler der Halbeselhengste geschoben. Zügel strafften sich, Peitschen pfiffen über die Kruppen. Die Soldaten befestigten ihre Gürtel an den Wagenkörben, rückten die Köcher zurecht und ergriffen die Lanzen. Siren schüttelte den Kopf und murmelte: »Ich würde dies nicht glauben, wenn ich’s nicht miterleben würde. Für ein würdiges Begräbnis sorgt man, meine ich, Fürst?« Ich lachte ihm ins Gesicht und sagte: »Unser Begräbnis wird prächtig. Ich werde dich stückweise an die Fische verfüttern und dabei Gebete murmeln. Im nächsten Leben wirst du ein Delphin, der den ganzen Tag in den Wellen spielt.« »Eine beängstigende Idee!« Er riß an den Zügeln. Wir verließen den Platz, an dem wir vor Viertelmonden Zedern gefällt hatten, bogen auf den Hohlweg und ließen die Tiere unsere Wagen auf den Hügel hinaufziehen Der Geruch der Wüste sickerte durch die Büsche und durch die Stämme der verkrüppelten Bäume. Hinter dem Hügel lauerten die Nomaden bei ihren Felsbrocken. Wieder befragte ich das Bild in meinem Schirm. Bis auf einige Bogenschußweiten hatte sich das führende Gespann der Quelle genähert. Noch warteten die Nomaden, und unsere Gespanne fuhren auseinander und weiter den Hang hinauf. Spannung lag auf den braunen Gesichtern der Bogenschützen. Ich hob die Lanze mit
dem dicken Schaft aus der Halterung und zog die Schultern zurück. Der Rand des Helmes aus hartem Leder, Bronze und Goldmetall drückte auf die Schläfen und im Nacken. Ein langgezogener Hang trennte uns noch von der Stelle des Überfalls. Ich hob den Arm und stellte mich auf dem Kampf ein. »Wartet auf mein Signal!« rief ich. Schon von hier aus konnten wir den Lärm der heraurückenden Tiere, Menschen und Wagen hören. Die Gespanne hielten an. Unsere Tiere waren satt und ruhig. Wir sahen über die Hügelkuppe und warteten auf den auslösenden Moment. Die Zwischenfälle mit Nomadengruppen dauerten schon Generationen an; sie würden weitergehen. Heute aber standen die Existenz der wertvollen Karawane und ein wichtiges Ereignis für Gubal auf dem Spiel. »Wenn sie Erfolg haben, wird die Karawane in den Schluchten und über die Wüste zerstreut«, murmelte Siren. »Deswegen sind wir hier, Freund.« Ich blickte nach links und rechts. Wir nickten uns schweigend zu. Verglichen mit den Nomaden und der Karawane waren wir von funkelnder Eleganz: Wagen, Waffen und Rüstungen glänzten, das Leder leuchtete, das Fell der Tiere schimmerte seidig. Die Nomaden verständigten sich durch Handzeichen und stemmten sich gegen die Steine. Ich senkte den Arm mit der Lanze und rief: »Los! Macht Gefangene, Freunde!« Es war wie Blitz und Donnerschlag. Peitschen knallten, Zügel klatschten, die Eselhengste stiegen schreiend hoch und stemmten sich gegen die Joche. Auf dem weichen Boden machten die Felgen kaum Geräusche, aber wir hörten das Rascheln der Befiederung, als zwanzig Pfeile aus den Köchern gezogen wurden. Unsere Gespanne setzten sich gleichzeitig in Bewegung, rollten über die Hügelkuppe und donnerten den von stachligem Moos und Gras bewucherten Hang abwärts. Wir schoben uns in einer breiten, schrägen Linie zwischen den Kopf des Karawanen-Wurmes und die Nomadenfalle. Auf beiden Seiten des Schluchteingangs sprangen schreiende Nomaden auf und versuchten, die Steine nach vorn zu kippen. Die Tiere des ersten Karawanenwagens stiegen auskeilend hoch, die Männer kämpften im Wagenkorb, um nicht heruntergeschleudert
zu werden. Ich nickte Siren zu, senkte meine Lanze und deutete mit der leuchtenden Spitze auf den gegenüberliegenden Hang. Dann bewegte ich den Auslöser. Der schmetternde Blitz löste sich aus der Projektorenspitze schlug zwischen Felsbrocken und ließ Feuer, Gesteinsplitter und Erdreich nach allen Seiten explodieren. Schreiend fielen einige Angreifer rückwärts zu Boden. »Abermals ein Wunder!« rief Siren und steuerte die scheuenden Tiere geradeaus. Ich schwenkte die Lanze herum, deutete auf verschiedene Stellen des Hanges und drückte ab. Ein funkelndes Gewitter schlug vor den Nomaden ein, sprengte ihre rollenden Geschosse auseinander und verbrannte das Haar der Angreifer. Riesige Säulen aus Staub und schwarzem Rauch bildeten einen Wall zwischen den Wüstensöhnen und der Karawane. Neben mir fächerten die Streitwagen auseinander. Die Soldaten ließen sich von den Detonationen kaum beeindrucken. Ihre Pfeile zischten durch das raucherfüllte Inferno und trafen Arme, Schultern und Schenkel. Vier Wagen rasten schleudernd, aber unvermindert schnell den Hang hinunter, zwischen schweren Ochsengespannen hindurch und den Gegenhang hinauf. Unser Wagen hatte den tiefsten Punkt der Schlucht erreicht. Siren zwang die Zugtiere in einen engen Kreis. Ich packte die Lanze fester und feuerte kalkweiße Strahlen und Feuerbälle auf den Hang ab, zielte sorgfältig zwischen den Wagen: Überall heulten Pfeile; sie zersplitterten an Felsen, bohrten sich in Körper, schienen den Rauch zu spalten. Unsere Zugtiere keuchten, die Felgen knirschten über Geröll. »Es ist alles vorbei!« schrie Siren. Schweigend verschoß der Soldat auf meiner linken Seite seine Pfeile. Mit taten die Nomaden leid, aber die Stadt brauchte Arbeiter. Vielleicht fanden wir Männer unter ihnen, die schreiben konnten. Jetzt erreichten wir, während in langen Streifen noch immer die Erde brannte und rauchte, die Hügelspitze und warteten, bis die Soldaten die ersten Nomaden niederschlugen und banden. Ich drehte mich herum und sah, daß die Wagen der Karawane seltsame Manöver ausführten. Beide Kampfwagen stander an der Spitze, die zehn ersten Gespanne ebenso, die Träger hatten die Lasten abgeworfen und lagen auf dem
Boden, die Arme schützend über den Köpfen. Die folgenden Wagen, etwa zwei Dutzend, näherten sich der Spitze und wurden langsamer. Aufgeschreckte Tiere rannten, die Schwänze steil aufgestellt, in alle Richtungen auseinander. Im Mittelteil der Karawane, zwischen den Einschlägen aus meiner Waffe schien noch niemand gemerkt zu haben, daß die Quelle erreicht war. Über dem Inferno schwebte Horus, wirbelte mit schwerem Flügelschlag Rauch durcheinander und wollte mir durch seine Objektive zeigen, daß die Teilnehmer dieses langen Gewaltmarsches, erschöpft und erschreckt, die veränderten Umstände nicht begriffen. Horus, am hinteren Ende der Karawane angekommen, drehte ab und kam auf meinen Wagen zu. Wir schleuderten den Hang abwärts, auf die Karawane zu. Ich schrie in Sirens Ohr: »Wir suchen die Anführer, die Handelsherrn! Am Anfang, bei den Sklaven, Siren.« »Du sprichst mir aus der Seele, Fürst!« Er lenkte die galoppierenden Halbesel den Hang hinunter und in einer engen Kurve auf die Wagen zu. Wir kamen schleudernd an weggeworfenen Bündeln und wimmernden Trägern vorbei auf die Gespanne zu, deren Insassen auf uns zustolperten. Siren zog an den Zügeln, unser Bogenschütze senkte lächelnd die Waffe. Ich schwenkte meine Hochenergielanze und brüllte: »Eure Karawane, sie will nach Gubal? Zum Meer?« »So ist es. Wir sind nur magere Schatten von denen, die aufgebrochen sind. Hast du die Feuer entzündet und den Donner geworfen, Herr?« Ausgemergelte, verstaubte Soldaten rissen die Helme vom schweißnassen Haar. Ich schob die Lanze in die Halterung, begrüßte die Männer und rief: »Ich bin Ahiram-Acran, Gaufürst von Gubal. Meine Krieger haben die Nomaden der Wüste bekämpft und führen sie gefangen in die friedliche Stadt.« »Bei der heiligen Mondsichel!« Ein kleiner, erschöpfter Mann stolperte auf uns zu und sagte hustend: »Habt ihr Wasser? Wie weit ist es nach Gubal?«
»Eine Stunde bis zur Quelle. Zwei Tagesreisen braucht ihr zu unseren Stadttoren.« Der Kaufmann drehte sich herum und rief Befehle. »Ihr habt uns gesehen, Fürst?« »Die Staubwolke war groß genug, auch für die Nomaden. Und ihre Augen sind oft von der Sonne geschädigt.« Die Nomaden galten viel, sowohl als Arbeiter als auch spätere Bürger der Hafenstadt. Sie blieben Meister des Überlebens und der Anpassung; sie waren weder klüger noch kräftiger als andere Bewohner dieser Gegend. Von rauhen Befehlen und prügelnden Soldaten aufgeschreckt, rannten die Sklaven mit schlaffen Wassersäcken und Ledereimern in die Richtung, aus der unsere Spuren kamen. »Schirrt die Ochsen aus«, befahl Siren. »Sie können in zwei Tagen auf die Weiden unserer Bauern.« Weit hinter der Karawane hörte der letzte Kampflärm auf. Die Nomaden waren gefangen, verletzt, tot oder vertrieben. Der Handelsherr gab mir den halb leergetrunkenen Schlauch mit verdünntem Wein zurück und wischte Staub aus seinen Augen. »Dieses Gewitter, die Blitze, der Rauch… wart ihr die wunderbaren Kämpfer?« Ich blieb völlig ernst, als ich antwortete: »Amenemhet hält seinen starker Arm schützend über uns. Langes Leben für ihn. Wir erschreckten die Nomaden und nahmen sie gefangen. Meine Soldaten sollen euch helfen.« Ich sprang in den Wagenkorb und winkle. Die Gespanne folgten uns, und bald erhoben sich auch die letzten Lastenträger. Langsam kam Ordnung in den Zug. Noch witterten die Tiere das Wasser nicht. In Kurven und Windungen ging es in die Schlucht hinein; grüner und kühler wurde es. Von hinten drangen Lärm und Schreie an unsere Ohren. Rindenstücke lagen hier, von unserer Baumfällertruppe. Bald wurden die Büsche saftiger, die Bäume höher, der Schatten kühler. Horus schwebte drei Mannslängen über mir und gab allen, die ihn sahen, neue Rätsel auf. Der Weg wurde schmaler und reduzierte sich schließlich auf zwei ausgefahrene Spuren im Waldboden, dann drang das Plätschern der Quelle an
unsere Ohren. Ich drehte mich um und rief: »Der Weg führt entlang des Baches! Treibt Menschen und Tiere weiter, sonst fallen sie übereinander her. Ich werde euch helfen lassen!« Siren murmelte an meinem Ohr: »Ich weiß, daß du die Bronzenägel in den Fischerbooten zählst und die Feigen an den Bäumen. Warum sollen sie nicht selbst mit ihrem Durst fertig werden?« Ich rammte ihm den Ellbogen in die Rippen und erwiderte ebenso leise: »Weil diese Karawane der Grundstock auch deines Vermögens ist du Halunke. Denk an den Gewinn! Mehr Güter, mehr Sklaven und Arbeiter, mehr Lohn. Und du, Bauherr des ersten Hafenbordells, mußt an deine zukünftigen Kunden denken.« Er starrte mich beleidigt an. »Fürst«, flüsterte er, aber er meinte es halbwegs ernst. »Dies ist eine Schänke für anspruchsvolle Gäste! Mit Zimmern für Paare und einzelne Personen. Mit heißen und kalten Bädern, einem Garten, erfahrenen Männern, die auf allerlei Instrumenten muntere Musik erklingen lassen!« »Und mit liebenswerten Mädchen und Mägden!« Ich lachte laut. Er grinste mürrisch und hob die Schultern. Ich hatte ihm ein Grundstück zugewiesen. Nun stand darauf ein prächtiges Haus nach meinem Entwurf: Lohn für aufopfernde Freundschaft und eine Arbeitsleistung, die ihresgleichen suchte. Siren erklärte leise: »Ist alles noch im Bau. Wann es fertig wird – Hathor mag es wissen!« Wir erreichten die Quelle. Die Soldaten verhielten sich bewundernswert. Sie wuschen sich Gesicht und Arme, ließen die Tiere in Ruhe trinken, wuschen die Köpfe ihrer Zugtiere und tranken selbst, zerrten ihre Tiere bis zu einer tieferliegenden Stelle und rannten dort hin, wo das Wasser klar und rein war. Dann führten sie die Halbesel zwischen die Bäume und stellten sich auf, um die durstigen Tausende wegzutreiben. Wir fuhren weiter und hielten dort an, wo sich der Bach verbreiterte. »Meine Soldaten haben den Überblick«, rief ich. »Sie helfen euch. Helft ihnen, denn sie bringen mehr als hundert Sklaven. Diese
Nomaden sind meine persönlichen Gefangenen; ich möchte nicht, daß sie gequält werden. Ich brauche sie in der Stadt. Noch etwas: Bauern werden Futter bringen und Essen. Zahlt dafür! Ich will keine Klagen hören. Eure Tiere könnt ihr zählen und auf die Weiden treiben. Und die Ladungen kommen in die Lagerhäuser am Hafen. Ich erwarte euch dort.« Sie hoben die Arme. Schlagartig hatte sich ihr Aussehen ebenso gebessert wie ihre Laune. Es genügten klares Wasser, Schatten und Kühle. Und das Bewußtsein, daß die Wanderung zu Ende war. Die Barbaren waren in der Tat erstaunlich; ein Geschlecht aus Kraft und Starrköpfigkeit. Ich grüßte die Soldaten und rief: »Wir fahren zur Stadt und bereiten alles vor! Haltet Zucht und Ordnung!« Mit ausgeruhten Tieren galoppierten wir davon. Alles war geregelt: Die Karawane würde tatsächlich zwei Tage brauchen. Da wir alles vorbereitet hatten, würde es für diese riesige Menge Menschen wenige Sorgen geben. Die Zugtiere wurden zum Teil von den Bauern gekauft, zum Teil geschlachtet und eingepökelt, zum Teil gefüttert und eingespannt. Sklaven wurden verkauft und gekauft. Waren stapelten sich in drei Magazinen, Händler feilschten; zum erstenmal würde in diesem Herbst ein Teil Ware gegen fremde Erzeugnisse eingetauscht, die mit Schiffen übers Meer kamen. Tausend Menschen schluckte unsere Stadt ohne Schwierigkeiten, aber Gespanne und Tonnen würden die Gassen tagelang verstopfen. Jedenfalls lebte Gubal nicht ärmlich, es hatte sich sehr verändert. Die Mauer zwischen beiden Toren war fertig. Aus dem Erdreich sproß erstes Grün; überall hatten wir Zedern, Gruppen von Zypressen oder Reihen von Tannen gepflanzt. An den Seiten der Hafeneinfahrt standen runde, hohe Türme mit außenliegenden Granittreppen. Auf der obersten Plattform trugen sie Türme, in denen nachts Feuer brannten. An die Türme schloß sich von einer Rampe und einem sandigem Strand abgesehen, eine massive Mauer an. In die Blöcke waren Baumabschnitte eingebaut, von Kupferbändern zusammengehalten: Poller, an denen man Schiffe anlegen lassen konnte. Dahinter erstreckte sich eine durchgehende Reihe fünf Mannslängen hoher Jungzedern, die dereinst Schattenspender
würden. Bänke und Tische aus Sandstein, Granit und Bohlen standen hier, auf dem Pflaster aus Bruchstein, das mit Erdpech verfugt und vierzig Schritte breit war. Eine zweite Reihe hochwachsender Zedernschößlinge schloß sich an, knapp dahinter begannen Magazine, zehn Schänken, die Halle, in der Gerth seine Schiffe baute und seine Leute ausbildete, eine Halle mit einer Bibliothek, in der vier Schreiber uneingeschränkte Herrscher waren. Zwischen den Gebäuden führten Straßen in höher gelegene Zonen. Zwischen den Gebäuden, die dem Handel dienten, befanden sich mehrstöckige Bauwerke, die nur Wohnungen enthielten; im Viereck errichtet. Der Hof bestand aus Gärten und Anpflanzungen. Der Rest der Stadt gliederte sich in Wohnungen, Werkstätten, Markt, Brunnen eine Menge Bäume, Gassen und Straßen, Quartiere für Durchreisende und viele Werkstätten. Nur der Tempel war noch nicht gebaut. Der Schacht, aus dem sich die Abwässer von einigen tausend Menschen ins Meer ergossen, mündete jenseits der Hafenfelsen und belästigte uns nicht mit Gestank. Immer wieder packte mich schon auf der breiten Allee bis zum Landtor die Freude darüber, was wir geschafft hatten. Unser Gespann ratterte über Steine, zwischen hohen, mit Bronze und schmalen Silberstreifen verblendeten Torflügeln hindurch. »Wohin, Fürst?« rief Siren. »In mein Haus«, sagte ich laut. »Die Nacht wird lang, wenn erst die Kaufleute kommen. Morgen, übermorgen…« Das letzte Licht lag auf dem Wasser. Ein milder Wind aus Westen wirbelte das Wasser auf. In dem Augenblick, als unsere Tiere in gestrecktem Galopp die Gasse hinaufrannten, sah ich das rotgoldene Segel eines einfahrenden Schiffes. Ich erkannte den Kreis mit dem darunterhängenden Kreuz auf dem Segel und schrie auf. »Siren! Das Schiff! Dort kommt es…« Meine Stimme überschlug sich vor Freude und Verwirrung. »Es ist die LOB DES HERRSCHERS! Asyrta! Sie ist zurückgekommen von Keftiu…« Siren legte mir beschwichtigend die Hand auf die Schulter und preschte zwischen Sandsteinsäulen und dem Tor in den Garten
hinein. Er kümmerte sich weder um Soldaten noch um Arbeiter, die erschrocken vom Sandweg in den Rasen hineinsprangen. »Still, Fürst! Niemand weiß, was die Götter über uns verhängen. Es mag jenes Schiff sein; in einer Drittelstunde wirst du wissen, ob Asyrta zurückgekommen ist. Die Gefahren des Meeres… mannigfach.« »Nicht nur die des Meeres«, brummte ich. In eleganter Drehung hielt der Wagen zwischen den hölzernen Säulen der vorspringenden Terrasse. Ich stürmte ins Haus. Ashait kam mir entgegen und half mir, Helm und Rüstung abzulegen. Ich wusch mich, zog frische Kleidung an und glaubte schon, die Welle der Aufregung in der Stadt bis hierher zu hören. Natürlich entging mir das Anlegemanöver der LOB. Ich wirbelte durch Halle und Eingang und schwang mich neben Siren in den Wagen. »Zum Hafen, Herr?« »Wohin sonst, Siren?« Wir ratterten die gekrümmte Allee hinunter, vorbei an Läden und Baustellen, schossen zwischen Magazin und Werft auf den Hafenplatz hinaus. Um das Schiff, das mit dem Heck am Kai angelegt hatte, bildete sich eine Menschenmenge, die ständig anwuchs. Siren lenkte die Tiere in die Menge hinein und schrie: »Auseinander. Platz für Ahiram-Acran!« Eine schmale Gasse bildete sich. Wir kamen ungehindert bis an den Rand des Kais. Ich kämpfte mich durch die Menge, die mir zujubelte, aber ihre Begeisterung auf das Schiff konzentrierte. Ungeduldig sah ich zu, wie die strapaziert aussehenden Riemen senkrecht gestellt und das Ruder hochgezogen wurden. Männer, die ich nicht erkannte, schleppten die Laufplanke aufs Heck und schoben sie auf den Kai. Ein schwarzbärtiger Mann tauchte auf, ich starrte ihn verwirrt an, er blinzelte zurück, dann kam meine Erinnerung zurück. »Cheper!« Ich rannte die Planke hinauf. Er war schwarz gebrannt, sein Bart salzverkrustet, aber der Steuermann lachte und ergriff meine Handgelenke. Meine erste Frage war: »Wo ist Asyrta? Lebt sie?«
Cheper lachte dröhnend und schlug mit beiden Händen auf meine Schultern, drehte den Kopf und sagte: »Blick nach vorn, Atlan. Du siehst alles, was wir mitbrachten.« Ich sah, wie Asyrta den Niedergang heraufkam. Am Mast vorbei und an arbeitenden Seesoldaten erkannte ich drei große Rahsegel zwischen den Türmen der Einfahrt. Dann drangen langgezogene schrille Signale des Türmers an unsere Ohren. Er stieß in die bronzene Fanfare, die einen schauerlichen Ton über das Wasser schickte. Segler aus Keftiu. Minoische Kapitäne im Dienste Gubals, sagte der Logiksektor. Ich sprang vom Heck und blieb vor Asyrta stehen. Auf schwer beschreibliche Weise sah sie gesund, wild und stark aus; aus ihrer stiller Schönheit war feurige Selbstsicherheit geworden. Wir blickten uns einige Herzschläge fang in die Augen; schweigend, unsicher. Dann legte Asyrta die Arme um meine Schultern, ich zog sie an mich. Wir küßten uns hingebungsvoll. Ihre Lippen schmeckten salzig ihr schlanker Körper, sehniger geworden, drängte sich an mich. »Es war fast zu lange«, flüsterte ich in ihrem Haar. »Ich hab’ fast nicht mehr geglaubt, daß du kommst. Ich wollte Horus losschicken.« »Ich werde lange nicht wieder auf schwankenden Planken stehen. Ich freue mich auf den Herbst mit dir, in Gubal. Und auf den Winter.« »Du hast mich nicht vergessen auf der wunderbaren Meeresfahrt?« Ich legte meinen Arm um ihre Hüften und zog sie aufs Deck. Die Menge, in der Fackeln geschwenkt wurden, jubelte begeistert. Die drei Minoer-Schiffe waren herangekommen: Seeleute schleppten Ankersteine an Deck, indem sie einen Ruderschaft durch das Loch des gerundeten Brockens steckten. »Wie könnte ich dich vergessen, Gefährte meines langen Traumes!« sagte Asyrta leise und erinnerte mich daran, daß ES noch immer Teile meines Gedächtnisses blockiert hatte. Wir verließen das Schiff und wurden von den Menschen zum Wagen geschleppt. Siren betrachtete Asyrta wie ein übernatürliches Wesen.
»Fürwahr«, murmelte er. »Eine erstaunliche Frau, die mit Männern um die Wette segelt!« »Viele erstaunliche Menschen für eine ebensolche Stadt«, sagte ich. »Fährst du uns zurück zum Haus?« Asyrta lachte und schmiegte sich an mich. Ein neues, fremdes Gefühl erfüllte mich. Wir hatten einander wiedererkannt, als ob wir nur ein paar Tage getrennt gewesen wären. In Wirklichkeit, ahnte ich schienen wir in einer anderen Zeit, ohne bewußtes Erinnern, zusammengewesen zu sein. »Du hast dich nicht verändert«, sagte sie. »Aber die Stadt erkenne ich nicht.« Sie stand auch noch unter dem Bann dieses Wesens, das uns manipulierte. »Ich werde dir jeden Winkel zeigen«, versprach ich leichthin, »denn ich habe jeden Winkel gebaut. Dieser Mann, der mit sicheren Händen die Zügel führt, ist Siren, lebendes Archiv der Stadt, Schänkenbesitzer, wilder Kämpfer und darüber ein Mann mit allen Eigenschaften, die du dir vorstellen kannst, Asyrta.« Sie lächelte ihn an, Siren wand sich verlegen; Asyrta fragte zweifelnd: »Stimmt das, Siren?« »Ja. Der Fürst von Gubal, mächtiger Bauherr und Kämpfer, hat immer recht.« Er grinste nicht. Über uns kreiste Horus mit weißen Schwingen. Asyrta lachte und sagte: »Ich glaube kein Wort!« »Daran tust du recht, Herrin!« antwortete Siren zurückhaltend. Die Menschen entlang der Straße bereiteten uns eine Art Triumphzug. Sie winkten und lehnten sich weit aus den Fenstern. Einige liefen mit dem Wagen mit, andere versuchten uns aufzuhalten, alle freuten sich, daß das Schiff und drei andere dazu zurückgekommen waren und die Karawane vor dem Landtor war. Überall loderten Fackeln, unzählige Echos hallten zwischen steinernen Mauern, es herrschte eine ausgelassene Stimmung. »Ich bin überwältigt«, sagte Asyrta, die sich schwer gegen mich lehnte. »Monde fang nur Wasser, Wellen, Wolken, ferne Küsten. Ich bin festen Boden nicht mehr gewöhnt.«
»Wir sorgen dafür, daß du nicht mehr Wasser siehst, als du von der Terrasse unseres Hauses erblicken kannst.« Siren schwieg; sein Gesichtsausdruck war kaum zu deuten. Wir winkten nach allen Seiten, aber einige Soldaten mußten die Menge davon abhalten, in den Garten einzudringen. Das Tor schloß sich, Siren geleitete uns ins Haus. »Während du dein neues Kleid angelegt hast, Fürst, habe ich Hinweise für die Haushaltsführung gegeben; ein Umstand, den du häufig vernachlässigst. Jetzt, da Asyrta-Maraye hier ist, wird sie die Führung dieses verlotterten Hauses übernehmen. Noch etwas: Ashait kümmert sich seit gestern um die Führung meiner bald geöffneten Herberge zum silbernen Delphin.« Ich begriff. Siren drehte den Kopf und deutete auf die breite Dopneltür. »Alles ist vorbereitet«, versicherte er. Ein Problem, schnell bereinigt. Du hast gute Freunde, Arkonide, sagte der Logiksektor. Das Haus roch nach glimmenden, mückenvertreibenden Harzen. Aus der Küche kam das Lärmen einiger Köche und ihrer Helferinnen. Ich zeigte Asyrta dieses und jenes, ließ sie den beleuchteten Garten genießen und brachte sie über die Treppe in den großen, von drei Wänden mit Öffnungen und einer massiven Wand gebildeten Raum. Von der umlaufenden Terrasse sahen wir die ganze Stadt und das Hafengelände. Hier standen ein gedeckter Tisch und zwei Sessel. »Auf diesen Moment habe ich lange gewartet.« Asyrta schob die schweren Vorhänge zur Seite. »Es ist ein herrliches Haus.« »Es wird auch ein wichtiges Haus werden. Sag deine Wünsche. Bad, neue Kleider, Essen…?« Ein Feuer loderte im Kamin. Zwanzig Öllampen brannten, an den Säulen flammten Fackeln in Messinghaltern. Aus der Stadt drang der Lärm ausgelassener Menschen. Unten am Kai versammelten sich Halbkreise leuchtender Punkte um die Schiffe. Vor der Hafeneinfahrt erkannte ich kleinere Lichter: die Fackeln von Fischern, die in neuen Booten mit Lichtschein Fische anlockten und speerten. »Ich möchte nur hier sitzen, einen Becher Wein trinken und mit dir sprechen. Sonst nichts.«
Lächelnd brachte ein Mädchen frischen Wein und Essen. Wir aßen tranken und redeten über alles, was uns bewegte, auch darüber, daß viele Erinnerungen blockiert waren. Aber wir hatten etwa gleichartige Aufträge erhalten. Stunden später, als es im Haus ruhig geworden war, lagen wir vor dem Kaminfeuer, dessen Flammen die erste kühle Nacht des Spätsommers begleiteten. Die Vorhänge waren zugezogen, die Ollämpchen gelöscht. Decke und Wände des Raumes, der gleichermaßen als Arbeitsplatz, Ruheraum, Bibliothek und Ausguck diente, waren in flackerndes rotes Licht getaucht. Wir hielten einander in den Armen und genossen die ersten Stunden der Nacht, jeder Atemzug ließ die Aufgaben und Mühen der nahen Zukunft weniger bedeutend werden. Asyrtas Haut roch nach unbekannten Mischungen von Ol und Duftpfanzen. Ich fragte sie: »Bist du glücklich?« Meine Finger schoben sich durch seidenglattes Haar. »Byblos, der letzte Hafen von vielen?« »Wenn wir noch mehr von unseren Erinnerungen finden«, flüsterte Asyrta und streckte die Hand nach dem Pokal aus, »fängt der glücklichste Herbst unseres Lebens an.« Auch das Lärmen in der Stadt und am Hafen hatte aufgehört. Wir waren allein, ungestört in einer warmen Oase der Stille. Wir hörten das Knistern schwelenden und brennenden Holzes, unsere Atemzüge, murmelnde Fragen und gemurmelte Antworten, die in lautlose Zärtlichkeiten und die Laute der Leidenschaft übergingen. Klirrend schlug, später, der Hals des Kruges gegen die Trinkgefäße. Als sich unsere Gedanken flüchtig berührten, kurz vor dem Fall ins Vergessen des Schlafes, ahnten Asyrta und ich, daß die letzte Nacht vor einem neuen, glücklichen Zeitalter angebrochen war. Und in dieser langen Nacht kamen viele unserer gemeinsamen Erinnerungen zurück in unsere Träume.
11. Zwischen dem Chmorl-Hill-Bezirk und dem rekultivierten Pseudodschungel färbte sich zwischen spiraligen, wirr gemusterten Wolken die Sonnenscheibe bräunlichgelb. Oktobersonne über Gäa,
dachte Cyr Aescunnar, er entsann sich herrlich-bizarrer Sonnenaufgänge über der libanesischen Küste des Mittelmeeres. Der Arkonide schwieg; da seine Stimme keineswegs erschöpft geklungen hatte und die SERT-Haube noch über Atlans Kopf und Schultern schwebte, glaubte der Historiker zu wissen, daß in der Erzählung nur eine Pause eingetreten war. Die gesamte Überwachungsmaschinerie, die sich auf den fang ausgestreckten Körper im futuristischen Glassarg konzentrierte, zeigte auf Dutzenden von Diagrammen, Farbsäulen, Ziffernfolgen und kryptischen Buchstabenkombinationen, daß das Befinden Atlans auf höherem Niveau stabil war: Der Zellschwingungsaktivator half beim Heilungsprozeß. Aescunnar öffnete die Terrassentüren weit und spürte inmitten kühler Morgenluft die erste Wärme der gäanischen Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Er schloß die Augen und murmelte: »Die Katharsis geht weiter. Er spricht sich von der Seele, was scheinbar gelöscht oder in die Tiefe verdrängt war.« Aus den Lautsprechern kamen die abschwellenden Melodien des Schlußchores der Sternenhymne, die Upoc von Gonozal, Atlans Vaterbruder, der spätere Gonozal VII, komponiert haste. Cyrs Studenten hatten auf abenteuerlichen wissenschaftlichen Wegen arkonidische Stereo-Tonkopien beschaffen können. Aescunnar ging zu seinem mit Arbeitsmaterial übersäten Tisch zurück und fragte sich, ob starker Kaffee ihm über die nächsten Stunden hinweghelfen konnte. Er schüttelte den Kopf, setzte sich und griff in die Tastatur eines Terminals. Die lange Liste ägyptischer Dynastien, Pharaonen und Königsnamen erschien, aus dem Alten, Mittleren und Neuen Reich sowie allen Zwischenzeiten; die zuverlässigste Version nach mehr als einem Jahrtausend Forschung. Er wählte die 12. Dynastie und die Namen Amenemhet und Sesostris; der Rahmen von Atlans Gubal-Byblos-Kypny-Erzählung war noch einzuengen. (Ammenemehs =) Amenemhet 1. regierte von -1991 bis -1962. Ab 1971 war (Sesonchosis =) Sesostris 1. (-1962 bis -1926) Mitregent. Regierungssitz: (Memphis =) Menefru-Mire. Der Geschichtswissenschaftler fand in den nächsten Informationen sein halbvergessenes Wissen bestätigt: Es gab vier
Träger des Namens Amenemhet und drei von Sesostris; alles Herrscher der 12. Dynastie. Bisher hatte Atlan nur Amenemhet erwähnt; also hatte er sich vor – 1971 auf der Straße der Wunderkarawane und in Gubal befunden. Noch fehlten die unangreifbaren Informationen von Ricos Nach-Untergang-vonAtlantis-Kalender. Cyr Aescunnar merkte nicht, daß er binnen weniger Minuten wieder im Bann seiner Arbeit stand. Er durchsuchte die Informationen aus Julian Tifflors Administration, die Datensammlung der Historischen Fakultät seiner Universität, die Berichte des USO-Historischen Korps und seinen eigenen Fundus. Atlans Worte, fremde Textteile, Abbildungen unzähliger archäologischer Funde aus Museen, Kartenausschnitte, Zeichnungen terranischer Künstler und Computergrafiken, Holografien von Schiffsmodellen, belebte Rekonstruktionen von Gubal, Menefru-Mire und, in aufwendiger interdisziplinärer Arbeit entwickelt, dreidimensionale Topografie der südöstlichen Mittelmeerküste mit dem vagen Netz der Verbindungswege – auch dieser Teil von Atlans ANNALEN DER MENSCHHEIT erhielt »vorläufige endgültige« Form. Selbst die Bucht auf dem südwestlichen Sardinien, in deren Höhle Asyrta und Atlan ihren glücklichen Sommer verbracht hatten, konnte exakt verifiziert werden. In der Nähe hatten Archäologen der Universita di San Pantaleo altphönizische tophets und eine Brunnenanlage der Megalithkultur ausgegraben. Mitten in der Arbeit, als Cyr nach den Abstimmreglern eines Monitors griff, sackte sein Kopf auf die Oberarme. Die Brille schob sich über die Stirn, und übergangslos schlief Cyr inmitten der bunter, flimmernden, wirbelnen Bilder der Monitoren ein. Veye Gidvani sah schweigend den Bläschen zu, die vom Boden des Mineralwasserglases aufstiegen. Julian Tifflor blätterte behutsam eine Seite des Folianten AUFSTIEG UND NIEDERGANG DES ARKONIDISCHEN REICHES von Starko/Riv-Lenk um und sagte: »Vielleicht kann uns Atlan eines Tages sagen, woher dieses Buch wirklich stammt, Cyr.«
Tiffor hob den Kopf und starrte die holografischen Projektionen an. Sie schienen ihn über Bündel störsicherer Datenleitungen direkt in die Intensivstation des Planetaren Krankenhauses hineinzusaugen. Atlan lag unter der SERT-Haube und würde in kurzer Zeit weitersprechen. Auch Ghoum-Ardebil, der AraMediziner und Hauptverantwortliche für Atlans Überleben, war überzeugt, daß die Unterbrechung nur von kurzer Dauer sein würde. Veye stand auf, warf ihr graugelb gesträhntes Haar in den Nacken und sagte: »Cyr. Können Sie mir etwas über dieses vorgeschichtliche Hafenkaff erzählen? Byblos zählt nicht gerade zu den auffallenden Hafenstädten Terras.« »Damals war es eine der aufregendsten Hafenstädte.« Aescunnar wechselte seine Brillen, rief einige Bildsequenzen auf die Monitoren und sagte: »Etwa dreieinhalbtausend Jahre vor der Zeitwende hat es an dieser Stelle eine Siedlung gegeben. Sie wurde immer wieder aufgebaut und zerstört. Atlan verwendete Teile der Kanalisation und erkannte die Grundrisse von Straßen und Plätzen. Um das Jahr zwotausend und später hieß die Hafensiedlung Gubal, Gabal, Gebal oder Gubla die Romet beziehungsweise Ägypter schrieben k’pny, später fand sich dort ein Dorf namens Jebeil, überragt von der Ruine einer Kreuzritterburg. Um Gubal herum bildete sich eine neue Gemeinschaft, die Tüchtigsten jener Nomadengruppen, ansässige Bauern und Handwerker, viele Fremde, die mit jenen ersten Kapitänen auch von Kreta-Keftiu kamen, sie vermischten sich zu den Proto-Phöniziern. Die Schiffe segelten fast überall hin, wo es in der Alten Welt Wasser und Buchten gab. Als Atlan das Bürgermeisteramt zwangsweise übernahm, war Gubal eine Art vorgeschobener Handelsposten der ägyptischen Gottkönige. Ich suche gerade nach dem präzisen Datum; wahrscheinlich half der jüngere Nachfolger, Sesostris, dem alternden Herrscher Amenemhet. Also rund um neunzehnhundertfünfzig. Karthago – also Quart Hadasht – , ist eine Gründung der Gubal-Nachbarstadt Tyrus.« »Stimmt es, was man sagt? Daß sie die gerissensten Kaufleute ihrer Zeit waren?« sagte Tiffor, dessen Blicke zwischen Karten und
Plänen früher Städte wechselten. »Haben sie tatsächlich griechische Kapitäne und Schiffe gemietet?« »Beides ist richtig. Sie lernten den Handel und den Schiffsbau. Aber nicht innerhalb eines Jahrzehnts. Gubal-Byblos besaß keine eigenen wertvollen Waren. Nur das Holz der Zedernwälder war wichtig und teuer, nicht nur für den Schiffsbau, denn entlang des gesamten Nils gab es wie zwischen Kish, Babyla und dem Persischen Golf keine Baumart, deren Stämme oder Äste fang und fest genug für, beispielsweise, Deckenbalken waren.« »Atlan und seine Leute verdienten also an der Logistik des Hafens an Zoll und Steuern, und später wurden wiederverarbeitende Betriebe gegründet?« sagte Tiffor. »Aus Nomaden der Wüste wurden Nomaden der See.« »Das ist der Sinn, den ES in seinen Aktionen erkennen ließ.« Der Historiker nickte und zeigte auf blinkende Signale. »ES hatte ein genaues, weitreichendes Konzept, das Atlan und Asyrta auszuführen versuchten. Gleich werden wir die Fortsetzung dieser Pläne miterleben. Mir scheint, daß Atlan und seine Freunde für eine besonders gefährliche Mission ausgebildet werden sollten.« Tifflor, seine Freundin Veye und Aescunnar warteten schweigend. Atlan sprach weiter; aus der Dämmerung ferner Vergangenheit wuchs wieder das Bild des frühphönizischen Hafens in der Phantasie der Zuhörer. Gerth schüttelte zedernduftende Hobelspäne aus seinem Haar, hob kampflustig seinen Dreizack und zeigte durch den weit geöffneten Terrassendurchgang auf die Halle und auf Balken- und Bretterstapel unter dem weit ausragenden Dach. »Fast alles, Fürst, was man aus gutem Holz sägen und schnitzen kann, machen wir aus Holz. Als wir fünfzehn verschieden große Fischerboote bauten, hab’ ich die Holzarbeiter, die Zimmerleute und Schreiner und Schnitzer geschult. Wir haben ein paar Meister unter ihnen gefunden. Unsere Werkzeugmacher werden von Tag zu Tag besser, aber die Zähne und Schneiden deiner Werkzeuge sind unübertreffich. Metall für die Ewigkeit. Zu guter Letzt haben wir auch noch Siren geholfen,
das Dach unserer Werft fertig zu bauen, eh die Herbstregen kommen. Stimmt’s, dicker Bierschenk?« Siren blickte grinsend um sich, als habe er jeden Steinquader eigenhändig angeschleppt. Er entblößte seine gelben Zähne und sagte: »Seine dreißig Männer haben sogar die Sessel und Tische dieses Raumes gebaut, und vieles andere mehr.« Gerth Vi’Gant sah in die Gesichter der versammelten Frauen und Männer. Neben uns stand das Modell der Stadt, mit kleinen Fähnchen verziert. Wir besprachen wichtige Dinge und zukünftige Entwicklungen. »Jetzt sind wir noch mit drei verschiedenen Aufgaben besetzt«, fuhr Gerth fort. »Wir helfen, wo wir können, beim Bau der Häuser und Dächer; wir erwarten Regen und Stürme. Wir legen unser Holzlager an und rüsten die Werft mit vielen Hilfsgeräten aus. Aber wenn du, Myron, deinen verschimmelten Wellenreiter reparieren lassen willst, haben wir allemal noch Platz und Zeit dafür.« »Später einmal!« Der schwarzbärtige Kapitän aus Keftiu vertröstete ihn. Ka-aper, der Verwalter Gubals, ritzte irgendwelche Notizen in der Bildschrift seines Landes auf ein Pergament. Er lächelte kühl: »Das bedeutet, daß wir uns kaum mehr um die Werft kümmern müssen. Ich habe das übliche errechnet: Die Namen deiner Helfer und dein Name sind in den Archiven.« »Dies tröstet mich, Verwalter«, meinte Gerth befriedigt. Da er und seine Männer nicht für sich selbst arbeiteten, nahmen sie mit ihren Erzeugnissen nicht am Tauschhandel teil. Sie vermochten noch nicht, Boote gegen ein Haus, Schemel gegen Schlachttiere oder Holzschüsseln gegen Milch und Eier einzutauschen. Also mußte Gubal sie ernähren, kleiden und unterbringen. Zu diesem Zweck tauschte die Stadt mit: Wir gaben einem Wirt ein Haus, das die »Allgemeinheit« errichtet haste. Dafür aßen jene Leute bei diesem Wirt. Schon arbeiteten Kaaper und ich daran, zu einer einfachen Form von Geldwirtschaft überzugehen. Wie das funktionieren sollte, war uns noch unklar. »Wie steht es mit den Bauhandwerkern, Neb-Nefer?« fragte ich. Asyrta-Maraye betrachtete unsere wichtigsten Männer mit
gespannter Aufmerksamkeit. Sie sah einen schlanken, braunhäutigen Mann mit kurzem schwarzem Haar, der sich lässig im fellausgeschlagenen Sessel räkelte, am Leinenrock zupfte und antwortete, ohne in seinen Pergamenten nachsehen zu müssen: »Es steht gut, Gaufürst. Ich habe aus allen wichtigen Handwerkern, selbst den Gärtnern, drei Gruppen gemacht. Die erste sorgt für Material, streicht Ziegel und brennt sie, stampft Kalkstein und so weiter. Die zweite sorgt mit Gespannen, Fässern und Trögen für den Transport zur Baustelle. Die dritte baut nach deinen Plänen, Ahiram-Acran. In einigen Viertelmonden habe ich alle Leute an den richtigen Stellen. Ich spreche mit ihnen, lobe und strafe. Wir hatten zweitausend Menschen, jetzt sind es noch zwölfhundert. Die anderen sind bei den Kanälen. Werden von den Bauern verpflegt.« Das Modell aus runzligem Lehm und Holzklötzchen zeigte, daß Gubal so gut wie fertig war. Es gab kaum noch große Arbeiten, wie den Bau des Magazins, aber viele kleine. Denn wir mußten fast überall etwas Neues einführen. Selbst ein einfacher Herd mußte nach bestimmten Merkmalen gebaut sein, damit er zog, das Brennmaterial gut verwertete und das Haus nicht niederbrennen ließ. Ich fragte: »Die Magazine sind voll?« Neb-Nefer deutete mit spitzem Zeigefinger, an dem ein funkelnder Ring saß, auf einen seiner Schreiber. »Antworte du!« »Herr, alles, was die Karawane brachte, ist angesehen worden. Die gute Ware wurde von der schlechten getrennt, alles wurde aufgeschrieben. Das Magazin ist zur Hälfte voll; es wird streng bewacht. Jeder Handelsmann weiß, was er besitzt. Was wir auf die Schiffe verladen haben, wurde geschrieben. Überall wird gehandelt. Fast nur Vieh Auch Arbeitssklaven für die Handwerker und Bauern sind darunter.« »Wie ist die Meinung der Handelskapitäne, Myron?« Die erste Ladung eines Handelsschiffs war der kritische Punkt. Der Kapitän wußte, in welchem fremden Hafen welche Güter bevorzugt abgesetzt werden konnten. Diese Güter, darunter handwerklich geschickte Sklaven, waren auf die Schiffe aus Keftiu geladen worden. Solange wir keine eigene Seefahrerkultur
aufgebaut hatten, mußten wir das Risiko für unsere Waren den fremden Kapitänen aufbürden und einkalkulieren, daß das Schiff in unserem Dienst kenterte oder gekapert wurde. Erst wenn ein Kapitän bei uns Waren kaufen konnte – oder tauschen – , war die Voraussetzung für schwungvollen Handel geschaffen. Jedenfalls hatten alle an diesem zögernden Handel Beteiligten ein bemerkenswertes Geschick gezeigt. Die BÖSES AUGE und die HARPYIAI jedenfalls waren aus dem Hafen gerudert und davongesegelt. Unser erster Versuch! »Wie geht’s, Siren, mit der Herberge der Karawanen?« Wieder lachte der Freund. Er war ein treffliches Beispiel für Tarnung. Sein dicklicher Körper verbarg Kraft und Wendigkeit, das Genießergesicht verdeckte den blitzschnellen Verstand eines Mannes von vierzig Jahren, der viel gesehen und erlebt hatte. »Wir sind im Bau. Frag Neb-Nefer; seine Leute arbeiten wie die Besessenen. Denn wir brauchen viel Platz für Tiere, Gespanne, Werkstätten und Schlafräume. Die Herberge ist fertig.« Außerhalb des Landtores entstand diese Drehscheibe. Dort konnten die Menschen schlafen und essen, es gab Waschgelegenheiten, Feuerstellen, eine Wache war vorhanden, und ein Schreiber achtete darauf, daß niemand betrog und die Stadt ihre Abgaben erhielt. Asyrta schien genug gehört zu haben. Sie mußte auch erkennen, daß sich der Fleiß einiger Tausender in einem halben Jahr gelohnt haste. Sie gab Neit-aqer ein Zeichen, Wein einzuschenken. »Ich seine, daß es gut um Gubal steht«, sagte sie laut. »Nun kommt der Winter: Wir werden unsere Arbeiten aufs Innere der Häuser lenken müssen. Es wäre richtig, wenn wir in langen Nächten versuchen Maße, Mengen und Preise einheitlich zu machen. Ein zweites Problem seine ich darin, daß wir zu viele Menschen haben, davon zu wenige gute Handwerker.« Cheper klopfte mit dem kupfernen Armband an den Tonbecher und machte mit dem glockenähnlichen Geräusch auf sich aufmerksam.
»Die LOB muß zurücksegeln. Ich kann zwanzig junge Männer mitnehmen und ihnen das Seehandwerk beibringen. Guter Vorschlag?« »Ausgezeichnet«, sagte ich. »Du nimmst den Tribut mit und bringst Binsenblätter für die Schreiber zurück?« Cheper nickte. Gestern hatte er seinen Bart gestutzt. Er wandte sich an Gerth und fragte: »Wann sind die vielen Ausbesserungen an meinem schönen Schiff endlich fertig?« Mit großartiger Gebärde grinste ihn der Krückenmacher an. »In Bälde«, sagte er lakonisch. »Weil nämlich«, spottete Cheper grimmig, »Löcher im Schiff die Seefahrt nachhaltig behindern.« Gerth schwenkte drohend seinen Dreizack in Chepers Richtung. Er griff nach dem gefüllten Becher und sah mich an. »Wir sollten wirklich ein Zahlungsmittel erfinden, damit ich für meine Wertarbeit gebührend belohnt werde.« »Wenn ich einmal eine Krücke brauche, werde ich sie in schierem Gold bezahlen«, sagte Cheper. »Wir werden alle Nomaden, ihre Frauen und Kinder auf dem Land beschäftigen. Dort, wo es auf Arbeitsleistung ankommt. Sie sollen Kanäle weitertreiben und Land nehmen, wo es noch keine Besitzungen gibt.« »Das, denke ich«, meinte Ka-aper, »ist ein Vorschlag, der auch Amenemhet angenehm in den Ohren klingen wird.« Jetzt hatte die Stadt Wachstumsprobleme. Zu viele Menschen hatten auf ihrer Flucht vor der Wüste hier haltgemacht. Mindestens die Hälfte mußte mühsam angelernt werden. Für einfache Arbeiten hatten wir genügend Kräfte. In diesem Winter würden alle Vorhaben zu Ende geführt, die von kleinen Gruppen bearbeitet werden konnten: Seile fechten, Holzkohle brennen, Schnitzarbeiten, Ziegelbrennen, das Pökeln von Schinken, Bearbeitung der Felle, Umsetzen von Bäumen, Kalken der Innenräume und Häuser, zahllose alltägliche Dinge, das eigentlich Wichtige im Leben. Das Problem, die Sklaven zu freien Bürgern zu machen, stellte sich erst später.
»Ich habe begriffen. Gubal hat also keine Sorgen mehr, die nicht zu bewältigen wären?« fragte Asyrta. Sie kannte in einer Tagesfahrt um unser Haus alles, was erneuert, wieder aufgebaut oder neu gebaut worden war. Aber jeder wußte, daß es sich leicht und gut leben ließ in und um Gubal-Byblos – wenn es keinen Krieg gab. Ich nickte Ka-aper und Asyrta zu. »Dies habe ich geschrieben!« Ka-aper deutete kurz auf Cheper. »Der Kapitän wird es mit der LOB DES HERRSCHERS zurückbringen.« »Jeder von uns hat die Macht«, sagte ich nachdenklich und nippte am Wein, »Befehle auszusprechen und Anordnungen zu geben. Jeder wird in den nächsten Monden täglich nachsehen, prüfen, loben, tadeln und oft auch strafen müssen – wie bisher, Freunde. Wir haben einen fröhlichen Winter!« »An mir soll es nicht liegen«, meinte Asyrta. »Ich habe es leichter. Sie kommen zu mir, wenn sie Sorgen haben. Alle ohne Ausnahme.« »Das ist mehr oder weniger bei jedem so. Selbst zu mir, zu NebNefer, sogar zu Siren kommen sie.« Das sagte Ka-aper; der beste Mann in Gubal. Er war nicht sehr gesprächig; ein verinnerlichter Typ, der in Gesellschaft und unter der Einwirkung von Wein mitunter heitere Sprüche machte. Er hatte sich tausend Fragen gegenübergesehen, die für ihn schwer zu beantworten gewesen waren: Jede Aufgabe hatte er gelöst. »Eines haben wir noch nicht bedacht«, sagte Cheper zum Schluß. »Es werden mehr Schiffe hierher kommen. Die HARPYIAI und die BOSES AUGE waren die ersten. Erinnert euch, daß Asyrta-Maraye von zweihundert Kapitänen sprach, mit denen sie HandschlagVertrage geschlossen hat.« »Dafür sind wir gerüstet«, sagten der Krückenmacher und NebNefer wie aus einem Mund. Ich stand auf und deutete auf das Modell. »Wir werden den Winter überstehen. Wenn wir im Sommer Gubal und das Umland ansehen, wird es sich zum Guten verändert haben. Wir haben mit Stein gebaut und Bäume gepflanzt. Bis die Säulen unserer Stadt niedergebrochen sind, vergehen Jahrhunderte. Wir können an anderen Orten neue Städte gründen.«
»So soll es sein!« bekräftigte Ka-aper. »Und einen Tempel werden wir auch bauen. Dort, wo der alte Tempel der Baalat stand.« Langer Regen, Sturm, hohe Wellen, nasse Mauern und gefüllte Kanäle, flackernde Feuer im Kamin, kurze Tage und Nächte, in denen die Sterne nicht zu sehen waren. Der Mond wechselte langsam sein Gesicht. Menschen wurden geboren, andere starben. Schiffe legten an und fuhren hinaus oder flüchteten sich vor Stürmen in unseren Hafen. Winter. Er brachte Nässe, Kälte und Besinnlichkeit. Langeweile für uns brachte der Winter nicht. Die fernen Gipfel der Berge hinter den Zedernhügeln überzogen sich mit Schnee und Eis. Es war ein Abend, an dem der Wind an den schweren Läden rüttelte und im Kamin heulte. Doppelte Vorhänge aus dickem wollenem Stoff, mit bestickten Borten verziert, bauschten sich wieder, dann zitterten die Flammen der Öllampen, das Feuer entließ einen Schauer knisternder Funken, irgendwo krachte eine Tür. Wir waren allein. Als ich mich an die warme Mauer neben dem Kamin lehnte und das seidige Lammfell über meine Schultern zog, sagte Asyrta flüsternd: »Wir wissen nicht, was ES vorhat, nicht wahr, Atlan?« Ich schüttelte den Kopf und fühlte mich plötzlich, nach langen Tagen der Zufriedenheit, unruhig und gespannt. »Nein. Mir befahl ES, ein Schiff zu bauen, größer und besser als alle. Der Krückenmacher hat die Entwürfe. Eine Mannschaft soll zu uns stoßen, sagte ES. Wozu, wann, warum… ich weiß es nicht. Es bahnt sich etwas an. Eine Drohung oder eine Gefahr.« Du solltest häufiger daran denken, Arkonide! warnte der Logiksektor. Die Flammen der schnabelförmigen Öllampen ließen auf dem Gesicht und den nackten Schultern Asyrtas Lichtreflexe tanzen. Sie hatte ihr Haar um einige Handbreit schneiden lassen; jetzt reichte es bis zu den Achseln. Ich gab ihr den silbernen Becher. Plötzlich, mitten im Gespräch, ergriff uns eine Lähmung. Ich erkannte durch ihre Reaktionen, daß auch Asyrta davon befallen war. Es war wie atemholen vor einem gewaltigen Schrei. Dann erscholl in unseren Gedanken das gräßliche Lachen des Kollektivwesens: »Ihr habt lange genug in Ungewißheit gelebt. Ich habe euch geweckt, hierher gebracht, ausgerüstet und mit einem klar definierten Auftrag
versehen. Ich merke, daß die kanaanäischen Menschen beginnen, ihre neue Rolle in der zivilisatorischen Evolution zu begreifen. Wenn genügend Schiffe hin und her segeln, wird diese Entwicklung zu einem Höhepunkt führen. Dir, Arkonide, dem unfreiwilligen Helfer des Planeten, helfe ich, und du wirst mir helfen. Auf Wanderer, meiner Experimentierwelt, bahnt sich ein entscheidender Vorgang an. Unser Planet wird bedroht werden. Du wirst mit einer entschlossenen Mannschaft, überlegener Ausrüstung und dem Schiff, das der Krückenmacher kunstvoll bauen wird, segeln und kämpfen. Ich weiß nicht, wann; ich werde es dir sagen. Irgendwo auf dem Planeten wird die Gefahr auftreten. Sie ist in der Lage, Larsaf Drei zu vernichten. Vielleicht rufe ich dich morgen, vielleicht erst in einem Jahr. Bis zu diesem Zeitpunkt sollt ihr alles tun, um Gubal und das Land bis zu seinen Grenzen frei und stark zu machen, und unabhängig. Alles, was ihr erfindet, wird mit Schiffen an alle Küsten des Oberen Meeres gebracht. Es ist wichtig, daß ihr vorbereitet seid. Ich weiß, daß ihr mich hassen werdet, well ich eure Erinnerungen manipuliere.« Wieder ertönte dieses lautlose Gelächter, das meine Nerven marterte. Asyrta sah mich starr an. Sie erfuhr gleichzeitig, vielleicht in anderen Worten, die gleichen Wahrheiten. Vielleicht sprach ES gleichzeitig auch mit Cheper, Ka-aper oder Neb-Nefer. Wieder überströmte uns, nach einem Lachen, eine starke Flut neuer Gedanken, Bilder und Eindrücke. ES manipulierte blitzschnell und mit teuflischer Überlegenheit. Sämtliche Fragen, die seit Asyrtas und meinem Aufwachen entstanden waren, wurden in einem langen Band betäubend eindringlicher Bilder beantwortet: Wir erlebten den Weg der Wunderbaren Karawane und den langen Sommer am Strand mit, hörten die Befehle des Gottkönigs Amenemhet, Bau und Aufbruch der LOB DES HERRSCHERS, wir erkannten, daß Gubal gebaut und organisiert werden mußte, um Asyrta und mir eine sichere und geschützte Heimat zu garantieren. Das Ziel definierte ES nicht scharf genug, aber am Ende der Entwicklung stand ein Völkchen, das entlang dieser Küste wohnen und sich zu einer Nation erfahrener Schiffshändler entwickeln sollte. ES übermittelte uns einen Ausblick auf die nächsten Jahrzehnte.
Ihr könnt diesen Plan überblicken, ohne euch, meine einzigen wirklichen Helfer, die am großen endgültigen Mosaik der Geschichte Steinchen um Steinchen setzen, nähme das Schicksal unzähliger Menschen einen anderen Lauf. Ich drohe euch nicht mit Zwang, und allein schon die potentielle Unsterblichkeit, Arkonide, wird dir helfen, mich und die Menschen dieser barbarischen Welt zu unterstützen. ES schwieg; die Lähmung löste sich. Asyrta-Maraye und ich saßen mit geschwächten Gliedern und ziellosen Gedanken da. Nur das Knacken und Knistern des brennenden Holzes und unsere schweren Atemzüge waren zu hören. Ich legte die Hand auf den Zellaktivator, dem Per-Ao-Siegel aus Gold, Lapislazuli und Edelsteinen. Vom Geschenk dieser kosmischen Intelligenz gingen wärmende, beruhigende Kraftströmungen aus. Ich tastete nach dem Weinpokal und hob ihn mit zitternden Fingern. »Wieder einmal hat uns ES die Wahrheit gezeigt. Wir sind und bleiben seine Söldner, seine Marionetten.« »Wir sind die Mächtigen des Hafens und der Stadt.« Asyrta schüttelte langsam den Kopf und sah den Funkenwirbeln zu. »Wir haben alles, was wir uns wünschen. In Wirklichkeit sind wir die freiesten Menschen dieser Welt, Atlan.« »Das mag halbwegs richtig sein.« Ich packte den Pokal mit beiden Händen und nahm einen tiefen Schluck. »ES hält uns unfrei. Frei sind wir nur rechts und links seines vorgeschriebenen Weges.« »Dennoch, Liebster.« Ihr Lächeln war selbstsicher und strahlend, und ihre Überzeugungskraft steckte mich an. »Ich habe, seit die LOB in die Strömung des Jotru ging, nicht einen Herzschlag fang das Gefühl gehabt, eine Sklavin unseres Meisters zu sein.« »Das wird sich ändern, wenn ES seine Legionäre wieder in den Kampf schickt.« »Kannst du wirklich etwas dagegen tun?« Ich schüttelte den Kopf. »Dann füge dich drein, Gaufürst Ahiram-Acran. Denn tatsächlich bist du ein freier und mächtiger Mann, der klügste Mann, rundum an den Küsten und in den Städten.« »Vergiß die Höhlen und Strände nicht.« Eigentlich hatte sie recht; die schockierende Erinnerungsflut hatte mich überempfindlich und
ungerecht gemacht. Ich sah, etwa im Gegensatz zu den Jahren an Meni-Narmers Seite, keinen eigentlichen Sinn für mich. Ich plante ohne tiefe Überzeugung, reagierte, statt entschlossen zu handeln, und erkannte mich nur dann wieder, wenn ich eine Aufgabe zu meiner eigenen Sache machte. Sollte ich mich bewußt stärker, ausschließlicher einsetzen? Ich stellte den Pokal hart auf den Tisch; der Logiksektor sagte mit Bestimmtheit: Du würdest dir und deiner Geliebten damit nützen, Arkonide. Laß die unbekannte Gefahr, von der ES sprach nicht aus den Augen! Ich stand auf, stützte mich schwer auf die Tischplatte und sagte halblaut: »Wir werden bald sehen, wie dünn und fang unsere Sklavenketten sind, schönste Freundin. Mein einzigartiger Freund Riancor-Rechme hat die Inventur des ersten Flottensilos abgeschlossen und bemerkenswerte Gerätschaften gefunden. Auch dem Winter entkommen wir bald auf listige Weise.« Durch die Spalten der Läden und die schweren Vorhänge sickerte der erste Lichtschimmer des Morgens. Asyrta blickte schweigend, in tiefem Unverständnis, in meine Augen. Ich griff nach Asyrtas Hand und zog die junge Frau an mich. Ich flüsterte: »Wart’s ab. Erst einmal schlafen wir uns aus.« Ich hob die kleine Truhe, in der sich Schreibmaterial und Tuschen befanden, vom Tisch und nahm sie unter die Achsel. »Wenn in Gubal regnerischer Winter herrscht, glüht andernorts der Sand vor der Brandung.« Eine Stunde später hatte ich mit Rico jede Einzelheit abgesprochen die innere Fläche des Truhendeckels war ein Bildschirm. Es dauerte nur sieben Tage, bis die technischen Einzelteile montiert, mehrmals getestet und gebührend getarnt waren. Einige Atemzüge danach verließen Asyrta und ich, Hand in Hand, den neu eingerichteten Personen-Transmitterraum der untermeerischen Anlage. Rico verbeugte sich tief und deutete mit großspuriger Geste in den Saal der Pulte, Monitoren und Riesenbildschirme. Im Scheinkubus des Holografieprojektors drehte sich langsam das Modell jenes Schiffes, das von Gerth und seinen Meistern des Holzes gebaut wurde. Die Darstellung kippte, zeigte
Ausschnittvergrößerungen und verwandelte sich in einen Bauplan aus einfachen Linien in vielen Farben und Stärken. Ich griff in die Feinsteuerung und fügte Masten, Rah und Steuer hinzu, zeichnete Tauwerk und einige zusätzliche Einzelheiten, dann markierte ich etwa fünfzig Punkte. »Hierher gehören Beschläge, die aussehen müssen, als wären sie aus Bronze«, erläuterte ich. Rico nickte und schwieg. »Wie sie gebogen und gefräst werden müssen, welche Funktion sie haben, kannst du aus einer Unmenge solcher Bilder herausfinden. Unsere Maschinen sollen Stahlbeschläge herstellen, die am meisten belasteten Teile mehrfach und alle müssen aussehen, als wären sie aus Bronze. Klar?« »Durch den Transmitter in einem Mond in dein Haus liefern, Gaufürst Ahiram?« fragte der Robot und grinste wie ein kluger Romet. Ich stand auf und sagte: »Zusammen mit Tauwerk, Ersatztauwerk und Stoff für das Segel.« »Ich und unsere Maschinen gehorchen, Mann zur Rechten Amenemhets.« Ich tippte mit drei Fingern an die Stirn und winkte Rico in die Zentrale. »Nur der guten arkonidischen Ordnung halber: Wann war die Karawane der Wunder?« Er antwortete, ohne eines der zahlreichen Pulte oder Terminals benützen zu müssen. »6011 Jahre nach Untergang von Atlantis; im Jahr drei und vier des gottgleichen Amenemhet, 171 Jahre, nachdem du jenes seltsame Bauwerk von Knossos fertiggebaut hattest.« Ich drehte den Kopf und betrachtete die Zahlen unterhalb der laufenden Ziffern des Chronometers. Abgesehen von den Sumer, Schumerern und Akkadern an Idiglat und Buranun besaßen die Romet das einzig brauchbare Kalendersystem. Sie zählten gegenwärtig das Jahr vierzehn Amenemhet. 6021 NUvA. Ich ließ mich in meinen Sessel fallen und hob den Kopf zur Planetaren Karte. Zuerst zog ich die Vergrößerung des Binnenmeeres, des Großen Grünen, des Nördlichen Ozeans oder es Oberen Meeres; ich würde es, weniger einfallsreich, Mittelmeer nennen. Rico ergänzte und ersetzte seit Jahrzehnten ununterbrochen einzelne
Bildausschnitte durch aktuelle Höhenaufnahmen: Ich musterte den Küstenstreifen, der in Nord-Süd-Richtung verlief, und in dessen Mitte Gubal zu sehen war. Eine gestochen scharfe, durch Momentaufnahmen erstarrten Lebens, Sonnenlicht und Schatten geradezu faszinierend überzeugende Darstellung, bis hinaus zu den Feldern und den Rand der Zedernwälder. Ich drehte mich zu Rico herum, der ausdruckslos wartete. »Meister der Linsen, Objektive und Belauschungen. Von Jahrhundert zu Jahrhundert leistest du mehr, wirst du besser, und deine Barbarenähnlichkeit übersteigt ohnehin jedes vernünftige Maß. Das also ist das Spielfeld, auf dem ES die seetüchtigen Nachfahren der kanaanitischen Nomaden bewegt zu sehen wünscht. Du kennst die dürftigen navigatorischen Mittel unserer Zeit - Sterne, Sonne, Wind, Gerüche, Strömungen und unvorstellbar große Bereitschaft, alles auswendig zu lernen: Stell von all dem, allen Küsten, auch östlich und westlich dieser Stadt, brauchbare Karten her. Die Beschläge aus falscher Bronze sind irgendwann verrostet, und auch diese Karten sollen nicht länger als ein paar Jahrzehnte überleben. Ich bin sicher, du hast genau verstanden, was die Umstände erfordern?« »lch fürchte: ja.« Riancor-Rechme holte überzeugend Atem und brachte es fertig, halbwegs beleidigt auszusehen. Es zerriß mich innerlich fast vor Lachen. »In all den NUvA-Jahren, seit du den entscheidenden Befehl gegeben hast, bin ich schöner und leistungsfähiger geworden, aber nicht blöder, Gebieter. Ich habe sämtliche Vorräte Magazininhalte und Maschinen unseres Überlebenszylinders kontrolliert. Ich kann mehr als fünfzehn Sprachen. Unter meiner Leitung ist jedes Schräubchen deiner oder eurer Ausrüstung entstanden, auch der unförmige Gleiter, in dem du, o Herrscher vieler strandnaher Schreibunkundiger, Teile deines Winters zu verbringen gedenkst. Meine Robottiere sind meisterliche Werke der Mechanik und Positronik. Ich steuere unzählbare Sonden um diesen Planeten. Wie, Ahiram-Acran, soll ich dir darüber hinaus beweisen, daß die personifizierte Garantie für dein Überleben in Prunk und mit genügend Rotwein das Stadium arkonidischer Flottenrobots um kosmische Entfernungen verlassen hat?«
Ich sah schweigend in seine großen Optiken; ihr Vorbild schienen die Augen einer männlichen Antilope zu sein. Dann stand ich auf, umarmte ihn und sagte, ehrlich betroffen und überzeugt, trotzdem innerlich am Rand eines kreischenden Gelächters: »Du brauchst nichts mehr zu beweisen, Rico! Du bist der beste perfekteste und klügste Roboter des ganzen Planeten. Ich schätze dich wie meinen Bruder, den ich nie hatte – wo ist Asyrta?« »In ihren Prunkgemächern. Sie läßt sich bedienen, stationäre Robotcophen beseitigen Mitesser, Hautunreinheiten und eingewachsene Nägel. Sie wünscht, nicht gestört zu werden.« Cophen? fragte der Logiksektor. Ich hob die Schultern, bat Rico um einen Krug dünnes Bier und ließ, während ich eine Spionsonde über das Meer zum Hapidelta und stromaufwärts jagte, auf einem kleinen Monitor meine Bedarfsliste langsam ablaufen. Als Rico mit dem Bier kam, saß ich da und betrachtete sinnend meine gesplitterten, abgebrochenen Fingernägel, unter denen dünne schwarze Reste Erdpech zu sehen waren. Damit hatten Gerth und ich die Planken unseres unfertigen Schiffes abgedichtet. Ich betrachtete die Standorte der Notsilos die von den Pionieren des Raumgeschwaders angelegt und sorgfältig an geologisch stabilen Orten versteckt worden waren. Die sieben Kartenvergrößerungen zeigten wilde, menschenleere Gebiete. Am fünften Tag steuerte ich über die scheinbar endlose Wüste nach Osten, noch immer parallel zum Hapistrom; ich verringerte die Geschwindigkeit und schaltete das Deflektorfeld ein. Leise sagte ich: »Wir werden in wenigen Atemzügen viele seltsame Bauwerke sehen. Auf einem rechteckigen Grundriß, dessen Geraden nach den Himmelsrichtungen orientiert sind, erheben sich vier dreieckige Flächen von geometrischen Körpern mit acht Kanten, die mit den Spitzen in einem stark verkleinerten goldenen Abbild auf ihrer Spitze zusammentreffen. Sie wurden vor mehr als zwölf Jahrhunderten erbaut. Es sind gigantische Stein- und Quaderansammlungen über den Gräbern einiger Gottkönige: Chnumchufu, Chawefre, Menkau-Re, längst vergessene Herrscher.« Inhalt ist gleich einem Drittel von Grundfläche und Höhe, sagte der Logiksektor. Ich hielt den Gleiter in etwa hundertfünfzig
Mannslängen Höhe und schwebte auf die mehrfarbig glänzenden Riesengräber zu. Die Dreiecksflächen waren mit rötlichem Granit vom Hapi-Oberlauf und blendendweißem Kalkstein verkleidet. Ihre Goldspitzen funkelten unerträglich grell. Lange gemauerte Prozessionsstraßen verbanden sie mit dem Ufer des Stroms; umgeben von vielen kleineren geometrischen Grabmälern, Palmenalleen und Pfaden in der Einöde aus Fels und Sand zeigten die Spitzen in den wolkenlosen Himmel des Rometlandes. Asyrta legte den Feldstecher aufs Armaturenpaneel. Ihre Blicke kehrten wieder in die Gegenwart zurück; sie flüsterte: »Unbegreiflich, Atlan! Auf angsteinflößende Weise herrlich und unmenschlich. Jenseitig. Ich kann’s nicht verstehen.« Die schmale grüne Zone zwischen Felsabstürzen und Wüste, vom Band des Jotru durchflossen, lag im Licht der Vormittagssonne. »So und nicht anders war es damals gedacht«, sagte ich. »Heut’ abend erzähl’ ich dir, was ich darüber weiß.« »Unglaublich, Atlan.« Sie nickte und betrachtete das ausgedehnte Gräberfeld. Am schmalen Uferstreifen, der aus Schilfdickicht, kanalumschlossenen Feldern und dorrenden Weiden bestand, arbeiteten ameisenklein die Bauern. »Es müssen Millionen geschuftet haben, jahrzehntelang. Wenn ich an Gubal denke – bis hinunter zum Fuß sieht alles so aus, als hättest du diese Totenmäler gezeichnet oder die Modelle geschnitzt.« Der Gleiter, unsichtbar für die wenigen Romet zwischen Mauern, truhenähnlichen und spitzen Grabmälern, Pfaden, Dünen, Felsabstürzen und Palmendoppelreihen, schwebte in Schleifen, in geringerer oder größerer Höhe, zwischen den Totenmälern. Sie befanden sich im »Sonnenuntergang«, auf dem westlichen Ufer; schon Meni-Narmer war jenseits des Flusses begraben worden; dort trat die Totenbarke die Reise durch Nacht und Unterwelt an. Schweigend und tief beeindruckt betrachteten wir die Anlage, bis ich die Schnauze der Maschine wieder nach Süden drehte und den Gleiter beschleunigte. »Viele Erinnerungen verbinden mich mit dem Land entlang des Hapi«, sagte ich stockend. »Aber von diesen monströsen
Totenmalen weiß ich noch zu wenig. Rico hat sicherlich entsprechende Bildbeobachtungen gespeichert.« »Wo halten wir heute? Wo ist unser Nachtlager?« »Laß dich abermals überraschen. Unterhalb des ersten HapiKatarakts, nahe Jeb und Ta-Seti«, sagte ich. »Hungrig? Durstig? Müde?« Asyrta schüttelte schweigend den Kopf. Die Glasfronten des Gleiters hatten sich rauch- oder bernsteinfarben abgedämpft, in der großen Kabine war es kühl, ein Luftzug wisperte aus vielen verteilten Düsen. Draußen versuchte die Sonne den Sand zu schmelzen. Die Bilder, die ich sah und für Asyrta kommentierte, an beiden Ufern des Stromes, schienen seit Narmer oder Aha unverändert zu sein. Wir hatten die Grundzüge einer friedlichen, weitgehend hinter den natürlichen Grenzen abgeschlossenen, dauerhaften Kultur geschaffen, ich spürte eine nicht geringe Befriedigung. Wir passierten Geb-Teju, den Ort, von dem aus die zerlegten Schiffe zum Meer geschleppt und dort zusammengebunden wurden. Am späten Nachmittag landete ich auf einem leeren Inselchen. Zwischen bizarren Felsen und wenigen verkrüppelten Gewächsen stand ein verlassenes Tempelchen, in dessen Schatten ich den Gleiter versteckte. Wir warteten bis zur Dämmerung, bis wir die Tarnung aufhoben. Wir verließen den Gleiter, verharrten in der Stelle über der bewegungslosen Wasseroberfläche und sahen die Wohnbauten Ta-Setis. Drei kleine Fischerboote schwammen vor der atemberaubenden Kulisse aus Wasser, Wüste und Sand. Tageshitze gemildert durch schwache Brisen, umwaberte uns; binnen weniger Tage waren wir in den Sommer zurückgekehrt. »Eine wunderschöne Landschaft, Liebster.« Asyrta lehnte sich an mich. »Jetzt versteh’ ich, warum deine Augen leuchten, wenn du vom Land der Romet erzählst.« »Warte, bis du die Sterne siehst«, versprach ich. »Hier oder an einem Punkt südlich der Stromschnellen verbringen wir den Winter von Gubal.« Ich aktivierte ein schwaches Schutzfeld, versenkte das Verdeck, schaltete eine Verbindung zu Rico und ließ Rometmusik zu uns
senden. Die Sonne tauchte hinter den Horizont aus Dünen, ein letztes Mal spiegelte sich die Landschaft in der schwarzen Wasserfläche, und die Federmäuse jagten in zuckendem Fug, als die Sterne und die Mondsichel über uns erschienen. Asyrta brachte kaltes, dünnes »henket«: Uns war, als hätten wir, andächtig schweigend und staunend, den Weg zurück in unsere Kindheit gefunden. 149 Tage und Nächte, unterbrochen durch ein Dutzend Aufenthalte in Gubal, dauerte unser Sommer im Hapiland. Die Winterstürme waren vorüber, die Zisternen Gubals voller Wasser, Felder und junge Wälder grünten und blühten. Die ersten fremden Schiffe liefen unseren Hafen an; einzeln, zu zweit oder drift, meist um die fünfzig Ellen fang und von minoischen Kapitänen gesteuert. Die rauhen, schwarzbärtigen Mannschaften bewunderten Gubal. Einige Männer blieben hier oder heuerten auf anderen Schiffen an. Ebenso viele Männer aus Gubal Freigelassene, Kaufmannssöhne oder Handwerker – verließen die Stadt, um an anderen Küsten reich zu werden. In hundert Tagen zählten wir fast siebzig Schiffe. Viele Waren wurden in unseren Magazinen umgeschlagen. Aus unbekannten Ländern des fernen Südens kamen Eselskarawanen, die Myrrhe und Weihrauchharz brachten. Besonders vertrauenswürdigen Schiffsführern überließ ich Ricos Karten; sie halfen mir, Namen und Bedeutung fremder Häfen und deren genaue Lage einzutragen. In den Hafenschänken redeten sich Kapitäne und Steuermänner die Köpfe heiß, tauschten Kenntnisse und Wahrheiten aus, erzählten Lügengeschichten und sangen Lieder fremder Häfen. Unsere wachsversiegelten, mit Bildern und Schrift versehenen glasierten Krüge, die Zedernöl enthielten, waren bald ein ebenso begehrter Handelsartikel wie Bretter und Balken aus Zedernholz, die so wenig sperrig waren, daß man sie gerade noch mit dem Schiff transportieren konnte. Wir tauschten Barren aller Metalle, die uns gebracht wurden: An gutem Zinn, dem teuersten Erz, bestand stets ein Mangel. Wir hatten erwartet, daß jeder Handelsmann andere Maße, Gewichte und Wertvorstellungen hatte, und versuchten, einen höheren Grad an Vereinheitlichung zu erreichen. In Gubal, selbst bei den Waldarbeitern und Bauern, galt
mittlerweile ein einheitliches System, das akkadische Hohlmaße und Romet-Längenmaße enthielt; auch die Abstufung der Werte wurde mit der Zeit angenommen und erhielt, im Herrschaftsbereich Asyrtas und dort, wo Siren und ich etwas zu sagen hatten, mehr Gültigkeit. Die Warenlisten wurden länger; je mehr Tage der Frühling zählte, desto mehr Schiffe landeten an und legten ab. Die Händler, die unsere Schänken und Magazine besuchten, waren von Mal zu Mal besser gekleidet, stanken nicht mehr nach Schweiß und Ziegenfellen, sondern zeigten stolz die kostbaren Ringe an ihren sauberen Händen. Schon drei Stunden nach Sonnenaufgang füllten sich die Tavernen und Hafenschänken. Ich saß im Bug des halbfertigen Schiffes. Neben mir ließ Gerth seine Beine baumeln. Er zeigte zur Hafenmole. »Es sieht so aus, Gaufürst, als hätten wir erreicht, was du dir vorgenommen hast.« »Sprich im Herbst wieder mit mir, Gerth«, sagte ich zufrieden. »Dann wissen wir mehr. Dann ist wohl auch das schönste Schiff des Oberen Meeres fertig?« Ich schlug mit der Faust auf das rauhe Holz des geschwungenen Bugstevens. Die knarrenden Ladebäume hoben Teile von Zedernstämmen in ein Hapilandschiff. »Die Stadt ist so gut wie fertig, Herr. Alle Dächer sind regenfest und sturmsicher. Du hast nichts mehr zu tun, ich seh’s. Willst du eine neue Aufgabe anpacken?« »Ich glaube, es wird Zeit.« Ich nickte. »Tauwerk und Beschläge liegen dort hinter. Sind sie so, wie du sie wolltest?« »Ja, Fürst. Ich habe nie schönere Dinge aus Bronze gesehen.« Ich schlug ihm auf die Schulter und kletterte die Leiter hinunter. Das Öl, vom Zedernholz ausgeschwitzt, machte mich unter dem Dach der Halle schwindlig. Ich wollte zum Hafen, vielleicht lief mir einer der verantwortlichen Männer der Stadt über den Weg. Ich traf Ka-aper auf dem Weg durch den Hafen. »Dein Gesicht, Gaufürst, läßt mich erkennen, daß du dich langweilst«, sagte er und lächelte. Er trug einen weiten Mantel, der fast auf dem Boden schleifte. Er hob ihn an und zeigte den breiten
Streifen einer seltsam rötlichen Farbe; man sah sie manchmal in wilden Blüten. »Nicht eigentlich Langeweile«, erwiderte ich. »Du und ich, wir sind überflüssig, als Aufseher in Gubal. Wir sollten etwas Sinnvolles tun, das uns Abenteuer und Abwechslung verspricht.« »Cheper sagte das gleiche zu mir. Ebenfalls Siren. Das ist der Frühling Gaufürst. Er läßt unser Blut sprudeln wie jungen Wein.« »Mag sein. Was weißt du über die aufregende Farbe?« »Man braucht viele Stücke einer bestimmten Art von Schnecken um einen Saum zu färben. Ein neuer Handelsartikel? Ich habe mit vielen Kapitänen gesprochen. Sie wollen, daß der Gaufürst jeden Hafen besucht, mit dem Gubal Handel treibt.« Die Vorstellung, mit meinen Freunden, einer kostbaren Ladung und einem Schiff, das nach meinen Plänen aus bestem Material erbaut war, entlang der sommerlichen Küsten zu segeln, hatte etwas Faszinierendes. »Einverstanden«, sagte ich leise. Wir gingen langsam in Richtung auf die Werft zurück. »Ich glaube, dieser Sommer wird Gubal viel nützen.« »Ich bin sicher. Wenn des Krückenmachers Prunkbarke so tüchtig ist, wie sie aussieht…?« Ich war dessen gewiß; wir hatten an Wintertagen den Fortgang aller Arbeiten kontrolliert. Viele neue Ideen waren in dem Schiff verarbeitet und würden von den Handwerkern weitergegeben werden. Das Schiff, fast achtzig Ellen lang, stand unter dem schützenden Strohdach. Ich betrachtete die lange, glatte Flanke. »Wir sprechen darüber«, sagte ich. »Wo gibt es diese farbenfrohen Schnecken?« »Geh zu den Fischern, Ahiram.« Ich tat es, danach wußte ich, daß mit einigem Glück ein unerwartet wertvoller Handelsartikel gefunden war. Ich grinste vor mich hin und dachte an die Möglichkeiten, die ich hatte – selbst als Sklave von ES. Westwind füllte das Segel. Alle Taue waren straff gespannt und summten unter dem Ansturm des Windes. Das Meer lag in kurzen Wellen da, die der Bug der SCHNELLEN ZEDER durchschnitt wie
ein Messer. Unser Ziel war Gaza, oder vielleicht auch Raphia, Hafenstädte tief im Süden, bevor die Küste wieder nach Westen abbog, der Hapimündung entgegen. Cheper stand in der Mitte des Achterdecks und stemmte sich gegen die Ruderpinne. Das Schiff besaß als erstes Fahrzeug dieser Zeit ein Ruder, das sich in schweren Bronzescharnieren drehte, nicht zwei Seitenruder wie alle Schiffe aus Keftiu. »Ein herrliches Schiff!« rief er zu mir herunter. Ich stand mit Asyrta am Mast und sah zur Küste, die kaum noch klar zu sehen war. »Der erste Sturm wird beweisen, ob es wirklich gut ist.« »Und unser Versuch, zum erstenmal den Piraten davonzusegeln«, sagte Asyrta. Wir waren von Gubal mit nordöstlichem Wind weit aufs Meer hinausgesegelt. Delphine und Sonnenuntergänge begleiteten uns, einmal hatte der Wind zum Sturm aufgefrischt, aber nach der Kursänderung bekamen wir Rückenwind. Das Schiff lag leicht schräg, und Horus weit vor und über uns war nicht zu sehen. Fünfzehn Seesoldaten, davon zehn aus der Gruppe, die einst die LOB DES HERRSCHERS bemannt hatten, waren an Bord, meine Freunde, zwei minoische Kapitäne und eine Schar der besten Seeleute aus Byblos. In den Nächten lehrte ich sie stellare Navigation; nach einigen Tagen war jeder an Bord fähig, die Himmelsrichtungen nachts richtig anzugeben. »Ich würde keinem Piraten raten, uns anzugreifen!« murmelte ich. Wir ließen uns von der Sonne bräunen und tranken Bier aus kühlen Krugen. Unsere Stimmung war hervorragend, alle Sorgen schienen vergessen. Wir freuten uns auf jene Hafenstadt, die wir aus Erzählungen kannten. Wir fuhren aus Nordwesten darauf zu. Ich blickte zur Küste; langsam tauchte sie aus dem Dunst auf. Ich betätigte einige Schaltungen und schickte Horus, den robotischen Seeadler, dorthin. »Soll das etwa die Mannschaft sein, von der ES sprach?« fragte Asyrta. Ich route eine Kartenvergrößerung aus. »Hoffentlich nicht. Ein paar könnten dazu gehören, andere sicher nicht«, sagte ich. Wir waren entspannt, nichts und niemand würde uns überraschen. Gerth tauchte, den Dreizack schwingend, aus dem
Vorschiff auf. Er lachte und wischte den Schweiß von der kahlen Stirn. »Alles dicht. Die Planken federn wie Leder. Nicht ein Tropfen Wasser über dem Kiel.« »Hoffentlich bleibt es so – bei diesem großen Schiff, Krückenmacher!« sagte ich. »Ich beschwöre es! Bei Baalat und Minos!« Inzwischen unterschieden wir Einzelheiten der Küste. Ich sah lange zu den Nadeln aus Stein und Schroffen hinüber, dann ging ich unter Deck, schaltete den Bildschirm meines Schildes ein und studierte die Bilder, die mir Horus’ stereoskopische Linsen lieferten. Lange betrachtete ich die verwahrloste, von buntem Leben strotzende Siedlung, den Hafen, die Verstecke in den Küsteneinschnitten und die landwirtschaftlich genutzte Umgebung. Zufrieden mit dem, was ich erkannt hatte, kam ich an Deck. Kaaper, dessen Oberkörper von Schweiß glänzte, kam auf mich zu und bemerkte: »Bis jetzt haben wir Seehandel als Kinderspiel betrachtet. Ich weiß, daß es nicht so ist. Unser Schiff ist, was den Weinverbrauch betrifft, ein Narrenschiff.« »So soll es bleiben.« Ich schlug ihm die Faust gegen die Schulter. »Wir haben uns eine heitere Fahrt verdient. Der nächste Winter wird trostlos sein.« »Keine Piraten, kein Sturm, kein Mastbruch – es ist langweilig«, spottete der Verwalter des Gottkönigs. Ich iächelte in mich hinein. Ich wußte es besser und kletterte zum Steuermann und Kapitän. Cheper stand breitbeinig da, den langen Schaft der Ruderpinne unter der rechten Achsel, und hob kurz die Hand. »Ein Schiff, leicht wie eine Feder. Ich könnte damit bis ans Ende der Welt reisen.« Ich blickte ihm in die Augen und sagte: »Die Gelegenheit mag kommen, schneller als wir denken. Du sollst Steuermann des großen Schiffes sein.« »Tatsächlich? Dein Ernst, Fürst?« Er sah mich halb erschrocken, halb begeistert an. »Wart’s ab. Brauchen wir bis zum Hafen die Ruderer? Oder segelst du hinein?«
Er schätzte Wind und Wellen, Abdrift und den Einschnitt der Küste ab, überlegte und sagte dann: »Ich segle!« Zwei Stunden vor Raphia entfalteten sich weit voraus, backbords von unserer Route, fast gelbe Segel. Zwei Schiffe nutzten den ablandigen Wind und kamen uns schräg entgegen. Ich saß im Windschutz der achterlichen Reling und sagte zu Cheper: »Was hältst du davon?« Seit unseren Kämpfen gegen die Nomaden wußten sie, daß ich über seltsame Waffen verfügte. Sie hatten sich daran gewöhnt, wie an mein silberfarbenes Haar und das Amulett, das ich nie ablegte. »Piraten«, vermutete er. »Wenn ich daran denke, was siebzig Kapitäne über die schauerliche Küste berichten…« Ich grinste ihn an und sagte: »Auch Raphia hat einen Verwalter des Amenemhet. Er wird sich freuen, wenn wir ihm zwei Schiffe voller Sklaven bringen. »Unangebrachte Bescheidenheit, Fürst Ahiram, ist kein dich kennzeichnendes Merkmal«, sagte er. »Ich weiß, was du bezwecken willst.« Ich nickte. Jetzt stieß Neb-Nefer einen schrillen Schrei aus und zeigte nach vorn. Die Schiffe hatten sich uns genähert. Steuerbords sahen wir eine schwarze Rauchsäule, ein Signal der Leute von Raphia? Aufregung entstand an Deck. Die Besatzung rannte nach vorn und spähte in die Richtung der fremden Schiffe. Sie hatten einen Kurs eingeschlagen, der sie vor und hinter uns bringen sollte, wenn wir einen Punkt zwischen Meer und Hafeneinfahrt erreicht hatten. Siren schrie Befehle in schneller Reihenfolge. Ich blieb neben Cheper sitzen und rief Horus zurück. Seine Defensivwaffen, ein Lähmstrahler und eine tödliche Strahlanlage, würden unsere Position festigen. Ich winkte einen Matrosen herbei, der drei Handelsfahrten hinter sich hatte, und bat, Helm, die Rüstung und den Speer zu holen. Die Soldaten verschwanden unter den Decksplanken und kamen wieder herauf; in voller Bewaffnung und Rüstung, mit entschlossenem Gesichtsausdruck Ka-aper kletterte zu uns und setzte sich neben mich. Er fragte gespannt:
»Werden wir ihnen eine Lehre erteilen – wenn es nicht harmlose Handelsfahrer sind?« Ich lächelte milde und scheinbar träge: »Harmlose Handelsschiffer kommen nicht plötzlich unter Einsatz der Riemen aus Küstenspalten hervor, segeln nicht solch verräterischen Kurs. Überdies scheine ich das Blitzen von Waffen gesehen zu haben. Der Sommer wird für diese Piraten zu Ende sein, schneller, als ihnen lieb ist.« Er spannte seine Muskeln und versicherte: »So ist es. Ich gehe, um mich gegen verirrte Pfeile zu schützen.« Kurze Zeit später war es soweit. Ein Schiff änderte seinen Kurs ging voll in den Wind, wendete und befand sich zwei Bogenschüsse entfernt in unserem Kielwasser. Der andere Segler riß sein Steuer herum und fuhr schräg auf der Backbordseite heran. Ich federte die Stöße der ZEDER mit den Knien ab und setzte den Helm auf schnallte die Rüstung um und hob den Speer. An Deck der Schiffe zeigten sich nur wenige Personen. Ich schätzte unsere Lage ab. Horus kreiste in Bogenschußhöhe über dem Pulk, der sich dem Hafen entgegenbewegte. Ich sagte zu Cheper: »Langsamer Gib diesem Hundesohn die Gelegenheit, etwas aufzuholen.« »Gern, Herrscher, König der Wellen.« Ich antwortete mit einem Wort von ausgesucht barscher Klangfülle. Wir beobachteten die Manöver sehr genau. Unser Verfolger kam näher, der andere segelte so, daß er uns in wenigen Augenblicken längsseits berühren würde. Mit einem Satz war Kaaper auf dem Achterdeck und sagte scharf: »Asyrta wird von drei Soldaten geschützt. Es wird ernst, Atlan?« »Ich weiß es. Dieses Verhalten entlarvt sie: Handelsschiffer hätten längst herübergeschrien und nach dem Woher und Wohin gefragt.« »Bin deiner Meinung, Gaufürst.« Cheper und ich nickten uns zu. Ich schaltete ein Signal im Armschutz, das dem Vogel befahl, notfalls einzugreifen. Dann packte ich meine Lanze, kippte die Sicherung und richtete die Spitze auf die Wellen vor dem anderen Schiff. Uns alle hatte kämpferische Spannung ergriffen. Jetzt wurde es deutlich, daß die Schiffe uns vor
dem Hafen abfangen wollten. Ich blickte zum Steuermann des anderen Seglers, der uns nicht einmal anblickte, dann schrie ich: »Ihr seid Piraten! Wir können uns wehren! Greift an, oder segelt zur Seite! Wir werden euch vernichten!« Es geschah ganz plötzlich. Irgendwie wirkte alles auf mich wie eine Zeremonie, die jeder kannte. Binnen weniger Augenblicke bevölkerte sich das Deck des backbords segelnden Schiffes. Die Piraten trugen Helme, Schilde, Bögen und zweischneidige Kampfbeile. Es waren durchweg wild aussehende, breitschultrige Gestalten, denen man die erbarmungslose Tätigkeit ansah. Ich richtete die Spitze der Lanze auf denjenigen, der aussah wie ein Kapitän, dann schrie ich zum zweitenmal: »Gebt auf, oder wir vernichten euch!« Die Antwort war ein schnelles Manöver, das die Bordwand des anderen Schiffes ganz nahe brachte. Ein guter Steuermann! durchfuhr es mich, als ich die Lanze senkte und einen langen Schuß abfeuerte. Zwischen den Schiffen verdampfte Wasser und bildete dichten Nebel, als die Energie röhrend das Wasser kochen ließ. Der zweite gezielte Schuß kappte Seile und Taue, schnitt den Mast auseinander und traf jenseits des Schiffes ins Wasser. Ein vielstimmiger Entsetzensschrei übertönte das Krachen des Schusses, das Schwirren der Taue und das brechende Knistern. An drei Stellen flammte das Segel. Hinter unserer Bordwand richteten sich gepanzerte Bewaffnete auf. Mast, Tauwerk und Segel schlugen auf das Vorderschiff, das Schiff kam aus dem Kurs und legte sich quer. Horus schwebte durch den Dampf und kippte über die Schwinge herunter. Sein Lähmstrahler fauchte. Ich hob meine Lanze und brüllte: »Ein Kurs ohne viel Segelmanöver, Cheper. Wir müssen den Piratensegler heranlassen.« Die ZEDER legte schwer über und bog nach Steuerbord. Unsere Verfolger näherten sich auf der Backbordseite. Der Segler mit dem brennenden Segel schaukelte hilflos in den Wellen. Männer rissen das brennende Zeug von Deck und warfen es ins Meer. Die anderen lagen bewußtlos auf den Planken. Einige versuchten, mit Speeren und Pfeilschüssen gegen den Vogel zu kämpfen, aber Horus
bewegte sich in unberechenbarem Zickzack. Ich drehte mich herum und rief zum Deck hinunter: »Macht euch zum Entern fertig!« Auch an Bord des zweiten Piraten, der dicht neben uns zum Überholen ansetzte, versammelten sich die Männer. Sie hatten, den Waffen und Helmen nach zu urteilen, gute Beute gemacht. Wieder schrie ich, sie sollten sich ergeben oder abdrehen, wieder fluchte der Kapitän zurück und beschimpfte uns. Ich zuckte mit den Schultern und senkte die Waffe. Ein Feuerstrahl und ein Blitz zerschmetterten den Mast dicht über den Planken. Holzsplitter und brennendes Tauwerk wirbelten nach allen Seiten, Männer wurden umgeworfen, dann sprengte ich das Ruder auf der Backbordseite mit einem Schuß weg und verbrannte die Spanten des Schiffes. Wieder wolkten kochende Dampfsäulen auf, durch die sich die Pfeile unserer Bogenschützen einen Weg suchten. Binnen eines kurzen Augenblicks brach auf dem anderen Schiff das Chaos aus. Fluchende Männer bemühten sich, das brennende Segel wegzuzerren. Andere warfen sich auf die Planken, wenn Pfeile heranheulten. Mit dem zweiten Seitenruder versuchte der Steuermann, das Schiff auf Kurs zu halten. Ein Pfeil traf ihn in die Schulter, er wälzte sich schreiend über das Holz und fiel, sich überschlagend, ins Innere. Dann raste Horus über den Wellen heran wie ein fliegender Fisch schlug einen Haken und schoß seine paralysierenden Strahlen gezielt. »Klar zum Entern!« schrie Cheper. Mit geschickten Manövern brachte er das Heck der ZEDER in die Nähe des Vorderstevens des Piraten. Männer kamen zu uns und schleuderten Bronzeanker mit Eisenspitzen hinüber, die mit dumpfem Geräusch im Holz steckenblieben Tauwerk klatschte ins Wasser und wurde belegt. Dann strafften sich die Taue; wir versuchten mit vereinten Kräften, das Schiff heranzuziehen. Noch immer schwelten Brände an Deck, die Kreise des Vogels wurden enger, die Geräusche der Schüsse seltener. »Segel reffen!« Wir verloren Fahrt. Unser Beiboot, ein Zehnruderer, wurde von Deck gewuchtet und ins Wasser gelassen. Neb-Nefer und Männer aus Gubal sprangen hinein und fingen
Wurfanker, Tauwerk und Waffen auf, dann setzten sie die Riemen ein und ruderten davon. Es war undenkbar, daß jemand von Raphia aus alles beobachtete. Er hätte nur Segel, Rauch und Dampf erkennen können. In dem Moment, in dem sich Heck und Bug berührten, sprang eine Handvoll Soldaten hinüber, turnte entlang der Seile auf den Bugspriet und befestigte die Verbindungstaue. Mit Kaperäxten liefen die Männer zum Heck und löschten mit ledernen Eimern die Schwelbrände. Einer der Soldaten drehte sich um und rief: »Sie sind bewußtlos. Überall liegt Beute im Schiff.« »Laßt zwei Mann am Ruder. Kommt zurück, wenn wir den anderen Segler geholt haben!« »Verstanden.« Der Zwischenfall hatte nicht länger als eine Stunde gedauert, aber er war durch meine Waffen entschieden worden. Langsam, mit zwei beschädigten Schiffen im Schlepp, segelten wir zwischen den hölzernen Hafentürmen von Raphia hindurch. Jetzt wurden die Einwohner dieser Siedlung auf uns aufmerksam und erkannten das Zeichen auf unserem geblähten Segel. Wir gingen durch den überfüllten Markt der Hafenstadt. Asyrta, Kaaper und ich prüften nachdenklich die Qualität der Waren und erkannten, daß Gubal-Byblos sauberer und besser organisiert war. Geringschätzig meinte Ka-aper: »Ein armes Dorf, Ahiram-Acran. Nicht alle Verwalter Amenemhets scheinen tüchtig zu sein.« Schmutzig, aber laut und nicht ohne Heiterkeit. Ungepflegt, aber strebsam, voller Menschen, die arm wirkten, aber gut genährt und gesund aussahen – so zeigte sich uns Raphia. Ich brummte: »Für ihn gelten dieselben Voraussetzungen. Auch Verwalter Tharzza hat Baumeister, Holz und Nomaden. Das aber ist nicht unser Problem. Gehen wir zu unserem Schiff.« Es war das bekannte Bild: Häuser und Hütten, Menschen aller Altersstufen, Gerüche und Sprachen, Schreie und Gelächter, Staub und ununterbrochener Handel. Die drei Schiffe waren mit dem Heck auf den Sand gezogen worden. Um die ZEDER hatte sich ein
Kreis von Zuschauern und Händlern gebildet. Wir blieben stehen und schauten zu Cheper und Siren hinauf. »Und gerade dies«, schrie Siren und verdrehte seine Augen, »ist etwas, das es nirgendwo auf der Welt gibt! Eine Farbe, die niemand kennt! Eine Farbe, die niemand mischen oder kochen kann! Hier ist sie!« Siren war hinreißend. Er hatte gewartet, bis die Strahlen der Sonne auf das Heck des Schiffes trafen. Er riß aus den Armen eines Mannes einen Ballen feinsten Leinenstoffs, vollführte eine weitausholende Geste und ließ die Stoffbahn vom Schiff bis an den trockenen Strand ausrollen. Das purpurne Tuch loderte förmlich auf. Zunächst erstarrte die Menschenmenge in ehrfürchtigem Staunen, dann erschollen bewundernde Ausrufe. Händler drängten sich rücksichtslos durch die Masse und betasteten den eingefärbten Stoff. »Tatsächlich! Eine neue Farbe!« »Wunderbar! Was verlangt ihr dafür?« »Wir nehmen nur Silber, Gold oder Metalle. Ein Sekel Silber, hundert Korn Gold für eine Elle.« Der Preis war erstaunlich hoch, aber nur wir kannten das Geheimnis des Purpurs. Millionenfach gab es diese Schnecken überall an unseren Stränden. Ein Sekel hatte hundertachtzig Korn; für zwanzig Sekel wurde ein Sklave verkauft. Die Händler keiften: »Ihr seid Ungeheuer! Das ist kein Preis, das ist ein Verbrechen!« »Wenn ihr«, gab Siren zurück, »den gefärbten Stoff, den schönsten aller Küsten des Oberen Meeres, billiger herstellen könnt, werden wir ihn von euch kaufen, Händler aus Raphia! Außerdem haben wir nur dreimal zehn Ballen dieser Einmaligkeit, geschaffen von zweihundert Frauen in einem langen Winter.« Wir handelten bis in die Nacht hinein. Dieser erste Schritt war wichtig, denn wir hatten Waren eingeführt und Preise erzielt, die Richtschnur bleiben würden: Wir hatten es ausprobiert. Man brauchte Tausende zerstampfter Schnecken, um eine Handbreit Stoff zu färben. Dieser Stoff allerdings war nicht von Schnecken gefärbt, sondern von mir. Ich hatte es geschafft, mit primitiven
Mitteln einen Krug überzeugender Farbe herzustellen. Ich rief zum Heck hinauf: »Zufrieden, Ka-aper? Wir haben wieder einen Grundstein zum zukünftigen Reichtum gelegt.« Er nickte zufrieden und deutete auf das umlagerte Schiff. »Wenn nicht einer der Mächtigen im Hapiland oder im Zweiströmeland beschließt, Krieg über die Welt zu bringen, werden alle Städte reich werden.« »Das hoffen wir.« Wir taten, was wir vorgehabt hatten. Den Händlern sagten wir, welche Waren bei uns günstig zu haben waren; wir handelten neue Tauschquoten für viele Waren aus, und wie versprachen, einen Tempel der Baalat zu bauen. Einen Teil unserer Ladung ließen wir hier, das Beste, das wir in Raphia fanden, nahmen wir mit. Dem Verwalter gaben wir den Rat, es uns in Gubal gleichzutun. Er war darüber nicht erfreut und versprach schlechtgelaunt, uns binnen kurzer Zeit überholt zu haben. Wir nahmen die Herausforderung an. Zwei Tage später liefen wir mit neuem Ziel aus. Nach Gaza mußten wir scharf kreuzen. Die Männer, die bisher nur entlang der Küste gesegelt waren, lernten schnell, well sie lernen mußten. Das Schiff mit schwerem Kiel, den wir mit dicken Kupferbändern beschlagen hatten, lag oftmals so schräg im Wasser, daß die Wellen über die Bordwand schlugen. Das Holz knarrte und vibrierte, die Seile waren straff, als bestünden sie aus Eisen. Riesige Wolkenmassen türmten sich im Westen und Norden. Gaza war nur einen Steinwurf weiter im Norden. Wir würden im Hafen noch vor Sonnenuntergang einlaufen, wenn der scharfe Wind sich nicht vorher legte. Asyrta und ich standen mit hochgeschlagenen Kragen im Heck, hielten uns aneinander und an der Reling fest. Der Wind drückte unsere Mäntel – mit Purpurverzierungen! – an unsere Rücken und ließ die Kanten knattern. »Heute werden uns schwerlich Piratenschiffe folgen«, rief Asyrta. Der Wind riß uns die Worte von den Lippen. Die Wolken an Backbord färbten sich dunkler, die Kraft der Sonne war noch ungebrochen.
»Eines Tages wird eine Handelsroute auch über offenes Meer führen, nicht nur entlang der Küsten.« »Eines sehr fernen Tages, Atlan!« Unsere Mannschaft war entspannt, aber wachsam. Sie hatte sich aufs Leben auf dem Wasser eingestellt, obwohl wir fast jede Nacht das Schiff an Land zogen. Wir wußten auch, daß unser nächstes Ziel ebenfalls nicht viel bedeutender sein würde als ein schmutziges Dorf in Strandnähe; weiter entfernt von den gewinnträchtigen Zedernwäldern als Gubal. Wieder schwang das Segel herum, wieder ging das Schiff in eine andere Richtung und legte sich schwer nach Steuerbord. Nach unserer Karte und den Detailkarten, die unsere Kapitäne gemacht hatten, mußten wir in Kürze wenden. Weit vor uns spielten Delphine. Die Wolken hatten purpurn-schwarze Ränder; in mächtigen Lichtbündeln zuckten die Sonnenstrahlen herunter. Die Wellen bekamen weiße Schaumkronen. Cheper warf mir einen kurzen Blick zu. »Sieht beunruhigend aus, Gaufürst. Sorge dafür, daß der Sturm uns nicht erfaßt!« »Ich bete darum, Freund Cheper!« Noch immer lagen Wärme und Licht auf dem Schiff. Die Wolken bedeckten mehr als die Hälfte des Himmels. Ich begann zu rechnen und rief Cheper zu: »Ich glaube, wir haben den westlichen Umkehrpunkt erreicht. Auf Gegenkurs, Steuermann!« Er deutete mit dem Kopf auf das Unwetter, das sich im Westen zusammenbraute, und rief: »Ich seine einen hellen Streifen am Horizont. Es ist nur ein kurzes Gewitter, Atlan. Es kann an anderer Stelle vorbeiziehen.« Sicher einer der letzten Frühlingsstürme, eine häufige Naturerscheinung. Als Cheper gerade das Schiff drehen und an die Segelmannschaft seine Anordnungen geben wollte, verschwand das Sonnenlicht von diesem Teil des Meeres. Noch einmal sahen wir die Küstenfelsen aufblitzen, dann wurde es dunkler. Augenblicklich schien der Wind eiskalt zu werden. Alle Köpfe drehten sich zum Achterdeck. »An das Segel! Wir wenden! Wir werden reffen müssen! Los!«
Cheper warf das Schiff zurück. Die Leinwand begann zu schlagen und zu knattern. Das Schiff legte sich weit über, drehte sich langsam, die Rah donnerte gegen den Mast, dann faßte der Wind wieder und riß an dem riesigen rostroten Stoff mit dem aufgestickten Gubalzeichen. Schwerfällig zuerst, dann immer schneller, gehorchte die ZEDER dem auffrischenden Wind. Das Segel war fast halbrund und gespannt wie das Leder eines Weinschlauchs. Der Bug tauchte tief ein, schnitt durch den Wellenkamm und hob sich. An jedem Belegtau rissen und zogen drei Männer und machten das Segel fest. Das Holz der Rah, von Bronzebändern zusammengehalten, bog sich und federte. Der Wimpel knatterte wie eine losgerissene Latte. Über uns stemmte sich der Seeadler gegen den Sturm. Krachend brach Gischt über dem Vordeck zusammen. Die Mannschaft duckte sich tief unter die vorspringenden Planken. Immer wieder kam Wasser über das Deck, lief seitlich ab und überschüttete uns mit Sprühregen salziger Tropfen. Der Extrasinn rief: Es wird ernst, Arkonide! Ein schwerer Sturm! Ich blickte mich um. Es wurde dunkler. Die riesige Wolke, die das halbe Firmament bedeckt hatte, zog sich zusammen und wurde schwärzer. Ich sah am Horizont den ersten Blitz ins Wasser schlagen. Cheper hielt das Ruder mit spielerischer Leichtigkeit. Die ZEDER begann auf einem Wellenkamm zu reiten und hörte auf zu stampfen und zu schlagen. Alle Holzteile schienen sich aneinander zu reiben. Gerth kam zu uns herauf und rammte seinen Dreizack in die Bohlen. »Kannst du schwimmen?« fragte ich. »Ich kann sogar tauchen«, erklärte er. Trügerische Stille breitete sich aus, well wir den Wind im Rücken hatten. »Warum diese beleidigende Frage?« »Weil wir nach Gaza schwimmen müssen, wenn sich deine Konstruktion auflöst!« »Die LOB wäre jetzt schon zerstückeltes Kaminholz!« rief Asyrta. »Einen solchen Sturm hatten wir nur einmal, und wir retteten uns ans Ufer, Cheper, vor den Riesenwellen.«
»Ja. Am Strand von Alashia war es!« Wenn das Segel aus schwerem, mehrfach vernähten Leinenstoff riß, waren wir verloren. Wir würden in diesem Inferno nicht in der Lage sein, das Ersatzsegel aufzuziehen. Das Schiff schien schneller zu werden. Die Wellen brachen, der Sturm riß Schaumkronen mit sich und schleuderte sie in unsere Rücken. Wir hielten es noch auf dem schwankenden Deck aus, denn kaum eine Welle überholte die ZEDER. Der Bugspriet bohrte sich wie eine Speerspitze der Küste entgegen. Immer mehr Blitze zuckten ins Wasser, der Sturm trug das Rumoren von Donnerschlägen in kürzeren Abständen heran. Wieder drehten wir uns um. Aus der Wolke, die kleiner geworden war und massiv wie ein Stein schien, griffen fingerartige Auswüchse nach unten. Wasserhosen! Säulen aus rasend bewegten Teilen! heulte der Extrasinn. Die Dunkelheit wirkte wie eine Sonnenfinsternis. Das Meer nahm eine tiefgrüne, fast schwarze Farbe an, von der sich die Schaumkronen gestochen scharf abhoben. Das Schiff raste, Bug und Kiel aus dem Wasser, dahin. Steuermanöver würden nicht viel nützen, aber unser Ziel lag geradeaus. Jetzt berührte der erste schwarze Ausläufer, über die Wasserfläche tastend, das Meer. Augenblicklich wurde eine Säule daraus, die in zwei, drei Windungen vom Wasser bis ins Zentrum der Wolke hinaufreichte. Wir sahen, wie gewaltige Mengen Meerwasser hochgerissen, von der Säule in Drehung versetzt wurden und die Wasserhose größer und schneller machten. Ununterbrochen zuckten um dieses Schauspiel verzweigte Blitze. Der Sturm heulte in beängstigend tiefem Ton und schluckte das harte Krachen des Donners. Ich packte Asyrta um die Hüften und schob sie zu Gerth, der mit verwegenem Grinsen die Bewegungen des Schiffskörpers abfederte. »Nimm sie! Unter Deck! Sag den anderen, sie sollen sich festhalten. Gleich beginnt ein höllischer Tanz. Die Segelmannschaft soll sich festbinden - schnell, Krückenmacher!« brüllte ich, so laut ich konnte. Sie stolperten hin und her, aber es gelang ihnen, den Niedergang ohne Knochenbruch zu bezwingen. Ich zog den Knoten eines Taus auf, sicherte mich am Schaft des Ruders und gab das andere Ende dem Steuermann.
»Festbinden!« Während ich das Ruder übernahm, sicherte sich Cheper. Wir packten die Pinne des Ruders und blieben rechts und links davon stehen. Cheper fluchte. »Sicht böse aus! Jetzt fängt die Seefahrt an.« Ich duckte mich und starrte am Rand des Segels vorbei zur Küste. Ich sah sie nicht. Überall war Wasser; Regen oder hochgerissenes Salzwasser? Die Tropfen beschrieben waagrechte Bahnen. Immer wieder erstarrten die Wogen in den Augenblicken der Blitze. Der Donner machte uns taub, der Wind zerrte am Haar, und Wassertropfen schlugen schmerzhaft in unsere Haut. Die Wassersäule, die sich in rasender Drehung befand, ging hin und her, beschrieb zwischen Meer und Wolken untergrenze pendelnde Bewegungen und kam näher. Sie schien trotz allen Taumelns auf das Heck der ZEDER zu zielen. Erreichte uns dieses Ungeheuer aus Luft, Wasser und Kraft, zerfetzte es das Schiff und wirbelte Menschen wie Holzsplitter umher. Noch immer zuckten ununterbrochen Blitze, hämmerte Donner gegen unsere Trommelfelle, überschüttete Regen das Meer ringsum und das Schiff mit seinen harten Einschlägen. Wir segelten rasend schnell ins Unbekannte hinein – ob die Felsen der Küste einen Bogenschuß oder eine Tagesfahrt weit entfernt war, konnten wir nicht erraten. Mir kam ein kühner Gedanke. Ich riß mit fliegenden Fingern die Knoten um meine Hüfte auf, hoffte im stiller, daß Horus sich in Sicherheit gebracht hatte, und begann über das schlüpfrige Deck auf den Niedergang zuzutaumeln, sprang zwischen NebNefer und Siren der mit grünem Gesicht dasaß und starr in die Wolken hinaufsah, in die Achterkabine und packte meine Lanze. Schnell kämpfte ich mich wieder an Deck und sah, daß die Wasserhose noch näher gekommen war. Ich schätzte sie nicht weiter entfernt als einen Bogenschuß. Ich brachte es fertig, Cheper zu erreichen und mich an seiner Schulter anzuklammern. Inzwischen hatte sich der Regen in Hagel verwandelt. Schloßen, groß wie Nagelköpfe, prasselten über das Schiff. Ich fühlte wie mich Cheper am Ruder festband. Der Steuermann schien begriffen zu haben, was ich vorhatte.
Probiere es! Es muß wirken! schrie der Logiksektor. Ich richtete die Spitze der Lanze auf die Wasserhose. Sie ragte wie eine Säule aus einer Riesenwelt hinter dem Schiff auf. Ihre Wände schienen glatt wie polierter grünschwarzer Granit, in dem sich die Blitze spiegelten. Als ich abdrücken wollte, begann an der Spitze der Waffe eine gelblichgrüne Flamme zu züngeln. Überall auf den nassen Holzteilen sah ich Linien und zungenförmige Flämmchen. Ein geisterhafter Moment. Ich preßte den Auslöser und spürte in meinen Händen die Vibrationen Die grelle Helligkeit blendete mich ebenso wie die Blitze. Die Geräusche der ununterbrochenen Schußfolge hörte ich nicht mehr. Noch immer raste das Schiff dahin, entlang der Schußbahn spielten sich unbeschreibliche Phänomene ab, die Hagelkörner rissen uns die Haut auf und erzeugten das Gefühl beginnender Eiseskälte. Wo der Strahl auf der Wasserhose auftraf, verwandelte sich Wasser in kochenden Dampf. Die Spannung dieses Gebildes riß entlang einer runden Stelle auf, die sich entfernte, well das Wasser hochgerissen und spiralig zur Seite gewirbelt wurde. Jetzt verhüllte auch noch grauer, sich rasch auflösender Dampf das Bild. Plötzlich, in einem neuen Blitz, sah ich, wie die Säule aufbrach. Ich löste meinen Finger vom Auslöser und blickte angstvoll nach oben. Die Wasserhose wurde zerrissen. In der Mitte wurde sie dünner. Dann ertönte ein Geräusch, das ich noch nie gehört haste; ein gewaltiges, donnerähnliches Schmatzen oder Schlucken, und die Wasserhose brach zusammen. Tausende Tonnen Wasser fielen wie eine einzige Welle aus der schwarzen Wolke über uns. Der Spitzkegel aus Wasser, der sich eben noch über dem kochenden und brüllenden Meer erhoben hatte, fiel in sich zusammen und bildete eine Welle, die sich nach allen Richtungen entfernte und auf unser Heck zurollte, weiß, schäumend, wie eine Lawine. Dann schlug die Wassermasse von oben herunter, verwandelte ein Stück Meer in weißen Schaum, vernichtete die Flutwelle und baute eine zweite, noch größere auf, die abermals hinter uns hereilte. Augenblicklich hörten die Blitze zu zucken auf. In unseren Ohren zischte und heulte es. Ich sah mich um.
In jedem Winkel des Decks lagen Hagelkörner und verschmolzen zu einer massiven Masse. Aber sie tanzten nicht mehr zu Hunderttausenden über die Planken. Die Welle der Trombe blieb hinter uns zurück und wurde kleiner. Auch der Regen hörte auf, das Meer beruhigte sich. Über uns war eine blauschwarze Wolke. Rund um diese Wolke bildete sich aus den Sonnenstrahlen eine Art Dom aus einzelnen Lichtbündeln. Die Küste sprang aus dem tobenden Meer in unser Blickfeld. Wir hielten auf einen Einschnitt der Küstenlinie zu, in dessen Mitte sich eine ausfasernde Rauchsäule nach Osten entfernte. Die plötzliche Helligkeit verwandelte die gesamte Szenerie und schmerzte in den Augen. Blinzelnd steckten wir die Finger in die Ohren und begannen herumzustochern, um das Gefühl völliger Taubheit loszuwerden. Die Wolke über unseren Köpfen zerstob wie Nebel im Sturm. Ich hörte mich mit völlig veränderter Stimme sagen: »Das war für uns die härteste Belastungsprobe seit einem Jahr.« Mein Schädel dröhnte bei jedem Wort. Ich merkte, daß ich fror und daß meine Finger und Knie zitterten. Cheper schüttelte Wasser aus seinem Bart. Auch seine Stimme war verändert, als er sich schwer auf das Ruder lehnte und erwiderte: »Wer das überstanden hat, fürchtet nichts mehr. Das war der Zorn der Götter!« Gerths Konstruktion war nicht auseinandergebrochen. Das Schiff begann wieder scharf und hart zu stampfen. Die schnelle Gleitfahrt auf dem Rücken der Woge war vorbei. Mit dem Sonnenlicht kam die Wärme, mit der Wärme löste sich die Wolke auf, und der Wind blies aus Westen. Nacheinander banden sich die Männer der Segelmannschaft lost Auch sie bluteten im Gesicht und an den Händen von den Hagelkörnern. Die Wellen verloren ihre Schaumkämme; das Meer gewann seine blaue Farbe wieder. Nach kurzer Zeit begannen sämtliche Holzteile zu dampfen und zu knacken. »Was ist das dort vorn?« fragte Neb-Nefer, der auf das Achterdeck kam. »Es sollte Gaza sein, der Hafen dieser Nacht.«
Siren kletterte über Riemen, einige Stücke Tuch und kleine Haufen weißer Hagelkörner und schrie zurück: »Sie haben ein großes Feuer angezündet, um uns zu begrüßen.« Neb-Nefer, Cheper und ich sahen uns unruhig an. Könnte es sein daß Gaza brannte? Wieder packten mich Unruhe und Besorgnis. »In einer halben Stunde sehen wir mehr«, sagte der Steuermann unruhig. Langsam kamen wir wieder zu uns. Die Erregung hörte auf aber der Schock traf uns jetzt. Siren hing auf der windabgewandten Seite über der Reling und erbrach sich würgend. Rauhe Scherzworte wurden ihm von den seefesten Seefahrern zugeworfen. »Es kann sein, daß sie überfallen wurden«, mutmaßte ich. »Nomaden, versprengte Krieger oder Deserteure der Sumer. Wir können uns irren. Warten wir es ab.« Ich wischte die Feuchtigkeit von meinem Armschutz, tippte auf verborgene Schalter und rief den Robotvogel. Aber keins der winzigen Kontaktlämpchen glühte auf. Ich versuchte es mehrmals, aber erst beim zehnten Versuch erhielt ich ein schwaches Antwortsignal. Der Extrasinn wisperte: Er wurde weit abgetrieben, oder er ist zerstört. Ich zuckte mit den Schultern, drückte die Ruftaste und hoffte, daß Horus nicht zerstört war und zurückkommen würde. Wir segelten weiter. Essen und Wein wurden ausgeteilt, wir legten die Waffen zurecht. Wir bereiteten uns vor und rechneten nach, verglichen Landmarken mit den Bildern der Karten und konnten sicher sein, daß wir Gaza anliefen. Die Rauchsäule drehte sich noch immer in den Nachmittagshimmel, als wir die äußersten Felsenklippen passierten und die Gebäude sahen. Hinter einem Hügel schien ein großer Brand zu wüten. »Legt die Waffen an, alle!« rief ich. »Macht euch bereit, an die Riemen zu gehen.« Es schien also doch keine weinselige Sommerreise zu werden. Wie es schien, brannten plündernde Nomaden die Hafensiedlung nieder. Fischerboote und Einbäume waren auf den Strand gezogen. Netze breiteten sich, auf Stangen gestützt, entlang des rechten Hafenteils
aus. In fast perfektem Halbkreis gruppierten sich Häuser und Hütten aus Stein um die kleine Bucht. Rund ums Wasser herrschte merkwürdige Ruhe. Die SCHNELLE ZEDER fuhr, nur von den Ruderern vorangetrieben, in den Hafen ein. Jeder von uns, der nicht ruderte, stand bewaffnet auf dem Bugdeck und versuchte, Einzelheiten zu erkennen. In einigen Herden brannten Feuer; wir sahen Rauchfahnen aus den Kaminen. Ziegen, Schafe und Hunde bewegten sich zwischen den Häusern im Abfall. Nicht ein einziger Mensch war zu sehen. Die Hänge waren mit niedrigem Gesträuch bedeckt, es gab nur wenige schattenspendende Bäume. Ein riesiger Schwarm Tauben kreiste zwischen der Rauchsäule und dem Hafen. Ich hob die Hand und winkte nach links. »Bringt das Schiff an das Steinhaus!« »Verstanden«, gab Cheper zurück. Dort konnten wir aussteigen und ebenso schnell wieder an Bord gehen. Das Segel war eingerollt, das Schiff war noch immer feucht und würde nicht einfach in Brand zu setzen sein. Von den Hütten führte eine breite Straße auf den Hügel zu und um ihn herum. Das Ende der Straße verschwand hinter Mauern und kleinen Bäumen. Wir sahen nur den Rauch, aber als das Geräusch der eingesetzten Ruderblätter aufhörte, vernahmen wir merkwürdige Laute. Ka-aper stieß Siren an und knurrte: »Geschrei und Geklirre. Dort hinten kämpfen sie!« »Die ganze Bevölkerung?« Ich sprang an Land und fing Asyrta auf. Die Riemen wurden hochgestellt; binnen kurzer Zeit hatten wir uns am Strand versammelt und rannten auf die Biegung zu. Jetzt hörten wir es deutlicher: das Klirren von Waffen, Schreie, Befehle und krachende Geräusche, dazu das Knistern, Prasseln und Sausen der Flammen. Ein stechender Geruch wurde stärker, als wir, etwa 45 Bewaffnete, vorwärtsstürmten. Uns war klar, daß wir vielleicht zu spät kommen würden. Gaza schien tatsächlich überfallen worden zu sein. Wir rannten weiter, die Schilde hochgehoben und mit gespannten Bögen. Jetzt tauchten schlanke Pfeiler auf, aus Holz und Lehmziegeln errichtet und weiß angestrichen. Wir rannten hindurch und bogen um den Ausläufer des Hügels. Vor uns breitete sich ein erstaunliches Panorama aus: Ein großes Bauwerk stand in Flammen,
im parkähnlichen Wald kämpften einige hundert Menschen erbittert gegeneinander. »Der Tempel oder ein Magazin! Vorsicht, kämpft nicht gegen die Falschen«, schrie ich. Die Soldaten schienen sich auf den Kampf zu freuen. Sie schwärmten in einer Reihe auseinander, blieben stehen und schlugen mit den Streitäxten gegen die Schilde. Ein metallisch hämmerndes Geräusch übertönte das Chaos. Wir griffen an, und wir verstanden unser Handwerk ziemlich gut. Bogenschützen gingen in Stellung, und ihre Pfeile trafen. Mauern aus Lehmziegeln knisterten und brachen im Funkenregen, heißen Staubfontänen und Glut zusammen und rollten zur Seite. Dicke Balken hatten sich in rote Glut verwandelt und bogen sich. Immer wieder sackten Teile des Daches ein, schlugen mit dumpfem Geräusch auf die aschebedeckte Fläche und lösten sich rauchend und staubend auf. Es war tatsächlich der Tempel, denn in seinem Flammenden Hintergrund stand eine Statue eine weibliche Göttin in sinnlicher Haltung, schwer vergoldet. »Hierher, Ahiram!« schrie jemand. Überall lagen Verwundete. Speere steckten im weichen Boden. Immer wieder heulten Pfeile und Schleudersteine durch die Luft, prallten von Schilden ab, zerplatzten an Baumstämmen oder bohrten sich in Körper. Es war schwer, Nomaden von Stadtbewohnern zu unterscheiden. Ich rannte am Flammenden, rauchenden Tempelbau vorbei und kam in ein System weißer Mauern, zwischen denen gekämpft wurde. Ein hysterisch schreiender Esel, einen Pfeil im Hals, blutüberströmt und galoppierend, stieß mich fast um. Vor mir sah ich Siren, der sich bückte und einen Speer aufhob. »Hilf mir!« schrie er, als ich durch treibende Rauchschwaden weiterrannte, den Esel überholte und meinen Speer senkte. Überall waren Rauch, Flammen und kämpfende Männer. Siren warf den Speer in die Luft, kippte seinen linken Arm mit dem Schild hoch und lenkte einen geschleuderten Stein ab, der auseinanderbarst. Dann fing er den Speer auf, schleuderte ihn – in diesem Moment war ich bei ihm und erkannte vier Männer die aus verschiedenen Richtungen auf ihn eindrangen. Kurze Blitze zuckten aus der Lanzenspitze und schleuderten die Angreifer zurück. Einer fiel eine
Treppe hinunter, der andere kippte über eine niedrige Brüstung und verschwand schreiend aus unserem Blickfeld. Ein dritter ließ seine Schleuder über dem Kopf kreisen. Ich hielt an, drehte meine Lanze herum, aber ein Pfeil heulte an meinem Kopf vorbei und bohrte sich mit klatschendem Geräusch ins lederne Wams des Angreifers. Ich wandte den Kopf und sah zwischen Baumstämmen auf dem gegenüberliegenden Hang einen unserer Bogenschützen. Hinter ihm schienen Männer zu flüchten. Sie rannten hangaufwärts, jede ihrer Bewegungen drückte aus, daß sie in höllischer Furcht handelten. Wieder gab es hinter uns einen furchtbaren Krach. Vermutlich war das Dach eingebrochen, die Reste der Holzkonstruktion. Siren warf sich vorwärts, wirbelte sein Kampfbeil hoch und unterlief einen Angriff des Nomaden, den dieser mit einer Keule führte. Siren fing den Schlag mit dem Schild auf, lenkte den schweren Knüppel zur Seite und spaltete dem Nomaden den Schädel. Der braunhäutige Mann brach zusammen und fiel aufs Gesicht. Siren riß die blutige Schneide heraus und wandte sich an mich. Er schnarrte: »Seit kurzer Zeit schätze ich massive Stadtmauern.« Er deutete auf eine Gruppe von Männern, die sich mit allem verteidigten, was sie gefunden hatten: Speere, Steine, Knüppel und Schilde. Wir rannten den Weg zurück, den wir gekommen waren. Inzwischen hatte sich auf dem Kampfplatz einiges verändert. Die Kette der Soldaten und Seeleute hatte die Angreifer, soweit dies erkennbar war, vor sich hergetrieben. Überall lagen Tote und Verwundete. Die noch kampffähigen Männer von Gaza sammelten Waffen auf und kämpften weiter. Von sieben oder mehr Stellen schossen unsere Bogenschützen gezielt auf die Nomaden, die sich zurückzogen. »Ich kämpfe hier!« rief ich und hob meinen Speer. Die Mauern der Kammern oder Häuser, was immer sie bedeuteten, zogen sich den Hang hinauf. Ich befand mich an einer der höchsten Stellen und feuerte auf flüchtende Nomaden. Zwischen und vor ihnen schlugen Blitze ein, sprengten den Boden auf und warfen Erdreich und Geröll nach allen Seiten. Krachende Donnerschläge begleiteten die Schüsse. Für die Angreifer entstand so etwas wie ein Vorgang aus einer anderen Welt. Sie warfen die Waffen weg, ließen ihre Verwundeten
liegen und verschwanden jenseits des Abhanges. Ich schüttelte den Kopf und hob die Lanze. Ein Schatten fiel neben mir auf die weiße Mauer. Ich hob den Kopf und sah die Silhouette des Vogels. Der Logiksektor stöhnte: Horus! Ich drehte mich herum, machte eine für die Programmierung des Seeadlers beruhigende Handbewegung und betrachtete die Teile des Kampfplatzes. Die Rückwand des Tempels brach zusammen und bildete Atemzüge später eine gewaltige Wolke aus heißem Staub. Der Brand hatte aufgehört, well er keine Nahrung mehr fand. Aus der Luft segelten riesige Rußfocken und handgroße Fetzen von verbranntem Material herunter und lagerten sich überall ab. Ich ging zwischen Mauern, Treppen und Dächern aus Stroh und ölgetränkten Brettern hinunter in die Richtung des breiten Weges. Verglichen mit den Tempeln und Straßen in Menefru-Mire war diese Tempelanlage kaum mehr als ein Versuch. Jedes Magazin in Gubal war schöner und massiver, strahlte mehr Größe und Würde aus – und brannte nicht. Asyrta fief zwischen verkrümmten und stöhnenden Gestalten auf mich zu und rief: »Du mußt helfen, Ahiram! Es sind so viele verletzt!« Ich nickte. Um uns herum herrschte undurchsichtige Unordnung. Vermutlich gab es ebenso viele Nomaden wie Stadtbewohner, die verletzt oder getötet waren. Von den Leuten aus Gaza würden wir nicht viel Hilfe erwarten können. Ich spürte die Hitze, die von dem großen Schutthaufen ausstrahlte. Nach einem überlegenden Blick senkte ich den Kopf und sagte leise: »Eigentlich hätte ich mir den Besuch in einer kanaanäischen Hafenstadt ein wenig anders vorgestellt.« »Wir müssen ihnen trotzdem helfen. Wir haben alle Möglichkeiten.« Der Kampf war vorbei, die Überlebenden sammelten sich. Ein alter Mann mit weißem Haar und langem weißen Bart trat auf uns zu. Er schüttelte den Kopf und sagte mit gebrochener Stimme: »Ich bin Khorane, der Vorstand dieser Siedlung. Sie haben uns plötzlich überfallen. Wir beteten im Tempel um einen glücklichen Fischzug.«
»Häufig«, erwiderte ich, »verzögert tiefe Versunkenheit schnelle Gegenwehr. Wir sind von Gubal, im Norden. Händler, aber auch wehrhafte Kämpfer. Es sieht schlimm aus. Ihr hättet eine Mauer oder Palisaden bauen sollen.« Khorane nickte langsam; er schien ein unentschlossener Mann mit vielen Skrupeln zu sein, jemand, der die Zeichen barbarischer Zeit nicht richtig erkannte. Für sein Amt schien er zu wenig Entschlußkraft zu besitzen. Ich zog meinen Unterarm aus den Haltegriffen des Schildes und erwiderte: »Laß deine Leute die Verwundeten von den Toten trennen. Bring die Verwundeten ans Wasser. Ich werde versuchen, ihnen zu helfen.« Über uns schwebte Horus und feuerte ab und zu einen Schuß ab; ob es tödliche Strahlen waren oder solche, die nur lähmten, wußte ich nicht. Ich ging mit Asyrta zum Schiff, denn dort waren meine Krüge voller Salben, Binden und die medizinische Ausrüstung. Bescheidene ärztliche Kenntnisse besaß ich, einfache, auch tiefe Wunden konnte ich mit einigem Erfolg behandeln, und einige wunderbare Heilungsvorgänge mochten meine Spezialarzneien hervorrufen. Khorane rannte in die Richtung des größten Haufens der Stadtbewohner und rief Kommandos und Bitten mit brüchiger Stimme. »Um in dieser Zeit zu überleben«, sagte ich ein paar Dutzend Schritte später zu meiner Gefährtin, »muß man ein bestimmter Typ Mensch sein. Ich glaube, daß Schwächlinge, wie gütig oder klug sie auch sein mögen, erst viel später überleben können. Nicht heute und jetzt, und schon gar nicht hier. Diese barbarische, unbarmherzige Welt braucht Menschen, die sich dieser Härte und diesen Anforderungen angleichen.« Sie hob unschlüssig die Schultern und streichelte meine Wange. »Ich habe als Frau einen anderen Blickpunkt. Du hast recht, aber das macht’s keineswegs leichter. Es ist eine harte Zeit. Nur der Starke überlebt. Die Schwachen sterben, werden versklavt oder geschunden. Meist sind Frauen die Schwächsten.« Wir erreichten das Schiff. Die Wachen hörten sich unsere Erzählungen an, dann halfen sie, die Ausrüstung an den Strand zu
bringen. Ich ließ Wasser erhitzen und Tücher bringen, scheuchte die Helfer hierhin und dorthin, reinigte Wunden und versorgte sie, nähte klaffende Risse in blutverkrusteten Körpern, injizierte Medikamente, betäubte Verwundete, ließ Feuer anzünden und behandelte die Menschen bei künstlichem Licht, befahl dieses, griff dort ein. Es war eine alptraumhafte Nacht, von Stöhnen und Wimmern erfüllt. Wir schleppten Wein aus der ZEDER, um die Schreienden zu betäuben. Ich arbeitete die ganze Nacht, um die schwierigen Verletzungen so gut zu versorgen, wie es mir möglich war. Die sich bewegen konnten und jene, die keine Verwundungen erhalten hatten, halfen; und natürlich die gesamte Mannschaft unseres Schiffes. Erst im Morgengrauen waren alle Verwundeten in ihren Hütten und schliefen. Ich streckte meine Muskeln und richtete mich auf. Mein Rücken schmerzte. Der Ring aus Hütten um das Wasser sah doppelt trostlos aus. Einer jener, die mir bis zuletzt geholfen hatten, war Cheper. Ich sah ihn hohläugig an und wußte, daß meine Augen noch mehr gerötet waren als sonst. »Ich habe getan, was ich konnte. Es sieht wie auf einem Schlachtplatz aus. Siedlungen wie Gaza… sie werden bei der nächsten Flut der Nomaden davongefegt, es sei denn, Amenemhet schickt Krieger und Arbeiter.« Siren rülpste und spuckte neben meinem Stiefel in den aufgewühlten Sand. Das vage Morgenlicht beleuchtete unsere grauen Gesichter. »Und einen starker und entschlossenen Verwalter, der diesen Greis mit Fußtritten in die Wüste hinaustreibt.« »Möglich. Ich bin todmüde.« Ich ging, in meinen Mantel mit Purpursaum gehüllt, auf eines der Häuser zu, von denen ich wußte, daß es leer war. Mit Fußtritten scheuchte ich einen räudigen Köter aus der Asche des Herdes, warf mich in einen Winkel und schlief augenblicklich ein. Gegen Mittag erwachte ich. Ein Blick aus der Tür überzeugte mich, daß meine Freunde und die Mannschaft die Abfahrt vorbereiteten. Die Bilder schwankten und tanzten vor mir, ich ging blinzelnd und gähnend zum Heck der ZEDER. Khorane stand da und sprach mit Ka-aper. Das Gesicht und der Ausdruck meines Freundes waren ernst; ich
registrierte Ärger und kalte, wilde Entschlossenheit. Langsam näherte ich mich den beiden und hob den Arm. »Beschimpfe ihn nicht zu sehr, Ka-aper«, bat ich. »Sie haben viel durchgemacht.« Der Romet, den ich als besonnenen Charakter kannte und schätzte wandte sich mir zu und sagte in einem Tonfall, einer perfekten Mischung aus Wut, Arroganz und kalter Verachtung: »Ich habe ihm nur zu erklären versucht, daß eine Hafenstadt dieser Art nicht das Zeltlager von Ziegenhirten ist, sondern nach harten Gesetzen regiert werden muß. Cheper wird mit dem nächsten Hapischiff meine Botschaft an Amenemhet mitnehmen. Was diese verdammten faulen Narren nicht brauchen, ist ein Tempel. Sie brauchen Wälle, Soldaten, Wachen und einen besseren Verwalter, als es dieser Greis ist.« Dies war nicht mein Problem. Es war auch nicht meine Diskussion. Ich nickte beiden höflich zu und kletterte die Leiter hinauf. Vielleicht verstand mich Asyrta; jedenfalls mehr als Khorane. Wir legten zwei Stunden später ab und schlugen einen Kurs entlang der Küste ein, der uns nach Askalon bringen würde, der nächstgelegenen Siedlung; nicht viel großer als Gaza, aber aus der Luft, gesehen mit Horus’ Augen irgendwie kompakter. Wir ruderten aus dem Hafenbecken hinaus, dann packte uns von Backbord ein steifer Westwind. Wir kreuzten in langen Zickzackbewegungen nordwärts. Askalon – wir hofften, daß wir vielleicht eine Siedlung sehen würden, die Gubal ähnlicher war als die anderen Häfen, die wir besucht hatten. Horus flog voraus und würde uns vor Piraten, Untiefen und Felsen warnen. 12. Die Nacht war ohne jedes Streulicht. Nur unser Kielwasser verbreitete einen phosphoreszierenden Schimmer. Mehr als ein halbes Dutzend Männer und eine Frau lagen und saßen auf dem Achterdeck.
Ich blickte in den Himmel: Er war völlig schwarz und übersät mit Tausenden und aber Tausenden Sternen. Irgendwo dort war Arkon. Irgendwo dort oben lag ein mögliches Ziel, eine Sonne und ein Planet, die ich vielleicht einmal wiedersehen würde. Cheper kannte die Sternbilder. Das Schiff befand sich auf Kurs und steuerte in einem riesigen Bogen, der in Wirklichkeit aus einem Zickzackkurs gegen den Wind bestand, Askalon an. »Diese tausendmal tausend Lichter sind die Augen von El, dem Vatergott. Er sieht alles, selbst uns!« Siren nahm flüsternd einen mächtigen Schluck aus dem Ziegenleder voll Gubal-Wein. »Wir sollten auch einen Tempel bauen, Ahiram-Acran. Allein deswegen, well viele Besucher unsere Herbergen füllen.« Ich lachte gut gelaunt. Inzwischen hatte ich ausgeschlafen und genoß Wärme, Nachtwind, die Nähe Asyrta-Marayes und die schaukelnd einlullenden Bewegungen des Schiffes. »Deine Herberge, dieses Freudenhaus mit Musik und ungehemmtem Ausschank, würde die frommen Empfindungen der Besucher nur verwirren.« Rund um mich lachten die Freunde. Auch sie hatten das Erlebnis von Gaza, wenn nicht vergessen, so doch erfolgreich verdrängt. Kaaper murmelte: »Je mehr ich seine, desto besser gefällt mir Gubal, desto stolzer bin ich auf unsere Leistung.« »Und daß mein Schiff euch diese Köstlichkeiten beschert, daran denkt ihr nicht, ihr Nutznießer«, rief der Krückenmacher. »Ich glaube ich muß mir eine Frau nehmen, jemanden, der mich lobt und liebt.« »Weswegen sollten wir dich loben? Nenn mir einen Grund, Krükkenschnitzer«, lästerte ich. »Wer lobt uns?« »Das Weib des El-Gottes, diese in Gaza brennende Askera, die in der Gegend unserer abergläubischen Bauern Astarte genannt wird, wäre die richtige Partnerin für einen Künstler wie mich.« »Kunst!« Neb-Nefer legte all seine Bissigkeit in diesen Ausruf. Wir konnten einander nur schwach erkennen. Der Ziegenschlauch, der von einem
zum anderen gereicht wurde, fand seinen Weg nur, well wir nacheinander tasteten. Ich zog Asyrta an mich und streichelte ihre Schulter. »Meiner Schiffsbaukunst verdankt ihr, daß wir noch leben!« rief Gerth empört. Ich hörte ihn mit seinem verdammten Dreizack scharren und versuchte zu beschwichtigen: »Eher waren es die Blitze meiner geheimnisvollen Waffen des fernen Landes, aus dem ich in Wirklichkeit komme. Schluß mit dem Streit, ihr Halbbetrunkenen. Seht die Sterne an, die Augen Els, denkt an Askalon. Wo ist der Wein? Umklammert noch immer der Krückenmacher den Schlauch?« »Nein. Neb-Nefer schweigt, also trinkt er!« Gerth stieß ein mekkerndes Gelächter aus. »Richtig«, bestätigte Nefer und reichte mir den halbleeren Schlauch. »Ich trinke, well ich mich fürchte. Ich glaube nicht, daß Cheper uns nach Askalon steuern kann!« »Esel«, erwiderte Cheper gut gelaunt von der Ruderpinne aus. »Ich schwöre, daß wir mit dem ersten Licht des Morgens in Askalon einlaufen Ich bringe euch dorthin, auch wenn es keine Küstenfeuer gibt. Ahiram hat mich alle Sternbilder und ihre Stellungen im Lauf der Sommernächte gelehrt.« »Mit Mühe«, sagte ich. Natürlich waren wir nicht aufgebrochen, ohne alle Erzählungen und Berichte unserer Handelskapitäne zu kennen, verschiedene Berichte von mehr als hundert Schiffsführern und ihren Steuermännern. Wir wußten, was uns in Gaza erwartete und was wir in Ugarit sehen würden. Berichte der anderen und eigene Anschauungen waren verschiedene Dinge, am überzeugendsten hatte uns dies Gaza gezeigt. Vor uns lag eine Handvoll Ziele, die eine bestimmte Bedeutung hatten. Von Süden nach Norden waren dies gewesen: Raphia und Gaza. Askalon und Akko, Tyrus – Gubald Byblos, unsere Schöpfung – und Ugarit im Norden, die letzte Station es Seeweges nach Alashia, der großen Insel. »Keiner von uns hat Grund, unzufrieden zu sein«, sagte ich. »Sicher nicht. Wir haben eine Stadt geschaffen, die eine Ewigkeit überdauern und reicher werden wird. Wie lange, Ahiram, sollst du
bei uns bleiben?« meinte Ka-aper. Eine Frage, die ich schon seit langer Zeit erwartet hatte und nicht beantworten konnte. Es hing davon ab, was mein Herrscher, jenes ES, befehlen würde. Aber mit diesen Überlegungen durfte ich keinen meiner Freunde belästigen. Asyrta konnte mitreden, well sie das Problem kannte und dessen Tragweite mitempfinden konnte. »Ich weiß es nicht. Sicher bis zu dem Tag, an dem Gubal aus sich heraus, ohne meine Befehle, leben kann. Der Tag, Freunde, ist nicht allzu fern.« »Verständlich«, knurrte Siren gähnend. »Schließlich habe ich immer wieder einen Traum, in dem ich mit Acran auf eine lange Seereise gehe, die uns zu schwarzen Ufern führt.« ES hat ihm gesagt, er sei einer der Mannschaft, sagte der Logiksektor aufgeschreckt. Ich schluckte. Konnte es sein? Beeinflußte ES auch meine Freunde aus Byblos? War Siren ein Mitglied der eisernen Mannschaft, die mit mir jene Gefahr für Larsaf Drei bekämpfen sollte? Eisen, Metall aus dem Innern der Planetenkruste, schwerer zu gewinnen als das härteste Metall dieser Zeit? Sagte dieser Ausdruck etwas über die Schwierigkeiten unseres Auftrages aus? Ich verscheuchte alle Gedanken, die nicht zur sternklaren und weinseligen Nacht gehörten, und sagte: »Deine Träume sind die eines erlebnishungrigen Kaschemmenwirtes, Siren!« »Mag sein«, erwiderte er und gab den Weinschlauch weiter. »Aber ich träume diese Bilder, Acran.« Eines Tages würden bessere Schiffe die Meere dieser Welt befahren als dieses zerbrechliche Boot. Aber das Schiff, auf dem wir uns befanden, war wohl das beste, das zu unserer Zeit gebaut werden konnte. Selbst der Rumpf des großen Schiffes in Gerths Werft war nur fünfzehn Ellen länger. Kasokar, der Anführer der Soldaten, warf ein Argument ins Gespräch: »Ich habe alles studiert und wohl bedacht, meine Freunde. Ich redete auch mit den Verwundeten in Gaza. Ich befragte Sklaven, die wir in den Zedernwäldern und den Schluchten im Osten Gubals einfingen. Sie sagten, daß noch viele nach Süden wandern würden.
Sollen Sie alle, Hunderte und Tausende, Einwohner von fünf oder sechs Küstenstädten werden?« »Keiner zwingt sie, zu wandern. Ich glaube, daß sie und die Ansässigen sich vermischen werden. Der Glanz von Silber und Gold lockt. Reichtum und Freiheit werden mehr Nomaden anziehen. Letzten Endes werden aus ihnen in einigen Generationen Seefahrer, Händler und Magazinverwalter. Jetzt sind sie Sklaven und Lastenträger. Ihre Söhne werden Handwerker sein, deren Söhne werden Handelsleute. Sicher nicht alle. Aber… wenn wir zwanzig Jahrzehnte in die Zukunft sehen könnten, würden wir die Nachkommen der Nomaden dort sehen, wo wir heute sind. Alle Gruppen werden sich vermischen: aus Nomaden der südlichen Wüsten, Wanderern aus dem Zweistromland und Kindern derer, die heute am Meeresufer leben. Hoffentlich werden sie alle so wie die heutigen Ghubaliten oder Gibliten.« Gibliten, so nannten wir uns, die Bewohner Gubals. »Freiheit und Reichtum ziehen Menschen an, so sicher wie ein Stein einen Taucher in die Tiefe zieht«, sagte ich. »Cheper! Wie lange haben wir noch zu segeln?« »Fünf, sechs Stunden«, antwortete er. »Irgendwann werden die Feuer auf den Türmen von Askalon auftauchen, von denen uns die Kapitäne berichtet haben.« »Warten wir’s ab. Ich mißtraue diesem Steuermann«, brummte Certh und rülpste laut. Die Nacht verstrich langsam. Wir leerten den Weinschlauch. Vierzig Männer lagen zwischen den Ruderbänken auf Fellen, die von der Sonne getrocknet worden waren. Sie schliefen auf dem Bugdeck, zwischen den Ballen Purpurstoff auf dem Achterdeck und neben den Tauen, von denen Segel und Rah gehalten wurden. Wir segelten ohne ihre Hilfe mehrere Stunden, dann legten wir einen neuen Kurs fest und mußten einige Schläfer wecken. Diese Nacht war eine der schönsten Erinnerungen, die ich haben konnte. Unsichtbar bewachte Horus unseren Kurs; seine Infrarotaugen würden Untiefen und Felsen sehen. Jetzt wurden wir müde und begannen Unsinn zu reden. Cheper schwieg und steuerte, Siren schlief und schnarchte, die Unterhaltungen wurden zäher, und schließlich schliefen wir alle, weil uns die sanften
Bewegungen, dieses Schaukeln und Gleiten, verbunden mit mannigfachen Geräuschen des Schiffskörpers einschläferte und, zusammen mit dem öligen Wein, eine einfache Methode waren, Schlaf und beruhigende Träume hervorzurufen. Schroffe Felsen, sanft gerundete Hänge voller Gestrüpp und Sandstreifen sprangen von der Küstenlinie zurück und bildeten einen weit geöffneten Trichter, an dessen schmalstem Punkt Askalon lag. Die Sterne erloschen, mildes Grau breitete sich aus. Das Meer wurde binnen weniger Atemzüge spiegelglatt. Wir rieben uns den Schlaf aus den Augen und setzten die Riemen ein. Langsam näherten wir uns den Türmen, die sich, kantig und moosbewachsen, auf einer winzigen Halbinsel und einem großen Felsbrocken erhoben. Rauchfahnen stiegen von Feuerschalen auf, fast senkrecht. Großartiger Friede lag über dem Naturhafen. Asyrta deutete hinüber und sagte: »Sie scheinen es richtiger gemacht zu haben, und entschlossener, diese Leute von Askalon.« Wir sahen fertige Mauern und solche, an denen noch Gerüste standen. Bäume waren an vielen Stellen angepflanzt. Der Hafen war nicht befestigt, aber ein gerader Kai, vier Mannslängen breit, sprang weit in die Bucht von Er schien massiv zu sein; dicke Baumenden luden ein, Taue zu belegen. Es gab mehrstöckige Häuser, über Terrassen spannten sich Sonnensegel. Mehrere minoische Schiffe hatten am Kai festgemacht. Mit exakten Ruderschlägen näherte sich die ZEDER dem Ende der Rampe, die in einen runden Platz mündete, dessen rechte Flanke von einem langgestreckten Magazinbau geschlossen war. Auf der höchsten Terrasse dieses Hauses sahen wir etwas aufblitzen, dann ertönte ein Hornsignal. Wir winkten hinauf. »Tamkaru Siren«, sagte ich, »jetzt kommt deine Stunde. Auch hier werden wir kostbaren Purpur bekannt machen.« Tamkaru, »Kaufmann«, Siren nickte entschlossen und murmelte: »Es sieht so aus, als hätten sie ein geordnetes Gemeinwesen. Warten wir es ab.« Wir sahen hinter der aus Stein erbauten Siedlung die Felder der Purina, der Bauern mit eigenem Landbesitz. Askalon erinnerte an
Gubal, aber die Einwohner schienen weder reich genug zu sein, noch über genügend Haniache zu verfügen, über Leibeigene, also nomadische Sklavenfamilien. Wir legten an, verließen das Schiff bis auf einige Wachen, und während wir uns bereit machten, erwachte die Stadt. Erste Sonnenstrahlen blitzten auf und zeigten interessante Winkel der Siedlung Askalon lag auf einem langgestreckten Hang, der nur wenig Höhenunterschied überwand; an einem der höchsten Punkte gab es eine Ansammlung von mehr Grün, feucht schimmernden Pflanzen und Mauern aus Granit, Sandstein und weißgeschlämmten Lehmziegeln. Ich drückte einen Schalter und sagte leise in ein verborgenes Mikrophon des Armschutzes: »Flieg hinauf und berichte, was du erkennen kannst, Horus.« Als Antwort stieß der Fischadler einen krächzenden Schrei aus und strich mit wenigen Flügelschlägen ab. Als erster entdeckte Siren eine Schänke, die gerade ihre Türen öffnete. Wir betraten die Herberge. Ein mittelgroßer, hagerer Mann mit einem kühnen Oberlippenbart sah uns entgegen, stieß die Riegel einer weiteren Tür auf. Licht flutete in den verrußten, gemütlichen Raum hinein. »Wir sind mehr als vier mal zehn Mann und haben gräßlichen Hunger«, sagte Siren. »Ich bin der Wirt des Hauses ›Zum lustigen Delphin‹, das an der Küste berühmt ist für Speisen, Getränke, gute Preise und schnelle Bedienung. Mach mir Konkurrenz, Wirt. Wie ist dein Name?« Der Hagere sah ihn fassungslos an und rückte einen Tisch zur Seite. »lch bin Marjannuh Scharuhen. Benimm dich, kleiner Wirt, oder ich laß dich ins Meer werfen.« Ich hob die Hand und schlichtete: »Wir sind zum Essen gekommen, nicht zum Streiten. Wir sind Marjannuh, Freund, denn ich bin der Gaufürst von Gubal oder, wie es hier heißen mag, Byblos. Friede! Treib deine Mägde aus den Betten.« Noch mehr Männer schoben sich in den Raum. Asyrta stand lachend zwischen Siren und mir. Als schließlich Ka-aper hereinkam,
kostbar angezogen und schmuckbehängt, schien uns der Wirt zu glauben. Ein Marjannuh war Angehöriger der obersten Schicht, Fürsten oder Stadtherren, Seefahrer, Beamte und Streitwagenkämpfer gehörten ebenso dazu wie Kaufeute. »Marsam wird euch sehen wollen, Männer aus Gubal. Ich werde euch ein herrliches Essen auftischen.« Während er davoneilte, schleppten wir Tische, Hocker und Sessel aus dem Lokal, stellten sie entlang der Hausmauer auf und setzten uns. Einige Waffen legten wir ab, ich ging mit Asyrta in einen dunklen Winkel und betrachtete die Bilder des Palastes, die uns Horus übermittelte Es war ein untypischer Palast; ein breiter, überdachter Säulengang führte in einen durchdacht angelegten Tempelbezirk. Scharuchen hielt Wort. Er tischte uns ein Essen auf, das durch seine Qualität ebenso bestach wie durch Reichhaltigkeit und geschickte Servierkunst. Bier, Wein und Quellwasser, heiße Milch mit Honig, Datteln und Schinken, kaltes und heißes Geflügel, in Öl gesottene Fische, Eier und leckere Pilze, Früchte und Trauben, Braten und köstliche Suppen in gebrannten Tonschüsseln von leuchtender Farbe. Salz fehlte ebensowenig wie erstaunliche Gewürze. Die Mägde, die auftrugen, waren sauber und flink. Melonenscheiben und Fadenbrote, noch heiß vom Ofen des Bäckers, weiße Leinentücher und zierliche Messer… im Licht der Morgensonne saßen wir und genossen das Essen ebenso wie den ungehinderten Blick auf die Bilder der erwachenden Siedlung. »Alle diese Siedlungen«, sagte nach einer Weile Ka-aper, »auch wir in Byblos, haben nur eine Möglichkeit des Überlebens für lange Zeit.« »Wie ist deine Vorstellung?« Siren schob ein paar Nüsse zwischen die Zähne. Kasokar rülpste laut und schüttete einen Becher kaltes Bier herunter. »Sie müssen ›Stadtstaaten‹ werden. Frei für den Handel, offen für jeden, der ehrlich ist, aber leicht und lange zu verteidigen, wenn es sein muß. Was mich wieder auf Neb-Nefers Plan bringt, einen ratten- und mäusesicheren Kornspeicher in der Stadt anzulegen.«
»Unabhängige Stadtstaaten.« Ich machte eine weitschweifige Geste. »Auch der Einfuß des Hapi-Reiches wird einmal aufhören. Reiche kommen und gehen wie Menschen.« »Wahr«, stimmte Neb-Nefer zu. »Aber hier sind sie auf dem richtigen Weg. Ich bin neugierig auf diesen Marsam!« »Ich nicht minder«, sagte ich knurrend. Kurze Zeit darauf hörten wir das Mahlen der Felgen auf dem Steinpflaster, dazu das unverkennbare Klappern von Pferdehufen. Ein paar Streitwagen schienen aus dem Palastbezirk zum Hafen zu fahren, die Echos wurden zwischen den Hausmauern hin und her geworfen. Ich stieß Ka-aper an und sagte zu Asyrta: »Der Herr über Askalon kommt.« Mich hatte das Bild seines Palasts und des daneben gebauten Tempels der Athirat-Astarte oder Baalat beeindruckt. In diesen Tagen war es üblich, daß der mächtigste Mann im Staat auch die Art der Bauwerke bestimmte und sie von Baumeistern seiner Wahl ausführen ließ. Wenn Marsam so großartig war wie sein Tempelpalast, mußte er ein bemerkenswerter Mann sein. Die klappernden und knirschenden Geräusche wurden lauter, dann hörten wir Willkommensrufe, Schreie, Gelächter, schließlich bogen drei Streitwagen mit je drei Insassen aus der Gasse auf den Platz heraus und hielten auf uns zu. Die Menschen, die gruppenweise herumstanden, ihren Arbeiten und Einkäufen nachgingen oder sich unterhielten, sprangen zur Seite. Die Gespanne wurden von prächtigen Pferden gezogen, nicht von Eselshengsten. Also breitete sich der Gebrauch dieser herrlichen Tierrasse immer tiefer in den Süden aus! Vor unseren Tischen hielten die Gespanne in einer Reihe an. An einer vergoldeten Lanze, die am Korb des mittleren Wagens befestigt war, flatterte ein langer Wimpel. Ich warf dem braunhäutigen Mann, der im Unterschied zu den Soldaten glattrasiert war und schulterlanges, gekräuseltes Haar trug, einen prüfenden Blick zu. Etwa fünfunddreißig Jahre alt, ein kantiges Gesicht mit scharfen Falten, einer Hakennase und dunklen Augen. Eindeutig strahlte dieser Mann Entschlossenheit, Zielstrebigkeit und eine bestimmte Härte aus. Langsam stand ich auf und schlug meinen Mantel zurück. Ich hob die Hand und rief:
»Wir aus Gubal grüßen dich, Herr Marsam! Wir sind gekommen, dir einen Besuch zu machen, deine herrliche Stadt zu sehen und Handel zu treiben.« Er schwang sich schweigend aus dem Wagenkorb. Er war zweckmäßig, aber ausgesucht teuer angezogen. Feinstes Leder, dünne, reichverzierte Stoffe, goldene und silberne Schnallen und Schmuckstücke. Um die Stirn trug er ein breites Band aus feinstbearbeitetem Goldmetall. Die schwarz umrahmten Gesichter seiner Begleitung drückten Ablehnung und Mißtrauen aus. Marsam kam zwischen den Wagen hindurch und blieb vor mir stehen. »Du bist Ahiram-Acran, nicht wahr? Ihr baut eigene Schiffe?« Ich streckte ihm befremdet meine Hand entgegen. Er ergriff sie, drückte sie kurz und ließ sie los, als wäre sie weißglühendes Metall. Marsam bohrte seine Augen in mein Gesicht. Er roch nach kaltem Schweiß. Ich sagte: »Beides ist richtig, Fürst Marsam. Willst du ein Schiff bei uns bestellen?« Er beachtete nur mich. Alle anderen, selbst Asyrta, schienen für ihn nicht vorhanden zu sein. Unbehagliches Schweigen breitete sich aus ur die Pferde rissen an den Zügeln und senkten ihre Köpfe. Ein schneller Blick zeigte mir, daß meine Freunde ebenso befremdet waren wie ich. Dieser Empfang fand keineswegs unser Verständnis. »Beim heiligen Ankerstein«, murmelte Cheper in der Mitte der mit Speisen und Geschirr übersäten Tafel. »Ein kühler Morgen in Askalon!« Marsam warf ihm einen niederschmetternden Blick zu. Ich stemmte die Hände in Seiten und sah wachsam über uns den Seeadler schweben. »Ich fragte eben, ob du dich, Fürst Marsam, für den Schiffbau interessierst. Sollen wir einen Wellenreiter, schnell wie die ZEDER, für dich und Askalon bauen?« Welch auffallender Gegensatz zwischen den Gruppen! Marsam, seine Bewaffneten und die Wagen, vor denen braune und schwarze Pferde sich unruhig bewegten, im harten Griff der Zügel gehalten. Er knurrte abweisend: »Ich brauche kein Schiff. Ich habe keine Kapitäne. Ich lasse andere für mich fahren und handeln.«
Unsere Leute waren heiter, entspannt, gesättigt und in hellere Farben gekleidet. Zu Marsams Truppe stellten wir den totalen Gegensatz dar. Vielleicht galt dies auch für andere Dinge; während Marsam für seine Aufgabe schuften mußte, lösten wir unsere Probleme mit viel spielerischer Leichtigkeit. Möglicherweise hatte uns dies geprägt. Ich fragte lächelnd: »Warum dann diese Frage? Warum die finsteren Blicke, Fürst? Wir sind nicht gekommen, um die Stadt niederzubrennen!« »Ist Byblos größer als Askalon?« fragte er mich in einem Tonfall, der Widerspruch zu einem Risiko werden ließ. Ich zuckte mit den Schultern und erwiderte unter erwartungsvollem Schweigen: »Es ist größer. Mehr Menschen, mehr Freie, mehr Arbeiter und Leibeigene. Es ist kein Verdienst des Gaufürsten von Byblos.« Marsam musterte mich unverändert starr und finster. Ich verstand ihn nicht, konnte mir nicht vorstellen, aus welchem Grund er uns gegenüber seine schlechteste Laune herauskehrte. Vielleicht ist seine schlechte Laune der Normalzustand, sagte der Logiksektor. »Mir haben die Handelsschiffer gesagt, ihr seid reicher und lustiger! Sie sagten, ihr habt die Natur und die Nomaden besiegt!« rief er wütend und stampfte mit dem Fuß auf. »Unser Sieg war eine Kette von Niederlagen«, sagte ich. »Lustiger sind wir, weil für uns Anstrengungen nur Teil des Lebens sind. Aber wir wollen Worte des Willkommens austauschen, Marsam. Ich sah, daß Palast und Tempel wunderbare Bauwerke sind. Ich möchte von dir lernen.« »Es gibt hier nichts zu lernen. Du willst unsere Heiligtümer sehen?« Ich deutete auf meine Freunde und sagte scharf und laut: »Nicht nur ich. Wir sind hingerissen von dem überaus freundlichen Willkommen; du bemerkst es am Schweigen der Verblüffung. Meine Freunde wollen Tage und Nächte lang die Schönheiten Askalons erleben. Wir hungern nach Unterhaltung, wir dürsten nach deiner Klugheit, Fürst.« »Du scherzest. Ich bin nicht in der Laune zu lachen.«
Meine Geduld war erschöpft. Ich drehte mich herum und ignorierte den unsicheren Fürsten von Askalon. Vielleicht war er krank im Kopf. Ich deutete auf Siren und sagte: »Du, Oberster Händler der reichen und, wie wir hörten, lustigen Stadt Gubal-Byblos, wirst versuchen, an die Händler dieser Stadt unseren purpurnen Schatz zu verkaufen. Zurück zum Schiff! Nimm Soldaten mit, sonst wirst du von der Herzlichkeit des Empfanges erschlagen oder erwürgt.« Ich warf einen Blick hinauf zu Horus und drückte das Achtung Signal. Vielleicht wurde der Vogel wichtig in den nächsten Stunden. »Du befiehlst, Ahiram-Acran. Ich werde die Siedlung in einen Rausch der Begehrlichkeit nach unserem Purpur versetzen!« Siren winkte vier unserer Soldaten mit sich. Sie stecken sich die letzten Happen zwischen die Zähne und gingen, jeden Passanten und vor allem diejenigen, die reich aussahen, ansprechend. Mit Gelächter Witzen, derben Scherzworten und dem Versprechen, jeden Händler zu betrügen, schritten sie aufs Schiff zu. Marsam und seine Krieger standen da und glotzten. Ich deutete auf Ka-aper und rief so laut, daß es der gesamte Volkshaufen deutlich hören mußte: »Du, Ka-aper, bist die rechte Hand Amenemhets im Hapiland. Du solltest besser wissen, wie fürchterlich der Zorn des Gottkönigs ist. Sprich mit Marsam. Sag ihm, wie man Gäste empfängt.« Ka-aper hob den Kopf, griff mit beiden Händen zum Gürtel, an die Knäufe der Dolche. Dann stand er auf, schob den Hocker achtlos zur Seite und ging an der Mauer der Schänke entlang. Der Wirt, der am Türpfosten lehnte, wurde unter dem Blick Ka-apers bleich und sprang zur Seite. Dann näherte sich Ka-aper dem Stadtherrscher und fragte Ieise: »Willst du, daß deine Stadt hört, was ich dir zu sagen habe? Die Zunge reicht weiter als die Hand.« Plötzlich verschwand der Groll aus dem Gesicht des Herrschers. Er wurde verlegen, starrte Ka-aper an und wich langsam zu seinem Streitwagen zurück. Ka-aper faßte ihn an der Schulter, zog ihn mit sich und ging in die Richtung der Gasse, aus der die Streitwagen aufgetaucht waren. Ich nickte befriedigt; also hatte das Wort des Amenemhetoten auch hier sein Gewicht.
»Und du, Neb-Nefer, gib dem Wirt einen Becher voller Körner Silber; er nennt dir den Preis. Unsere tapferen Soldaten werden schnell Freundschaft schließen mit ihren Kameraden aus Askalon. Los, laßt euch zeigen, wie man Waffen benutzt. Geht mit ihnen.« Ich legte meinen Arm um Asyrtas Schultern und meinte zu Kasokar dem Marjannuh aller Bewaffneten in Gubal: »Unsere Männer sollen die kostbarsten Handelswaren am Kai ausbreiten. Bewach sie bitte. Ich denke, wir werden die warme Gastfreundschaft Askalons nicht lange auf die Probe stellen.« Der Wirt schrie voll Entsetzen auf. »Seid ihr schlecht bedient worden? Wurdet ihr nicht satt? Soll ich einige Mägde auspeitschen?« »Narr«, sagte Kasokar grollend zu Scharuhen. »Wenn wir Askalon nicht verwüsten und niederbrennen, hat die Stadt es diesem Gastmahl zu verdanken. Dein Essen war köstlich. Wir hoffen, der Preis entspricht dem Umfang des Genossenen.« Cheper saß ruhig da, einige Plätze von uns entfernt, aß und trank voller Seelenruhe, warf prüfende Blicke in die Runde und sah zu, wie unsere Soldaten die Wachen der Stadt sozusagen in Honig ertränkten; ein Sprichwort von Byblos, das soviel ausdrückte, wie »erstickende Freundlichkeit«. Schließlich lösten sich die neugierigen Menschengruppen auf, die Wagen fuhren rückwärts, drehten und folgten dem Herrscher. Der Krückenmacher gesellte sich zu uns und meinte: »Ich denke, wir drei werden den Palast und den Tempel besichtigen, um mit der Schönheit von Askalons Bauwerken wetteifern zu können?« »Du sagst es!« Asyrta und ich sprachen wie aus einem Mund. Wir versuchten, auf dem Weg zum Palast die tausend Einzelheiten zu erkennen und zu deuten, die bestimmend waren für den Charakter einer Siedlung. Schon auf halbem Weg wurde uns klar, daß hier vieles doppelt so schnell vor sich ging wie in Gubal-Byblos. Undenkbar, aber wahr. Die Menschen rannten, die Töpferscheiben drehten sich schneller, die Sklaven hasteten die Gerüste hinauf und noch schneller herunter, überall hörten wir das Knallen von Peitschen und das Wehgeschrei der Sklaven. Hier herrschten Zwang
und Gewalt, aber die Siedlung wurde in kürzester Zeit errichtet. Es war vorstellbar, wie es auf den Feldern der Bauern aussah. Vermutlich rissen die Ochsen die Pflüge im gestreckten Galopp durch die Furchen. Der Herrscher schien von seiner Idee besessen zu sein. Er wollte die Geschichte beeinflussen, aber sie würde Siegerin bleiben. Wenn sich die straffe Organisation auch nur einige Tage fang aus seinen Händen löste, brach sein System zusammen. Abgesehen davon: Durch sein unwirsches Verhalten machte er Askalon nicht zum bevorzugten Ziel der Händler. Keine Händler, kein Handel! Wo der Handel fehlte, blieb der Verdienst aus. Ein tödlicher Kreislauf, der mit dem Nachfolger von Marsam beendet sein würde. Wir erreichten den Tempelbezirk über eine breite Treppe aus Sandsteinblöcken, von Zypressen gesäumt. Überall arbeiteten Kinder auf dem Rasen, schnitten Halme und trugen Blätter und Abfall zusammen. Zwischen den Bäumen erhob sich ein erstaunliches Bauwerk. Gerth rammte voller Verblüffung seinen Dreizack tief in den Rasen. »Ich bin überwältigt«, gestand er flüsternd. Eine rechteckige Basis wuchtiger Quader war gemauert und zusammengefügt worden. An drei Seiten erhoben sich konisch zulaufende, schlanke Säulen, etwa dreimal mannshoch, aus dunklem Granit. Fuhrwerke und Sklaven hatten sicher Tage gebraucht, um diesen Baustoff hierher zu schleppen. Ich begann zu zählen. Insgesamt dreißig Stelen, die unterhalb der Dachbalken breite Bänder aus Gold trugen. »Ein Tempel der Baalat?« fragte leise Asyrta. Eine düstere Beklemmung ging von diesem symmetrischen Bauwerk aus. Langsam tappten wir einen Weg aus weißen Kieselsteinen entlang, der zu schmalen zehn Ellen hohen Portalen führte. Auch dieser Kies stammte von weither. Unsere Schritte erzeugten auffallende Laute. An beiden Seiten des Weges erhoben sich rechteckig gemeißelte Pylone, doppelt mannshoch, jeweils zwanzig Stück. »Das werden wir sehen, wenn wir im Innern sind. Vielleicht ist es Baalat, vielleicht eine andere Gottheit.« War Marsam ein religiöser Eiferer? Die Meisterschaft der Bearbeitung zeigte, daß gute Handwerker am Werk gewesen waren.
Unsere Bewegungen wurden unfreiwillig zögernder. Auch die Balken und die Wände hinter den Säulen waren schwarz, dunkelgrau und düster. Der Tempel strahlte eine ungute Stimmung aus. Sicherlich wurde hier kein heiterer Gott verehrt. Ich spürte, wie sich Asyrta an mich drängte. Sie war zutiefst beunruhigt. Die Sklaven und Sklavinnen warfen furchtsame Blicke in unsere Richtung. In den Bäumen ringsum sang kein Vogel, nicht einmal Grillen waren im Gras. Die Balken und das übrige Holzwerk strömten den stechenden Geruch nach Zedernöl aus. Wir stiegen sieben Stufen hinauf und packten die Griffe der Portale. Leise schwangen sie nach innen. Wir blieben stehen; die Torangeln waren versetzt angebracht so daß die Portale lautlos von selbst schlossen. Ein fast völlig dunkler Innenraum empfing uns. Es roch unbeschreiblich: Zedernöl, Balsam Myrrhe und eine Vielzahl verbrannter Duftstoffe oder Pflanzen. Von einem runden Fenster in der rechten Wand ausgehend, durchquerte ein Bündel Sonnenstrahlen die Breite des Raumes und traf auf den Oberkörper einer Statue. Gerth flüsterte beklommen: »Das ist kein Tempel. Mir erscheint es wie eine Folterkammer des Geistes.« Wir befanden uns in einer Zone, die das Echo unserer Worte brach, umleitete, hin und her warf und verhallen ließ. Aus Gerths Flüstern wurde ein pfeifendes Zischen, das unsere Nerven folterte. Wir machten einige Schritte vorwärts. Tausend harte Geräusche klapperten und prasselten zwischen den schwarz schimmernden Wänden. Wir erschraken, unsere Hände fuhren zu den Ohren und hielten sie zu. Ich wagte zu sagen: »Mit solchen Mitteln scheint Marsam zu herrschen. Ich glaube, die Nomaden hätten einen anderen Ort überfallen und dort den Tempel anzünden sollen.« Ein chaotisches Klangerlebnis war die Folge. Meine Worte und die vervielfältigten und verzerrten Schrittgeräusche erfüllten den Tempel mit infernalischem Lärm. Einige Mannslängen vor den Sockeln blieben wir stehen. Die Statue zeigte eine Frau aus Stein, vermutlich aus poliertem Granit oder aus Porphyr. Hüften und Brüste waren überbetont, die Arme waren an den Leib gepreßt, die
Unterarme streckten sich nach vorn. In einer Hand hielt die unbekannte Göttin den stilisierten Körper eines Kindes, ihre Finger drückten den Hals zu. Die andere Hand hielt eine Peitsche mit mehreren Schnüren, die bis zum Boden vor unseren Füßen herunterhingen und geknotet waren. Das Gesicht mit wenig menschenähnlichen Zügen blieb starr, aber der Ausdruck zeigte erbarmungslosen Haß, rasende Gier und schiere Bösartigkeit. Durch das Sonnenlicht, das voll auf Oberkörper, Hals und Kopf fiel, wurde die Schärfe dieses Götzenbildes noch betont. Nur ein kranker Geist konnte ein solches Bildwerk aufstellen. Ich drehte mich um. Sieh hinauf! Diese Anordnung! sagte der Logiksektor. Nur unmittelbar vor dem Götzenbild war zu erkennen, daß es drei Dutzend solcher Öffnungen in den Wänden und der Decke gab. Sie waren zylindrisch, so daß das Sonnenlicht abbrach, ehe es einen anderen Platz im Tempel traf. Wanderte die Sonne, so glitt sie kurze Zeit später vor ein anderes Loch, das ebenfalls auf den Oberkörper der Göttin ausgerichtet war. Ich sah, daß sich die Öffnungen dem unterschiedlichen Stand der Sonne zu den verschiedenen Jahreszeiten anpaßten. Eine raffinierte Einrichtung. Plötzlich warnte der Extrasinn: Vielleicht hat dieses Verfahren ein anderer erfunden? Derjenige, der mit der Gefahr identisch ist, die ES angekündigt hat? Denk darüber nach und prüfe Marsam! »Gehen wir«, murmelte Asyrta in mein Ohr. Die Worte erzeugten ein summendes Geräusch. »Noch nicht«, sagte ich und ließ sie los, packte den langen Dolch, den getarnten tödlichen Strahler. Langsam zog ich ihn aus der verzierten Lederscheide und umrundete einige rechteckige Stelen, die unregelmäßig den Altar der Göttin umgaben. In jedem dieser würfelförmigen Steinblöcke war eine halbkugelige Vertiefung eingemeißelt. Ich entdeckte Reste von Flüssigkeiten; auch trocknendes Blut konnte darunter sein. Die Statue befand sich fünfzehn Schritte vor der Rückwand des Tempels. Hier erhoben sich zwei kurze Stücke Wand, ebenfalls aus Basalt. Sie verbargen schmale Spalten in der Mauer. Ich glitt zwischen die Mauern, die denjenigen im Tempel, die vor der Statue standen oder lagen, den Blick auf einen hier Eintretenden verwehrten. Wieder öffnete sich
eine schmale Tür, auf beiden Seiten mit Kupfer beschlagen und dicken Nägeln gesichert. Ich befand mich in dem breiten Korridor, der in den Palast führte. Ein Blick zum Himmel: noch immer schwebte der Garant unserer Sicherheit über uns. Plötzlich war Gerth neben mir, hob seinen Dreizack und deutete nach rechts und links. »Quartiere für Priester? Schatzkammern oder Gefängnisse? Oder Stallungen für Opfertiere?« fragte er leise. »Asyrta fürchtet sich. Ich gehe zurück zu ihr. Wir verlassen den Tempel, Acran.« »Ja, danke. Ich komme gleich. Mich hält’s hier nicht lange«, versprach ich. Mit einigen Sprüngen rannte ich eine schmale Treppe ohne Geländer aufwärts und befand mich auf dem Dach eines würfelförmigen Gebäudes. Ich entdeckte weder Fenster noch Türen; das Haus hatte einen versteckten Zugang. Als ich Geräusche und schrille Stimmen aus dem Palast hörte, sprang ich zurück zur Tür, riß sie auf und blieb einen Moment stehen, um mich an die Dunkelheit des Tempels zu gewöhnen. Verhundertfachte Stimmen, Wortfetzen und Schritte sagten mir, daß Gerth und Asyrta davonliefen. Ich rannte ihnen nach. Im Spalt des Portals blieb ich stehen und schickte noch einmal einen langen Blick ins Innere. »Eines ist sicher. Hier regiert nicht Vernunft«, sagte ich und ließ die Tür zugleiten, »sondern Furcht. Ich möchte kein rituelles Opfer in diesem gräßlichen Tempel erleben.« Auf diese Weise brachten gewissenlose Menschen Leichtgläubige dazu, einander als Opfer zu benutzen. Ich hatte es erlebt, und ich wollte es kein zweites Mal miterleben. Ich rannte die Stufen hinunter und holte die beiden ein. »Er ist wahnsinnig«, sagte ich. »Askalon wird sicherlich bestehen. Aber Marsam erstickt an seinen eigenen Vorstellungen.« Asyrta meinte leise und stockend: »Wir haben den Auftrag, ein Volk auf den Weg zu bringen, das Küsten und Buchten beherrscht, ein Volk unerschrockener Meeressegler. Ich bin sicher, daß von Askalon keine Schiffe ablegen, so wie von Byblos. Der erste Sturm macht sie alle zu Selbstmördern.«
Ich schauderte, als ich noch einmal das Gelände um den Tempel sah und die verstörten Sklaven, die ohne jede Aufsicht arbeiteten, als schwinge ein Unsichtbarer die Peitsche. »Viel sicherer ist, daß Marsam bald vergiftet wird. Und das nächste wird sein, daß man diese Isis-Astarte, oder wer immer es sein soll, zerschlagen und ein heiteres Bild aufstellen wird. Dies ist meine Meinung.« »Du magst recht haben«, schloß Gerth. Der schreckliche Eindruck saß tief, aber er wurde von der lebendigen Stadt schnell überdeckt. Wir wanderten durch Gassen, die an Gubal erinnerten. Aber während in unseren Werkstätten zumindest heiter gearbeitet wurde, schufteten sie hier mit eigentümlicher Verbissenheit. Furcht und Terror beherrschten Askalon. In der Siedlung galt ein Menschenleben nicht viel; auch das eines Herrschers konnte verblüffend kurz sein. Marsams Nachfolger konnte es nur besser machen. Schließlich befanden wir uns am Hafen; der Kai war voller Menschen. Siren handelte, als gelte es sein Leben. Er hatte sein Hemd ausgezogen. Auf seiner schweißnassen Brust glänzte farbiger Perlen- und Goldschmuck, ein Vogel mit ausgebreiteten Schwingen. Ich sah purpurne Bänder und Stoffe, teure schwarze und rote Urnen mit Henkeln, Tierfiguren, mit Würz- und Salbölen gefüllt. NebNefer notierte, wog ab und ließ wiegen, schüttete Goldkörner und Silberkörner in einen bauchigen Krug und zählte die Barren Kupfer, Bronze und Eisen aus dem Land Hatti. Mit weit aufgerissenen Augen und offenen Mündern lauschten zweihundert Menschen dem schreienden Händler. Auch die Mannschaften der Handelskapitäne standen hier und waren nicht so heiter; hier wurde ihnen von einem Meister gezeigt, wie man es anstellte. Immer wieder brandete eine Lachsalve über das Wasser. Siren erzählte Witze, für uns alt und bekannt, die aber nichts an Deutlichkeit und Schärfe verloren hatten. Mindestens für ein paar Stunden war ein kleiner Teil Askalons zu einer lustigen Stadt geworden. Als ich mich an Bord schwingen wollte, lenkte ein Blitzen meinen Blick ab. Eingekeilt in der Menge, die ihn nicht beachtete, stand Marsam auf seinem Streitwagen. Der Wimpel hing schlaff herunter. Neben Marsam stand mit arroganter Miene mein Freund Ka-aper. Marsams
Haltung und sein Gesichtsdruck ließen mich abermals stutzen. Er ärgerte sich, biß sich auf die Lippen, vermochte sich nicht zu freuen: wie ein Ausgestoßener in seiner eigenen Stadt. Die ehrwürdigen Scherze unseres gelbzähnigen Freundes hatten genügt, ihn zur unwichtigen Figur werden zu lassen. In seinem Herzen tobte schwarzer Aufruhr. Er beneidete Gubal, konnte sich nicht am heiteren Handel erfreuen. Es war, als würden wir verschiedene Sprachen sprechen, als käme er von einem anderen Planeten. Ich setzte mich auf die Bordwand der ZEDER und überlegte. Ein Hinweis von ES blieb aus. Meine Ahnung sagte mir gar nichts. Konnte Marsam ein Androide vom Kunstplaneten Wanderer sein? Möglich, aber unwahrscheinlich, er hätte sich besser getarnt. Er wäre als Androide von seiner menschlichen Umgebung in positivem Sinn korrumpiert worden. Mit brennenden Augen starrte Marsam auf die SCHNELLE ZEDER und auf die Soldaten, die mit den Mädchen scherzten, aus der Schänke Bier brachten und Körbe voller Nahrungsmittel, die wir an Bord nahmen, für die Fahrten der nächsten Tage. Ka-aper wußte genau, was er von alldem zu halten haste. Er schwieg und bewahrte Haltung als Vertrauter Amenemhets. Nachdem sich einige der Händler erschöpft die Seiten hielten und nicht merkten, wie glatt sie übers Ohr gehauen worden waren, schrie Siren: »Freunde! Händler! Nichtstuer und Gaffer, Kinder und ihr barbusigen, braunen Sklavinnen: Wir sind leer. Mir fallen keine Scherze mehr ein; was wir in anderen Häfen ausbreiten wollen, haben wir an euch verkauft. Und zu einem Preis – mein Herr wird mich mehrmals auspeitschen lassen! Händler, Freunde, hört mich! Auch ich bin erschöpft. Meine Lippen sind trocken, meine Haut dampft vor Schweiß, meine Gurgel ist staubig geworden ob des langen Redens. Wir kommen wieder, mit mehr Schiffen und Kostbarkeiten. Ich danke euch! Ihr wart das beste Publikum an einem Vormittag in Askalon.« Er machte eine obszöne Geste, verschaffte sich einen guten Abgang und riß Cheper den Bierkrug aus den Fingern, trank das Gefäß leer und überließ die Heckplattform den anderen. Nur ganz langsam verlief sich die Menge. Zuletzt befand sich nur noch der
Streitwagen mit den herrlichen dunkelbraunen Hengsten auf dem Kai. Ka-aper stieg herunter und ging würdevoll auf das schwankende Schiff zu. Cheper gab leise Kommandos, die sich auf die Unterbringung des Proviants bezogen. Ich lehnte am Mast und sah, daß die Kapitäne und Steuerleute der Keftiu-Schiffe uns noch immer aufmerksam betrachteten. Ka-aper blieb am Heck der ZEDER stehen und hob grüßend die Hand. Marsam zog heftig an den Zügeln, die drei Tiere rissen wiehernd die Köpfe hoch. Ka-aper rief: »Fürst Marsam! Wir werden ablegen und nach Akko und Tyrus segeln. Ich rate dir, mit anderen Mitteln als bisher zu regieren. Deine Stadt ist ein Nest aus Furcht, Angst und Haß. Dieser Haß wird eines Tages auf dich zurückschlagen. Danke für den Aufenthalt.« Marsam schoß einen grimmigen Blick in unsere Richtung ab und drehte seinen Streitwagen fast auf der Stelle. Die Pferde wieherten und fielen in einen erschreckten Galopp. In höchster Gcschwindigkeit raste der Wagen über den Kai auf die Stadt zu. Wir sahen uns verblüfft an. Er war von Sinnen. Ka-aper kam zu mir und Asyrta und sagte leise: »Die Götter haben ihm kein langes Leben beschieden, fürchte ich. Er berichtete mir, wie er Askalon zur prächtigsten Stadt des Meeres machen will. Dabei verbraucht er Menschen wie dürres Laub. Sie werden ihn ermorden, ohne Zweifel.« »Immerhin«, meinte Asyrta halblaut, »erlaubt er Handel. Das heißt, daß man aus Askalon flüchten kann.« »Handel erlaubt er nur deswegen, weil er Amenemhet Abgaben zu entrichten hat. Sonst würde er sich noch stärker einmauern.« Cheper spuckte ins Hafenwasser. Ich sagte: »Alles in allem seine ich, daß wir in Gubal doch das bessere Los gezogen haben. Mit milder Strenge und Freundschaft regiert es sich besser. Jedenfalls hat Gubal-Byblos einen Ruf als lustigste der kanaanäischen Küstenstädte. Das ist auch etwas wert. Cheper! Wann gehen wir in See?« »In einer halben Stunde, Herr!« Nachzügler kamen und halfen uns. Wir legten ab. Das Schiff bewegte sich wie eine Spinne mit vierzig Beinen durch das tiefe
Wasser. Wir fuhren in den orangeroten Ball der sinkenden Sonne hinein. Von Askalon nach Akko waren es drei Windtage, vielleicht vier. Lange schwiegen wir: Die Eindrücke, die wir mitnahmen, waren nicht geeignet, uns fröhlicher werden zu lassen. Bald schliefen die meisten. Unter den Sternen des wolkenlosen Nachthimmels bahnten wir uns mit schäumender Bugwelle und leuchtendem Kielwasser den Weg. Über uns schwebte Horus und richtete seine Infrarotlinsen auf das Meer. 13. Drei Tage, nachdem wir das kleine Palisadendorf Akko verlassen hatten, liefen wir auf Tyros zu. Zunächst fielen uns zwei große, flache Felsplatten auf, eine Art Insel. Ich hätte die Siedlung hier errichtet, ohne Zweifel. Denn von Land aus war sie unangreifbar – löste man die Probleme der Wasserversorgung. Die ZEDER fuhr mit vollem Wind, vor uns breitete sich blau und sandiggelb eine fast mathematisch runde Bucht aus; flach, mit vereinzelten Felsen, Hügeln und Zedernbergen im Hintergrund. Uschu, so hieß der Begriff Tyrus in der Rometsprache, lag mehr als tausend Ellen von den beiden Felseninseln entfernt, eine Siedlung, zum Teil mit Palisaden, zum anderen mit Mauern befestigt. Wir erkannten das wuchtige Seetor, die hochgezogenen Schiffe, die primitiven Fischerboote aus Gefecht und Häuten; wir sahen auch, daß emsig gearbeitet wurde. Es war kurz nach dem höchsten Sonnenstand. Der Sommer war weit fortgeschritten; fast alle Mann auf der ZEDER waren halbnackt. »Es macht keinen schlechten Eindruck«, sagte Cheper vom Ruder her. »Die Felder rundum sehen gut und fruchtbar aus.« »So ist es. Außerdem liegt Uschu-Tyrus günstig. Eines Tages wird es vielleicht mächtiger sein als Byblos.« »Das ist völlig ausgeschlossen!« Ka-aper schüttelte energisch den Kopf. »Niemals wird Byblos überrundet werden!« Uschu-Tyrus war ein heiteres Fleckchen Erde. Die ansässige Bevölkerung und die Nomaden, die in viel größerer Kopfzahl nach
Norden wanderten - nur die ausdauerndsten machten vor Byblos halt –, schienen sich vermischt zu haben. Viele Menschen trugen Lasten von und zu den Schiffen. Viele kleine Gebäude waren nicht schön, sahen aber gepflegt und sauber aus. Mit dem letzten Schwung näherten wir uns dem Strand, refften das Segel und benutzten einige Riemen, um die ZEDER zu drehen und mit dem Heck sanft auf den Sand zu setzen. Offensichtlich war gerade Essenszeit, denn dreiviertel aller Kamine rauchten. Ein Geruch nach fremdartigen Gewürzen zog über das Wasser. Schon jetzt gefiel es uns. Aber es mußte uns nicht gefallen; wir waren nicht wegen des Essens oder guten Eindrucks hier. »Wie heißt der Herr über die Suppenkessel und Grillroste?« fragte ich laut und half meinen Freunden, das Schiff festzulegen. Von allen Richtungen kamen Kinder und Hunde, Ziegen und langbeinige Wasservögel. Die Kinder sahen hinreißend aus; Mischungen zwischen Nomaden und Ansässigen, sie schrien begeistert, als sie die Männer mit den blitzenden Waffen und der farbigen Ausrüstung sahen. Wir sprangen an Land. »Es ist Tuthalija. Ich kenne seinen Ruf; ein kleiner Beamter einer fernen Provinz, aber sehr tüchtig. Die Kapitäne haben es berichtet. Er wird seinen Weg gehen, und mit ihm dieser Ort.« »Wünschen wir es ihnen.« Wir hatten kaum noch Handelsgüter. Unser Besuch würde sich auf eine Höflichkeitsgeste beschränken. Aber wir hatten unsere Sprache nicht verloren und würden über Byblos viel reden können. Jetzt kamen Männer aus den Hütten und winkten. Die Mannschaften der minoischen Schiffe schienen bei den Familien von Uschu zu essen. Auch sie kamen, um uns völlig unbefangen zu begrüßen. Als unsere Mannschaft das Schiff verlassen hatte und wir fragten, wo Tuthalija zu finden wäre, sagte man, daß er auf dem Weg zu uns wäre. Er erschien kurz darauf; sein Aufzug entsprach dem Charakter dieser Siedlung. Wir sahen einen schmutzstarrenden Kampfwagen, bespannt mit drei kreuzlahmen Mähren. Die Räder führten abenteuerliche Bewegungen aus; ständig versanken die Felgen in tiefen Schlaglöchern. Wir lächelten. Der Mann, der im Wagen stand und die Tiere ruhig lenkte, strahlte Ruhe und Würde
eines besonnenen, auf persönliche Weise klugen Mannes aus. Ein Bauer im besten Sinn des Wortes, sagte der Logiksektor. Wir begrüßten ihn ruhig, dann sprachen wir wie Freunde miteinander. Schnell waren Schiff und Mannschaft, ebenso wie zuvor die Mannschaften der sieben neu gebauten Keftiu-Handelsschiffe, in den Kreis der Bewohner aufgenommen. Schließlich schlug Tutalija vor, dazubleiben, zu essen, mit ihnen zu sprechen, von Byblos zu erzählen und gute Ratschläge zu geben, wo man dieses oder jenes beziehen konnte, warum die Bäume nicht wuchsen und allerlei dieser Art. Es war, als ob wir einen Besuch auf einem großen und lauten Bauernhof machten. Wir alle waren hingerissen. Am dreißigsten Tag unserer Reise lag nur noch Ugarit vor uns. Ka-aper und der Krückenmacher waren in Byblos an Land gesetzt worden. Wir segelten fast genau nach Norden, eine weite Strecke lag hinter uns. Ich saß im Windschatten neben Cheper im Heck, hielt den Weinbecher in den Fingern und dachte nach. Wir sehnten das Ende der Reise herbei, obwohl wir mindestens fünfzednmal die Nacht an einem der menschenleeren und einsamen Strände verbracht hatten. Wir hatten erkannt, daß jede Siedlung ihren Weg machen konnte - allein. Vielleicht schuf die gemeinsame Sprache eine gewisse Übereinstimmung. Möglicherweise sorgten die Romet-Herrscher dafür, daß wir gleiche Schrift, Sprache, Maße und Gewichte verwendeten und die Menge der Abgaben, die wir zu leisten hatten, gleich groß blieb. Aber es gab nicht einmal eine Straße zwischen Raphia, Gaza, Askalon, Akko, UschuTyrus, Gubal und Ugarit. Die Karawanenstraßen kamen aus dem Norden, Südosten und Osten und berührten unsere Orte, gleichsam wie die Finger einer Hand. »Cheper?« fragte ich halblaut. »Hörst du?« »Acran! Du scheinst eine Stunde zu erleben, in der du im geheimnisvollen Reich deiner Gedanken umherstolperst.« »Stolpern ist richtig. Wie viele Schiffe haben wir in den Häfen gesehen?« »Ungefähr achtzig, Fürst von Byblos. Warum fragst du?«
»Weil ich weiß, daß seit einem Jahr diese Menge Schiffe für uns über das Meer segeln. Kapitäne aus Keftiu. Wann werden wir die eigene Flotte aussenden können?« »Die Enkel meiner Söhne werden diese Schiffe bauen und bemannen«, sagte Cheper und grinste. »Ich werde dann Staub am Altar der Baalat sein. Aber nicht im Palasttempel Askalons.« »Zugestimmt, Freund. Welche feinen Gedanken und Gewißheiten sind nach dieser Fahrt, ohne daß wir das letzte Ziel im Schatten der Insel Alashia kennen, bei uns geblieben?« »Wir sind Bürger Byblos’. Wir werden ein starkes Volk, das die Meere beherrscht. Die Wüstennomaden werden nicht mehr länger Sand unter ihren hornigen Sohlen haben, sondern blaues Wasser. Sie werden zu einem unruhigen Stamm von Handelsmännern, die mit jeder Ware handeln, die Verdienst abwirft. Und Ideen, Menschen, Schriften, Geld, Kenntnisse, Gedanken, werden ausgetauscht. Nur dann, wenn wir weiterarbeiten an Gubal. Das denke ich, Fürst.« »Dies denken wir alle. Wir handeln auch so«, sagte ich und blieb mißtrauisch meinem Optimismus gegenüber. Auf meine Freunde konnte ich mich verlassen, auch auf das Bestreben der Herrscher im Hapiland, die kostbare Krüglein voller Salböl schickten und die Abgaben unserer Handelserfolge forderten. »Wie ist das mit der weiten Reise des großen Schiffes?« sagte Cheper lange Zeit später. Langsam wurde es Abend, das Schiff wiegte sich ruhig in den Wellen und glitt nach Nordosten. »Das ist eine besondere Sache.« Ich hob die Schultern. »Ich warte auf einen Boten, der mir sagt, wenn wir aufbrechen.« »Wo und wenn soll dich der Bote treffen?« Ich nahm den Schlauch vom Haken und goß den Becher voll, reichte ihn Cheper, der bisher jedes der unzähligen Manöver des Schiffes hervorragend gesteuert hatte. Er trank einen tiefen Schluck und gab den Becher zurück. »Das ist die Frage. Niemand weiß es. Es kann morgen sein oder in einem Jahr. Ich weiß es nicht.« »Woher kommt der Bote?«
»Auch das weiß ich nicht. Eines Tages werde ich zu Gerth sagen: ›Bau das Schiff fertig!‹, und eines anderen Tages bitte ich dann dich: ›Sei unser Steuermann!‹ Das ist alles, was ich weiß.« Er nickte und murmelte: »Sie müssen alle mitkommen. Ka-aper, Siren und, natürlich, Asyrta. Obwohl sie schlecht kochen kann.« »Dafür hat sie ein treues Herz und eine schöne Seele«, scherzte ich. Wir hatten beschlossen, in dieser Nacht an Land zu gehen. Wir segelten in Sichtweite der Küste und suchten nach einer Bucht. Horus würde dreimal über dem Schiff kreisen und uns führen. Es schien, als ob alle Mann meine Zweifel spürten. Niemand sprach. Müde und faul lagen sie auf Deck, zwischen den Ruderbänken, auf Holzrosten und Teilen der Ladung. Endlich kam das Zeichen. Der Vogel raste heran, zog seine Kreise und flog langsam vor uns her. Ich deutete auf den Seeadler, Cheper nickte und bewegte das Ruder. Eine Stunde später sahen wir die Bucht aus weißem Sand, von Felsen eingekesselt und völlig leer. Ich stand auf und schüttete den warmen Wein über Bord. »Hier werden wir in guter Ruhe die Nacht verbringen!« rief ich. Die ZEDER wurde auf den Sand gesetzt. Wir kletterten von Bord und bewegten uns, um das Gefühl des schwankenden Schiffes loszuwerden. Wir suchten Treibholz, entfachten ein Feuer und schleppten von Bord, was wir brauchten. Im Schein des Feuers tanzten dichte Wolken aus Insekten. Wir rammten Speere in den Boden, drehten die Bratspieße, bohrten Löcher für die schlanken Weinkrüge und setzten uns in einem großen Kreis ums Feuer. Wir fühlten uns völlig frei, die mürrische Stimmung verging nach den ersten Schlucken. Scherzworte flogen hin und her, auf Brettern, die wir im Meer gewaschen hatten, wurde Braten geschnitten. Was uns fehlte, war ein zweites Schiff, das anlegte, von den mannshohen Flammen angelockt. Womöglich einer unserer minoischen Handelskapitäne. Da ich die Karte der Uferlinie genau kannte, wußte ich, daß wir in zwei Tagen Ugarit erreichen konnten, sofern uns der Wind nicht im Stich ließ. Die Fahrt entlang der Grenzen jener sieben kanaanäischen Handelshäfen ging ihrem Ende zu.
Unser Weltbild war erweitert; nebenbei war auch unser Selbstbewußtsein gehoben worden. Wir wurden müder, die Krüge waren leer. Millionen Grillen und Zikaden lärmten in den Pflanzen des Felsenkessels. Diese Geräusche und das Flüstern der Brandung schläferten uns ein. Asyrta und ich lagen weitab vom Feuer, unter einem überhängenden Felsen, unter unseren Körpern die warmen Felle, darüber die leichten Decken. Der volle Mond und das Leuchten der Sterne tauchten den Strand in silbernes Licht. Vom Feuer waren nur ein schwarzroter Glutkreis und durchdringender Geruch übriggeblieben. Wir lagen, flüsterten und träumten mit offenen Augen. Ich erwachte und fand ein fahles Leuchten, das dem Sonnenaufgang vorausging. Vorsichtig hob ich die Decke, betrachtete einen Moment fang das Gesicht meiner schlafenden Geliebten und breitete den Stoff wieder über ihre gebräunten Schultern. Langsam ging ich, schauernd in der Morgenkühle, hinunter zum Wasser und warf mich nach vorn, begann zu schwimmen. Glasartig klare Helligkeit stieg über das Meer herauf. Ich hatte diese Stimmung und diese Farben noch nie erlebt, schwamm weit hinaus, vertrieb die Steifheit des Schlafes und die Folgen des Weines aus meinem Körper, legte mich auf den Rücken und ließ mich treiben. Noch füllte Dunkelheit des Schattens den Felsenkessel aus und machte aus dem Schiff eine schwarze Silhouette. Ich schwamm zurück und genoß die Wärme des Wassers über dem sandigen Grund. War es ein Reflex? Ließ mich meine Ahnung an eine andere Stelle zurückschwimmen? Ich erkletterte, rund hundert Ellen vom Schlafplatz entfernt, einen gerundeten, ausgewaschenen Felsen, der noch die Wärme des vergangenen Tages speicherte. Ich setzte mich, zog die Knie an und sah aufs Wasser, fühlte mich zufrieden in dieser kurzen Einsamkeit. Ein Plätschern vor mir riß mich aus einem Wachtraum. Ich senkte den Kopf und sah in die Wellen. Ein spindelförmiger Umriß bewegte sich dicht unterhalb des Felsens. Ein kleiner Delphin, durchfuhr es mich; ich beugte mich vor, um den Rest des Rudels zu sehen, aber dieses Tier schien allein zu sein. Es verhielt sich ungewöhnlich.
Zunächst schwamm der Delphin sehr schnell in die Bucht, sprang dort mehrmals auf fast lautlose Art in die Höhe und kam wieder zurück. Vor mir bäumte er sich auf, schoß senkrecht aus dem Wasser und vollführte auf seinem Schwanz eine Art Tanzbewegung, die seinen Körper bis zu vier Fünftel aus dem Wasser brachte. Dann sprang er hoch, tauchte und verschwand. Ich wußte nicht, was ich von allem zu halten haste. Verblüff wartete ich einige Atemzüge fang und überlegte, ob ich zurückschwimmen oder über die Felsen klettern sollte. Ich blieb, unentschlossen, sitzen und hörte wieder ein Plätschern, diesmal rechts von mir. Eine merkwürdige Erscheinung kletterte an den von schwarzen Seeigeln bedeckten Felsen herauf. In dieser Stunde war ich geneigt, an Zauberei zu denken. Ich drehte den Kopf und suchte nach einer Fluchtmöglichkeit oder nach einem Felsbrocken, um mich wehren zu können. Das Wesen, nicht größer als ein fünfjähriges Kind, stieß ein meckerndes Ziegengelächter aus. »Keine Furcht, Arkonide!« sagte es. Keine Panik. Es gibt eine natürliche Erklärung, schrie der Extrasinn. Ich fragte stotternd, mit halb gelähmter Zunge und trockenen Lippen: »Wer bist du?« Wieder ein Gelächter, dann zog sich dieses Wesen aus dem Wasser. Es war unvorstellbar häßlich, auf eine abscheuliche Weise. »Ich bin der, den du zu töten vergessen hast. Oder gabst du es auf?« Noch ein Rätsel mehr. Ich sah genauer hin! Große, silberblaue Augen musterten mich aus einem runden Kopf, der von Zotteln oder Haaren umgeben war. Eine Nase, die mehr derjenigen eines Hundes glich, ein breiter, zahnloser Mund, ein Halsstummel, von schwarzen Fischschuppen bedeckt. Auch der kleine, unproportionierte Körper war schuppig und an ungewöhnlichen Stellen von tangartigem Haar bewachsen; die Haut darunter sah roh und blasig aus. Zwischen langen Fingern, die auf mich wie bronzefarbene Krallen deuteten, erkannte ich hellrote Schwimmhäute. »Wer bist du?« Mühsam gehorchte meine Stimme. Es war nicht Entsetzen, das mich gepackt hielt, sondern eine Mischung zwischen Grausen, Neugierde und Verwunderung. Ich träumte nicht; alles
geschah vor meinen Augen im ersten Morgenlicht. Das Wesen quäkte: »Ich bin Proteos, der sich verwandeln kann und unsterblich ist. Potentiell unsterblich, Atlan von Arkon.« »Ich erinnere mich nicht, gegen dich gekämpft zu haben«, sagte ich heiser. »Dann blockiert ES deine Erinnerungen. Es war an den Ufern der herrlichen Insel Keftiu, zu deiner Zeit. Für mich ist es eine Ewigkeit her.« Proteos, dieses erstaunliche Wesen, drehte sich um, sprang ins Wasser, blieb dort einige Augenblicke fang und tauchte triefend auf. Der Froschmund verzerrte sich zu einer unschönen Grimasse. »Auch für mich muß es endlos lange her sein«, sagte ich vorsichtig. »Was willst du, Proteos? Soll ich dich jetzt töten?« »Keineswegs.« Er lachte kichernd. »Keineswegs. ES, der meine Kameraden und mich hierher flüchten ließ, scheint sich an meinen Qualen zu weiden. Jetzt hat er sich an mich erinnert.« Er sprach mit der quäkenden Stimme eines Kindes, das nie richtig reden gelernt haste. Was ich sah und hörte, war so unglaublich, daß es nicht einmal ein wundergläubiger Nomade oder ein inbrünstiger Verehrer von Marsams Stadtgöttin glauben würde. Ein Fabelwesen, das sich aus einem Delphin in einen schwimmenden Kobold verwandelte und sich als Bote von ES ausgab! Was war eigentlich unmöglich auf diesem barbarischen Planeten? »Warum freut sich ES über deinen Zustand?« fragte ich. Ein Schatten huschte über uns, ich hörte das Geräusch starrer Federn. Ich hob den Kopf und rief zu Horus hinauf, der auf den Fremden herunterschoß: »Halt! Zurück. Mir geschieht nichts!« Ein paar Handbreit über unseren Köpfen drehte sich der Seeadler in der Luft und strich über den winzigen Wellen davon. Proteos hatte Arme und Hände schützend über seinen Kopf gelegt, schielte ängstlich zwischen den Schwimmhäuten hindurch und entspannte sich. Dann tauchte er abermals und kam tropfend zurück auf seinen Platz, zwei Ellen entfernt von meinen Zehen.
»Ich bin auf dieser Welt allein. Ich habe in vielen Jahrzehnten jedes Stück Wasser durchschwommen. Ich kenne eine Million unterseeischer Höhlen und tausend zerborstene Schiffe. Ich habe niemanden, mit dem ich reden kann. Höchstens einmal einen Narren oder ein Kind am Strand. Wenn sie erzählen, daß sie Proteos getroffen haben, werden sie ausgelacht oder geschlagen. Jetzt erwischte mich ES an den nördlichen Küsten, jenseits der Meerenge. Ich habe ein Jahr fang gesucht, um dich zu finden, Arkonide.« Mir war, als habe jemand mit einem Hammer auf meinen Schädel geschlagen. Alles in mir sträubte sich, diesem Bericht zu glauben. Aber es stimmte, denn das Schlüsselwort war unzweifelhaft ES. Immer wieder ES. Dieses mächtige Kollektivwesen hatte eine perverse Art von Humor. »Nun hast du mich gefunden«, sagte ich. »Und…?« »Ich bin der Bote. Du sollst wissen, daß dein Feind mit seinen Helfern gelandet ist. Er beginnt zu wirken. Ich sah nur sein Sternenschiff verglühen und zerbrechen, nicht mehr. Alles andere sagte mir ES.« »Mein Feind? An den nördlichen Ufern?« »Ja. ES wird dich durch mich leiten. Du sollst, sobald es geht, aufbrechen. Von überall sollst du Mitglieder deiner Mannschaft nehmen. Freunde und Fremde. Der Mann, der das Verderben einer Invasion über Larsaf Drei bringen will, bedient sich der Barbaren, um sein Ziel zu erreichen. Es muß etwas wie eine Antenne sein, ein Sender oder Empfänger zu fernen Sternen. Ich weiß das alles nicht, kenne nur die unsichtbaren Straßen, die dich zu ihm bringen werden.« »Du sollst mich führen? Wann?« »Wenn für dich der nächste Frühling kommt.« »Wohin?« »Du sollst es nicht wissen, denn ich muß vor dem Schiff herschwimmen.« »In dieser Gestalt? Du wirst die Kämpfer erschrecken!« »Ich werde mich oftmals verwandeln, denn dies ist meine einzige Abwechslung, abgesehen davon, daß ich Menschen erschrecke und gefräßigen Fischen ausweiche.«
Zwischen einzelnen Teilen des verrückten Gesprächs sprang Proteos immer wieder ins Wasser. Vermutlich war seinem Körper die Trockenheit der Luft abträglich. Er wurde mir weder sympathisch, noch veränderte er sich zum Schöneren, aber ich fühlte schwaches Mitleid. Zumal ich mich wirklich nicht erinnern konnte, jemals etwas Genaueres über Proteos gehört zu haben. »Was weißt du sonst?« »Daß du gehorchen und Byblos verlassen mußt. Daß der Fremde schreckliches Unheil über diesen Planeten bringen wird. Und daß ES mich aus seinem Griff entlassen wird, wenn du deine Aufgabe gelöst hast. Offensichtlich bist nur du in der Lage dazu, obwohl ich es nicht verstehen kann.« Er tauchte wieder. Horus setzte sich auf einen Felsen schräg über uns, reckte seinen stählernen Schnabel vor und beäugte starr, wie ein echter Adler, dieses merkwürdige Geschöpf. »Es war unpraktisch und lästig, als ich Vogel war. Zuviel Arbeit, zu viele Feinde. Und jeder Sturm konnte mich töten.« Proteos kratzte mit den Krallen seiner rechten Hand vier lange, tiefe Spuren in den Stein. Schlagartig bedeckte sich mein Körper mit Gänsehaut, die Härchen im Nacken stellten sich auf. Winzige Steinsplitter prasselten ins Wasser. »Ich glaube nicht«, sagte ich, »daß ich dir danken kann. Was du mir gesagt hast, war keine fröhliche Botschaft.« »Verständlich. Jetzt sind wir schon zwei, die von ES geschunden werden. Ich gehe und treibe mich bis zum Frühjahr in wärmeren Gewässern herum!« »Ich glaube nicht, daß dich die Narren und Kinder an den Stränden vermissen werden.« Er lachte häßlich und schrie: »Geschöpfe wie ich und du, Atlan, bilden Legenden, Märchen und Urängste dieses Barbarengeschlechts. Rüste dich, die Aufgabe wird schwer, der Kampf hart…« Er sprang zurück in sein Element. Kurze Zeit später entfernte sich ein springender Delphin, ein bezauberndes Bild des Übermutes und der Spielerei, in die Richtung aufs offene Meer. Ich schüttelte mich, der Alptraum wich nur langsam. Noch hatte sich die Sonne nicht
über die Felsen erhoben. Ich schlug die Hände vor die Augen und wußte: Es gab so gut wie keine Möglichkeit, zu erfahren, wo und wenn der Fremde eingetroffen war und was er plante. Ich wußte nur, daß ES seinen Befehl auf irgendeine Weise durchsetzen würde. Ich hatte zu gehorchen. Ich und alle, die mit mir waren. Beunruhigt und verwirrt schwamm ich zurück und trocknete mich ab. Die ersten Seefahrer waren wach und bereiteten den Imbiß. Ich weckte Asyrta und aß schweigend. Dann schoben und zerrten wir die ZEDER in tieferes Wasser, ruderten ein Stück und setzten das Segel. Erst als wir in glühender Mittagshitze auf dem Vordeck lagen und das Öl auf unseren Körpern glänzte, verging der Schock des frühen Morgens. Aber ich wußte genau, daß meine Zeit in Gubal Byblos endete, zugleich mit der Kraft der Frühjahrsstürme. Es gibt Trost, sagte der Logiksektor. Es ist unwahrscheinlich, daß ES dich wieder in das Verlies am Meeresboden zurückwirft. Nur Asyrta-Maraye deutete mein Schweigen richtig. Niemand hörte zu, als sie auf dem heißen, salzigen Deck meine Hand nahm und an meinem Ohr flüsterte: »ES hat sich wieder gemeldet, nicht wahr? Unser Kampf gegen etwas unaussprechlich Furchtbares soll beginnen?« Ich nickte schweigend. Wir kamen nach Ugarit, einer Siedlung, die eine Mischung zwischen Byblos und Tyrus darstellte. Ugarits Bevölkerung wußte, daß ihr Hafen das beste Sprungbrett zum nordöstlichen, fingerartigen Vorsprung der großen Insel Alashia darstellte, eine der wenigen Strecken, die oft nach Sicht gesegelt wurden. Die Insel sah man manchmal von hier aus, wenn die Luft klar und frei von Wasserdampf war. Natürlich wurden wir freundlich aufgenommen, trafen viele Kapitäne, luden diejenigen ein, die uns noch nicht besucht hatten, schilderten unser Land und die Leute, knüpften viele Beziehungen und schrieben auf, was an Wünschen an uns herangetragen wurde. Immer wieder der Wunsch nach Schreibblättern! Wir ließen unsere letzten Rollen Purpurstoff in Ugarit und erregten abermals unerwartetes Interesse. Widerspruchslos wurden unsere Preise, auch für unsere restlichen Waren bezahlt.
Wir verproviantierten uns und segelten zurück. Einige Minoer begleiteten uns, aber wir waren schneller, leichter, und meine Art, mit dem veränderten Rahsegler zu kreuzen, war besser. Am Abend des einundvierzigsten Tages liefen wir müde und glücklich in Byblos ein und wurden gefeiert, als wären wir Jahrzehnte unterwegs gewesen. Sechs Monde voller Arbeit lagen vor uns. Eigentlich war dies schon der Abschied, das Ende des Gaufürsten Ahiram-Acran: Wir, die Handvoll Freunde, standen vor dem großen Schiff. Cheper ahnte etwas, Asyrta wußte es, Gerth schien es zu erraten. Das Schiff stand nur noch mit dem Heck im Gebäude der Werft, in der fünf Handelssegler für andere Kapitäne auf Kiel gelegt worden waren. »Mein Meisterwerk«, sagte Gerth. »Kupfer im Kiel, federnd und schnell, mit Erdpech gedichtet, das Holz mit Stoffen getränkt, die es leicht machen wie Öl. Es wird ein Genuß sein, es zu segeln.« Ein Schiff, das es zu dieser Zeit nicht geben durfte. Breite Liegeplätze aus Ledernetzen und Fellen. Unzählige Behälter für Nahrungsmittel, runde Aussparungen für hundert Krüge. Ballast an den richtigen Stellen. Schwere Beschläge aus falscher Bronze dort, wo sie wichtig waren. »Ich werde es behandeln wie eine Möwe, die den Sturm liebt«, brummte Cheper hingerissen. »Noch nicht, Freunde. Erst werden wir den Winter abwarten und das Schiff einsegeln, wenn der Sturm am stärksten ist.« Was jetzt noch kam, war für mich eine Kleinigkeit. Waffen und Werkzeuge, die doppelte Anzahl, die wir brauchten. Teile für das Schiff, Segel und Taue, mehrfach und das beste, was es gab; tausend andere Kleinigkeiten, die bedacht werden mußten. Es gab kein anderes Mittel, um an die Küsten des Nordlands zu kommen, welches Stück des Planeten auch damit gemeint sein mochte. Ich sprach mit Ka-aper. Er sagte, daß er mitkommen wollte, NebNefer würde das Amt des Obersten Verwalters ebensogut wahrnehmen. Wir bauten weiter an der Stadt, machten mehr Land zwischen Meer und Gebirge urbar, legten ein Stück Straße parallel zum Strand an und gaben jedem Gefangenen, von dessen Können und Willen wir überzeugt waren, die Rechte eines Bürgers von
Gubal. Das große Schiff, die GOLDENE ZEDER, wurde fertig gebaut, zu Wasser gelassen, beladen, mit Ballast versehen und probegesegelt. Ich ernannte einige Stellvertreter und teilte zusammen mit Asyrta-Maraye die Zeit des Winters zwischen Rico und dem Überlebenszylinder, dem menschenleeren, sonnigen Süden am Oberlauf des Hapi, im »Elenden Kusch«, und GubalByblos. Unter den Projektionen der südpolaren Sterne und riesiger, lautloser Südlichtschleier schliefen wir in Riancor-Rechmes Obhut. »Proteos sagte, er habe das verglühende Schiff gesehen.« Ich blickte Rico an, der vor der Planetenkarte stand. »Wann war das? Und wo ist dieser feindliche Fremde gelandet? Und warum weiß ich nichts davon, tüchtigster Robot von allen?« »Als die Richtmikrophone der Spionsonde, die über jener Bucht schwebte, den Text Proteos auffingen, habe ich augenblicklich eine lange, heillose Suche begonnen.« Rico war nicht in der Lage, mich anzulügen; überdies sah sein Programm vor, mich bei jeder Annäherung eines Raumfugkörpers innerhalb des Larsaf-Systems sofort zu verständigen und gegebenenfalls die Weckprozeduren einzuleiten. »Wenn je eines unserer vielen Geräte diesen Impuls aufgefangen hat, so blieb er doch unauffindbar.« »Kannst du trotzdem Zeit und Ort eingrenzen?« »Nein, Fürst Ahiram-Acran.« »Also gefiel es ES in seiner kosmischen Klugheit, unsere Antennen, Empfangsgeräte und Speicher zu manipulieren. Überdies ist es denkbar, daß auf der gegenüberliegenden Hemisphäre ein Schiff, dicht über dem Boden, unbemerkt gelandet sein kann.« »Denkbar, Atlan, aber überaus unwahrscheinlich«, sagte der Roboter. »Wir haben erstklassige Satelliten in stabilen Umlaufbahnen. ES muß die Erinnerung aus meinen Speichern gelöscht haben, so daß ich auch irgendwelche Informationen nicht in den Speichern des Stationsrechners aufspüren kann. Ich fürchte, ihr müßt mit dem großen, neuen Schiff tatsächlich Proteos folgen.« »Asyrta und ich beraten darüber«, sagte ich. »In der sommerlichen Wärme, dort, wo die wichtigsten Flüsse in den Hapi münden; du weißt, wo wir sind.« »Meine Sonden schweben auch dort über euch.«
Das Schiff aus Zedernholz war fertig und ausgerüstet. Kleidung, Waffen und überlebenswichtige Geräte standen und lagen bereit. Bis zum Ende des Frühlings in Gubal hatten wir noch mehr als zwei volle Monde Zeit. Wir genossen eine herrliche Zeit, bis Asyrta und ich nach Gubal zurückkehrten, und in einer Nacht, als die ersten Störche aus dem Hapiland nach Norden zogen, stahlen wir uns still davon. Vielleicht sah uns wirklich niemand, und wenn jemand beobachtete, wie die GOLDENE ZEDER nachts mit leisen Ruderschlägen aus dem Hafen gerudert wurde, schwieg er. Ich hatte jede Kleinigkeit, die mit mir in Verbindung gebracht werden konnte, mitgenommen: Niemals mehr würde das einzigartige Rot der Schneckenfarbe künstlich hergestellt, und es würde auch kein Grabstein für den Gaufürsten AhiramAcran gemeißelt werden. Das gewohnte Bild des weißen Fischadlers, der über Gubal kreiste, würde ebenso vergessen werden wie mein Name und der unserer schönen Gefährtin. Die Schiffe der Farbenhändler, die Tiegel der Glasschmelzer und die Hapi-Ruderer voller Binsenmark-Schreibblätter würde ich über Ricos Spähersonden sehen, hier, im Oberen Meer, der Drehscheibe so vieler Kulturen. Wieder ein stiller Abschied. Das Schiff segelte in die Sichel des Frühlingsmondes hinein, einem unbekannten Ziel entgegen. Asyrta und ich standen engumschlungen neben Cheper, dem tüchtigsten aller Steuermänner. Ostwind packte uns und riß uns mit sich. Eiskalter, schneidender Wind winselte über die flachen Hügel, warf sich in die Taleinschnitte und riß das letzte dürre Laub von Sträuchern und Bäumen. Am Waldrand kroch ein hungriger, magerer Wolf aus seiner nassen Höhle. Der Himmel war eintönig grau; unter manchen Bäumen und in Erdspalten häufte sich schmutziger Schnee. Feucht und leblos lag das Land unter den Regenschauern. Der Wolf riß den Rachen auf, gähnte und begann zu heulen. Der Laut übertönte den winselnden Wind, strich über die trostlose, von urzeitlichen Gletschern fachgeschürfte Landschaft und erreichte die wirren Furchen der Äcker. Schwarze Inseln aus ineinander
verfilzten Dornenranken, blattlosen Büschen und Nadelbäumen unterbrachen die Ebene; krallenfingrige Äste zeichneten sich gegen das Grau des Himmels ab. Die kalte Luft roch nach Moder, Fäulnis und dem Salznebel unsichtbarer Meeresufer. Ein großer, struppiger Hund wühlte in einem Abfallhaufen. Als das Tier das Wolfsgeheul hörte, stellte es die Ohren auf, klemmte den Schwanz zwischen die Hinterläufe und tappte mit gesträubtem Fell steifbeinig auf die Langhäuser zu, von denen Wärme und zahlreiche Gerüche ausstrahlten. Der Hund verschwand zwischen den Häusern. Knarrend öffneten sich Türen aus Brettern und alten Fellen. Ein Mann im Fellmantel, Rock und Fellschuhen kam ins Freie und blickte sich schweigend um. Sein Gesicht zeigte, daß er sich fürchtete. In kehliger Sprache sagte er: »Es wird kälter. Er wird uns wieder zur Arbeit treiben.« Aus dem Inneren des gegenüberliegenden Langhauses kam mit einem jungen Mann eine Wolke stechender Dünste: Herdfeuerrauch, tierische und menschliche Gerüche, Moder und etwas, das in der Nase ätzte. Der junge Mann, dessen Augen seine Angst verrieten, blieb fröstelnd vor dem anderen stehen. »Ganz bestimmt, Thorsan. Er sag, daß noch viel zu tun ist.« Sie starrten sich schweigend in die Augen; seit drei Mondwechseln beherrschte der Frostriese das Dorf im Landstrich zwischen Meer und Nordland. Die unverständlichen Handlungen des vierarmigen Riesen der in seinem metallenen Felsen aus dem Himmel gefallen war, stürzten die Bewohner der Siedlung von einem Schrecken in den anderen. Das Jahr der unbegreiflichen Dinge ging weiter. »Er wird uns rufen«, sagte Thorsan. Niemand war bisher von dem Ungeheuer geschlagen oder getötet worden. »Weißt du, was er will, Hange?« Sie starrten den Klotz hinter den Bäumen an. Er war rund und trotzdem irgendwie eckig. Der Jüngere hob die Fäuste. »Nein. Er weiß, was er will. Uns zwingt er, die verrückten Dinge zu tun.« Thorsan versuchte, sein graubraunes Haar mit den Fingern zu kämmen. »Und wir müssen gehorchen.«
Der Wolf heulte noch immer durchdringend. Hinter den Gewächsen des struppigen Wäldchens erstreckte sich bis zum weit entfernten Horizont eine große, fast glatte Fläche. Sie sah erschreckend aus inmitten der Weiden und dunkelgrünen Felder, denn sie trug in ihrer Mitte eine vollkommen kreisrunde Fläche: nacktes Erdreich, ohne einen einzigen Halm. Den Rand des Kreises bildete ein wenig tiefer Graben, mit dessen Aushub die Anwohner des Dorfes einen erhöhten, nach innen steil abfallenden Wall geschaffen hatten. Es war schwer gewesen und hatte viel Schweiß gekostet, in der harten, frostigen Erde zu arbeiten, selbst mit den Werkzeugen aus der Metallkugel. »Ich hab’ Hunger. Ich gehe hinein. Er wird uns rufen, mit dieser gräßlichen Stimme«, sagte Thorsan schließlich. »Aber er hat Thulda geholfen, als sie das Fieber hatte.« Hange senkte den Kopf. Während Thorsan ins Haus zurückging, sah Hange dem Hund zu, der an der Ecke das Bein hob und sein Wasser abschlug, sah zwischen den nassen Baumstämmen das Silbergrau des riesigen Dinges und dahinter, schwer zu erkennen, den Kreis aus zerstampftem Boden, ausgehobenen Gruben und aufgerichteten Steinen. Den furchtbaren Fremden sah er nicht. Er drehte sich um, ging zur Frontseite des Langhauses und hob den Holzeimer. Aus dem Brunnen mit dem aufgerichteten Schöpfbaum hob er das Seil, knotete es an den Eimer und warf das Hohlgefäß in den Schacht hinunter. Die federnde Stange bewegte sich, der Eimer tauchte ein und wurde voll Wasser herausgezogen, das Eis krachte auf der Wasseroberfläche. Hange schleppte den schweren Eimer zurück ins Haus und zog die aufgequollene Tür mit einem Ruck zu. Irgendwo begann ein Hahn zu krähen. Sechs Stunden Fußmarsch entfernt, jenseits der flachen Hügel, war der Steinbruch, in dem der Fremde seine rätselhaften Handlungen vollbracht haste. Dorther hatten sie Steine geholt, jene riesigen Blöcke, die aussahen wie gefrorener Sand. Der Fremde hatte einen seiner vier kräftigen Arme gehoben; Blitze waren in die massive Felsplatte gefahren. Krachend waren die Steinblöcke auseinandergeborsten. Die Siedler hatten Bäume gefällt und riesige Schlitten hergestellt. Darauf waren die Blöcke gelegt worden. Der
Fremde mit seinen Wunderkräften hatte geholfen. Er besaß die Kraft von zweihundert erwachsenen Männern. Er schob den Schlitten, während dreißig Männer und Jungmänner an mehreren Seilen zogen. Tagelang dauerte der Transport eines Blockes aus dem Steinbruch bis zu einer bestimmten Stelle des Kreisrings. Vier Stunden nachdem es hell geworden war, bildete die Sonne einen helleren Fleck am nebligen Himmel. In der Kugel, die sich mit baumstammdicken Beinen schräg gegen den feuchtschwarzen Boden stemmte, öffnete sich eine Tür. Geräuschlos bewegte sich eingepaßtes Metall. Eine Platte, ähnlich einer Tür, wurde von armähnlichen Stangen und Rohren bewegt und legte sich eng an die Rundung der Kugel. Eine Art Treppe ohne Stufen schob sich aus der Kugel und berührte lautlos den Boden. Einige Herzschläge später erschien in dem Türeingang, der mit wulstähnlichen Rändern versehen war, eine erstaunliche Gestalt. Sie stammte aus den Sagen, die man nachts am Herdfeuer in den Langhäusern erzählte: ein Dämon, zweimal so groß wie ein erwachsener Mann. In den mächtigen Schultern war er so breit wie sechs gutgenährte Männer. Er hatte kurze Beine, die in Stiefeln steckten, grau wie gegerbtes und mit Tierfett eingeschmiertes Leder. Der Dämon besaß dort, wo bei Menschen ein Arm das Schultergelenk verließ, zwei Arme; einen längeren und einen kürzeren. Vier Männer konnte er gleichzeitig packen und wegschleudern. Ohne Hals saß auf den mächtigen Schultern ein Kopf mit drei riesigen Augen, die wie helle Herdfeuer leuchteten. Der Rachen war wie der eines Bären, nur breiter und gewaltiger. Wenn der Dämon schrie, war es wie Donner, der über das Land hallte. Die Eindrücke seiner gewaltigen Füße hinterließen tiefe Spuren; er mußte schwerer sein als fünfundzwanzig starkgewichtige Männer und hieß Ternal Malat. Diesen Namen hatte er den Bewohnern der Dörfer genannt, die Vasallen des Häuptlings Urger waren. Ternal Malat streckte vier Arme aus und glich einen Moment fang einer bösartigen Spinne. Dann sog er kalte Luft in seine mächtigen Lungen und blies sie wieder aus. Eine große Dampfwolke entstand. Jeder Muskel, jeder Körpervorsprung und alle Gelenke wurden durch die dunkelgrüne Hülle umspannt, die von der Farbe der Baumrinde war, und die, wo
sie in die Stiefel mündete oder die Gelenke der wuchtigen Hände umschloß, breite Bänder aufwies, die wie Schlangen aussahen, in mehreren Windungen nebeneinandergelegt. Vorsichtig schritt der rotäugige Dämon die Platte hinunter. Knirschend bewegten sich Rohre und Stangen und schlossen die Tür. Die riesigen Augen rechts und links des halbkugeligen Schädels schoben sich fast eine Handbreit weit hervor, das Stirnauge hob sich. Worte polterten und dröhnten: »Drüben beim großen Dorf schlafen noch alle. Das kleine Dorf ist aufgewacht. Ich muß sie noch für sich arbeiten lassen. Sonst verhungern sie, die Wilden.« Der Dämon bewegte sich schwerfällig wie ein Stier, aber ebenso kraftvoll. Von der Metallkugel bis zum Kreis aus Steinen und bloßem Erdreich zogen sich zwei tief eingetretene Spuren; eine Straße zwischen Kugel und der ebenen Fläche, die andere verlief in Windungen zwischen den Hügeln und endete im Nordwesten am äußersten Punkt eines tief ins Land hineinreichenden Fjordes. Der Dämon erreichte Wall und Graben und sprang mit einem gewaltigen Satz darüber, dann näherte er sich vorsichtiger dem Halbkreis unregelmäßig geformter, senkrecht stehender Steine. Sie waren braungrau, aus leicht zu bearbeitendem Sedimentgestein, mit Schlitten und einfachen Wagen aus dem Bruchgebiet geholt, zwanzig Minuten schnellsten Laufes entfernt. Seines schnellsten Laufes, dachte Ternal Malat. Er blieb neben einem Stein stehen, zog aus der Brusttasche des Einsatzanzugs eine Schreibtafel und verglich die Zeichnung mit den stehenden Steinriesen und den ausgehobenen Löchern. Genaueste Abstände mußten gewahrt bleiben. Zwischen den Steinen mußte es eine Reihe von Durchblicken geben; Möglichkeiten, Sterne anzupeilen, ihre Bewegungen nachzumessen, die Sonne des Systems in diese Berechnungen einzubeziehen. Das Planhirn rechnete seit langer Zeit ununterbrochen. Ternal Malat war ein ausgestoßener Raumfahrer, sein Raumschiff nicht mehr als ein Wrack, auf der drangvollen Reise durch die Milchstraße beschädigt. Mit letzter Kraft hatte er landen können. Die Landung hatte einen Teil des Antriebs zerstört. Die Funkanlagen
waren ausgefallen und würden nie wieder einen Hyperfunkruf auffangen oder abstrahlen. Er war allein und wußte nicht, in welchem Teil der Galaxis er sich befand. Dies herauszufinden war Aufgabe des planetengebundenen Observatoriums, dessen überwucherte Reste er in den letzten Augenblicken der Landung gesehen haste. Bewohner dieses Planeten hatten vor mehr als 600 Jahren einen Graben samt Wall, perfekt kreisförmig, mitten in dieser bestürzend flachen Ebene hergestellt und innerhalb des Durchmessers – 115 große Schritte eines Eingeborenen – 56 Steinmarkierungen angebracht. Ternal Malat hatte tausend Jahre Zeit, gemessen an den Umlaufparametern dieser seltsamen Welt, wo die Nachfahren von Observatoriums-Konstrukteuren ebenso lebten wie ihr dreckiges, krankes Vieh. Um aus diesem Gefängnis flüchten zu können, brauchte er die Hilfe – das Schiff – eines anderen Raumfahrers. Diese Hilfe herbeizufunken: daran arbeitete er. Ternal Malat blieb am Rand der Anlage stehen und faßte zusammen, was für ihn feststand. 27.060 verschiedene astronomische Verbindungslinien ließen sich später durch die vorhandenen und geplanten Festpunkte ziehen. Die Punkte benutzten Visierlinien in aufrecht stehenden Steinblöcken. Zielschlitzen zwischen zwei Steinen oder Verlängerungen der Geraden zwischen Kimme-Steinblöcken außerhalb von Wall und Graben; 165 solcher Punkte hatte er herausgearbeitet. Bordrechner und sein Plangehirn konnten die unwichtigen von den relevanten Bezugslinien trennen. 24 Geraden deuteten auf markante Sonnen die für ihn kosmische Leuchtfeuer waren. Mit Hilfe der Steine, die jährlich in den 56 weiß markierten Gruben zwischen Wall und Graben versetzt werden konnten, konnte er Sonnen- und Mondfinsternisse und andere himmelsmechanische Phänomene vorherbestimmen. Sie waren nur für diesen dritten Planeten wichtig. Aber: Hatte er, ausgestoßen und vor nutzloser Energie berstend, einmal seine eigene Position festgestellt, konnte er den Sender ausbauen, die letzten Energien für einen Notruf einsetzen und zielgerichtet abstrahlen. Man würde ihn mit einem neuen Schiff
abholen – nicht einmal einen Ausgestoßenen des Volkes ließ man auf einer unbekannten Barbarenwelt verschmachten. Ternal Malat rechnete weiter, steckte Positionen ab, stampfte Markierungsgruben in den feuchten Grund und erhielt durch einfaches Berechnen und Vergleichen die Aufund Untergangspositionen des Zentralfeuers und des Mondes dieses Planeten zur Sommer- und Wintersonnenwende. Vielleicht konnten die stinkenden Bewohner des Landes etwas damit anfangen. Die meisten Steine, die schon standen, waren fast dreimal so fang wie Ternal Malat. Wenn sie in ihrer Grube befestigt, hochgestemmt und in die Senkrechte gebracht worden waren, waren sie noch fast doppelt so groß wie der Dämon. Aber es fehlten 50 von 75. Es würde die Arbeit der heißen Jahreszeit werden. Die Eingeborenen mußten ihm helfen. Es ging schneller, sie lernten dadurch, und er hatte die Illusion, über hilflose Wesen zu herrschen, deren schärfste Werkzeuge Steinäxte und Sicheln mit scharfkantigen Steinsplittern waren. Ternal Malat arbeitete mit Maßband, einem einfachen Justiergerät und mit dem grafischen Schema, das er gezeichnet und immer wieder geändert haste. Nach vier Stunden merkte er, daß Seddin sich vom kleineren Dorf her näherte. Der Eingeborene blieb außerhalb des Walles stehen und legte die Hände an den Mund. Ternal sah, wie sehr er sich fürchtete. »Herr!« Ternal bäumte sich auf und richtete die lodernden Augen auf den Erdling. »Was willst du?« fragte er. Seine Stimme war laut wie Donner hinter den Bergen. Auch wenn er nicht schrie, krachte seine Stimme über die Landschaft. »Wir fürchten uns!« »Dazu habt ihr allen Grund. Bald werden wir wieder Steine brechen und aufstellen.« »Wir müssen aber unsere Acker bestellen!« Ternal Malat hob die längeren Arme über den Kopf und schrie: »Ihr werdet tun, was ich will! Ich dulde keinen Widerspruch! Sonst nehme ich euch alle Werkzeuge weg!« »Nein!«
Ternal Malat wußte, warum er nicht in der Gemeinschaft seines Volkes leben durfte. Seine vorübergehenden Anfälle machten ihn gefährlich. Sie dauerten nie lange, aber es war niemandem möglich gewesen, ihn zu heilen oder die Natur dieses Leidens zu klären. Er war sich selbst gegenüber die größte Gefahr. Seit langer Zeit hatte es, abgesehen von seinem Drang zu abenteuerlichen Aktionen, keinen Anfall mehr gegeben. Der Eingeborene reizte ihn, obwohl er demütig blieb. »Dämon Ternal Malat.« Seddin fiel auf die Knie. »Wir verhungern, wenn wir nicht im Sommer arbeiten. Sieh, wir sind nur wenige Männer. Wenn wir Felsblöcke aus dem Berg hinter den Hügeln schleppen und Flöße durch die Brandung rudern, dann können wir nicht arbeiten.« »Ihr werdet arbeiten. Erstens zwinge ich euch, zweitens helfe ich euch!« schrie Ternal Malat erbost. »Weg jetzt! Zurück ins Dorf. In ein paar Tagen fangen wir an!« »Wir gehorchen, Ternal Malat.« Seddin stand auf, verneigte sich tief und fief davon. Aus den Löchern in den Dächern vieler Häuser, in denen im Winter nicht nur Menschen, sondern auch alles Vieh lebte, drangen Rauchfahnen. Die stämmigen Frauen der Eingeborenen bereiteten Essen. Ternal Malat packte einen riesigen Felsblock, der die Spuren der Energiewaffe trug, mit deren Strahlen er aus dem Berg herausgesprengt worden war. Vier Arme legten sich um den massiven, keilförmigen Brocken und spannten sich, dann bog sich der Körper und erstarrte für einen Augenblick. Der Dämon riß den Rachen mit den weißen Raubtierzähnen auf und brüllte, dann hob er acht Tonnen Fels hoch und drehte sie um zehn Grad. Die bearbeitete Seite wies nach innen, ins Zentrum der Anlage. Auf einigen Steinen hatten sie mit zweckentfremdeten Werkzeugen aus dem Raumschiff Zapfen herausgemeißelt, die in entsprechende Löcher der waagerechten Quersteine passen mußten. Ternal knurrte: »Der letzte Stein. Wir müssen wieder arbeiten!« Die Hochleistungsgeräte, mit denen er stellare Positionsbestimmungen hätte machen können, waren teilweise ausgefallen. Zwar war es möglich, einfache mechanische und
optische Elemente abzuschrauben oder auszulösen, aber Leitungen und autarke Kleinrechengeräte waren verschmort und durchgebrannt. Langsam stapfte das Wesen mit der tiefschwarzen Haut durch die Anlage und näherte sich dem Raumschiff. Ein merkwürdiges, bisher nie gekanntes Gefühl ergriff Ternal Malat. Als Angehöriger eines uralten Sternenvolks eingeschlechtlicher Individuen konnte er sich kaum einsam fühlen. Inzwischen hatte er lange genug Gelegenheit gehabt, sich an den Planeten, die trübselige Landschaft und die erschütternd einfachen und starrköpfigen Eingeborenen zu gewöhnen. Er hatte ohne viel Mühe die Sprache der Primitiven gelernt. Ternal, den die zweieinhalbhundert Bewohner der Dörfer »Dämon« nannten, befand sich in einer Ausnahmesituation: ausgestoßen, im prägenden Griff der Drangwäsche, gestrandet auf diesem verlorenen Barbarenplaneten. Angewiesen auf die Hilfe der Eingeborenen und auf die geringen Möglichkeiten des Schrotthaufens, seines Raumschiffs. Drohend hing über ihm die Möglichkeit, zu scheitern: Ein Anfall seiner rätselhaften Krankheit warf ihn um und vernichtete die Bemühungen eines tausend Jahre währenden Lebens. Sein Versuch, Hilfe zu holen, konnte mißglücken. Etwas auf dem Planeten, von dem ihm nur ein kleiner Teil bekannt war, brachte ihn trotz seiner wunderbaren Überlebensfähigkeit um. Ein Ding, kleiner als eine Ameise. Irgendein Zufall. Der Dämon betrat sein Raumschiff. Die Systeme, die er zu seiner Bequemlichkeit brauchte, waren unzerstört. Ein Start war unmöglich, das Schiff energetisch halbtot. Ternal Malat bewegte sich plötzlich schneller und unausgeglichener. Sein Ordinärgehirn steuerte seine Bewegungen; sein Planhirn versuchte zu analysieren, woher diese merkwürdige Stimmung stammte: Furcht? Die rechnerische Vernunft des Zusatzgehirns verneinte es. Einsamkeitsgefühle? Auch hier stimmte das Planhirn nicht zu. Ein Anfall der Seuche, die ihn seit einem Jahrhundert plagte? Abermals: Nein. Ternal warf sich auf sein Lager, versuchte sich zu entspannen und kapselte sich gegenüber der Umwelt ab. Die organischen Zentralverschlüsse der drei Augen schoben sich zusammen.
Dunkelheit, Ruhe, Schweigen. Der Dämon lauschte in sich hinein. Auf seine unformulierten und unausgesprochenen Fragen gab es keine Antwort. Ternal Malat wußte nicht, warum er sich so schlecht fühlte. Er mußte etwas tun, mußte zielgerichtet handeln. Vor allem mußte er darangehen, jede Chance zu ergreifen, die ihn von diesem verdammten Planeten wegbrachte. Drei Tage später hatte sich der Charakter der Gegend drastisch geändert. Auf einer schlammigen Piste, so fang sie ein schnell gehender Mann in sieben Stunden zurücklegte, arbeiteten alle erwachsenen Männer. Ternal Malat winkte vor dem halbierten Hügel, dessen Vorderseite aus Sandstein bestand. Die Fläche war aufgebrochen, überall waren schwarze Spuren der Blitze, die gewaltige Felsbrocken aus der Masse herausgesprengt hatten. Dutzende riesiger Steine lagen durcheinander. Der Dämon stand vor der graugelben Wand und schrie: »Zur Seite! Schließt die Augen!« In zwei Armen hielt er einen funkelnden Gegenstand, den kurzen, dicken Speer aus unbekanntem Material. Er richtete die Spitze dieses unbegreiflichen Dinges auf die zerklüftete Wand. Donnernd und heulend brach eine blendende Lichtflut aus der Spitze des Rohres, bohrte sich tief in den funkensprühenden Hang. Eine schwarze Rauchwolke stieg auf, während der Nachhall der Donnerschläge über das Land tobte. Eine breite Fläche aus Stein löste sich aus der Wand, kippte mit furchtbarem Krach nach vorn und zerbrach in mehrere Brocken. Der Dämon hatte seltsame Werkzeuge aus seiner Kugel gebracht. Stäbe aus »Metall«, meißelähnliche Werkzeuge und spiralig gedrehte Stäbe, die Ternal Malat den Eingeborenen gegeben haste. »Fangt an! Ich brauche dreimal so viel heilige Steine, wie Finger an einer Hand sind.« Die Stimme des Dämons war so laut wie der Donner nach seinen Blitzen. Angstvoll standen die Eingeborenen auf und kamen von allen Seiten auf die übereinander liegenden Brocken zu. Ein rasendes Hämmern und Klingeln fing an, als sich die Männer auf die ungefügten Steine stürzten. Ternal Malat stapfte zwischen Männern und Felssplittern umher. Er gab ununterbrochen Befehle,
zeichnete die Umrisse der Steine, markierte die Punkte, an denen die Löcher für die Holzkeile hineingetrieben werden mußten, hob tonnenschwere Blöcke an einem Ende an und versetzte die Männer in Schrecken – seine Kräfte waren göttlich, ja unbegreiflich! Die Sonne war durch den dünnen Hochnebel gebrochen. Die Männer schufteten, schwitzten, ihre Körper begannen zu dampfen. Die Felle rochen nach talgigem Fett. Schweißtropfen sickerten in die struppigen Bärte. Keiner von ihnen arbeitete gem, aber eine kreatürliche Angst ließ sie mit aller Schnelligkeit arbeiten, deren sie fähig waren. Der Dämon brüllte Befehle, dann warf er seine Blitzeschleuder auf den Rücken und ließ sich auf die Hände der Brustarme nieder. Wie ein Bär begann er zu rennen und zu springen, er erreichte eine rasende Geschwindigkeit und stürmte den ausgetretenen Weg entlang zur nächsten Gruppe von Männern. Er kannte das Bild, trotzdem war es erstaunlich: Baumstämme waren gespalten und zersägt. Querbalken, mit Pflanzenseilen und gedrehten Tiersehnen umwunden, verbanden kufenähnliche Stämme miteinander. An einigen Stellen waren sie in Zapfen eingespannt. Seile gingen von wuchtigen Tragebalken aus, durch Holzjoche unterbrochen. Junge Männer mit Wasserbottichen schütteten Wasser vor die Kufen. Mit Seilen, Balken und gefochtenen Zweigen war ein gewaltiger Sandsteinbrocken auf diesem Schlitten befestigt. Er drückte die Kufen tief in den schlammigen Grund, die Schritte der keuchenden Männer schmatzten in der Nässe. Sie zerrten den Stein durch den Schlamm, angefeuert durch rhythmische Schreie Thorsans, der sich gegen das Ende eines dicken Taues warf. Fasern schnitten tief in seine Handflächen ein. Der Dämon näherte sich wie ein rasendes schwarzes Tier, stemmte seine Gliedmaßen in den Schlamm und schlitterte fünf Mannslängen weit durch den Brei aus Wasser und Erdreich. Dann richtete er sich auf und schrie hallend: »Weiter! Schneller! Zieht, ihr schwachen Barbaren. Ich werde euch helfen!« Noch immer wirkte seine dröhnende Stimme erschreckend. Ternal Malat stemmte sich gegen den knarrenden Schlitten und packte mit zweien seiner sechsfingrigen Hände zu. Mit einem
Knistern bäumte sich der Schlitten auf, Männer stürzten in den Schlamm, kamen keuchend auf die Beine und zerrten weiter. Im Schrittempo bewegte sich ein neuer Stein für das Heiligtum, wie der Dämon den Steinkreis nannte. Das Sternenheiligtum. Dreißig Männer zerrten und zogen, krümmten ihre Schultern so weit nach vorn, daß ihr Kinn fast in den Schlamm tauchte. Sie stemmten sich gegen die hölzernen Joche und stöhnten, wenn die Stimme des Dämons ertönte. Knirschend in allen Verbindungen näherte sich der Schlitten mit der Steinmasse dem Ort, an dem die Grube bereits ausgehoben war. Der Weg wand sich in wirren Linien durch das Land, überquerte aber keinen Hügel. Wie die Spur eines kriechenden Insekts folgte er einem Waldrand, durchquerte einen trockenen Bachlauf, verwüstete einen Gerstenacker, zog vorbei an vier Häusern, folgte dem flachen Tal und schien sich zu strecken, als er die ebene Fläche erreichte. Von hier aus verlief er gerade bis zum Mittelpunkt des Steinkreises. Hier kauerten Eingeborene und schlugen mit schweren Steinhämmern auf Meißel und Bohrer ein. Der Stein wurde auf einer Seite geglättet und gerundet. Der andere erhielt ein Loch auf der Seite, um später auf die senkrecht stehenden Monolithen aufgesetzt werden zu können. Andere Gruppen schaufelten Erdreich, packten es in Körbe und trugen die Behälter zu einem der beiden Hügel, die genau im Norden und Süden auf der Kreislinie von Wall und Graben lagen. Die Erhebungen wuchsen zusehends. Steine, Kies und schwarze Erde polterten auf einen Haufen. Die Männer aus Hanges Dorf zimmerten an dem schweren Gestell, mit dessen Hilfe sie die Steintrümmer aufrichten und in die Gräben und Löcher hineinkippen konnten. Überall arbeiteten die Menschen. Sie hatten keine Möglichkeit, fortzulaufen. Was sie zum Leben brauchten, befand sich in ihrer unmittelbaren Nähe. Sie waren den Befehlen des schwarzhäutigen Sternendämons ausgeliefert. Als sich Ternal Malat davon überzeugt hatte, daß die nächste Wegstrecke des Steintransports abwärts führte, stemmte er seinen Riesenkörper in die Höhe und befahl: »Zieht weiter! Es geht leichter! Im heißen Sommer sind wir fertig! Dann helfe ich euch bei der Ernte!«
Er stieß ein donnerndes Lachen aus, warf sich herum und rannte lost Mit rasender Geschwindigkeit folgte er dem Weg durch die Hügel und die Taleinschnitte, dann tauchte er plötzlich vor dem Wall auf und schrie zu den Arbeitern hinüber: »Hier bin ich!« Er wußte nicht, daß alles, was er tat, die Menschen in panische Angst versetzte. Ihre Reaktionen konnte er nicht richtig deuten. Auf bestimmte Weise hatte er eine bemerkbare Sympathie für die schwachen und abergläubischen Eingeborenen. »Ihr seid fleißig, meine Kleinen!« schrie er. Er selbst hatte nicht das Empfinden, daß er schrie; aber die Arbeiter sprangen zur Seite, zuckten zusammen und hielten sich die Augen zu. Dann fingen sie wieder zu arbeiten an. Ternal Malat stampfte in den Mittelpunkt des Kreises. Von den dreißig geplanten Steinen standen vierzehn, verbunden mit dreizehn schweren, in Zapfen und Löchern ruhenden Quersteinen: Dreizehn, rechteckige Tore ermöglichten Durchblicke auf die Hügel und auf weiter draußen stehende Peilsteine. Ein Teil des Systems, das ihm helfen würde, von dieser Welt wieder zu starten. »Nur weiter so!« schrie er. Er wußte nicht, daß sie ihre Tiere nicht auf die Weide treiben konnten, well sie nach dem Winter wild waren und von den Kindern nicht mehr gehalten werden konnten. Sie würden in den Wäldern vom Raubzeug gefressen werden, wußte nicht, daß sie verhungern würden, wenn sie nicht über die warme Jahreszeit jagten, fischten, pflanzten und ernteten, im Haus arbeiteten und auf den Feldern. Jungtiere aufzogen und die alten schlachteten. Das Gleichgewicht zwischen Leben und Tod war empfindlich gestört, da er sie in einem Maß tyrannisierte, das ihren Tod bedeuten konnte. Hundert Menschen konnten in diesem Winter sterben, wenn sie nicht flüchteten. Sie würden nicht fortrennen, well der Dämon sie bestrafen würde. Sie hatten Angst; sie kannten seine unvorstellbaren Kräfte und seine geschleuderten Blitze. Sie versuchten zu erraten, was er von ihnen verlangen würde. Aus diesem Grund ruhten alle anderen Arbeiten in den Siedlungen nördlich des Meeresufers. »Hierher!« schrie der Dämon. Wieder schnitt die laute Stimme in ihre Ohren. Sie rannten dorthin, wo einer der fertigen Steine lag, ein
viermal mannslanger Block, auf einer Seite glattgemeißelt und mit einem runden Zapfen an der Spitze. Der Dämon packte das Gestell, hob die tonnenschwere Konstruktion und trug sie bis neben den Block. Dort stellte er sie hart ab; die Balken knirschten und krachten. Die Männer umringten den Schwarzhäutigen und starrten in sein Gesicht. Sie zitterten und schwitzten vor Angst. »Wir setzen diesen Stein ein! Je einer ich fertig bin, desto einer kommen meine Freunde!« Seine Stimme trieb Donner über den Steinkreis und die Ebene hinweg. »Ihr habt euer Heiligtum! Dann könnt ihr um Regen und Sonne beten, ihr schwachen Würmer!« Ein neues Lachen. Ternal Malat packte den Felsbrocken an der Spitze, stemmte ihn hoch und winkle. Die Eingeborenen kamen und bewegten die einfachen Hebel des Holzgestells. Knirschend fing die Konstruktion den Felsen auf, dann glitt er langsam schräg in das fünfzehnte Loch und schwankte hin und her. Das einfache, wirkungsvolle Observatorium würde in den klaren Sommernächten fcrtig sein. Dann konnte er die Antenne aufbauen und die Freunde seines Volkes hierher rufen. Er wurde ungeduldig, je mehr die Arbeiten fortschritten. Außerdem glaubte Ternal Malat zu spüren, daß der nächste Anfall bevorstand. Wann würde ihn wieder unkontrollierte Raserei überfallen? Rico blieb schweigend bei mir stehen, bis Bilder und akustische Wiedergabe endeten. Ich zog den Kopf zwischen die Schultern und versuchte meine Eindrücke richtig zu verarbeiten. Seltsam, dachte ich, je länger ich Ternal Malat sah, desto sicherer müßte ich sein, daß ich Angehörige seiner Rasse kannte. Sämtliche Aspekte seiner Lage kannte ich besser als er: Wir beide waren Ausgesetzte und Vergessene. ES hatte den vierarmigen Schwarzhäutigen als Gefahr für Larsaf Ill definiert; ich zögerte, mir diese Ansicht zu eigen zu machen. Sinnend trank ich einen Schluck kühles Gubal-Bier und wischte den Schaum von der rasierten Oberlippe. »Über ein namenloses Meer, durch eine namenlose Meerenge und einen namenlosen Ozean zu ebensolchen Inseln«, sagte ich. »Wenigstens die GOLDENE ZEDER ist von Wesen mit bedeutungsvollen Namen bevölkert.« »Nun kennst du deinen Gegner, Acran-Atlan.«
»Ich kenn’ ihn noch lange nicht. Aber ich weiß, wo er sein Unwesen treibt. Als einziger. Proteos wird uns führen, wenn wir den Weg verlieren.« »Und der Gleiter wird nach der ZEDER-Landung bereit sein«, sagte Rico. Ich legte meine Hand auf den zylindrischen Kartenköcher. Sämtliche Inseln und Küstenlinien zwischen dem fruchtbaren HapiMündungsdreieck und jenen Inseln, auf deren einer – namenlos! – der Fremde aus einer uralten kultischen Anlage ein Observatorium machte, hatte Riancor auf Höhenphoto-Karten halbplastisch gedruckt. Ich leerte den Becher und sagte: »Deine Sonden beobachten Ternal weiter. Ich kann die Bilder abrufen. Es wird Zeit, wieder zu meiner einzigartigen Mannschaft zurückzugehen.« Diesmal konnte ich mit Rico und somit mit der gesamten Ausrüstung der Überlebensstation kommunizieren. Ich konzentrierte mich auf die Ansicht der Ebene, der Dörfer und des Raumschiffswracks; Asyrta sollte mich in ihrer Nähe finden, wenn sie im Heck der ZEDER aufwachte. 14. Schon des Krückenmachers erstes Schiff war ein Meisterwerk gewesen; die GOLDENE ZEDER war eine Klasse besser. Wind und Wellen waren ihre besten Freunde, sie schwamm wie eine Möwe, segelte wie ein Sturmvogel und gehorchte Ruder und Segel, als hätten alle Wasser- und Luftgötter beim Bau geholfen. Uns allen bot sie, trotz Ballast, Proviant und Ausrüstung, mehr als genügend Platz. Wir liebten das Schiff, und auf dem ersten Teil der Fahrt, bis zum heutigen Tag, hatte sich die ZEDER geradezu bewundernswert gehalten. Steuermann Cheper verschmolz mit seinem Ruder und hatte jede Herausforderung angenommen. Gegenwind und Sturm, Dünung und Windstille, Wellen und Felsriffe hatten wir ohne Gefahr hinter uns gelassen. Nächte auf dem Meer, in menschenleeren Buchten, vor Anker oder auf den Sand
hochgeschoben, Tage voller steifem Wind, in denen wir überraschend weite Strecken zurücklegten. Jetzt befanden wir uns am westlichsten Ende des Oberen Meeres, nicht weit von der Meeresenge entfernt, die in den westlichen Ozean hinausführte. »Kann es sein, Atlan, daß wir zwei Ufer sehen werden?« fragte Cheper. Wir hatten uns bisher am Rand des großen Kontinents gehalten, der für uns hier an der Passage endete. »So wird es sein«, erwiderte ich. »Erinnere dich an die Karte, die wir gezeichnet haben.« Wir waren von Byblos aus gegen Westwind zum Delta gefahren, hatten dort kreuzen müssen, aber dann segelten wir tagelang mit ablandigem Südwind und Wind aus dem Osten entlang einsamer Strände. Jede Art Landschaft war an uns vorbeigezogen: Sümpfe, Felsklippen, endlose Sandstrände, bewaldete Hügel, Ausläufer der großen Wüste, grünes Land und gelbes Land, das unter der Sonne schneeweiß wurde. Bald würden wir unsere Richtung zum erstenmal nach Norden ändern. »Du hast recht. Es ist die längste Fahrt, die je ein Kapitän unternommen hat, Atlan!« »Abermals richtig. Sie wird noch länger werden.« Aus unseren Erfahrungen hatten wir eine Karte beschriftet. Ich sorgte dafür, daß die Proportionen ungefähr gewahrt blieben. Einfache Zeichen schilderten die günstigsten Anlegeplätze, riesige Syrten und Buchten. An manchen Tagen erkannten wir Rauchsäulen von Feuern; in sternklaren Nächten bemerkten wir lodernde Feuer in Küstennähe, mit denen Piratenvölker hilflose Segler auf die Klippen lockten. Horus, der robotische Seeadler, erkundete das Gebiet. Unsere Vorräte gingen zur Neige; wir mußten jagen, tauschen, auffüllen. »Wann, denkst du, werden wir auf jener fernen Insel im Norden sein?« fragte Cheper. Er war, seit wir mit Proteos zusammengetroffen waren, verändert: Er wußte, daß wir Sklaven eines mächtigen Unsichtbaren blieben. »Weniger als zwei Monde, wenn nichts Unvorhergesehenes geschieht.«
»Was sollte passieren? Uns? Zwanzig mutigen und starker Männern?« fragte er knurrend. »Alles ist möglich. Von Schiffbruch bis Sklaverei. Und Schlimmeres.« Wir fühlten uns inzwischen nicht mehr als Küstenfahrer, die jede Nacht am Strand zubrachten. Wir waren echte Seeleute geworden. Braungebrannt und sehnig, wir trugen nur noch Sandalen und Lendentücher. Wilde Bärte sprossen, Salz und Sand trockneten auf der Haut. Wir waren gesund, gutgelaunt und in glänzender Form. Seit einem vollen Mond hatten wir keinen Menschen gesehen. Unser Versuch, die Küste im Norden zu erreichen, sollte auch die Möglichkeit prüfen, dort einige wagemutige Besatzungsangehörige zu finden. »Wir haben noch einen halben Tag«, sagte ich nach einer Weile, in der ich Meer, Himmel und das Ufer beobachtet haste. »Was soll geschehen?« »Wir fahren weiter nach Westen. Wenn wir den ersten Blick auf das Nordufer haben, drehen wir in die neue Richtung. Einverstanden?« ES hatte in einer Nacht zugeschlagen. Wir waren in einer Bucht beim Auswerfen des Ankersteins überrascht worden. Übergangslos schliefen wir ein; vermutlich eine Nacht lang, vielleicht zwei, schliefen wir tief und lernten eine unbekannte Sprache. Ich hatte die verwirrten Männer darüber aufgeklärt, was dies bedeutete. Sie waren an die Wunder meiner Ausrüstung gewöhnt, sie waren Kinder eines Jahrtausends, das überall Götzen witterte, ein gewaltiges Pantheon von Göttinnen und Göttern anbetete: Für sie war es weder verwunderlich, daß sich ein Delphin in einen schwarzschuppigen Kobold verwandelte, noch verblüffte es sie, daß sie über Nacht eine neue Sprache gelernt hatten. Nur über den Umstand, daß sie eine neue Fähigkeit besaßen, ohne gemerkt zu haben, wie der Lernvorgang ablief, waren sowohl Ka-aper wie auch Kasokar, der Schrecken großer Fische, erschrocken. »Einverstanden. Ich freue mich schon auf die Wellen, von denen du erzählt hast, daß sie höher sind als die ZEDER.«
»Darauf, Cheper«, murmelte ich grimmig, »würde ich mich an deiner Stelle nicht gerade freuen.« »Es war langweilig in den letzten Tagen«, versicherte er mit breitem Grinsen. Ich starrte ihn fassungslos an, dann schüttelte ich den Kopf. Diese Einstellung zum Abenteuer hatten sie alle. Da ich kaum Informationen über den Gegner besaß, da Horus’ Instrumente nicht so weit trugen, konnte ich keine klare Meinung dazu haben. Ich zog es vor, skeptisch zu bleiben. »Vielleicht werden wir uns noch wünschen, eine solch langweilige Fahrt unternehmen zu können, wenn wir mit allem fertig sind.« Die Mannschaft kannte die zurückgelegte Strecke und jeden markanten Punkt an Land. Ich schärfte ihnen ein, daß wir das erste Schiff waren, das sich so weit von Gubals Küste und den Zedernwäldern entfernte. Wir erschlossen eine neue Fahrtroute nach Westen, und von dort aus in andere Teile der bewohnten Welt. Sie wußten es; irgendwann würden uns Schiffe folgen. Es würde keine Jahrhunderte mehr dauern. Sie waren stark und neugierig, erfüllt von lasziver Gier nach Besitz und Macht, nach Einfuß, aber nicht mit der Kraft der Waffen, sondern mit der besseren Durchsetzungskraft des Handels. Dieser Impuls würde sie vorwärtstreiben. Zunächst mit kleinen Schritten und fremden Schiffen, später mit eigenen Schiffen, die so ähnlich gebaut sein würden wie unsere tüchtige ZEDER, deren Verbände noch immer dicht waren und keinen Tropfen Wasser durchließen. All das ging mich nichts mehr an. Mein Blick war nach vorn gerichtet, zu jener namenlosen Insel im Norden. Asyrta hielt sich am hochgezogenen Bug rechts und links des auslegenden Bugspriets fest. Das Schiff schien unter unseren Sohlen zu leben. Wir lächelten uns an, dann fragte Asyrta leise: »Wann werden wir wieder mit diesem widerwärtigen Geschöpf zusammentreffen?« Deutlich sah ich die Gänsehaut auf ihren nackten Armen. Ich wußte, daß ihr Abscheu vor diesem Verwandlungskünstler nicht mehr zu überbieten war. Es grauste ihr, wenn sie an ihn dachte; selbst seine Gestalt als Delphin vermochte sie nicht zu beruhigen.
Bei jedem spielenden Delphin dachte Asyrta an Proteos. Ich hob die Schultern und antwortete: »Ich weiß es nicht. Aber ich bin sicher, daß er bald auftauchen wird.« »Ich fürchte es.« Bis hierher hatte er uns geführt. Stets hatte mich Proteos überrascht, meist dann, wenn ich nicht allein war. Die einzelnen Punkte und Richtungsänderungen hatte er angegeben, als Bote von ES. Wir würden bis zum Ende der Reise nicht von ihm loskommen. Irgendwo dort vorn, unsichtbar unter winzigen weißen Schaumkämmen der Wellen, schwamm der häßliche Verwandler. »Wir wissen nicht, wer und was auf uns wartet?« Asyrta legte ihren braunen Arm um meine Schultern. »Nicht genau. Ein Wesen aus einer fremden Welt.« »Wann werden wir es erfahren?« »Ich weiß es nicht. Ich schätze, nachdem wir die Meeresenge passieren.« »Aber Cheper und Ka-aper sagten, daß wir noch am Festland landen werden?« »Ja, richtig. Vielleicht treffen wir noch ein paar Verrückte. Sie sollen mit uns kommen…« »… und kämpfen?« »So ist es«, sagte ich. Wieder waren meine Freunde zu Marionetten geworden. Oder waren wir niemals aus seinem Griff entlassen worden? Unsere scheinbare Freiheit hatte uns verwöhnt und die Knechtschaft nicht störend werden lassen. Eine Illusion. In Wirklichkeit kämpften wir für ES um diesen Planeten, der ihm wichtig zu sein schien. Denk daran, daß du geschworen hattest, der Wächter von Larsaf Drei sein zu wollen, flüsterte der Logiksektor. Das stimmte; andererseits war der Umstand, daß ES gewisse Teile meiner Erinnerung sperrte und stets schmale Ausschnitte freigab, wenn es für den Erfolg notwendig war, für mich entspannend. Nur derjenige, der in Unwissenheit gehalten wurde, konnte ein entschlossener, von keinerlei Skrupeln geplagter Kämpfer werden.
»Werden wir überleben, nach Gubal zurückkehren?« fragte Asyrta. Ich hatte auf diese Frage schon lange gewartet. Ich beantwortete sie so ehrlich wie möglich. »Ich bin sicher, Liebste, daß wir kämpfen und gewinnen. Wenn wir gewinnen, werden wir auch wieder zurücksegeln. Aber ich will dir nicht verschweigen, daß ich sehr besorgt bin. Erst wenn wir den Gegner sehen, werde ich sagen, wie hoch die Chancen sind. Vielleicht kehren wir auch zu Rico zurück, unter die Kuppel.« Die ZEDER glitt weiter, auf vorbestimmtem Kurs, nach Nordwesten, da wir gegen den Wind kreuzten. Heute nacht würden wir nicht an Land gehen. Morgen mußten wir landen, well uns die Nahrungsmittel ausgingen. Nichts änderte sich, aber die Mannschaft war zusammengewachsen. Meine unbeabsichtigte Stellung war anscheinend vergessen; ich war Wichtigster unter Gleichen geworden. In der folgenden Nacht drehte der Wind, und Cheper steuerte geradewegs nach Norden. Mir war, als würde ich die riesigen Wellen des Ozeans zu meiner Linken sehen, aber dies war nur ein Trugschluß. Gegen Morgen hörte ich zwischen den Pinien ein trockenes, hartes Knacken. Ich schlief tief und fest, aber die Erwartung unbekannter Gefahren hatte meine Sinne geschärft. Ich öffnete die Augen; vom Achterdeck aus, wo Asyrta und ich auf Fellpolstern lagen, sah ich die winzige Bucht. Graue Blässe erfüllte den Raum zwischen den Baumstämmen. Ich konnte am Boden die Schlafenden sehen. Sie hatten ihre Waffen in Griffnähe. Vom Rest des Feuers ging ein feiner Rauchfaden aus und kräuselte sich in Höhe des Hügelkamms, unter dem die Bucht lag. Das Gluckern der winzigen Quelle schien aufgehört zu haben. Ich tastete nach meinem langen Dolch, dem getarnten Strahler. Horus? sagte mein Logiksektor. Ich starrte über die Zedernholzbordwand und beobachtete die Männer. Sie schliefen. Auf dem Meer glänzten die ersten Wellenspitzen. Die Strahlen der Morgensonne fielen parallel zur Wasseroberfläche ein. Meine Augen versuchten, die Räume zwischen den Stämmen zu durchdringen. Eine dunkle Gestalt schob sich heran, schräg den Hang herunter. Wir hatten gestern abend einen Tierpfad zur Quelle gesehen, aber er trug nur die Abdrücke
kleinerer Tiere. Jetzt waren es wuchtige Tritte, die auf dem weichen Boden aus abgeworfenen Nadeln zu hören waren. Ein großes Tier kam vorsichtig zur Quelle, es witterte die Männer. Ich erhob mich geräuschlos und entsicherte den Dolchstrahler Das feine Knacken ging in den Geräuschen der Brandung unter. Zwischen dem Schilf sah ich den Eindringling, einen jungen Stier mit ausladendem Gehörn und mächtigem, zottigem Brustfell. Er wurde vom Durst vorwärtsgetrieben; undeutliche Witterung schien ihn zu warnen. Ich legte den Strahler auf die Holzkante, dicht neben dem Schaft des Ruders, dann zielte ich sorgfältig. Unschlüssig mit dem eckigen Kopf pendelnd, tappte das Tier weiter auf die schlammige Fläche um die Quelle zu. Ich hielt den Atem an und überlegte: Dieses Tier würde Fleisch für rund einen Mond bedeuten, ohne daß wir auf die Jagd gehen mußten. Der Bulle blieb neben dem Wasser stehen. Als er endlich den Nacken beugte, um zu trinken, feuerte ich. Ein langer Spurstrahl zuckte hinüber. Ein krachender Donnerschlag riß die Männer hoch. Kopf und Gehörn des wilden Rindes lösten sich in einer lauten Detonation auf, der Körper sackte zusammen, knickte ein und überschlug sich im Schlamm. Dann rutschte er und route den Hang abwärts. Die Romet-Soldaten hielten ihre Speere und Schilde in den Händen, als die blutüberströmte, schwarze Masse über den Felsen stürzte und auf den Sand fiel. »Unser Braten für die nächsten Viertelmonde!« rief ich und winkle. Von allen Seiten rannten und sprangen Männer auf den toten Bullen zu. Ich grinste breit und half Asyrta auf die Beine. Als ich den Kopf hob, sah ich, wie der am weitesten oben stehende Mann, ein Soldat, zusammenzuckte, mitten im Laufen zur Seite gerissen wurde und sich mit der rechten Hand an die linke Schulter griff. Im Schultermuskel steckte ein Pfeil. Ich schrak zusammen. Jäger greifen an! sagte der Logiksektor. »Achtung! Über euch! Eine Gruppe Jäger!« schrie ich, so laut ich konnte. Dann bückte ich mich und tauchte auf, den Lähmstrahler in der Faust. Ich suchte mein Ziel; von hier aus sah ich die Umgebung aus einem anderen Winkel und von überhöhtem Standort. Sechs Gestalten sprangen zwischen den Pinienstämmen auf unsere Männer zu. Wieder zischte ein Pfeil durch die Luft und bohrte sich
tief in den Sand. Die Romet, unter ihnen Siren, rannten auseinander, zurück zu den Waffen, schnell gingen sie hinter Felsen und Baumstämmen in Deckung. Ich schoß den Lähmstrahler auf die erste Gestalt ab, die ich deutlich sehen konnte. Der Mann breitete die Arme aus, schrie und brach bewußtlos zusammen. Ein Soldat schmetterte einem anderen den Schaft seines Speeres gegen den Hinterkopf. Wieder feuerte ich und betäubte einen Mann, der seinen Speer in Sirens Richtung schleudern wollte. Der Speer fiel zwischen seine Schienbeine, der Jäger route, sich überschlagend, die letzten Schritte aus dem Wald auf den Sand der Bucht. Zwei Männer zerrten einen Jäger aus einem Gebüsch; als der fünfte flüchten wollte, traf ich ihn in den nackten, von Schrammen bedeckten Rücken. Ich blieb wachsam stehen und suchte das Waldstück nach Bewegungen oder Schatten ab. Ganz rechts bewegte sich etwas hinter den dunklen Stämmen. Ich bündelte mit einer Drehung des Handgelenks den Strahl der Waffe enger und schoß. Ich traf den letzten Jäger, als er hinter einen moosüberwachsenen Felsen springen wollte. Mitten im Sprung wurde er getroffen, zuckte zusammen und kollerte langsam abwärts. »Siren! Ancantas! Hinter euch!« schrie ich. Sie fuhren herum und entdeckten den Bewußtlosen. Asyrta sah mich mit verwundertem Kopfschütteln an. »Warst du als einziger wach, Liebster?« Sie sah zu dem Haufen der Männer hinüber, die unsere Gefangenen entwaffneten. »Warum kämpfen sie?« »Ein Geräusch hat mich geweckt! Der Stier trat auf einen Ast, und die Männer waren auf der Jagd. Hinter diesem Stier. Nun wollten sie sich die Beute zurückholen. Ich kann’s verstehen.« Ich schloß die Schnalle meines Gurtes, der den Lendenschurz hielt, dann nahm ich den Dolch zwischen die Zähne und sprang vom Schiff. Zwölf lange Schwimmzüge, und ich hatte Sand unter den Sohlen. Triefend kam ich ans Ufer und lief auf Ka-aper und Kasokar zu. Sie drehten die Köpfe, der Anführer der Soldaten fragte mit hochgezogenen Brauen: »Sollen wir ihnen die Kehlen durchschneiden, Atlan?«
»Du bist voreilig mit solch endgültigen Dingen.« Ich wischte Salzwasser aus dem Haar. »Sie werden es vorziehen, mit uns zu rudern. Bindet sie ein wenig, ja?« »Und dieses Tier?« Ich grinste und sah zu der regungslosen schwarzen Masse hinüber. Ich deutete auf den Kadaver und sagte: »Meine Beute. Ich will ihn allein braten und essen.« »Dann wirst du auch allein Holz sammeln und den Spieß drehen.« Siren grinste ungerührt. An Schlaf war nicht mehr zu denken, obwohl wir müde und übernächtigt waren. Also fingen wir zu arbeiten an. Ich begann, die Schulterwunde des Freundes zu behandeln. Wir schleppten unsere Krüge und Schläuche zur Quelle, wuschen sie und füllten sie mit frischem Wasser, holten Holz, bauten Dreiecksstützen und entzündeten das Feuer; ein paar von uns schlugen das Tier aus dem Fell. Ich sah mir die handwerklich hervorragenden Waffen der Jäger an. Drei Stunden später drehte sich der Braten über dem Feuer. Fleisch und Fisch verdarben schnell, wenn man sie nicht kochte und briet. In meinen Überlegungen reifte ein Gedanke, als ich Horus von seinem Erkundungsflug zurückkommen sah. Er schwebte herunter, schlug mit den Schwingen und setzte sich behutsam auf meinen rechten Unterarm, mit eingeschalteten Antigravelementen, sonst hätte ich ihn nicht lange halten können. »Du nutzloser Herumtreiber«, sagte ich laut und entfernte tote Insekten von seinen Mehrfachlinsen. »Du bist nie da, wenn man dich braucht.« Horus hatte einen begrenzten, aber brauchbaren Wortschatz; ein Teil unseres Kommunikationssystems. »Nicht weit. Rauch. Häuser. Menschen. Ungefährlich«, krächzte er in meiner Sprache. In einiger Entfernung gab es ein Jägerlager, in dem vermutlich nur Jungen und Frauen zu finden waren. Ihre Männer lagen hier, gefesselt und wieder erwacht. Sie starrten uns mit furchterfüllten Augen an. »Ich werde nachsehen.« Ich machte eine deutliche Bewegung. »Hinüber zum Schiff. Hol den Bildschirm.«
Horus gehorchte; ein Jäger schrie vor Schrecken und Verwunderung laut auf. Mit dem glänzenden Schild in den Krallen kam er zurück, rüttelte direkt über mir in der Luft und strich ab; ich hatte ihn in Richtung des Lagers geschickt, um deutliche Bilder zu bekommen. Ein wenig später saß ich im Schatten einer kleinen Pinie, abseits von meinen Freunden, zwischen Wellen und Buschwald. Ich starrte in den stumpfen Spiegel des Bildschirms und steuerte mit Schalterdruck meines Sehnenschutzes den Vogel. Ich sah ein Lager von vierzig Personen, das zu einer wandernden Jägergruppe gehörte. Kleine Anpflanzungen von Erbsen, Getreide und Bohnen sagten mir, daß sie sich an der Schwelle der Seßhaftigkeit befanden. Einige fischten in einem breiten Bach, andere gingen den Arbeiten des Tages nach. Wie die sechs Männer hier: braunhäutig, braunhaarig und ausnahmslos muskulöse, aber nicht untersetzte Gestalten mit Stein- und Bronzewaffen. Also mußte es hier irgendwo Kupfer geben und Zinn, das ohne viel Aufwand gehoben werden konnte. Gerth kam auf mich zu, einen Kessel und einen ledernen Packbeutel in den Händen. »Störe ich?« Ich hob den Kopf und sagte lachend: »Selten störst du, Krückenmacher; das soll wohl eine Aufforderung sein, mich zu rasieren?« »Ich jedenfalls finde meinen Bart zu lang«, sagte er entschieden. Er zog eines meiner Messer heraus, aus hochgeschliffenem Arkonstahl, schmierte den Bart mit einer Seife ein, die wir in Byblos gekocht hatten, hängte einen hochpolierten Metallspiegel an den untersten Ast des Baumes und begann hingebungsvoll zu arbeiten. Ich studierte die Bilder, die Horus lieferte. »Wie sieht es aus? Scheinen sie unsere Kämpfer zu sein, Jäger?« murmelte Gerth. Ich hatte einen Vorrat meiner Enthaarungscreme, die mir von Rico ins Gepäck mitgegeben worden war. »Möglich. Sie sehen flink aus und gut genährt.« Wir wußten kaum wie sehr sich die Gebiete im Norden von denen am südlichen und nördlichen Ufer des großen Binnenmeers unterschieden. Sicher brannte dort die Sonne nicht so stark; bei einer
niedrigeren Durchschnittstemperatur konnten wir eine andere Fauna und Fora erwarten, trotz Ricos perfekten Karten. Gerth, Siren, Ka-aper, Cheper und Kasokar, fünf der besten Männer, jeder auf seine Art hervorragend, nicht kennzeichnend für die Mehrheit der Menschen, die in vielen Teilen der Welt in der Steinzeit lebten. Diese Männer glaubten nicht mehr, daß in jedem Blitz und in jedem Regen sich eine Gottheit äußerte; sie glaubten an sich selbst. Das machte sie so stark und klug. Darüber hinaus besaßen sie eine Überzeugung, die sie gerecht und vernünftig bleiben ließ. »Dort vorn«, – er schnippte mit dem Messer Haar und Seifenschaum auf den Waldboden –, »springt ein Delphin besonders auffällig in die Luft. Ich denke, dieses Scheusal taucht wieder auf.« Hin und wieder verblüfften sie mich, meine Freunde. Ohne besonders auf den kleinen Delphin zu achten, rasierte sich Gerth weiter. Hinter seinem Rücken sahen wir unsere Leute braten, arbeiten, sich oder ihre Kleidung waschen, Waffen nachsehen, Arbeiten am Schiff ausführen, das wir ganz nahe an den Strand herangezogen hatten. Ich rief Horus zum Schiff, schaltete den Bildschirm ab und stand auf. Mit drei Schritten war ich dort, wo die Wellen einen nassen Sandstreifen hinterlassen hatten. Wer oder was war Proteos? In den halben Dutzend Malen, in denen der Gnom aufgetaucht war und mit uns gesprochen hatte, konnte ich folgendes erfahren: Er war von den Sternen gekommen, und ich hatte auf Keftiu seine Gefährten getötet. Wenn ein Intelligenzwesen wie er, langlebig und verwandelbar, trotz der langen Zeit noch lebte, hatte er einen hohen Überlebensfaktor. Was wußte ich noch? ES benutzte ihn als Boten und als Orakel, um uns über eine lange Seereise zu lotsen, die zu einer nördlichen Insel führte. Offensichtlich war Proteos ein Wesen des Wassers, aber er konnte sich auch in einen Vogel verwandeln, wenn es sein mußte. Sonst wußte ich, daß niemand, der ihn in seiner Gnomengestalt aus dem Wasser hatte kommen sehen und seine schrille Kinderstimme gehört hatte, auch nur den geringsten Funken Sympathie für ihn empfand. Vor uns kam plätschernd der runde, mit tangähnlichen Lappen verzierte Kopf aus dem Wasser.
»Gegrüßt, kühne Meeresfahrer«, sagte er mit kindlicher Stimme und riß sein breites Maul auf. »Ich komme mit einer neuen Botschaft. Du, Atlan, sollst Gubal vergessen. Deine Arbeit dort ist getan und vorüber, sagt ES.« Gerth und ich warfen uns einen überraschten Blick zu. So ausschließlich hatte dieses Herrscherwesen seinen Befehl noch nie formuliert. Das ließ darauf schließen, daß ich nach diesem Einsatz zum Schutz des Planeten wieder deponiert wurde, bis ein neues Problem anstand. Und Asyrta? Triefend und sich schüttelnd tauchte Proteos gänzlich auf. Diesmal besaß er keine Arme und Hände, sondern zwei Polypenarme, die schlangengleich umherfuchtelten. »Und sonst?« knurrte ich. »Ihr seid kurz vor der Grenze zwischen Binnenmeer und Ozean, wie ihr wißt, eine Meeresenge. Durchstoßt sie und wendet euch nach rechts, nach Norden. Ihr werdet genügend Strände finden, Frischwasserquellen und jagdbare Tiere. Folgt der Küstenlinie. Zuerst nach Norden, dann springt sie zurück nach Osten, dann weist sie abermals nach Norden. Ich werde euch führen.« Er tauchte hinunter, schwamm einen Kreis und kam an die Oberfläche zurück. Er grinste wie eine Muräne. »Hihi«, machte er wieder und fuhr fort: »ES will, daß ihr eine Handvoll jener Jäger mitnehmt. Überleben sie, dann werden wieder kulturelle Kontakte hergestellt. Der Fremde ist im Begriff, ein heiligtumähnliches Observatorium zu bauen. Er knechtet verängstigte Eingeborene. Die Gefährdung dieser Welt ist, daß dieses vierarmige Monstrum Hilfe herbeirufen will. Hilfe kann aber nur mit Raumschiffen geleistet werden. Mehrere solcher Ungeheuer mit ihren Raumschiffen würden Larsaf Drei vielleicht kolonisieren. Dies will…« Wieder tauchte er hinunter, schob sich aus dem Wasser, schüttelte Tropfen ab und sprach weiter. »… ES verhindert wissen. Das Ungeheuer ist mit einem Sternenschiff gelandet. Dieses Schiff ist nicht mehr fugfähig; innerlich zerstört. Ihr müßt dieses Wesen töten, obwohl es fast untötbar ist. Studiert das Problem, ehe ihr etwas versucht. Der Fremde kann euch mit geringem Aufwand töten. Er ist gefährlicher
und schneller als alles, was du kennst. Auch ES kann Katastrophen nicht vorausberechnen hütet euch, seid klug und besonnen, sagte ES.« Für kurze Zeit verschwand er in seinem Element, tauchte auf und wedelte mit schleimbedeckten Tentakeln. »ES befiehlt euch, schnell zu segeln. Ihr habt Zeit, aber verfügt nicht leichtfertig darüber. Wenn ES mich wieder zwingt, euch etwas zu befehlen oder zu erklären, weiß ich, wo ich euch finde. Ich treibe mich hier herum; nette Gegend unter Wasser.« Er kicherte, winkte mit seinen Tentakeln und verschwand. Ich schüttelte mich, und Gerth rammte mit einem geknirschten Fluch sein Messer in den Stamm. »Jetzt wissen wir’s«, knurrte er. »Ich verstehe nichts.« »Mir geht es nicht viel anders«, sagte ich. Immerhin wußten wir genau, welchen Kurs wir in den nächsten Tagen zu segeln hatten. ES schien uns auch an einen Platz gelotst zu haben, an dem wir die fremden Jäger treffen mußten. Ich wußte, was ich zu tun hatte, lehnte meinen Schild an den Stamm und brummte: »Krückenmacher, wir gehen schweren Zeiten entgegen! Ich ahne, daß nicht alle an Bord der ZEDER wieder nach Gubal zurückkommen werden.« Auch er hatte inzwischen weniger Illusionen und ließ sich von der trügerischen Leichtigkeit unserer Fahrt nur wenig beeindrucken. Hinter seinem optimistischen Naturell verbarg sich ein Mann, der viel erlebt und aus vielem die Wahrheit gezogen haste. Er nickte schwer. »Das glaube ich auch. Es wird schmerzlich werden, Atlan. Und für mich ist am schmerzlichsten, daß du offensichtlich nicht mehr nach Gubal zurückkehren wirst. Dein Götze ist ein furchtbarer Herr.« »Er ist es«, bekannte ich. »Und es gibt kein Mittel ihm zu entgehen.« Wir brauchten nicht länger darüber zu sprechen. Nachdem wir gegessen, einen Teil des Schiffsrumpfes von Seepocken befreit und die üblichen Arbeiten beendet hatten – dazu gehörte auch, den übriggebliebenen Braten aufzuteilen und in feuchte Tücher
einzuschlagen – , versenkten wir die rohen Fleischbrocken in das Salzwasserfaß und wandten uns den sechs Jägern zu, die uns mit schweigender Neugierde und Verwunderung zugesehen hatten. In der Morgensonne warf unser Segel einen riesigen Schatten auf den Sand. Wir waren zweiundvierzig Menschen auf dem Schiff, als wir schräg die Meeresenge gegen starke Wellen und mit ungünstigem Wind durchschnitten. Vor uns lag das fremde Meer; schon erkannten wir den Unterschied. Es waren wenige greifbare Beobachtungen: Die Wellen schienen höher, die Abstände zwischen den Schaumkronen weiter, die Farbe begann ins Grünliche zu wechseln. Auch roch es anders, als wir den großen Felsen steuerbords umrundeten und die Küste des Landes aus den Augen verloren. Sechs Jäger hatten sich uns angeschlossen. Freiwillig, nachdem wir sie aus den Fesseln befreit hatten. Cheper betrachtete sie noch immer mit deutlicher Skepsis. Mit weitaus mehr Wohlwollen ruhte sein Blick auf den zwei jungen Frauen, die es riskiert hatten, aus dem Sippenverband auszubrechen und sich den Männern anzuschließen. Sie schienen dieselbe Menge Abenteuerblut wie wir zu besitzen. Wir konnten in den Unterhaltungen mit ihnen jene Sprache, leicht verändert und mit fremdartigen Begriffen durchsetzt, die wir im »Schlaf gelernt« hatten, gut benutzen. Das Schiff war mit Proviant bestens ausgerüstet. Horus flog voraus und erkundete den sichersten Weg entlang der Steuerbordküste. Zwei Jäger hingen auf der windabgewandten Seite des Schiffes halb über Bord und spien sich die Seele aus dem Leib. »Ich habe das düstere Gefühl«, Asyrta sprach gegen das Pfeifen des Windes, »daß viele von uns dem sicheren Tod entgegensegeln.« Auch die Luft schien kühler geworden zu sein; wir nahmen die erste ozeanische Welle und sausten auf dem Wellenhang abwärts. Die lange Rah ächzte, das Schiff erzitterte in allen Verbänden. »Mag sein«, erwiderte ich. »Aber ein Aspekt des Zukünftigen ist, daß es keine Sicherheiten gibt. Nur Wahrscheinlichkeiten.« Cheper lachte in seinen kurzen Bart hinein.
»Die Wahrscheinlichkeit, daß des Krückenmachers Schiff die Reise aushält, ist groß. Ich sage es, Atlan.« Wir segelten einen Kurs, der uns ungefährlich erschien. In Sichtweite des Ufers, aber sicher vor Untiefen und plötzlich auftauchenden Felsen. Für die weitere Fahrt war es ausgemacht, daß wir uns immer die Möglichkeit freihielten, die Nacht an Land zu verbringen. In mondhellen Nächten konnten wir eine Nacht durchsegeln; da wir nie lange ununterbrochen segelten, bedeutete dies für den Unterwasserrumpf, daß es kaum Bewuchs gab. Das Holz wurde immer wieder der warmen Luft ausgesetzt; außerdem hatten wir bronzene Beschläge angebracht und die Planken mit dem Öl des Erdpechs getränkt. »Das Schiff wird’s aushalten, und wir halten es ebenfalls aus«, sagte ich entschieden. »Zuerst einmal segeln wir nach der Karte auf völlig neuem Kurs entlang fremder Küsten.« Jeder war unruhig und gespannt. Keiner kannte diesen neuen Ozean und seine Eigenschaften. Die Küsten waren unbekannt – bis auf die Bilder des Vogels. »Du sagst es, Atlan. Noch niemals war ein Kapitän so wagemutig, in diese unbekannte Ferne vorzustoßen«, rief Cheper begeistert. Ich kannte ihn als Mann, der das Risiko wohl abzuschätzen verstand und sich sagte, daß eine Portion Angst der bessere Teil der Kühnheit war. Seine Selbstsicherheit wuchs mit der Entfernung der ZEDER von der Küste. Offensichtlich waren zwei Erlebnisse mitentscheidend für seine Einstellung: die Fahrt mit der völlig seeuntüchtigen LOB DES HERRSCHERS und die Reise mit Gerths erstem Schiff. Die Fahrt ins Ungewisse, die wir jetzt unternahmen, gefiel ihm: Hier und heute forderte Cheper, der Romet, der längst über die Grenzen seines Vaterlandes hinausgewachsen war, das Schicksal und das Abenteuer heraus. Er lächelte mich und Asyrta an, dann richtete er seine Blicke auf den Horizont vor uns. »Wir wissen eigentlich selbst nicht, was wir wagen.« AsyrtaMaraye bewegte sich auch auf den Planken der ZEDER wie eine
Katze. »Und well wir keine Angst haben, werden wir dieses Abenteuer überleben. Aber… vielleicht nicht jeder von uns.« »Daran, teuerste Freundin«, sagte Ka-aper, »ist durchaus etwas Wahres.« Es gab für mich keinen Zweifel, daß die junge Frau aus dem Hapiland schon vor dem Sklavenmarkt von ES für ihre schwierige und langwierige Aufgabe ausgesucht worden war. Groß, schön und schlank, die kluge Gefährtin vieler Abenteuer, die Sprachen und fremde Sitten ebenso schnell begriff wie die Herzen und die Wünsche der Menschen, die wir trafen, die unsere Wege kreuzten. Kam sie mit mir zurück ins kalte Unterwasserversteck, wenn wir diesen schwarzen Fremden besiegt hatten? Es bestand kein Zweifel, daß wir uns liebten und die besten Freunde waren; auch sie wußte nicht wirklich, woher sie kam und wohin sie ging. Ihre Zeit an der Seite eines Hüters der Menschheit würde ES hoffentlich dazu bewegen, ihr Leben würdig enden zu lassen, nach vielen guten Jahrzehnten. Obwohl ich fast wieder wie ein Barbar dachte und handelte, wuchs meine Sicherheit, daß wir das Problem am Ziel unserer Fahrt lösen konnten. Was geschah mit uns, wenn wir aus dem kalten Norden wieder zurücksegelten? Wohin verschlug ES uns? Ich lehnte mich über die Bordwand und starrte ins schäumende Kielwasser. »Es wird viele Tage dauern, bis wir ernsthaft über das Ungeheuer nachdenken müssen.« Siren kletterte auf die Heckplanken, stellte sich neben mich und warf den Eingeborenenfrauen lange Blicke zu. »Und bis zu diesem Tag schärfen wir unsere Waffen«, sagte ich. Asyrta warf mir einen nachdenklichen Blick zu. Siren zeigte ein mürrisches Gesicht. Dieser Teil der Aktion mißfiel ihm gründlich. Es gab nichts zu handeln, es bestand keine Möglichkeit für gewinnbringende Intrigen, und die Mädchen zeigten kein Interesse an seinem Kahlkopf und seinen gelben Zähnen. »Wir überleben nur«, sagte Siren; er hatte meine Frage richtig gehört und verstanden, »wenn wir dort, wo wir ankommen, Menschen finden und keine Wilden, mit denen man nicht einmal über ihre übel riechenden Weiber verhandeln kann.«
Seine sarkastischen Äußerungen trafen. Je mehr wir uns der Insel näherten, desto mehr vermißten wir die lebensvolle Umgebung unserer Heimat. Was erwartete uns wirklich… abgesehen vom Kampf? »Warte zwanzig Tage oder länger«, sagte Cheper. »Dann weißt du mehr. He, Otung – ist dir noch immer schlecht?« Otung war der Anführer der Jäger. Er stand mit zitternden Knien auf Deck und klammerte sich ans Tauwerk des Mastes. Noch immer litt er unter der Seekrankheit. »Ich sterbe«, schrie er zurück. »Ich fürchte mich vor diesem Fluß ohne Ufer. Mein Bauch ist in meine Gurgel gewandert!« »Er wird wieder zurückwandern.« Ich grinste ihn an. »Zweihundert Tage und Nächte auf See, und du wirst alles überstanden haben. Dann bist du sicherlich ein Jäger ohne Furcht.« Er schnitt eine Grimasse und starrte hinauf in die Wolken. Bisher hatten sich die Jäger stets bewährt, wo immer es Arbeit gab. An Land waren sie schnell und ständig bemüht, frisches Fleisch herbeizuschaffen, mit bestem Erfolg. Aber zu behaupten, sie wären hervorragende Seeleute, wäre eine Lüge gewesen. Langgestreckte Wellen hoben und senkten das Schiff. Der Wind trieb uns nach Norden; wir kreuzten in langen Schlägen entlang der unsichtbaren Geraden. Die Sonne sank von ihrem höchsten Stand dem Horizont entgegen. Merklich begannen sich die Uferlandschaften zu verändern. Sie schienen schroffer und fremder zu werden. Der gesamte Charakter der Gegend verwandelte sich. Wir merkten es, als wir an Land gingen: Selbst das Fleisch der erlegten Tiere und die Beeren, die wir sammelten, schienen anders zu schmecken. Tage und Nächte vergingen. Wir segelten, gingen an Land, wuchteten die Ankersteine aus dem Wasser, schliefen und zogen das Schiff an den Strand, um die Planken zu säubern und nach den Schäden zu sehen, ruderten in der Flaute; mit Besorgnis beobachteten wir, daß sich der Punkt, an dem die Sonne den Horizont berührte, dem nördlichen Maximum näherte. Der Frühling nahm im Gleichklang mit unserer Fahrt seinen Fortgang. Zwanzig Tage und Nächte fang segelten wir, umrundeten ein Kap, das uns mit plötzlichen harten Böen überraschte: Mit Rückenwind kamen wir gut voran bis an den
östlichsten Punkt der Fahrt. Dort bogen wir wieder nach Norden ab, und nie kam Langeweile auf. Wir zeichneten in die Karten in einprägsamen Symbolen verschiedene Vorkommnisse ein: Fußmündungen, markante Punkte, Winde und Jagdgründe, geschützte Buchten; Wissen, das für einen Kapitän von lebenswichtigem Interesse war. Wenn wir keinen solchen Zwischenfall erwarteten, tauchte der häßliche Gnom auf. Proteos wies uns den Weg. Die Jäger verloren ihre Scheu vor dem endlosen Wasser und fühlten sich von Tag zu Tag besser. Die jungen Frauen knüpften Freundschaften mit den fremden, braunhäutigen Männern. Es herrschte an Bord verheerender Frauenmangel, und jeder Mann tat alles, um sich im besten Licht erscheinen zu lassen. Kasokar fuhr bei jeder Streitigkeit wie ein Rasender dazwischen und stiftete mit gutem Zureden, Fausthieben und Androhen drastischer Strafen schnell Frieden. Je mehr Verantwortung er zu tragen hatte, desto mehr verwandelte sich der sonst schweigsame Soldatenanführer in einen Mann, auf den wir uns unbedingt verlassen konnten. Seinen dunkelbraunen Augen, schnell wie Eidechsen, entging nichts. In der nächsten Nacht flüsterte der Extrasinn: Es ist eine der längsten Reisen, die Menschen dieses Zeitalters unternommen haben! Zwanzig Tage und Nächte vergingen ohne Zwischenfall; am dreißigsten Tag, im ersten Morgengrauen, holte mich ein schnarrender Summlaut aus dem Tiefschlaf. Ich war augenblicklich wach, blinzelte und fand mich mühsam zurecht. Reflexhaft schaltete ich den Bildschirm ein; mein Schild hing über meinem Kopf in der winzigen Achterkabine, in der Asyrta und ich - abgesehen von einer Kleinigkeit an Gepäck und Waffen – mühsam Platz hatten. Das feuchte Fell vor dem Bullauge hielt das Licht der Morgensonne zurück. Ich sah die Bilder, die Horus’ Linsenaugen übermittelten: Ein Fuß mündete, von Osten nach Westen ziehend, ins Meer. Wo sich Süßwasser und Salzwasser berührten, gab es ein Dreieck, das sich ins Land hinein verjüngte. Etwa einen Tagesmarsch vom halb felsigen, halb hangähnlichen Endpunkt dieses Fußlaufs entfernt, sah ich die Anlage, von einem Wall, höher als eine halbe Mannslänge, umgeben. Dahinter schloß sich ein niedriger Graben an, dann
folgten zum Mittelpunkt hin mehr als fünfzig Gruben, mit weißem Mineral gefüllt. In einigen lagen kopfgroße Steine, die einen hell, die anderen blauschwarz. Im innersten Kern dieser Anlage standen dreißig Monolithen wie ein Zaun aufgereiht. Sie waren von darübergelegten Steinen, viele Tonnen schwer, gekrönt und bildeten einen vollkommenen Kreis. Einige Steine außerhalb des Grabens vervollständigten das verwunderliche Bild. Der Vogel wandte sich anderen Ansichten zu. Ich erkannte lange Häuser mit Strohdächern, geschwärzt und verwahrlost. Aus einigen Dächern drang Rauch. Ich entdeckte Tiere und wenige Menschen, die sich zwischen Rindern, Schafen und Ziegen bewegten. Das Ganze war eingebettet in eine sommerlich grüne Landschaft, aus viel unberührter Natur und aus den Vierecken und Rechtecken der Felder mit verschiedenen Anpflanzungen; eine Landschaft, die Armut und Not ausstrahlte. Fälle erst dein Urteil, wenn du sicher bist, sagte mein Logiksektor. Ich sah schärfer hin und dirigierte den Vogel so, daß er Vergrößerungen sendete. Die wenigen Menschen schienen in mehrfacher Hinsicht ärmlich und einfach zu sein. Ihre Werkzeuge bestanden aus Holz, Sehnen und Steinen. Steinzeit herrschte im Süden der zerklüfteten Insel. Die Menschen sahen furchtsam aus, waren in rohe Pelze und rauhes Leinen gekleidet, ihre Haustiere schienen halb verwildert zu sein; ich sah unter stumpfen Fellen nur herausstehende Knochen. Alles schien unglaublich verwahrlost. Schatten der Angst und der Not lagen über der Szene im grellen Morgen. Wenn ich richtig rechnete, lebten in der Nähe des Steinkreises zweihundert bis dreihundert primitive Barbaren, voller Furcht vor dem Mächtigen. Wieder änderte der weiße Seeadler seine Fugbahn und die Höhe des Anflugs. Halb im Wald verborgen, halb deutlich sichtbar stand sie an der Grenze zwischen dem flachen Land und den Hügeln und Wäldern: eine matt silberne Kugel auf mehreren Landestützen, die sich tief in den Boden gebohrt hatten und inzwischen vom Gestrüpp und Pflanzen überwuchert waren. Seltsame Erregung packte mich, als ich die schmutzstarrende Rampe sah, die sich zwischen Schiff und
Boden erstreckte und ebenfalls tief in den weichen Grund eingesunken war. Selbst das Schiff machte einen gebrauchsunfähigen Eindruck. Kein Raumfahrer läßt sein Fahrzeug derart verkommen, sagte der Logiksektor. Aufmerksam studierte ich die deutlichen Bilder. Vom Raumschiff liefen tief ausgetretene Pfade in verschiedene Richtungen. Sie wirkten, aus großer Höhe gesehen, wie bizarr geschwungene Krakenarme. Das Erdreich war verdichtet und nicht bewachsen. Zwischen den Hütten wuchsen und wucherten Ranken und Unkraut, in breiten Streifen hatte das Vieh das wenige Gras weggefressen. Auf windschief angelegten Feldern und Äckern arbeiteten Frauen und Kinder. Die gesamte Umgebung des Dörfchens und die Siedlung selbst wirkten so armselig, als hätten sich die Menschen selbst aufgegeben. Wo hielt sich der Außerirdische auf? Die Bedeutung des Walls, des Steinkreises und der Doppelreihe aus torähnlichen Bohlen erkannte ich. Vor dem Schiff, dessen Hülle an mindestens vier Stellen schwer beschädigt war, lagen große Rollen dicker, roter Kabel. Horus übertrug einen Rundblick: Die gesamte Umgebung war wie ausgestorben, trotz der Rauchfahnen, Menschen und unzähliger Vögel, die über der Ebene kreisten. Einst hatte ich für Encheduana, die zukünftige Priesterin, außerhalb der Stadtmauern Akkades ein bodengebundenes Observatorium erbaut und mit Ricos Hilfe einige Gradeinstellungen, eine künstliche »Weltachse« und andere Einrichtungen aufgestellt, mit deren Hilfe lunare, planetare und stellare Bewegungen und Abstände erkannt und gemessen werden konnten. Für den fremden Raumfahrer bedeuteten die möglichen Visierlinien, daß er die Position von Larsafs Stern und dessen dritten Planeten mit großer Genauigkeit bestimmen konnte. Verwendete er auch noch Geräte aus dem Schiff für seine Berechnungen – und nicht anders würde ich vorgegangen sein – , würde er seine Retter präzise hierher führen können. Der Logiksektor flüsterte: So wie du die Arkon-Fotte hierher lotsen würdest, Atlan! Ich konnte mich mühelos in die Überlegungen des Fremden hineinversetzen. Im Gegensatz zu mir verfügte er höchstwahrscheinlich über einen Hypersender. Ein
zweiter Grund, einzugreifen, dachte ich: Rief er Hilfe herbei, und hatten wir uns vorher einigen können, konnte ich entweder mit ihm zusammen Larsaf Drei verlassen, oder ich strahlte einen zweiten Hyper-Notruf nach Arkon ab. Wieder sagte der Extrasinn: Auch in diesem Fall wird ES das letzte Wort behalten. Geduldig kreiste Horus über der Szene. Langsam trieb die ZEDER in den sich fjordartig verengenden Fußlauf hinein. Die Mannschaft begann nacheinander zu erwachen. Der Raumfahrer schien in seinem Schiff zu schlafen. Eingeborene kamen aus den langgestreckten Hütten, zogen Pelze und Leinenhemden aus und kümmerten sich um ihre Pflanzungen. Ich wartete ungeduldig. Wo versteckte sich das »vielarmige, schwarzhäutige Ungeheuer«, von dem Proteos gesprochen haste? Schließlich wachte Asyrta auf, zog sich fröstelnd das Schaffell über die Schultern und fragte verschlafen: »Was ist los, Liebster?« Ich lehnte den Schild mit der Bildfläche gegen die hölzerne Trennwand und sagte leise: »Wir nähern uns der Kampfstelle. Der Adler sendet die ersten Bilder.« »Wo sind wir?« »In dem Meeresarm, unweit der heiligen Kultstätte.« »Ist es noch Nacht?« »Nein«, sagte ich und betrachtete ihr Gesicht, als hätte ich es noch nie richtig gesehen. »Die Sonne geht auf. Wir werden vorsichtig sein.« »Die anderen…?« »Sie wissen noch nichts. Ich werde alles erklären, wenn ich weiß, worum es sich handelt.« Auf dem Bildschirm sahen wir neue Bilder. Asyrta drehte sich herum, rutschte in meine Arme und lehnte ihren Rücken gegen meine Brust. Der Zellaktivator störte sie, sie schob ihn über meine Schultern. Zusammen sahen wir, wie sich aus der staubbedeckten Luftschleuse eine Gestalt schob, so erstaunlich wie alles, das uns bis hierher geführt haste.
Doppelt mannshoch. Vier wuchtige Arme, dick wie die Schenkel von Stieren. Die Haut glich derjenigen von Elefanten, die vier Hände hatten jeweils sechs Finger. Zwei säulenartige Beine trugen einen gedrungenen Körper, der in einen zerschlissenen, dunkelgrünen Anzug gehüllt war. Ich definierte ihn als eine Art Raum- oder Kampfanzug ohne technische Ausrüstung. Der Kopf des Raumfahrers war erschreckend und vollkommen fremd. Er wirkte wie eine halbe Kugel, halslos, mit drei Augen und einem riesigen Rachen voller Raubtierzähne. Nase und Ohren schienen unsichtbar und verschließbar zu sein; wir konnten keinerlei Ähnlichkeit mit der Physiognomie der Menschen feststellen. Der Raumfahrer ging schwerfällig auf wuchtigen Beinen die Rampe hinunter und blieb stehen. Er sah sich um, dabei drehte er den Oberkörper. Obwohl seine Augen eine hervorragende Sicht nach mehr als 250 Grad gestatteten, schien diese Bewegung charakteristisch zu sein. Er sah sich um, betrachtete den Steinkreis und die Umgebung und hob die längeren Arme. Der Rachen öffnete sich. Der Schwarzhäutige stieß einen Schrei aus. Die Leute auf den Feldern warfen sich erschrocken zu Boden. Das Vieh sprang in panischem Schrecken davon und zerstreute sich in alle Richtungen. Wir sahen uns an; Asyrta keuchte erschreckt auf. »Du willst gegen diesen Giganten kämpfen? Er wirkt wie aus massivem Fels!« »Er ist es, Asyrta.« Ich war betroffen. »Aber auch er ist verwundbar.« »Er tyrannisiert die Menschen und alles in dieser Gegend«, sagte sie leise. »Trotzdem, er sieht nicht böse aus; ein großes Tier, das sich seiner Kräfte nicht bewußt ist.« Der Seeadler glitt durch die ruhige Luft des frühen Morgens näher heran und sendete schärfere Bilder. Schweigend sahen wir zu und entdeckten mehr erschreckende Einzelheiten. Der Fremde bückte sich, hob einen Steinbrocken auf und schleuderte ihn mit beiden Armen gegen die Hülle des Schiffes. Der Stein zerplatzte und hinterließ eine Beule in der zerschrammten Silberhülle. Dann warf sich der Götze jener Eingeborenen herum, sank auf den Boden und
fing sich mit den Armen ab, verwendete die Hände als Klauen oder Krallen und riß den breiten Rachen auf. Seine Augen glühten im hellen Licht der Sommersonne. Der Riese begann zu rennen, war schneller als ein Pferd in vollem Galopp, benutzte die Rampe der Bodenschleuse als eine Art Startfläche, raste auf eine Baumgruppe zu, die im Weg stand. Etwa dreihundert Schritte trennten ihn von dem Gestrüpp und den Bäumen; er legte sie in wenigen Augenblicken zurück. Dahinter sahen wir den Waldrand und einen Kreidefelsen, Teil eines halbierten Felsrückens. Der Fremde schien sich in einer Art Raserei zu befinden, die auf uns doppelt erschreckend wirkte, da sie sich fast lautlos vollzog. Nach dreihundert Schritten, die er entlangstürmte, erreichte er die Baumgruppe. Der Adler folgte ihm im Schwebeflug. Büsche wurden zerfetzt, Ranken und Zweige zerbrachen. Kleine Vögel und Säugetiere sprangen aus den Nestern. Der schwarze Koloß verschwand in einer Wolke aus Blättern, Splittern und herumwirbelnden Getreidepflanzen. Dann ging ein harter Schlag durch den ersten Baum. Der Fremde war in vollem Tempo, immer noch auf vier Gliedmaßen rennend, gegen den wuchtigen Baumstamm geprallt. Die Baumkrone schüttelte sich, dann sank sie zwischen anderen Bäumen senkrecht nach unten. Inzwischen war das Ungeheuer weitergerannt und rammte zwei weitere Bäume, zwischen deren Stämmen es hindurchschoß. Wir sahen nur an den Bewegungen der berstenden Gewächse, daß er sich einen Weg bahnte, schnell wie der Blitz. Er befand sich in einem Anfall von Zerstörungswut, dachte ich und sah die Gasse der Verwüstung. Währenddessen kämpfte sich unser Schiff langsam gegen Strömung und auslaufende Ebbe zur Spitze des Fjordes von Mit einem Satz schoß der Gigant aus dem Waldstück hervor und nahm Kurs auf den Felsen. Zwei Arme hielt er dicht an die zerschlissene Raumfahrerkombination angewinkelt, auf den anderen rannte er, das Stirnauge weit vorgeschoben wie ein stumpfes Horn. In unglaublichem Tempo näherte sich das unbegreifliche Wesen dem Felsen. In steigendem Entsetzen sahen wir zu, wie der Koloß sich
der zerklüfteten Wand näherte. Er schien nicht zu erkennen, daß er Selbstmord beging. Nun zogen seine vier Gliedmaßen eine Spur der Zerstörung durch struppige Felder, Äcker mit zittrig gezogenen Furchen und durch unveränderte Natur. Ein Rudel Rotwild stob in langen Fluchten davon; ein Schwarm Vögel kreiste über dem verwüsteten Waldstück. Schnurgerade ging der Weg des Rasenden über die Unebenheiten des Geländes, ging durch einen hochspritzenden Bach, durch ein Stück sumpfiges Gewässer, durch einen Schilfgürtel und Hecken. Schließlich lagen nur Weiden und einzelne Buschinseln vor dem Felsen. Dröhnend stürmte der Gigant darauf zu. »Er wird sich zerschmettern, Atlan«, sagte Asyrta zitternd. Ein atemloser Moment folgte. Das schwarzhäutige Wesen legte die letzten Schritte durch ein überwuchertes Geröllfeld zurück; zwischen Brocken, im Lauf der Jahrhunderte von der Kalkwand gefallen. Eine Staubwolke erhob sich, Steinbrocken wurden nach allen Seiten geschleudert. Einen Augenblick fang schien sich das Wesen zu verändern. Es erstarrte förmlich in der Bewegung. Der Zusammenprall ließ das Bild zittern, als sich der Kopf des Fremden und der mächtige Körper in den zerbröckelnden Kalk rammten. Der Raumfahrer wurde hochgerissen, seine Schultern schlugen Löcher und brachen Gesteinsbrocken ab. Nach dem Anprall wurde der Körper zurückgeworfen, kippte zur Seite und blieb zusammengekrümmt liegen. »Ist es tot, dieses Ding?« hauchte Asyrta. Ich zog sie an mich und langte nach dem Steuerarmband des Vogels. »Ich weiß es nicht.« Wenn der Fremde tot war, hatte sich unser Auftrag erledigt. War er bei diesem Gewaltakt nicht zerschmettert worden, dann überstieg der Versuch, ihn zu töten, unser Können. Ein solches »Ding«, wie Asyrta richtig gesagt hatte, ließ sich nicht mit unseren Mitteln vernichten. Ich begann zu ahnen, welche Gefahr eine Gruppe dieser Raumfahrer für den Planeten darstellte; deswegen hatte ES uns auf diese Mission geschickt. Ich ließ den Vogel über dem bewegungslosen Koloß kreisen und ging an Deck, um zu sehen, was zu tun war.
Langsam löste sich die Verkrampfung in den Armen. Ruckweise richtete sich Ternal auf. Torkelnd erhob sich der schwarzhäutige Raumfahrer, betrachtete die Verwüstungen im näheren Umkreis, die er angerichtet hatte, und dann sah er den Vogel, der mit ausgebreiteten Schwingen über dem Felsabsturz kreiste. Drohend schüttelte Ternal beide Fäuste der Handlungsarme und schrie grollend zum Seeadler hinauf: »Du bekommst mich nicht! Ich bin viel zu zäh für deinen Schnabel. Ich werd’ nicht sterben, Aasfresser!« Ungerührt zog der Adler seinen Weg. Mit wuchtigen Schritten stapfte Ternal aus dem Wirrwarr der Steinbrocken und niedergetrampelten, zerfetzten Stauden heraus und bemerkte die Schneise der Vernichtung, die er gezogen haste. Langsam ging er den Weg zurück und brüllte haßerfüllt einen Fluch in der Sprache der Eingeborenen. Es klang für die Menschen wie ein Gewitter. Mürrisch schlug Ternal die Richtung zu seinem Schiff ein. Das Stirnauge erfaßte, daß der Vogel höher gestiegen war und ihn unausgesetzt beobachtete. Abermals stieß er ein röhrendes Lachen aus und machte einen Bogen um den verwüsteten Wald. Er trat auf die Rampe des Schiffes. Seine drei Augen bewegten sich und musterten die zurechtgelegten Gegenstände, Kabel und Verstärker, Teile des abmontierten Antennenspiegels und alles übrige. »Morgen!« Ternal-Malat trampelte über den verschmutzten Belag. Meeresluft und salziger Regen hatten Rost erzeugt und mit ihrer zerstörerischen Arbeit begonnen. Die Stellen, an denen viele Regengüsse ihre Spuren hinterlassen hatten, waren kennzeichnend für seine Situation: Alles verfiel langsam, aber unabänderlich. Der Riese schmetterte die schwere Schottür hinter sich zu; sie knirschte gräßlich in den Angeln. An den Landestützen des Raumschiffes wanden sich blühende Ranken mit schwarzen Beeren herauf. Die Eingeborenen standen auf und begannen zitternd, mit ihren Arbeiten fortzufahren. Es würde für sie ein harter Winter werden. Alles war vernachlässigt. Die Felder, der Fischfang und die Jagd, die Erziehung der Kinder und die Pflege der kleinen Viehherden. Und
niemand ahnte, welche zusätzlichen Gefahren und Schrecken sich näherten. Vierzig Menschen sahen Asyrta-Maraye und mich an, als ich zu sprechen anfing. Wir saßen auf der obersten Stufe des Niedergangs der Heckplattform. Cheper steuerte schräg hinter unseren Rücken. »Freunde«, sagte ich laut und versuchte, beruhigend zu wirken, obwohl ich Grund zu gegenteiligen Gedanken hatte, »wir sind nahe an dem Ort, an dem wir kämpfen müssen.« »Handeln wäre besser«, schrie Siren vom Bug her. Kaum wahrnehmbarer auflandiger Wind blähte das Segel. Die langen Riemen stachen seitlich des Schiffes waagrecht in die Luft. Die ZEDER wirkte wie ein seltsamer Tausendfüßler. »Zugegeben, es wäre besser, aber hier können wir nur mit dem Tod handeln«, sagte ich. »Wir müssen, wo der Fuß ins Brackwasser mündet, einen Tag fang den Fuß aufwärts rudern, dorthin, wo das Ungeheuer haust.« Der schwarzhäutige Gigant, ein gestrandeter Raumfahrer, sagte ES, sei eine Gefahr für den Planeten. Ob er wirklich eine Gefahr war? »Was hast du gesehen?« Gerth deutete auf den Bildschirm im Schild. »Fast alles. Eingeborene, die von einem doppelt mannsgroßen schwarzhäutigen Ungeheuer geschunden werden, ein gewaltiges Bauwerk aus riesigen Steintoren. Eine silberne Kugel von den Sternen. Ein armes Land, nicht zu vergleichen mit den Feldern unserer Heimat. Die Kraft und Macht dieses fremden Wesens.« Sie hatten schweigend und konzentriert zugehört. Jetzt hob Kaaper die Hand und fragte sachlich: »Ist es zu töten, dieses schreckliche Wesen von den Sternen?« Ich vermochte nicht, mir vorzustellen, auf welche Weise. Wenn überhaupt, nur mit meinen arkonidischen Waffen. Ich knurrte: »Ganz sicher ist es zu töten, Ka-aper. Aber ich habe bis jetzt keinen Weg erdacht.« »Warum sind wir hier, wenn wir es nicht töten können?« Ancantas fragte es vorwurfsvoll. Ich zuckte mit den Schultern und erklärte zuversichtlich:
»Zunächst wird eine Gruppe vordringen und seine Schwächen studieren. Ich bin sicher, daß Männer, die alle Gefahren der Seefahrt ins Unbekannte besiegt haben, diesen Riesen töten können.« Töten, immer wieder töten. Verdammt! Es wurde viel zuviel getötet auf dem Barbarenplaneten. Wir mußten herausfinden, ob der schwarze Gigant tatsächlich eine große Gefahr für Larsaf Drei darstellte. Langsam reifte in mir ein Plan. »Wir haben nicht deine Sicherheit, Atlan«, sagte Kasokar. »Wir wissen, daß du geheimnisvolle Dinge und Waffen besitzt, die wir nicht kennen. Vielleicht gelingt es mit Hilfe dieser Waffen?« »Vielleicht.« Ich blieb unsicher. »Jedenfalls führt unser Weg noch eine Weile geradeaus.« »Weiß der Fremde, daß wir kommen?« fragte Cheper zweifelnd. »Mit Sicherheit nicht.« »Das Land ist nur dünn bewohnt?« »So ist es. Ein karges Land: Verglichen mit den Eingeborenen hier, leben wir in Gubal besser als Fürsten.« »Eine Gruppe, sagst du«, sagte Siren, »geht an Land. Die andere soll das Schiff bewachen?« »Ja«, gab ich zurück, »wir bringen das Schiff an einen guten Platz, verstecken es und führen alle wichtigen Arbeiten aus. Wir wollen mit gutem Wind schnell zurück!« »Das wollen wir alle!« erscholl es laut aus dem Raum zwischen Bug und Heck. Der Zustand des Schiffes nach rund zwei Monden ununterbrochener Fahrt war das geringste unserer Probleme. Da wir auch immer wieder an Land gejagt hatten, blieben die Männer in bester Form. In den Sitten und Ansichten der zu uns gestoßenen Jäger und unserer Männer hatten sich die meisten Unterschiede restlos verwischt. Proteos war nicht wieder aufgetaucht, Asyrta hatte sich der zwei jungen Frauen angenommen und ihnen viele Kenntnisse beigebracht; sie waren unter dem Einfuß ausgesuchten Essens, säubernden Seewassers, Sonnenbräune und kosmetischer Winkelzüge zu bemerkenswert hübschen Wesen geworden. »Und was sollen wir jetzt tun?« fragten die Männer um Ancantas. Ich deutete auf das schlaffe Segel und befahl: »Rudern, bis wir einen guten Platz finden.«
Diesmal hatte ich nicht den Eindruck, daß sich auch nur einer der Freunde nach dem Abenteuer sehnte. Wir holten das Segel ein und ruderten durch das stille Wasser. Es war später Mittag; selbst hier, im Norden, brannte die Sonne stechend herunter. Schließlich fanden wir ein gutes Versteck: Der Fuß machte, enger und reißender werdend, eine Schleife. Auf dem Geländevorsprung stand ein Felsen, vom Wasser strudelnd umspült. Dahinter raschelten die Ausläufer eines Waldes aus hohen Bäumen. Grober Sand bildete unweit einer versumpften und verschilften Quellmündung ein seichtes Ufer. Die Felswände des Fjordes lagen weit meerwärts. Wir ruderten ein großes Stück flußaufwärts, erkundeten die menschenleeren Ufer und kehrten wieder um. Der Bug der ZEDER schnitt knirschend in den Sand, ein Ruck ging durch das Schiff, und im Schatten der Nadelbäume zitterte der Mast. Ich blickte nach oben und sah das Blinken der Spionsonde. »Wir sind angekommen«, sagte ich. »Werft den Ankerstein über Heck aus!« Zwei gute Tagesmärsche südlich des Verstecks wütete der wahnsinnige Raumfahrer und versuchte, unseren Planeten zu verlassen. Wenn seine Freunde, die ihn abholen sollten, von der gleichen Art waren, bildeten sie einen Machtfaktor, dem nichts widerstehen konnte; dann hatte ich wirklich tausend Gründe, um das Schicksal dieser Welt zu fürchten. Ich kletterte in die Heckkabine und klappte, ehe ich Rico anrief, den Deckel der Truhe auf und aktivierte den Bildschirm. 15. Der Rumpf der GOLDENEN ZEDER schwankte, Stimmen und Geräusche waren zu hören, Tauwerk knirschte, und die Blöcke knirschten, als Chepers Männer das kleine Boot an den Strand hievten und die klappernden Riemen hinterherwarfen. Ich hockte auf den muffigen Fellen, blickte in Ricos Gesicht und sagte halblaut:
»Wo ist der Gleiter mit der einen oder anderen Hochenergiewaffe? Hast du an Bier für knapp ein halbes Hundert Männer gedacht?« »Gebieter Ahiram-Atlan-Acran«, sagte er ungerührt, dann lächelte er wie ein arroganter Palastwissenschaftler. »Der Gleiter, mit Delikatessen gefüllt, wird in weniger als einer Stunde neben deinem Schiff wassern. Ich habe alles gesehen, analysiert und berechnet.« Ich gab ihm ein Zeichen. »Bist du meiner Meinung? Dieser Ternal Malat ist verrückt? Beziehungsweise hat er Anfälle, in denen er sich unberechenbar verhält? Und er kann seinen Körper offensichtlich kurzfristig in eine Art Metallblock verwandeln.« »Ich habe drei solcher Anfälle des Schwarzhäutigen mit angesehen und dokumentiert, Atlan.« »Ich mache einen ersten Vorstoß. Drei, vier Mann im Gleiter. Deflektorfeld.« Ich hob die Schultern. »Dann gehen wir mit zwei Dutzend der besten Krieger und Jäger vor. Deine Sonden sehen alles? Du wirst nötigenfalls die Steuerung Horus’ übernehmen. Ich stelle fest, daß das Land ringsum leer ist; ohne menschliche Siedlungen. Richtig? Morgen vor Sonnenaufgang starte ich.« »Absolut menschenleer. Ich sah Spuren einzelner Wolfsjäger. Nicht mehr. Ich habe verstanden.« Rico legte die ringgeschmückten Finger an die Brust, verneigte sich und grinste. Seine Zähne waren unglaubwürdig regelmäßig und weiß. »Ich bitte, nicht zu viel zu riskieren.« Ich nickte und schaltete ab. Ich verschloß die Truhe und route die Felle zusammen, ehe ich wieder an Deck ging und sie über die Heckbordwand in die pralle Sonne hängte. Etwa zwei Stunden später, gegen Mittag, hatte ich im Schatten des Segels meine Hängematte zwischen Baumstamm und Bugsteven ausgespannt, trank frisches Wasser und roch den Duft des frischen Bratens auf dem Gitterrost. In Gedanken ging ich jeden einzelnen Schritt unseres seltsamen Vorhabens durch. Der Logiksektor sprach plötzlich mit ungewohnter Eindringlichkeit: Sowohl Ternal Malat, der Vierarmige, als auch du, seid die Väter vieler Sagen und Legenden. Du zeigst den Barbaren neue Seewege, vielleicht zu den späteren Fundstellen
anderer Metalle oder Schätze, der andere baut ein Observatorium auf den Resten eines Erdheiligtums, das später zum Zentrum seltsamer Wallfahrten werden kann. Geheimnisvolle Orte und Wege, die Kämpfe von Giganten, die Furcht der unwissenden Eingeborenen – sind mit dem Wirken des Hüters dieser Welt zwangsläufig Mystik und Legendenbildung verbunden? Geh mehr mit der List lautloser Jäger vor, Arkonide! Ich blickte in den Mittelteil des Schildes: Von der Höhe eines niedrigen Hügels sah ich den dünnen Rauch der Herdfeuer. Oder sie verbrannten, während die Hunde kläfften, Unkraut auf den Feldern. Der Fremde hatte das Raumschiff nicht verlassen. Asyrtas Schritte knirschten auf dem Sand, dann wurden sie auf der dicken Schicht von Tannennadeln fast unhörbar. »Nimmst du mich mit, Atlan, wenn du morgen früh hinüberfliegst?« Asyrta setzte sich neben mich und brachte die Hängematte zum Schaukeln. Ich sah in ihre Augen und zwinkerte. »Ja. Aber nicht, wenn ich mit den Soldaten und Jägern aufbreche. Ihr Frauen dürft die Bilge putzen und dicke Suppe kochen.« Sie lächelte wissend und machte eine abschlägige Geste. Wir verbrachten den Tag und die erste Hälfte der Nacht, indem wir uns, die Kleidung und einen Teil der Ausrüstung sowie das Schiff säuberten, gut aßen und tranken und ausreichend schliefen. Drei Stunden nach Sonnenaufgang kamen Ka-aper, Cheper, Ancantas und Kasokar mit mir zurück; wir berichteten jede Einzelheit, die wir gesehen hatten. Wir waren nahe genug herangekommen und stiegen aus. Der Gleiter holte, fast lautlos schwebend, die anderen Männer. Wieder warnte uns Hundegebell. Die Soldaten und Jäger blickten konzentriert und nickten mir zu. Jeder von uns war so gut ausgerüstet und bewaffnet, wie es sinnvoll war. Meine schwere Strahlenlanze erzeugte Druckstellen auf den Schultern. Über uns zog Horus seine wachsamen Kreise. »Ab jetzt suchen wir jede mögliche Deckung«, befahl ich halblaut. Der Befehl wurde durch die lange Reihe weitergegeben. »Verstanden, Atlan.« Niemand war unter uns, der nicht begriff, worum es ging. Wir waren gewohnt, alle wichtigen Einzelheiten einer fremden Gegend
in uns aufzunehmen, Versteckmöglichkeiten zu erkennen und Winkel zu sehen, aus denen Gefahr drohen konnte. Diese Gegend schien harmlos zu sein; arm an großen Raubtieren. Die Strecke vom Schiffsversteck bis hierher hatten wir Spuren nomadisierender Jäger gesehen, aber waren mit nicht einem Menschen zusammengetroffen. Ancantas schob sich an mir vorbei und deutete nach vorn. »Ich gehe voraus«, sagte er knapp und nahm den geschweiften Bogen von der Schulter. Ich nickte ihm zu, er begann in einem kräftesparenden Trott auf die Rauchfahne zuzulaufen. Wir folgten einem kaum erkennbaren Fußpfad, der von gürtelhohem Gras gesäumt war, einzelne Büsche durchbrachen die Fläche. Die Spitzen der Gräser wurden vom Wind bewegt, der noch immer salzig schmeckte. Die Gräser wirkten wie Meereswellen. Schweigend folgten wir der Gestalt, die vom Pfad sprang und einen Hügel hinaufkroch. Ancantas blieb in der Deckung einiger Büsche auf der Kuppe stehen. Er verschmolz mit Zweigen und Blättern. Wir sahen ihn und verhielten uns ruhig, kamen aber näher. Ich hob den Kopf; das ruhige Kreisen des Seeadlers bewies, daß sich der Fremde aus seinem Raumschiff nicht hervorgewagt haste. Dann winkte der Bogenschütze. Wir wurden schneller und glitten in einer Linie auf die Spitze des Hügels zu. Plötzlich war Siren neben mir und knurrte: »Wie verhalten wir uns gegenüber den Eingeborenen?« »Abwartend«, sagte ich. »Sie sind zu Tode erschreckt. Vielleicht verraten sie uns aus Angst. Sehen wir erst einmal alles genau an. Dann entscheiden wir.« »Klug gedacht. Aber zwei Dutzend Männer werden sich nicht lange verstecken können«, gab er zu bedenken. »Warte!« Ich deutete nach vorn, wo das Dach eines Hauses zu sehen war. Durch dornige Ranken mit Beeren daran, durch distelartige Gewächse und niedrige Büsche folgten wir der Spur des Bogenschützen und blieben, als wir ihn erreicht hatten, hinter den Büschen. Eigentlich war kein Verstecken nötig; nicht hier, nicht jetzt. Vor uns breitete sich eine ebene Fläche aus, in der Mitte das steinerne Observatorium. Von hier aus wirkte es zwar unbedeutend,
aber eine kalte Bedrohung ging von ihm aus. Ich konnte mich der Ausstrahlung dieser monolithischen Säulen mit den darübergelegten Portalsteinen nicht entziehen. Selbst meine Männer, die steinerne Großbauten gewohnt waren, schienen beeindruckt zu sein von der Anlage mit Ebene, Wall und Graben und den Visiersteinen. Die Wirkung auf die Eingeborenen jedoch mußte katastrophal sein. »Beeindruckend«, zischte Siren. »Was soll das ein? Ein Zaun?« »Für die Eingeborenen: ein Heiligtum. Für den Fremden: ein Gerät, mit dem er seine Heimat zwischen den Sternen wiederfinden und dort Hilfe herbeiholen will«, sagte ich ruhig. »Aber er hat sich nicht die geschicktesten Handwerker ausgesucht.« Natürlich war er notgelandet, ohne vorher Gelegenheit gehabt zu haben, kulturelle Zentren kennenzulernen. Es war wohl ein direkter Anflug gewesen. Nicht auszudenken, welche Folgen sein Erscheinen im Hapiland gehabt hätte! Oder in den Städten des Zweiströmelands! »Hier wird keiner unserer Kapitäne reich«, spottete Siren. Ich drehte den Kopf; er stank aus dem Mund. »Vielleicht liegen unter den Hügeln reiche Metalladern und Lager geheimnisvoller Edelsteine!« »Unter diesen Hügeln?« Siren spuckte angewidert aus. Er war mit dem, was er vor sich hatte, sichtlich unzufrieden. Sein Verlangen, gewinnträchtigen Handel zu treiben, war nur ein kleiner Aspekt unseres Auftrages. »Schon möglich«, sagte ich. An den Rändern dieser schüsselförmigen Senke lagen Waldstücke, rechteckige Muster bemitleidenswerter Acker und lose zusammengewürfelte Langhäuser. Meine Eindrücke wurden bestätigt: schlampig, hilflos und auf niedriger Stufe. Ich konnte deutlich erkennen, daß sie sich Mühe gaben, das Beste aus ihrem Leben zu machen. Das Erscheinen dieses Raumschiffs mußte ein Ereignis gewesen sein, das sie mit gräßlicher Furcht erfüllte. »Dort!« Ich deutete auf die hohen Kronen eines Waldes. Ein Ausläufer umschloß auf beiden Seiten die silberne Kugel. Sie war
eigentlich wenig auffällig, aber wir entdeckten sie, well wir suchten. Es durchfuhr mich wie ein Schock: ein Wrack, ein Beweis dafür, daß ich mich nicht in einem Traum befand. »Wir sehen es.« Das Gebiet war halbwegs ideal, well es deckungsreich war und darüber hinaus überschaubar. Eine Insel auf einer Insel. Andererseits bot es keine natürlichen Verstecke, den Riesen zu besiegen: keine Höhlen, weder Mahlsand noch einen tätigen Vulkan, weder Erdspalten noch Gesteinskrusten, durch die er durchbrechen konnte. Wir würden ihm keine Fallen stellen können, sondern mußten den Kampf offen führen. »Die Eingeborenen arbeiten. Dort, dort, auch dort drüben.« Ancantas deutete in verschiedene Richtungen. »Aber wo ist das Ungeheuer?« »In seiner kugeligen Höhle«, sagte ich leise. »Verteilt euch, Freunde. Ka-aper, Ancantas und ich werden uns der Kugel nähern und sehen, was wir tun können.« »Ein vernünftiger Vorschlag«, kommentierte Siren trocken. »Wenn wir das Ungeheuer aus der Ferne sehen, erschrecken wir nicht so sehr.« Wir grinsten uns verständnisvoll an. Ka-aper und Ancantas nickten mir zu, dann gingen wir nach rechts und versuchten, uns hinter Büschen versteckt zu halten. Während wir in Schlangenlinien lautlos auf die Kugel zuschlichen, bemerkten wir weitere Einzelheiten. Baumstrünke stachen aus dem Boden; sie waren mit steinernen Äxten bearbeitet worden. Käfer und andere Insekten krochen zwischen bräunlichen Spänen umher. Die Männer auf den Ackern hatten Kühe vor hölzerne Pflüge gespannt. Die Tiere zerrten das Holz durch schwere Erdbrocken. An langen Stangen, in den Boden gekrümmt und durch Querhölzer abgestützt, hingen Häute von Rindern. Auf Rahmen waren Felle von Waldtieren zum Trocknen gespannt. Eintönig bewegte eine alte Frau den Hebearm eines Brunnens. Wieder kam der hölzerne Bottich hoch, wurde ausgekippt, das Wasser floß in eine Rinne aus ausgehöhlten Baumstämmen. Menschen und Tiere tranken daraus. An einer Töpferscheibe saß ein Mann mit weißem Bart und drehte Tongefäße;
glockenförmige Becher, die er mit schnellen Bewegungen und einer Art Schnurmuster verzierte und auf ungehobelte Bretter stellte. Webstühle klapperten zwischen den Hütten mit faulendem Stroh auf den Dächern. »Arme Leute. Arm wie unsere Wüstennomaden!« Ka-aper knurrte und duckte sich, als ein Schwarm Wildtauben aus einem Gebüsch aufflog und mit klatschenden Flügelschlägen abstrich. »Zwischen den vielen Gruppen in vielen Ländern bestehen kaum Handelsstraßen. Die Menschen lernen sich nicht kennen«, erläuterte ich. »Sie sind arm. Aber wenn wir den Kampf überstehen, werden sie von uns etwas lernen.« »Ob es einen Händler hierher zieht?« fragte Ancantas ungläubig. »Hier gibt es, wie Siren sagte, nichts womit sich handeln ließe.« »Handelsware gibt es an jedem Punkt unserer Welt«, erwiderte ich. Vorsichtig pirschten wir weiter. Ranken wanden sich um unsere Knöchel, Dornen rissen am Leder der Stiefel. Durch die Stille des Tages tönte das dunkle Summen großer, nektarsammelnder Insekten. Eine gelbe Schlange wand sich davon, als wir den Rand des Waldes erreichten. Unweit entfernt erkannten wir den Glanz des Metalls. »Es ist noch immer still«, sagte ich. »Wollen wir es riskieren?« »Irgendwann müssen wir anfangen, Atlan!« Ka-aper stimmte ruhig zu. »Los.« Mit doppelter Vorsicht schlichen wir durch den Wald. Der Boden zeigte deutliche Spuren der Stiefel des Fremden. Überall hatten sich in den feuchten Grund die Muster der Sohlen eingeprägt. Hin und wieder waren dicke Äste abgebrochen worden; jetzt hing das Laub vertrocknet von den Zweigen und raschelte verräterisch, als wir uns vorbeischoben. Wir hielten den Atem an, ich packte die Lanze fester und blickte nach vorn. Neben dem Schiff sah ich technisches Gerät liegen. Der Sender! zischte der Logiksektor. Jeden Augenblick konnte der Riese die Rampe herunterpoltern. Ich drehte mich um und sah in die Augen der Freunde. Sie musterten die seltsame Szene vor uns. Ich deutete zuerst auf die Geräte, dann auf den Rand des Waldes, der
am weitesten von den Siedlungen entfernt war. Dorthin würde sich mit einiger Sicherheit der Raumfahrer nicht wenden. Ka-aper nickte. Sie hatten verstanden und huschten zwischen Baumstämmen davon. Ich entsicherte die Energieanlage in meiner Lanze und sprang von einer Deckung zur anderen. Es wäre am einfachsten gewesen, die Teile der Anlage zu zerstören. Aber dann mußte der Raumfahrer annehmen, die Barbaren hätten seinen Besitz vernichtet; er würde sie in seiner Wut bestrafen. Das konnte ich nicht zulassen, denn das Ganze liefe in diesem Fall auf einen Mord hinaus, an dem ich mitschuldig war. Was tun? Ich kam an der Landestütze vorbei und sah, daß dieses Schiff zum letztenmal gelandet war. Wo die Triebwerke die Vegetation vernichtet hatten, wucherten Gräser und Unkräuter in prächtigen Sommerfarben. Ich war sicher, daß Raumschiffe aus nichtrostenden Stahlverbindungen hergestellt wurden; aber dieses Schiff schien uralt zu sein, hatte zähllose Schrammen und Spuren von Meteoreinschlägen – und es rostete. Es machte einen heruntergekommenen Eindruck. Zögernd glitt ich näher an die Gegenstände heran, die der Raumfahrer ausgeladen haste. Ich sah Kabelrollen mit verschiedenfarbiger Isolierung, würfelförmigen Geräten mit Skalen, Schaltern und Reglern. Es war klar, daß sich die Eingeborenen nicht in die Nähe der »Sternenkugel« herantrauten. Sie würden es nie wagen, Teile des Senders anzufassen, denn sie hatten keine Ahnung, worum es sich bei diesen zauberischen Instrumenten handelte. Wir mußten versuchen, unbemerkt, dem Raumfahrer klarzumachen, daß er nicht von den Eingeborenen angegriffen wurde, sondern von geheimnisvollen Kämpfern. Der Logiksektor knurrte: Du hast dich entschlossen, seinen Hilferuf zu sabotieren? Blieb etwas anderes übrig? Wenn für den Raumfahrer Hilfe kam, würde ich vielleicht nach Arkon mitgenommen werden. Ich konnte versuchen, herauszufinden, wie frei ich in Wirklichkeit war, wie lange ES mir freie Hand in meinen Aktionen ließ. Noch einmal musterte ich die Teile und glaubte herausgefunden zu haben, daß zum Bau eines Hypersenders wichtige Bestandteile fehlten. Vermutlich montierte der Raumfahrer sie aus dem Schiff, und
ebenso sicher war für mich, daß er wichtige Zubehörteile neu konstruieren oder instand setzen mußte, denn sonst hätte er mit der Schiffssendeanlage arbeiten können. Ich knurrte leise: »Ich glaube, wir sollten abwarten, was der Raumfahrer tut. Zuerst beobachten, dann einen Plan fassen. Wir haben Zeit.« Gerade, als ich vorsichtig im Schutz der Blätter verschwand, hörte ich die Geräusche. Sie kamen unverkennbar aus dem Raumschiff. Zuerst eine rasend schnelle Reihe hämmernder Töne, dann das schrille Jaulen einer Säge; daran schlossen sich dröhnende Schläge an. Ich machte ein paar Sprünge und verschwand am Waldrand. Drei Schritte später duckte ich mich zwischen Ka-aper und Ancantas zu Boden. »Hörst du den Riesen? Er poltert im Schiff«, sagte Ka-aper. Die Frauen und Männer hatten, von mir vorbereitet, die Existenz eines Sternenschiffs akzeptiert. Sie begriffen die Analogie, daß ein Schiff auch zwischen den Sternen »segeln« konnte. Jedenfalls erschraken sie nicht in dem Maß, wie ich es bei den Eingeborenen erlebt haste. »Er wird sicher gleich das Schiff verlassen«, keuchte ich. »Warten wir.« Eine halbe Stunde fang schien der Riese mit bemerkenswertem Aufwand an Lärm Teile des Schiffes abzumontieren. Natürlich konnte ich nur Mutmaßungen anstellen. Aber dann zerschnitt das kreischende Wimmern rostender Lager die Stille. Der Boden vibrierte, als keine dreißig Schritt vor unserem Versteck der Raumfahrer über die schmutzige Rampe herunterstapfte. Er hatte sich mit merkwürdig aussehenden Dingen beladen und schleppte mit seinen vier Armen technische Geräte, an denen zum Teil noch Fetzen von Plastikmaterial oder Metall hingen. Wir sahen den tonnenartigen Rücken des Riesen, der schwerfällig, aber zielstrebig vom Schiff über den Pfad zum Steinkreis stapfte. »Soll ich ihm einen Pfeil in die Lederhaut schießen?« flüsterte Kaaper. Sein ovales Gesicht zeigte tiefe Linien der Spannung. »Nein! Ruhig!« zischte ich. Wir waren ungeduldig, aber wir warteten. Zehnmal stampfte dieses Wesen zwischen Schiff und Observatorium hin und her. Der Raumfahrer schleppte fast alle Gegenstände, die vor dem Schiff gelagert gewesen waren, in den
Bereich zwischen Wallgraben und steinernem Palisadenzaun. Ein Kabel wurde vom Schiff in Richtung des Heiligtums aufgerollt, das andere schleppte der Schwarzhäutige von dort aus hinter sich her und verschwand damit im Schiff. Er schwieg; wieder hörten wir den keuchenden Atem. Er wirkte wie das Luftholen und Ausstoßen eines riesigen Tieres. Das Glühen der drei Augen, die sich weit aus der kugeligen Schädelfläche hoben, war auffallend, ebenso bedrohlich schimmerte das Raubtiergebiß des mondsichelförmigen Rachens. Trotz all dieser befremdlichen Beobachtungen aber sah ich, daß dieses Wesen einer alten und klugen Rasse angehörte. Allerdings ergab dies noch keinen Hinweis auf die charakterlichen Eigenschaften dieses Planetenvolks. Als wir das markerschütternde Geräusch der sich schließenden Schottür hörten, sagte ich: »Schnell zurück zu unseren Leuten. Wir beobachten aus der Ferne. Ich werde versuchen, den Häuptling zu finden.« »Einverstanden.« Auf demselben Weg, auf dem wir uns herangeschlichen hatten, verließen wir den tarnenden Wald. Ich war ratlos. Wir hatten es weder mit einem menschlichen Gegner zu tun, noch hatten wir eine ernsthafte Chance, ihn zu besiegen. Vorsichtig, um nicht den Eingeborenen aufzufallen, liefen wir zu unseren Freunden. Sie hatten aus der Entfernung alles mitangesehen. »Jetzt habt ihr unseren Freund gesehen«, sagte ich und warf mich ins Gras. Zwischen den entfernten Geräuschen der Menschen drang wieder das Kreischen der Schleuse an unsere Ohren. Langsam begann es zu dunkeln. Langgezogene Wolken zogen im Westen auf. »Ja. Auf welche Weise willst du ihn bekämpfen? Wir haben gesehen, er ist ein gewaltiger Gegner.« »Noch ist er nicht unser Gegner.« Aber Ka-aper knurrte laut: »Wir sind hier, um ihn zu bekämpfen, Atlan!« »Das ist richtig.« Ich fragte mich, wenn das Kreisen des Seeadlers auffallen würde. »Er weiß nichts von uns. Viele Dinge sind zu beachten. Wir müssen Geduld haben.«
»Ich will zurück nach Gubal«, maulte Siren. Einige lachten laut. Wir befanden uns in sicherer Entfernung von den Langhäusern, trotzdem begann irgendwo ein Hund hysterisch zu kläffen. »Was haben wir zu beachten?« fragte Ancantas ungeduldig. »Der Fremde kann uns schneller töten, als wir es uns vorstellen. Wir dürfen auf keinen Fall offen angreifen. Wenn wir kämpfen, in der Nacht oder ungesehen, wird der Fremde meinen, daß ihn die Eingeborenen angreifen. Er wird sie strafen. Sag mir, Ancantas, was wir tun können.« Er nickte langsam und brummte verdrossen: »Wir müssen die Eingeborenen dazu bringen, sich so zu verstecken, daß der Fremde sie nicht findet. Hast du daran gedacht, Atlan?« »Flüchtig.« Ich nickte. »Ich weiß nur nicht, wie wir das anstellen. Wir können kaum die Barbaren unter den Augen des Giganten wegschleppen. Ich sage: Wir warten, sehen zu und entscheiden dann. Niemand treibt uns.« »Das ist richtig. Wir sollten mit dem Häuptling dieser von Gold und Prunk strotzenden Stadt sprechen.« Siren grinste sarkastisch. »Vielleicht haben sie Höhlen von Diamanten und Zedernholz, in denen sie sich verkriechen. Was willst du tun, Atlan?« Ich grinste mit Verschwörermiene und erwiderte: »Mich umsehen, sobald es dunkel wird.« Ein vernünftiger Plan, sagte der Logiksektor. »Und wir?« Ich sprach mit Ka-aper, stellvertretend für alle Freunde. »Wir können uns einige Nächte verstecken. Verteilt euch irgendwo. Fallt nicht auf, macht keine Feuer. Ich werde euch finden; ich glaube, es ist der beste Plan, den wir jetzt haben können.« »Gut. Glaubst du, die Eingeborenen helfen?« »Selbst wenn sie’s wollten, können sie es nicht, well sie keine Waffen haben. Die Angst lähmt sie.« Ich schüttelte energisch den Kopf. »Das glaube ich auch«, brummte Ka-aper. »Ich sage: Du gehst nicht ohne mich, Atlan.«
»Meinetwegen.« Wir zogen uns zurück. Der Raumfahrer beachtete die Menschen nicht, die wie besessen auf den Feldern arbeiteten. Offensichtlich hatte es ergiebig geregnet, denn sonst würden sich die hölzernen Pflugscharen schnell abgenutzt haben. Die Eingeborenen versuchten, die Arbeit nachzuholen, die sie wegen der Hilfeleistungen für den Fremden versäumt hatten. Vermutlich reichte die Zeit nicht, und dann würde der Winter für die Leute furchtbar werden. Wir zogen uns in ein sicheres Versteck im Wald zurück und bereiteten alles für ein Lager von Als es dunker wurde, machten sich Ka-aper und ich auf den Weg. Ternal Malat arbeitete verbissen und zielbewußt. Er ignorierte seine Helfer. Für die schwierige Arbeit brauchte er sie nicht, sie würden mehr verderben als nützen. Er befestigte einen Körper aus polymerisierendem Plastik auf den Steinen, den er in den letzten Tagen im Schiff gegossen haste. Aus jedem Kegel ragte ein kurzer Metallstift. »Bald seid ihr mich los, ihr grabenden Würmer«, brummte Ternal vor sich hin. Er war ganz auf seine Aufgabe konzentriert; er sah, daß es dunkelte. Er mußte bald aufhören, denn die Restenergie in den Schiffsmaschinen ließ nicht zu, daß er eine Beleuchtungsanlage einschaltete. Noch etwas sah er! Dieser Vogel kreiste seit dem frühen Morgen ununterbrochen über dem riesigen Tal, einmal höher, in engeren Kreisen, dann tiefer und in weit auseinandergezogenen Kurven, hin und wieder segelte er von einem Waldstück zum anderen und näherte sich dabei dem Observatorium. »Du wartest vergeblich!« rief Ternal unwillig. Unbeirrbar kreiste der Vogel weiter; ein letzter Sonnenstrahl hinter den Wolken ließ sein Gefieder aufblitzen. Seit wenn blitzen farbige Federn im Sonnenlicht? dachte Ternal, vergaß den Gedanken wieder und gab ihn an sein Planhirn weiter, das sich mit der Verkabelung der einzelnen Segmente beschäftigte. Endlich haftete der letzte Plastikisolator auf einem waagrecht eingepaßten Stein. »Schluß für heute!« grollte der Raumfahrer. Er legte zwei seiner Arme an die Brust und betrachtete mit gewisser Befriedigung die
Anlage. Er hatte nächtelang versucht, die richtigen Bezugssterne herauszufinden; das Ziel, in dessen Richtung er den Strahl seines Senders zu schicken hatte, lag so gut wie fest. Nur winzige Korrekturen hatten zu erfolgen. Er rechnete mit zwanzig Tagen, bis er in dem noch funktionierenden Empfänger des Schiffes die Antwort erhalten würde. Aus unerklärlichem Grund ärgerte ihn die Hartnäckigkeit dieses dummen Vogels. Er analysierte mit seinem Planhirn, das dafür nur einen geringen Teil der Kapazität abzweigte, dieses Problem. Sofort akzeptierte er die Erklärung: Der Vogel hatte mitangesehen, daß er einen Moment der tiefen Schwäche und der Erniedrigung durch den Anfall gehabt haste. Diese Raserei, in deren Verlauf er einen Pfad der Zerstörung gezogen und seinen kristallin verhärteten Körper wie einen Stahlblock gegen die Kreidefelsen geschmettert haste. Nicht einmal einer dieser zweiarmigen Planetarier hatte die Lähmung mit angesehen und erkannt, daß sein widerstandsfähiger Körper ihn verraten haste. »Die Problemlösung?« rief er. Die Menschen in ihren Häusern oder in den Viehkoppeln erschraken vor dem donnernden Gebrüll zwischen dem Schiff und dem steinernen Heiligtum. Wieder begannen alle Hunde wie besessen zu kläffen. Das Planhirn teilte ihm die Lösung mit. Sie zeichnete sich durch Prägnanz der Einfachheit aus. Unwillkürlich beschleunigte Ternal seine Gangart, bis er sich vor dem Schiff befand. Vor dem Wrack, verbesserte er in Gedanken und verfolgte die Linie der Kabel bis zum Heiligtum. Noch waren sie nicht angeschlossen; mit der geringen Energiemenge durfte er unter keinen Umständen Risiken eingehen. Er verschwand im Schiff und kam mit einem Gegenstand zurück, den die Eingeborenen fürchten gelernt hatten. Letztes Tageslicht überzog die ereignislose Landschaft mit fahlem rotgoldenem Zwielicht. Die Wolkenstrukturen am westlichen Himmel bildeten phantastische Muster. Im Gras zirpten und sägten Myriaden Insekten. Durch die halbe Stille ertönten nacheinander drei knackende Geräusche. Ganz plötzlich spaltete ein Blitz, gefolgt von einem hallenden Donnerschlag die Ruhe. Ein Keil aus Helligkeit
schien die Erde mit den leuchtenden Sternen zu verbinden; in seiner Spur gab es einen gelben Feuerball, dann leuchteten Glutbahnen in blauen, roten, gelben und grünen Linien auf. Wieder erfaßte eine Panikwelle die Menschen. Sie zuckten zusammen und murmelten Verwünschungen und Beschwörungen. Rinder brüllten, und Hunde bellten. Ternal stieß ein dröhnendes Gelächter aus, warf seine Waffe über die Schultern und stapfte die Rampe hinauf. Nur ein wohlbekanntes Kreischen verriet den Eingeborenen, daß sich die Tür der Sternenkugel für diese Nacht geschlossen haste. Ternal blieb stehen, den wuchtigen Handgriff des Verschlußhebels in den muskulösen Fingern. Wie der Energieblitz zuckte ein Gedanke durch seinen Verstand. Es hatte sich etwas verändert, war gefährlicher geworden, schien von unsichtbaren Kräften des Widerstandes erfüllt. Dies waren Gedanken und emotionelle Überlegungen, durch keinerlei belegbare Fakten unterstützt. Trotzdem war er plötzlich von kalter Wachsamkeit erfüllt. Er wußte nicht, worauf sich sein Mißtrauen stützte: Ich muß sehen, daß dies alles vorbeigeht. Je schneller, desto besser. Ich beginne, auf falsche Umweltreize panisch zu reagieren. Oder war dies ein deutliches Zeichen, daß ihn die rätselhafte Krankheit in ihrem Griff schüttelte? Ka-aper und ich verschmolzen mit der Umgebung. Ich hielt den geriffelten Griff meines Betäubungsstrahler-Dolches in der Hand, Ka-aper verließ sich auf seine Eulenaugen und den schnellen Bogen. In weiten Schleifen und so langsam, daß uns kaum jemand hören konnte, bewegten wir uns in fast vollkommener Dunkelheit auf das stattlichste Haus des größten Siedlungsteils zu. Hinter mir flüsterte der Romet: »Glaubst du wirklich, daß wir dort einen Häuptling oder Fürsten finden?« »Von allen Möglichkeiten«, flüsterte ich zurück, ohne den Kopf zu drehen, »ist dies die wahrscheinlichste, Ka-aper.« Was wir bisher gesehen hatten, erschreckte und deprimierte uns. Es war ein Zustand, der sich auf dem schmalen Grat zwischen Menschwerdung und dem Aufdämmern dessen bewegte, das ich »Kultur« oder »Zivilisation« nannte. Nur eine winzige Spur mehr, als das Individuum zum Überleben brauchte. Von hundert Kindern
starben siebzig, bevor sie fünf Jahre alt waren. Kein Steinzeitler war älter als vierzig, in Einzelfällen fünfzig Jahre. Ein Leben voller Ungeziefer, Krankheiten, Gefahren, Nöten, und Entbehrungen. Wenn ein Mensch 363 Tage für das Überleben schuften mußte, blieben ihm nur wenige Stunden zum Träumen großer Ideen. In diesem Fall war die Form eines Tonbechers oder der mißglückte Versuch, ein Stück Kupfererz zu bearbeiten, eine kulturelle Großtat, ein Traum von wahrhaft kosmischer Größe. Diese illusionslose und hilflose Existenz war es, die unsere Empfindungen beherrschte. Wir mußten uns, obwohl Gubal alles andere als die höchsterreichbare Kulturstufe war, diesen armen Menschen gegenüber wie die Herrscher des Kosmos fühlen. Wir konnten sie nur mit Mühe als unseresgleichen akzeptieren. Wir bemitleideten sie, well wir sahen, wie sie dahinvegetierten. »Vor uns bewegt sich der Riese auf sein Schiff zu. Wenn du den Atem anhältst, Atlan, kannst du seine Tritte spüren.« »Ruhig. Warte… ja, ich habe sie gehört.« Wir sahen nicht viel. Der Mond verbarg sich hinter Wolken, einzelne Sterne leuchteten, gleichmäßig graues Dunkel lag über allem. Nur hin und wieder wurde eine Rauchsäule von Flammen des Herdfeuers zuckend erhellt. Ich strengte mich an, tatsächlich spürte ich eine Mischung aus Geräuschen und Vibrationen; langwellige Schwingungen. Dann wurden die Geräuschfolgen deutlicher; ich konnte sie identifizieren. Der schwarzhäutige Raumfahrer ging die Rampe hinauf, verschwand im Schiff, ohne die Schleuse zu schließen, kam hervor und schien stehenzubleiben. Ich fühlte, wie mich ein Gefühl des Argwohns packte, ein Impuls, der Gefahr verhieß. Mach nie den Fehler, den Fremden zu unterschätzen, zischte aufgeregt der Logiksektor. Dann überschlugen sich die Beobachtungen und Aktionen. In dem Moment, als ich meinen Kopf hob und über der Ebene im letzten diffuser Sonnenlicht ein Metallteil des Seeadlers aufblitzen sah, mischte sich in einen langgezogenen Blitzstrahl der krachende Donner einer schweren Energiewaffe. Der Blitz fuhr schräg zum Firmament und traf Horus. Die Maschine löste sich in einem Feuerball auf, einzelne brennende Teile regneten,
mehrfarbige Feuerspuren hinter sich herziehend, auf das Land herunter. Er hat es gemerkt! schrie das Extrahirn. Ein Raumfahrer, der auf einen kreisenden Vogel schoß und bemerkte, daß er explodierte und vielfarbig verglühte, mußte seine Folgerungen daraus ziehen. Sein Mißtrauen würde schlagartig erwachen, eine Überlegung ergab eine andere, bedeutungsvollere. Ich würde wissen, daß ein anderer Raumfahrer mit technischen Hilfsmitteln sich hier befand, also wußte es auch der gestrandete Riese! Tödlich erschrocken zischte Ka-aper: »Horus ist vernichtet. Er hat deinen Wundervogel mit seinem Lichtpfeil getötet!« Echos, brüllende Tiere, Geräusche und nachhallendes Dröhnen unserer Trommelfelle, aufgeregte Schreie der Menschen und jämmerliches Kreischen der Raumschiffstür bildeten einen akustischen Abschluß dieser Aktion. Ich stand wie erstarrt da und hörte mich flüsternd antworten: »Du hast recht, Ka-aper. Das war eine deutliche Warnung. Jetzt wird er denken, daß seine wirklichen Feinde auf dem Weg sind. Uns aber schützt noch immer das Dunkel.« »Aber diese widerlichen Tiere werden uns nach hundert Schritten verraten haben«, sagte er grimmig. Er meinte die verwilderten Hunde, deren Intelligenz nicht dazu ausreichte, die Schafherden zusammenzuhalten. Nützliche Wächter, sagte der Logiksektor. Ihr Bellen wird den Fremden aufschrecken. Aber warum war dann das fremde Intelligenzwesen wieder im Raumschiff verschwunden? Deshalb, well es seinen Versuch weiter vorantreiben wollte? »Ich werde sie lähmen, wenn sie zu laut werden«, sagte ich entschlossen. »Los, vorwärts.« Inzwischen waren die Menschen aus den Häusern gestürzt und standen erschrocken herum. Natürlich war nichts mehr zu sehen. Während die Tiere sich beruhigten, kamen wir beide unbemerkt heran. Zwischen den einzelnen Gestalten vor uns flackerten die Flammen rußender Fackeln und einige Öllämpchen. Die kehligen Worte der aufgeregten Unterhaltungen und das Winseln der nach
Salpeter riechenden Kinder drangen durch die Dunkelheit. Zwanzig Schritte von dem längsten Haus mit den daran befestigten Knochen und Gehörnen von Rindern blieben wir stehen. Aus einer Gruppe löste sich ein Hund, riß den Rachen auf und griff mit wütendem Knurren an. Ka-aper zog die Bogensehne bis hinters Ohr aus, zielte flüchtig und löste den Schuß aus. Der Pfeil drang durch den Hals des Tieres und nagelte den Kopf an das Holz eines herumliegenden Stapels zerhackter Stammabschnitte. In die Versammlung der Barbaren kam Bewegung. Jüngere Männer rannten mit geschwungenen Fackeln auf uns zu und blieben abrupt stehen, als sie unsere funkelnden Waffen und den gespannten Bogen sahen. Wieder waren für sie Fremde aufgetaucht, mit denen sie nie hatten rechnen können. »Halt!« sagte ich in ihrer Sprache. »Wir sind als Freunde gekommen. Wer ist der Häuptling?« »Urger. Es ist Urger«, stotterte einer der bärtigen Männer. Obwohl es Sommer war und keiner von ihnen viel Kleidung trug, ging von ihnen ein stechender Geruch aus. Ka-aper zog scharf die Luft ein und trat an meine linke Seite. Er flüsterte: »Sie stinken schlimmer als Cheper.« »Holt Urger hierher. Der Fremde darf uns nicht sehen«, sagte ich. »Laßt die Knüppel und Steindolche lost Wir hätten euch zehnmal überfallen können.« Jemand schrie den Namen des Häuptlings. Inzwischen siegte Neugierde über Furcht. Ein Halbkreis von Bauern und Viehzüchtern versammelte sich um uns; die Frauen und Mädchen zeigten weniger Mißtrauen und Furcht als die Männer. Ein breitschultriger, bärtiger Mann mit nackenlangem Haar schob sich durch die Menge und rammte zwei Fackelträger zur Seite. »Ich bin Urger. Was wollt ihr, Fremde? Wie kommt es, daß ihr unsere Sprache sprecht?« »Ich bin Acran, dies ist mein Freund Ka-aper. Wir sind harte Kämpfer. Ihr braucht keine Angst zu haben. Dir, Urger, gehorchen alle Menschen hier?« Er nickte bedächtig. Je mehr wir von den Menschen sahen, selbst beim zuckenden Licht der Fackeln, desto deutlicher wurde, daß sie
sich vor Angst fast verzehrten. Selbst der Häuptling mit den schweren Muskelpaketen an den Oberschenkeln und den Armen schien am Ende seiner Kraft zu sein. »Ich denke, sie tun, was ich ihnen sage. Aber wir werden nicht gegen den Fremden kämpfen, Acran.« Ich deutete hinüber zu den Häusern. »Kommt der Fremde in eure Hütten?« fragte ich halblaut. Inzwischen hatten sich die Hunde mit unserer Anwesenheit abgefunden. Sie krochen zwischen den Füßen der Menschen herum und klemmten die Schwänze zwischen die Beine. Urger kam näher. Ka-aper senkte den Bogen und entspannte ihn. Einen langen Augenblick schwiegen die Barbaren. Wir hörten nur das leise prasselnde Zischen der Fackelflammen. »Er kommt niemals. Er ruft, wir helfen. Alle Arbeit bleibt liegen. Wir werden frieren und hungern im Winter. Was wollt ihr?« »Gegen ihn kämpfen. Wir müssen in Ruhe sprechen. Hol die wichtigsten Männer, wir sprechen im Haus. Es ist sicherer für alle.« Urger starrte uns abschätzend an. Er war nichts anderes als ein Bauer mit gut ausgeprägtem Herrscherwillen, ihm fehlten nahezu alle Möglichkeiten, die Völker im Süden hatten. Vor allem zwang die Kälte des Winters die Menschen zur Untätigkeit. Sie würden länger arm und primitiv bleiben, als an anderen Orten der Welt. Schließlich zerrte Urger an seinem Bart und knurrte: »Gut. Gehen wir in mein Haus.« Er rief einige Namen. Hange hieß einer, Thorsan ein anderer, Seddin, Aubin wieder andere. Wir schlossen uns den Männern an und stolperten entlang einer Wand aus Holz, Lehm und Moos bis zum Eingang ins größte Langhaus. Es war jenes mit den Stierschädeln an der spitzgiebligen Front. Nacheinander schoben wir uns durch die Tür, die mit Fellen verhängt war. Halbe Dunkelheit empfing uns. Es stank nach Tieren, Feuchtigkeit und Armut. Ein Erdloch war nicht viel besser. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Menschen und Tiere, die im Winter zusammenlebten es innerhalb der Hütte freundlich und gemütlich hatten. Als Fackeln und Öllampen hereingebracht wurden, sahen wir Käfer und weißliche Insekten nach allen Seiten davonkrabbeln und feuchte
Ritzen suchen. Wir setzten uns auf Schemel, umgestürzte Kübel und strohgefüllte Säcke. Der Rauch der Fackeln zog durchs Loch im Dach ab. Ein Drittel des Hauses wurde von Menschen bewohnt, abgesehen von Hühnern und schnatternden Enten waren keine Tiere zu sehen. Man roch sie nun. »Sprich!« forderte uns Urger auf. Er hatte eine rauhe, keineswegs unangenehme Stimme. Sein Gesicht zeigte unverhohlenes Mißtrauen. »Wir kommen aus dem Süden. Wir haben gehört, daß ein mächtiger Riese von den Sternen kam und euch knechtet«, sagte ich. Die Einrichtung der Hütte war jämmerlich, Waffen und Werkzeuge der Männer waren nicht besser. Wir fanden sämtliche Beobachtungen bestätigt. »Wir wissen nicht, was der Frostriese will«, brummte er dumpf. Die anderen starrten uns an und bewunderten jedes Stück unserer Kleidung und Ausrüstung. »Das wissen wir sehr genau.« Ka-aper rückte von einem schmutzstarrenden jungen Mann fort. »Der schwarze Gigant will von euch weg. Deswegen hat er den Steinkreis gebaut…« »Er hat uns alle gezwungen, ihm Monde fang zu helfen. Wir haben geschuftet und geblutet!« schrie einer der Männer. Ich hob die Hand und blickte Urger und Thorsan in die Augen. »Das wissen wir auch. Er wird in einigen Tagen nach Hilfe rufen. Dann werden andere Kugeln landen. Aus ihnen werden viele schwarze Riesen kommen. Vielleicht bleiben sie eine Weile, vielleicht verschwinden sie sehr schnell. Wir sind da, den Fremden zu töten.« »Ternal Malat heißt er«, meldete sich eine alte Frau aus dem dunklen Hintergrund. Uns wurde immer unbehaglicher zumute. »Wie wollt ihr diesen gewaltigen Kämpfer töten? Er hat furchtbare Waffen, mit denen er Steine zertrümmert und Bäume in Flammen setzt.« »Wir haben seine Waffen gesehen. Ihr habt Angst, nicht wahr?« »Wir können nichts anderes tun«, grollte Urger und hob seine Arme, »als ihm zu gehorchen. Wir müssen tun, was er will.«
»Wenn er merkt«, sagte mein Freund hart, »daß wir gegen ihn kämpfen, wird er sich an euch rächen. Du, Urger, mußt deine Leute nehmen und verschwinden. Versteckt euch in den Wäldern!« Er lachte rauh auf, und alle Barbaren schüttelten entsetzt die Köpfe. Lautes Murmeln und aufgeregter Wortwechsel unterbrach uns. Die Vorstellung, alles verlassen zu müssen, schien die Menschen zu überfordern. »Seid ruhig!« rief ich. »Wir sind auch hier in Gefahr.« Der Häuptling schrie Worte in kehliger schnarrender Sprache. Schlagartig stellte sich Ruhe ein. Abwartend, wie erschreckte Tiere wirkend, starrten uns die Versammelten an. »Wir sind hier versteckt«, sagte Ka-aper. »Fünfundzwanzig Männer, die zu kämpfen gewöhnt sind. Wenn wir anfangen, den Riesen zu bekämpfen, wird er euch für die Kämpfer halten. Er wird euch töten, eure Felder und Hütten verwüsten. Das wollen wir verhindern.« »Was wollt ihr tun? Ihr werdet ihn nicht besiegen!« »Wart’s ab. Wir werden es nicht leicht haben, aber wir müssen verhindern, daß ein Dutzend Riesen erscheint. Wir werden euch helfen, wo wir können. Überlegt, Urger, was ihr tun wollt. Wir beantworten alle Fragen. Wie viele Menschen leben hier?« »Hier, in Häuser-und-Äcker-zwischen-Meer-und-Nordland, leben dreihundert Menschen. In diesem Sommer sind zwei Dutzend dazugekommen. Was sollen wir tun, wenn wir die Häuser und Herden verlassen?« »Beeren sammeln. Sie sind reif geworden«, brummte Ka-aper verdrossen. »Ihr könnt Vorräte mitnehmen. Wie versprochen: Wir werden euch helfen. In den nächsten Tagen und Nächten kämpfen wir nicht. Wir beobachten den Gegner. Rüstet euch für diesen Augenblick. Ich glaube, daß ihr bald nicht mehr für Ternal Malat arbeiten müßt.« Wieder schüttelte Urger seinen Kopf und kratzte sich im Nacken, dann holte er ein Insekt aus den Haaren und tötete es mit knackenden Fingernägeln.
»Er hat geschrien, daß ein Wunder geschehen wird. Eine gräßliche Katastrophe. In weniger als einem Mond. Er will uns bestrafen. Ich weiß nicht, wofür.« Ka-aper und ich sahen uns verwirrt an. »Eine Katastrophe?« »Er wird sie abwenden. Wenn wir ihn ruhig arbeiten lassen und ihm helfen, wenn er uns ruft«, bestätigte der Häuptling. Hange und Seddin nickten. »Kaum zu glauben. Warten wir es ab. Was sagst du, Urger, zu unseren Vorschlägen?« »Ich weiß, daß er euch töten und uns bestrafen wird, der Frostriese«, sagte Urger ungerührt. »Dies wird geschehen, wenn ihr uns nicht glaubt«, sagte ich deutlich. »Wir können ihn töten. So wie ein Insekt oder eine winzige Schlange einen Bullen töten kann, so können wir es. Glaubt uns!« »Kann ich nicht glauben«, tönte Urger in einem Tonfall, der seine endgültige Meinung deutlich machte. Ich zuckte mit den Schultern und stand auf, einerseits erleichtert, andererseits beunruhigt. Sie waren nicht nur hilflos, sondern auch starrsinnig. Das brutale Leben hier hatte sie so werden lassen. Nicht die Spur der Leichtigkeit oder gar Heiterkeit, wie wir sie trotz aller Probleme aus den südlichen Gegenden schätzten. Mit deutlicher Erleichterung stand auch Kaaper auf und schlug dabei mit dem Kopf gegen einen grob behauenen Balken. Er fluchte in unserer Sprache. Lange und ausdrucksvoll. »Die Ereignisse werden dich und deine Leute zwingen, uns zu glauben, Urger«, sagte ich laut. »Warte es ab. Wir glauben, daß der Fremde krank ist. Er ist unberechenbar, wie ein tobsüchtiger Bulle. Wenn ihr Fragen habt, geht nach Norden – wir werden euch sehen, ihr werdet uns finden. Einverstanden?« Jetzt stand auch Urger auf: ein Stamm voller schwerfälliger, begriffsstutziger und letzten Endes hilfloser Menschen. Mit Schaudern erkannte ich, daß auf diesem Planeten eine Gesetzmäßigkeit der Evolution herrschte, die ihre Grausamkeit an allen Orten und zu jeder Zeit bewies. Verglichen mit diesen Menschen – und ich ahnte, daß in anderen Teilen von Larsaf Drei
noch unbeschreiblichere Zustände herrschten! – hatten die Frauen und Männer der ZEDER das glücklichere Los gezogen. Vor dem Ausgang drehte ich mich herum und hielt meinen dickschaftigen Speer waagrecht. »Urger! Sieh her!« forderte ich leise. Dann tippte ich leicht auf den Kontakt. Mit röhrendem Krachen schoß aus der funkelnden Lanzenspitze ein Feuerstrahl, bohrte sich in den trockenen Lehmboden und verbrannte ihn. Aufflammende Gaswolken erhoben sich und breiteten sich nach allen Seiten aus. »So werden wir ihn töten, wenn es notwendig wird«, erläuterte ich ruhig und hoffte, daß Ternal Malat diesen Energieausbruch nicht gehört haste. »Wir haben zauberische Waffen wie der Frostriese.« »Er wird euch töten«, beharrte Urger hartnäckig. Ich lächelte verständnisvoll. Der Ausdruck von verwirrtem Abscheu in Ka-apers Gesicht war unverkennbar. Ich schob mich zur Türöffnung hinaus und atmete erleichtert die kühle, vom Westwind bewegte Nachtluft ein. Sie erschien mir köstlicher als der salzige Hauch des Meeressturms. Hinter unseren Rücken schrien die Barbaren wild durcheinander. Einige husteten würgend; noch immer glimmten die Ränder der Stelle, an der sich die Energie in den Boden gefressen haste. Eine alte Frau leerte einen Bottich Wasser über die Stelle; die Glut verschwand in einer Dampfwolke. »Gehen wir. Ich bin ärgerlich und müde, und überdies hungrig«, sagte Ka-aper leise und warf mit schwungvoller Geste seinen Bogen über die Schulter. Ich war, was die nächsten Aktionen betraf, unsicher. Wir gingen zwanzig Schritte in die Dunkelheit. Mit einer fast erloschenen Fackel rannte uns Urger nach und blieb stehen. »Ihr müßt mich verstehen, Fremde!« begann er unbeholfen. »Wir haben den Rest unseres Mutes verloren. Vielleicht finden wir ihn wieder.« »Ich verstehe dich, Häuptling«, antwortete Ka-aper mit beträchtlicher Grobheit. »Du und deine hundert Männer sind feige. Glaub uns! Bisher war alles ein scharfes Spiel. In den kommenden Tagen wird Ernst daraus. Es gibt nicht nur eure Häuser und Felder. Es gibt mehr auf dieser Welt.«
Er warf Urger und dem breitschultrigen Mann, der neben ihm stand, einen schwer zu deutenden Blick zu. »Wartet. Die Katastrophe wird euch treffen, nicht uns!« Er winkte mir. Der Mond war aufgegangen, und er war fast voll. Über der Landschaft lag fahler, silberfarbener Glanz. Wir verließen, ohne daß uns jemand aufhielt, den Bezirk der stinkenden Langhäuser. Mit jedem Schritt näherten wir uns den Verstecken unserer Leute. Mein Extrahirn murmelte resignierend: Schlaf dich aus. Dann versuch, einen klugen Angriff zu starten! Ka-aper und ich wurden schneller. Schließlich liefen wir durch die Nacht und näherten uns dem Rand des Waldes. Vogelrufe ertönten, schnallende Laute klangen durch Büsche und zwischen Stämmen hervor. Dann rissen Männer die Stoffbahnen zur Seite und zeigten uns kleine, rauchlose Häufchen der Feuerstellen. Wir schwenkten herum und setzten uns, als wir unsere Freunde erkannten. »Welchen Erfolg habt ihr gehabt?« »Werden uns die Barbaren unterstützen?« Aufgeregte Fragen prasselten auf uns herein. Ka-aper und ich legten die Waffen zur Seite und streckten uns erleichtert aus. Es war, als ob sich ein Alptraum aufzulösen begann. Wir schüttelten uns, um unsere dunklen Gedanken loszuwerden, dann berichteten wir. Je mehr wir sprachen, desto deutlicher wurde uns, daß wir keine Unterstützung haben würden. Bei unserem Versuch, den Raumfahrer zu bekämpfen, würden wir den Tod vieler Barbaren in Kauf zu nehmen haben. Als wir unseren Bericht abgegeben hatten, sagte Siren mit deutlichem Ärger in der Stimme: »Wir hätten uns darauf beschränken sollen, am Oberen Meer Handel zu treiben. Diese Holzköpfe hier wissen nicht einmal, wenn es sinnvoller ist, aufzugeben. Halbe Tiere.« Irgendwann würde ich ihm meine Gedanken und Überlegungen zu diesem Thema näherbringen. Heute waren wir zu müde und zu enttäuscht, um lange reden zu können. Wir aßen die Reste des Essens, das die Freunde für uns aufgehoben hatten, legten die Rüstungen ab und rollten uns in die Mäntel. Die schwarzgeäderten Haufen der Feuer waren wie Augen, von denen die Nacht
durchsucht wurde. Abgesehen von der brutalen Lösung schien es keinen anderen Weg zu geben, den Planeten von dem Monstrum aus den Tiefen des Weltraums zu befreien. Mitten in der Nacht weckte mich, ein Impuls des Extrasinns. Ich fuhr auf und hörte aus der Richtung, aus der wir gekommen waren, wirren Lärm. Mit einem Satz war ich auf den Beinen. Ich spürte, wie der Zellschwingungsaktivator seine kreislaufstabilisierenden Impulse aussandte. Einige Atemzüge fang taumelte ich zwischen den Baumstämmen umher und wußte nicht, wo ich mich befand, aber mit jedem Schritt kam mehr Erinnerung zurück. Ich lief wie ein Schlafwandler im Zickzack einher; ein mittelgroßes Wunder bewahrte mich davor, mir den Schädel zu spalten oder mir einen abgebrochenen Ast ins Auge zu bohren. Schließlich erreichte ich, immer wieder in Zonen silbernes Mondlicht eintauchend, den Waldrand. Der Lärm nahm zu. Dreihundert Menschen und sämtliche Tiere schienen sich in schreiende und rasende Wesen verwandelt zu haben. Dann hörte ich das donnernde Organ des Fremden. Er ist rasend. Er tobt. Vermutlich hat ihn ein Schub der Krankheit gepackt, schrie der Logiksektor durch das Chaos meiner Gedanken. Ich rannte wie ein Besessener geradeaus und benutzte einen Pfad, den wir selbst getreten hatten, so daß ich ohne Verletzungen die Kuppe des Hügels erreichte. Ich blieb keuchend stehen und sah nichts. Langsam bemerkte ich, was vor sich ging. Meine Augen gewöhnten sich an das Dunkel. Nur vages Sternenlicht und die Strahlen des untergehenden Mondes über dem Talkessel ermöglichten es, mehr als Schatten zu erkennen. Es schien zwischen den Hügeln kein Tier zu geben, das sich nicht wie rasend gebärdete. Ziegen, Schafe und Rinder schrien und blökten. Schweine und Hunde kreischten und kläfften. Vögel und Federmäuse huschten verwirrt über die Weiden hinweg. Birken und Eiben schüttelten sich, überall raschelte, pfiff und knirschte es. Ich lehnte mich an einen Stamm und versuchte, Einzelheiten zu erkennen. Plötzlich flammten zwischen den Häusern Fackeln auf. Menschen rannten nach allen Richtungen. Ein trommelndes Geräusch erklang, ich erkannte die Schritte des Fremden. Er schien sich in der Nähe des
Raumschiffes zu befinden. Ich hörte metallische Geräusche. Demolierte er sein Raumschiff? Seine Stimme war wie der Donner eines mitternächtlichen Gewitters. »… werde die Welt in ein Chaos verwandeln…«, hörte ich. Er benutzte das Idiom der Eingeborenen. Offensichtlich hielt ihn eine besondere Art Wahnsinn in seinem Griff. »… bringe euch alle um, ihr…« Ich schüttelte den Kopf und zwang mich, meinen Platz nicht zu verlassen. Hier war ich sicher. Wieder hörte ich schmetternde und krachende Geräusche in langen Abständen. Ich entsann mich der Szene, die Horus übertragen haste. Wie Ternal Malat sich in einen Block rätselhafter Materie verwandelt und die Kreidefelsen zerstäubt haste. Ich war sicher, daß er sich in dieser Körperform gegen sein Schiff warf; anders waren die metallischen Geräusche nicht zu erklären. Ich mußte mich als Henker fühlen, wenn ich einen kranken verzweifelten Raumfahrer bekämpfte und tötete. Selbstzerstörerisch wütete dieses Intelligenzwesen, dreitausend Schritte von mir entfernt. Ich starrte mit brennenden Augen in die Richtung der Geräusche. Im fahlen Mondlicht erkannte ich einen Teil der Rundung des Schiffes. Immer wieder erzitterte das Bild. Wieder warf sich der Fremde gegen den Metallrumpf. Abrupt hörten die dumpfen Töne der Schritte auf, mit denen er Anlauf nahm. Ich hörte rasendes Trampeln und wußte, daß sich Ternal Malat auf seine Laufarme niedergelassen hatte und zu rennen begann. Schließlich bemerkte ich einen massigen Schatten, der quer durch die Ebene rannte. Mit rasender Geschwindigkeit, im trabähnlichen Ablauf der Bewegungen, rannte er durch Weiden und Äcker. Holz splitterte, als er vermodernde Weiden umwarf und niederwalzte. Es zischte und plätscherte, als sich der Fremde durch den See bewegte, der aus dem als Viehtränke aufgestauten Bachlauf bestand. Das rasende Trommeln der vier Gliedmaßen wurde lauter. Der Raumfahrer stob die Anhöhe hinauf und näherte sich in gerader Linie den zusammengewürfelten Langhäusern, die wir eben verlassen hatten. Neun Bauwerke, umgeben von Zäunen und Gestellen aufgespannter Felle in ihrem Mittelpunkt befand sich der Brunnen mit dem Hebelarm. Um die Häuser sah ich die Silhouetten
verängstigter Menschen und ihrer Herdentiere, und beide Teile waren teilweise in heller Panik, teilweise vor Furcht gelähmt und starr. Wie eine Maschine, die ferngesteuert war oder sich auf Geleisen bewegte, raste der Raumfahrer auf das Zentrum dieser Siedlung zu. Ich ahnte, was geschehen würde. Ein Anfall dieser rätselhaften Krankheit hatte ihn gepackt. Er war in Raserei verfallen. Wie ein riesiger schwarzer Stein kam Ternal auf die Häuser zu. In Panik stoben die Menschen auseinander, als sie erkannten, welche Gefahr ihnen drohte. Die Ebene hallte wider von schrillen Entsetzensschreien. Das Vieh gebärdete sich wie tobsüchtig und zerstreute sich flüchtend. Das kann deine Chance sein! zischte der Logiksektor. Ich warf mich nach vorn und begann zu rennen. Mein Ziel war das silberfarbene Raumschiff, zwischen den Bäumen aufschimmernd. Dreimal drehte ich mich um und versuchte zu erkennen, was hinter mir vorfiel. Mit der vierfachen Geschwindigkeit eines galoppierenden Pferdes näherte sich der Raumfahrer der untersten Langhütte. Mein Schritt stockte, als ich die Szene im Augenblick des Zusammenpralls sah. Kopf und Schultern des Fremden verschwanden in der Front aus Lehm, Strohhäcksel und Binsengefecht. Fachsbündel flogen explosionsartig auseinander, dann hörte ich das gräßliche Knirschen und Knistern, mit dem hölzerne Verbindungen brachen oder auseinandergerissen wurden. Einen Augenblick später verschwand dieses lebende Geschoß im Haus, dessen Mauern und Dach sich nach außen zu wölben schienen. Eine Wolke aus Heu und Stroh erhob sich, als ein Teil des Daches zusammensackte. Dann verließ Ternal auf der entgegengesetzten Seite die Ruine dieses Stalles für Vieh und Menschen. Krachend fielen die Seitenwände auseinander, das Dach brach nach innen, und eine große Wolke aus Staub erhob sich, wo eben noch das Holzhaus gestanden war. Der Fremde raste geradeaus weiter. Ich ignorierte das Geschrei und die ersten aufflackernden Flammen, die am trockenen Stroh des Daches Nahrung fanden und sich ausbreiteten. Ich rannte und hoffte, daß ich mir keinen Fuß brechen würde. Immer näher kam ich der Rampe, wich einem Baumstamm aus, sprang durch einen Busch, dessen Zweige
zurückschnellten und wurde mir bewußt, daß ich nur die getarnten Dolchstrahler im Gürtel bei mir trug und sonst völlig unbewaffnet war. Dann schlug ich einen Haken, rutschte auf dem schmierigen Grund aus feuchter Erde aus und rannte keuchend die schräge Fläche hinauf. Düsteres, bräunliches Licht erfüllte das Innere des Schiffes. Ich erkannte tiefe Beulen und Risse in den Wänden des Schleusenraums. In einer Ecke lehnte, achtlos hingeworfen, ein kompliziert aussehendes Ding. Es schien die Waffe des Raumfahrers zu sein. Ich sah die Griffstücke, in die seine dicken Finger paßten. Ich packte die Waffe am zerschlissenen Riemen und hob sie hoch. Sie war teuflisch schwer. »Ich werde sie dir wegnehmen, Ternal«, murmelte ich und sah mich um. Hier waren Zerstörung und Verwahrlosung am weitesten fortgeschritten. Überall sah ich Rostflecken, Spuren herausgeschnittener Geräte und losgerissener Kabelverbindungen. Es war einst ein hervorragend gebautes Schiff gewesen, erkannte ich, als ich eine geschwungene Treppe mit großen Stufen hinaufhetzte. Auch hier ging es weiter: Schalter und Verbindungselemente waren demontiert und, wo sich Schrauben oder Nieten nicht hatten bewegen lassen, herausgerissen worden. Die Wutanfälle des Riesen hatten schwere Zerstörungen angerichtet. Nur die Notbeleuchtung schien zu brennen, jedenfalls wirkten die runden Halbkugeln, die jenes matte Licht verströmten, nicht wie die Beleuchtung eines Schiffsinnern. Ich hörte nicht eine einzige Maschine laufen, es gab keine Vibrationen, keine Pumpengeräusche; nichts. Das Schiff war so gut wie tot. Ein Wrack, das sich niemals mehr einen Millimeter über den Boden dieser Welt erheben würde. Ich rannte weiter und kam an einem Wohnraum vorbei, der ebenfalls verwahrlost war. Gefäße mit eingetrockneten Nahrungsmitteln standen herum und verströmten stechende Gerüche. Irgendwo tropfte ein Flüssigkeitshahn. Pochende Geräusche klangen wie winzige Explosionen. Ein gewaltiges Lager, verschmutzt und zerwühlt, Kleidungsstücke und Ratten, die mich pfeifend anstarrten. Schließlich kam ich in die Steuerkanzel des Schiffes und erschrak.
Er kann aufwachen und plötzlich zurückkommen! warnte der Logiksektor. Auch hier hatten Zerstörung und Feuer geherrscht. Mehr als die Hälfte aller Instrumente war ausgebaut. Schmorspuren zogen sich über die Oberfläche der Instrumentenpulte und der Paneele. Seitlich angebrachte Platten waren aufgerissen. Dicke Kabelbündel hingen auf den Boden herunter. Es roch durchdringend nach verbrannten Anlagen. Der riesige Pilotensessel zeigte das Alter des Schiffes ebenso wie den hohen Grad der Abnutzung; sämtliche Kanten waren aufgerissen, der Bezug abgewetzt und zerschlissen. Ich drehte mich langsam herum und nahm das Bild in mich auf, dann verließ ich den Steuerraum durch eine schmale Schottür. Ich verzichtete darauf, den nächsten Raum einer genauen Prüfung zu unterziehen. Es würden kaum Gegenstände zu finden sein, die mir oder den Eingeborenen halfen. Der Korridor führte in Absätzen, von Rampen und Treppen unterbrochen, nach unten. Ich stolperte über das doppelte Kabel, das in einem riesigen Schaltkasten verschwand und dort angeschlossen war. Ich folgte der dicken farbigen Schlange durch einige Räume des Schiffes. An etlichen Stellen hatte Ternal mit seiner Waffe große Löcher in Wände und Schotte geschnitten, um das Kabelpaar umweglos verlegen zu können. Mit diesem Doppelkabel wollte er vermutlich die letzte Energie des Schiffes zum Steinkreis leiten, um seinen Funkspruch abzustrahlen. Ich warf auf meinem überstürzten Weg aus dem Schiff immer nur Blicke in die verschiedenen Räume. Sie waren mit Ausrüstungsgegenständen vollgestopft, aber sie bedeuteten mir nichts. Ich hastete die Rampe hinunter und befand mich wieder im Schleusenraum. Mit zwei Sätzen war ich in der Ecke und stemmte die Waffe hoch. Eine rote Lampe leuchtete stechend auf; ich stellte mir vor, sie zeigte die Ladestärke dieser Energiewaffe an. Ich schulterte das schwere Gerät, hielt es wie einen Stamm mit beiden Händen und lief langsam die Rampe hinunter. Kaum hatte ich die ersten tarnenden Büsche umrundet, sah ich die Auswirkungen der Katastrophe. Die Ruine des ersten Langhauses brannte. Eine riesige Rauchwolke drehte sich in den Himmel. Ihre Unterseite wurde von fauchenden Flammen zuckend beleuchtet.
Große Focken wirbelten am Rand der Wolke in die Luft und taumelten hin und her. Eine Dampfwolke zischte, wenn einer der Bauern einen Kübel Wasser in die Flammen schüttete – ein nutzloser Versuch. Ich rannte weiter und hielt mich weit links, genügend von der geraden Linie zwischen den Häusern und dem Schiff entfernt. Die schwere Waffe zwang mich, meine Last von einer Schulter zur anderen zu wechseln. Ich blieb mit dem Lauf und dem Riemen an Zweigen hängen und begann zu schwitzen. Ich blieb am Waldrand stehen, als ich genügend Abstand zwischen mich und das Schiff gebracht haste. Schweigend, schwer atmend starrte ich hinüber zu der Anlage der Häuser. Vier von ihnen waren zerstört. Ternal Malat war geradeaus gerannt. Das erste Haus, dessen Zusammenbruch ich mit angesehen hatte, befand sich in dieser Linie. Mit rasenden Sprüngen hatte der Raumfahrer den Platz zwischen den Bauwerken durchquert und augenblicklich das zweite Haus gerammt. Er hatte die Hälfte niedergewalzt und zerfetzt, dann traf er auf das nächste Langhaus und schnitt es in der Mitte auseinander. Schließlich hatte er die linke Seite eines entfernt stehenden Hauses getroffen und ebenfalls in Staub und Trümmer verwandelt, worauf das Dachgestühl heruntergebrochen war. Auch dieses Haus stand in Flammen. Überall hetzten schreiende Barbaren hin und her und versuchten, die Brände einzudämmen. Den undeutlichen Geräuschen nach zu urteilen, bewegte sich Ternal Malat im weiten Bogen jenseits des Steinkreises, zurück zum einzigen Ort, an dem er sich nicht als Ausgesetzter und Vergessener fühlen würde, also zum Raumschiffswrack. Ich wuchtete die schwere Waffe über meine Schulter und sah vor mir, zwischen den Stämmen des Hügelwaldes, eine geschwungene Fackel. Sie warteten dort drüben auf mich. Langsamer und nicht mehr in unmittelbarer Gefahr, von dem Rasenden entdeckt zu werden, schleppte ich die Waffe in unser Versteck. Nach und nach kamen ein Dutzend Freunde aus allen Richtungen. Ka-aper deutete im Licht eines abgeschirmten Feuers auf den außerordentlich fremd wirkenden Gegenstand, den ich schweißtriefend hierher geschleppt haste. Er fragte keuchend: »Was soll das, Atlan?«
»Das ist die schreckliche Waffe des Fremden. Ich hab’ sie aus dem Sternenschiff gestohlen.« »Mutige Tat.« Ancantas nahm mir die Waffe aus den Händen, wog sie anerkennend, hütete sich aber, irgendwelche Hebel oder Schalter zu berühren. »Was willst du damit anfangen, angesichts des zerstörten Dorfes unserer verwanzten Freunde?« »Vielleicht will ich nichts anfangen«, sagte ich nachdenklich. »Aber Ternal Malat hat eine Möglichkeit weniger. Die Lage, in der sich alle befinden, auch der Riese, ist alles andere als klar.« »Du sagst es. Er ist wahnsinnig, nicht wahr?« »So scheint es«, entgegnete ich. »Aber vielleicht haben Urger und seine Leute heute etwas gelernt.« »Das will ich hoffen«, antwortete Ka-aper. »Sind alle von unserer Gruppe hier?« Wir zählten ab, riefen Namen und stellten fest, daß sich alle Kämpfer versammelt hatten, mit voller Ausrüstung. Inzwischen rochen wir sogar hier das Feuer des kleinen Dorfes. »Sollen wir ihnen nicht helfen?« Siren lachte und erzeugte milde Verwunderung, denn gerade ihm konnten wir nur wenig Begeisterung für die Barbaren vorwerfen. Ich sagte ruhig: »Was wir gesehen haben, scheint deutlich zu sein. Es ist offensichtlich niemand umgekommen. Für die Häuser ist der Brand gut; das Ungeziefer verbrennt. Sie helfen sich selbst. Der Verlust wird vielleicht ihren Starrsinn brechen. Wir helfen ihnen später, nach dem Kampf, wenn wir ihnen zeigen, was wir wissen. Außerdem bin ich todmüde.« »Es geht keinem von uns anders.« Der Rest der Nacht verging, während wir im Wald aus Eichen und Eschen schliefen und unentdeckt blieben. Keine dramatischen Geräusche oder Aktionen weckten uns; die Wachen, die abgelöst wurden, paßten auf und sahen, wenn sie zwischen den Baumstämmen hindurchblickten, erlöschende Feuer und dünner werdende Rauchfahnen des Brandes. Je mehr von der Nacht verstrich, desto ruhiger wurde es auf der Ebene und an den Rändern des flachen Gebietes. Selbst der Fremde schien sich erschöpft ins Wrack zurückgezogen zu haben.
16. Zwei wuchtige Steine hielten den Lauf der fremden Waffe. Ich lag, fast eine Stunde Fußmarsch von unserem Versteck entfernt, am Rand des Waldes und zugleich auf einem der höchsten Punkte. Von hier aus sah ich alles: Langhäuser, Steinkreis, Raumschiff und jeden Acker. Das Geschehen an diesem späten Morgen – über allem lag ein wunderbarer blauer Sommerhimmel ohne jede Wolke – gliederte sich in vier Teile. Der Fremde arbeitete schnell und konzentriert an seiner Sendeanlage. Schon jetzt spannten sich Kabel zwischen den Isolatoren und lange, stabförmige Sendeantennen waren befestigt, aber noch nicht justiert. Eigentlich hatte ich darauf gewartet, daß der Fremde in der Nacht Peilungen vornahm, aber er war nur einmal entlang der Kalkgruben gelaufen und hatte Steine in einem bestimmten Muster herausgenommen und wieder hineingelegt. Es hat sicher etwas mit der vorausgesagten Katastrophe zu tun, flüsterte der Logiksektor. Ich zermarterte mir den Kopf, aber ich wußte nicht, welcher Vorgang stattfinden sollte – falls er nicht von dem Fremden eingeleitet werden würde. Den Verlust der Waffe hatte der schwarze Gigant noch nicht bemerkt. Auch Rico trug zur Aufklärung nichts bei. Eine Hälfte der Eingeborenen arbeitete an den Ruinen ihrer Langhäuser und stocherte ratlos in der heißen Asche. Immer wieder schleppten Kinder und Frauen Wasser herbei und kippten Tongefäße und Holzbottiche in die aufzischenden Reste aus. Ich sah alles scharf in riesiger Vergrößerung. Noch wichtiger als die Kapazität der Waffe war das aufmontierte optische Instrument, das nach unbekannten Methoden arbeitete aber mir ermöglichte, innerhalb des Kampfgebiets jeden und alles zu sehen. Die andere Hälfte der Barbaren versuchte, die davongerannten Tiere einzusammeln. Sie hatten sich über den Talkessel zerstreut und waren in den Wäldern verschwunden. Hin und wieder richtete ich die Instrumente auf den einen oder anderen, der ein Rind trieb oder
Schafe oder eine Ziege hinter sich am Strick herzog. Meine Freunde waren unsichtbar, von Ka-aper und Ancantas abgesehen. Sie jagten Rotwild, suchten Beeren, richteten das Lager ein, das schnelle Flucht und ein hervorragendes Versteck sicherte, gleichzeitig auch als Ausgangsbasis für die Zeit nach dem Kampf diente und uns ein wenig Komfort bot. Wir hatten nicht vor, auch zu verwahrlosen. Ich schwenkte den Kolben der Waffe herum und route zur Seite, nachdem ich die schwarze Lederhaut des riesigen Körpers im Visier haste. »Hier, sieh ihn an, Ka-aper«, sagte ich. »Ich bedaure ihn inzwischen. Er kämpft in jeder Hinsicht um sein Leben. Er ist krank; irgendwie muß man ihn bewundern.« »Besonders dafür, wie schnell er in der Nacht die Hütten niedergewalzt hat«, kommentierte Ancantas mürrisch. »Was sind diese metallisch blitzenden Dinge?« »Sie verstärken einen unhörbaren Hilfeschrei«, mutmaßte ich. »Und wenn die anderen kommen? Wie lange werden sie brauchen vom Land zwischen den Sternen?« Ka-apers Stimme war undeutlich. Er lag an meinem Platz und blickte durch das Objektiv des Instruments, das für eines der riesigen Augen des Schwarzhäutigen eingerichtet war. Das Gerät und seine Leistung faszinierten ihn. Er starrte lange die einzelnen Szenen im Bereich des auseinandergezogenen Geländes an. Ancantas konnte seinen Blick nicht von dem arbeitenden Fremden lösen. Was Ternal dort machte, hatte einen endgültigen Charakter. Noch richteten sich die Antennen, die silbernen Rohrabschnitten ähnelten, in verschiedene Richtungen. Erst wenn sie alle auf einen Stern deuteten oder auf einen bestimmten Punkt des Nachthimmels, würde die letzte Energie des Raumschiffswracks den Richtsender betätigen. Die farbigen Linien des Doppelkabels liefen vom Schiff bis an den Rand des Steinkreises und mündeten in eines der würfelförmigen Geräte. Auf schweren Holzböcken befand sich eine Metalltafel, auf der eine Vielzahl jener Instrumente und Schalter, Regler und sonstigen Teile zu sehen war, die Ternal aus den Pulten des Schiffes herausgerissen haste. Noch immer wußte ich nicht, was ich tun sollte. Ich scheute vor dieser Art kalten Mordes zurück,
dieser Hinrichtung. Nichts anderes würde es sein. Ka-apers ruhige Stimme riß mich aus meinen Gedanken. »Wie lange wird er noch brauchen?« Er wußte wie wir alle, daß es für diese Welt zu spät sein würde, wenn der Hilferuf erst einmal hinausging und sich dort draußen die anderen fertig machten, um Ternal Malat abzuholen. Wieder mußte ich antworten: »Ich weiß es nicht. Höchstens zwei, drei Tage.« »Ich kenne dein Problem. Sollen wir übernehmen, was du nicht kannst oder nicht tun willst?« Ich schüttelte den Kopf und erntete einen ernsten Blick von Ancantas. »Warum nicht?« »Weil es meine Aufgabe ist. Ich möchte, daß ihr mir helft, nicht mehr und nichts anderes. Klar?« »Wir haben verstanden. Aber es wird nichts an deinen Zweifeln ändern«, sagte Ka-aper, ohne das Auge von der federnden Muffe des Okulars zu nehmen. Er hatte recht. Nur eine Wendung, die keiner vorhersehen konnte, würde dieses stabile Gleichgewicht ändern. Wir schwiegen und warteten. Irgendwann würde Ternal Malat merken, daß seine Waffe gestohlen war. Die Eingeborenen gingen durch eine Phase der Ratlosigkeit. Vielleicht war der Schock für sie heilsam. »Nein. Es ändert nichts an meinen Zweifeln«, beharrte ich hart. »Ich werde etwas tun. Ich beginne zu ahnen, was passieren wird.« »Sag’s uns rechtzeitig«, knurrte Ka-aper. Nichts wäre einfacher gewesen, als mit meiner Energielanze und dieser noch schwereren Waffe den Giganten unter Feuer zu nehmen. Selbst wenn er sich in diesen Block aus verhärteten Zellverbänden veränderte, würde sich auch diese Materie unter der Einwirkung der Hochenergiewaffen und der Strahlen auflösen. Es stimmte, was meine Freunde dachten: Ich hatte Mitleid mit diesem notgelandeten Raumfahrer. Unzählige Insekten zirpten. Schwärme wilder Tauben jagten durch die Luft und flohen vor dem Habicht. In der Nähe unseres gemeinsamen Verstecks sahen wir ein Rudel Rotwild. Unbeeindruckt und wachsam schnürte ein Fuchs zwischen
Wallgraben und Steinkreis entlang, mit fahnenartig hochgereckter Rute. Kaum wahrnehmbarer Wind, der Brandgeruch, den Geruch der Tümpel und den Salzgeschmack des Meeres mit sich brachte, bewegte die Blätter der Eiben. Der Himmel war wie ein riesiger Spiegel, die Sonne stach heiß; eine Stimmung, die nach einem Gewitter schrie. Wir beobachteten sorgsam. Stunden vergingen, und an dem Bild änderten sich nur winzige Einzelheiten. Ich wußte, daß ich gegenüber Ternal Malat keine Schlüsse ziehen durfte, die sich auf menschliche Reaktionen gründeten, aber er verhielt sich wie jemand, der mehrfach gewarnt worden war und eine lebenswichtige Arbeit auszuführen haste. Immer wieder sah er sich mißtrauisch um; sein Stirnauge starrte ins Firmament und zwang ihn besonders dann dazu, mit dem Arbeiten aufzuhören, wenn sich Vögel oder Vogelschwärme in der Luft befanden: Krähen, ein Bussard oder ein Steinadler. Ich war halb krank vor Unschlüssigkeit und Unruhe. In weniger als einem Mond, innerhalb der nächsten fünfundzwanzig Tage, sollte nach Aussage des Fremden eine Katastrophe über diese Insel hereinbrechen. Was hatte er gemeint? Welche Art Unheil? Wieder hörte Ternal Malat auf, seine vier Hände und Arme zu beschäftigen, und er starrte den Wildtauben nach, die dicht über dem Boden flüchteten und auf die schwelenden Ruinen zuflogen. Die Funkanlage schien fertig zu sein, denn der Fremde ging schwerfällig auf sein improvisiertes Schaltpult zu und nahm dort Einstellungen von Ich sah verblüfft, daß sich sämtliche Stabantennen gleichzeitig bewegten und in eine Richtung einschwenkten. Zufällig deuteten sie in unsere Richtung, natürlich hoch in das Firmament. Aus unerklärlichen Gründen war es für mich sicher, daß der Hilferuf nachts abgestrahlt werden würde. In unserer Richtung stand auch einer der Visiersteine außerhalb der festgefügten Steinsäulenanlage. Ganz plötzlich warf sich Ternal Malat herum und begann mit wachsender Geschwindigkeit, den ausgetretenen Pfad auf sein Wrack zuzulaufen. Es kommt Bewegung in die Vorgänge, sagte das Extrahirn. Ich senkte den Kopf und rieb
mein tränendes Auge. Ka-aper schirmte seine Augen mit der flachen Hand ab und fragte verblüfft: »Was plant unser Gegner?« Er hatte zusammen mit Ancantas jede Bewegung des Riesen mit wissenschaftlichem Interesse studiert. Sie hatten die Leistungsfähigkeit und Schnelligkeit dieses schwarzen Körpers kennengelernt und gaben sich keinerlei Illusion darüber hin, welche gewaltigen Gefahren ein Kampf mit Ternal Malat mit sich bringen würde. Deswegen waren sie in den letzten Stunden so schweigsam gewesen. »Vielleicht holt er seine Waffe, um den nächsten Beobachter aus der Luft schießen zu können«, murmelte ich und sah den Riesen in der Nähe des Wracks. Er änderte seinen Lauf, wurde langsamer und rannte die Schrägfläche hinauf. Drei Atemzüge später drang ein markerschütterndes Gebrüll zu uns herüber. Der Verlust ist bemerkt, flüsterte trocken der Logiksektor. Ich nickte grimmig. Die gewaltige Stimme des Raumfahrers tobte über das Land. In der regungslosen Ruhe des Mittags war sie besonders laut. Ich richtete das optische Gerät auf die Häuser von Urgers Stamm. Auch dort wurden die Barbaren unruhig und hörten mit ihrer Arbeit auf. Einige Zeit fang hielt sich der Riese im Schiffswrack auf. Ich konnte mir vorstellen, wie er nach der Waffe suchte. Aber dann sagte ich mir, daß er natürlich wußte, daß ihn Anfälle heimgesucht hatten. »Er kommt«, sagte Ka-aper plötzlich. Ich sah genauer hint Der Raumfahrer stürzte aus dem Schiff, ließ seinen Körper nach vorn abkippen und rannte, noch immer sein furchtbares Gebrüll ausstoßend, in einem Bogen auf die noch stehenden und zerstörten Häuser zu. »Urger wird einige unangenehme Erlebnisse haben«, knurrte ich. »Vielleicht verrät er, daß du die Waffe gestohlen hast«, gab Ancantas zu bedenken. »Er weiß es nicht«, erwiderte ich, aber dann durchzuckte mich der Schrecken. Wir blickten uns schweigend an. Jeder dachte dasselbe. Natürlich wußten Urgers Leute nichts von unserer nächtlichen Aktivität. Aber sie wußten alles andere.
»Warten wir ab, was geschieht. Das Schiff ist gut versteckt, und die Freunde haben Wachen ausgestellt, dort drüben«, sagte der Anführer der Bogenschützen. Jetzt stob der tiefschwarz im Sonnenlicht glänzende Körper die Anhöhe hinauf, scheuchte einige Ziegen aus dem Wald und richtete sich neben dem Brunnen auf. Die Menschen hatten sich geduckt und versteckt, aber ich erkannte unter ihnen den Häuptling, der zwischen einem Stapel halbverkohlter Balken und geretteter Einrichtungsteile hervorkam und einen Arm hob. Deutlich sah ich den Ausdruck tödlichen Schreckens in seinem Gesicht. Einer der längeren Arme des Raumfahrers schoß vor und packte Urger am Gürtel, hob ihn hoch und zog ihn dicht an den Riesenkörper heran. Der Rachen und die Augen befanden sich mit dem Kopf des Häuptlings auf gleicher Höhe. Voller Angst schloß der Barbar die Augen und warf seinen Schädel hin und her. »Sie scheinen sich zu unterhalten«, meinte Ka-aper leichthin. »Nichts ist weniger richtig. Ternal schüttelt Antworten aus Urger heraus«, sagte ich grimmig. »Wir müssen uns bereit halten, schnell anzugreifen.« Wieder begann der Riese zu brüllen. Er benutzte die Sprache der Barbaren; wir verstanden einzelne Wörter und Satzfetzen. Natürlich befragte Ternal den Häuptling über den Verlust der Waffe. Der Mann mußte von dem Geräuschorkan halb taub sein. Ich sah in der riesigen Vergrößerung, daß er antwortete: lautlos bewegten sich seine Lippen. Wieder brüllte ihn der Raumfahrer an, wieder schrie Urger, er schien am Ende seines Mutes angelangt zu sein. Schließlich löste Ternal seinen Griff und ließ Urger zu Boden fallen. Urger blieb regungslos liegen. Der Lärm verstummte. Scheu tauchten die Barbaren aus ihren Verstecken auf. Ich hielt das Instrument auf Ternal gerichtet und wartete auf seine nächste Handlung. Er reagierte schnell und drehte sich halb herum. Dann starrte er regungslos hinüber zum Wald, unserem Versteck. »Urger scheint uns verraten zu haben«, sagte ich leise. »Der Fremde interessiert sich für unser Versteck.« »Ich habe es geahnt. Aber… kann er etwas tun ohne Waffe?«
»Durchaus vorstellbar«, murmelte ich voll böser Ahnungen, »daß er eine zweite Waffe hat. Oder mehrere.« Der Fremde schien mit seinen Überlegungen fertig zu sein. Er wechselte aus völliger Erstarrung plötzlich wieder in rasende Bewegung, knickte auf die oberen Gliedmaßen hinunter, schleuderte seinen Körper vorwärts und den Hang hinunter. Er rannte zum Wrack und verschwand darinnen. Es dauerte nicht lange, dann stürzte er mit beängstigender Schnelligkeit die Rampe hinunter und schlug den Weg ein, den ich in der Nacht mit der erbeuteten Waffe zurückgelegt haste. Wie gut kannte er dieses Land? Konnte er die Spuren lesen, die ich hinterlassen haste? Als es mir gelang, Ternal einen Augenblick scharf genug zu sehen, schrak ich abermals zusammen. Über die mächtigen Schultern gekreuzt trug Ternal einen breiten Gürtel, an dem ich kastenartige Gegenstände bemerkte. Waffen? Wieder verfiel der Raumfahrer in eine Art Rauschzustand. Er lief geradeaus, ohne auf eines der Hindernisse zu achten. Kleine Felsen und große Steine splitterten, wurden gespalten oder aus dem Boden gerissen und davongerollt. Büsche flogen auseinander, ein Baum wurde umgelegt, die Stämme größerer Gewächse brachen ab, und zitternde Baumkronen, deren Äste wild peitschten, kennzeichneten den Weg des Rasenden jenseits des steinernen Bauwerks und entlang der Waldgrenze. Ich sprang auf und rief: »Wir müssen uns verteidigen. Er greift das Versteck an!« Ka-aper und Ancantas packten die Waffe an beiden Enden. Wir hatten inzwischen herausgefunden, wie sie funktionierte. »Es war zu erwarten, Atlan. Aber… unsere Freunde sind nicht ungeschickt.« »Ja. Ich kann es nur hoffen.« Zahllose Gedanken wirbelten mir durch den Kopf, als wir auf unserem Pfad rannten. Wir hatten diesen Weg so angelegt, daß wir hervorragend gedeckt blieben. Im langsamen Trab liefen wir zum Wald. Auf einem ähnlichen Weg, auf der entgegengesetzten Seite raste der Fremde mit fünffacher Geschwindigkeit auf dieselbe Stelle zu. Der erste Schuß, der dem Fremden aus einer Energiewaffe
entgegenschlug, würde der Beginn einer gräßlichen Schlächterei sein. Wir wurden gezwungen, uns zu verteidigen, schleppten abwechselnd die schwere Waffe des Außerirdischen zwischen uns. In diesen Momenten begriffen wir, daß der Kampf nur zwischen unserer Gruppe und dem Fremden stattfinden würde. Auf keinen Fall zwischen Ternal und den Barbaren. Zwischen Büschen und Bäumen, durch Dornenranken und hohes Gras rannten wir am wuchtigen Bauwerk und am Brunnen vorbei, tauchten in den Wald ein und hatten einige hundert Schritte freies Feld zwischen den hoch aufragenden Stämmen. Als wir in den dichteren Teil des Waldes hineinkamen, hörten wir einen harten, ungewöhnlichen Laut, eine gewaltige, schmetternde Detonation, deren Nachhall tobend über die Ebene hinwegging. »Was war das?« schrie Ka-aper, der vor uns beiden rannte und sprang. »Eine Waffe des Fremden«, gab ich zurück. »Es gibt nur einen Grund.« »Ja. Ich kenne ihn!« Ich stöhnte auf. Plötzlich schienen wir noch überraschend viel Kräfte zu besitzen. Wir wurden schneller, obwohl es immer schwieriger war, das Gestrüpp zu durchdringen. Mit riesigen Sätzen sprangen wir über Wurzeln und Erdbrocken, die von umgestürzten Bäumen aus dem Boden gerissen und aufgetürmt worden waren. Ich versuchte, meine Lanze so zu halten, daß ich sie nicht in einen Baumstamm rammte oder zu Boden warf. »Die Freunde! Hoffentlich haben sie ihn gesehen!« schrie Ancantas von hinter. Ich wußte, daß Wachen aufgestellt worden waren. Aber auch meine Freunde waren nicht davor sicher, überrascht zu werden. Besonders nach den Ereignissen der vergangenen Nacht. Wie die Verrückten rannten wir auf dem fast unsichtbaren Pfad weiter, dessen Merkmale nur wir kannten. In das Geräusch unserer keuchenden Atemzüge mischte sich einer der gräßlichen Schreie des Fremden, dann wieder eine der krachenden Explosionen. »Er bringt sie alle um mit seinen Waffen!« Ka-aper heulte auf, nicht aus Furcht, sondern aus Sorge um uns. Augenscheinlich waren
die Gegenstände, die an den gekreuzten Gurten zu sehen gewesen waren, Bomben mit unbekannter Wirkung gewesen. »Wir sind bald dort, wo er sich austobt«, sagte ich laut. Es dauerte nur noch einige Augenblicke. Wir hasteten mit letzten Kräften aus dem dichten Teil des Waldes auf die freie Fläche, eine Art Vorfeld für das Versteck. Im selben Augenblick, als wir zwischen den Bäumen einen grünen, wirbelnden Nebel sahen, traf uns von vorn ein wilder Schlag. Der Explosionsdruck einer Bombe packte uns, riß uns von den Beinen und schleuderte uns wie hilflose Bündel nach hinter. Büsche und federnde Zweige fingen unseren Sturz ab und verhinderten, daß wir uns verletzten. In meinen Ohren war ein hohes Sirren. Ich spuckte Grashalme aus, vergaß den Schmerz in meinem Rücken und kam fluchend auf die Beine. Ich hörte meine eigenen Worte nicht, fand die dickgeschäftete Lanze in einem Strauch, drehte mich herum und erkannte die Ursache dieses grünen Nebels. Es waren winzige Fetzen von Blättern, die der Druck der Detonation zwischen den Baumstämmen hochgewirbelt haste. Langsam begann sich dieser Staub zu senken. Ich bohrte die Zeigefinger in die Ohren und stemmte die Lanze hoch, dann sprang ich zur Seite und entging einem schweren Ast der heruntergewirbelt kam und dort einschlug, wo sich eben noch mein Brustkorb befunden haste. Neben mir kamen Ka-aper und Ancantas in die Höhe. Ich hörte ihr schweres Atmen, blieb zwei Atemzüge fang stehen und registrierte, daß das helle Singen in meinen Ohren leiser geworden war und ich ihre Füche hören konnte. Ka-aper bückte sich und stemmte mit einem Gesichtsausdruck, der reine Mordlust ausdrückte, die schwere Waffe des Fremden hoch. »Er versucht uns zu töten!« brüllte er. Ich hörte seine Worte wie aus weiter Ferne und schrie zurück: »Wir müssen ihn stellen, Ka-aper!« »So schnell wie möglich. Hilf mir!« Wir sprangen nach vorn und befreiten Ancantas aus einem Gewirr von Schlinggewächsen. Dann schulterten Ancantas und ich die Waffe und rannten weiter. Rätselhafterweise sahen wir weder Flammen, noch schmeckten wir Rauch. Vor uns war das wilde
Schreien des Raumfahrers. Dann ein hohes, markerschütterndes Kreischen, das plötzlich abriß, in ein Gurgeln überging. Eine Serie krachender und splitternder Geräusche schloß sich an. Den Abschluß bildete nach hundert Schritten die Explosion einer Bombe. Nur Laub und abgefallene Nadeln wurden zwischen den Stämmen hervorgeschleudert. Uns erreichte der harte Donnerschlag ohne die verheerende Wirkung. »Er rennt davon!« schrie Ancantas. »Nein. Er flüchtet nicht, aber er scheint unsere Leute zu suchen«, rief ich und senkte die Lanze. Mit einem Daumendruck entsicherte ich den verborgenen Abzug, aber es war unmöglich, etwas zu sehen. Und da sich alle Geräusche im Wald vielfach brachen, konnten wir nicht feststellen, aus welcher Richtung die Geräusche kamen. Endlich blieben wir auf einer freien Fläche stehen, die von einem halben Dutzend Buchenstämme samt ihren knorrigen Wurzeln gebildet wurde. »Hast du einen Vorschlag, Acran?« Ka-aper stocherte wieder mit einem Finger in seinen Ohren. »Nein. Wir sind mitten in der Zone, in der sich zwanzig Männer verstecken!« schrie ich und starrte konzentriert zwischen den Stämmen hindurch. Aber ich konnte nirgendwo auch nur die geringste Bewegung wahrnehmen. Nur Geräusche, die von vorn, dann von drüben und schließlich von hinter uns krachten. Das Brüllen hatte vorläufig aufgehört. Im selben Moment krachte es vor uns, jenseits der höchsten Aufwerfung, die sich in mehreren Adern durch den Wald zog. Wieder schüttelten sich die Bäume, warfen Nadeln, Laub und Rindenstücke ab und kamen wieder zur Ruhe. Nicht ein einziges Tier schien sich hier aufzuhalten. »Wo sind sie?« Ancantas sah sich ebenso verzweifelt um wie Kaaper und ich. »Versteckt, geflüchtet, was weiß ich«, schrie der Romet wütend zurück. Er lehnte die fremde Waffe gegen einen Buchenstamm und rieb sich die Augen. Langsam drehte ich mich herum und versuchte, irgend etwas zu erkennen, ein Lebenszeichen eines Freundes. Jenseits der Stämme bewegte sich etwas; ein Mensch näherte sich in gerader Linie. Siren rannte, als sei Ternal einen Schritt hinter ihm. Er
schien vor Angst blind zu sein, denn er hastete auf uns zu, ohne zu reagieren. Erst als ich ihn laut anrief, schrie er auf. »Atlan! Er wütet wie ein Besessener. Bin ich der einzige Überlebende?« In rasendem Lauf stolperte er weiter, fiel in meine Arme. Siren war außer sich vor Wut und Furcht. Wir blieben keuchend stehen und versuchten, uns zu beruhigen. Siren schleuderte seinen Streitkolben zu Boden und fauchte: »Wir haben ihn gesehen. Dann haben wir uns versteckt. Ein paar Bogenschützen feuerten Pfeile ab und haben getroffen. Dann warf er seine Waffen.« Abermals ertönte, schon in für uns ungefährlicher Entfernung, ein harter Doppelschlag. Wieder hatte Ternal Bomben geschleudert. »Wo sind die Freunde?« Ich schüttelte Siren an der Schulter. »Überall dort. In Höhlen, unter Baumwurzeln. Bestimmt sind einige getötet«, stammelte Siren. Er holte tief Atem und sagte etwas leiser: »Ich glaube, er hat keinen von uns wirklich gesehen. Es sollte ein Überfall sein, der uns Angst macht.« »Hoffentlich ist es so. Ich habe mich entschlossen«, erklärte ich. »Morgen nacht werden wir ihn angreifen.« »Bravo«, brummte Ka-aper. Siren drehte sich um und winkte uns. Wir drangen weiter vor, rechtwinklig zu unserer bisherigen Richtung. Uns erfüllte atemlose Spannung. Vorsichtig wichen wir zurückschnellenden Asten aus und bildeten eine Linie. Vor uns war nichts zu sehen, weder der Angreifer noch Spuren unserer Freunde. So leise wie möglich folgten wir Siren, der uns auf einen feuchten Tierpfad hinausführte, zwischen dicken Stämmen eines urwaldähnlichen Waldteils verborgen. Ein ausgezeichnetes Versteck, undurchdringlich und unübersichtlich. Hier jemanden zu finden, war Glückssache. Ich schöpfte Hoffnung. Wir wurden schneller und kamen auf eine Lichtung. Ein leergefegter Platz, von zermalmten Blättern und sägemehlartig aufgelöstem Holz knöcheltief bedeckt, breitete sich aus. Der Durchmesser betrug sieben Mannslängen. Die Innenseiten der Stämme in diesem Kreis waren weiß und schimmerten feucht. Die Rinde war pulverisiert
worden, Äste reckten sich entlaubt zum Himmel. Es war unnatürlich ruhig. »Seine Waffe!« zischte Siren. »Er warf mit kleinen, runden Dingen. Wenn sie aufschlugen vernichteten sie alles.« In sein letztes Wort mischten sich die fernen Detonationen anderer Bomben. Wir zählten drei Explosionen, hofften, daß Ternal zu seinem Wrack rannte und nicht zurückkam. »War hier jemand versteckt?« rief ich aufgeregt und voller Sorge. »Hier nicht. Weiter dort drüben.« Siren deutete in nördliche Richtung. Wieder rannten wir los und kamen an drei Explosionsstätten vorbei. Im letzten Todeskreis sah ich einen mittelgroßen Hirsch mit verkrümmtem Geweih. Er hatte sich in Lianen und Buschwerk verfangen und war von Ternals Bombe vernichtet worden, das Tier schien von einer gewaltigen Presse zermalmt, auseinandergerissen und in winzigen Partikeln weggeschleudert worden zu sein. Die Baumstämme waren in einem begrenzten Ausschnitt förmlich mit Blut, Fellfetzen und Blättern getränkt. Nur der knöcherne Kopf hing im Busch und starrte uns aus leeren Augenhöhlen an. Wir mußten damit rechnen, die Körper unserer Freunde in einem ebensolchen Zustand zu finden. Siren blieb stehen, als wir einen Hang hinuntergestolpert waren und eine Quelle mit schmalem Wasserlauf übersprungen hatten. Er hob die Hände an den Mund und brüllte aus Leibeskräften: »Asan! Kasokar! Acran und Ka-aper sind da! Kommt heraus!« Schräg vor uns bemerkten wir die Spur der Zerstörung, die Ternal Malat hinterlassen haste. Mit seinem gewaltigen Körpergewicht hatte der Fremde alles, was sich ihm in den Weg gestellt hatte, niedergewalzt. Einige Büsche richteten sich langsam wieder auf. Überall lagen zersplitterte Bäume, abgerissene Äste und Baumkronen im tief eingetrampelten Pfad; ein erschreckendes Bild der Zerstörung. Die unheimliche Ruhe des Waldgebietes trug dazu bei, daß wir trotz der Hitze fröstelten. »Hierher!« rief eine gepreßte Stimme. Der Klang kam von rechts. Wir sahen unter einem Busch undeutliche Bewegungen. Unter einem halb umgestürzten Baum, dessen Wurzelwerk schräg in die Luft wies, hatten meine Freunde eine Decke aus zerschnittenen
Baumstämmen gelegt, Erde und Pflanzen darauf gehäuft und ein Loch gelassen, durch das sie kriechen konnten. Die Konstruktion war halb zusammengebrochen. Zwei Männer bemühten sich, einen Balken hochzustemmen und das Versteck zu verlassen. Acht Hände griffen gleichzeitig zu. Erde und Stämme flogen zur Seite, Schutt und Pflanzen sackten nach unten. Wir befreiten Kasokar und drei weitere Männer, dann gruben wir nach und holten Waffen und den größten Teil der Ausrüstung hervor. In den Gesichtern lagen Schrecken und tödliche Wut und Entschlossenheit. »Was ist passiert?« fragte ich. Kasokar spuckte Erde aus, trank einen tiefen Schluck aus dem Wasserschlauch und sagte, von Hustenanfällen unterbrochen: »Unsere Wachen haben ihn gesehen. Sie warnten uns. Wir haben uns sehr schnell versteckt. Als er dort vorbeiraste und seine Waffen schleuderte, habe ich sieben Pfeile in seiner Haut gesehen. Dann brach das verfluchte Loch zusammen.« »Wo sind die anderen?« fragte Ka-aper in unnatürlicher Ruhe. »Hier irgendwo verteilt. Die Bogenschützen haben sich vielleicht nicht mehr verstecken können.« Als unmittelbare Antwort kamen zwei Elitesoldaten durch den Wald gerannt. Ihre Gesichter und die Arme waren blutüberströmt, aber sie schienen nicht ernsthaft verletzt zu sein, denn sie schwenkten siegreich ihre Waffen. »Hierher!« rief ich. »Wißt ihr, wo die anderen sind?« »Zwei sind tot. Gestorben im schwarzen Blitz.« Der erste Mann lehnte sich erschöpft an den wippenden Baumstamm. Wortlos reichte ihm Kasokar den Wasserschlauch. Wir sahen, daß die Wunden nur Risse von Dornen und Holzsplittern waren. »Später werd’ ich mich um eure Haut kümmern«, sagte ich schnell. »Jetzt müssen wir versuchen, alle Lebenden zusammenzuholen. Los, helft mir.« Unsere Trauer würde warten müssen. Wir schwärmten aus. Siren und die Bogenschützen suchten nach den Verstecken. Stundenlang taten wir nichts anderes, als Männer und Ausrüstungen aus Erdhöhlen und Löchern herauszuziehen und unter einem ausgehöhlten Felsen auszugraben. Wir fanden vier Tote. Noch
zweimal hörten wir Explosionen in weiter Ferne. Ich fand meine medizinische Ausrüstung. Die Männer wuschen sich und reinigten ihre Kleidung, suchten die Waffen zusammen und hoben eine Grube aus. Von den Bogenschützen konnten wir nur noch Leichen bergen. Ein Mann war verschüttet worden und in der lockeren Erde erstickt, einem anderen hatte ein umgestürzter Baum das Genick gebrochen. Wir begruben sie schweigend, nahmen ihre Waffen und wälzten den größten Felsbrocken, den wir fanden, auf das Grab. Fünfundzwanzig Krieger und Soldaten waren bis zum Steinkreis vorgedrungen. Nun würden nur noch einundzwanzig Männer gegen den Raumfahrer kämpfen. Es war Abend geworden. In einem versteckten Teil des Waldes brannte ein Feuer. Alle Wunden waren versorgt, wir hatten unseren Wein mit Quellwasser gemischt, und der Hirsch, der vor dem Überfall geschossen worden war, drehte sich über der Glut. Die besten Stücke hatten wir mit Speckstreifen gespickt; Tropfen fielen in die Flammen und zischten auf. Überall hingen nasse Tücher, einige Männer bemühten sich, Ordnung in die Ausrüstung zu bringen; keinem von uns war wirklich etwas Ernsthaftes passiert. Schweigen der Müdigkeit und Trauer herrschte. Es hatte sich entschieden: Wir würden angreifen. Siren, der seine wunden Zehen massierte und Öl auftrug, sagte mürrisch: »Und was geschieht, wenn der Fremde heute nacht schon um Hilfe ruft?« Ka-aper, Kasokar und Ancantas sahen mich fragend an. »Nach dem Essen und einer Stunde Ruhe werden wir zurückgehen und die Wunderwaffen mitnehmen. Falls der Fremde heute am Steinkreis arbeitet, greifen wir ihn an.« »Und wir, der Rest?« Ich lachte kalt und humorlos. »Ihr werdet in der Nacht aufbrechen und euch am Rand der Ebene verstecken. Dort wird euch Ternal Malat keinesfalls suchen.« »Das ist richtig. Wann sollen wir kämpfen?« »Das wird sich ganz schnell zeigen«, sagte ich. »Vielleicht früher, als uns lieb ist.«
Wir ruhten uns aus und reinigten uns. Dann breitete ich meinen Mantel aus, entspannte mich und streckte mich aus. Ich zwang meine Gedanken, sich zu beruhigen. Einige Atemzüge später war ich eingeschlafen; ein ruheloser Schlaf, wie eine schwarze Wolke hing eine besondere Art von Furcht und Todesahnung über mir, wie ein flüchtiges Bild am äußersten Rand des Gesichtsfelds. Als ich nach einer Stunde aufwachte, war ich keineswegs ausgeruht. Ich fühlte mich gerädert. Nicht einmal die eiskalte Quelle konnte mir helfen, Wasser im Gesicht wirkte als kleine Erleichterung. Ich gab Kasokar den als Dolch getarnten Strahler und erklärte ihm, daß es eine Nahkampfwaffe war, und wie sie angewendet werden konnte. Er begriff! Meine rätselhaften Waffen waren alltäglich geworden, wenigstens für meine engeren Freunde. »Das ist für dich. Drück den Knopf, wenn du näher als zehn Schritte vom Gegner entfernt bist!« schärfte ich ihm ein. Wir hatten aus Seilen einen Traggurt geknotet, und die Last der Waffe des Raumfahrers verteilte sich auf vier Männer. »Siren«, sagte ich, als fast alle wach geworden waren und zuhörten. »Du bist der listigste und wendigste. Ihr werdet uns einer sehen als wir euch. Gib einfach Feuerzeichen, sonst nichts. Laßt euch nicht von Ternal entdecken!« »Vier Tote sind, denke ich, genug«, sagte er grimmig. »Keine Sorge. Wir werden übermorgen die Sieger sein!« »Wenn du es sagst«, Ka-aper reagierte mit scharfem Gelächter, »dann wird es seine Richtigkeit haben.« »Keinen Streit, Mann vom Hapiland«, bat ich. »Wir gehen.« Wir hoben unsere Ausrüstung auf, hielten unsere Waffen fest und packten die Seile. Dann folgten wir in der Dunkelheit dem breiten Pfad, den der schwarze Raumfahrer getrampelt haste. Es war der kürzeste Weg aus den Wäldern hinaus, zum Rand der Ebene. Wir brauchten lange, aber dann machten wir eine mehr als überraschende Entdeckung. Eine große Schar Menschen flüchtete vor dem Dämon. Wo die Bäume niedriger wurden, wo sich zwischen die abgefressenen Weiden und den Waldrand ein breiter Gürtel nußtragender Büsche geschoben hatte, hörten wir schwer zu deutende Geräusche. Als wir näher kamen, konnten wir das
Schlurfen vieler Füße unterscheiden, dann schwere Atemzüge und das Murmeln vieler Menschen. Ka-aper zischte neben mir: »Das können nur Urger und seine Barbaren sein.« »Häuptling Urger hat lange gebraucht, bis er begriffen hat«, sagte ich und stapfte weiter. »Ein Grund mehr, jetzt anzugreifen.« Sie hatten uns nicht bemerkt, sondern gingen an uns vorbei. Die ersten verschwanden zwischen raschelnden Büschen. Wir blieben stehen, als wir freies Sichtfeld hatten. Jüngere Männer trugen kleine Kinder auf den Schultern. Einige Schafe und Ziegen wurden mitgezerrt. Und jetzt kamen auch zwei Hunde herangesprungen und knurrten uns an. »Wo ist Häuptling Urger?« rief ich. »Wir sind die fremden Krieger.« Der Zug hielt an, dann ertönten von weiter hinten barsche Befehle. Weder wir noch die Barbaren sahen mehr als verschwommene Silhouetten. Noch stand der Mond nicht am Himmel, das Sternenlicht war zu schwach. Die Barbaren gingen weiter. »Ich bin hier, Acran!« schrie Urger und lief neben der Reihe, die in der Finsternis des Waldes verschwand, auf uns zu. Wir blieben stehen und sahen unablässig Menschen jeden Alters an uns vorbeitrotten. »Ich sehe«, sagte ich mit deutlicher Befriedigung, »daß du vorgezogen hast, deine Leute zu retten. In ein paar Tagen wird wieder Friede sein.« Er trug einen Bogen, und auf den Rücken hatte er einen großen Fechtwerksack geschnallt. Urger wischte Tannennadeln aus dem Bart und sagte: »Alle Frauen und Männer und Kinder verschwinden in den Wäldern. Der Frostriese ist wahnsinnig.« »Er hat vier von uns getötet, nachdem du unser Versteck verraten hast«, knurrte Ancantas vorwurfsvoll. »An meiner Stelle«, sagte Urger, ohne sonderlich beeindruckt zu sein, »hättest du alles gesagt, was du weißt, Fremder. Der Wahnsinnige, den die Große Mutter Erde verschlingen möge, arbeitet am Heiligtum, das wir gebaut haben!«
»Wir haben’s erwartet. Wo finden wir euch, wenn wir sagen, daß alles vorbei ist?« Er deutete an uns vorbei auf die Wälder im Norden. »Wir können nicht lange laufen. Wir verhungern sonst. Kommt einfach in den Wald und schreit.« »Einverstanden.« Kopfschüttelnd sahen wir ihm nach. Urger trieb seine Leute an, half bei einer schweren Last, zog einem unwilligen Jungen einen Hieb über die Schultern, zerrte eine störrische Ziege an den Haaren weiter und warf einen Stein nach einem aufgeregt kläffenden Hund. Nach einigen Atemzügen sagte Kasokar halblaut: »Gehen wir, Acran.« »Bringen wir’s hinter uns, Freunde«, murmelte Ka-aper. Keiner von uns war siegessicher. Wir hoben die Waffe und gingen weiter. Von hier aus konnten wir den Steinkreis nicht sehen, aber als wir schließlich eine Entfernung von vierhundert Schritten erreicht hatten, schob sich die Scheibe des Mondes über den Horizont. Das kalte Licht erzeugte vage Schatten. Das Land rundum war ausgestorben. Eine unheilvolle Stille herrschte, nur die zirpenden Insekten zeigten sich völlig unbeeindruckt von unseren Sorgen oder von der Fucht der dreihundert Barbaren in den Wald. Aber in dieser Fläche gab es eine begrenzte Zone kalter Helligkeit. Der Steinkreis im Zentrum des Wallgrabens war von einer Batterie von Scheinwerfern erhellt. Außerhalb der säulenartigen Steine rannte Ternal hin und her und verrichtete hastige Arbeiten. Wir gingen weiter, passierten die zerstörten Gehöfte und setzten die Waffe erst ab, als wir uns in der letzten Deckungs- und Versteckmöglichkeit vor dem Kreis befanden. »Nun, Acran – sprich. Wir sind da«, sagte Ka-aper. »Was sollen wir tun?« Ich setzte mich auf den Holzklotz, über den ich eben gestolpert war und starrte mit wachsendem Unbehagen auf die strahlende Lichtinsel in der Ebene. »Erst einmal überlegen.« Ein Dolchstrahler, meine Lanze und die Waffe des Fremden. Das waren unsere Möglichkeiten. Schweigend hantierte Ternal Malat,
und es sah danach aus, als ob er heute seinen Hilferuf abstrahlen würde. Er bewegte seinen schwarzen Körper mit erstaunlicher Schnelligkeit. »Ich bin dafür, ihn anzugreifen«, meinte Ancantas ruhig. »Wir haben die Waffen, Acran!« »Die Nacht dauert noch einige Stunden«, sagte ich nachdenklich. »Nichts überstürzen, Freunde.« »Warum zögerst du?« Ich brauchte nicht zu überlegen, sondern antwortete: »Sicherlich stirbt Ternal, wenn wir die schweren Waffen anwenden. Aber er hat einen Schild der besser ist als unsere Schilde aus Leder und Bronze. Er kann seinen Körper zu einem Block werden lassen, so hart und widerstandsfähig wie Fels. Wenn wir ihn nicht mit den ersten Schüssen töten, wird er uns einen Kampf liefern, der uns alle ausrottet.« »Das seine ich ein«, bekannte Kasokar. Andererseits war es sicher übertrieben, Ternal ohne seine technische Ausrüstung übernatürliche Fähigkeiten andichten zu wollen. Mein Extrahirn meldete sich und sagte schneidend: Versuch, dich in seinen Verstand zu versetzen. Ich lächelte in der Dunkelheit. Was würde ich tun? Nun, mehr oder weniger das gleiche wie er auch: einen Hilferuf abstrahlen und warten. Noch hatten die Antennen ihren Ruf nicht ins Weltall hinausgestrahlt, sonst würde sich der Fremde ruhiger verhalten. Ich hatte eine Reihe Einfälle, von denen einige völlig verrückt waren, andere hingegen einige Chancen versprachen. Ich richtete mich auf und sagte entschlossen: »Kasokar, Ka-aper. Könnt ihr, wenn ich euch ein Signal gebe, mit dieser Waffe umgehen? Mit tödlicher Wirkung?« »Ganz sicher, Acran!« murmelte Ka-aper. Schließlich hatten wir alle beweglichen Teile bis auf den Abzug getestet. »Gut. Ich gehe zum Sternenschiff. Dort wird sich etwas ereignen, das ihr in der Stille merken werdet. Der Fremde wird zum Schiff zurücklaufen. Dann wartet ihr. Was zu tun ist, könnt ihr im richtigen Augenblick besser entscheiden.« »Was hast du vor, wahnsinniger Einzelkämpfer?« fragte Ka-aper in freundschaftlichem Tonfall.
»Ich werde folgendes tun…« Ich erklärte, wie wir es anstellen sollten, diese Welt vom Raumfahrer zu befreien, bevor ein Dutzend solcher Giganten landeten und mit ihrer ungestümen Kraft, ihren gewaltigen Körpern, Larsaf Drei zerstörten. Mit ihren Raumschiffen würden sie frei beweglich sein. Die Vorstellung, daß dies geschehen könnte, trieb mir kalten Schweiß auf die Stirn. Wir besprachen mit wenigen Sätzen den einfachen Plan. Meine Freunde verstanden mich. Kasokar schlug mir wuchtig auf die Schulter. »Es ist so einfach, daß es klappen muß, Vater der Verschlagenheit«, sagte er leise. »Nicht wahr, Ka-aper?« Ich sah trotz der Dunkelheit die großen Augen des Romet aufleuchten. Bedächtig entfernte er die Knoten und Schlingen der Seile und nickte. »Es verspricht, denselben Erfolg wie der Angriff gegen die Karawanenbelagerer«, meinte er trocken. »Ancantas und ich wissen, was zu tun ist. Du wirst deine Flammenlanze mitnehmen, ja?« »Natürlich«, murmelte ich. »Ich meine, es ist langsam an der Zeit. Aber eines brauch’ ich noch. Das Instrument, das die Entfernung frißt.« »Ich verstehe.« Ich montierte das Zielgerät von der Waffe des Raumfahrers ab und schob es auf meine Lanze. Ich stand auf und blickte zum Steinkreis. »Ich gehe jetzt«, sagte ich. »Ich bin sicher, daß er heute seinen Ruf an die Steine richtet. Wir haben ihn zur Eile getrieben. Auch an euch, meine Freunde, hängt unser Sieg.« »Wir haben verstanden«, sagte Ka-aper freundschaftlich. »Du kannst dich darauf verlassen, daß wir tun, was wir können. Es wird nur einen Sieger geben, wenn die Sonne aufgeht. Wir sind sicher, daß wir der Sieger sind.« Ich rammte ihm den Ellbogen in die Rippen und sagte heiser: »Ich habe genau wie ihr Heimweh nach Gubal. Wie gesagt – bringen wir es hinter uns.« Ich warf meine Ausrüstung neben dem Holzklotz ins Gras und spurtete davon. Ich hatte jetzt nur noch einen relativ nutzlosen Lähmstrahler und die schwere Lanze. Aber die Vorteile, ahnte ich,
lagen jetzt auf unserer Seite. Die Gegend kannte ich, und so rannte ich in der warmen Nacht, die heller wurde, je mehr sich der volle Mond über den Horizont hob, zum Wrack des Fremden. Ich lief schräg auf das Doppelkabel zu; als ich es im niedergetrampelten Gras liegen sah, folgte ich dieser energetischen Schlange, bis ich das Schiff zwischen den tarnenden Bäumen erblickte. Ich war leichtsinnig, aber in diesem hektischen Stadium würde Ternal Malat kaum gedacht haben, sein Schiff durch eine Falle vor dem barbarischen Gewürm zu schützen. Ich erreichte die Rampe, rannte hinauf und folgte dem Doppelkabel. Mein Ziel war, größtmögliche Zerstörung herbeizuführen. Ich tappte im trüben Licht der flackernden Notbeleuchtung – offensichtlich wurde viel von der schwindenden Energie für die Ausleuchtung der monolithischen Anlage benötigt – die schrägen Flächen, Korridore und Treppen aufwärts. Schließlich erreichte ich den übertechnisiert wirkenden Raum, in dem sich die angeflanschten, flüchtig angeschlossenen Mehrfachadern der Kabelstränge befanden. Einige Uhren und Skalen hatten sich im Gegensatz zu meinem letzten Eindringen eingeschaltet. Ich kannte die Ziffern nicht, aber die Zeiger befanden sich auf der rechten Seite der Zifferblätter. Zählte ich die Gradeinteilungen, drängte sich mir die Überzeugung auf, daß jedes Instrument Maximalwerte anzeigte. Ich begann einen Rundgang durch die funktionierenden Teile des Schiffes und zerstörte mit kurzen Stößen aus dem Projektor der Lanze die Geräte und Schaltungen, die mir wichtig erschienen. Schneller! mahnte der Logiksektor. Das Raumschiff war nicht sehr groß, aber ich wußte, daß ich nicht alle seine Einrichtungen kannte. Ich rannte durch die offenen Räume und feuerte in die Aggregate und Einrichtungen, die so aussahen, als wären sie wichtig. Krachend zuckten Blitze, Entladungen und vielfarbige Feuerzungen aus den Pulten und schlugen in Decke, Wände oder Boden. Langsam zog ich mich zurück und befand mich nach einem schnellen Rundgang wieder vor den Anschlußstellen der etwa zwanzig Adern des Doppelkabels.
Für die Sendung wurde große Menge Energie gebraucht. Sonst würde der Impuls zweifelsohne nicht den Zielstern oder den Planeten einer fernen Sonne erreichen. Die Anlage sendete einen modifizierten Hyperfunkspruch. Ich bündelte den Strahl meiner Lanze, deren Energiemagazin sich langsam zu erschöpfen begann, ganz eng. Sei nicht leichtsinnig. Innerhalb des Schiffes hast du keine Chance, zu überleben. »Auch wahr«, sagte ich hart, dann hob ich die Lanze. Aus der Projektorspitze zuckte ein haarfeiner, vernichtender Strahl. Er schnitt durch Metall, Schaltungen aus verschiedenen Materialien, Isolatoren und durchsichtige Plastik vergossener Anlageteile wie durch Folie. Ich zog kreuzweise verlaufende Schnitte durch den großen Schaltschrank, setzte zu einer Spirale an und vollendet sie in einem Hagel kleiner und großer Funken und prasselnder Lichtbogen. Dann schaltete ich die Waffe aus und rannte schnell aus dem Schiff. Ich blieb schwer atmend am Fuß der Rampe stehen und blickte zum Steinkreis. Dort begannen die Lampen zu flackern, als würden die Energieerzeuger Signale geben wollen. »Ich scheine Erfolg zu haben«, murmelte ich und rannte zu einer Stelle, an der ich mich zu Boden werfen und gut verstecken konnte. Vermutlich kam hier der Fremde vorbei, wenn er zum Wrack rannte. Ich war sicher, daß ich nicht lange zu warten haste. Ka-aper, Ancantas und Kasokar würden das Flackern der Lampen, das stärker und ausgeprägter zu bemerken war, als deutliches Signal erkennen. Langsam beruhigte sich mein Atem. Ich lag mit entsicherter Waffe da und hoffte, daß unser Plan aufgehen möge. Fünfzehn Schritte entfernt fief das mehrfarbige Doppelkabel durch das Gras und neben dem tief eingetretenen Pfad aus verdichtetem Boden. »Ich warte, Ternal«, murmelte ich, hob die Lanze und justierte das optische Instrument. Ich preßte mein rechtes Auge an die federnde Muffe und versuchte, den Fremden am Steinkreis zu sehen. Einige Atemzüge fang dauerte es, bis ich seine Gestalt im Fokus fand und die Vergrößerung eingedreht haste. Dann erkannte ich, was uns
interessierte und für den Kampf wichtig war. Ternal war in heller Panik. Die Antennen schienen genau ausgerichtet zu sein. Die Richtung, in die jene Stäbe aus gitterartigem Metallgewebe deuteten, schien sich mit den Bruchteilen von Bogensekunden zu decken, die mit den weit außen liegenden Visiersteinen übereinstimmten. Nacheinander erloschen einige Scheinwerfer; der Fremde hatte sie, mutmaßte ich, deswegen abgeschaltet, well er die schwindende Energie sparen wollte. Noch immer befand sich Ternal vor seinem improvisierten Schaltpult und regelte Signalstärken oder andere Impulse ein. Ich sah ihn vierhändig schalten, Regler schieben und ziehen und Drehkontakte betätigen. Unvermittelt erlosch eine Batterie von drei Scheinwerfern die den Bezirk um das Pult ausgeleuchtet hatte. Der große Körper erstarrte. Ich konnte deutlich erkennen, in jenem geheimnisvollen Mischlicht aus den weißen Strahlen des Mondes und den flackernden Scheinwerfern, etwa tausend große Schritte entfernt, wie Ternal, zwei Hände über den Augen, überlegte; dann wirbelte er herum und ließ sich auf seine Laufarme sinken. Wie eine Maschine raste er auf mich zu. Das Bild des schemenhaften Körpers füllte das Sichtfeld des optischen Instruments aus und überflutete die Grenzen des Randes. Ich setzte das Okular ab, stellte den Streukegel der Waffe auf einen neuen Wert ein und blieb liegen. Mit großer Geschwindigkeit donnerte der Raumfahrer an mir vorbei und auf das Schiff zu. Ich hörte seine Schritte auf der Rampe, etwas leiser innerhalb des Schiffskörpers, als ich aufsprang und parallel zum Kabelstrang auf den Steinkreis des Observatoriums zurannte. Die Auseinandersetzung glitt in die entscheidende Phase. Etwa zweihundert Schritte vom Rand des Wallgrabens entfernt warf ich mich zu Boden und verbarg mich hinter einem Busch. Ich legte den schweren Schaft der Lanze auf einen Vorsprung und wartete; mit einer Dagorübung beruhigte ich mich. Der Logiksektor sagte: In einer Stunde seid ihr tot, oder ihr habt gewonnen. Von Ka-aper, Ancantas oder Kasokar sah und hörte ich nichts. Sie sollten sich rechts von mir aufhalten. Diesmal wußten wir, daß wir
nicht zu lange warten mußten. Genau an diesem Punkt meiner Überlegungen ertönte aus dem Schiff ein gewaltiges Brüllen, Ausdruck reinen Zornes. Ternal Malat hatte die Zerstörung gesehen. Gleichzeitig mußte er gemerkt haben, daß diese Zerstörungen von demjenigen angerichtet worden waren, der die Waffe gestohlen haste. Ich an seiner Stelle würde, Zerstörungen oder nicht, auf jeden Fall die einzige Chance wahrnehmen, über die ich noch verfügte. Ich würde den Notruf abstrahlen. Nichts anderes. Denn die wenigen Tage, die meine Retter brauchten, würde ich mich durch einfache Furcht retten können. Für Ternal galt dasselbe. Ich verstand nicht, was er brüllte, aber es konnte nichts anderes sein als Wut und Enttäuschung. Wieder hörte ich das Rumpeln der schweren Füße auf der Gangway. Der Fremde stürzte aus dem zerbeulten Schiff, walzte näher und beschleunigte sein Tempo. Langsam hob ich den Kopf, zielte entlang des Lanzenschafts und bemühte mich, zu erraten, was geschehen würde, wenn ich feuerte. Ich schwenkte den Lauf und behielt den kugelartigen Kopf mit den lodernden Augen im Ziel. Noch zwanzig Sprünge, zehn: Endlich feuerte ich. Eine blendende Feuersäule schoß aus der Projektorspitze des Waffenträgers und schlug in den Kopf des Fremden ein. Ich versuchte, die Panik zu unterdrücken und preßte Daumen und Zeigefinger hart auf die Kontakte. Der Schwung des Laufes trug den Giganten auf mich zu; ich schoß ununterbrochen, mindestens sieben Atemmzüge lang, den konzentrierten Strahl auf den Kopf des Fremden ab. Dann löste ich meinen Griff, riß die Lanze zu mir heran und sprang rückwärts. Der Riese donnerte an mir vorbei und schrie tosend. Ich wurde halb taub von diesem gräßlichen Geräusch, aber meine Reflexe gehorchten der Dagor-Schulung. Ich kam auf die Füße und rannte zum Steinkreis. Ich hoffte, kein deutlich sichtbares Ziel abzugeben und hastete, so schnell ich es vermochte, in die Richtung meiner Freunde. Der laute Schrei riß ab. Flammen und Rauch schlugen aus dem Kopf. Der schwere Körper schien sich in einer Schockreaktion verkrampft und in jene unverwundbare Form verwandelt zu haben. Jedenfalls überschlug sich der Koloß, dessen Haut zu brennen schien, mehrmals und route dreißig Schritte
geradeaus. Dies war genau die Zeit, in der ich bis zum Ringwall kam und mich jenseits der Aufwerfung zu Boden gleiten ließ. Wieder schwenkte ich die Lanze herum und versuchte zu zielen. Es war ein quälender Alptraum, kein Kampf, sondern eine makabre Hinrichtung. Ich reagierte zu langsam. Ternal schien meinen ersten Angriff handlungsfähig überstanden zu haben. Mit einem Erstaunen, das mich sekundenlang lähmte, sah ich undeutlich, wie die rollenden Bewegungen des Fremden die Flammen und die Glut mitsamt dem gelben Rauch auslöschten. Dann kam der Fremde auf die Beine und die Laufarme, rannte weiter und zeigte mir seinen Körper von hinter; ein schlechtes Ziel. Ich wußte, daß ich ihn vielleicht verletzen, aber nicht töten konnte. Das Brüllen hatte aufgehört, als der Raumfahrer weiter auf sein Schaltpult zustob. In diesem Moment feuerten meine Freunde mit der Waffe des Schwarzhäutigen. Der blendende Strahl traf den Körper, ließ die Reste des Kampfanzugs aufflammen und eine Bombe in einer schmetternden Detonation explodieren. Dann war Ternal Malat an seinem Schaltpult und richtete sich auf, halb kopflos und schrecklich zugerichtet. Ich näherte mich den Felsellipsoiden der aufrecht stehenden Steine. Der Feuerstrahl aus der anderen Waffe riß ab. Wieder brüllte der Fremde, aber er bewegte seine brennenden, blasenwerfenden Gliedmaßen. Die Finger berührten die Hebel, drehten Schalter und taten Dinge, die weder meine Freunde noch ich sehen konnten. Mondlicht, Sternenlicht, das völlig unrhythmische Flackern der Scheinwerfer und die Flammen sowie der Rauch des halb vernichteten Körpers ließen das Bild undeutlich werden. Ein Klirren erklang. Dann breitete sich rund um den Steinkreis ein durchdringendes Summen aus. Es wurde von einem schrillen Pfeifton abgelöst. Ich spürte, wie ich innerlich vereiste. Je mehr Signale ich hörte, desto wahrscheinlicher war es, daß die Sendeanlage noch funktionierte. Einige Augenblicke, in denen wenigstens ich begriff, welches Risiko wir eingingen, verstrichen. Das grelle Pfeifen schraubte sich in die Höhe von Ultraschall. Ich war sicher, daß dies das gerade noch wahrnehmbare Zeichen dafür war, daß sich ein Hyperfunkstrahl
seinen Weg durch unzählige Lichtjahre des Kosmos bahnte und schließlich doch das Zielgebiet erreichte. An rund drei Dutzend Stellen oberhalb der waagrechten Felsstürze flammten blendende Lichter, Entladungen, die wie Kugelblitze wirkten und jeden, der sie sah, vorübergehend blind machten. Dann ertönten mehrere Dutzend Detonationen, nicht gleichzeitig, aber teilweise ineinander verschmelzend. Ein ungeheurer Lärm toste über die Ebene. Von jeder Sendeantenne, jedem Anschluß und jedem Isolator zuckte ein langer, dünner Blitz senkrecht ins Firmament und ließ den Glanz der Sterne verblassen. Die nächste Explosion erfaßte das Schaltpult und sprengte es in einer Explosion, die alle Farben des Spektrums entfaltete, in die Luft. Diese neuerliche Explosion zeigte mir den Körper des Fremden. Ternal Malat stand da, an gut zwanzig Stellen kochte und brodelte seine Haut. Winzige Flämmchen leckten nach allen Seiten, erloschen und entzündeten sich an anderen Stellen. Senkrecht stiegen Rauchfäden hoch. Dann verwandelten sich, vom Schaltpult ausgehend, die Kabel in eine Doppelspur von weißer Glut, die seltsamerweise von der Felsenkonstruktion zum Schiffswrack dahinraste. Die Energieträger lösten sich in weißer Helligkeit auf. Es dauerte nur wenige Augenblicke, in denen die Metalladern vergasten. Durch Gras und Büsche, über Felder und durch den Bach setzte sich die rasende Glut fort und zischte die Rampe des Schiffes hinauf. Einige Augenblicke vergingen scheinbar ereignislos. Das Licht, das wilde Muster auf unseren Netzhäuten bildete, erlosch und machte einer wohltuenden Dunkelheit Platz. Die vielfältigen, ausnahmslos sehr lauten Geräusche und Detonationen hörten auf, aber statt der erwarteten Stille zischte und rauschte es in unseren Ohren. Und dann: Das Raumschiffswrack veränderte sich. Die endgültige Katastrophe vollzog sich in mehreren, nur einige Atemzüge dauernden Etappen. Zuerst geschah nichts. Dann loderte aus der offenen Schleuse des Schiffes ein greller Lichtschein. Er erlosch sofort, dafür begann die Kugelschale aufzuleuchten. Einige Zeitlang sahen wir zwischen den Bäumen und Stämmen die Kugel zunächst in tiefrotem, dann in
gelbem, schließlich im kreideweißen Licht aufglühen. In diesem Moment besann ich mich, hob die Lanze und suchte mit der Daumenkuppe den Auslöser. Als ich das Ziel erkannte und feuerte, verwandelte sich die aufleuchtende Kugel in einen Blitz, der nach allen Seiten zerstob und die Konturen der Kugel auslöschte. Rund um das Wrack und darüber spielten Hunderte verschiedener Farben in der Luft, flossen ineinander über, verschmolzen miteinander und bildeten einen grellen Keil, der schräg zum Nordstern emporzuckte, sich ausbreitete und schließlich erlosch. Reine Hyperenergie. Mehrdimensional und nicht zu begreifen. Als die grellen Lichterscheinungen vergingen, regnete es lange winzige Funken in allen Farben des Spektrums aus der dunklen Nacht herunter. Sie senkten sich dort zu Boden, wo eben noch das Wrack aufgeglüht haste. Der Strahl meiner Lanze traf den Raumfahrer und badete die einzelnen Teile des Steinkreises abermals in lodernde Helligkeit. Gleichzeitig feuerten meine Freunde. Das, was von Ternal Malat übrig war, machte einen Sprung in die Höhe, schleuderte seinen brennenden und halb zerstörten Körper zwischen zwei Steinen hindurch und raste durch den Raum des Säulenkreises, warf sich durch die gegenüberliegende Lücke und galoppierte hinaus in die Nacht. Die Muster auf unseren Netzhäuten vergingen, unsere Trommelfelle hörten auf, nicht mehr existente Töne zu produzieren, und durch die Nacht zuckten unterbrochen, aber gut gezielt zwei breite Feuerstrahlen und bohrten sich in den flüchtenden Körper des Fremden. Ich sprang auf und rannte, immer wieder feuernd, am Wall und Graben vorbei und dem flüchtenden Koloß nach. Ka-aper und die anderen Männer machten genau das gleiche. Sie rannten los, brachten die Waffe erneut in Stellung und schossen. Das wiederholten sie, wenn der Körper sich wieder in Sprüngen entfernt haste. Ich merkte nach einigen Schritten, daß sich unter unseren Sohlen eine Art Weg befand. Es war die aufgerissene Erde der Bahn, auf der die riesigen Felsbrocken hierher gezogen und geschoben worden waren. Noch immer tobte der schwerverletzte Fremde, obwohl sein Kopf zerfetzt war. Wir setzten ihm nach. Ich rannte schneller, well ich nicht die schwere Waffe zu schleppen haste. Die
Schreie und das Trappeln der Füße und Hände wurde leiser, als der Flüchtende auf dem Weg dahinrannte und schneller zu werden schien. Ich blieb stehen und sah mich um. Wo das Raumschiff gestanden hatte, gab es nichts anderes als ein merkwürdiges Leuchten. Es sah aus, als brenne dünnes Gas. Der Regen funkelnder Partikel hatte aufgehört, auf dem Boden lagen große Fetzen eines unbekannten Materials und leuchteten blau, rot und gelb. Der Steinkreis hob sich scharf gegen die Umgebung ab. Leitungen, Isolatoren und Schaltstellen auf der umlaufenden Steinfassung brannten ebenfalls mit kleinen, vielfarbigen Flammen. Ein Ring aus Feuer kennzeichnete das Heiligtum. Wenn nur einer der Barbaren die Vorgänge mitangesehen hatte, so war eine weitere Sage geboren worden. Das Gras schwelte in einem langen Streifen zwischen Schiff und Steinkreis. Vom Doppelkabel war nichts mehr zu sehen. Mein Blick rückwärts hatte nur wenige Sekunden gedauert. Jetzt drehte ich mich um und setzte meine Verfolgung fort. Ich überholte meine drei keuchenden Freunde und schrie aus voller Kehle: »Er flüchtet in den Steinbruch! Schneller!« Im Mondlicht wirkte der breite Pfad wie ein Bach; ein dunkler Streifen im helleren Gras. Dort hinten verschwand er. Undeutlich konnte ich die kantigen Konturen herausgebrochener Steinkeile sehen. Den Flüchtenden sah ich nur noch als Silhouette. Ich holte tief Luft: Schießen hatte keinerlei Sinn, die Entfernung war zu groß. Hin und wieder ertönte wie der Schrei eines Sauriers das Brüllen des Fremden. Er lebte noch und versuchte, sich im Steinbruch zu verkriechen. Wir folgten ihm und sahen, daß unsere Freunde aus dem Wald hervorgekommen waren. Hin und wieder zeichneten sich am Rand der Ebene die feurigen Kreise von Lichtsignalen ab. Wir würden Hilfe erhalten, wenn es nötig war. Mindestens 20.000 Schritte weit rannten wir durch die Nacht. Inzwischen war es vollkommen ruhig geworden. Wir holten aus unseren Körpern die letzten Leistungsreserven heraus und erreichten das Ende des Pfades in den Stunden zwischen Nacht und Morgen. Die ersten Sterne verblaßten, das Mondlicht schien schwächer zu werden. Vor dem halbkreisförmigen Hintergrund des
in der Mitte gespaltenen Hügels gingen wir langsamer, um uns zu erholen. Wir verließen den Pfad und teilten uns; von beiden Seiten drangen wir in Gestrüpp zwischen Steinbrocken und Geröll ein. Ruhig sagte der Extrasinn: Tötet ihn schnell! Ich sprang auf einen Felsbrocken, starrte auf das Gewirr kantiger Felsen und runder Büsche und versuchte, den Fremden zu sehen. Der Geruch seiner schmorenden Lederhaut war stärker als auf der Strecke. Ich fühlte mich entsetzlich müde, aber jetzt packte mich wieder die Erregung. Dann bemerkte ich zwischen wuchtigen Felstrümmern eine Masse, tiefschwarz und zuckend. Augenblicklich senkte ich die Lanze und feuerte einen Schuß ab. Der Donner verwandelte den Steinbruch in ein Inferno, die Helligkeit zeigte mir den riesigen zusammengekrümmten Körper. Die Energieflut sprengte aus den Steinen glühende Tropfen heraus. Brocken aller Größe wurden in die Luft geschleudert, in brennenden Wolken vergaste der Stein. »Hierher!« schrie ich. Der Körper bewegte sich mit letzter Energie, wie mir schien. Er sprang senkrecht in die Höhe und wurde von einem Feuerstrahl aus der Waffe Ka-apers getroffen. Wir befanden uns in der besseren Lage; der Fremde versuchte nicht einmal zu flüchten. Er schien die Fähigkeit verloren zu haben, seinen Organismus versteinern zu lassen. Ich schoß so lange, bis der Energievorrat meiner Waffe erschöpft war. Aber Ka-aper, Ancantas und Kasokar kamen nach jedem Schuß ein paar Schritte näher heran. Schließlich hatte sich der Körper in eine rauchende Masse verwandelt, die auseinanderfloß und kleiner wurde. Unbarmherzig richtete Ka-aper den röhrenden und donnernden Strahl auf diesen Rest. Als sich diese Materie verwandelt hatte, schmolz Ka-aper einen Felsen zu teigiger Lava zusammen und ließ kochendes und blasenwerfendes Gestein über die Stelle fließen, an der sich der Fremde aufgelöst haste. Ich wankte am Ende meiner Kräfte aus dem Gebiet des Steinbruchs hinaus und setzte mich auf einen moosüberwachsenen Felsbrocken. Hinter mir riß das Geräusch der Waffe ab. Dann erfolgten noch einige donnernde Explosionen. Schwerfällig drehte ich mich um und sah meine Freunde, die jene schwere Vernichtungswaffe in den
Händen hielten und die Felswand beschossen. Steine splitterten, lange Sprünge fuhren knirschend kreuz und quer über die Wand, plötzlich brach fast die gesamte Vorderseite nieder, teilte sich während des Kippens und schlug in die am Boden liegenden Trümmer ein. Eine Lawine riesiger Brocken route heran, zerfetzte die Büsche und ließ andere Steine auseinanderbrechen. Sie bildeten zuletzt einen Hügel über der Stelle, an der jener unglückliche Raumfahrer vernichtet worden war. Langsam kamen die Männer zu mir. Ancantas ließ die Waffe fallen. »Der Kampf ist zu Ende. Deine Welt, Acran, ist gerettet«, sagte Ka-aper. »Nun können wir den Barbaren zeigen, wie man die Erde bearbeitet.« Ich nickte müde und deutete auf einen Hügel. Dort zeichneten sich im ersten Morgengrauen die Gestalten unserer Freunde ab. Jeder war am Ende aller Kräfte. Die Gesichter waren grau vor Erschöpfung und starrten vor Schmutz. Ich stand auf, fühlte meine Knie und ließ mich ins Gras sinken. »Ich wünschte, ich wäre in Gubal«, sagte ich und schlief augenblicklich ein. Von den Ereignissen, die sich bis Mittag abspielten, hörte und spürte ich nichts. 17. Ka-aper senkte die Waffe des Schwarzen Dämons und wischte den Schweiß von der Stirn und der nackten Brust. Zufrieden zeigte er auf den riesigen Stapel zugeschnittener Eichenbohlen und dicker Bretter; der nadelfeine Spurstrahl hatte die Bäume gefällt, entastet und in gebrauchsfertige Stücke zerschnitten. Die Stimme des RometAnführers klang ausgeruht. »So hat diese Waffe dennoch etwas Gutes für die Barbaren. Sie staunen seit fünfzehn Tagen und werden ihre Mäuler wohl nicht einer schließen, bis wir nicht fortgesegelt sind.« »Solange Häuptling Urger nicht glaubt, ich würde sein Dorfschulze sein wollen, soll’s mir recht sein«, sagte ich und trank einen Schluck klares Brunnenwasser. Wir arbeiteten angestrengt,
aber was wir taten, war einerseits für unsere Heimreise nötig und half andererseits den Barbaren: Wir bauten das Dorf wieder auf. Die GOLDENE ZEDER lag auf dem Trockenen; zwei Mann bewachten sie und schliffen das Unterwasserschiff mit rauhem Stein ab, ehe sie es mit heißem Wachs versiegelten. Die Jäger, die unterwegs zu uns gestoßen waren, wollten hierbleiben, sie lehrten die Eingeborenen, richtig zu jagen, Bögen aus Eibenholz und Pfeile aus anderen Hölzern herzustellen. Sie waren mit fast allen jungen Dörfern auf einer großen Jagd in den Wäldern. Wir alle brauchten viel Fleisch in den kommenden Monden. Ich zeigte auf Siren, der zusammen mit zwei langhaarigen Bauern und einem Dreierpflug Ochsen ein Feld umbrach. »He, Urger! Steh nicht faul herum. Hilf deinen Leuten!« Alle Männer arbeiteten mit nackten Oberkörpern. Frauen brachten Lehm den wir zu Ziegeln schlugen und in langen Reihen an der Sonne trocknen ließen. Das Frühjahr war längst in den hohen Sommer übergegangen. Aus dem reichlichen Bruchstein hatten wir einige Fundamente und einen Brennofen gemauert, der später als Backofen verwendet werden konnte. Nun errichteten wir als Lehrstück ein neues Langhaus, das nicht voll Ungeziefer sein würde und im Winter gesünder und viel wärmer. Ich spielte den Arzt und ließ mir von der kräuterkundigen Thulda helfen; wir heilten Geschwüre, legten Verbände an, schoren Haar und Bärte und erfanden Tinkturen gegen Läuse und Flöhe. Gegen andere Beschwerden kochten wir streng riechende Sude ein. Asyrta-Maraye versuchte einer Gruppe von Kindern das Schreiben und Rechnen beizubringen. Der Gleiter flog zwischen der ZEDER und dem Dorf hin und her – jede Stunde erfuhren die Barbaren, denen wir einige Bronzeäxte geschenkt hatten, eine andere kleine Neuerung, die ihr Leben erleichterte: Holzverbindungen mit Zapfen und Loch, Drehverbindungen für Türen und winzige Fenster, verschiedenes Mauerwerk, einen Ofen mit Kaminabzug, der nicht das Innere der Häuser in erstickende, ruß- und qualmreiche Höhlen verwandelte. Das richtige Dachdecken mit Stroh, das den Regen abhielt und kaum faulte, wie
man Gerberlohe ansetzte, und daß häufiges Waschen viele Krankheiten abhielt. Thuldas stinkende Tränke entlausten Kinder und Erwachsene. Wir räucherten und pökelten Braten für die Vorratskammern und unser Schiff. Mit Werkzeugen aus Arkonstahl arbeiteten wir, Bronzespiegel halfen den jungen Frauen, weniger ungepflegt auszusehen, und wir kochten eine einfache Art von Seife. Wir hatten einen Pflug hergestellt und ein Geschirr für junge Bullen entwickelt. Nach einem Gewitter begannen wir zu ackern und zu eggen; für die Winteraussaat des einkörnigen Weizens und der Gerste. Mutter Erde würde nächstes Jahr eine gute Ernte erbringen. Erbsen und Bohnen wurden reif. Wir zeigten den Barbaren, wie man Schafwolle und Fachs besser und leichter verarbeiten konnte; waren die Dörfer erst einmal überzeugt, machten sie ungeschickt, aber begeistert mit. Die stehengebliebenen Langhäuser wurden umgebaut; Tag und Nacht loderte der Brennofen. Der Brunnen war freigelegt und hochgemauert, die Misthaufen aus dem Bereich des Grundwassers hinweggeschafft worden, und wir verlegten in einem Haus einen Boden, der Feuchtigkeit und Kälte abhielt. Über die vielen Brandspuren des nächtlichen Kampfes war Gras gewachsen. Als Asyrta und ich entlang jener tief eingetretenen Pfade auf das Heiligtum zugingen, sahen wir, daß Teile davon schon überpflügt und aufgehackt, an den Rändern wieder bewachsen waren. Trotz der vielen sinnvollen Arbeit war die wirkliche Ruhe des Vergessens noch nicht in die Herzen der Menschen gekommen. Asyrta deutete auf die Brandspuren an den blaugrauen Steinen. Vogelkot und Regen machten sie bereits unsichtbar. »Er hatte wohl einen kranken Verstand, der tote Raumfahrer. Abgesehen davon, daß er voll panischer Angst war.« »Er hätte es einfacher haben können«, sagte ich halblaut. Selbst am hellen Tag war die Anordnung dunkler Steine von einer düsteren Aura umgeben. »Kein Mensch wird jemals begreifen, wie er mit rund hundertfünfzig Eingeborenen diese zweiundachtzig tonnenschweren Sandsteinblöcke über mehr als zweihundert
Romet-Meilen herbeigezerrt hat. Und vor allem: Warum ausgerechnet diese Gesteinsart?« Asyrta hob die Schultern und führte eine Geste der Ratlosigkeit aus. »Die Quadern in Menefru-Mire werden über noch weitere Entfernungen herbeigeschleift und auf Schiffe verladen. Warum?« »Weil sich Ternal Malat einen Steinkreis für die Ewigkeit bauen wollte? Er ist zufällig neben einer uralten Kreisanlage notgelandet. Vielleicht hat sie ihn inspiriert. Ach! Wir werden’s nie erfahren.« Urgers Leute hatten uns erzählt, wie sie die Menhire außerhalb des Steinbruchs, Dutzende Tagesmärsche entlang des Salzwassers und des Flusses, herausgesprengt und bearbeitet aufgefunden hatten, wie der Dämon wild brüllend einen kleinen Wald gefällt und die Stämme zu Flößen zusammengefügt haste. »Viele Spuren, die Erlebnisse, die eigentliche Bedeutung; Zeit, Sonne und Jahreswechsel werden die genaue Erinnerung verbleichen lassen. Legenden und Märchen werden sich, zusammen mit allerlei Gewächsen, um die Steine ranken.« »Vielleicht«, sagte Asyrta träumerisch und beobachtete den Taubenschwarm, über dem Ricos Sonde schwebte, »haben die fernen Nachkommen Urgers einmal die Fähigkeit, das Observatorium wirklich zur Mond- und Himmelsbeobachtung zu benutzen.« Wir gingen über das kurze Gras, wichen Schafen und Ziegen aus, und inmitten der Ebene wirkten Erdwälle und Steine selbst im Mittagslicht bedrohlich. Ich deutete aufs Dorf und sagte: »Wir sehnen uns nach der Rückkehr. In einem Mond oder ein paar Tage später legen wir ab, Liebste. Genieße die Erholung zwischen den hellhäutigen Barbaren.« Die Zukunft schien sich hell und glänzend vor uns auszubreiten. Ich erinnerte mich an weitere Erzählungen der Eingeborenen, nahm Asyrtas Hand und brummte: »Mit diesem Observatorium hat er den Barbaren eine schreckliche Katastrophe vorausberechnet.« Wir blieben vor einer der sechsundfünfzig weiß markierten Gruben nahe des Walls stehen.
»Nachher werd’ ich mit dem Rechner Rico sprechen. Vielleicht weiß er Genaueres.« Wenn die Steine in den Gruben in bestimmtem Rhythmus umgesetzt wurden, außerhalb der Steinsäulengruppen, ließen sich Sommer- und Wintersonnenwende, Mond- und Sonnenfinsternisse und wahrscheinlich andere kosmische Phänomene berechnen: Vier Säulengruppen dienten als Visiersteine. Wir hielten an, als wir das Dorf in seiner ganzen Ausdehnung sehen konnten. Rund dreihundertfünfzig Menschen arbeiteten zusammen, und auf bescheidene Weise hatten wir zwei Kulturen miteinander verknüpft. Aber der Faden war zu dünn, als daß er jahrhundertelang die Spannung ausgehalten hätte. Ich sah, wie Cheper mit dem leeren Gleiter außerhalb des Dorfplatzes landete. »Gehen wir zurück«, sagte ich. »Zeigen wir ihnen, wie man Kupfer schmiedet oder ein ähnliches Wunder.« Wir liefen entlang des Feldes, dessen aufgebrochene schwarze Schollen den Geruch verströmten, der Wachstum und reiche Ernte versprach. Hoch über dem Dorf jagte ein Sperberpärchen. Ich setzte mich in den Pilotensitz des Gleiters und rief Rico. Noch am gleichen Abend erfuhren wir, welche Katastrophe der fremde Raumfahrer errechnet haste. Die Anordnung der großen und kleinen Steine des Observatoriums war, wie ich anhand von Ricos Zeichnungen und Diagrammen nachprüfte, wenigstens in dieser Hinsicht perfekt. Einen Zehntag danach, am frühen Nachmittag, erfaßte eine seltsame Unruhe die Lebewesen. Zuerst sahen wir die Vögel. Sie schrien aufgeregt und schrill, verließen ihre Nester und fanden sich zu wachsenden Schwärmen zusammen. Tauben, kleine Singvögel, Krähen, Raben, Sperber und ein Adlerpärchen; sie bildeten, ohne sich gegenseitig anzugreifen, einige schwirrende Wolken, deren Form und Grenzen sich ständig verschoben. Mächtige weiße Sommerwolken trieben über den strahlend blauen Himmel. Die Ahnung einer ungewöhnlichen, unbekannten Gefährdung erfaßte nun auch Hunde, Rinder und Kleinvieh. Die Tiere drängten sich zusammen, versuchten sich zu verstecken, liefen hin und her. Ich stiefelte quer über den Dorfplatz und hob die Hand, als sich Urgers Leute um mich drängten.
»Kommt der Dämon zurück?« fragte der Häuptling leise. Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Er wird nie wiederkommen, das ist die Wahrheit. Aber er hat euch nicht angelogen: Ihr werdet etwas erleben, in ganz kurzer Zeit, was zu den Wundern des Lebens zählt und was nach euch zehn Generationen nicht mehr sehen werden.« »Was ist es, Acran?« Ich lachte und bemühte mich, die Dörfer nicht zu beunruhigen. Ich zeigte auf die Sonne, den Brennofen, die Haufen zerschnittenes und zerhacktes Holz, Hobel- und Sägespäne und den Aschehaufen zwischen den Hütten. »Zündet ein Feuer an und wartet. Ihr braucht euch nicht zu fürchten wie das Vieh.« Obwohl ich alle Mitglieder der ZEDER-Besatzung längst eingeweiht hatte, ergriff uns alle ein Gefühl der Unsicherheit. Asyrtas Finger suchten meine Hand; sie lehnte sich schwer gegen meine Schulter. Ihre Blicke irrten ziellos umher; sie schwieg beunruhigt. »Vorboten des scheinbaren Unheils«, sagte ich. Ein großes Rudel Rotwild, von einem schwarzbraunen Hirsch angeführt, preschte über die Ebene, zwischen den beiden pflügenden Gespannen hindurch. Die gedrungenen Zugtiere begannen zu scheuen, zerrten an den Riemen und Deichseln und brüllten angsterfüllt. Einige Füchse schnürten, nach wenigen Sprüngen wieder verhaltend, durchs Gras und verschwanden im Schatten der Steine. Uns allen war plötzlich, als gehe eine Erschütterung, kaum zu fühlen, wie eine eiskalte Welle durch die Luft. Der Logiksektor sagte: Auch deine aufgeklärten Seeleute fürchten sich, Arkonide. Die Hunde kläfften wie rasend. Zwei Bären tauchten am Waldrand auf und trabten durch die Büsche. Hasen und Kaninchen hetzten hakenschlagend umher; unsichtbar heulten Wölfe im Norden. Die Bäume schienen sich unter einem Windstoß zu schütteln, den niemand spürte. Ein archaischer Riesenchor seltsamer Geräusche und Bewegungen fuhr über die Große Mutter Erde dahin. Ich setzte mich neben Asyrta auf eine Bank aus Stein und Bohlen, die wir unter der Dorfeiche aufgestellt hatten.
»Es geschieht etwas, das selbst ich noch nie erlebt habe«, sagte ich leise. »Ich muß gestehen: Auch mir wird’s unheimlich.« Eine Wolke schwebte vor der Sonne, färbte sich dunkelgrau, und das Gestirn wurde zu einer Scheibe, die wir mit dem bloßen Auge betrachten konnten. Ich blickte genauer hin: Noch während ich mir wünschte, ein Stück angerußtes Glas zu haben oder eine Spezialoptik, erschien am unteren Rand des Gestirns eine ellipsenförmige schwarze Auskerbung. Der erste Schatten legte sich über das Land. Die Menschen stöhnten auf und murmelten erregt. Die Haustiere wollten sich alle gleichzeitig verstecken; ein unglaubliches Durcheinander breitete sich aus. Ich nahm Asyrtas Hand und sagte leise: »Keine Furcht, Liebste. Ich hab’s dir aufgezeichnet. Es ist nur der Mond, der sich vor die Sonne schiebt.« Sie lächelte tapfer in meine Augen und schüttelte den Kopf. Jedesmal, wenn sie den Kopf hob, zuckte sie zusammen. »Es ist trotzdem… unheimlich. Zum Fürchten.« Der schwarze Fleck wurde größer, die Helligkeit nahm ab. Plötzlich schien es kälter und kälter zu werden. Ich rief zum Häuptling hinüber: »Das ist das sogenannte Unheil, das der Dämon ausgerechnet hat. In einem Tageszwölftel ist alles vorbei. Werft mehr Holz ins Feuer!« Er ließ den Kopf hängen und antwortete nicht. Die Sonnenfinsternis, die Nacht mitten am Tage, nahm ihren Fortgang. Himmel und Wolken färbten sich grau und purpurn, wie es der Raumfahrer mit den Visierlinsen und den Rechenoperationen der verschiebbaren weißen und schwarzen Steine bewiesen haste. Zwei Bullen, die sich aus dem Pflug losgerissen hatten, galoppierten in ihre unfertigen Ställe zurück. Die Eingeborenen sprangen schreiend zur Seite. Der unsichtbare Mond bedeckte inzwischen knapp die Hälfte der Sonnenscheibe. Zwischen den Wolken fuhren mächtige Strahlenbündel herunter zur Erde. Entsetzen hatte ausnahmslos alle Menschen ergriffen. Selbst ich konnte mich der schaurigen Faszination dieses kosmischen Vorgangs nicht entziehen, der alle acht Jahre und elf Tage irgendwo auf der Oberfläche des Barbarenplaneten zu sehen war: Derlei Vorgänge waren für
Raumfahrer geradezu alltägliche Erscheinungen. Die weiteren Stufen der Dunkelheit glitten fast unmerklich ineinander über. Düsternis und Dunkelheit breiteten sich aus, die Mittagsschatten lösten sich auf, als auf ihrer Wanderung der Halbschatten des Mondes vom Kernschatten abgelöst wurde. Gestern nacht war der Mond kaum noch zu sehen gewesen; die Neumondnacht war ebenso wie der Vollmond bei den Dörfern mit unsinnigen Legenden befrachtet. Jetzt sah es aus, als sei grauer Schnee oder Ascheregen gefallen, als der Mond die Sonnenscheibe völlig abdeckte. Alle Farben lösten sich auf, und die Nacht fiel über diesen Teil der Welt. Um die Sonnenscheibe herum sahen wir den feinen Ring einer haarfeinen, strahlenden Lichtfülle. Die Korona erschien, einige lodernde Materieausbrüche blitzten auf, und plötzlich zeigten sich die Sterne während der fünfzig oder sechzig Atemzüge der totalen Verfinsterung wimmerten und schluchzten die Eingeborenen vor Furcht. Die beängstigende Verfinsterung ging langsam vorüber. Die Wolken schienen sich aufgelöst zu haben, und während das Licht und die Helligkeit zusammen mit den Schatten der Menschen und Gegenstände zurückkehrten, die Tiere ihre Panik verloren und die Vogelschwärme sich auflösten, zogen Rauch und Brandgeruch durch das Dorf. Als wir aufsprangen und nachsahen, zeigte sich, daß zwei Dutzend Brote im Backofen schwarz verbrannt waren. Urger begann zu toben und verfluchte die Frauen, denen wir mühsam den Gebrauch der Kornmühle und das Ansetzen des gärenden Brotteiges mit Salz und Gewürzen beigebracht hatten. Asyrta entspannte sich und flüsterte: »Du hast recht, Liebster. Wie so oft. Es ist nur dann eine Katastrophe, wenn man sich fürchtet. Aber… ich habe mich gefürchtet.« »Ich auch, ein wenig.« Ich nahm sie in die Arme. Urger sah zu, wie die Brote im Feuer verbrannten. Siren und Ka-aper schlenderten heran, setzten sich zu uns, und der Mann aus Byblos sagte halblaut: »Ein Zeichen. Oder noch mehr: zwei Omen. Wir werden nicht mehr lange hierbleiben, Vater der Grundseen.«
Ich nickte und hob die Hand. An den Fingern begann ich aufzuzählen: »Wenn alle ungesäuerten Fadenbrote gebacken, die letzten Schinken aus dem Rauch genommen und der Wagen fertig ist, wenn Enten und Gänsefleisch im eigenen Fett stecken und das Langhaus eingedeckt ist, brechen wir auf. Versprochen, Freunde der Flaute.« Der größte Teil der Besatzung hatte seine Habseligkeiten und das Werkzeug samt der Waffen zusammengepackt und war mit dem Gleiter zum Schiff gebracht worden. Der kastenförmige, zweirädrige Wagen war schwer beladen. Urger, der neben Siren und mir auf dem Bock saß, spielte mit der Bernsteinkette um seinen Hals. »In zwei Tagen, Fremder, sind wir wieder allein. War eine gute Zeit! Der Dämon, er hätte uns umgebracht.« Die beiden Ochsenpaare schaukelten in gemütlicher Gangart nach Norden. Ich sah mich um: Das Dorf, das selbst Urger nicht wiedererkannte, verschwand hinter der Kulisse langer Buschreihen. »Die Furcht ist vorbei, Urger«, sagte ich. »Viele Jahre werden vergehen, und ihr werdet alle den Dämon vergessen.« Auch der Wagen stellte einen Denkanstoß für die Barbaren dar. Urger konnte es nicht ahnen, aber die Dörfer würden nicht lange allein hier leben. Wir würden dafür sorgen, daß Händler hierher kamen, auch wenn sie die breite Wasserstraße zwischen dem Festland und der nordwestlichen Inselgruppe überqueren mußten. Es schien seltene Metalle zu geben; Siren hatte im namenlosen Fuß eine Handvoll kleiner Goldkörner gefunden. »Werdet ihr zu uns zurückkommen?« Ich schüttelte den Kopf. »Wir nicht, Häuptling. Aber andere Männer, mit denen ihr Handel treiben sollt. Vielleicht finden deine Leute oder andere Stämme Metall unter der Erde. Die Händler sind dorther, wo die Jägerfamilien leben, die zu euch gezogen sind.« »Dann werden wir mit ihnen reden können, Acran.« Zehn Stunden lang, mit langen Pausen für die Bullen, knirschte das schwerbeladene Gespann dem Landeplatz der ZEDER entgegen. Am Vormittag des dritten Tages, Asyrta hatte uns bereits mit dem Gleiter gesucht, erreichten wir das Schiff und begannen
umzuladen. Die Mannschaft, bereit zum Ablegen, wartete ungeduldig. Allein das schwankende Deck der ZEDER bedeutete so etwas wie den Beginn der Heimkehr. Urger ließ die letzten salzüberkrusteten Schinken auf das Bugdeck fallen. »Ihr legt morgen früh ab?« fragte er. Ich nickte und deutete auf die Sandbucht. Die letzten Waffen und Ausrüstungsteile wurden verstaut. Neben der Quelle hingen die leeren, sauberen Wassersäcke. »Ein kleines Fest zum Abschied, heut am Lagerfeuer«, sagte Siren zu Urger. »Bleib da, iß und trink mit uns und hör dir unsere Lügengeschichten an. Deine Ochsen können am Waldrand weiden.« »Ich bleibe also noch, diese Nacht«, brummte der Häuptling zufrieden. Ich war nicht sicher, ob er uns vermißte oder gewollt hätte, daß wir seine Dörfer noch ein paar Monde fang mit sanftem Nachdruck zur konzentrierter, überlegter Arbeit brachten. Ich zählte die Besatzung: Sechs Jäger und deren Frauen sowie vier unserer Freunde segelten nicht mit uns zurück. Schon jetzt fing ich zu überlegen an, auf welche Weise ES unsere lange Reise beenden würde. Beim ersten Licht, als zwischen den Ufern dichter Nebel lag, verabschiedeten wir uns von Häuptling Urger und stießen ab; wie immer stand Cheper am Ruder. Rico steuerte den Gleiter – irgendwohin. Urger stand bis zu den Knien im Wasser und winkle; schweigend, mit undeutbarem Gesichtsausdruck. Die langen Riemen bewegten sich langsam, im ruhigen Takt. Das Schiff drehte sich in die Strömung, wurde schneller und glitt flußabwärts, ins Brackwasser und im Sog einer der nächsten Ebbströme ins offene Meer hinaus und nach Süden. Nach so vielen Tagen zogen wir die Rah in die Höhe und überließen uns den Wellen und der fang schwingenden Dünung. Wir saßen und lagen auf dicken Fellen im Heck, sahen am Tag die gischtende Heckspur, hörten das vertraute Knarren und Ächzen von Hölzern und Tauwerk, und nachts schliefen wir unter dem Glanz der Sterne. Eines Nachts merkte Asyrta, daß ich wach dalag und fragte: »Wie lange werden wir noch zusammenbleiben dürfen, Liebster?« »Darüber denke ich gerade nach«, sagte ich leise und stand auf, um Cheper am Ruder abzulösen. »Wenn wir wieder im Oberen
Meer sind, laß ich den Gleiter längsseits kommen, und wir steigen um. Sommerende und Herbst auf der Sandalen-Insel? Und wenn es anders sein sollte, werden wir es rechtzeitig merken.« ES war ein wohlwollender Sklavenmeister, sagte ich mir. Es war ungefährlich, einem Sklaven viel Freiheit zu lassen, wenn er nicht fliehen konnte. Wir würden freiwillig in das kalte Gefängnis des Schlafes zurückkehren. Als Cheper sich zwischen den Decken seiner Hängematte zusammengerollt hatte und der Chor der Schnarchenden fast so laut wie die Bugwellen wurde, sagte ich: »Vergiß Gubal, Liebste. Die Hafenstadt, die wir gebaut haben, sehen wir auf dieser Fahrt nicht wieder.« »Ich denke auch nicht mehr an Gubal.« Langsam verstrich die Zeit. Die ZEDER, die ich Siren und all den anderen schenkte, segelte von Bucht zu Bucht, hinein in die Wärme, durch die Meeresenge und ins Große Grüne oder ins Obere Meer. Ich sprach mit Rico, der Gleiter schwebte um Mitternacht heran, und nur Siren und Cheper halfen uns, die Ausrüstung umzuladen. Ich umarmte meine Freunde und sagte leise: »Die langen Jahre fröhlicher Halbwunder und seltsamer Abenteuer sind in Buren Köpfen, Freunde.« Sie blinzelten. Selbst mir fiel es schwer, die Rührung zu verbergen. »Erzählt anderen, was wir erlebten.« »Euch werden wir nie vergessen.« Sie umarmten Asyrta; vorsichtig kletterten wir in den Gleiter. »Habt ein gutes Leben, Acran und Asyrta. Vergeßt uns nicht!« Wir warteten und winkten, bis die GOLDENE ZEDER nicht mehr zu sehen war. Dann drehten wir ab, die Maschine schwebte über die Wellen, und einige Stunden später öffnete ich Ricos Container im Inneren der wohlbekannten Höhle. Wieder kehrten wir freiwillig zurück, als die Brecher der ersten kalten Herbststürme große Mengen Tang an den Strand schmetterten und die Möwenschreie zu schrill für unsere Ohren waren. Als Cyr Aescunnar aus dem Halbschlaf aufschreckte, merkte er, daß sich ungewohnte Stille in seinem Büro ausgebreitet haste. Auch die Bewegungen hatten aufgehört: Kaum eine Anzeige blinkte, die
Monitoren waren ohne Bild, die holografischen Projektionen hatten sich in hellgraue Würfel verwandelt. Es roch nach kaltem Schweiß und vergossenem Kaffee. Blinzelnd suchte der Historiker seine grille, fend sie zwischen Notizen und Buchchips und sah auf den Chronometer. Zwei Stunden nach Mitternacht. Atlan schwieg, seine Erzählung war beendet. Cyr stemmte sich in die Höhe, riß die Terrassentüren auf und kam in der kühlen Luft langsam zu sich. Er murmelte kopfschüttelnd: »Stonehenge! Atlan war tatsächlich dabei, als Phase Zwei gebaut wurde. Ausgerechnet von einem wahnsinnigen Haluter!« ES hatte die Nomaden der Wüsten und Meere, die Gaufürsten von Gubal-Byblos ins vorkeltische England verschlagen. Aescunnar dachte nicht lange darüber nach, ob er die Pause in Atlans Erzählungen zum Versuch eines Schlafes benutzen oder ob er weiter an diesem Kapitel seiner ANNALEN arbeiten sollte. Er schaltete den Kaffeehalbautomaten ein. »Zwei Jahre dauerte die Karawane der Wunder.« Cyr tippte in die Tastatur eines Terminals. »Zwei Jahre und ein paar Monate mehr verbrachten sie im frühen Libanon. Und reichlich ein halbes Jahr in der sardischen Höhle. Also…« NUvA: 6016; entspricht /984 v.d.Z. (?) plusminus etliche Monate. Nachts war der Universitätscomputer wenig beschäftigt; Cyr rief sämtliche Daten über Stonehenge ab und verteilte Schrift- und Bildmaterial auf Monitoren und Holografien. STONEHENGE: Stone, engl. = Stein, henge, engl. = »hängen«, Beobachtungszentrum, Steinkreis nahe Wiltshire, etwa um – 2800 bis 2600 entstand eine Graben- und Wallanlage von 115 m Durchmesser, in deren Innerem 56 soy. »Aubreylöcher« zu finden sind. In Phase 11, der »Becherzeit«, ca. 6 Jhdt. später, wurden 82 soy. Blausteine (blaugrauer Sandstein), je um 5 Tonnen schwer, aus den Prescelly-Bergen Pembrokeshires – 220 km Luftlinie, ca. 350 km Transportweg – herangeschleppt, an der Küste entlang und den Avon-Fuß aufwärts, und kreisförmig aufgestellt. In Bauphase 111 wurden die Blausteine entfernt und durch bis zu 50 Tonnen schwere Kalksteine, 29 km weit aus den Marlborough Downs herbeigeschafft, ersetzt. 30 Stück davon wurden in einem Kreis von 30 m aufgestellt und mit 30 Decksteinen verbunden. Im
Kreisinneren finden wir die hufeisenförmig aufgestellten Sarsen-Trilithen. Im letzten Bauabschnitt, um -1540, stellten unbekannte Baumeister die Blausteine wieder auf; man verdoppelte Sarsenring und -hufeisen. Man vermutet die Teilnahme mykenischer Baumeister, wenigstens für Phase Illa. Mögliche Verwendung als Observatorium und »stellarer Rechenmaschine« durch vielfältige Computersimulationen nachgewiesen; viele mythologische und Druiden-Kult-Bedeutungen werden, wohl nicht zu Unrecht, vermutet. Zahlreiche bronzezeitliche Funde; in nächster Umgebung große Menge noch nicht gedeuteter Relikte der versch. Megalithkulturen. Cyr betrachtete konzentriert die Abbildungen und die Folge der computergestützten Zeichnungen. Die Rekonstruktionsversuche waren meisterhaft. Sie zeigten inmitten der Ebene die Zustände der verschiedenen Bauphasen. Eine Karte zeigte die Position von Stonehenge, Avebury und anderen megalithischen Bauwerken Britanniens. Aescunnar mischte den Kaffee mit Sahne und braunem Zucker, wählte die schönsten und aussagekräftigsten Darstellungen aus, markierte den Weg der GOLDENEN ZEDER und fügte sie zu seinen Aufzeichnungen hinzu. Er hob die Beine und legte die Fersen auf eine der wenigen freien Stellen der Arbeitsplatte. Schweigend, am Kaffee schlürfend, sah er zu, wie sich die SERT-Haube hob; ein deutliches Zeichen, daß der Arkonide längere Zeit schwieg. Der ultrastarke Kaffee machte aus Aescunnars Übermüdung eine voraussichtlich kurze Phase hellsichtiger Klarheit: Er war sich der unzähligen denkbaren Verbindungen bewußt, die zwischen den vielen terranischen »Heiligen Orten« bestand. Knapp fünfzig Namen fielen ihm ein. Überall dort hatte man Zyklopenmauern, Menhire, Riesensteine, Dolmen oder steinzeitliche und bronzezeitliche Druidenaltäre gefunden; von Avebury bis Zypern. Felszeichnungen, Gigantengräber, Hypogäen, Megalithen, Nuraghen, Höhlen und abstruse Formen wie die Linien der Nazca-Ebene. Er wäre nicht im mindesten erstaunt gewesen, wenn sich herausgestellt hätte, daß Atlan mit überlegener Technik und entsprechenden Helfern drei Jahrtausende fang über den Planeten gezogen und derartige Bauwerke im Akkord errichtet hatte, nur um der Nachwelt
unlösbare Rätsel aufzugeben. Aber so verhielt es sich nicht: Auch Rico schien nicht beobachtet zu haben, wer die erste Anlage Stonehenges gebaut hatte – und warum. Sinngemäß galt dies für jede der rätselhaften Riesenstein-Anlagen zwischen Altamira und den fragwürdigen Daten einer frühen terranischen Zerstörungsgeschichte. Selbst Atlan würde nur einige wenige Informationen zur Entstehung beitragen können. Warum waren gewaltige Steinbrocken in einer Zeit, die lediglich Hebelarm und schiefe Ebene zu kennen schien, über derart gigantische Entfernungen zusammengetragen worden? Und wer hatte wirklich die Pyramiden gebaut? Und den großen Sphinx? Re-Korach, Ricos »Vorbild«? Cyr schüttelte verwirrt den Kopf und widmete sich wieder seiner Dokumentation. Stonehenge war und blieb, in jedem Fall, eine faszinierende Geschichte, zur gleichen Zeit erlebt wie die Geschehnisse während des 28. Jahres der Regierungszeit des ersten Amenemhet in Menefru-Mire. 18. Im Mond Thot, in der Jahreszeit Achet, begann das Jahr mit der Überschwemmung des Hapi. Monsunregen des Frühlings hatten im Quellgebiet vulkanischen Staub und Erde aufgeweicht. Regenfälle spülten den braungrauen Schlamm in zwei der Jotru-Quellflüsse. Der Strom wälzte sich brodelnd und schäumend über die Katarakte und überflutete zu der Zeit, als der Sepedet-Stern sich vor der Morgensonne zeigte, das Land. Von Anfang Thot, den gesamten Paophi und Athyr war das Hapiland vom Wasser bedeckt. Schutzdeiche hielten die Überschwemmung auf, Staudämme und Kanäle leiteten die Fluten von der Mitte des Stromes nach rechts und links. Das langsam und kraftlos gewordene Wasser wurde kontrolliert und stand auf den Feldern, sickerte ein, füllte Nebenarme und verdunstete, setzte den nährenden und düngenden Schlamm ab und riß zahllose Kadaver ins Meer, ins Große Grüne. Gewaltige Seeflächen waren entstanden, aus denen schwankende Palmenstämme ebenso herausragten, sich gespenstisch in
gebrochenen Farben, auf dem Kopf stehend, spiegelten, wie die Lehmhütten der Bauern, die Bauten der Totenstädte und die Großen Häuser der Gottkönige, die stattlichen Kornspeicher und jedes andere Bauwerk. Tausende und aber Tausende Menschen taten nichts anderes, als dieses Kanalnetz zu pflegen und zu hüten, das sich wie ein Aderngefecht verzweigte und dessen letzte, armdünne Ausläufer am Rand der senkrechten Felsen und der gelben Sandwüste endeten. Am Rand des letzten grauen Wassers, im Mond Choyak, herrschten nur noch Durst, Sonne und Tod: Gott Re in der Tages-Sonnenbarke mandjet war der furchtbare Herrscher der Wüste. Wie ein warmer Pesthauch fuhr feuchtwarmer Wind über die Wasserfläche, kräuselte sie in winzigen Wellen und ließ die fettgrünen Palmenwedel rascheln. Durch die Stille näherten sich harte Geräusche. Schritte klatschten auf dem Plattenweg und trafen hin und wieder in eine Pfütze. Keuchende Atemzüge begleiteten die Schritte. Ein Mann rannte, aus der Richtung der Wüste, in langgestrecktem Trab auf das Haus aus Steinquadern zu und hielt an. Er rief den schläfrigen Torwachen einige Worte zu und lief langsamer, durch den blühenden Garten. Halbwilde Wasservögel flogen auf und klatschten in den künstlichen See zurück. Der Mann war Nubier. Seine dunkle Haut glänzte vor Schweiß. Er trug Sandalen mit breiten Bändern, einen Gürtel mit dem leinenen Hüfttuch, den sichelförmigen Brustschmuck und schwere Kupferbänder an den Oberarmen. Am linken Unterarm hing der Schild aus scheckigem Kalbfell mit dem großen Zeichen des Boten aus dem PerAo, dem Großen Haus. Der Bote war mit einer Streitaxt und langen Bronzedolchen mit wertvollen Griffen bewaffnet. Er hielt an, als er die Treppe erreichte, sprang die flachen Steinstufen hinauf und näherte sich uns. Vor mir warf er sich zu Boden, berührte die Quadern mit der Stirn und sagte ehrfürchtig: »Verwalter der königlichen Worte, umherreisender Schatten des Horus, ich komme vom Zweiten Amenemhet und bringe dir eine Botschaft.«
Ptah-Sokar warf mir einen funkelnden Blick zu, drehte sich und schnippte mit den Fingern. Eine Sklavin füllte einen Becher mit kühlem Bier aus einem Tonkrug. »Steh auf, Bote, und trink einen Schluck«, sagte Ptah-Sokar und hielt ihm den Becher entgegen. Der Bote trank mit hastigen Schlukken, wischte über seine Stirn und den Mund und sagte aufatmend: »Danke, ihr Herren der Wüste. Wollt ihr die Botschaft dessen hören, der unser Herrscher ist?« »Sprich! Aber bitt vorher in den Schatten!« bat ich. Wir befanden uns auf dem flachen Dach unseres Hauses. Es hatte bis vor einem halben Jahr dem Adj-mer von Chmunu gehört, den Amenemhet, der Sohn des Sesostris, verbannt haste. Zwei Sklavinnen bedienten uns. Wir versuchten, eine Reihe von Einfällen und Überlegungen zu Pergament zu bringen, aber die feuchte Hitze lähmte alle Gedanken. Die Botschaft des Herrschers war lange unterwegs gewesen, denn die königlichen Residenzen lagen in der riesigen Oase, eine Tagesreise abwärts vor dem Anfang des Dreiecks: also eine wichtige Botschaft. »Ich bin Zakanza-Upuaut, ein Mann aus dem Land Wawat. Ich habe lange mit dem König gesprochen, vielmehr geruhte er, seinen Redefuß auf mich zu lenken. Nichts ist geschrieben worden, aber ich habe ein Paket für dich, Atlan-Horus.« Ich nickte. Mein merkwürdiger Freund und Truppenführer, jener »Mann ohne Gnade gegenüber Feinden und Saumseligen«, warf mir einen langen Blick zu. Uns war klar, daß die Botschaft nur für uns bestimmt war. Ptah-Sokar schickte die Mädchen weg und warf einer den leeren Bierkrug zu. »Bring ihn in einer halben Stunde gefüllt und gekühlt zurück«, befahl er kurz. »Neter nefer, guter Gott, werden wir heute abend betrunken sein.« Er rülpste leise, zog mit einer Fußbewegung einen Schemel heran und deutete mit seinem ringgeschmückten Zeigefinger darauf. Auf eine Weise, die mir gleichermaßen kühn und selbstbewußt erschien, behandelte er jeden Menschen so beeindruckend, daß dieser ihn als den wahren Freund bezeichnen mußte. Der Bote warf, nachdem er
getrunken hatte, einen sehnsüchtigen Blick in den leeren Becher und sagte: »Amenemhet ist begeistert von deinen Plänen für seine Totenbauwerke. Die Baumeister murren, aber sie anerkennen deine Leistung. Auch Modelle und Zeichnungen für die Festungsbauten in Buhen am zweiten Katarakt haben Verwunderung und Freude bei Amenemhet hervorgerufen. Er hat in seiner Weisheit beschlossen, dich um eine gewaltige Arbeit zu bitten. Er bittet, er fordert nicht, merke dies, Atlan-Horus.« Respektlos knurrte Ptah-Sokar: »Wer den Esel treibt, bekommt seine Winde zu riechen. Die Bitten eines Königs sind wie ein vergifteter Pfeil – sehr vorsichtig zu behandeln.« »Ptah-Sokar mag recht haben«, sagte der Bote. »Aber beachte meinen Namen.« Der Truppenführer biß sich ärgerlich auf seine Unterlippe, dann lachte er dröhnend auf. So wie mein Name Horus eine schmeichelhafte Auszeichnung bedeutete, denn Horus, der Falkengott aus dem Psedjet, der Götterversammlung, sah alles dank der Kraft seiner scharfen Augen, die mit Sonne und Mond gleichgestellt wurden – so war Upuaut, der schakalköpfige Gott, der Öffner der Wege. Ein Beiname mit Bedeutung und von großer Wichtigkeit! »Entschuldige, Freund Zakanza, aber nicht jedermann trägt seine Wichtigkeit so deutlich zur Schau wie Atlan. Du nicht, und ich auch nicht. Wir sind Schlamm unter seinen Sandalen.« »Wenn ihr aufgehört habt, euch gegenseitig Höflichkeitsfloskeln an eure häßlichen Köpfe zu werfen, werden wir vielleicht die Bitte erfahren können, bevor es dunkel geworden ist«, sagte ich grimmig. »Recht gesprochen, Herr«, erwiderte der Bote. Sie ähnelten sich sehr, diese Männer, stellte ich fest. Noch eine weitere Seltsamkeit zu all den Geheimnissen, die mich umgaben. »Du sollst ein kleines Heer zusammenstellen, Atlan-Horus, hapiabwärts reisen und die besten Handwerker aussuchen. Man wird dir Holz zum Bau von Schiffen schicken. Metall, Leinen, was du brauchst. Die Vorsteher werden von anderen Boten verständigt, mit einigen habe ich gesprochen. Man hat es geschrieben, es wird
geschehen, wie es Amenemhet will. Bis zu fünfmal tausend Helfer, gleich welcher Art, sollst du dir nehmen können. Der Herrscher bittet dich, nach Punt, ins Land des Goldes und des Weihrauchharzes zu fahren, jenseits von Buhen und Kumme an der südlichen Grenze, hinter dem zweiten Katarakt. Nun kommt die Bitte des Herrschers.« Was ich bisher gehört hatte, klang zumindest verlockend. Aber zugleich wußte ich, daß der Bau einer Tempelstadt mit der Menge an Planung und Arbeit vergleichbar war, die vor uns lag. Aufmerksam beugte ich mich vor und blickte in die großen Augen des Nubiers. »Ich höre, Öffner der Wege!« forderte ich ihn halblaut auf. »Kampf? Landnahme?« »Ja, Kampf. Aber keine Landnahme. Jenseits des zweiten Katarakts, in meiner Heimat, in der ich fast jeden Strauch kenne, hat ein Fürst sein Haupt erhoben wider Amenemhet. Niemand kennt ihn. Seine schnellen Nomadenkrieger kommen über die Grenzen, plündern, brandschatzen und zerstören Kanäle, Wassermauern und Brunnen. Boten berichten dem Herrscher von diesem Unheil. Überall, sagen sie, stehen riesige Kolosse aus Stein, schwärzer als meine Haut, Horus! Dies soll das Zeichen des Fürsten sein, der seit einem Jahr seine Schandtaten ausführt. Du sollst ihn, so bittet mein Herr, verfolgen und besiegen. Denn er kennt keine besseren Männer im Süden als dich, deinen vorwitzigen Truppenführer und – als Finder der Pfade und Erkenner feindlicher Listen – mich.« Ich stützte mein Kinn in die Hand und dachte nach. »Dies ist ein wahrhaft großes Vorhaben. Eine Expedition ins Land Punt, mit allen Schwierigkeiten, die Niederwerfung eines Fürsten, den niemand kennt, die lange Fahrt und die schwierige Rückkehr. Der Herrscher weiß, daß es Jahre dauert, bis seine Bitte erfüllt ist?« Selbstverständlich würde ich sämtliche Privilegien verlieren, wenn ich nicht dem Herrscher gehorchte. Die Bitte war ein Befehl, nichts anderes. Allerdings wußte ich, daß Amenemhet klug war und hervorragende, sogar selbstlose und ehrliche Berater haste. Schon allein deswegen, well sie meiner wachsenden Macht mißtrauten, würden sie dieses Vorhaben nicht sabotieren, denn es garantierte
ihnen meine Abwesenheit, vielleicht sogar meinen Tod. Glücklicherweise kannte mich niemand wirklich, noch wußte jemand, wer ich war und woher ich kam. Ich mußte lachen und fragte: »Und du sollst bleiben und uns helfen?« »Ich trage das persönliche Siegel Amenemhets. Ich habe das Recht, Saumselige und Unbotmäßige abzusetzen. Natürlich werde ich reisen müssen, aber letzten Endes soll ich dich begleiten, Herr.« Ich blickte über die riesige Wasserwüste, die beiderseits des Flusses von Sümpfen und Wüste begrenzt war. Das Wasser roch unangenehm, aber es sicherte dem Land das Überleben. Diese Art der Landbestellung erforderte ein wirksames System aus Arbeit und Kontrolle, aus funktionierender Verwaltung. Die Basis des hierarchisch aufgebauten Staates stellten Bauern und Arbeiter dar, Sklaven und Handwerker. Jene Menschen, die in der Mäßigung, im ausbalancierten Mittelweg das Maß der Dinge erkannt zu haben glaubten, ungebildete, herzliche Menschen, angefüllt mit bitterer Gleichgültigkeit, die sie befähigte, von Mond zu Mond zu überleben, ganz gleich, wer an der Spitze des Landes thronte. Diese Menschen, von Seuchen und Katastrophen bedroht, noch mehr als ihr Herrscher dem Glauben an alle nur vorstellbaren Götter, Dämonen, Vorschriften und Tabus unterworfen, waren nichts ohne die Verwaltung. Die Verwaltung war auf ihre Arbeitskraft angewiesen. Jeder Beamte konnte ersetzt werden, wenn der Göttliche es wünschte; er verhungerte, wenn die vielen Vorsteher und Aufseher ihr Amt nachlässig betrieben. Das Ganze war ein monströses, scheinbar unzerreißbares Netz, in dem jeder Faden auswechselbar, aber niemals ganze Teile zu ersetzen waren. Ich merkte, daß beide Männer mich wartend ansahen. Meine Gedanken kehrten in die Wirklichkeit zurück. »Du wirst nicht heute zurückreisen, Zakanza-Upuaut. Wir sitzen heute nacht an der Tafel, trinken Bier und besprechen alles. Es ist ein gewaltiges Unternehmen, das viel Geist erfordert. Und Kühnheit der Gedanken.« »Deswegen«, sagte der hünenhafte Nubier mit dem scharfgeschnittenen Gesicht, »hat Amenemhet dich gebeten und
keinen anderen. Und er läßt dir sagen, daß der Vorsteher von Buhen, eine kluge, mächtige und schöne Frau, deinen Besuch erwartet. Denn sie hat, naturgemäß, am meisten unter dem schwarzen Koloß zu leiden.« »Folge der Euler sie führt dich zu einer Ruine!« befahl Ptah-Sokar. Dann drehte er den Kopf und brüllte: »Bier, Tochter des Kruges!« »Ein guter Gedanke«, sagte der Bote und grinste. Ich blickte ihn an, dann Ptah-Sokar, schließlich die Umgebung und das zierliche Mädchen, das in raffinierter Haltung den Krug, eingehüllt in triefendes Leinen, auf der Schulter trug. Mein Extrasinn meldete sich nach langer Zeit und sagte hämisch: Mit der eigenen Bedeutung wachsen Aufgaben, Gefahren und Magenschmerzen, Arkonide! Ich mußte in meinem Bewußtsein einen gehässigen Weisen versteckt gehabt haben, der während der Prüfungen zur ARK SUMMIA, geweckt worden war. Das Mädchen goß vorsichtig, um nicht zuviel Schaum zu erzeugen, die großen Tonbecher voll. PtahSokar nahm ihr die Gefäße ab und teilte sie aus. Ptah war ein höchst merkwürdiger Mann; knapp dreißig Sommer alt, eine Handbreit kleiner als ich, mit dunkelbraunen Augen, bartlos und mit nackenlangem Haar, das er meist durch einen breiten Streifen aus besticktem Leder zusammenhielt. Sein Gesicht war falkenartig; eine gekrümmte, scharf vorspringende Nase, ein eckiges Kinn, tiefe Falten zwischen Mundwinkel und Nasenflügel. Ein beherrschtes Gesicht, das seinen Ausdruck nur selten expressiv veränderte. Dazu ein muskelbepackter Körper, der kein überflüssiges Fett aufwies. Breite Schultern, lange Beine, ein Körper, dessen Aktionen schnell und perfekt gesteuert abliefen. Ich glaubte, Ptah-Sokar zu kennen: Große Illusionen hatte er nicht mehr, deshalb schien er jeden neuen Tag zu genießen. Er erinnerte mich an jemanden, den ich gut gekannt haste. Auch dessen Name war zusammen mit meinen Erinnerungen von ES blockiert. Ich wußte nicht, wie lange ich schon im Land der Binse und Biene war. Ich wußte, daß Meni der erste Bewohner des Großen Hauses gewesen war, damals vor undenklichen Zeiten.
Damals war ich ein gestrandeter Raumfahrer gewesen, der versucht hatte, nach Arkon zurückzukehren. Heute war ich noch immer ein gestrandeter Raumfahrer, und aus dem Versprechen, diesen Planeten zu behüten und die Barbaren zu fördern, hatte mein geheimnisvoller Herrscher eine Verpflichtung gemacht. Ich war Vasall und Marionette, und nur ES wußte, warum ich hier war, wie lange, zu welchem Zweck und mit welchen Zielen. Ich wußte es noch nicht. Aber ich fühlte mich wohl unter der sengenden Sonne des Landes zwischen endlosen Wüsten. »Mag sein«, sagte ich nachdenklich und trat hinaus in die Sonne, »daß Amenemhet mit gewissen Dingen lockt und Belohnungen verspricht. Aber du, Ptah, und ich, wir sind Abenteurer. Uns reizt nicht die Belohnung, sondern die Bewältigung der Aufgabe.« Zakanza-Upuaut legte das versiegelte Päckchen auf den Tisch. Ptah stieß ihn an und knurrte: »Ist er nicht wirklich klug? Ist er nicht ein Kenner der schlammigen Tiefen menschlicher Herzen?« »In der Tat. Der Göttliche irrte nicht. Jetzt seine ich es deutlich«, scherzte der Bote. »Im Ernst. Wir sollten die nächsten Tage über alles beraten.« »In Ruhe und ohne Bier«, warf ich ein. »Jetzt ist Achet. Viel wird nicht getan werden können.« »So ist es.« Meine Erinnerung setzte an folgendem Punkt an: Ein Baumeister und ein Priester brachten mich, meine Zeichnungen und meine Modelle, zum Per-Ao. Der Herrscher war von meinen Vorschlägen begeistert und versprach sie zu prüfen; er rechnete nicht mit seinem baldigen Tod. Dann gab er mir Ptah-Sokar zur Seite, und wir rüsteten eine kleine Truppe aus und bewegten uns aufwärts bis hierher. Ich, so sagte seine Erhabenheit, sollte seine Soldaten kontrollieren und sehen, an welcher Stelle Erfindungen, die ich machte, sich verwirklichen lassen konnten. Das war geschehen. Auf der langen Reise zu Fuß, im Schiff, im Wagen, auf dem Rücken stinkender Esel und immer entlang des schmalen Streifen Landes hatten sich viele Denkanstöße ergeben. Ich wußte, daß sich ein großes Gebiet würde kultivieren lassen, wenn die Menschen nicht
gewaltige Totenbauwerke, Bergtempel und Talanlagen, sondern Bewässerungsanlagen und feste Häuser bauen würden. Aber dies war ein ganz anderes Problem. Ich deutete auf Zakanza-Upuaut und sagte: »Ich werde diese Arbeiten nicht beginnen, ehe ich nicht eine kleine Herde derjenigen Tiere habe, die ihr ›Gebirgsesel‹ nennt. Man soll sie holen lassen. Es gibt sie… nun, ich zeige euch, wo man sie findet.« Das Land Punt. Der schwarze Koloß. Die schöne Herrin von Buhen, dem Grenzort. Das war der Auftrag des Gottkönigs. Und wie lautete der Befehl von ES? Im Haus, zwischen dicken Mauern aus Lehmziegeln, unter dem Dach aus wenigen Balken und vielen Schichten Stroh, auf die wiederum Ziegel und Quadern gelegt worden waren, war es wunderbar kühl. Wir saßen um den Tisch, zwischen den Bechern lagen Wachstäfelchen, Tontafeln und Schreibblätter. Wir waren nicht betrunken, der Bote, der Truppenführer und ich; wir befanden uns in jenem Zustand der Heiterkeit, in dem die Gedanken zunehmend kühner und klarer wurden, wie es schien. Wir versuchten, unser Wissen nutzbringend anzuwenden. Wieviele Männer brauchten wir, wieviel Verpflegung, Holz, Wasser, Waffen und Soldaten und so weiter. Was mußte getan werden, an welchen Stellen sollten wir Depots anlegen, und auf welchen Wegen sollte die mehrfach aufgespaltene und wieder vereinigte Expedition wandern und zu Schiff befördert werden? Kartenbeschriftungen entstanden, unzählige Pläne wurden gemacht und teilweise wieder verworfen, die Stunden vergingen unbemerkt. Gegen Morgen kam mit verschlafenen Augen eine der Sklavinnen herein, die wir mit diesem Haus übernommen hatten. Sie trug einen Tonkrug mit einer Art von Verzierung, deren Muster ich zu erkennen glaubte. Hinter dem Mädchen ging ein junger, verlegen wirkender Mann. »Ich dachte, ihr würdet schlafen«, meinte ich und stand auf. Das Mädchen lächelte und gähnte. »Der Junge kommt von Buhen und bringt ein Geschenk. Er sagt, es wäre ein Getränk aus unbekannten Früchten darin.«
Der Logiksektor sagte: Keramik aus Byblos. Handelsware aus dem Südosten des Oberen Meeres. »Wein aus Buhen. Der Krug hat einen langen Weg zurückgelegt«, sagte ich müde. »Gib ihm zu essen; er soll sich ausschlafen. Wer gab dir den Krug, Junge?« »Ein Beamter von Nebkaura«, murmelte er mit niedergeschlagenen Augen. »Er sagte, ich soll ihn dir, Herr, persönlich geben. Mit Grüßen und dem Wunsch nach langem Leben und großer Weisheit.« Ich nickte, argwöhnisch blickten Zakanza und Ptah den Boten an. Die Sklavin stellte den Krug in die Mitte des Tisches, dann schloß sich hinter ihr und dem Jungen der Vorhang zwischen den Türpfosten. »Offensichtlich hat man an alles gedacht. Ein teures Geschenk, eines Feldherrn würdig. Morgen werden wir es richtig würdigen können, Atlan-Horus«, meinte Ptah-Sokar leichtfertig. Ägypten kannte den Wein; es gab verschiedene Qualitäten. Aber man importierte auch Weinkrüge aus Byblos, und die Männer des Handels bekamen ihn aus angrenzenden Ländern und von Keftiu. »Auch ich bin todmüde«, murmelte ich. »Wir sollten tatsächlich schlafen gehen.« »Dein Wunsch ist ein angenehmer Befehl«, stimmte ZakanzaUpuaut zu. Es gab genügend reich ausgestattete Zimmer in diesem flachen Haus unter Palmen und Sykomoren. Es herrschte im »Weißen Haus des Herrn« noch völlige Stille, als ich gegen Mittag aufwachte. Der Raum, in dem ich lebte, war groß, die Terrasse sprang weit in den Garten vor; wenn ich den Kopf über die geschliffenen Granitplatte des Tisches hob, sah ich den Hapi jenseits der Felder und Palmenhaine. Ich ging ins Bad, wusch mich und legte Sandalen, Hüfttuch und Gürtel um. Der Zellschwingungsaktivator war in einem großen Amulett getarnt, das in einem goldenen Rahmen das Zeichen meines Ka trug, das Bild des steigenden Horusfalken. Plötzlich verspürte ich Durst und ging in den Eßraum, holte den Weinkrug und schlitzte mit dem Dolch, einem getarnten Lähmstrahler, das wächserne Verschlußsiegel auf. Tatsächlich! Im Wachs befand sich der
verwischte Siegelabdruck aus Knossos. Mit wohltuendem Laut hob sich der Stopfen. Der Wein roch aromatisch, als wäre die Sonnenglut eines langen Sommers darin eingefangen. Ich goß vorsichtig einen Pokal halb voll, ergänzte die Hälfte mit Wasser und rührte vorsichtig um. Der erste Schluck prickelte auf der Zunge, dann nickte ich und murmelte: »Eine wohlbedachte Geste des weiblichen Festungshauptmannes. Ich denke, ich werde auch ihr ein Geschenk machen.« Langsam trank ich den Becher leer und setzte ihn ab. Leichtes Schwindelgefühl ergriff mich, als ich mich vor die zehn Ellen breite Steinplatte setzte und meine Habseligkeiten anblickte. Griffel, Kartenausschnitte und Waffen verschwammen vor meinen Augen. Einer der Gründe, abgesehen von meiner relativen Unsterblichkeit, war mein hohes Überlebenspotential. Ich ahnte, was geschehen war und stemmte mich hoch. Als mich der Krampf packte, der wie ein plötzlich ausbrechendes Feuer meine Speiseröhre aufwärts zuckte, mich ruckwärts gegen die Lehne des Sessels schleuderte und alle Gliedmaßen in wilde Zuckungen versetzte, wußte ich es genau. Du bist vergiftet! schrie das Extrahirn. Den Finger in den Schlund! Übergib dich! Ich holte röchelnd und stöhnend Luft und versuchte, aus dem Sessel hochzukommen. Ein zweiter Ruck, der meinen Körper wie einen Bogen zusammenkrümmte, schleuderte mich aus dem Sitz und auf die Felle über den farbigen Ziegeln. Ich begann zu kriechen und versuchte, meinen Arm zu heben. Rasender Schmerz schien gleichzeitig sämtliche Nerven zu verbrennen. Vor meinen Augen drehte sich ein gelber Nebel. Immer wieder wühlte eine erbarmungslose Faust meine Eingeweide um. Es gelang mir, mich auf die Seite zu wälzen und den Finger weit in den Hals zu stecken. Mein Magen schien sich explosionsartig zu entleeren. Ich keuchte und hörte durch das Sausen und Winseln in meinen Ohren nicht einmal meine qualvollen Atemzüge. Immer wieder reagierte mein Magen, krampfte sich zusammen, stieß Wein und Speisereste aus. Nach endlos langer Zeit spie ich nur noch eine weißliche Flüssigkeit. Die Krämpfe und Spasmen ließen nicht nach, aber sie waren nicht mehr so furchtbar.
Ich tappte noch immer halbblind umher. Aber durch die Wellen des Schmerzes fühlte ich den Zellaktivator arbeiten. Seine Kräfte reichten nicht aus, die Wirkung des Giftes sofort zu neutralisieren. Ich kroch weiter, richtete mich halb auf und fiel in das Zimmer hinein, in dem Krüge und Becken waren. Ich tastete um mich, packte den Krug und trank den Inhalt aus, goß das Wasser über meinen Körper und ließ den tönernen Krug fallen. Mit donnerndem Krach zerbrach das Gefäß. Hart krampfte sich mein Magen zusammen, ich würgte das Wasser wieder heraus, warf den Kopf hin und her und tastete um mich. Ich mußte versuchen, auf die Beine zu kommen. Niemand hörte mich, alle schliefen in diesem Haus. Meine Kehle war wie zugeschnürt, aus meinen Augen lief wäßriges Sekret, meine Haut fühlte sich eisig an. Mühsam schob ich mich Handbreit um Handbreit aus dem Baderaum hinaus, zurück in mein Zimmer. Ich wollte um Hilfe schreien, aber ich konnte nicht. Eine kaum je gekannte Furcht hielt mich in ihrem Griff. Wie ein riesiger Käfer kroch ich durch den Raum, erreichte die Steinplatte und zog mich mit einer gewaltigen Kraftanstrengung hoch. Mein Arm fuhr waagrecht über der Platte durch die Luft, ich traf mit der Handkante etwas Aufrechtstehendes und schmetterte es zur Seite. Nur an der Geräuschfolge hörte ich, daß es der Weinkrug gewesen sein mußte. Dann verlor ich das Bewußtsein. Kurze Zeit später kam einer der Slughihunde herein, mit denen der Besitzer des Hauses gejagt haste. Der Hund näherte sich schnüffelnd und schwanzwedelnd meinem bewegungslosen Körper. Er zuckte zusammen, als mein langgezogenes Stöhnen zu hören war. Dann fing das Tier gierig an, die große Weinpfütze aufzulecken. Als der schlanke Hund zu heulen und zu wimmern begann, aus dem Zimmer sprang und jaulend, immer wieder zusammenbrechend und hüpfend durch das Haus jagte, in den Garten hinausschoß und würgend und halb gelähmt in der Säulenhalle liegenblieb, erwachten die Insassen des Hauses. Sie fanden mich, trugen mich auf das Lager und begriffen, was geschehen war. Ich erwachte gegen Abend. Mein Verstand war klar, meine Augen funktionierten mit gewohnter Schärfe, aber ich war unfähig, auch nur einen Arm zu heben. Der Zellaktivator schien sich
in eine glühende Metallkugel verwandelt zu haben, denn von der Knochenplatte in meiner Brust gingen pochend pulsierende Ströme in alle Teile des Körpers. Ich sah Ptah-Sokar an und röchelte: »Der Wein aus Buhen war vergiftet. Sicher nicht von Nebkaura. Fragt den Jungen. Ich werde aber überleben, mein Amulett hilft.« Entsetzt sah Ptah, wie ich die Augen schloß und einschlief. Während längerer Schlafpausen, in denen ich Fleischbrühe trank oder geschlagene Eier mit Honig schlürfte, hatte ich genügend Gelegenheit, alle Aspekte dieses Zwischenfalls zu bedenken. Vielleicht waren es die Günstlinge Amenemhets, die mich töten wollten. Vielleicht war auch der schwarze Koloß der Versender des tödlichen Geschenks. Vielleicht war es sogar ES, um mich in Wut zu versetzen. Aber je mehr mein Bart wuchs, desto besser erholte ich mich. Schließlich verbrachte ich halbe Tage in der Sonne. Warum ausgerechnet Punt, das Götterland? Der Bote, das Mädchen und Ptah-Sokar erklärten es mir: Weihrauchharz und Myrrhe für Opfer in den vielen Tempeln kamen aus Punt. Sie durchliefen riesige Entfernungen und darüber hinaus die Hände vieler Karawanenführer. Auf diese Weise wurde beispielsweise Weihrauch teurer als Gold, fast so wertvoll wie das ungemein seltene Eisen. Eine Expedition mit Geschenken nach Punt war letzten Endes billiger, selbst wenn sie fünftausend Männer beschäftigte. Die Bitte, den schwarzen Koloß zu besiegen, brauchte keine Erklärung. Der Logiksektor flüsterte: Das Gift, Arkonide, hat den entscheidenden Anstoß gegeben. Du wirst tun, was dir aufgetragen wurde, besser, als andere. Du wirst deinen Ehrgeiz hineinlegen. Und ES wird dir alles erklären. Wann? Das läßt sich nicht errechnen, nicht vom Extrahirn! Zwölf Tage brauchte ich, bis ich mich wieder richtig bewegen konnte. In diesen Tagen formulierten wir Anordnungen; ZakanzaUpuaut machte sich wieder auf den Weg. Der Feldzug und die Fahrt nach Punt würden später stattfinden. Jetzt schufen wir die Voraussetzungen dafür, daß beide Unternehmungen gelangen. 19.
Rico-Riancor hatte warten müssen, bis ich meine Lage klar begriffen und einen sicheren Unterschlupf gefunden haste. Unabhängig davon, daß ES selbst den göttlichen König manipuliert hatte, versuchten der Roboter und ich, mein Überleben so gut wie möglich zu sichern. Ich besaß die besten, aktuellen Karten, eine hervorragende Ausrüstung und sämtliche Informationen; Schrift und Sprache des Hapilandes kannte ich. Ich wies Rico an, nach vorhandenen Mustern drei leichte, zerlegbare Kampfwagen herzustellen, orderte Vorräte, medizinisches Material und Werkzeuge. Die Ziele und Fugwege der Spionsonden wurden ebenso geändert wie unsere Kommunikation. Riancor speicherte meine Anordnungen und sagte: »Amenemhet, der Sohn Sesostris’, regiert in seinem vierundzwanzigsten Jahr, Atlan. Sein Sohn, der auch den Namen Sesostris trägt, ist seit gut neun Jahren Mitregent. Du hast, seit ihr jenes Dorf beim Kreis der heiligen Steine verlassen habt, das sich jetzt ›Sarbac‹ nennt, etwas mehr als sechsunddreißig Jahre neben Asyrta tief geschlafen. Ich liefere den Container, wie immer, nachts in dein Haus. Um die geeigneten Pferde werde ich mich ebenso zuverlässig kümmern.« »Ich höre es mit Vergnügen«, sagte ich. »Wo sich Asyrta aufhält, hast du noch nicht herausgefunden? Und die wirkliche Lage des Landes Punt ebenfalls nicht? Ich jedenfalls, abgesehen von Giftanschlägen, fühle mich im Land des Hapistromes wohl.« »Keine Informationen über Asyrta und Punt, Atlan.« Ich nickte ihm zu und trennte die Verbindung. Der Stern Sepedet, dessen erstes Erscheinen die Jahreszeit Achet angekündigt hatte, stand lange vor Sonnenaufgang über dem Wüstenhorizont. Die Bauern fingen an, die Felder zu bestellen: In die weiche Erde wurden Saatkörner gestreut. Rinder- und Eselsherden wurden über die Felder getrieben und trampelten den Samen tief in den Grund. In der Nähe der Bauernhäuser, die auf befestigten Sandhügeln standen oder durch Mauern flutgeschützt waren, wurden Zwiebeln, Gurken und Knoblauch, Kürbisse, Salat und Lauch gepflanzt. Binsen und Lotos begannen zu wuchern, Gänse, Enten, zahme
Pelikane und Kraniche wurden gemästet; ihre Zahl wuchs mit jedem Tag. Der Hapi drehte in der Nähe meines Hauses ein großes Holzdoppelrad, das aus großen Tonkrügen Wasser hob und in schrägstehende Rinnen kippte. Über der heiß flirrenden Luft, die von den Flächen aufstieg, schwebte die Mondsichel; die Barke des Chons spiegelte sich im Jotru, an dessen Ufern Millionen Frösche lärmten. An den Tagen füllte das Geräusch der Grillen die Stunden. Ptah-Sokar rasselte mit Holz- und Tonperlen des Vorhanges, schob das dicke Tuch zur Seite und trat ein. Ich heftete eine Ecke der Karte an die Wand; der Hapi floß auf der farbigen, halb dreidimensionalen Darstellung von rechts nach links. »Es sind zehn große Schiffe, Atlan-Horus«, sagte er und zeigte auf den Fußlauf etwa in der Bildmitte, »die dort an Land gezogen werden. Handwerker und Soldaten rüsten die Schiffe aus. Wir sollen im Tybi oder Mechir, in der Jahreszeit Peret, ihnen auf die Finger schauen.« »Schiffe für unsere Truppen und später für die Punt-Fahrt?« fragte ich. »Sie sind, wie ich weiß, gut für den Jotru und schlecht für das Meer, für das Große Grüne.« »Das wirst du an Ort und Stelle sehen, Horus. Ich verstehe davon nicht genug.« »Übermorgen haben wir mehr Ausrüstung, Ptah, die vieles leichter verständlich machen wird. Kommst du mit? Nachmittags, im Schilf, fette Gänse und Fische jagen?« »Das Boot ist bereit. Zwei Tänzerinnen und Musikerinnen aus der Stadt wollen die Stunden mit uns genießen.« »Einverstanden.« »Wie steht es mit Zedernholz aus Byblos?« fragte ich. Ich hatte den größten Teil meiner Ausrüstung ausgepackt und benutzte ihn. Inzwischen hatte sich einiges verändert in diesem Haus, abseits von den Quartieren der Handwerker. »Wenn Zakanza-Upuaut die richtigen Auskünfte bekommen hat, so wird er bald in Chmunu eintreffen, der nächsten Stadt am Kanal. Wie gesagt: Wir sollten uns dorthin auf die Reise machen.« »Zuerst nach Nechen«, sagte ich. An der Stelle, wo der Mittellauf des Hapi sich in einem scharfen Knick der Westküste des Langen
Meeres näherte, gab es ein Tal, etwa acht scharfe Tagesreisen lang. Dort sollte es zwölf Tiefenbrunnen geben, die der Heerführer Henu im Auftrag des Mentuhotep gegraben haste. Der Hauptteil der Expedition sollte diesen Weg nehmen und sich mit den Schiffen dort treffen. Auch dieser Weg sollte unter unserer Aufsicht sicher gemacht werden. »Noch nichts habe ich über jene Tiere gehört, die du ’Pferde< nennst, Atlan«, murrte Ptah. »Sie werden dann erst wichtig, wenn wir nach Buhen aufbrechen und über den Katarakt vorstoßen, mit dem Hauptheer«, wandte ich ein. »Wann kommt Zakanza zurück?« »Ein Bote sagte mir, in knapp einem Mond käme er hierher, mit neuen Plänen.« »Gut!« sagte ich. »Mir scheint, ich hab’s überstanden. Hin und wieder wach’ ich nachts auf und träum’ davon. Ich war sicher, daß ich Blend krepieren würde, nach dem halben Becher Wein.« Zakanza-Upuaut und Ptah-Sokar hatten den jungen Boten festgehalten. Aber trotz furchtbarste Drohungen schien es die Wahrheit zu sein: Jemand aus dem Beamtenstab des Provinzoberhauptes von Buhen hatte ihm den versiegelten Weinkrug gegeben. Mit einer Barke war der Junge hierher gekommen und hatte seinen Auftrag erfüllt. Zakanza hatte ihm eine eindeutige Botschaft an Nebkaura übergeben. Wir würden unseren Dank auf unsere Weise abstatten. »Wir wußten nicht, was wir tun sollten. Wir holten Ärzte, die auch nichts tun konnten. Sie sagten, es sei ein Wunder gewesen.« Ich nickte und dachte an den Zellaktivator. Er hatte mich gerettet. »Es war eine Art Wunder, Truppenführer.« »Das denke ich, Horus des Horizonts!« Die Karte des Hapilands und der Umgebung hing neben meiner Ausrüstung, dem Glasfiberbogen, den Pfeilen und dem Köcher, anderen Waffen und der umfangreichen medizinischen Ausstattung. Ich sagte entschlossen: »Also beginnen wir, Listen zu schreiben. Sie sollen tüchtig arbeiten, wenn unsere Barke in Nechen anlegt.« »So sei es.«
Ptah-Sokar klatschte in die Hände. Einer unserer Schreiber kam herein. Er ließ sich auf die Hacken nieder, stellte Tusche und zerkaute, ausgefranste Binsenenden neben sich hin, legte die Holzplatte auf die Oberschenkel und zog das Binsenmaterial heran. »Ich höre, Truppenführer.« »Schreibe«, sagte Ptah halblaut. »Wenn die Zeit Achet vorbei ist und die Zeit Peret beginnt, sollen zweitausend Mann mit Lasteseln, Werkzeugen, Tauwerk und Fleisch, mit Korn und Bier ausziehen von Nechen nach Osten, sollen nach jedem Tagesmarsch rasten und zweihundert Handwerker, Helfer und Soldaten zurücklassen. Die anderen sollen weiterziehen und abermals nach einem Tag anhalten, bis sie das Ufer des Meeres erreichen.« »Ich habe es geschrieben«, sagte der Schreiber kurz darauf. Sein Tuschpinsel huschte mit großer Schnelligkeit über das gepreßte Mark der Binsen. »Schreib weiter«, befahl ich. »Die Straße von Nechen soll breit und sicher gemacht werden. Die alten Brunnen des Henu sollen ausgegraben und gesichert werden. Rinder, fettes Schlachtvieh und reichlich Nahrung muß mitgenommen werden, auch mehr Werkzeug. Man soll mindestens acht Orte einrichten, an denen ein kleines Heer findet, was nötig ist: Essen, Wasser, Waffen, Schatten und Sicherheit. Man soll Häuser um die Brunnen bauen und Pflanzen einsetzen, damit sie groß werden. Dies ist wichtig und geschieht nach dem Wort Amenemhets; auf dieser Straße soll ein Heer entlangziehen und sich mit den Schiffen und dem Heer aus PiOsiri vereinigen, auch müssen Schiffe am Ufer zusammengesetzt werden. Dieses alles muß im Lauf der Monde nach Eintreffen des Boten geschehen. Gesprochen und unterzeichnet hat dies AtlanHorus, Verwalter königlicher Worte und umherreisender Schatten.« Der Schreiber warf den ausgefaserten Stift weg, tauchte den vierten Stengel ein und schrieb die Schlußfloskel, dann stand er in einer gleitenden Bewegung auf, nickte ehrfürchtig und schwenkte den Papyrus trocknend hin und her. »Danke«, sagte ich und sah zu, wie er die hellgelben Blätter zusammenrollte. »Ruf den Boten, ja?« »Sofort, Atlan-Horus.«
In den nächsten Tagen verließen schnelle Boten mit Anweisungen unser Haus. Fast ebenso viele Melder kamen aus den verschiedenen Teilen des Reiches. Sie trugen Befehle, Vollzugsmeldungen und Rückschläge, lobende Worte Amenemhets und sein drittes Versprechen, die kleine Herde Pferde holen zu lassen. Nach zwanzig Tagen voller Arbeit legte unweit des Hauses eine kleine Barke mit dem Zeichen des Gottkönigs am Segel an. »Es muß Zakanza-Upuaut sein, unser Freund«, murmelte ich und stand auf. Ptah-Sokar gab zurück: »Die Falken der Hoffnung jagen dahin, aber die Esel der Erfahrung trotten bedächtig.« Ich grinste ihn an und fragte: »Du meinst also, daß ich nicht an schnellen Erfolg denken darf?« »Unser Freund wird es dir sicherlich bestätigen. An Totentempeln wird jahrzehntelang gebaut, und sie sind zu nichts nutze. Wie lange wird es erst dauern, etwas Sinnvolles zu tun?« Wir sahen uns an, und zum erstenmal hatte ich den Verdacht, daß zwischen mir, Zakanza-Upuaut und Ptah-Sokar mehr als nur äußerliche Ähnlichkeiten bestanden. Die Ankunft des »Öffners der Wege« ließ diesen ersten Verdacht vergehen wie Wasser auf den Feldern. Wir gingen auf dem Plattenweg, der zum Ufer führte, unter knarrenden Palmen der Barke entgegen. Uns erwartete eine kleine Überraschung. Mit einem riesigen Satz sprang der Nubier auf die Rampe hinunter, umarmte den Anführer und beugte vor mir das Knie. »Der Göttliche hat deine Taten mit wohlgefälligem Lächeln betrachtet. Diese Barke mit allem, was darauf und darin ist, gehört dir. Befiehl, und es wird getan, was du willst, Horus des Horizonts.« »Das Vorhaben muß größer sein, als wir dachten.« Ptah-Sokar grinste, als er sah, was der Bauch der Barke aus Holz und gefochtenem Binsengefecht enthielt, er schwieg beeindruckt. Nur seine Augen verrieten das Maß seiner Freude. Es kamen Musikanten mit Instrumenten, Ruderer mit riesigen Körben voller blaubestäubter, praller Trauben, Granatäpfeln und dicken Ringen von Knoblauchknollen, spitze Steingutkrüge voller Honig auf den muskulösen, schweißglänzenden Schultern, grobkörniges und verlockend riechendes Weizenbrot in Binsenkörben schleppend, die
mit weißen Tüchern ausgelegt waren. Junge Mädchen, so gut wie unbekleidet, mit goldenem Schmuck behängt, mit betörendem Lächeln und langen, dunkelbraunen oder schwarzen Haaren liefen über das schwankende Brett an Land und tänzelten dem Haus entgegen. Würdig dreinsehende Männer, Handwerker wohl, schleppten schwere Werkzeuge mit sich. Wieder andere trugen gebratene und gespickte Teile von Gazellen und Rindern, schwankend bewegten sich Käfige mit gemästeten Enten und Gänsen vorbei, mit Kranichen, die mit den Schnäbeln klapperten und fett auf dem Käfigboden hockten. Ein Korb frischgelegter Eier wurde an uns vorbeigetragen. Hunde schnappten nach den gebleichten Ziegenfellen und sorgsam gewebten, mit goldenen Fäden geborteten Stoffen. Immer mehr hob sich die Barke aus dem schlammigen Wasser. Fünf Männer blieben neben den Haltetauen im Bug und Heck der Barke stehen und blickten uns an, als erwarteten sie etwas. Ptah-Sokar schüttelte verblüfft und beeindruckt den Kopf und zischte in mein Ohr: »Schenke dem Armen eine Gurke, und er wird klagen, daß sie krumm sei! Der Herrscher ist nie ohne Grund von solch betörender Großzügigkeit. Uns stehen Schwierigkeiten bevor.« »Nicht von der Besatzung und dem Inhalt dieses Schiffes«, erklärte Zakanza-Upuaut. »Er schickte auch Köche, Tänzerinnen, Sänger und Masseure. Auch Handwerker, die das Haus verschönern sollen. Der nächste Mond soll dich verwöhnen, dann, sagt Amenemhet, beginnt harte Arbeit.« »Wahrlich«, bestätigte ich. »Amenemhet ist hundert Nackten der Mantel und hundert Durstigen das Bier.« »Wir wären dumm, wenn wir uns nicht seinem Wunsch beugen würden!« Der Bote schob uns in die Richtung des Hauses. Dort hatte sich inzwischen die Schiffsbesatzung ausgebreitet. Die Köche hantierten in der Küche, die Mädchen halfen, überall ertönte Lachen; im Hof, auf dem frisch geschnittenen Gras, stimmten die Musiker die Harfen und andere Instrumente, nur in mein großes Zimmer wagte sich niemand. Eine Mastente flatterte durch die Halle.
Ich versuchte, die laute Heiterkeit und das Treiben im Haus mit Gelassenheit zu betrachten. Nach und nach wurde ich von der Fröhlichkeit angesteckt. Ganz sicher bezweckte Amenemhet mit diesem nicht unbeträchtlichen Geschenk etwas. Seine Absicht, mich in einem Maß zu verpflichten, das ihm willige Werkzeuge sicherte, schien klar zu sein. Wenigstens Zakanza-Upuaut und Ptah-Sokar wußten es. Ich konnte es mir ausrechnen. Was aber war beunruhigend daran? An Amenemhets Stelle würde ich nicht anders gehandelt haben. Ich hob die Schultern, rückte mein Hüfttuch zurecht und ging in die dampfende Küche. Von dort drangen vielfältige Gerüche: kühles Henket-Bier, rauchendes Fett, schmorende Zwiebeln und bräunlich verkrustetes Fleisch. Jemand schäumte mit einem weißgeschälten Reisigbesen eine Menge aufgeschlagener Eier und ließ in dünnem Faden Honig hineinfließen. Es roch nach Käse, brennendem Holz und Holzkohlen, nach scharf gewürzter Suppe. Ptah drängte sich an mir vorbei, in einer Hand einen Bierbecher, im Arm eine Tänzerin. »Halt, Soldat«, sagte ich. »Was soll das alles?« »Schimpf nicht, Herr und Horus.« Er lachte herausfordernd. »Wir haben übereinstimmend beschlossen, heute ein Fest zu feiern. Mit allen Mitteln, über die wir verfügen.« »Wo?« »In diesem Haus. Und wir hoffen, daß du der lustigste Teilnehmer sein wirst.« »Trefflich«, gab ich säuerlich zurück, »erwartet nicht, daß ich tanze!« Merkwürdig: Jetzt packte mich wieder ein Schub wortloser Verzweiflung, die ich meist in den Nächten gespürt haste. Allein auf diesem Planeten, ein Werkzeug der Mächtigen, ohne Ziel, ausgerüstet mit hochtechnischen Dingen und überlegenem Wissen. Was sollte ich hier? Warum wurde ich, der Gestrandete von Arkon, wieder aufgeweckt und in zahllose Abenteuer gestürzt? Was ich an Spuren hinterließ, war nach fünfzig oder hundert Jahren verweht und vergessen. Man schoß Pfeile auf mich ab, man versuchte mich zu vergiften, ich sollte Arbeiten bewältigen, von denen ich nur schemenhafte Ahnungen haste. Noch immer hatte dieses überlegene
ES mir den Zweck meiner Reise in eine andere Zeit nicht verraten. Ich versank unglücklich in einer schwarzen Brühe von Selbstmitleid und Chaos. Ich lehnte mich gegen die kühle Wand, schimpfte mich einen Narren und merkte nicht, daß mich aus dem Schatten zweier Säulen Zakanza-Upuaut aufmerksam beobachtete. Ich rang mich zum Entschluß durch, heute keineswegs den Spielverderber zu machen. Ich holte tief Atem und rief mit kühlem Grinsen: »Zakanza!« Der Bote glitt schnell auf mich zu. Er erkannte wohl, wie mir zumute war, und legte seinen Arm um meine Schultern. »Der Lautstärke des Rufes nach brauchst du einen Becher Bier, den Zuspruch eines Freundes und nachts die Leidenschaft einer ausgesucht schönen Tänzerin. Oder sollte ich irren?« Ich starrte ihm verblüfft in die Augen. Wer war er wirklich? Nur ein nubischer Fährtenleser? Ich murmelte leise: »Diese Reihenfolge scheint nicht falsch zu sein, Zakanza!« »Fangen wir mit dem Bier an. Ne-Tefnacht!« Aus einem der vielen Zimmer kam eine langbeinige junge Frau. Sie war mir schon neben der Barke aufgefallen. Wir standen zwischen den Säulen, die das Haus vom Garten trennten. Nachmittagssonne warf schräge Strahlen auf den Boden aus gelbem Sandstein. Ne-Tefnacht, keine zwanzig Jahre aft, kam langsam heran und betrachtete uns ernsthaft. Mich traf ein prüfend-berechnender Blick. »Du hast gerufen, Atlan-Horus?« »Ich rief, Tochter der Freude«, sagte Zakanza ruhig. »Hol diesem hellhäutigen Fürsten der Gedanken einen großen Becher des göttlichen Henket. Dann versuche ihn mit kluger Rede aus seiner Verzweiflung herauszuheben. Schließlich sollst du am Abend und in der Nacht bei ihm sein und stets das tun, was seine Augen von dir wünschen.« »Das befahl mir schon der Adj’mer«, sagte sie ernsthaft. »Warum wiederholst du es, Bote?« »Weil ich die Vergeßlichkeit der Menschen kenne«, erläuterte er mit unbewegtem Gesicht. »Und noch etwas, Tefnacht: Dieser Mann ist mein bester Freund. Vergleiche ihn nicht mit einem fetten
Schreiber aus Menefru-Mire; er ist ganz anders. Sein Auge ist kühn wie das des Horusfalken, seine Wut ist unermeßlich wie die des Wüstenlöwen, und in seiner Güte ist er verschwenderisch wie die Sonne am Mittag.« »Kurzum.« Ne-Tefnacht lächelte mich an. »Er ist ein Wunder.« »So ist es«, versicherte Zakanza-Upuaut und hieb ihr aufmunternd seine Hand auf die Hinterbacke. Tefnacht zuckte nicht einmal zusammen und entfernte sich mit schwingenden Hüften. Leise sagte ich zum Nubier: »Du scheinst sie länger zu kennen, ja?« Sein Gesicht war ernsthaft, als er erwiderte: »Ich habe sie selbst ausgesucht. Von allen im Bannkreis des Gaufürsten ist sie eine der Klügsten, Vernünftigsten und Leidenschaftlichsten. Ich dachte an dich, als ich sie das zweitemal sah.« Ich ging in den Garten und setzte mich an den steinernen Rand des Bassins, in den Schatten von Palmen, Binsen und raschelnden Wasserpfanzen. Augenblicke später kam Ne-Tefnacht und trug einen kleinen und einen großen Becher. Sie kniete sich vor mir ins Gras und reichte mir das größere Gefäß. Wir schauten uns nicht ohne Verlegenheit in die Augen. »Dein Freund, Herr, tut so, als wäre er ein nubischer Barbar. In Wirklichkeit, mußt du wissen, ist er ein sehr mächtiger Mann am Hof.« Ich hob den Becher. Die Frau setzte sich vor mich auf den breiten Sandsteinrand und hielt die Hand ins Wasser. »Ich ahnte es«, sagte ich. »Bisher war er einer der besten Männer, die ich kannte.« »Du kannst stolz darauf sein, wenn er dich als Freund bezeichnet. Es gibt viele Geschichten über ihn. Er soll ein mächtiger Fürstensohn aus einem Land hinter dem zweiten Katarakt sein. Aber sprechen wir von dir, Herr.« »Ungern«, sagte ich lächelnd und trank einen langen Schluck des starker Bieres. »Was willst du wissen?« »Deine Haut ist von der Sonne gebräunt, aber heller als unsere. Deine Augen sind rötlich, du bist größer als fast jeder von uns. Dein Haar ist von der Farbe des Mondes. In unserem Land bist du nicht
geboren, obwohl du unsere Sprache so gut sprichst. Woher kommst du?« Ich mußte lachen. Immer wieder dieselben Fragen. Ich erzählte ihr, daß ich ein Sohn jenes Gaufürsten von Byblos und seiner RometFrau sei, daß ich alle meine Fähigkeiten dort in der Handelsstadt gelernt hatte und mit einem Schiff der Bronzehändler hierher gekommen war. Diese Lüge hatte bisher jeden zufriedengestellt, auch die glutäugige Tefnacht glaubte sie. Sie fragte weiter: »Du mußt ein Mittel haben, Menschen und Fürsten zu verzaubern. Alle reden nur Gutes von dir und deinen Fähigkeiten!« »Willst du mit kluger Rede meine Verzweiflung verschwinden lassen?« »Ein wenig. Aber ich komme aus Geb-teju. Dort spricht man von dir und deinem kühnen Plan. Nicht jeder ist so mutig, ins Goldland Punt zu fahren.« »Das mag sein. Ich werde es tun, aber nur mit einem von mir geschulten Heer. Zuvor werden wir den schwarzen Koloß besiegen.« Auf merkwürdige Weise hatte sich der Bereich des Hauses in eine Oase fröhlicher Geschäftigkeit verwandelt. Überall ertönte lautes Lachen, an allen Ecken hörten wir die Föten und Doppelföten der Spieler, verschiedene Trommeln und das metallische Zirpen der großen Harfe. Der Geruch nach Gesottenem und Gebratenem zog wie Nebel zwischen steinernen und hölzernen Pfeilern hindurch, die Lotosblüten, Lilien und Schilfblüten glichen. Ich ahnte, daß ich an einem Schnittpunkt stand; vermutlich würde sich vieles ändern. Was? Ich wußte es nicht. Es war eine jener Ahnungen, die sich bisher immer bewahrheitet hatten. Vielleicht erhielt ich einen Auftrag, vielleicht bekam meine Anwesenheit einen Sinn. Ich betrachtete Ne-Tefnacht. Sie war schlank, mit langen Beinen, wohlgerundeten Hüften und einem langen Hals. Die Vermischung vieler Völker, die vor einem Jahrtausend hier eingedrungen waren, hatte Menschen mit vollendeten Gesichtern hervorgebracht; schmale Nasen, lange Schädel, volle Lippen und eine samtige Haut. NeTefnacht hatte blauschwarzes, glattes Haar bis auf ihre bloßen Schultern. Breite Bänder aus Stoff kreuzten sich über ihren Brüsten,
kupferne Schmuckbänder mit Glasfuß und Goldornamenten lagen um Hals, Handgelenke und Fußknöchel; ihre Bewegungen waren schnell und graziös. Ich trank den letzten Schluck aus und reichte ihr den Becher. »Du kennst meine Geheimnisse, Ne-Tefnacht«, sagte ich. »Wenn ich einen vollen Becher habe, wirst du mir dein Leben erzählen.« »Das ist so schnell erzählt«, rief sie über die Schulter zurück, »daß dein Becher noch halbvoll sein wird.« Ein Mann und ein Mädchen kamen aus dem Haus, stellten auf Sockeln und in Nischen Öllampen auf und zupften die dicken Dochte. Das Öl, eine blitzartige Erinnerung, roch nach den Zedern im Bergland von Byblos. Ne-Tefnacht kam durch das Streifenwerk von Licht und Schatten auf mich zu, gab mir den vollen Becher und machte den meisten Überlegungen ein Ende, als sie sagte: »Morgen, Horus des Horizonts, kannst du wieder schwere Gedanken wälzen wie Steinquader. Bald fängt der Abend unseres Festes an. Zakanza und Ptah rennen durch das Haus und sind um alles besorgt. Sie wollen, daß es dein Fest wird.« Ich starrte in ihre großen Augen. Rührung packte mich. Diese Menschen waren mir haushoch überlegen; sie besaßen die wahre Unschuld, die Unbefangenheit, die ich nicht mehr kannte. Ich verfluchte schweigend meine Unfähigkeit. Plötzlich flüsterte der Logiksektor Selbsterkenntnis ist die gepflasterte Straße zur Besserung, Arkonide. Übertreib die Zerknirschung nicht. Du bist nicht so schlecht wie du tust. Dankbar spürte ich die vorsichtige Berührung von Fingern an meiner Schulter und in meinem Nacken; nicht die perfekte Zärtlichkeit, sondern die zögernden Fingerspitzen einer jungen Frau, die wohl die Empfindungen erriet, die mich überfallen hatten. Ich stand entschlossen auf, nahm ihre Hand und versicherte grimmig: »Mein Fest, soso! Nun gut, also werde ich versuchen, euch zu überraschen!« Ich brauchte nicht zu überlegen; Einfälle blühten plötzlich auf wie Sternschnuppen. Ich hatte lange genug Zeit gehabt, Erfahrungen zu sammeln. Ich küßte Ne-Tefnacht, rief Ptah-Sokar und bat ihn:
»Kümmere dich um die anderen. Holt die Männer vom Boot. Schickt Boten aus und ruft ein Dutzend königliche Beamte aus den umliegenden Häusern, zum Nachttrunk. Es soll ein Fest werden, bei Atum!« Jetzt waren Ptah und Tefnacht verwirrt. Ich grinste und zog mich, den Arm um Tefnachts Hüften, in meine Privaträume zurück. Ptah blickte zufrieden hinter uns her. Wir waren etwa fünfzig Gäste. Das weiße Haus barst vor Lärm. Zuerst tranken wir Bier, danach aßen wir eine Vorspeise aus scharf gewürzten Innereien in einer höllisch roten Soße. Dann wurde Wein ausgeschenkt. Während der ersten Gänge traten die Musiker auf. Kleine Handtrommeln pochten einen erregenden Takt, der die Unterhaltung treffsicher untermalte. Hin und wieder verstreute die Harfe ein paar Akkorde in die warme Abendluft, die alle Ölflammen zittern ließ. Danach gab es gebackenen Barsch, angemacht mit Lauch, gerösteten Zwiebeln und zerkrümmeltem Käse, folgten riesige Schalen mit gebratenen Gänseteilen, Entenvierteln, Kranichbrüsten und Pelikanschenkeln, gefüllt mit Nilpferdschinken und Brocken aus dem Fleisch der Antilopen. Und wieder frisches kaltes Bier. Dann räumte man den Raum zwischen den Tischen, deren weiße Decken inzwischen einer Landkarte glichen. Jeder redete mit jedem. Dann folgte der Hauptgang, drei mächtige Antilopenschenkel, gebraten mit allen Raffinessen. Der Koch hatte mir erklärt, daß das Fleisch während der Fahrt der Barke in einem Sud aus Essig, Salzwasser, Gewürzen und saurer Milch gelegen haste. Bräunliche Kruste, geringelter und krachend knusprige Speckstreifen, dunkle Beeren und gemehlter Lauch, in Öl gebacken: Ungeheures Geraune hob an, dann gab es jene phantastische Stille, in der man nur die schweren Atemzüge und die Kaugeräusche hörte, dazwischen die Laute eines Rülpsens oder Aufstoßens. Es war herrlich! Ich fühlte, wie mich eine gelöste Stimmung ergriff; Menschen wie ich feierten auf einem Planeten, der das Leben wahrlich nicht leicht machte. Wir beendeten das Essen mit dunklem, körnigem Brot, aus Weizen und Hafer. Und mit Bier. Die Musiker, vier Mädchen und drei Männer,
waren von mir mit zwei Schat Gold bezahlt worden; sie waren eingeweiht. Ich stand unbemerkt auf, ging in mein Zimmer und freute mich, daß ich ein photographisch exaktes Gedächtnis haste. Ich nahm gewisse Veränderungen vor, und zufällig erloschen einige Flämmchen, als ich aus der Dunkelheit des Gartens zu der Gruppe der Musiker hinkte, mich zwischen ihnen auf einen Hocker setzte und die Harfe nach vorn kippte. Mit hoher Stimme begann ich zu singen. Zwischendurch zupfte ich die grellen, wechselnden Akkorde, die ich auswendig gelernt haste. Ich sang zuerst einige Zeilen, in denen ich schilderte, wie das Lied der Byblos-Fahrer entstanden war; ich kannte das Lied aus einem Seehafen. Wir spielten die eingängige, vierzeilige Strophe und einen zweizeiligen Refrain, den wohl jeder kannte. Man konnte es ohne sonderliche Mühe bis auf zweihundert Strophen bringen. Ich begann mit der Ausfahrt aus dem Hafen. Verlassene Bräute, Flucht vor unerwünschter Vaterschaft, leere Börse und ein Kopf, voll von Bierdunst, waren die Zutaten. Ich sang mit jeweils anderer Stimme, und an dieser Stelle schienen die ersten Gäste zu begreifen, daß ich nicht der halbblinde Harfner war. Johlend und grölend sangen die Musiker den Refrain. Die Föten wimmerten, die Trommeln krachten, die Doppelföten gaben jaulende Töne von sich. Einer der ausgesperrten Hunde heulte schauerlich im Garten. Ich holte Atem und begann die zweite Strophe. Inzwischen hatten die Musiker und ich einen gemeinsamen Takt gefunden. Natürlich kannten sie dieses teilweise obszöne Lied voller zweideutiger und eindeutiger Wendungen und überraschender Pointen besser als ich. Ich parodierte den Text, indem ich an passender und unpassender Stelle die Namen der Anwesenden einsetzte. Brüllendes Gelächter zwang uns, die Musik zu wiederholen, ehe die nächste Zeile gesungen werden konnte. Als sich Ptah-Sokar nach mir umdrehen wollte, sah er meinen leeren Sessel. Ich beobachtete, wie sich der Anführer weit über den Tisch beugte und dann erkannte, wer eigentlich sang.
Ich hatte mein Gesicht dunkel gefärbt und Ptah-Sokars schwarze Perücke über meinen Kopf gezogen. Ein dunkles Hemd, ein zerrissener Schurz und halb vermoderte Strohsandalen vervollständigten die Verkleidung. Eine Binde über einem Auge machte mich vollständig fremd. Ich begann die dritte Strophe. Sie erzählte von einem Lager der Schiffsbesatzung am einsamen Strand; was sie dort mit den Töchtern des Landes taten, war physisch unmöglich, erzeugte aber drastische Heiterkeit. Ich konnte hin und wieder kaum weitersingen, well ich einen beträchtlichen Teil meiner Kraft dazu verwendete, nicht losprusten zu müssen. Das salzige Sekret aus meinen Augen wusch die Farbe aus meinem Gesicht. Immer wieder dröhnten lange Lachsalven durch die Nacht. Dann wieder das Geschrei, als alle Versammelten den Refrain sangen und dazu die Musiker ihre Instrumente mißhandelten. Meine Finger wurden wund von den Darmsaiten der Harfe. Inzwischen war ich schätzungsweise bei der dreiunddreißigsten Strophe angelangt. »Am liebsten wär’n wir da an Land geschwommen – doch mutig sind wir schnell auf neuen Kurs gekommen«, schrien die Gäste. Ich schaffte es noch, ein paar Namen unterzubringen, persiflierte abermals den ursprünglichen Text, erfand während des Singens einige verblüffende Augenblicks-Varianten und änderte auch die zweite Zeile des Refrains. Dann übergab ich die Harfe an eine Flötistin, stand auf und riß mit einer Bewegung die Binde vom Auge und die Perücke vom Kopf. Der Extrasinn spottete: Atlan als Choristin am Hapiufer! Wenn ES das erfährt! »ES sieht alles«, murmelte ich. Jetzt erkannte auch der letzte Gast meine Identität. Ich griff nach einem Becher und löschte meinen Durst. Meine Kehle schien zu zischen. Ne-Tefnacht stand auf, schaute mich verwirrt an und warf dann die Arme um meinen Hals, preßte sich an mich und streichelte meinen schwitzenden Rücken. Auch damals ist der Mut uns nicht zerronnen, johlten die Gäste begeistert. Der Nubier kam kopfschüttelnd auf mich zu, hielt mich auf Armeslänge von sich weg und sagte voll echter Bewunderung: »Atlan-Horus! Du hättest eine Tempelstadt bauen können, dann würde ich dich nicht so bewundert haben wie nach diesem herrlichen Unsinn! Ich glaube, ich kenne dich jetzt besser!«
Ich schlug ihm die Faust gegen den Oberarm und krächzte, während sich Tefnacht in meinen Arm schmiegte: »Ich habe nicht vor, mit dieser Truppe öfters aufzutreten. Aber heute hab’ ich einen Kampf gegen mich selbst gewonnen.« Mit fast feierlicher Gebärde deutete der Nubier auf Ne-Tefnacht und sagte so leise, daß nur wir drei und Ptah-Sokar es hören konnten: »Sie hat dir gezeigt, was auch wir nun wissen: Du hast unsere Herzen gewonnen!« »Danke euch«, murmelte ich und goß abermals Bier in meinen wunden Schlund. »Und wenn die Gäste nun gehen würden, langsam, versteht sich, würden sie sich meine Freundschaft ewiglich erhalten.« »So steht es geschrieben. So soll es geschehen«, murmelte der Truppenführer. Etwa eine Stunde später waren die meisten Gäste gegangen. Jene, die im Haus blieben, schliefen betrunken. In der Halle hatten sich einige zu einer kleinen Gruppe zusammengefunden. Eine Trommel wurde geschlagen, eine einsame Flöte trillerte traurig vor sich hin, der Harfner zupfte mit Meisterschaft seine Saiten. Meine beiden Freunde, zwei Mädchen, Kenkira, Ti-Sachmet, Ne-Tefnacht und ich saßen da und tranken den Saft gepreßter Weintrauben. Die Ruhe der Nacht war herabgesunken, wir unterhielten uns leise; die wilde Euphorie des Rausches verging und machte wohltuender Müdigkeit Platz. »Zwanzig Tage«, sagte der Bote. »Sie führen schon deine Befehle aus, nahe Nechen.« »Zwanzig Tage also, in denen es uns gut ergehen wird.« Kenkira klatschte in die Hände. »Es ist hier mehr Freiheit als an allen anderen Orten.« »Überall, wo ich bin, sorg’ ich für mehr Freiheit«, sagte ich schwach. »So gut ich es kann.« Ich dachte daran, wie wenig sich wirklich verändert hatte seit Narmer-Meni. Die Romet hatten schnell zu einer bestimmten Höhe der Kultur und Zivilisation gefunden und waren auf dieser Ebene
bestrebt, Bewährtes zu erhalten und Neues nur vorsichtig anzunehmen. »Die Zeit danach wird härter und für viele von uns gefährlich«, sagte Ptah. »Es ist ein gewaltiges Unternehmen.« Ich schüttelte den Kopf. »Wenn alle Befehle richtig ausgeführt werden, jetzt und später, brauchen wir nicht mit Toten zu rechnen. Mit curer Hilfe, Zakanza und Ptah, werden wir unsere Ziele erreichen.« »Und im Triumph zurückkehren.« Nach und nach löste sich die Gruppe auf. Die letzten Flammen der Öllampen mit dem Duft der Zedern flackerten und erloschen. Zuerst hörte das Pochen der Trommel auf, die Harfenakkorde schwiegen, und nur die melancholischen Triller der Flöte begleiteten Ne-Tefnacht und mich, als wir durch den Garten und durchs stille Haus in meinen kühlen Schlafraum gingen. Ich schob die Vorhänge auseinander, zündete zwei Kerzen aus meinem Vorrat an und deutete schweigend auf die weiße Umfassung des Teiches neben der Terrasse. Wortlos zogen wir uns aus und gingen über die steinernen Stufen ins saubere, kühle Jotruwasser, in dem einige Seerosen und Wasserlilien schwammen. Ne-Tefnacht legte die Arme um meinen Hals und küßte mich; ich spürte ihren warmer, weichen Körper und erforschte ihn langsam zögernd mit unruhigen Fingern. Es schien, als kannten wir uns schon ein Jahrzehnt. Über der Mauerkante, zwischen schwarzen Palmenwipfeln und inmitten unnatürlich klarer Sterne strahlte der volle Mond. »Ich werde, Atlan-Horus, unsere Nächte mit Leidenschaft füllen«, flüsterte Tefnacht und tauchte unter. »Alle Mondwechsel lang, Fremder, bleib’ ich bei dir. Wenn du mich nicht wegschickst.« »Was könnte mir besseres geschehen«, sagte ich und hörte zu, wie das Wasser plätscherte und der warme Wind vor den Chören der Frösche mit den Fächern der Palmen raschelte. »Und wenn wir uns trennen, dann nur für wenige Tage. Komm.« Wir trockneten einander mit großen weichen Tüchern ab, ich schloß die Vorhänge, und es schien, als befänden wir uns ganz allein auf einer Insel im Meer kosmischer Ruhe und Einsamkeit. Die Sprünge großer Hapibarsche und, dreimal, das donnernde Brüllen
von Löwen aus der Wüste im Osten hörten wir kaum, als wir uns wieder liebten. Aus wortloser Zärtlichkeit wurde keuchende Leidenschaft. Unsere Körper verschmolzen in einer seltsamen Harmonie, die meine ungeordneten Gedanken verdrängte und die Nachtstunden zu einem der seltenen Momente machte, an die ich mich stets erinnern würde in der Wirrnis dieses Barbarenplaneten. Erinnerungen dieser Art konnte ES mir nicht nehmen, begriff ich, und es würden Tage und Jahre kommen, in denen ich nichts anderes besaß als diesen Nachhall der leidenschaftlichen Wirklichkeit. Wir schliefen ein wenig, kühlten unsere Haut, bis sie unter den Wassertropfen rauh wurde, im kleinen Seerosenteich und liebten uns, bis das Gestirn des Re über die östlichen Dünen kletterte. Ne-Tefnacht saß neben mir im Heck der Barke. Ihre schlanken Finger fuhren über die Saiten des langhalsigen Instruments; sie sang leise: »Ein Wunder ist der Hapi. Drei Monde fang ist er eine silbern schimmernde Perle. Dann wird sein Wasser zu schwarzem, wohlig riechendem Silber, und abermals drei Monde später ist Jotru ein dunkelgrüner Smaragd, ehe Gott Hapi ihn zu einem Barren geläuterten Goldes macht…« Sie lächelte mir zu. Unsere Barke trieb in der Mitte des Stromes. Begeistert lauschten die Soldaten Tefnachts Gesang. Die Farbe des Wassers hatte gewechselt: Ein breiter blaugrüner Streifen erstreckte sich zwischen grünen Ufern und dem stechenden Weißgelb der Wüste. Wir waren auf dem Weg nach Nechen und Geb-Teju. Ich wartete den Ruf des Mannes mit dem Lotstab ab, lächelte zurück und sagte: »Sing weiter, schönste Tefnacht. Jedermann freut sich über deinen Gesang.« Die Jahreszeit Peret war mit dem Mond Tybi angebrochen. Saaten wuchsen und reiften. Die Hirten und die Helfer des Heri-udjeb, des Verwalters, trieben Herden, die umherzogen und ins fruchtbare Dreieck getrieben wurden. Kälber wurden geboren, die Tiere wuchsen und wurden fett, in großen Gattern züchtete man Antilopen und Oryx. Eselhengste wurden abgerichtet, Sandschlitten zu ziehen und Lasten zu tragen. Hühner, Gänse, Enten, Kraniche und Pelikane mästete man in engen Käfigen mit Futterklößen.
Rinder band man, striegelte und schlachtete sie; Fleisch für Tempel, Paläste und die Häuser der Schreiber und Beamten. Allmählich leerten sich die Kornspeicher, die wie riesige Bienenkörbe aussahen. Im Schilf schossen Jäger und Verwalter mit langen Pfeilen Wasservögel, speerten Fische oder fingen sie in Netzen; oft sahen wir die Fechtwerkbarken im Schilf. Wir fuhren, von der Strömung und warmem Südwind getrieben, stromabwärts. Einmal sah ich auch den Nachen der Nuu-Jäger, auf ritueller Jagd nach dem Fußpferdbullen: Seit Narmer-Menis legendenhaftem Tod während der Jagd, auf der ich ihn begleitet hatte, jagten nur Gottkönige und höchste Würdenträger diese mächtigen Tiere. Tage und Nächte, Pläne und Feste im weißen Haus am Strom waren vorbei. In der Barke sah ich nur Soldaten, Waffen, Ausrüstung und blitzende Bronze. Wir hatten uns entschlossen, wenigstens Ne-Tefnacht mitzunehmen; man konnte sie mit einem anderen Schiff nach Nubet, zu unserem Haus, zurückbringen. Ptah-Sokar kam aus dem kleinen Deckshäuschen, balancierte über den breiten Längssteg und lehnte sich neben dem Steuermann an die Bordwand. Er hob die Hand und sagte: »Wenn wir solch gute Soldaten sind, wie wir vorgeben, dann zittert der schwarze Koloß schon jetzt! Wir bieten ein prächtiges Bild.« Das war richtig. Die Barke mit dem flachen Boden glitt schnell dahin, das Segel wurde vom Südwind gebläht. Ipuki, der Steuermann, hielt lässig die gekrümmten Zedernholme der Doppelruder in den Fäusten. Bunte Malereien, das weiße Leinensegel, die schmalen Bronzestreifen um die Riemenschäfte, dazu funkelnde Helme, polierte Lederteile der Halbrüstungen, blitzende Waffen und Schilde, Pfeilköcher und lange geschwungene Bogen – die Bauern auf den Feldern, die Fischer und jene, die an den Bauten und in den Palmenhainen arbeiteten: Alle winkten uns zu. Wir waren Insassen einer Barke, deren Glanz deutlich einen Teil der gottköniglichen Macht versinnbildlichte. »Wenn alles vorbei ist, Bruder, wird das Bild nicht mehr so prächtig sein«, sagte Zakanza-Upuaut. »Noch haben wir Zeit, die prunkvollen Häuser der Dahingegangenen zu bewundern.«
Auf dem Weg von Nubet nach Geb-Teju, wo das Trockental von 0st nach West verlief, sahen wir Bergtempel, Taltempel und viele halb unterirdische Begräbnisstätten hoher Beamter. Riesige Steinbauten, weiß, mit farbigen Friesen und riesigen Bildwänden voller Figurinen und Schriftzeichen. Gewaltige Konstruktionen inmitten grüner Felder und Äcker, im Schatten von Palmenwäldern, von der Sonne und dem strahlenden Himmel in unirdisches Licht getaucht. Für einen Toten wurde tausendmal mehr gebaut als für zehntausend Lebende. Der einzige Sinn des Lebens war, sich auf ein Leben nach dem Tode vorzubereiten. Auch diese Entwicklung war schon von den Priestern des ersten Königs von Ober- und Unterägypten eingeleitet worden, denen ich die Tempel gebaut haste. »Sie sind in der Tat herrlich und gewaltig«, sagte ich zu Ne-Tef nacht. Bewundernd sah ich hinüber, durch die Grenzhecken der Felder, durch schwankende Schäfte der Palmen. Eine vollkommene Harmonie von Säulen und Mauern auf abbröckelnden Sandsteinfelsen und Kalkbergen; die Bauwerke ordneten sich der Umgebung unter, obwohl sie großartig waren. Aber sie hatten keinen organisatorischen Zweck, es waren nicht einmal Festungen. Eine unvorstellbare Masse Arbeitskraft war zu Stein geworden. Rampen, rätselhafte Gestalten, zusammengesetzt aus Menschen und Tieren, Sphingen und Säulenreihen, zusammengehalten von mächtigen Balken aus Stein, von Schlingpflanzen umwuchert, dazu konische Fassaden und Türme, lange Mauern, deren Steine aussahen wie bearbeitetes Holz, kleine Tempel, versteckt im Grün von Pflanzen, wieder riesige Anlagen, an die Uferberge angelehnt und aus gewachsenen Felsen herausgearbeitet mit Bronzemeißeln, Steinhämmern, Holzkeilen und härteren Steininstrumenten. Das Volk war vom Meer bis zum zweiten Katarakt emsig wie die Bienen. Unweit von Nechen näherten wir uns dem östlichen Ufer. In Kürze würden wir sehen und erleben, ob und wie gut die Befehle ausgeführt worden waren. Ein Akazienwald tauchte auf, langgestreckt am Ufer, dahinter sahen wir zwischen Dünen die ersten Felsen. Ein kleines Dorf lag schräg voraus. Der Hapi floß hier genau nach Nordosten.
»Man sags, daß dieses Tal einst ein Fuß war«, meinte Ptah-Sokar nach einer Weile. »Ein Fuß, den es nur dann gibt, wenn es regnet«, antwortete ich. Es war so gut wie ausgeschlossen, daß dieses Bett des periodischen Flusses jemals mit einer bemerkenswerten Menge Wasser gefüllt sein würde. Deutlich war an den Hängen zu sehen, daß es in vorgeschichtlicher Zeit Wasser gegeben haste; damals, als die Wüste noch Savanne gewesen war. »Sicherlich regnet es nicht, wenn wir in dem Tal des Henenu sind«, brummte Zakanza. Eines der Probleme, mit dem wir uns herumschlagen mußten, war das kostbare Naß. Es entschied über Leben und Tod. Ich drehte mich herum und rief: »Bringt die Barke an den großen Steg von Geb-Teju!« Ipuki verneigte sich. Wir fuhren an Nechen vorbei, setzten einmal die Riemen ein und legten gegen Mittag an unserem Ziel an. GebTeju war eine kleine Stadt aus vielen Lehmbauten und wenigen Steinhäusern, die aber einen sauberen und wohlhabenden Eindruck machte. Schon auf der Sandfläche unter den schattenspendenden Wedeln der Palmen sahen wir Stapel von Material und die Reste größerer Stapel. Ich hörte ein vertrautes Geräusch an Land. Ptah-Sokar rief mit beherrschter Stimme die Kommandos. Pferde! Und Räder auf Sand und Stein, wisperte der Logiksektor. Die Barke legte an und wurde vertäut, die Planken schlugen polternd auf die Steine. Aus den Häusern liefen die Menschen auf uns zu. Ich sah, wie zwei junge Männer einen prächtigen Wagen und drei in der Helligkeit scheuende Pferde heranführten. Das grelle Wiehern der aufgeregten Pferde hatte mich begeistert. Ich sprang an Land. Überall gab es die getilgten Spuren einer riesigen Menschenmenge, die durchgezogen war. Amenemhets rechte Hand hatte also Wort gehalten, die Abgesandten hatten es tatsächlich geschafft, aus dem Land der hekachesut, der Häuptlinge der Fremdvölker, Pferde und sogar meinen leichten Wagen mit riesigen Speichenrädern heranzuschaffen. Für mich eröffneten sich neue Möglichkeiten der Fortbewegung. Ich
rannte auf den Wagen zu und blieb stehen, als ich neben mir eine Stimme hörte. Zakanza stemmte die Fäuste in die Seiten. »Mit diesen furchtbaren Tieren willst du den schwarzen Koloß zertrümmern, Atlan-Horus?« »Nein, keinesfalls«, sagte ich zu Zakanza-Upuaut. »Der Weg dorthin wird kürzer werden. Warte, bis du die Tiere kennst!« Ein Soldat kam auf uns zu und verneigte sich ehrerbietig. »Du bist, Herr, jener, den sie Atlan-Horus nennen?« »Ja.« »Ich bin Keshy, und ich handle nach dem Befehl des Göttlichen, der auch dein Befehl war. Alles ist bereit. In zehn Tagen wirst du kennengelernt haben, Schatten des Horus, was zwischen hier und den Ufern des Meeres geschah, im Tal des Henenu.« »Du hast die Verantwortung übernommen?« Der Nubier musterte mißtrauisch den Soldaten, als habe er einen Aussätzigen vor sich. Der junge Mann wurde unsicher. »Man befand mich als würdig, Öffner der Wege.« »Dann wirst du uns, denke ich, morgen bei Tagesanbruch nach Westen führen. Sind die Straßen sicher?« »Wenn wir angegriffen werden, nur von Löwen, Schakalen, Durst und Sandstürmen, aber von keinem menschlichen Wesen!« Keshy war unausgeschlafen; sein Gesicht wirkte grau. Nur mit Anstrengung hielt er sich aufrecht. Aber seine Ausrüstung war gepflegt und wirkte gebraucht. Besonders die Peitsche, die er wie einen Wurfspeer in der Schildhand trug. Ich hob die Hand, kehrte Keshy die Handfläche zu und ordnete an: »Leg dich schlafen, Mann!« »Herr, du bist gütig…« Ich schnitt seine Beteuerungen ab und sagte halblaut: »Weniger das. Verlaß dich nicht darauf. Wir brauchen keinen Führer, der vor Erschöpfung aus dem Wagen fällt. Wie viele dieser prächtigen Tiere befinden sich hier?« »Zehn Tiere, Atlan-Horus, davon drei Hengste. Sie sind wild.« Ich zeigte zur Barke und auf die Handwerkerhäuser hinter der schützenden Lehmziegelwand. »Um das Maß deiner Freude überfließen zu lassen, Keshy, bitte ich dich: Laß die Handwerker die Wagen zusammensetzen, die
gerade aus der Barke ausgeladen werden. Wir brauchen drei Gespanne, um den Schwarzen Koloß unter unseren Sohlen zu zertrümmern. Diese junge Frau, Ne-Tefnacht, soll beim Gaufürsten wohnen, bis ein Schiff hapiabwärts sie nach Nubet mitnimmt. So soll es geschehen.« Er verbeugte sich und winkte seinem Schreiber, ehe er davontrabte. Der Schreiber berichtete, welche Mengen an Material, von wie vielen Menschen getragen, zusammen mit Eselskarawanen in östlicher Richtung bewegt worden waren. Ich inspizierte die Zugtiere, ließ die Hengste waschen und striegeln, änderte Kleinigkeiten an Zügeln, Trensen und Zuggeschirr und nahm zusammen mit Zakanza, Ptah und Tefnacht Quartier beim Stadtverwalter Geb-Tejus. Meine Ausrüstung war in flachen, ledernen Taschen verstaut; Ricos Sonden kreisten über dem Strom, dem Städtchen und dem breiten Pfad, den sie als »Straße zum Östlichen Meer« bezeichneten. Nach einem leichten Mahl legten wir uns auf die schmalen Lager; noch vor dem Morgengrauen verabschiedete ich mich von NeTefnacht. Zakanza-Upuaut grinste breit und rief übermütig: »Obwohl ich nicht geschwindelt habe, zog ich das bessere Los. Dies alles ist mir neu, aber es verspricht, aufregend zu werden.« Wir standen mit federnden Knien im dahinrollenden Wagen. Kurze Sehnenschnüre hielten unsere Gürtel am Wagenkorb fest. Die drei schwarzen Hengste waren wild; ich hielt die straffen Zügel in beiden Händen. Wir fuhren in raschem Trab auf dem taufeuchten Pfad dahin. Der Himmel über uns, jenseits der Baumkronen, färbte sich grau und rosenfarbig. »Es wird aufregend!« versicherte ich. »Hoffentlich marschieren nnsere Freunde nicht zu langsam.« Wir fuhren auf einer uralten Straße. Aber sie war immer wieder vergessen worden, ebenso wie alles jenseits des Einschnitts dieses wasserlosen Tales. Der nubische Bote sagte laut: »Vor sechzig Jahren, Atlan-Horus, sandte Mentuhotep einen nicht mehr ganz jungen Mann nach Punt. Sein Name war Henu oder
Henenu; er war der Vertraute des ersten Mentuhotep gewesen, des Vaters. Er war im achten Jahr der Regierungszeit.« Beruhigend federte die weit auslegende Achse. Die Räder, scheinbar aus Hartholz und Bronze, an wichtigen Stellen mit stahlhart geknebelten Lederschnüren verstärkt, liefen spurgetreu. Die schlanke Doppeldeichsel wippte im Takt. Jetzt wurde das Echo aller Geräusche von gelbroten, grünlich geäderten Felswänden zurückgeworfen. Noch war es kühl, bald würden sich glühende Sonnenstrahlen wie Pfeile in unsere Rücken bohren. »Dreitausend Männer mit zerlegten Schiffen gingen diese Straße, die wir wunderbarerweise fahren. Irgendwo ließ Henu einen geglätteten Fels zurück, auf dem der Bericht eingeschlagen steht. Zuerst allerdings mußten sie diesen Pfad von den Feinden des Königs säubern, was bedeutet, daß sie Wüstennomaden fingen und die Schiffe schleppen ließen. Bezeichnenderweise gab es andere Nomaden, die als Späher und Kämpfer dienten. Aber heute sind diese Leute oder deren Nachkommen brave Romet.« Ich deutete auf die prallen Pfeilköcher, die beiden Schilde, gekrümmte Flächen mit geraden Rändern und halbkreisförmigem Oberteil, auf die Wurfspeere mit vierkantigen Bronzespitzen und die langen Bogen. »Wir würden uns zu wehren wissen. Was geschah weiter mit Enenus Truppen?« »Nun, sie bauten die Schiffe, segelten nach Punt, kamen zurück und konnten Gold, Weihrauch und Myrrhenbäume kaum schleppen. Die Zurückgebliebenen aber hieben dunkelgrüne Blöcke aus den Felsen und schleppten alles, Schiffe, Gold und Quader zurück nach MenefruMire.« »So ähnlich werden wir verfahren. Vom Steinbruch wußte ich nichts«, sagte ich. »Die Entfernung beträgt höchstens zehn Tage. Wo soll der erste Brunnen sein?« In einer vielsagenden Geste breitete der Nubier die Arme aus. Er spuckte Sand und rief: »Keine Ahnung. Am Ende des Tages erreicht der Marschierende den ersten Brunnen, sagte Keshy!« Der Weg war mehr als zwei Mannslängen, rund acht Ellen, breit.
An den meisten Stellen bestand er aus Sand mit Lehm und kleinen Steinen vermischt, verlief neben dem geröllgefüllten Fußlauf, der staubtrocken war, wand sich entlang der Felsen und war durch eine Reihe von Steinhaufen gekennzeichnet, in denen Binsenbündel steckten. Ich hatte die Zügel gelockert. Die ausgeruhten Tiere wurden schneller und fielen in langgestreckten Galopp. Der Wagen schleuderte um die Kurven und auf den geraden Teilen der Strecke dahin. Zakanza senkte den Kopf, um nicht Sand in die Augen geschleudert zu bekommen. »Weißt du nun, warum ich diese Tiere brauchte?« »Ich verstehe alles!« schrie er. Ich begriff, warum Keshy erschöpft war. Er schien ehrgeizig und entschlossen zu sein, sich während dieser Expedition einen Namen zu machen. Jedenfalls war das erste Stück der Straße ohne jeden Tadel. Ich drehte mich herum und ließ die Tiere rennen; sie würden ihr Tempo selbst verringern, wenn sie sich ausgetobt hatten. Jedenfalls waren ihre Sprünge von herrlichem Gleichmaß. Der lodernde Ball der Sonne ging auf; Strahlenbündel zuckten durch die Schlucht, Schatten streckten sich über die Straße. Die Sonne war der eigentliche Herrscher über dieses Land. Wohltuend, wo es Wasser gab, tödlich an anderen Stellen, an denen Wasser und Schatten fehlten. Also an neun Zehntel der Umgebung. Jeder Schritt aus dem sicheren Tal in die Wüste war für den Romet der erste Schritt in unmittelbare Lebensgefahr. Dies erklärte viele Eigentümlichkeiten dieser geschlossenen Hochkultur. »Dort oben!« rief Zakanza-Upuaut plötzlich. Sein Arm mit dem Streitkolben flog hoch und deutete auf einen Felsen, der aus einer gewaltigen Düne hervorstach, die wie eine erstarrte Brandungswelle vor dem Überschlagen wirkte. Ich folgte seinem Blick und sah einen Bogenschützen, der grüßend seinen Schild schwenkte. Nach der nächsten Kurve sahen wir, daß er ein winziges Feuer anzündete, Öl oder einen ölgetränkten Lappen darauf warf. Eine dunkle Rauchfahne, die er mit dem Schild in Fäden zerteilte, stieg schräg in den Morgenhimmel. »Sehr geschickt, dieser Keshy!« rief der Nubier anerkennend. »Sie haben Signale.«
Von jenem Felsen gab es einen hervorragenden Blick über eine lange Strecke des Tales. Nicht ein einziger Grashalm wuchs hier, kein Strauch, kein Moos. Nur Steine warfen Schatten. Jeder Punkt, der sich bewegte, war leicht zu entdecken. Wir waren sicher; mehrmals sahen wir solche Rauchstreifen. Unsere Ankunft wurde zur ersten Station gemeldet. Die Schnelligkeit der Pferde ließ nach. Sie waren müde geworden, hatten ihre überschüssige Kraft in Leistung umgesetzt. Eine Zeitlang gab es nur das Keuchen der Tiere und das Mahlen der Felgen auf den Steinen, dann sagte ich laut: »Und an welcher Stelle sammelt sich das Heer, das wir brauchen?« »Bei einem Lager am Hapi, südlich vom ersten Katarakt. Die ersten Quartiermacher und die Bogenschützen sollten schon aufwärts reisen.« »Und bei günstigem Wind und guter Muskelkraft könnten auch die Schiffe bald hierher kommen.« Ich wies nach vorn. Dort lag in weiter Ferne die Küste mit gefährlichen Korallenriffen und unberechenbaren Stürmen. Die Rückfahrt aus Punt mußte im zehnten, elften und zwölften Mond stattfinden denn die schweren Schiffe konnten nicht nur gerudert werden. Nur in den beiden letzten Monden von Achet und dem ersten Mond der Jahreszeit Peret ging gleichmäßiger Wind aus Süden, der uns nach Norden treiben konnte. Für die Hinfahrt jedoch konnten wir uns Zeit lassen. Wir mußten nicht unbedingt die letzten Monde von Shemous segeln. Ich würde zu dieser Zeit mit den Truppen den zweiten Katarakt jenseits der Festung Buhen bezwingen. »So war es geplant, so lauteten deine Befehle, Horus des Horizonts!« Der Nubier schirmte seine Augen ab. Die Sonne bedeckte uns jetzt mit Licht, Hitze und stechender Trockenheit. Dankbar begrüßten wir jeden Felsen, der Schatten warf. Die Wände des Taleinschnitts, die einmal ganz eng waren und wieder auseinanderwichen zur Form einer schüsselförmigen Vertiefung, spiegelten Hitze und Licht. Unter dem Helmrand sickerten breite Schweißbahnen über unsere Gesichter. Auch die Pferde schwitzten und wurden langsamer. Aber bald tauchte wie ein Trugbild hinter
flimmernder Luft ein grüner Fleck auf; eine Vision von Kühle, Wasser, Schatten und Ruhe. »Die Wüste! Sie ist betäubend schön und tödlich gefährlich.« Ich spuckte Sand aus. Die winzige Oase rechts des Punktes, an dem sich am Horizont Straße, Sand und Himmel trafen, wurde deutlicher. Menschen begannen zu winken. Wir sahen Schatten, die Kühle versprachen. »Und sie wird unser Heer überall dort vernichten, Atlan, wo wir nicht für Wasser gesorgt haben«, knurrte Zakanza-Upuaut. Endlich erreichten wir den ersten Brunnen des Henu. Soldaten kamen auf den Wagen zu, erschraken vor den schäumenden und wild mit den Augen rollenden Tieren, faßten sie an den Zügeln und führten uns unter ein großes Dach aus Schilf und Palmwedeln, das auf Holzpfosten und Steinsäulen stand. Die Oase bestand aus einer Art Wall aus Steinblöcken. Innerhalb der Zone hatte man Kot und Essensabfälle mit Sand vermengt, Grassamen ausgestreut und viel Wasser verwendet. Ein Viereck aus saftigem, hochstehendem Gras umgab das kleine Haus und den sorgfältig ummauerten Brunnentrog. Eine Sagiah war aufgebaut worden, und ein Mann schöpfte ununterbrochen Wasser aus dem Brunnen. Ein älterer Mann mit kahlgeschorenem Schädel trat auf uns zu, verbeugte sich tief und sagte laut: »Atlan-Horus bist du, und der Mann neben dir muß der Bote sein. Seid willkommen. Wir haben nicht viel zu bieten, Herr. Bald kommen mehr Männer und Lasten!« Er deutete auf eine Reihe von Laubhütten, die auf kleinen Sandhügeln errichtet waren. Auch dort gab es schattenwerfende Dächer. »Es werden in den nächsten Tagen weniger werden. Hast du, wie befohlen, die Tüchtigen von den Faulen abgesondert?« »Herr, der Schreiber hat die Namen von fünfmal zehn Männern, die stark, gesund und geschickt sind.« Zakanza-Upuaut nickte mir zu. So hatten wir es geplant. Wir ordneten an, die Tiere zu versorgen. Sie mußten abgerieben, gewaschen, gefüttert und in den Schatten geführt werden. Hinter dem Haus sah ich einen steinernen Kornbehälter. Sie hatten
tatsächlich jeden Pinselstrich unserer Pläne ausgeführt! Wir gingen zum Brunnen, wuschen uns und gingen in die kühle Dunkelheit des Hauses. Dort stand ein sorgfältig angerichtetes Essen bereit. Wir setzten uns, nachdem wir die Rüstung ausgezogen hatten. Aus schmalen Öffnungen unter der Balkendecke fiel Licht ins Innere. Der Schreiber blieb an der Tür stehen. »Es sollen stets einige Männer hier bleiben und die Oase bewachen. Später kommen andere Männer mit Blöcken von dunkelgrünem Gestein vorbei und gehen nach Geb-Teju. Man wird ihnen helfen, entweder dadurch, daß man ihnen mit Wasser entgegengeht oder ihnen tragen und ziehen hilft. Die Truppen, die von dem Treffen mit den Schiffen zurückkommen, werden sich selbst helfen können. So soll es geschehen.« »So werde ich es schreiben«, antwortete der Mann mit der schwarzen Perücke und verließ den Raum. Pferde und Wagen hatten die Zeit drastisch verkürzt. Später würde alles viel länger dauern, aber in diesem Land zwang die Natur jeden dazu, Geduld zu haben. Wir legten uns in den Schatten schlafen, empfingen früh am Abend Ptah-Sokar und später eine Abteilung Soldaten, die mit Eseln Nahrungsmittel brachten. In sieben Etappen würden wir die gesamte Strecke zurücklegen, bis wir das Meer sahen. Gegen Mittag des achten Tages war es soweit. Die gepflegte und markierte Straße führte abwärts, die Felswände traten weit zurück, ein trichterförmiges Gebiet lag vor uns. An seinem Ende erkannten wir Brandungswellen. »Amenemhet sprach, und alles geschieht nach seinem Wunsch!« sagte Ptah-Sokar. Er war ebenso überrascht wie ich, obwohl wir entlang des Weges alles in bester Ordnung und in hervorragender Organisation angetroffen hatten. »Dort, die Schiffe!« Diesmal befand sich Ptah-Sokar neben mir im Wagenkorb. Er hatte schnell begriffen, wie die Pferde zu lenken waren. Vor uns breitete sich ein gewaltiges Panorama aus: Schiffe, Haltegestelle, Schilfhütten und Menschen, Feuer und Rauchsäulen, Lärm und große Haufen aller denkbarer Materialien. Es wurde überall gearbeitet. Langsam lenkte der Truppenführer das Gespann ins
Zentrum der großen Strandfläche. Wasserträger mit großen Ledersäcken rannten hin und her. »Es sieht sehr gut aus«, brummte ich. »Sieben fertige Schiffe, wie es scheint.« »Dort setzen sie die anderen zusammen.« In einer sauber ausgerichteten Reihe lagen die Kiele aus Zedernstämmen. Aus den großen Mengen von Brettern, Balken und Verstrebungen holten die Männer einzelne Teile und setzten methodisch die Schiffe zusammen. Das Gespann hielt an, wir sprangen in den Sand und wurden begrüßt. Fünfzehnhundert Männer befanden sich im Abschnitt zwischen dem letzten Brunnen und der Brandung. Von allen Seiten kamen Aufseher näher. Sie wußten, welche Bedeutung unser Besuch haste. Wir brauchten eigentlich nur die Kapitäne und Steuermänner zu treffen und ihnen zu erklären, was sie zu tun hatten. Ich sah mich um. Die Arbeitenden wirkten satt und zufrieden, auch wenn ihre Aufgabe keineswegs leicht war. Ptah-Sokar stolzierte zwischen den Männern umher, prüfte hier die Arbeit, sprach dort mit einem Aufseher, lachte und schlug irgendwelchen Vorstehern auf die Schultern. »Wie lange werdet ihr noch brauchen?« fragte ich. »Drei Monde, vielleicht mehr.« Man kümmerte sich um das Gespann, wir gingen auf eine Art Magazin zu, ein langer Fachbau zwischen Materialstapeln. Die Aufseher waren bemüht, alles im besten Licht zu zeigen; aber es war nicht nötig, daß sie sich verstellten. Ich hob die Hand und sagte: »In vier Stunden will ich alle Kapitäne und die Steuermänner sehen. Wie viele Schiffe könnt ihr bauen?« »Vierundzwanzig, Herr, und wir haben alle wichtigen Teile doppelt.« »Gibt es unter all denen hier einen Mann, der Henu gekannt hat? Vielleicht einer, der mit ihm in Punt war?« »Ja, ein alter, zahnloser Soldat. Er spricht von nichts anderem mehr. Es soll seine letzte große Tat sein, sagt er.« »Dann bringt ihn her!« befahl ich. »Er wird auf dieser Fahrt wichtiger als ich.«
Drei Tage blieben ich und der kleine Troß. Die Kapitäne und die Männer, die das Ruder führen würden, entwickelten mit mir zusammen die Karte der ufernahen Gewässer, denn mit diesen Schiffen war Hochseesegeln kaum möglich. Der alte Nebamun berichtete von Buchten des Meeres, das an Riffen und seichten Stellen, an Stürmen und unberechenbaren Strömungen reich war. Wir zeichneten sozusagen jeden Schritt der langen Fahrt auf und auch den Punkt, an dem die Reste des hoffentlich siegreichen Heeres wieder zu den Schiffen stoßen würden. Wir besprachen die wichtige Ausrüstung, ermittelten Mannschaftsstärken und diskutierten, was geschehen sollte, wenn alle Schiffe zusammengesetzt, die Masten aufgerichtet und die Einheiten probegesegelt waren. Neunhundert der tüchtigsten Männer würden nach Süden segeln. Nebamun wurde als Späher und Ratgeber vor allen ausgezeichnet, seine Freude war unbeschreiblich. Das Heer aber würde von hier in den Steinbruch jenes dunkelgrünen Tiefengesteins marschieren, dort riesige Blöcke herausbrechen und sie nach Geb-Teju schleppen. Bis heute hatten alle Vorbereitungen eine große Menge Nahrungsmittel, Arbeitszeit und Aufwand verschlungen. Amenemhet erwartete, daß unsere Schiffe schwerbeladen mit teueren und seltenen Dingen zurückkamen – in einem Jahr oder später. Als ich mit dem Gespann zurückjagte, wußte ich noch immer nicht, aus welchem Grund mich ES geweckt und hierher gebracht hatte. 20. Ne-Tefnacht hatte im palastartigen Gutshof des Merneptahs in GebTeju auf mich gewartet, im Mittelpunkt des Nördlichen Schildgaues; noch jetzt hatte ich den Geschmack ihrer Küsse nicht vergessen, und der Duft ihrer Schminke haftete noch im Leinen meines Hemdes. Viele Tage waren vergangen, seit sich das Heer gesammelt haste. Wir waren unterwegs ins »elende Kusch«, zu den »nichtswürdigen Nehesi«, ins Land der Skorpione und Geister. Wir
durchquerten den Südlichen Schildgau, kamen an No-Amun vorbei und folgte dem Ufer des Stroms weiter nach Süden. Wenn der Gottherrscher im Per-Ao mit seinen Mächtigen jagte, unterstützt von königlichen Jägern und Slughihunden, bedeutete dies Fleisch für die königliche Tafel, Opfer für die Tempel und einen rituellen Akt der Tötung: die Tiere der Wüste, Geschöpfe des Gottes Seth, Osiris’ Bruder, waren also schädliche Bestien, die stellvertretend für Osiris getötet wurden. Gleiche Bedeutung hatten die Fußpferde, was niemanden hinderte, deren Schinken zu räuchern oder die fetten Tiere in Schlingen zu fangen. Nur Jagdhunde gab es im Land der Romet. Es war kein Land für Pferde, die von weither geholt wurden und nicht lange lebten. Füchse, Wildesel, Hyänen oder Löwen bejagte man. Im Süden würden wir große Laufvögel sehen und Leoparden, Geparden und anderes exotisches Getier. Das Heer, ein langer Zug, kroch geduldig durch das Land, machte Umwege, um die Äcker und Felder der Bauern zu schonen, ernährte sich vom Hapi und vom Mitgebrachten, wurde von Booten, die von Necheb im Westmarkgau herüberkamen, ebenso versorgt wie von Ombos im Gau der Weißen Mauer. Wir umgingen die herrliche, wilde Landschaft um den Ersten Katarakt, erhielten Verstärkung von Ta-Seti, und schließlich sahen wir keine Binsennachen und Schiffe mehr auf dem Hapi. Wir näherten uns der alten Südgrenze des Reiches. Eintausenddreihundert Soldaten: Bogenschützen in unabhängigen Abteilungen, Schleuderer, Lanzenkämpfer und Männer, die mit Streitkolben fochten. Zweihundert Mann waren für die Esel verantwortlich und die Ochsen, die Wasser, Korn, Bier, Fleisch und Handwerkszeug trugen. Jeweils drei Pferde zogen einen Wagen, sie wurden oft ausgewechselt. Entlang der Strecke übten wir immer wieder, schließlich wußten wir, daß die Bogenschützen die besten Soldaten waren, well ihre Intelligenz der Handhabung der königlichen Waffe entsprach. »Die Schlange der Vernichtung nähert sich dem Land des schwarzen Kolosses«, sagte Zakanza-Upuaut. »Bisher kannte ich das
Land genau. Jetzt muß ich versuchen, mich zu erinnern. Auch deine wunderbare Karte, Atlan, zeigt nicht alles.« Mein Gespann führte den Zug an. Schräg vor uns, auf den Hügeln, tauchten Gruppen spähender und sichernder Bogenschützen auf. »Diese Karte zeigt das Land durch das Auge des Falken«, erläuterte ich. »Sag, was weißt du über Wawat oder Kusch, wie es genannt wird?« Wir waren wachsam. Meine Pfeile waren tödlich, und die Dolche furchtbare Waffen. Aber es gab keinen Robotadler, und auch keine Lanzen, die Energiestrahlen schleuderten. Zakanza-Upuaut hob die Schultern unter dem Leder des Wamses und sagte: »Nun, eigentlich ein reiches Land, von Hirten und Bauern bewohnt. Es gibt Gold, man findet Kupfer und kann mit Fellen und Edelsteinen handeln. Es hat keine straffe Leitung, keinen Herrscher. Je mehr wir nach Süden vordringen, desto wilder werden die Menschen. Noch sind wir auf sicherem Gebiet, das, wenn überhaupt, von Jägerfürsten beherrscht wird.« Die Stromschnellen des ersten Katarakts waren ein Hindernis, das die Fußtruppen leicht umgehen konnten. Aber erst, wenn eine breite Fahrtrinne geschaffen worden war, konnten mit den Schreibern, Aufsehern und Schatzmeistern auch die Organisatoren vordringen, ohne die ein Land nicht befriedet werden konnte. Aus diesem Grund war Buhen mehr als eine Grenzfestung. »Und wer, denkst du, ist der schwarze Koloß?« Bisher war kein Zusammenstoß erfolgt. Wir hatten Bauern getroffen und Hirten; sie arbeiteten und waren am Kampf nicht interessiert. Als sie die Länge des Kriegszugs sahen, flüchteten sie nicht einmal, berichteten aber von fremden Kriegern. Wir bewegten uns auch noch immer auf Pfaden oder zumindest über bezwingbares Gelände. Aber es war deutlich zu sehen, daß wir die Kulturlandschaft verlassen hatten. Immer mehr Waldstücke, breite Sumpfstreifen und dornige Bereiche voller Schlangen und Morast schoben sich als Hindernisse in unseren Weg. »Ich denke, er ist ein Mann, der zu herrschen versteht. Erinnere dich, was die überfallenen Bauern gesagt haben. Ich weiß nicht, ob
er Nehesi ist wie ich, ein gänzlich Fremder, ein Weggelaufener oder ein kleiner Mann, der in der Phantasie groß geworden ist.« Immer wieder waren Bewaffnete aus der Wüste gekommen. Sie hatten Bauern und Handwerker überfallen, alles geraubt, was wertvoll war, die Felder angezündet, die Frauen vergewaltigt und Sklaven gemacht. So schnell, wie sie kamen, verschwanden sie wieder. »Was denkt Ptah-Sokar?« »Dasselbe. Und damit du nicht meinst, es ist ein Spaziergang – wir können jeden Moment angegriffen werden.« »Dreizehnmal hundert Soldaten?« fragte ich ungläubig. »Das tut nur ein Selbstmörder, Zakanza.« Zwischen dem zweiten Gespann und uns befanden sich hundert Dreierreihen Speerkämpfer mit ihren scheckigen Kalbfellschildern über der harten, mit Bronzenieten verstärkten Lederhülle. Ich sah unruhig zum Fuß, danach hinauf zu den Hügeln der Wüste. Nichts. Auch Ricos Sonden zeigten nichts Auffälliges. »Natürlich wird er keinen offenen Kampf wählen.« »Wie weit noch bis Buhen?« »Zwei Tage. Übermorgen abend können wir dort sein. Wir werden erwartet.« Um unsere wertvollen Vorräte zu schonen, ernährten wir uns, so gut es ging, aus dem Land. Die Aufseher hatten Bier bereitstellen lassen. Wir erhielten Fische und Fleisch aller Art. Hin und wieder schlachteten die Soldaten einen Ochsen, der ein Bein gebrochen haste. Zehn Männer waren begraben worden: Schlangenbisse, ertrunken, von einem Krokodil verschleppt und von einem wütenden Fußpferd zertrampelt. Uns plagten Hitze, Unruhe und Langeweile. Ich sah einen Bogenschützen, der die Düne hinunterrutschte und seine Waffe über dem Kopf schwenkte, stieß Zakanza an, winkte Ptah-Sokar und sagte kurz: »Ein Zeichen. Dorthin schaffen wir’s mit dem Gespann. Los!« Der Nubier stieß einen langgezogenen, trillernden Kommandoruf aus, schwenkte den Arm und deutete unseren Weg an. Ich gab die Zügel frei und ließ die Enden der Zügel auf die Kruppen der Hengste heruntersausen. Sie wieherten grell und stürmten lost Der
Wagen schleuderte über eine Kiesfläche, ein Rad faßte den festgetretenen Grund eines Pfades, dann bewegten wir uns auf den Rand des Tales zu. Nach zwanzig Schritten gab es keinen Weg mehr; ein Graben ließ Tiere und Wagen einen weiten Sprung machen, die Pferde galoppierten durch ein winziges Rinnsal und einen mit Steintrümmern übersäten Hang schräg aufwärts. Die Achse des Wagens federte tief ein und zurück, die Räder stellten sich schräg und schleuderten Dreck und Pflanzenteile umher. Ich hielt mich an den Zügeln fest, der Nubier federte in den Knien, hob den Bogen und zog einen Pfeil auf die Sehne. Unsere Schilde klapperten gegen den Wagenkorb. Die Bronzespitzen der Wurfspeere klirrten. Von den Hufen der Pferde wurden Sandfontänen hochgeschleudert. Ich hörte den Bogenschützen schreien: »Der schwarze Koloß, Herr!« Wir halbierten einen Busch, der uns in einen Wirbel zerrissener Blätter und zurückprellender Äste hüllte, dann befanden wir uns auf dem Kamm des Hügels. Unter den Felgen waren Sand und kleine Steine. Wir rasten am Bogenschützen vorbei, der geradeaus deutete. Dann sahen wir, was er gemeint haste. Auf einem Felsen erhob sich eine doppelt mannshohe Statue aus nachtschwarzem Stein. Sie sah entfernt wuchtigen Romet-Bildnissen ähnlich. Ein Mann, die Beine in Schreithaltung, den Oberkörper leicht vorgebeugt und in die Richtung des Flusses blickend. Den linken Arm hielt er vor der Brust, die Faust unter dem Schlüsselbein, in der rechten Faust hielt er eine kurze Axt. Das Gespann fuhr gerade auf die Statue zu, die sich an der Grenze von Wüste und Vegetation befand. Eisige Kälte schien von dem polierten Stein auszugehen. »Dieser Kopf. Der Ausdruck…«, murmelte Zakanza-Upuaut. Zum erstenmal schien seine Selbstsicherheit von ihm gewichen zu sein. Ich nickte schweigend und zog die Zügel an. Die Gesichtszüge des Kahlköpfigen waren menschlich, aber auf schwer zu erklärende Weise fremd. Hochmütig blickten die Augen auf uns herunter, ein Ausdruck des Hasses lag auf dem kantigen, faltendurchzogenen Gesicht. Um die Schläfen trug der Koloß ein breites Band. Die
Sehnen des Halses und jeder Muskel des Körpers waren angespannt. Von der Statue ging direkte Drohung aus. Als ob der Dargestellte sich die Vernichtung des Landes entlang des Stromes geschworen habe. »Das erste Zeichen. Es sagt, daß wir uns hüten sollen. Von jetzt ab sind wir in seinem Königreich«, sagte ich. »Du sagst, was ich eben dachte«, knurrte Zakanza. »He, Ptah, wie gefällt dir unser Gegner?« Das zweite Gespann hielt neben uns. Dahinter bildete sich ein schweigender Halbkreis unsicher dreinblickender Krieger. Die Statue, trotz aller Bösartigkeit in der Körperhaltung und im Gesichtsausdruck, beunruhigte uns nicht wirklich, sondern der Umstand, daß der Klotz aus Granit hier stand, zwei Tagesmärsche von Buhen entfernt, in der Einfußsphäre des mächtigen RometReiches. Deswegen… ich begriff jetzt: Amenemhet gab einem Fremden den Auftrag, einen anderen Fremden zu besiegen, well der Herrscher diese deutliche Herausforderung nicht übersehen konnte. Ich schwieg und dachte nach, dann befahl ich: »Reißt den Koloß vom Sockel, stürzt ihn den Hang hinunter und zerschlagt ihn in viele kleine Teile!« Ptah spuckte aus und sagte knurrend: »Ich weiß nicht, ob mir der Koloß gefällt. Weiß nur, daß wir in den nächsten Nächten nicht ruhig schlafen werden.« Die Männer rannten zu den Lasttieren, um Werkzeug zu holen. Ich winkte Ptah-Sokar. Wir fuhren eine Weile fang schweigend nebeneinander her. Neben dem Truppenführer stand der beste Bogenschütze. Zakanza-Upuaut sagte halblaut: »Sie zertrümmern die Statue. Kann es sein, Atlan-Horus, daß der Koloß wußte, daß wir eines Tages kommen würden?« »Alles ist möglich.« Ptah-Sokar hob den Arm. »Auch, daß der vergiftete Wein nicht von Nebkaura stammt.« »Sondern ein Geschenk des Kolosses ist, der einen Beamten bestach! Dieser gab den Krug dem Jungen?« setzte Zakanza hinzu. Verwirrt blickte ich von einem zum anderen. Es war möglich. Langsam kam Sinn in die Zeit meines Aufenthalts. War die Gefahr, die ich jetzt erst erahnen konnte, von ES klar erkannt worden? Dann
konnte es nur bedeuten, daß sich am Oberlauf und entlang der Quellflüsse eine junge politische Kraft ausbreitete, die mit einer der nächsten Überschwemmungen die Hochkultur überfluten und ertränken konnte. Mein Extrahirn wisperte drängend: So oder ähnlich muß es sich verhalten, Arkonide. »Es ist möglich. In zwei Tagen wissen wir mehr«, hoffte ich. »Los, wir gehen weiter. Ruf die Soldaten nach vorn.« Während die Gespanne weiterfuhren, schwärmten Bogenschützen aus und sicherten unseren Weg. Wir hörten das Knirschen, mit dem die Statue aus ihrer Befestigung gerissen wurde und den Hang hinunterkollerte. Danach verfolgte uns lange das Klirren der Bronzeäxte, mit denen der Koloß zertrümmert wurde. Am letzten Abend, bevor wir Buhen erreichten, befanden wir uns im Einfußbereich des Kolosses, ohne daß wir überfallen worden wären. Abgegraste Weiden, sorgfältig bearbeitet und bewässert, Kanäle und bestellte Felder breiteten sich vor uns aus. Die Spitze der Truppe bog auf den breiten Weg, der vom Fußufer heraufführte. Zakanza-Upuaut legte mir die Hand auf die Schulter und flüsterte: »Es riecht nach Tod, nach Brand und Asche!« Auf unserer Linie, vier Bogenschüsse entfernt in der Wüste, bewegten sich die Elitesoldaten. Wir starrten hinauf und sahen sie im selben Moment auftauchen und in einer Reihe stehenbleiben. Aufgeregt deuteten sie zu uns hinunter. Unser erster Eindruck war richtig gewesen. Wieder jagten die Gespanne los, Ptah-Sokar dicht hinter uns. Der Weg schlängelte sich durch ein Weizenfeld. Nach der nächsten Kurve ratterten wir in eine Bahn weißer Asche hinein. Neben uns erstreckte sich ein verbranntes Kornfeld, das an einigen Stellen noch schwelte Palmenschäfte waren geschwärzt, Büsche standen mit verbrannten Asten da; geradeaus erhob sich das Haus auf einem bewachsenen Plateau mit schrägen Wänden. Es war unnatürlich still. Vor den Hufen der Pferde lag eine tote Ente mit abgesengten Federn. »Das waren die Krieger dieses verfluchten Schakals«, meinte Zakanza scheinbar unbeeindruckt. »Mitten am Tag. Zwei Stunden mit dem Gespann von den Festungsmauern entfernt.«
»Dein Land Wawat, Zakanza. Wir bleiben hier für die Nacht. Dem Bauern können wir kaum mehr helfen.« Neben der Brücke aus Balken und darübergelegten flachen Steinen, mit einem Arm im Wasser des Kanals, lag ein etwa vierjähriger Junge mit eingeschlagenem Schädel. Ptah sprang aus dem Wagen und hob das Kind am blutigen Hemd hoch. Wir näherten uns dem Haus; kein Laut klang daraus hervor. Wir stiegen ab, hoben die Waffen, und die Bogenschützen hinter uns bildeten eine auseinandergezogene Kette. Im Dunkel des großen Raumes summten Fliegen. Als sich unsere Augen an die Dämmerung gewöhnt hatten, sahen wir den Bauern, einen älteren Mann. Ein Speer hatte ihn an den Lehmboden genagelt. Seine Frau oder Tochter, wohl noch vor Stunden ein hübsches junges Geschöpf, lag in einer Ecke des Raumes. Sie war zu Tode gequält worden. Schaudernd wandte ich mich um und versicherte kalt: »Wir werden tun, was Amenemhet wünscht. Nach unserem Abzug wird das Land Wawat friedlich sein.« Zakanza lächelte verzerrt und wischte sich über die Augen. »Sehr friedlich. Weil es niemanden mehr geben wird, der morden kann.« Wir begruben die drei Toten. Das Heer sammelte sich auf dem Bauernhof. Alles Vieh war weggetrieben worden. Es gab eine Unmenge Spuren, die uns aber nichts über die Plünderer sagen konnten. Esel und Ochsen wurden in die Schwemme getrieben. Wir zündeten Feuer an und brieten das Wild, das wir tagsüber gefangen hatten; einige Männer brachten Fische. Unsere Tragetiere wurden auf die Weiden geführt. In dieser Nacht schlief jeder Mann mit den Waffen in der Hand, Bogenschützen bildeten einen großen Kreis um das Heer. In der Hütte schlief niemand. Über den plätschernden Hapi hob sich der zornig gelbe Mond mit seinem narbigen Antlitz. Meine Unruhe hatte fast ihren Gipfel erreicht. Ich betrachtete die Bilder der Spionsonden, sah aufregende Einzelheiten und gähnte. Ich vermochte nicht zu schlafen, warf Bogen und Köcher über die Schultern und ging langsam hinaus in die Wüste und setzte mich in den Sand, als ich den höchsten Punkt der Gegend erreicht haste. Hinter mir lagen wie ein ausgefranstes schwarzes Band der Strom, seine Altwasser und Sümpfe, daneben die eckigen Felder. Vor mir
erstreckte sich, ähnlich einem gefrorenen Meer, ein Teil der westlichen Wüste. Über die Dünen kam ein kalter Windhauch, in meinem Rücken stand warme Luft über Bäumen und Feldern. Ich blickte auf die riesige Szene: Dreieckige Schatten und Dünen aus Steinen, Geröll und Sand, vom Mondlicht angestrahlt, schienen zu leben. Ich bildete mir ein, menschliche Gestalten zu sehen, die in einer langen Reihe nach Süden wanderten. Ich blinzelte, aber die Vision verschwand nicht. Dort vorn gingen hundert Menschen, schweigend und zielstrebig, durch Licht und Schatten, selbst Schatten werfend. Hin und wieder sah ich winzige Reflexe; vermutlich Waffen, die aufblitzten. Ohne jedes Geräusch liefen sie weiter, als wären sie Bestandteil dieser Landschaft. Die Nacht war gänzlich still. Ich konnte hinter mir die Geräusche am Fuß hören. Ich schaute nach vorn. Sie waren noch immer dort, hatten sich ein Stück weit entfernt, eine Reihe Krieger; sie wirkten, als wären sie aus grauer Vorzeit übriggeblieben und würden eine Gefahr darstellen, well sie nicht faßbar waren. Ich stand auf und blickte ihnen nach. Sie verschwanden, einer nach dem anderen, hinter der letzten Dünenkuppe. Die Landschaft lag leer unter dem Licht des Mondes und der Sterne. Ich ging zurück, weckte Ptah-Sokar und ZakanzaUpuaut und flüsterte: »Ich ahne, daß wir im Morgengrauen angegriffen werden. Laßt die anderen noch schlafen. Wir sollten uns vorbereiten. Alle!« Der Truppenführer stand auf, ging zum Brunnen und goß sich Wasser über Kopf und Oberkörper. Die Mücken machten uns resend; sie kamen in Wolken aus dem Sumpf. Ptah blieb bei uns stehen und sagte leise: »Schlaft! Ich kontrolliere die Posten und tu, was meine Verantwortung ist.« Ich sah mich um und versuchte, in der grauen Morgendämmerung etwas zu erkennen. Überall lagen Männer unter ihren großen Mänteln. Je genauer ich hinsah, desto deutlichere Einzelheiten nahm ich wahr: Viele der scheinbar schlafenden Männer hatten sich versteckt und ihre Mäntel mit Gras ausgestopft. Ich mußte grinsen. Seit Jahren hatte es keinen wirklichen Krieg gegeben. Ptah-Sokar würde versuchen, seinen Ruhm zu festigen.
Zakanza raffte seine Waffen zusammen und folgte mir. Wir gingen ins Haus und bewaffneten uns. Ich sagte leise zum Nubier: »Ich glaube, ich muß etwas erklären. Was ich in der Wüste gesehen habe, wißt ihr. Aber es gibt keinen Hinweis für einen Angriff. Keinen Beweis.« Der Nubier sah mir in die Augen, legte die Hand auf meine Schulter und schüttelte leicht den Kopf. »Ich kenne die Menschen hier. Meine Leute waren schon hier, als das Reich nur bis zum ersten Katarakt reichte«, flüsterte er. Mit methodischen Bewegungen spannte er den Bogen, setzte den Helm auf und zog die Lederriemen der Rüstung durch die Schnallen. »Aber die Not macht sie gierig und räuberisch. Ich hatte die Wahl. Ich ging stromabwärts und, siehe, ein geachteter Mann bin ich heute, ein Öffner der Wege.« »Das alles«, ich zog den Köcher in die richtige Position, »ist richtig und gut, aber es erklärt nicht, warum wir meinen, daß die Männer des Landes Wawat angreifen werden?« »Weil ich es nicht anders versuchen würde«, war die Antwort. »Der Koloß schickt sie. Sie sind sehr mutig.« Ich lachte leise, aber keiner von uns spürte Fröhlichkeit. Wir waren unruhig und gespannt, alle unsere Nerven zitterten. Wir warteten und blieben kampfbereit; diese erzwungene Untätigkeit marterte uns. Ganz plötzlich griffen sie tatsächlich an – sie waren wirklich Krieger der Wildnis. Nicht einmal ich hatte sie kommen gehört. Rund um das Gehöft tauchten dunkelhäutige Männer auf, hinter Büschen, aus dem hohen Gras, schlammbeschmiert aus dem Morast, die Dünen herunterrutschend. Wir sahen die schattenhaften Bewegungen. Der Kampf würde sich auf dem Bauerngut abspielen. Zakanza und ich warfen uns einen kurzen Blick zu. »Jetzt glaubst du es, Horus des Horizonts?« »Ich brauch’s nicht zu glauben. Ich seine es!« Ich legte einen Pfeil mit dicker Spitze auf die Sehne, sprang aus der Türöffnung und zog die Sehne bis ans Ohr. Dann zielte ich auf eine Stelle zwischen Sumpf und Kornfeld und löste die Finger. Die Sehne schlug hart gegen den linken Unterarmschutz, der Pfeil heulte durch die Luft und bohrte sich in die Brust eines Mannes, der eine riesige Keule
schwang. Es gab einen donnernden Krach. Die Detonation zerfetzte den Angreifer und war eine Art Signal. Von drei Seiten tauchten unsere Bogenschützen auf, schoben sich aus ihren Verstecken und schossen gezielt ihre Pfeile ab. Ich sah hier und dort Angreifer zusammenbrechen. Andere rannten weiter und feuerten sich gegenseitig mit heiseren Schreien an. Aber jetzt sprangen andere Krieger auf, warfen ihre Mäntel zur Seite, wirbelten auf die Beine und bildeten dichtgedrängte Gruppen. Binnen weniger Atemzüge waren die stürmenden Angreifer niedergeschlagen, getötet oder verwundet. Pausenlos zischten die langen Pfeile über das Gras und die Halme des Getreides. Die Angreifer rissen die Arme auseinander, schleuderten ihre Waffen in die Luft, brachen strauchelnd zusammen. Es waren mindestens hundertzwanzig Männer mit dunkler Haut, schwarzem, gekräuseltem Haar und in rasender Angriffswut. Hin und wieder entging einer den Pfeilen und rannte im Zickzack zwischen den Soldaten hindurch. Einer unserer Männer hob seinen Schild, schwang seine Keule und schlug zu. Wurfspeere flogen aus kürzester Distanz aus den Büschen und bohrten sich in die schwarzen Körper. Zakanza schoß langsam und überlegt. Jeder Schuß von seiner Bogensehne traf einen Wüstennomaden oder einen Mann des schwarzen Kolosses. Ich hob eine Hand an den Mund und schrie: »Ich brauche einen Gefangenen!« Ptah-Sokar schlug mit seinem Streitkolben gegen den Schild. Er rannte aus der Masse seiner Soldaten hervor, die geschlossen anrückten. Sie bildeten einen gestaffelten Ring, der das Gebiet des Bauernhofs umschloß. Ruhig und diszipliniert, die Schilde vor den Gesichtern, Speere und Streitkolben vorstreckend, kamen sie näher. Sie wirkten drohend in ihrer kalten Entschlossenheit, well sie keine Gefühle zu zeigen schienen. Ihre Gesichter waren regungslos. Hinter Ptah-Sokar kamen ein Dutzend Männer mit Streitkolben. Sie bildeten in schnellem Lauf eine Kette, näherten sich einigen Überlebenden, die sich noch im Kampf befanden. Im Nu waren sie umzingelt. Ich sah nur ein kurzes Durcheinander von Waffen, Armen und Körpern, dann trennten sich unsere Soldaten und
wichen zurück. Drei Fremde lagen zusammengekrümmt und entwaffnet im niedergetrampelten Korn. »Bringt sie hierher!« dröhnte die Stimme Zakanzas. Der Kampf war so gut wie zu Ende. Die Soldaten begannen, Tote und Verwundete zu entwaffnen und zusammenzutragen. Sie zerrten sie aus den Feldern, aus dem Sumpf und unter den Büschen hervor und warfen die Toten auf einen Haufen. Ptah-Sokar schleppte mit seinen Leuten die Niedergeschlagenen herbei und warf sie vor dem Haus zu Boden. »Hier sind sie!« Er hob die Hand, murmelte Befehle, deutete hierhin und dorthin. Zwei Soldaten rannten lost Die Männer, die vor unseren Stiefeln lagen, bewegten sich stöhnend. Ich wandte mich an Zakanza und fragte leise: »Was kannst du mir sagen?« Er riß seinen Blick von ihnen los und murmelte so leise, daß es nicht einmal unsere Soldaten verstanden. »Diese Menschen leben als Nomaden entlang des Flusses. Die Stämme jagen jenseits des zweiten Katarakts. Da sie von sehr wenig leben und im Gras schlafen können, ist es leicht, ungesehen die Grenze zu passieren. Nicht wahr, du Wurm?« Er trat einen der Gefangenen in die Rippen. Der Mann stöhnte auf. Die Soldaten kamen mit Ledereimern und schütteten kaltes Wasser in die Gesichter der Männer, einem älteren und zwei jüngeren Männern mit scharfen Gesichtszügen. Sie wirkten verkniffen und grausam; ihre Furcht wurde von Trotz überdeckt. Ptah-Sokar schwieg, betrachtete nachdenklich jeden Teilnehmer dieser Szene und sagte in beherrschtem Tonfall: »Steht auf. Ihr lebt, alle anderen sind tot. Wir können es schnell ändern, aber ihr würdet sehr langsam sterben. Eure Seelen werden in die Körper von Schakalen und Schlangen schlüpfen. Ihr seid Krieger des schwarzen Kolosses!« Sie kamen schwankend in die Höhe und blieben stehen. Der ältere mit langen Reihen kleiner Schmucknarben starrte mich herausfordernd an. Zakanza-Upuaut lehnte sich gegen die Lehmmauer des Hauses, dann deutete er auf den Boden und zischte drei Worte einer rauhen Sprache. Die Männer zuckten zusammen und fielen auf die Knie. Ihre Gesichter waren grau vor Angst.
»Wir sind die Soldaten des großen Gottkönigs.« Zakanza sprach ruhig und bestimmt. »Männer des Krieges. Aber wir brennen nichts nieder, töten keine Bauern, vergewaltigen nicht. Die Hunde des schwarzen Kolosses kämpfen auf diese Weise. Was habt ihr dazu zu sagen?« Die Jüngeren schwiegen. Der erwachsene Mann stieß hervor: »Der schwarze Koloß ist mächtig, er ist klug und wild in seiner Wut. Er wird die Romet-Städte niederbrennen und euch versklaven.« »Das klingt vielversprechend«, sagte ich. »Willst du sterben oder weiterleben, Mann?« Er zuckte mit den Schultern. Für ihn war sein Schicksal besiegelt, er hatte kaum noch Hoffnung. »Er will leben wie jedermann«, sagte Ptah-Sokar. »Falls wir es ihm gestatten.« »Hör zu«, sprach ich ihn an. »Du sollst weiterleben. Wir lassen dich frei. Du wirst zu deinem Herrn gehen und ihm sagen, daß Atlan-Horus ihn finden wird. Dann werden alle Männer und jungen Frauen in die Sklaverei gebracht. Die Krieger des schwarzen Kolosses sterben, oder die Soldaten schneiden ihnen Hände und Ohren ab. Geh zu dem schwarzen Koloß und sage ihm dies.« Er starrte mich ungläubig an. Ptah-Sokar zischte: »Zu Boden, Hund!« und vollzog mit dem Dolch eine blitzschnelle Handlung von kalter Grausamkeit. Schreiend warf der Mann seine Arme nach vorn und schlug zitternd mit der Stirn auf den Boden. Die anderen sprangen wimmernd zur Seite. »Lauf um dein Leben. Die Bogenschützen werden dich nicht verfolgen. Sag dem schwarzen Koloß, was du ihm sagen sollst.« Er stand auf, sah sich ungläubig um und raste stolpernd davon, in Richtung auf die Wüste. Zweimal brach er zusammen, riß sich hoch und rannte weiter. Die jüngeren Gefangenen lagen zitternd auf dem Boden. Ptah-Sokar deutete auf ihre Nacken und erklärte: »Von ihnen werden wir den Rest erfahren. Sie sagen uns, was wir wissen wollen. Wir sollten diese… Befragung verschieben, bis wir in Buhen sind.«
»Einverstanden«, antwortete ich. »Werft die Toten in den Sumpf oder in die Wüste. Die Waffen, wenn sie gut sind, können wir gebrauchen. Die Verwundeten sollen mitgeschleppt werden.« Zwei Stunden später waren wir abmarschbereit. Wieder bewegte sich der Zug nach Süden, verließ die zerstörten Felder des Bauern und folgte kaum sichtbaren Pfaden entlang des Hapi. Etwa zwanzig Gefangene schleppten sich, an lange Seile gefesselt, hinter den Tragtieren dahin. Alle anderen waren tot. Aus welchem Grund der schwarze Koloß den Angriff befohlen hatte, konnten weder Ptah noch Zakanza oder ich herausfinden. Es gab nur eine Erklärung: Er opferte Männer, um uns zu sagen, daß wir uns in seinem Herrschaftsgebiet befanden. Unsere Späher entdeckten zwischen der Festung und dem Bauernhof keine einzige der schwarzen Statuen mehr, weder hoch in den Dünen noch am Ufer des Flusses. Gegen Abend kamen die Boten zurück. Sie sagten erleichtert und fröhlich, daß die Herrin der Festung vor Freude in die Hände geklatscht habe. Nebkaura erwartete uns. Die Tore der Festungsstadt waren weit für uns geöffnet. Alles sei bereit.
21. Auch diese mächtigen weißverputzten Mauern waren von Sklaven, Bauern und freien Handwerkern errichtet worden. Es bedurfte nur eines Befehls, und der organisierte Staat arbeitete wie die winzigen Wesen im Inneren eines Ameisenhaufens. Ein Übermaß an Nahrung aller Art sicherte das Leben der Baumeister, Soldaten und Künstler, und selbst in der wüstenhaften Savanne, kurz vor dem WasserGranitirrgarten des Zweiten Katarakts waren Festungen entstanden: Iken oder Buhen. Männer wie Ptah-Sokar, ich oder ZakanzaUpuaut, der aus Wawat oder Kusch kam, lebten auf Kosten von hundert Bauern. Also mußten wir jene Menschen schützen, und wenn wir erst einmal genau wußten, wer sich Schwarzer Koloß nannte, konnten wir verhindern, daß Bauern totgeschlagen, ihre
Häuser verwüstet, die Frauen geschändet und die Herden fortgetrieben wurden. Rauchsäulen am Himmel, eine breite, sorgfältig angelegte Straße, Palmenwälder und Schiffe auf dem Hapi zeigten uns, daß wir dem ersten von sieben gewaltigen, stadtähnlichen Festungsbauwerken näher kamen, von einem Graben und zehn Ellen dicken Mauern umgeben, die, so sagte Zakanza-Upuaut, auf Fundamenten standen, die fast ein Jahrtausend älter waren. Es würde Abend oder Nacht werden, ehe man uns von den riesigen Mauern sah. Inzwischen hatten wir Boten geschickt, und Späher der Festung hatten uns längst entdeckt. Je mehr wir uns näherten, desto mehr Zeit und Gelegenheit hatte ich, die wuchtige Festung anzustarren. Sie stand auf der Grenze zwischen Wüste und Wasser, beherrschte Hapiufer, Wäldchen und Wüste und war ein unübersehbares Zeichen der Macht von Sesostris und Amenemhet. Die Festung war halb in die Wüste, halb ins grünende Gebiet hineingebaut. Hier war die Straße übersichtlich, auf einem kleinen Damm erbaut, vor dem Schwellen des Flusses geschützt. Beide Gespanne fuhren auf der Piste nebeneinander; als die Straße zwischen dem Buschwerk hervorkroch und schnurgerade wurde, rief Ptah-Sokar plötzlich: »Die Ehre ist zu groß, well wir zu schnell gesiegt haben. Die ganze Stadt scheint uns dringend zu erwarten!« Er deutete nach vorn. Aus dem untergehenden Gestirn loderte letztes Licht und tauchte die Mauern in helles Rot. Die Soldaten hinter uns begannen fröhlich zu schreien und hämmerten ihre Waffen gegen die Schilde. Das Tor öffnete sich, lange Reihen von Menschen kamen heraus, die langstielige Fackeln trugen. Eine Doppelreihe aus schwelendem Rauch baute sich auf zweihundert Schritt Länge am Rand der Böschung auf. Die Leute fingen begeistert zu schreien an. Selbst die Pferde warfen die Köpfe hoch und wieherten. Wir stemmten uns gegen die Zügel. »Es sieht so aus, Freunde«, sagte ich. Meine Neugierde auf diesen weiblichen Stadtherrscher war seit dem Giftanschlag gestiegen. In wenigen Augenblicken hatte ich die endgültige Gewißheit.
»Begeht keinen Fehler. Bei Atum, der schwarze Koloß darf nicht unterschätzt werden. Hinter dem Katarakt gibt es viele gute Jäger. Sie werden kämpfen, wenn er es will.« »Ich vergeße es sicher nicht«, versprach ich. Wir erreichten die ersten blakenden Fackeln. Ein ungeheures Lärmen erhob sich. Auf den Mauern tauchten Menschen auf, schwenkten Tücher, Fackeln und Waffen. Augenscheinlich erwarteten sie uns dringlicher, als wir angenommen hatten. Als die Gespanne die Eckpfeiler des Tores erreichten, hielten wir die Tiere an. Eine große Frau kam uns entgegen, die Zeichen ihrer Herrschaft in den Händen, in ein langes Kleid gehüllt, mit vergoldeten Sandalen. Zakanza-Upuaut knurrte: »Ganz ohne Zweifel ist’s Nebkaura, die uns bis zum Stadttor entgegenkommt. Eine ungewöhnliche Ehrung, Atlan-Horus.« »Sie gilt uns allen«, sagte ich leise. Ein dumpfes Gefühl des Unbehagens ergriff mich, als ich das Gesicht der Romet sah. Für mich war es, als öffne sich ein gewaltiges Tor einen Spalt breit. Dieses Gesicht kannte ich! Woher? Wann? Unter welchen Umständen? Wie konnte dies sein? Mein Extrasinn rief drängend: Warte! Es wird alles geklärt. Nebkaura blieb stehen. Wir sprangen aus den Wagenkörben. Nebkauras Blicke glitten von einem Gesicht zum anderen und blieben dann an mir hängen. Sie sah aus, als versuche sie sich zu erinnern. »Willkommen, ihr alle. Willkommen, Atlan-Horus! Du bist es, nicht wahr?« »Jawohl, Herrscherin von Buhen. Wir kamen, um das Land zu befreien. Tausendfünfhundert Männer unter Waffen.« Sie lächelte. Wieder folterten mich Erinnerungen, die mit Gewalt unterdrückt wurden. Wie aus weiter Entfernung hörte ich die hinreißend schöne Nebkaura sagen: »Von denen du, Atlan-Horus, der wichtigste bist. Wir haben Quartiere und Essen vorbereitet. Ich sollte deinen Namen kennen. Ich weiß, daß ich dich selbst kenne. Wie kann das sein?« Meine Freunde schienen zu merken, daß ich unsicher wurde. Ptah-Sokar winkte die Gespanne zur Seite und rief Kommandos, die ich nicht bewußt verstand. In mir tobte ein lautloser Kampf. Ich
bewegte mich zur Seite, während die Soldaten in engen Reihen an uns vorbei in die Stadt hineinmarschierten. Sie waren froh, in der Bequemlichkeit einer Stadt mit Tempeln, Brunnen und Herdfeuern zu sein. Ich konnte meine Augen nicht vom Anblick der Festungsherrin lösen. »Ich weiß es nicht«, sagte ich stockend. »Mir geht es nicht anders. Ich kenne dich, und wenn wir uns aus den Träumen kennen. Jemand stahl meine Erinnerungen.« Die schlanke Schönheit starrte mich entsetzt an, dann keuchte sie: »Auch meine Erinnerungen wurden gestohlen. Ich wachte auf und war, was ich bin. Ich wußte, was ich zu tun hatte.« Als der winzige Lichtstrahl zu überwältigender Helligkeit wurde, kamen Erinnerungen zurück. Sie waren mit brutaler Plötzlichkeit abrufbar und so bewußt wie etwas, das gestern geschehen war. Ohne mich wehren zu können, bemerkte ich, daß es Asyrta in diesen langen Augenblicken ebenso erging. Das vorübermarschierende Heer lenkte uns davon ab, zu erkennen, was in uns vorging. ES beseitigte die Sperren! ES zeigte die Stunden und Jahre, in denen wir miteinander auf der Oberfläche von Larsaf Drei gelebt und gekämpft hatten. Die Karawane der Wunder, mit der wir den Landweg nach dem Osten des Kontinents geöffnet hatten! Die Stadt, die wir erbaut hatten, die Fahrten unserer seetüchtigen Schiffe, der Kampf gegen das schwarzhäutige Monstrum auf der fernen Insel, zu der wir einen Weg geöffnet hatten. Und jetzt erkannten wir einander in Buhen, unterhalb der Stadtmauer, als Gefährten langer Jahre. »Ja«, sagte ich. »Du bist es wirklich, Asyrta-Maraye.« Sie senkte den Kopf und schwieg, schließlich flüsterte sie: »Und du bist Atlan oder Acran. Ich habe meine Erinnerungen gesehen wie das Bild einer fernen Landschaft.« Ein schauerliches, anhaltendes Gelächter ertönte lautlos in meinen Gedanken. Ich war überzeugt, daß auch Asyrta-Maraye-Nebkaura dieses Lachen hörte und spürte. ES lachte mit seinem abwegigen Humor. Wieder wurden Menschen manipuliert. Mindestens zwei Menschen. Dann sprach ES, deutlich und mit unverkennbarer lautloser Stimme.
»Arkonide Atlan! Dieselben Worte richte ich auch an deine schöne Gefährtin. Ihr habt euch erkannt. Richtig. Ihr seid verantwortlich für den Kampf gegen den Koloß. Ihr müßt siegen, denn der Koloß ist in der Lage, die Zivilisation des Landes zu ruinieren. Noch ist Amenemhet nicht fähig, Hunderttausende halbverrückter Wilder, die bis zum letzten Blutstropfen kämpfen, abzuwehren. Deshalb habe ich euch geweckt. Es ist wichtig. Ich weiß, daß ihr mich verflucht. Größere Interessen stehen auf dem Spiel.« Die unhörbare Stimme, die Wahrheit, die ich erkannte, die Brandungswellen aus Erinnerungen, die über mir zusammenschlugen dieser gewaltige Ansturm aus Informationen, Gedanken, widerstrebenden Empfindungen und Erklärungen erschütterte meinen Körper. Für einen Augenblick verlor ich fast das Bewußtsein. Ich bemerkte, daß die drei Freunde zwischen den Pferden im Schatten der Mauer standen und uns aufmerksam beobachteten. »Hat ES etwas mit dem vergifteten Wein zu tun?« fragte ich. »Wir schickten Boten zu dir, mit dem Befehl, den Vorfall zu untersuchen.« »Ich werde dir beweisen, daß es die Geißel des Hapilandes gewesen ist«, sagte die Herrscherin. Hier, in der Umgebung, die ihr gemäß war, gewann die hinreißend begehrenswerte Frau eine Würde und ein Selbstbewußtsein, die mir neu waren. Im Moment war sie alles andere als die Herrscherin über Leben und Tod in der Festung Buhen. »Ich glaube dir. Ich habe von nichts gewußt. Ich weiß auch jetzt nicht viel mehr. Ich bemühe mich, zu tun, was sie von mir verlangen. Die Fahrt nach Punt und der Kampf gegen den schwarzen Koloß.« Asyrta sagte halblaut und in beruhigendem Tonfall: »Du wirst bei mir im großen Haus schlafen. Wir werden alles besprechen, vieles klären und uns lieben. Wir kennen uns besser als jedes andere Paar dieser Welt, wir haben ein Jahrhundert voller Erinnerungen. Komm! Deine Freunde warten.« Ich nickte schweigend. In mir überschlugen sich Gedanken und Empfindungen. Ich war wie gelähmt und gehorchte ohne eigenen Willen.
Wir standen plötzlich steif da. Asyrta schien zu lauschen – wie ich. Aber wir hörten nichts. Dann, wie ein Schlag, fuhr die Stimme des unfaßbaren Wesens durch unseren Verstand. »Du hast recht, Arkonide. Du, der du dank meines kostbaren Geschenks noch immer lebst und den Körper eines fünfunddreißigjährigen Barbaren hast, wirst abermals tun, was gut für diesen Planeten ist. Zusammen mit deiner weise gewordenen Geliebten.« War es eine aberwitzige Überlegung, oder konnte ich aus dieser Bemerkung etwas wie Neid heraushören? Mit dem Vaterton von Ironie fuhr die Geisterstimme fort: »Von Wanderer, meinem Kunstplaneten, ist ein Androide geflüchtet. Es dauerte zu lange, bis ich ihn wiederfand. Es ist der schwarze Koloß, genannt Dancredi, auf seine Art wahnsinnig. Seine Lebensauffassung heißt kämpfen und siegen. Es gibt kaum jemanden, der stärker, schneller und gerissener ist, wenn es um Kampf geht. Ein wenig zivilisierter Barbar; wie eine Maschine. Nicht leicht zu töten, aber einer deiner Pfeile dürfte genügen. Falls er dich nahe genug herankommen läßt. Er erfuhr von dir und schickte das Gift; halte dich nicht mit falschen Verdächtigungen auf. Du sollst ihn nicht nur für Amenemhet, dessen Reich in großer Gefahr ist, sondern auch für mich finden und töten.« Jetzt kannte ich den Grund meines Hierseins und meinen Auftrag. Einverstanden. ES lachte donnernd und sprach weiter: »Finde und töte Dancredi. Er wird es dir leichtmachen, denn inzwischen weiß er, daß das Heer sich seinen Leuten und ihm nähert. Er wird dem Kampf nicht ausweichen, denn er hält dich für einen Sterblichen. Er selbst besitzt ein Überlebenspotential, das nicht viel kleiner ist als deines, Arkonide. Als Dank und Belohnung für die Kämpfe und die Erledigung dieser Zwangsaufgabe werde ich tun, was ich versprach: Schließlich sollst du zwei Dutzend Schiffe nach Punt führen und von dort voller Schätze zurückbringen. Nun, Freund Atlan-Horus, Wächter des Planeten und Freund des Gottkönigs in Itch-Towi, nimm all deinen Mut zusammen, befiehl deinen treuen Soldaten und vergiß den Groll gegen ES, den besorgten Spieler, der dich und Asyrta wie Spielfiguren bewegt. Rette wieder einmal einen Teil deiner Welt.«
Ich starrte, ohne sie wirklich zu sehen, die Mauern und die wuchtigen Torflügel der Festungsstadt an. Fische sprangen aus dem breiten Wassergraben. Die Sonne brannte auf die weißen Mauern herunter; jedes große Sandkorn unter dem Kalkanstrich warf harte Schatten. Asyrtas Gesicht war bleich. Schweiß stand auf ihrer Stirn. »Dancredi würde nicht zögern, eine Kultur auszulöschen, an der mir und dir gleich viel liegt. Ich habe sie nicht weniger beeinflußt als du. Amenemhet wird dir ein weiteres Geschenk geben, das dich nicht unbeeindruckt bleiben lassen wird. Mehr davon wirst du nach deinem Feldzug erfahren. Dir habe ich das Amt des planetaren Henkers zugedacht - vorübergehend.« Wieder ein kurzes Gelächter. Dann breitete sich Stille über meine rasenden Gedanken. Ich erreichte neben der Herrscherin Asyrta-Nebkaura mein Gespann. Ptah-Sokar blickte mich schweigend an, streckte den Arm aus und zog mich in den Wagenkorb. Zakanza-Upuaut führte die Pferde am kurzen Zaum. Wir legten die letzten Ellen auf dem Straßendamm zurück, die Räder klirrten über die Steinschwelle. Dann schlossen sich hinter uns dröhnend die Torflügel. Wieder fühlte ich eine Schwäche; sie ging schnell vorbei. Es waren nicht Schrecken, sondern Erleichterung und die Last zusätzlichen Wissens und neuer Kenntnisse. Ich hatte die Erklärung, aber würden die Zehntage und Monde dadurch leichter werden? Wir saßen uns auf dem Dach an einem kleinen Tisch gegenüber. Vom Hapi, der breit und still, fast wie ein See, zwischen sandigen und felsigen Ufern dahinfloß, kam ein kühler Nachtwind. Asyrta und mich hatte ein wahrer Taumel von Mitteilungsdrang ergriffen. Der Mond durchfurchte den Himmel voller riesiger, starrer Sterne. Der Tisch war mit Dutzenden Schalen und Näpfen, Brettchen und Körbchen gedeckt, lautlos bedienten uns junge, schwarzhäutige Sklavinnen mit kleinen Kegeln duftender, schmelzender Salbe auf der Stirn. Rund um uns wehten dünne Stoffe, in deren Maschen sich die Nachtschwärmer verfingen. Viele Flammen aus Öllämpchen beleuchteten die Umgebung und schufen einen Lichtkreis über der Stadt, die aus Vierecken zu bestehen schien, in deren Zwischenräumen sich Fackeln bewegten. Ich ließ mir von Asyrta
berichten, was Dancredi angerichtet haste. Langsam kam ein wenig System in seine Handlungen. »Und wie ist es dir ergangen, Liebste?« fragte ich schließlich. Sie streichelte meine Hand. Geräuschlos servierten Sklavinnen. »Ich war plötzlich hier, wußte alles, hatte genügend Arbeiter und ging daran, die Lage zu verbessern. Sümpfe ließ ich trockenlegen, Mauern erhöhen, Bäume pflanzen, Kanäle ziehen und Felder anbauen. Ich habe tüchtige Verwalter und Handwerker.« »So ist es auch bei mir. Aber jetzt, scheint’s, habe ich ein Ziel. Ich muß Dancredi finden und vernichten. Und dann, dies scheint ein Vergnügen zu werden, die Fahrt ins Goldland Punt.« »Ich wollte, ich könnte mit dir. Weißt du, wie damals, mit der ZEDER?« Ich wußte alles, jede winzige Einzelheit. Innerhalb der von ES gezogenen Grenzen hatte ich ein photographisch exaktes Gedächtnis. Man brachte uns, nachdem der Tisch geleert war, Bier und Wein, der nicht besonders gut war. Aber auch nicht giftig. Wir saßen auf dem Dach eines geräumigen Hauses; es war kein Palast, sondern ein weiträumiger Fachbau. Die Anwesenheit von fünfzehnhundert Soldaten hatte die Festung in einen summenden Bienenkorb verwandelt. Mich störten die lauten Schreie, die diese vibrierende Ruhe unterbrachen. »Diese Nacht«, sagte Asyrta leise, »haben wir allein für uns. Schon als ich zum erstenmal deinen Namen hörte, wußte ich, daß wir uns lieben würden. Jetzt ist alles leicht geworden.« Ich schlug gegen meine lederne Rüstung, lächelte sie an und fand immer mehr Freude an ihren Gedanken. »Dann hattest du sicher genügend Zeit, ein Bad und alles andere vorzubereiten, was sich mit dieser Vorstellung verbindet?« »Sicher. Alles, woran du denkst. Sogar kaltes Bier.« »Verlieren wir keine Zeit!« In einem Baderaum, dessen Wände, Boden und die Vertiefung aus Alabaster waren, badeten mich drei kichernde Mädchen. Ein Nubier massierte mich mit betäubend riechendem Öl, danach entfernte ich meinen Bart mit der Spezialpaste und schlang ein
blütenweißes Hüfttuch um meine Lenden. Eine junge Sklavin wies mir den Weg in den Schlafraum der jungen Herrin von Buhen. Die folgenden Stunden waren denkwürdig. Wir waren gleichermaßen aufgeregte und unsichere Liebende, Freunde und Gefährten beschwerlicher langer Wege, die sich seit einer Ewigkeit kannten, wir waren leidenschaftlich und ironisch, Vertraute und Fremde. Eine nie gekannte Harmonie erfüllte uns, vielleicht nur Illusion, aber zweifellos eine starke Illusion. Irgendwann zwischen Nacht und Morgen flüsterte Asyrta in meinen Armen: »Ich möchte mitfahren, nach Punt, so wie damals, Liebster.« Ich lehnte mich gegen die seidigen Leopardenfelle an der Wand und erwiderte: »Nichts wird sein wie damals. Aber, wir beide auf der Fahrt nach Punt - vielleicht ist es die letzte Möglichkeit für uns, der rasenden Zeit etwas Glück zu stehlen. Ich werde es versuchen. Vielleicht ist es möglich. Warte.« Noch immer schrie das geschundene Tier irgendwo in der Festung, sonst herrschte Ruhe. Wir hörten die Schritte der Posten auf den Mauern und die Rufe, mit denen sie sich verständigten. Wir waren glücklich und sehr erschöpft, als der Morgen dämmerte. Es war kein Leben mehr in den zwei Körpern. Süßlicher Geruch und der Dunst des Feuers hingen in der Luft. Neben mir standen Männer mit bleichen Gesichtern. Ich sah die Stelle, mit denen Fußgelenke an Torpfosten gebunden waren, die Holzstäbe im Boden, an die Handgelenke gefesselt waren, sah den nassen Lehm des Stalles; man hatte die Opfer mit kaltem Wasser übergossen. Schnitte, Brandwunden, Striemen und getrocknetes Blut. Ich drehte mich um und begegnete dem Blick Ptah-Sokars. »Das also waren die Schreie in der Nacht. Mein Freund… ich glaube nicht, daß mir gefällt, was ich seine. Wer hat die Verantwortung?« »Ich«, gestand Ptah-Sokar kalt. »Und ich«, fügte Zakanza hinzu. Sie und ihre Bogenschützen hatten die Gefangenen zu Tode geschunden. Tadelte ich sie zu nachdrücklich, setzte ich ihre Autorität aufs Spiel. Plötzlich hatte die
Situation wieder die richtige Dimension: Wir befanden uns im Krieg, den nur eine Partei überleben konnte. Ich hob die Schultern und fragte: »War das nötig?« »Ja. Wir wissen jetzt, was sie wußten. Es war sehr viel. Wir haben Hunderten Soldaten das Leben gerettet.« »Was haben sie verraten?« »Die Zahl der Gegner. Die geheimen Wege, auf denen sie über die Grenzen kommen. Die Brunnen. Den Ort, wo sich der Koloß versteckt. Seine Pläne, wie er sie ihnen erzählte. Sie wissen über uns Bescheid. Wir sollten einen Plan machen, Horus des Horizontes!« »Will der Koloß die Festung angreifen?« »Nein. Er will an die Stelle des Gottkönigs treten und über das Land herrschen. Er ist dabei, die ersten Truppenführer aufzustellen. Sein Plan ist, überall gleichzeitig anzugreifen.« »Überall?« fragte ich mehr als verwundert. Dieser Versuch zeigte eine gewisse gigantische Vermessenheit, aber er schien nicht erfolgversprechend zu sein. »Ja. Vom Norden bis nach Buhen. Oder in anderer Richtung. Seine Truppen werden sich aus den Bauernhöfen ernähren.« Ich ging hinaus. Die warme Luft des Morgens, obwohl geschwängert vom Rauch nächtlicher Feuerstellen und vielfältigen Gerüchen genossener Speisen und Getränke, war geradezu ein Genuß. Ich lehnte mich gegen den Stamm einer Palme und sagte: »Auf dem Marsch und heute abend, wenn wir im Palast essen, werden wir die Einzelheiten besprechen. Morgen im Morgengrauen brechen wir auf. Die Männer sollen sich satt essen und mitnehmen, was sie brauchen. Eines will ich: Wir müssen schnell sein. Also wenig Troß. Das ist deine Aufgabe, Ptah-Sokar. Du, Upuaut, kommst bitte mit mir. Ich habe viele Fragen an dich.« Ptah-Sokar senkte voll Erleichterung, daß der erwartete Tadel ausgefallen war, den Kopf und murmelte: »So soll es geschehen!« »So wird es geschehen, Heerführer!« sagte ich und ging mit Zakanza-Upuaut in die Richtung des Marktplatzes. Viele unserer Soldaten befanden sich im Tempel und vor den Stufen des säulengeschmückten Heiligtums. Ich hoffte, daß ihre Bitten und
Gebete erhört werden mochten. Als es Abend wurde, hatten wir einen guten Plan ausgearbeitet, ich war sicher, daß wir Erfolg haben würden. Du mußt einfach Erfolg haben, Arkonide! sagte der Extrasinn. Nun betraten wir ein leeres Tal voller Dattelpalmen und riesiger, dunkelkroniger Sykomoren. Dürres Gras teilte sich schwankend, als die Soldaten in langen Reihen hindurchmarschierten. Auch hier bildeten Vegetation und Wüste eine Grenze, so scharf wie die Schneide einer Streitaxt. Unbekannte Büsche, riesiges Schilfgewächs und die Reste verwilderter Felder erstreckten sich zu beiden Seiten des Flusses. Blaues Wasser, smaragdgrüne Vegetation, platinfarbene Wüste. Immer wieder wölbten sich felsige Kanten hoch und grenzten das Tal ab. Von Zeit zu Zeit warf der Schritt eines Bogenschützen oder ein Windstoß eine lange Sandfahne über die Kante, die wie ein Wasserfall zerstäubte. »Jetzt sind wir den elften Tag jenseits des zweiten Katarakts. Ich denke, es ist richtig, was die Gefangenen gesagt haben.« »Sie hatten wohl wenig Möglichkeiten euch anzulügen«, entgegnete ich. Zakanza-Upuaut deutete auf die andere Seite des Flusses. »Wenn es eine Möglichkeit gäbe, dort hinüber zu kommen«, sagte Ptah-Sokar. »Aber der Koloß hat dasselbe Problem.« Die Verfolgung war in Hunderte von Einzelkämpfen aufgesplittert. Immer wieder waren Teile der Truppe von Gruppen angegriffen worden. Steine und Pfeile heulten durch die Luft, unsere kleinen, schnell beweglichen Verbände umzingelten die Angreifer und machten sie nieder. Immer wieder stießen wir auf deutliche Spuren: Karawanen, die aus dem Herzen des riesigen Kontinents kamen oder vom fruchtbaren Dreieck aus dorthin zogen, waren überfallen und ausgeplündert worden. Ganz eindeutig war, daß sich unsere dreißig Abteilungen von rund fünfzig Männern schneller bewegen konnten - wir alle befanden uns im feindlichen Land. »Wir kommen Dancredi näher. Nur noch Tage kann es dauern«, versicherte ich. Immer weiter, auf unkenntlichen Wegen, entlang des Flusses nach Süden. Die Wüste war ohne menschliche Spuren. Wir durchquerten eine Zone, die nur von scheuem Wild bevölkert
war, einer der idyllischsten Plätze, die wir je gesehen hatten. Vögel, Schmetterlinge, alle denkbaren Insekten, Gazellen, Antilopen, Ketten von Wasservögeln, die im Schilf raschelten – ein trügerischer Friede. Wir stolperten jeden Tag über erloschene Feuerstellen, sahen zerfetzte Skelette überfallener Opfer und erkannten, daß hier Dancredis Horden die wahren Herrscher waren. Tag um Tag verstrich; wir fingen Wegelagerer und töteten sie im Kampf. Wir waren vorbereitet, denn die Geständnisse der Gefolterten hatten uns Entfernungen ebenso verraten wie die Lage des Verstecks. Wir durchkämmten das Gebiet mit der Gründlichkeit von Fischern, die Netze schleppten. Es war, wie es die Gefolterten gesagt hatten: Der Koloß erwartete uns in seinem Gebiet. Langsam drangen wir von. In den Nächten lagerten wir an kleinen Feuern, umgeben von Wachen. Wir schossen während des Marsches das Wild, das wir spät abends an den Spießen brieten. Als wir im Morgengrauen, Tage später, über Felsen, Geröll, Sand und staubige Grashalme das Tal verließen, trafen die ersten Sonnenstrahlen vor uns auf die Felsen. Wir sahen staunend fünf riesige Statuen; diesmal zeigten sie nicht den Körper des Kolosses, sondern seinen riesigen Kopf und die Schultern. Rund, massig, mit kaltem und drohendem Ausdruck, mit wahrer Meisterschaft aus mannsgroßen schwarzen Felsen herausgemeißelt, von Tau bedeckt. Es schien, als würde der halb geöffnete Mund wüste Drohungen gegen uns schleudern. Ein Schaudern erfaßte mich, ich holte tief Luft und murmelte: »Wir sind da. Er sorgte dafür, daß wir ihn nicht verfehlen.« »Dies sind fünf Köpfe. Aber auch er kann nur einmal sterben«, zischte Zakanza-Upuaut wütend. »Wie jeder von uns auch!« rief Ptah-Sokar und riß den Arm hoch. Die Gespanne setzten sich in Bewegung. Nach unserem Plan schwärmten die Männer aus; jede Abteilung hatte einen Krug mit Glut bei sich, die unter Asche verborgen war und nur entfacht zu werden brauchte. Leise wurden Befehle weitergegeben. Der zahlenmäßig kleine Troß fiel zurück, nachdem sich die Soldaten sattgetrunken hatten. Wir schwärmten aus und wurden schneller. Überall wurden die ledernen Helme aufgesetzt, die Schilde
hochgenommen, die Waffen fester gepackt. Die Bogenschützen bildeten die Vorausabteilungen. Sie waren schnell und fast unsichtbar. Keuchend zogen die Pferde die Gespanne schräg den Hügel aufwärts. Kalte Entschlossenheit packte uns – alle kampfbereiten Männer. Wir stürmten in langen Reihen den Hügel aufwärts, stießen zwischen Baumstämmen und Sandsteinbrocken hindurch, trampelten Gassen in die hohen Gräser und jagten Vogelschwärme aus dem Uferschilf hoch. Noch zeigte sich kein Gegner. Die Bäuche der Pferde und die Knie der Männer waren naß vom Tau der Gräser. Zwischen den fünf Köpfen brachen wir zwanzig Mannslängen weiter aufwärts über die Kante des Hanges und befanden uns wiederum auf einem ebenen Gelände, voller Gras, Bäume und Büsche. Am jenseitigen Ende, gleichsam als Abschluß dieses Landstrichs, erkannten wir eine senkrechte, von Sprüngen und Vertiefungen durchzogene Felswand, die rechts in hohe Wüstenfelsen überging. Ich riß an den Zügeln, die Tiere standen sofort; ihr Fell war von großen Schweißflecken gezeichnet. »Es könnte eine Falle sein«, sagte ich. »Das ideale Gelände dafür!« Die Felswand war von Hunderten natürlichen Höhlen, Löchern oder langgestreckten Öffnungen durchzogen. In der Mitte führte eine schmale, schräge Rampe aufwärts. Jetzt sahen wir, was wir bisher nur geahnt hatten: Die Gefangenen hatten nicht gelogen. Rechts auf den Felsen tauchten unsere Bogenschützen auf. PtahSokar wartete mein Nicken ab, dann rief er seine Befehle. Augenblicklich tauchten die Bogenschützen ihre dick umwickelten Pfeilspitzen in die Feuertöpfe. Pfeile schnellten heulend von den Sehnen, beschrieben steile Fugbahnen, der Luftzug entflammte das Material aus Öl und Erdpech. An zwanzig Stellen im Halbkreis flammte Gras auf. Zuerst gab es nur winzige Flammen, die Brandränder entwickelten eigenes Leben und verschmolzen miteinander. Augenblicke später lief eine kniehohe Wand aus Flammen und grauschwarzem Rauch von allen Punkten aus gleichzeitig auf die Felswand zu. Der entscheidende Moment war da. Ich rückte meinen Armschutz aus Leder und Bronze zurecht, zog den Bogen hoch und suchte
einen Pfeil. Fünfhundert Schritte waren es bis zu der Stelle, an der die Rampe den Felsen berührte. Sorgfältig setzte ich die Nock auf die Sehne und sorgte auf dem Wagen für freies Schußfeld. Dann zog ich die Sehne bis ans Ohr, fixierte das Ziel und löste den Griff. Der Pfeil jagte heulend davon; wir versuchten, das Projektil mit den Blicken zu verfolgen. Der Pfeil verschwand nach langem gekrümmtem Fug in einem der größten Felslöcher. Einen Augenblick später gab es eine krachende Detonation, die Teile der Felsbarriere nach außen schleuderte und einige hundert Männer aus ihren Verstecken trieb. »Halt! Bleibt zurück!« schrie der Anführer der Fußtruppen. Unsere Leute schlugen noch immer die Flammen aus, die in unsere Richtung vordrangen. Aus dem niedrigen Wall aus Flammen und Rauch war eine mannsgroße Wand geworden, die prasselnd und heulend weiter vordrang und ein Drittel der freien Fläche bedeckte. Die Felsen wurden von grauem und schwarzem Rauch verdeckt. Immer höher wuchs die Feuerwand und raste auf die Rampe zu. Alles, was sich zwischen dem Wasser auf der linken und den nackten Felsen auf der rechten Seite befand, stand in Flammen. Eine Feuerwalze raste im Halbkreis weiter, hinterließ schwarze Äste und graue Asche der Gräser. Zwischen den Flammen und dem Rauch, der dicht über den Boden dahin kroch, sahen wir Männer aufspringen und flüchten. Selbst zwischen Sandfläche und Felsabsturz rechts sprangen die Männer des Kolosses aus dem Sand und versuchten sich zu retten. Einige unserer Schleuderer ließen die Leder über ihren Köpfen kreisen, lösten die Riemen und deckten die Flüchtenden mit einem Steinhagel zu. Das Heulen der Feuerwalze übertönte die Todesschreie der Getroffenen und die Schmerzensschreie derer, die durch die Flammen und den Rauch flohen. »Sie sehen, daß die Falle nicht zuschlägt!« Zakanza-Upuaut hob seinen Speer. Ptah-Sokar schien gleichzeitig alles um uns herum zu beobachten und schrie: »Wir haben noch lange nicht gesiegt. Halt, ihr Narren! Wollt ihr euch die Füße verbrennen?«
Rauch und Feuer hatten das letzte Drittel der freien Fläche erreicht. Eine Abteilung Bogenschützen stapfte durch das seichte Wasser des Ufers. Wir sahen in der Asche verbrannte Körper liegen. Drei Kämpfer des Kolosses rannten auf uns zu, sie waren blind; ihre Haare brannten. Auf halbem Weg brachen sie schreiend zusammen. Wir warteten noch immer. Unsere Geduld wurde strapaziert, aber wir wußten, daß unsere Flanken durch die Elitesoldaten geschützt waren. Ich stützte mich mit einer Hand auf meinen Bogen und starrte geradeaus. Vor uns erstreckte sich eine große Fläche, mit grauer Asche bedeckt und von schwarzverkohlten Sträuchern durchsetzt. Die Palmenschäfte waren versengt. Das heulende und prasselnde Geräusch erstarb, träge trieben Rauchwolken nach Osten. Ptah-Sokar schrie gellend: »Angriff! Ich will keine Helden, ihr Schakale! Bringt euer Leben zurück nach Buhen!« Die Soldaten schlugen als Antwort gegen ihre Schilde. Ungefähr tausend Männer rückten von. Seit einer Stunde stand die Sonne am Himmel. Unter den Sohlen erhob sich eine gewaltige Aschewolke und trieb langsam ab. Aus Öffnungen im Fels drang Rauch, aber diese natürlichen Zinnen und Mauern hatten sich mit Verteidigern gefüllt. Wieder griff ich nach einem Pfeil und sagte zu Zakanza: »Nimm du die Zügel. Ich habe diese wunderbaren Pfeile…« Ich schoß einen Pfeil nach dem anderen ab, während die Gespanne an der Spitze der Soldaten ebenso langsam vorrückten. Ich schleuderte die Bomben hinter den Spitzen aus Arkonstahl in die Felslöcher. Der erste Pfeil rief eine kolossale Rauchentwicklung hervor. Der Rauch machte in kurzer Zeit besinnungslos. Dann detonierten Druckbomben, die das Innere des Felsens in ein Chaos bewegter Luftmassen tauchten. Und abermals eine Brandbombe, ein Gasgeschoß, eine schwere Spitze, deren ausströmendes Gas würgenden Ekel in den Kehlen erzeugte. Natürlich würden die Felsen einen zweiten Ausgang haben, ein Loch jenseits der Felswand. Dort lauerten unsere Bogenschützen . Als wir die Hälfte des Weges zurückgelegt und eine lückenlose Kette gebildet hatten, wagten die verzweifelten Verteidiger den Ausfall. Hustend, mit tränenden Augen und verbrannten
Gesichtern, ihre Waffen über den Köpfen wirbelnd und sich gegenseitig durch wilde Schreie Mut machend, griffen sie an. Sie strömten die Rampe herunter und bildeten einen Angriffskeil. Ich versuchte vergebens, den Koloß zu erkennen oder einen Mann, der Ähnlichkeit mit ihm haste. Dann schrie Zakanza, lockerte die Zügel und zwang das Gespann vorwärts. Wir wichen im leichten Bogen nach links aus, um unseren eigenen Leuten nicht im Weg zu sein. Der Keil aus schätzungsweise zweihundertfünfzig halb wahnsinnigen Kriegern erreichte unsere Linie. Auch ohne Zeichen oder Befehl zogen sich die Männer zur Seite zurück. Die Verteidiger rannten in vollem Lauf weiter, durchbrachen die Linie, rannten hindurch und liefen in den Hinterhalt der seitlich herumschwenkenden Soldaten, die sie binnen weniger Augenblicke einschlossen und niederschlugen. Leute aus dem Troß tauchten auf und fesselten die Bewußtlosen und Verwundeten. Alles ging rasend schnell. Die Gespanne fuhren Kreise, polterten durch aufstäubende Asche auf die eigenen Reihen zu, dann blieben wir nebeneinander vor der Rampe stehen. Von hinten hörten wir Schreien und Kampfgeräusche. Ein Hagel von Speeren schwirrte aus der Felswand; nur einige Geschosse trafen. »Wir stürmen! Ich bereite es vor!« schrie ich und wählte eine der stärksten Explosionsladungen. Dann schickte ich vom Fuß der Rampe meine Pfeile in jene Löcher und Kammern, die ich bisher verschont haste. Abermals detonierten dort innen die Ladungen. Gas drang in alle Räume und füllte sie aus. Die ersten Krieger rannten aus der Tiefe des Berges hervor, stürzten sich halb besinnungslos über die Brüstungen, prallten an der Rampe ins Sonnenlicht und blieben stehen. Sie sahen sich verwirrt um. Ihre tränenden Augen erkannten nicht, daß sie sich in der eigenen Falle befanden. An einigen Teilen brannten irgendwelche Dinge in den Bergkammern. Der größte Teil des Heeres befand sich wieder dicht hinter uns. Die Schleuderer traten in Aktion und säuberten die Öffnungen von Verteidigern. Ein wüstes Lärmen, Knistern, Klirren und Brechen, durchschnitten von einem vielstimmigen Chor aus Schmerzensschreien, Kommandos, Flüchen und Hilferufen breitete
sich im Tal aus. Durch dieses Chaos heulten immer wieder die gezielten Pfeilschüsse unserer besten Männer. Ptah-Sokar, Zakanza und ich lösten die Gurte und sprangen von den Wagen. Gerade, als ich die Zügel einigen herbeigelaufenen Männern zuwerfen wollte, kam mit einem Satz am oberen Ende der Rampe Dancredi ins Licht. »Wirklich – ein Koloß!« Ich dachte an die Warnung von ES. »Freunde! Her zu mir!« Sie schwangen sich mit mir in meinen Wagen. Ich riß an den Zügeln, das Gespann fuhr einen Kreis, die gepeitschten Hengste nahmen einen wirbelnden Anlauf und stürmten die Rampe hinauf. Obwohl sie schwer zogen, wurden sie schneller. Hinter uns warfen zwei Dutzend Männer ihre kurzen Wurfspeere. Mit hervortretenden Augen sah ich, wie Dancredi ruhig dastand und hintereinander weniger als fünfzehn dieser Geschosse mit der Hand, dem Unterarm oder dem bronzenen Streitkolben, bevor sie seinen Körper berührten, zur Seite schmetterte. Seine Bewegungen waren so schnell, daß meine Augen sie nicht unterscheiden konnten. Der Extrasinn schrie: Eine Kampfmaschine! Denk an die Warnung! Er bringt dich um! Wir hielten uns am springenden Wagen fest. Zakanzas Körper bog sich nach hinter, als er mit dem Speerarm ausholte und zwanzig Schritt vor dem Koloß die Waffe schleuderte. Gleichzeitig hörte ich den trockenen Schlag von Ptahs Bogensehne. Der riesenhafte Mann, nur mit einem ledernen Wams, einem breiten Ledergurt und einer ledernen Hose bekleidet, warf sich vorwärts und zur Seite. Der Speer zischte über seine Schulter hinweg und riß eine fingertiefe Wunde. Der Pfeil drang tief in den linken Oberarm ein. Mit tierischem Heulen ging der Koloß auf die scheuenden Hengste lost Wir sprangen nach hinten aus dem Wagen und fanden mühsam unser Gleichgewicht wieder. Ich ließ meinen Bogen fallen, riß das Kampfbeil aus dem Gürtel und blieb stehen. Der Koloß senkte den Kopf wie ein angreifendes Tier, streckte die blutende Schulter nach vorn und rammte einen Hengst zur Seite, riß die Fesseln des hochsteigenden und auskeilenden Tieres mit den bloßen Händen herunter und schob in einer gewaltigen Kraftanstrengung die drei Tiere über die bröcklige Rampe. Vor
Panik kreischend, rissen die Tiere den Wagen mit, überschlugen sich und verschwanden in einer Wolke aus Sand und Asche in der Tiefe. Von allen Seiten rannten Soldaten auf die Unglücksstelle zu. Rasende Wut packte mich. Sie schwemmte die Vorsicht weg. Ich schrie: »Dancredi! Wir vernichten dich, wie wir deine Statuen zerschmettert haben. Ich bin der Henker von ES!« Er war einen guten Kopf größer als ich. Die schwarzen Steinköpfe entsprachen der Wahrheit: so sah er aus. Seine Arme waren dick wie Männerschenkel, sein Körper bestand nur aus Muskeln und Knochen. Jetzt rannen breite Bäche Schweiß über seinen blauschwarzen Körper. Seine Haut schien nicht menschlich; sie wirkte wie genarbtes Leder. Er beachtete uns nicht, rannte zu der Stelle, an der er seinen Streitkolben mit der birnenförmigen Spitze fallen gelassen hatte, und hob die Waffe. Er hatte verstanden, was ich geschrien haste. Wieder traf ihn ein Stein, von unten geschleudert. Mehrere Pfeile krachten in den Fels hinter ihm. Er duckte sich nicht einmal. Der Pfeil in seinem Arm schien ihn nicht zu stören. Er schwang den Kolben, der ein sausendes Geräusch erzeugte. »Wenn dich Gift nicht umbringt – dieses Ding hier tut es!« röhrte er mit hallender Stimme. Ich hob mein Beil, fintete und drang auf ihn ein: Er schlug mit dem Kolben waagrecht durch die Luft, ich duckte mich tief, die Waffe wischte dicht über meinem Helm vorbei. Zakanza warf seinen zweiten Speer, einen Schritt hinter mir. Ptah feuerte abermals einen Pfeil ab. Er schlug mit klatschendem Geräusch in den Oberschenkel des Kolosses. Der Speer wurde von dem Kolben blitzschnell im Rückschlag durch die Luft gewirbelt. Ein Schrei aus Bewunderung und Entsetzen kam von unten. Aus dem Augenwinkel sah ich unsere Bogenschützen, die aus den Löchern kamen, bleich und schwankend; gebundene, blutende Gefangene vor sich hertreibend. Ich hechtete nach links, wieder ging ein stoßender Hieb daneben. Mein Beil traf den Schaft der Keule. Es gab einen Ton, als schlüge man eine Glocke an, gleichzeitig zuckte wilder Schmerz durch meinen Arm, bis hinunter in die Mitte des Rückens. Ich ließ mich fallen, route zur Seite und versuchte, mein
Beil nicht aus den stumpf gewordenen Fingern zu verlieren. Neben meinem Gesicht dröhnte das Ende des Kolbens in den Boden, warf Sand und Steinsplitter in meine Augen, dann berührte ich die Felswand, stieß mich ab und kam auf die Füße. Ich ging in Angriffshaltung und sah, wie Zakanza einen Speer in den Körper des Riesen zu rammen versuchte. Dancredi packte die Waffe hinter der Spitze, riß drehend daran und schlug damit zu. Der Hieb traf krachend den Schild des Nubiers und warf Zakanza zehn Schritte zurück. Wieder traf ein Pfeil Ptahs, diesmal die Brust des Kolosses, durchbohrte das Leder und blieb stecken. Mit einem Aufschrei sprang Dancredi zurück, sah mich, wirbelte reflexhaft die Waffe nach mir. Augenblicklich schlug ich zu. Ich hatte den tiefen Schnitt bemerkt, der die Waffenschäftung aus massiver Bronze fast halb zerteilt haste. »Trotz deiner Kraft«, schrie ich keuchend, »werden wir dich töten!« Er sah erschreckend aus. Jeder Mensch wäre längst zusammengebrochen, aber der schwarze Koloß kämpfte weiter, als sei nichts geschehen. Abermals schoß Ptah einen Pfeil ab. Die anderen fürchteten, mich zu treffen, also griff niemand ein. Zakanza kam wieder auf die Beine, schüttelte sich und brüllte: »Speere!« Die Schneide des Beiles aus Arkonstahl traf ein zweites Mal die Keule, in der Nähe des Schnittes. Diesmal hatte ich im richtigen Moment meine Muskeln entspannt und fühlte, wie der Schlag zurückprellte. Ein armlanges Stück der langen Keule bog sich, brach ab, der Koloß schleuderte das Bruchstück nach Ptah, der es durch geschicktes Hochreißen und Wegkippen des Schildes abwehrte. Sofort griff der Truppenführer wieder über die Schulter, zog einen Pfeil hervor und legte ihn ein. Ich ging langsam auf dem Felssims rückwärts. Der Koloß drang auf mich ein. Inzwischen blutete er aus einem halben Dutzend schwerer, tiefer Wunden. Aber sein Gesicht war keineswegs schmerzerfüllt, sondern zeigte den Ausdruck reinen Hasses. Hinter dieser schwarzen Maske glaubte ich eine perverse Freude am mörderischen Kampf zu erkennen. Immer wieder beschrieb die kürzer gewordene Keule Kreise und Spiralen. Wenn
mich der Kopf traf, würde jeder Knochen mit einem Schlag zersplittern. Ich wich aus, duckte mich, versuchte an Dancredi vorbeizukommen und fand keine Möglichkeit. Jetzt rannten Soldaten über die Rampe, bogen ab und kamen mit wurfbereiten Speeren hinter dem Koloß heran. Er keuchte zischend: »Ich hab’ dich erwartet, Atlan. ES hat einen schlechten Henker ausgesucht.« Zwischen den einzelnen Worten machte er kurze Pausen. Dann fuhr der erste Speer mit aller Wucht in seinen Rücken. Ein ungläubiger Ausdruck trat in das verzerrte Gesicht. Ich schlug zu und hämmerte den Kolben aus seinen Händen. Der schwarze Koloß schrie auf – es war ein tiefes Kreischen, ein nie gehörter Laut, der über die verbrannte Fläche dahinfuhr wie der Schrei eines Urtiers. Als ich sah, was er mit dem letzten Rest Energie vorhatte, ließ ich mein Beil fallen, sprang zur Seite und riß den schweren Dolch aus der Lederscheide. Nicht einmal diese absolut tödliche Waffe hielt ihn wirklich auf. Ich hörte das Knacken der Sicherung nicht, als ich den Energiestrahler einschaltete. Alle, die jetzt diesem absonderlichen Kampf zusahen, schwiegen vor Entsetzen und Verwunderung. Wieder bohrte sich ein Speer in den Rücken des schwarzen Kolosses, der sich auf mich stürzte, seine langen Arme vorgestreckt, die Finger wie Klauen gekrümmt. Ich hob den Dolch und wollte abdrücken, aber ich trat auf einen Felsbrocken, verlor die Kontrolle und stolperte. Das reichte dem Sterbenden. Seine rechte Hand schloß sich um meinen Hals. Die Linke irrte ziellos durch die Luft. Ich hatte den Dolch bis in Gürtelhöhe hochgerissen, drückte den Auslöser. Durch den Schrei dieses unfaßbaren Organismus dröhnten krachend drei Entladungen. Die erste zerfetzte den Körper in der Bauchgegend, die zweite traf ihn in die Brust, die dritte riß die Kehle auf und sprengte den Kopf auseinander. Ich machte einen gewaltigen Satz zurück, sah den leblosen Körper kippen und fallen. Der Torso überschlug sich; im letzten Reflex der Agonie krallten sich die Finger in den Felsrand, dann fiel der Koloß aus zehn Mannslängen Höhe hinunter in die aufstiebende Asche.
Der Kampf war vorbei, der Koloß getötet, die Länder jenseits des zweiten Katarakts waren sicher. Ich ging schweigend und halb betäubt hinunter zum Strom, legte meine Rüstung ab und reinigte mich. Niemand sprach mich an, als ich zwischen unseren Soldaten und den ersten Zelten zu meinem Gespann zurückging. »Herr, wir haben zwei Hengsten die Kehlen durchschneiden müssen. Sie hatten gebrochene Läufe und große Schmerzen«, sagte Rawer, einer der Anführer unserer Bogenschützen. »Spannt die besten Stuten an meinen Wagen«, erwiderte ich. Drüben zählten sie die Gefangenen und Toten. Zakanza-Upuaut kam heran und fragte leise: »Was sollen wir mit diesem toten Riesen tun? Geier? Fuß? Ein Grab?« »Verscharrt ihn. Und du? Bist du noch heil?« »Nichts, was über zwei Dutzend Schnitte und Schrammen hinausgeht«, sagte er geringschätzig. »Wir haben der Schlange den Kopf zertreten.« Ich lächelte schwach; es war einer der vielen Siege, auf die ich nicht sonderlich stolz sein konnte. »Wir haben eine noch undankbarere Aufgabe.« Er nickte und winkte Ptah-Sokar herbei. »Dreiunddreißig Tote bei uns, ernsthaft Verwundete nur fünfzehn. Und hundertvierzig Tote des Feindes. Alle anderen der Gefangenen sind gebunden.« Ich sah die Gestalten an. Man würde sie in alle Richtungen des: Reiches verstreuen und ihnen, wenn sie arbeiteten und sich einfügten, irgendwann die Freiheit geben. Der ausdrückliche Befehl des Herrschers lautete, die Familien auseinanderzureißen. Ich fragte: »Wieviele Gefangene?« »Mehr als vierhundert.« »Nehmt dreihundert unserer Leute und bringt die Gefangenen nach Buhen. Von dort aus sollen sie mit Schiffen nach Norden gebracht werden.« »So wird es geschehen.« »Rawer?« Ich hob befehlend den Arm. »Herr? Was verlangst du?«
»Eine Auskunft«, sagte ich leise. »Du warst bei der Truppe, die jenen Felsen umging und die Flüchtenden fing. Können wir dort oben lagern?« Er nickte und deutete auf den Hang mit den fünf Köpfen, die von unseren wütenden Soldaten in faustgroße Stücke geschlagen wurden. »Wir müssen dort hinten in die Wüste hinaus. Es sind gute Lagerplätze. Dort gibt es viele Hütten. Die Weiber und Kinder der Aufsässigen leben dort und zittern.« Ich warf ihm einen kalten Blick zu und erwiderte: »Nachdem wir dort waren, werden sie noch mehr zittern. Ihr kennt die Befehle so gut wie ich. Wir führen sie ins Reich, in die Gefangenschaft. Ihr letzter Tag in Freiheit geht zu Ende.« »Horus des Horizonts, umherreisender Schatten des Gottkönigs, ich werde unsere Männer dorthin bringen. Auch jene, die die Höhlen durchsuchen. Du bist müde, denn du hast gekämpft wie die Wüstenlöwin. Kümmere dich um nichts. Alles wird zum Besten geschehen.« »Ich danke dir, Rawer. Tu dies, und ich werde dein Freund sein.« Ich sah ohne sonderliches Interesse zu, wie Rawer und Ptah-Sokar die Männer bestimmten, von denen die Gefangenen stromabwärts geschafft werden würden. Je schneller sich alles abwickelte, desto besser war es für uns. Im stiller zollte ich Ptah-Sokar Beifall, denn er fief durch die Haufen seiner Soldaten, binnen kurzer Zeit herrschte Ordnung. Scharenweise liefen die Soldaten zum Wasser, tranken und reinigten sich, ergriffen wieder ihre Waffen und bildeten Gruppen, von denen eine nach der anderen abzog und den Weg ging, den die Bogenschützen ihnen zeigten. Nach mehr als einer Stunde waren nur noch wir vier und die Gespanne übrig. »Noch niemals habe ich einen Menschen so kämpfen gesehen. Gespickt mit Pfeilen, zwei Speere im Nacken, und dann kämpfte er noch mit den bloßen Händen.« Ptah-Sokar reichte mir die aufgesammelten Waffen. »Es war kein Mensch«, sagte ich in zweideutiger Betonung. »Er hätte nur noch ein Jahr Zeit gebraucht. Dann würde es keinen Gottkönig mehr gegeben haben, sondern einen Gewaltherrscher.«
»Du hast recht. Es war kein Mann meines Volkes«, unterbrach Zakanza-Upuaut. »Ich bin froh, daß du ihn getötet hast, Atlan.« »Wir haben ihn getötet!« betonte ich scharf. »Tausend Männer und mehr haben es deutlich gesehen. Wir!« Ptah schwang sich in den Wagenkorb und murmelte: »Der, dem die Macht gegeben ist, hat immer recht. Ich also bin der Sieger über den schwarzen Koloß!« Wider Willen mußte ich lachen. Ich warf den Bogen über die Schulter und schlang die Knoten an meinem Gürtel, mit denen ich mich im Wagenkorb festhielt. Ich wußte, daß auch dieser Versuch, die schnellen und nützlichen Tiere im Niltal einzuführen, scheitern würde; es waren zu wenige Exemplare, um mit ihnen züchten zu können. Sie würden sterben oder sich die Läufe brechen, noch bevor meine Aufgabe für ES erledigt war. Jetzt preschten die Gespanne entlang des Weges, der von Tausenden Füßen markiert worden war. Ich erinnerte mich an die Zeilen des Harfenspielers. Leise sagte ich: »Ihre Häuser sind zerfallen. Ihre Plätze sind nicht mehr. Sie sind wie etwas, das nie entstanden ist, Seit der Zeit des Gottes. Niemand, der fortging, kam je wieder.« Dies hatten wir von Sie würden fortgehen und von der Kultur und der verzahnten Zivilisation verdorben werden. Schließlich würden sie ein Teil des Rometvolkes sein und nie zurückkehren. Bitter für den Augenblick, klug geplant für die Zukunft. Lange Sandfontänen wurden von den Felgen hochgewirbelt, als wir unser Heer überholten, den Felsabsturz passierten und die Leichen derer liegen sahen, die aus den Sandsteinfelsen hatten flüchten wollen. In drei Tagen würden Falken, Geier, Sonne und Hitze, Wüstenfüchse, Ratten und Aasfresser nur zerrissene Skelette zurücklassen. Im flachen Bogen, den Spuren der Bogenschützen nach, rasten wir in gestrecktem Galopp durch die Wüste und bogen am frühen Nachmittag, als wir einen flachen Sandhang sahen, wieder hinunter zum Hapi und seinem flachen Überschwemmungsgebiet. Ich hielt mein Gespann an und hob den Arm. Neben mir stemmten die Pferde vor Ptah-Sokars Wagen die Hufe in den heißen Sand.
»Ptah-Sokar; nun ein Befehl, der genau ausgeführt werden muß. Hast du deine Truppen in der Hand?« Er zog seine Brauen hoch, sah mich fragend an und meinte: »Sie gehorchen mir. Für Notfälle verfüge ich über schmerzhafte Strafen. Ich sage: Sie gehorchen immer.« »Ich kenne die Notfälle. Sag ihnen, daß wir Frauen, Mädchen, Kinder und Greise treffen und zusammentreiben werden. Keine Gewalt, kein Raub, keine Schändungen. Frauen werden sich den Siegern hingeben, aber ich lasse jeden einzelnen von seinen besten Freunden ausweiden, der Gewalt anwendet. Hast du verstanden, was ich im Namen Amenemhets befehle?« Er nickte, preßte die Lippen aufeinander. Schließlich sagte er: »Ich habe verstanden, Horus des Kampfes. Meine Soldaten werden es auch verstehen. Aber ob jeder gehorcht… ich weiß es nicht. Zakanza und Rawer müssen mir mit den Bogenschützen helfen.« Ich nickte und sagte: »Ich werde dir helfen, wo ich kann. Wir sind Soldaten, keine Schlächter. Weiter jetzt, Freunde.« Ptah-Sokar wendete sein Gespann und jagte es auf die Kette der Bogenschützen zu. Er würde, leichter Sieg oder nicht, einen unruhigen Abend und eine Nacht voller Störungen haben. Neben mir sagte Zakanza-Upuaut: »Du bist mein Freund, Herrscher Atlan. Aber ich sage dir, daß du ein unbequemer Mann bist. Starrköpfig, hart, unglaublich gerecht. Wenigstens versuchst du es.« »Ja«, pflichtete ich ihm bei. »Ich bin kein Töter und Schinder von Menschen. Es gibt nicht viele Menschen, die es mir leichtmachen. Ich habe dieses Land als gerecht verwaltet kennengelernt und nütze meine Privilegien nur aus, wo ich vielen nütze und niemandem schade. Außerdem bist du ebenso starrköpfig wie ich.« Er grinste und zeigte schneeweiße Zähne, deutete nach vorn, wo Bäume und Weiden und das durchdringend blaue. Wasser auftauchten. »Ich bin einer von denen dort. Für deine Milde und Güte, nicht zu vergessen die gerechte Starrköpfigkeit, und deshalb, well du
Frieden und Liebe brauchst nach diesem Kampf, werde ich dir das feurigste Mädchen zuführen, das wir am Fußufer finden.« Ich lachte schallend und fühlte, wie meine gute Laune wiederzukehren begann. »Wenn sie schöner, klüger und leidenschaftlicher ist als Nebkaura, dann ist es vielleicht möglich, daß ich untreu werde.« Zwischen Bäumen und Hütten, die auf Pfählen standen oder an ausgehöhlten Felsen errichtet waren, zeigten sich Frauen und schreiende Kinder. Weiter stromaufwärts und am gegenüberliegenden Ufer lebten die Krieger. Ich hörte Zakanza sagen: »Auf die große Blüte flattert der Schmetterling. Warte ab, Held des Katarakts. Vielleicht habe ich zuviel versprochen. Vielleicht nicht.« Unser Gespann ratterte an einem Gemüsefeld entlang und hielt an, wo sich die Menschen versammelten. Ich betrachtete sie, während Zakanza-Upuaut mit tönender Stimme in der Sprache der Wawat-Leute zu sprechen begann. Je länger er redete, desto lähmender verbreiteten sich Entsetzen und Hoffnungslosigkeit. Die Nubier: Die Kinder waren unbeschwert, ahnungslos wie alle Kinder der Barbaren. Die älteren Frauen und Männer sahen verbraucht aus. Ihre gekrümmten Rücken erzahlten von Geburten, Krankheiten, Seuchen und Mangelernährung, von der Kürze des Lebens, das mit vierzig Sommern so gut wie beendet war. Sie hatten es nicht viel besser als die Tiere der Wüste, deren Leben eine unaufhörliche Suche nach Nahrung, ununterbrochener Kampf ums Überleben war. Junge Männer sahen wir keine: Sie waren tot oder gefangen. Die Frauen waren breithüftig und schlaffbrüstig; ihre Gesichter hatten den Ausdruck der Resignation. Hier und dort sah ich interessierte Gesichter, aus denen Intelligenz förmlich leuchtete. Schwarzes Haar, straff an den Schädel gebunden, herrliche Körper, anmutige Bewegungen – dies war zweifellos nicht die Zeit, in der die Frauen alle Wege offen sahen. Aber einige Mädchen, die ich zwischen den Hütten, unter Tamarisken und Sykomoren sah, würden im Nilland ein Leben finden, von dem sie hier nicht einmal träumen konnten. Ich spürte einen Ellbogenstoß und hörte, wie der Nubier sagte:
»Wach auf, Herrscher. Ich hab’ versucht, ihnen zu erklären, was geschehen ist. Sie denken darüber nach, daß sie hier ohne ihre Männer verloren sind. Dies wird ihnen vieles leichter machen.« »Offensichtlich wohl gesprochen«, erwiderte ich. »Weiter so.« Hinter uns kamen in breiter Kette die Bogenschützen. Sie wirkten entschlossen, aber keineswegs drohend. Zakanza-Upuaut sagte mir, daß es hier etwa zweitausend Bewohner gab. Was weiter stromaufwärts war, wußten auch diese Leute nicht. Langsam fuhren wir weiter. Wieder sagte Zakanza den Gefangenen, was geschehen war. Wir hinterließen klagende und weinende Menschen, sie hatten nicht die Zeit, sich ihrem Schmerz hinzugeben. Ich hoffte, die Räumung dieses Gebiets würde ohne Gewalt vor sich gehen. Selbst wenn einige flüchteten und sich versteckten, bis wir abgezogen waren – es würde niemandem schaden. Niemand von denen aber, die fortgingen, würde wiederkommen.
22. Das Land zwischen dem ersten, nördlichsten, und dem zweiten Katarakt war heiß und wild, ganz anders als die Ländereien zwischen dem fruchtbaren Dreieck und Ta-Seti. Sein Reichtum war von ganz anderer Art; fast unsicher. Wir hatten auf unserem langen Marsch immer wieder Spuren von Gold und Kupfer gefunden. So frei und wild wie das Land waren die meist nomadisch lebenden Menschen, deren Leben mit dem der Siedler aus dem Norden zusammenstieß. Ausbeutung der Bodenschätze, Felder und Palmwälder entlang des Stromes waren Zeichen dafür, daß das Romet-Reich seine Finger nach dem Land Wawat und Kusch ausgestreckt haste: Amenemhets Großvater hatte seine Schiffe hapiaufwärts geschickt, die Stromschnellen auf Rutschbahnen überwunden und versucht, die »Nehesi« als Söldner anzuwerben, als Arbeiter und Bauern. Aber die Bewohner des Landes ließen sich von Jägerfürsten anstiften, die Romet anzugreifen. Die Vorgänger der Gottkönige hatten schon Festungen und Städte gebaut, und Iken und Buhen, von Sesostris und Amenemhet errichtet, waren ebenso
Handelsstationen, Garnisonen und Wohnstädte für Romet wie ferne Vorposten des Reiches. Sie schützten die Handelskarawanen, die auf der uralten Straße nach Ta-Seti zogen, und sie sorgten für Ruhe. Auch ich hatte nur einen Teil des Landes für kurze Zeit befriedet; wenn ich fortging, würde ich nicht mehr zurückkehren. Nicht mehr ins »elende Kusch«. Die Gefangenen, zuerst nach Buhen gebracht, würde man mit Schiffen unterhalb des ersten Katarakts weiter in die Städte entlang des Stromes bringen und sie verkaufen und verteilen; einige erwartete ein besseres Leben, als sie hier hatten. Mitternacht. Am Fußufer herrschte Ruhe. Ich saß abseits des Lagers zwischen den Wurzeln einer alten Tamariske auf einer Unterlage aus Sand und Binsen. Einige Zeltbahnen waren an Tauen gespannt. Vor mir brannte ein winziges Feuer, dessen Rauch die Mücken fernhielt. Ein Tonkrug voll Bier steckte im Boden, meine Waffen lagen und hingen aufgereiht da. Entlang des Ufers lagen die Menschen um Feuerchen und Öllämpchen. Ich entspannte mich langsam und sah dcn patrouillierenden Bogenschützen zu. Wie eine ferne Stimme fuhr Nachtwind durch die Senke und kräuselte den schwarzen Spiegel des Wassers. Ich hörte leises Murmeln aus allen Richtungen, die Schritte der Posten und den Chor der unermüdlichen Frösche. Leise Schritte näherten sich. Ich griff nach dem Lähmstrahlerdolch, als sich aus der Dunkelheit die Gestalt einer jungen Nehesi schälte, die vor dem Feuer stehenblieb und sich in einer anmutigen Bewegung auf ein Knie niederließ. Ihre Haut war heller als die Zakanzas; sie trug viel klirrenden Schmuck aus Kupfer, Steinperlen und Holz. »Du bist Atlan, den sie Horus des Kampfes nennen. Du hast den schwarzen Koloß erschlagen, nicht wahr?« Sie benutzte unsere Sprache. Ich beugte mich vor und streckte die Hand aus. »Ich bin Atlan, der den Befehlen des Gottkönigs folgt«, sagte ich. Sie blickte mich ernst, aber ohne Feindseligkeit an und schob kleine Holzstücke in die Glut. »So sagt man es. Wir müssen morgen unser Land verlassen? Es gibt keine Gnade für die Nehesi? Ich hab’ erlebt, wie Dancredi kam und mit den Jägern geredet hat. Als er hörte, daß du das Heer anführen sollst, fing er an, dich zu hassen.«
Ich hob die Schultern und füllte einen Becher mit Bier. »Amenemhet hat befohlen, daß alle Überlebenden in die Gefangenschaft gehen. Viele von euch werden’s in den Rometstädten besser haben als hier in der heißen Wüste.« Sie nahm den Becher, lächelte und trank. Der Widerschein der Flammen spielte über die seidige Haut ihres Körpers. »Dancredi raubte eine Karawane aus. Einen Krug Wein nahm er und vergiftete ihn Dann schickte er einen Boten zu dir.« »Ich hab’ den Wein getrunken, aber wie du siehst, Mädchen, lebe ich noch. Ich bin nicht leicht zu töten.« »Ich bin Maburi-Margassah. Du bist sterblich wie jeder. Mein Bruder, der von deinen Truppen getötet wurde, war Dancredis bester Mann. Weil wir wissen, daß du kein furchtbarer Rächer bist, Atlan, sage ich dir, was nur wenige wissen.« Sie hatte einen kleinen Spitzkegel Holz über den Flämmchen aufgeschichtet, stand auf und setzte sich auf das andere Ende des Mantels. Langsam trank sie und schlug nach einer Mücke auf ihrem Knie. »Du hast dich nicht für den Koloß entschieden?« »Ich nicht. Und wenige junge und alte Frauen. Aber fast alle Männer kämpften für ihn. Er versprach viel Beute. Seine gewaltige Kraft und sein Mut, sich dem Gottherrscher entgegenzustellen, haben die Männer mitgerissen.« Er war sicherlich ein herausragender Anführer gewesen, sagte ich mir. Seinen starken Willen, Wawat und Kusch zu beherrschen, hatte er bewiesen, indem er die Statuen aufstellen ließ. Also gab es unter den nomadisierenden Nehesi sogar Künstler, die den Stein bearbeiteten. Ich goß Bier in die Becher und sagte: »Was weißt du, Margassah?« »Ich weiß, daß er oft versucht hat, dich töten zu lassen. Viele Pfeile haben dich verfehlt. Unter deinen Gefangenen sind Männer, die wieder versuchen werden, dich zu töten. Mit jeder Waffe, die sie finden.« Wirkte Dancredi, der Wanderer-Androide, noch über seinen Tod hinaus? Auch der Aktivator konnte einen tödlichen Schuß ins Herz, ins Hirn oder Rückenmark nicht verhindern oder solche Wunden
heilen. Ich blickte in Margassahs große Augen und sah die langen, unruhigen Finger. Mußte ich mich weiterhin vor Mordanschlägen fürchten? »Du meinst, daß mein Leben im Hapiland auch in den nächsten Jahren gefährdet ist?« »Nicht immer, und nicht an allen Stellen. Hüte dich vor dunkelhäutigen Nehesi. Viele hassen dich jetzt, nach Dancredis Tod, noch mehr.« Meine Geste umfaßte das Gebiet, in dem Truppen und Gefangene lagerten. »Das gilt auch für diese Nacht? Muß ich darauf warten, daß ein Pfeil aus der Finsternis kommt?« Sie hob die Schultern. Der Schmuck rutschte über ihre Brüste. Sie drehte den Becher in den Fingern und sagte leise: »Ich weiß es nicht, Herr. Deine Bogenschützen passen auf. Ich werde dich nicht anfallen. Leg deinen Dolch weg, aber sei bei jedem Schritt in der Zukunft besorgt um dein Leben.« Ich vergegenwärtigte mir die langen Wege nach Buhen, zurück nach Nubet und durch das Tal Rohani zum Treffpunkt der PuntSchiffe; es würde vielleicht ein Pfad der Bitternis werden, voller Mißtrauen, Furcht und der Gewißheit, Ziel von Mördern zu sein. Ich überlegte eine Weile, deutete auf die ausgebreiteten Decken und den Sand zwischen den Wurzeln und sagte: »Viele Mörder sind im Kampf getötet worden. Die anderen werden über das Land verteilt. Ich glaube, da ich weiß, vor wem ich mich in acht nehmen muß, kann ich ruhig schlafen. Meine Freunde werden über meinen Schlaf wachen.« »Du sagst es. Der Mann aus meinem Volk, Zakanza, liebt dich wie einen Bruder«, sagte sie und hob die Arme in den Nacken. Sie knotete die Lederschnüre auf und legte den halbmondförmigen Brustschmuck an den Rand des Mantels. »Margassah hat Dancredi immer gehaßt. Ich hab’ gewußt, daß er uns ins Unglück führt. Deshalb bleibt Margassah heut’ bei dir, Herr Atlan, und wird deinen Schlaf bewachen.«
»Das ist ein großes Geschenk«, sagte ich und nahm ihre Hand. Sie legte sie auf ihre Brust. »Ich nehme das Geschenk an, Margassah. Auf meinem Mantel ist viel Platz für eine leidenschaftliche Nacht.« Sie lächelte und lehnte sich neben meiner Schulter an den schorfigen Stamm des Baumes. Unsere Schritte riefen dumpf hallende Echos hervor. Endlich sahen wir die Öffnung der verzweigten Höhlen. Einige Anführer, Zakanza, Ptah und ich hatten den Irrgarten des schwarzen Kolosses durchsucht und, von toten Männern, Waffen und Werkzeugen abgesehen, nichts gefunden. Es war das Versteck von Kriegern, sie hätten eine längere Belagerung ausgehalten. »Der Sieg ist sicher. Es gibt keine Geheimnisse, Atlan!« Zakanza berührte mit der Kuppe des Zeigefingers einen langen Kratzer auf meiner Schulter. Ich starrte ihn herausfordernd an; er lächelte zurück. »Keine Geheimnisse, nein. Wir sind auf dem Weg nach Buhen, ein junges Mädchen verriet mir heute nacht, daß der Koloß eine Handvoll Mörder geschickt hat.« Ptah-Sokar beschattete seine Augen mit der flachen Hand und sah dem langen Zug nach, der sich langsam nach Norden bewegte. »Mörder? Wen sollen sie umbringen?« fragte er verblüfft. »Mich, Freunde!« sagte ich. Die Bevölkerung, ungefähr zweitausend Menschen jeden Alters, war unterwegs. Jeder ein Gefangener. Unsere Soldaten hatten sich diszipliniert verhalten; wir hatten nur ein Dutzend von ihnen auspeitschen müssen. Wir verließen über die Rampe das Höhlenmassiv. Es würde zu lange dauern und eine Unmenge Arbeit bedeuten, diese Schlupfwinkel so zu zerstören, daß sie für kommende Generationen unbrauchbar waren. Ein Zug des menschlichen Elends zog vorbei. Soldaten begleiteten die Familien, die die wichtigsten Teile ihrer Habe auf die Tragetiere verladen hatten. Etwa zwanzig Tage brauchten wir bis Buhen. Ich dachte an die Warnungen: Margassah hatte in meinen Armen die Warnung wiederholt. Jetzt warteten die beiden Gespanne. Ich wandte mich an den Bogenschützen-Anführer.
»Du hast gehört, was ich berichtet habe. Seid noch wachsamer als auf dem Marsch hierher.« »Wir werden nicht aus deiner Nähe weichen, Herr.« Nichts hielt uns mehr in der Zone des Todes. Wir stiegen auf die Wagen, die Pferde zogen an, und wir folgten dem Zug der Gefangenen. Ich war nicht besonders vorsichtig oder verängstigt, trotzdem ertappte ich mich, wie meine Blicke über die Dünen huschten und sich in Büschen und Sumpfflächen verbissen. Bis zum späten Abend versuchte niemand, mich anzugreifen. Langsam wuchs meine Zuversicht: Es war gefährlich, keine Furcht zu haben, denn die Wachsamkeit wurde eingeschläfert, auch wenn Margassah meinen Schlaf bewachte. Auf unseren eigenen Pfaden gingen wir nordwärts, in die Richtung des Hapi. Tausend Soldaten, weniger als zweitausend Nubier, Tiere und Gepäck. Eine riesige Schlange wand sich entlang des Stroms. Achtzehn Tage fang waren wir unterwegs, ehe wir die gepflegten Felder und eine Straße erreichten. Die Festungsstadt war in erreichbarer Nähe. Unsere Boten stoben davon; sie wußten genau, was sie auszurichten hatten. Immer wieder hatte ein Teil der Schlange angehalten. Ein Greis war gestorben, und sein Körper wurde eingegraben. Dann ein Säugling, der an einer rätselhaften Krankheit starb. Eine Greisin, zwei Soldaten, ein Kind… ein halbes Dutzend Leben forderte der Marsch jeden Tag. Die Soldaten kümmerten sich um die Opfer des Krieges, um die Beute der Strafexpedition. Sie schossen Wild, schleppten Wasser, manche von ihnen trugen die gebrechlichen Greisinnen auf den Schultern: einfache und fleißige Menschen, die ebenso mitleidig wie grausam sein konnten. Vermutlich würden wir in Buhen Schiffe finden, in denen ein Teil der Gefangenen stromabwärts gebracht werden konnte. Es gab keinen Tragochsen mehr. Alle Tiere waren geschlachtet und gegessen worden. Wir fingen Fische und brieten sie. Ab und zu schleppten sogar die Gespanne jemanden mit, der nicht mehr gehen konnte. Die riesige Menschenmasse stank, Hoffnungslosigkeit und deprimierende Müdigkeit machten sich breit, auch unter den Soldaten, die wirkliche Erschlaffung trat aber
ein, als wir uns in Sichtweite der Festung befanden. Als ich sah, daß alle Gefangenen die Festung erreichen würden, klatschte ich die ledernen Zügel auf die Kruppen der Tiere und preschte den langen Zug entlang, auf den Damm der Straße und auf das Stadttor zu. Zakanza-Upuaut und ich waren allein auf dem langen gekrümmten Damm neben dem Fuß. Die Pferde sprengten im lockeren Galopp der Festung entgegen. Auch die Tiere schienen sich zu freuen, wieder ihre Schnelligkeit zeigen zu können. Der Fahrtwind kühlte unsere verschwitzten Gesichter. »Im Bereich des Hapilands wirst du sicher sein, Atlan-Horus!« rief Zakanza. »Ich sage, du sollst glauben, was Margassah dir berichtete. Ich sprach mit ihr.« »Das dachte ich. Trotzdem schlage ich die Warnung jetzt in den Wind. In Buhen sind wir sicher.« Es war Mittag, die Sonne brannte fast senkrecht herunter. Auch jetzt bevölkerten sich die Mauern. Menschen strömten aus dem wuchtigen Tor. Viele unserer Soldaten waren darunter. Zwischen den Festungsmauern und dem Fuß sahen wir Hütten aus Schilf und die Masse der Gefangenen. »Du bist in Buhen so sicher oder so gefährdet wie überall, außer vielleicht an Bord der Schiffe«, warnte Zakanza. Die Hufe schlugen einen dumpfen Wirbel. Sand erhob sich in einer langgestreckten Wolke. Unsere Waffen funkelten in der Sonne. Die Leute begannen begeistert zu schreien und zu winken. Dann zog ich die Zügel an, und das Gespann hielt unter dem Tor. Die Pferde rissen die Köpfe hoch und schleuderten Schaum von ihren Mäulern. Soldaten sprangen hinzu und führten das Gespann in die Stadt. Auf dem Platz in der Stadtmitte kam uns Asyrta-Maraye entgegen. Überall liefen Menschen aus den Häusern, winkten von den flachen Dächern herunter und säumten die engen Straßen. Ich sprang aus dem Wagenkorb und umarmte Asyrta. »Die Helden von Wawat.« Sie lächelte. »Eure Boten haben alles berichtet. Bring auch deinen Freund in den Palast.« »Alles, was ich brauche, von dir abgesehen«, sagte ich leise und nahm lächelnd ihre Hand, »ist ein wenig Behaglichkeit. Hast du deine Leute auf die Gefangenen vorbereitet?«
»Natürlich. Kommt, Freunde!« Sie stand zwischen Zakanza und mir, als die jubelnden Festungsbewohner das Gespann zum Palast führten. Ihre Freude war verständlich: Jetzt konnten sie sich ohne Furcht aus den Mauern herauswagen und das Land bestellen. Nach kurzer Fahrt befanden wir uns vor den Säulen, deren Kapitelle den Lotosblüten glichen. Asyrta-Nebkaura führte uns an den Händen in das kühle Halbdunkel ihres großen Hauses. Wieder genoß ich die Annehmlichkeiten warmer und kalter Bäder, einer Massage, reichlichen Essens und lang vermißter Ruhe. Ich lag da, ließ das Geschehen des letzten Mondes an mir vorüberziehen und versuchte, meine Position in diesem Spiel genauer kennenzulernen und exakter zu bestimmen. Es wurde dunkel hinter den schweren Vorhängen. Asyrta trat in den Raum und setzte sich neben mich. »Zakanza hat berichtet, was geschah. In Buhen bist du sicher. Ihr alle seid sicher, Liebster, hier, bei mir.« Ich zog sie an mich. Bisher hatten die Werkzeuge von ES mit gewohnter Präzision funktioniert. Leise klirrte der schwere Schmuck aus Gold und Glasfuß. »Ich weiß.« Sie nickte und deutete in die Richtung der östlichen Mauer. »Viele Soldaten warten darauf, daß du mit ihren Anführern den Tempel besuchst. Es ist alles vorbereitet im Tempel des Amun. PtahSokar und die anderen warten unten. Ich gehe auch zu den Priestern.« Jeder Romet war tief gläubig und abhängig vom erhofften Wohlwollen zahlreicher Gottheiten, deren Bedeutung für jede Provinz anders war. Auch die Festung hatte einen Tempel, in dem man opfern und beten konnte. Es war unumgänglich, daß ich mich diesem Brauch beugte. »Ich komme«, sagte ich. »Der Sieg war schnell erkämpft. Ich denke aber, daß ES mehr geholfen hat als Amun.« Lächelnd legte Asyrta einen Finger vor die Lippen. Ich zog frische Kleidung an, schlüpfte in gereinigte Stiefel und schnallte den breiten Gurt mit den Waffen um. Meinen Halsschmuck mit dem
Zellaktivator hatte ich nicht abgelegt. Hand in Hand gingen wir über eine breite Treppe, ein Stück umlaufender Terrasse und zwischen den buntbemalten Säulen hinaus zu den wartenden Gespannen. Die Tiere waren getränkt, gefüttert und gewaschen worden; sie strahlten vor Energie. Alle Truppenführer, die Bogenschützen und meine Freunde warteten im Halbkreis. Ich hob beide Arme und rief: »Wir gehen zum Tempel des Amun von Buhen! Dort danken wir den Göttern für unseren Sieg und dafür, daß nur wenige von uns starben. Folgt uns!« Langsam bewegten sich die Menschen in die Richtung des Tempels. Mauern aus Lehmziegeln glitten vorbei, hin und wieder ein Baum, würfelförmige und langgestreckte Häuser, die sandigen Flächen dazwischen; alles war Kulisse für die Menge, die sich laut und fröhlich durch die Stadt drängte. Wir befanden uns auf einem rechteckigen Platz, von Häusermauern mit langen Fenstern unter den Dächern gebildet. Von allen Seiten kamen Menschen. Wir stiegen aus den Wagen. Vor uns lag die Front des Tempels; Säulen und zwei konisch zulaufende Türme. An schlanken Masten hingen Bänder und Standarten. Zwischen den Türmen standen sechs Säulen, dahinter war ein hohes, schmales Tor. Priester in langen Leinenröcken und mit lodernden Fackeln in den Händen kamen durch das Tor, hoben die Arme und forderten uns mit lauter Stimme auf, einzutreten. »Wir kommen!« rief ich und half Asyrta vom Wagen. Wir alle formierten uns zu einer Prozession. Langsam gingen wir an den Priestern vorbei in den Tempel. Nach Durchschreiten des Tores empfing uns ein größerer, rechteckiger Hof, dessen Boden gepflastert war. Die Seiten bestanden aus einem überhängenden Dach, von schlanken Säulen in langen Reihen getragen. Zwischen den Säulen standen Öllampen, die geheimnisvolles Licht verbreiteten. Es roch nach dem verbrannten Harz des Weihrauchs. Die Türen des Tempels waren geöffnet; wir sahen undeutlich große Götterstatuen und blockartige Altäre. Die Priester führten die Gruppe an, die über den Hof ging und in den Tempel eintrat. Mythisches Dunkel umfing uns, jeder Schritt
hallte wider. Die Säulen verwandelten das steinerne Bauwerk in eine Zone der Geheimnisse. Zögernd gingen wir bis in die Mitte des Raumes. Selbst ich wurde von dem Eindruck gefangengenommen und fühlte einen Schauder der Ehrfurcht und des Nichtbegreifens. Die Priester umrundeten den Altar, entzündeten mit den Fackeln Öllampen und andere Fackeln. Andere Priester kamen hinter dem dunkelgrünen Standbild des Gottes aus einer verborgenen Tür und begannen mit einem vokalreichen Singsang. Die Lichter, der Nachhall, der tiefe Gesang und die wesenlosen Augen des Gottes hoch über uns verzauberten die Menschen. Rund um Asyrta und mich fielen die Soldaten auf die Knie, streckten die Arme auf dem Steinboden aus und schlugen mit den Stirnen gegen den Boden. Jetzt brannten zwei riesige Flammen an den Seiten des Steinblocks, der mit Figuren und Schriftzeichen in einem breiten Band verziert war. Hinter den Säulen bewegten sich Schatten oder dunkle Gestalten. Asyrta und ich neigten die Köpfe. Es war eindeutig ein Akt ehrlicher Frömmigkeit. Ich vermochte mir nicht vorzustellen, daß Zakanza oder Ptah, diese pragmatischen Männer, heuchelten. Ich ließ mich von der Stimmung einfangen; am Druck von Asyrtas Fingern spürte ich, daß es ihr ebenso erging. Für mich war dieses Erlebnis in der frühen Nacht wie ein intensiver Traum. Was konnte ich über Träume sagen? Hier erlebten wir in gedrängter Fülle viel davon, was die Angehörigen dieser Hochkultur bewegte. Das Sammelbecken menschlicher Erfahrungen und Sehnsüchte befand sich in diesem Augenblick hier. Sie brauchten einen nichtmenschlichen, vorstellbaren mächtigen Gott, mit dem sie Wünsche, Nöte und Vorstellungen besprechen konnten – in einer Art telepathischem Monolog. Mir erging es nicht anders als den Bogenschützen, die niemals die wahre Natur von Sternen und Weltraum erlebt hatten. Mit einem Unterschied: Ich erkannte die Vorstellung, die hinter der Amun-Statue mit ihren goldenen Rändern, den Augen aus Glasfuß und dem prächtigen Kopfschmuck zu schweben schien, nicht als meinen Gesprächspartner in solchen Fragen an. Trotzdem wurde ich durch den Weihrauchgeruch, die dröhnenden Gesänge, die Flammen, das dunkle Gewölbe, durch die
Verzückung, die alle anderen ergriffen hatte, in einen eindringlichen Bann geschlagen. Ich verlor für einen Augenblick die Selbstkontrolle. Es kostete mich fast das Leben. Ich wurde auf die schnelle Bewegung aufmerksam, als ich dicht vor mir in Gürtelhöhe etwas aufblitzen sah. Zwischen zwei Säulen war eine dunkle Gestalt hervorgesprungen, auf nackten Sohlen blitzschnell an den liegenden Kriegern vorbeigehuscht und stürzte sich jetzt auf mich oder Asyrta. Gefahr! Zur Seite, schrie der Logiksektor. Ich duckte mich, sah die breite Doppelschneide eines Dolches, stieß Asyrta nach rechts und schnellte mich schräg nach links vorn. Meine Bewegung erfolgte plötzlich aus völliger Ruhestellung heraus. Gleichzeitig griff ich an den Gürtel und riß im Fallen den kleinen Dolch heraus; schon berührte meine Schulter den Boden, ich zog den Kopf ein und route mich ab. Der ausgestreckte Arm mit dem Dolch, der geplante Stoß – sie fuhren ins Leere. Asyrta schrie erschrocken auf, als ich wieder auf die Beine kam. Sie fiel über Zakanza-Upuaut, beide rollten über die Bodenplatten. Ich blieb in der Hocke; jetzt hatte ich die mächtigen Flammen aus den bronzenen Ölschalen im Rücken. Vor mir wirbelte ein sehniger Mann zu mir herum. Der Dolch in seiner Hand beschrieb zischend einen Halbkreis waagrecht durch die Luft. Ein Nubier. Fast nackt, nur mit einem ledernen Hüfttuch bekleidet. An seinen Handgelenken sah ich die blutigen Spuren der Fesselung. Sein Körper war von einer dicken Schicht Schweißtropfen überzogen; durch den Weihrauch roch ich die Ausdünstung von Angst, Wut und einer Empfindung, die in äußersten Todesmut ausuferte. Bevor alle anderen merkten, was eigentlich geschah, drückte ich den Kontakt. Aus der nadelfeinen Spitze des Dolches fauchte dröhnend eine konzentrierte Entladung, traf den Nubier in die Brust und schmetterte ihn zu Boden. In diesem Moment riß der Gesang der Amunpriester ab. Die Krieger sprangen auf und stürzten sich von allen Seiten in unsere Richtung. In einer unbekannten Sprache fluchend, half Ptah-Sokar meiner Freundin auf die Beine. Ich schaltete die Waffe aus, nachdem ich einen fintierenden Satz gemacht haste. Es mochte so aussehen, als hätte ich meinen Gegner
niedergeschlagen. Dann sprang ich über den zusammengebrochenen Attentäter hinweg und drehte mich im Kreis. Vielleicht waren die Mörder zu zweit. »Frevel! Welcher Wahnsinnige versündigt…?« schrie kreischend ein Priester von der Statue. Zakanza-Upuaut bewahrte Übersicht, lief zu einer Säule und riß eine Fackel aus dem Kupferring. Er stieß seine Leute zur Seite und näherte sich seinem Herrn. »Der Tempel ist entweiht! Straft denjenigen, der es gewagt hat…« »Was ist passiert?« »Atlan-Horus ist niedergestochen…« »Ruhe!« Wirre Rufe und Schreie von allen Seiten. Das Innere des Tempels verwandelte sich in ein Irrenhaus. Zakanza hielt die Fackel prüfend vor mein Gesicht, nickte mir zu und beugte sich über den Bewußtlosen. Dann sagte er scharf über die Schulter: »Ich habe es dir gesagt. Der erste, Atlan-Horus. Hierher, Männer. Schleppt ihn hinaus und bindet ihn an irgendeine Säule.« Ruhe, Verzauberung und die kurze Phase der Verinnerlichung waren vorbei. Der Angriff hatte sie ausgelöscht. Jeder Versuch, diese Stimmung wieder herbeizuführen, war sinnlos. Wir schlichen wie geprügelte Hunde aus dem Tempel hinaus, während vier Bogenschützen den Nubier brutal aus dem Tempel zerrten. Sie warfen ihn vor der versammelten Volksmenge in den Sand, rissen ihn hoch und, Amun mochte wissen, woher, plötzlich hielten sie Schnüre in den Händen. Sie fesselten ihn und warfen die Enden der Seile über den abgestorbenen Ast einer Tamariske. Dann zogen sie ihn mit weit auseinandergespreizten Armen am Baum hoch und erklärten, was geschehen war. Wäre der Überfall irgendwann in den Dünen außerhalb Buhens geschehen, es wäre ein normales Ereignis gewesen. Aber im Tempel, im kostbarsten Besitz der Festung, zu dieser Zeit… der Nubier war schon jetzt tot. Schweigend und wie erstarrt fuhren Asyrta und ich zurück ins große Haus des Statthalters von Buhen. Dort traf eine Stunde später der Bote des Amenemhets ein: Wahkare, ein kleiner, dicklicher Mann mit kahlgeschorenem Schädel, kostbarem Brustschmuck und breiten Zierbändern an Oberarmen und
Handgelenken. Wache Intelligenz sprach aus seinem Gesicht. Er blieb zwischen den Säulen des Eingangs stehen, sah unseren Tisch in der Mitte der Gartenhalle. Sein Blick ging von einer Dienerin zur anderen, dann fragte er mit atemlos klingender Stimme: »Es ist gestattet, sich zu nähern? Ich habe eine Botschaft von Amenemhet, der wohlgefällig auf uns alle blicken möge.« »Was mich betrifft, bin ich dessen sicher«, sagte ich. »Setze dich zu uns, Bote Wahkare.« Wieder verblüffte mich die Schnelligkeit, mit der Informationen weitergegeben wurden. Ich ging davon aus, daß sie sich nicht schneller fortbewegten als ein rennender oder paddelnder Bote. Gerüchte schienen schneller zu sein als Gedanken! »Atlan-Horus.« Er ließ sich ächzend nieder. Er gab vor, alt und asthmatisch zu sein, aber unter seiner weichen Haut sah ich harte Muskeln. Er war vom gleichen Typ wie Zakanza-Upuaut; ein Öffner der Wege. »Wir hatten noch nicht die Gelegenheit, miteinander in Ruhe zu sprechen.« »Nun können wir es«, sagte ich und winkte einer Dienerin. »Was befiehlt der Gottähnliche?« »Er rechnete damit, daß du den Koloß besiegst. Nur so ist es zu erklären, daß ich genaue Einzelheiten darüber habe, wie die Gefangenen zu verteilen sind. In Buhen werden nur ein paar Mädchen und Kinder bleiben, alle anderen gehen abwärts… aber dies interessiert dich nicht sonderlich.« »Nicht sonderlich«, gab ich zu. »Meine neue Aufgabe steht fest.« »Richtig.« Er nickte und hob den Krug voller Schreibrollen. »Die Fahrt ins Götterland von Gold und Weihrauch, von Myrrhenbäumen und kuriosem Getier. Nach Punt. Du sollst auf deine Barke warten. Sie ist unterwegs. In Junu-Resyt, dort, wo der heilige Hapi sich krümmt, wird dich der Gottkönig erwarten. Dann sollst du mit allen Freunden durch das Tal ohne Wasser gehen, über die Straße des Henenu, dorthin, wo Schiffe und zehnmal hundert Männer warten.« »Das alles«, sagte ich und reichte ihm einen gewaltigen Pokal voller Bier, »habe ich mehr oder weniger gewußt.«
»Vorher aber sollst du dich erholen im weißen Haus, das du wohl kennst, und nicht nur du. Vielleicht ist dein Herz in der einen oder anderen Nacht wieder so heiter, daß du deine treffliche Gabe des Gesanges abermals zeigst, wer weiß?« »Nur der Blitz ist schneller als die Botschaft«, sagte ich, und, zu Asyrta gewandt: »Diese heitere Geschichte kennst du noch nicht.« Der Bote lächelte verbindlich. Mir gefiel seine verschmitzte Art. Zunächst versenkte er seine Falkennase in den Bierpokal, dann wischte er über seinen Mund und sagte halblaut: »Diese Geschichte kennt die Herrin von Buhen nicht. Auch nicht die folgende: Es wird ein kleines Heer hierher gebracht, zusätzlich zu den Mannschaften, die in Buhen liegen. Nein, nicht deine Soldaten, Atlan-Horus. Und der Mann, der dieses Heer mit all dem Troß aus Bauern und Handwerkern anführt, soll der neue Statthalter Buhens und des Landes Wawat werden. Nur dann, wenn du zustimmst, Herrin. Der Herrscher weiß, wie gut und entschlossen du dein schweres Amt wahrgenommen hast. Aber du bist, ich seine es nunmehr, eine junge, schöne Frau, und deine Falten sollst du, so Amenemhet, nicht im Grenzland bekommen.« »Die Klugheit Amenemhets ist schrankenlos und wunderbar«, meinte Asyrta-Nebkaura halblaut und mit kaum sichtbarem Lächeln, »denn ich dachte bereits selbst daran, ihn darum zu bitten.« Der Bote senkte den Kopf und murmelte: »So sehen wir denn, daß sich abermals alles ohne Ärger geregelt hat. So hat er’s gern, so mag er’s, unser Herrscher. Schnell, geräuschlos und wirksam. Wir sind nur seine Augen, Finger und Ohren.« ES hat sein Versprechen gehalten, flüsterte der Logiksektor. Asyrta deutete mit der ringgeschmückten Hand auf mich. »Atlan, der ein Freund meines Herzens ist«, sagte Asyrta, »fährt nach Punt. Ich weiß vieles über die gefährliche Seefahrt. Die verstümmelten und ausgeraubten Handelsmänner haben mir viel über Punt berichtet. Ich will teilhaben an dieser Seereise. Willst du dafür sorgen, Bote Wahkare, daß der Pharao dies erfährt und es mir erlaubt?«
»Ich bin sicher, daß er dich darum bittet, seinen besten Mann im Süden des Landes zu unterstützen.« »Du hast gesehen, daß wir viele der männlichen Gefangenen auf Schiffen und zu Fuß hapiabwärts geschickt haben, unter strenger Bewachung?« fragte Asyrta. »Es ist richtig so.« »Und wir werden dasselbe mit den Familien der Rebellen tun!« »Abermals richtig. Aber zuerst sollen die Leute von Buhen in das Lager der Gefangenen gehen und heraussuchen, wen sie als Diener behalten wollen«, erklärte der Bote. »Übrigens, ein fataler Anschlag auf dein Leben, Atlan. Im Tempel, meine ich. Höchst verwerflich!« »Es wäre verwerflicher gewesen, wenn ich jetzt in meinem Blute läge«, versetzte ich. »Es wird nicht der letzte Zwischenfall dieser Art sein. Es war auch nicht der erste. Sehr fatal, besonders für mich.« Er nickte und versicherte lächelnd: »Deine Freunde, umherwandernder Schatten des Kampfes, werden darauf achten, daß es sich nicht wiederholt.« »Können meine Freunde den Blitz und die Überschwemmung aufhalten?« »Schwerlich.« Verwirrt schenkte ich ihm Bier nach und spießte ein Stück Käse auf die Spitze des Dolches. An dem gleichen Siegelring, wie ihn Zakanza-Upuaut trug, erkannte ich den Boten. Aber seine Art, diese Botschaft vorzubringen, war erstaunlich. Ich fragte: »Gibt es einen bestimmten Tag, an dem ich in Nubet und einen anderen, an dem ich in Junu-Resyt sein muß?« »Der erste Tag hängt von der Schnelligkeit der Barke und den Aufenthalten ab. Wenn er dich sehen will, unser Herrscher, wird er einen Boten schicken. Das ist so üblich im Hapiland.« »Ich bin beruhigt. In wenigen Tagen werden wir Buhen verlassen, nachdem wir den neuen Statthalter in alle Einzelheiten eingeweiht haben.« Wahkare stand auf und verneigte sich würdevoll in beide Richtungen. Dann leerte er mit hingebungsvollem Schlürfen den Pokal, stellte ihn ab und sagte halblaut:
»Wir werden noch oft miteinander sprechen. Dein Freund, AtlanHorus, jener wilde Nubier, hat den Palast der Herrin mit seinen Elitesoldaten umstellt. Ihr sollt ruhig schlafen diese Nacht und die kommenden Nächte -miteinander, meine ich.« Ich ergriff sein Handgelenk, dann legten wir einander die Hände auf die Schultern. Wahkare zwinkerte. Ich blieb ernst und versprach: »Dessen kannst du sicher sein, Freund Wahkare.« Er ging hinaus. Wir hörten ihn mit den Posten Losungsworte wechseln, dann waren wir endlich allein. In der Mitte der Jahreszeit Peret, die ebenfalls vier Monde fang dauerte, fuhren wir mit der Barke auf Nubet zu. Alles, was vor fünf oder sechs Monden gesät und gepflanzt worden war, stand hoch im Halm. Zwei Streifen strahlendes helles Grün säumten den Strom. »Es ist wunderbar friedlich. Niemand sieht, welche Unmenge Arbeit dahintersteckt. Ich hab’s in Buhen mühsam erfahren«, sagte Asyrta leise. Sie lehnte neben mir am wuchtigen Buggeländer der Barke. Südlicher Wind straffte das Segel. Wir brauchten nicht zu rudern, wir trieben schnell mit der Strömung. In einem halben Tag würden wir vor dem weißen Haus anlegen. »Das Land ist ein Geschenk des Nils, aber ein Werk des Menschen«, erwiderte ich. Überall sahen wir die Kanäle an den Ufern, tief ins flache Land hinein. Irgendwo zwischen Wüste und Vegetationsrand mochten die letzten Gruppen der Gefangenen entlangwandern, Junu-Resyt entgegen. Hin und wieder tauchte eine langgestreckte Insel auf, von Sumpf und üppig wuchernden Binsen, Lilien, Lotosblüten und Schilf umwuchert. Die sichelförmigen Binsenboote der Fischer schoben sich durch die raschelnden Stengel; ein Bild ländlicher Ruhe. »Ein Werk der Soldaten wird auch die Fahrt nach Punt sein. Ich freue mich darauf!« Asyrta sah entspannt und ruhig aus. Ich hingegen war aus drei Gründen noch immer beunruhigt. Was plante ES für die nähere Zukunft? Wie viele fanatische Nubier, die mich umbringen wollten, gab es, und an welchen Plätzen? Was erwartete uns auf der beschwerlichen Fahrt nach Punt?
»Ich weiß nicht, ob wir uns freuen sollten«, sagte ich nachdenklich. »Punt ist weit, und ich bin unsicher. Mein Auftrag war, Dancredi zu vernichten. ES sollte mich wieder aus diesem Land wegreißen, zurück zu Rico, so wie dich. Wir wußten nicht, daß wir vier Jahrzehnte fang nebeneinander geschlafen haben. Eine lange Kette von Rätseln, Liebste.« Ich betrachtete sinnend die bewirtschafteten Ufer. Einmal waren sie zweitausend große Schritte, ein andermal zwanzigtausend Schritte oder mehr breit, ehe sie an die Wüste stießen. Wieder sah ich die Rampen der Wege, die zu mächtigen Tempeln führten. Ruhig glitt die Barke mit den prächtigen Verzierungen und dem großen Segel durch die kleinen Wellen. Ich ging zum Heck zurück. Dort standen und saßen meine Freunde. Auch sie schienen von einer nachdenklichen Stimmung befallen zu sein. »Wir bereiten uns auf die lange Fahrt vor, Atlan-Horus.« PtahSokar hob die Hand zum Gruß. »Wir hoffen, daß die Tage in deinem weißen Haus angenehm und voller Lachen sein werden.« »Das hoffe ich auch«, sagte ich. »Und trotzdem bin ich unruhig.« Zakanza-Upuaut warf mir einen prüfenden Blick zu. Dann zuckte er mit seinen Schultern und meinte: »Wir sind ausgezogen und haben gesiegt. Wir sind überall als Sieger empfangen worden. Alle Gefangenen sind dort, wo sie gebraucht werden. Was bekümmert dich?« »Dieses und jenes«, gab ich zurück. »Unter anderem weiß ich nicht mehr, wieviel Zeit mir bleibt, meine Arbeit zu tun.« Ptah-Sokar sah zu, wie Ipuki, der Steuermann der Barke, die beiden Ruderschäfte bewegte. »Jemanden, den der Pharao auszeichnen wird, in Junu-Resyt wird dies geschehen, beneide ich. Er braucht nicht bekümmert zu sein.« Ich war unsicher und haßte den Gedanken, von der Willkür von ES abhängig zu sein. Das war die zweite Krise in diesem Jahr, die mich gefesselt hielt. Nachdenklich blickte ich in die Gesichter meiner Freunde. Sie erwarteten von mir, daß ich sie leitete und ihnen sagte, was zu tun war. Sie vertrauten mir. Ich holte tief Luft und versuchte, meine Sicherheit wiederzufinden. Als ich nach vorn
blickte, sah ich bereits die vertrauten Ufer; hinter den nächsten Windungen lagen Nubet und das weiße Haus. »Ich bin nicht bekümmert«, sagte ich entschlossen. »Warten wir ab, was Amenemhet uns sagt, und machen wir uns auf die Suche nach dem Land Punt.« Ich nickte ihnen zu und ging wieder zurück zum Bug. Asyrta saß auf dem Geländer, streckte ihr Gesicht der Sonne entgegen und schaukelte mit den Beinen. Ich nahm ihre Hand und flüsterte: »Noch ein paar Stunden, und wir sind endlich allein. Ich bin sicher, daß man uns gebührend empfängt.« »Vielleicht ist das ein Ort, an dem wir endlich Ruhe finden können«, meinte Asyrta. »Allein und ohne alle Verpflichtungen.« »Vielleicht«, murmelte ich. Es war eine leise, schnelle Fahrt voller ähnlicher Eindrücke: Felder, Pflanzungen und Bauern. Fischer, die mit Netz und Dreizack fischten, Herden aller Tiere, frei umherlaufend oder in den Gevierten der Zäune oder Mauern eingeschlossen. Nach der letzten Krümmung tauchten die vertrauten Konstellationen der Palmen und der breiten Schilfgewächs-Inseln auf und dahinter die steinerne Rampe mit den Pollern, an denen die Barke anlegen konnte. Wir waren vor dem weißen Haus. »Dort ist es«, sagte ich und beschrieb Asyrta die nähere Umgebung. Auch hier sahen wir die schmalen Binsenboote mit schweigsamen Männern, die mit Pfeilen den Wildvögeln im Schilf nachstellten und mit Wurfnetzen und Dreizacken Fische fingen. Ich drehte mich um. Ipuki machte eine entsprechende Bewegung und steuerte die Barke dem linken Ufer zu. Während wir uns dem Rand des Stromes näherten, winkten einige Fischer aus den Booten. Sie ließen sich nicht in ihrer Arbeit stören. Ich beugte mich weit vor, um die Anlegemanöver zu beobachten. Als wir neben dem sandigen Ufer und den hoch aufgeschossenen Binsen dahinstreiften, als das Segel an die Rah gebunden wurde, schoß ein größeres Boot aus den knisternden Halmen hervor. Drei Männer saßen darinnen; das Innere der Binsenkonstruktion war voller Werkzeuge zum Fischfang. Neter Nefer, dachte ich, guter Gott, was könnte ich sie alles lehren! Wieviel
Fehler machten sie noch immer! Unsere Barke wurde langsamer, trieb auf die Befestigungspunkte zu, und vom Haus her kamen einige Männer gelaufen. Das Boot überholte uns auf der linken Seite. Einer der Männer hob sein Paddel und rief: »Wir grüßen Atlan-Horus, den Sieger über die Wegelagerer. Bist du es, Herr?« Ich lachte und winkte zurück. »Ja. Ich wünsch’ euch guten Fang, Männer. Wenn ihr einen besonders großen Fisch fangt, bringt ihn zu diesem Haus. Wir können ihn brauchen!« Der Fischer, der im Heck paddelte, nickte und schrie: »Wir halten unser Wort. Wir bringen ihn.« Ich grüßte und wandte mich wieder nach rechts. Die Seile flogen an Land, und die Männer schlangen sie geschickt um die dicken Palmbohlen. Langsam wurde die Barke an den schmalen Kai herangezogen. An der linken Bordwand glitt das Binsenboot vorbei. Die Besatzung der Barke sprang an Land, befestigte die Rah und wuchtete die Ballen und Packen unserer Ausrüstung aus dem Kielraum. Ich stand am Mast, sah hinüber zu Asyrta, die den Niedergang vom Bug herunterkam und lächelte. Achtung! wisperte der Logiksektor. Der Fischer! Es war beängstigend ruhig geworden. Dann sah ich, wie sich einer der Fischer über die Bordwand schwang, weit ausholte und einen Dreizack schleuderte. Ich stieß mich vom Mast ab und hechtete schräg abwärts auf Asyrta zu. Aus vollen Lungen schrie ich: »Zakanza! Hilf uns!« Ich erreichte Asyrta, umfaßte ihre Oberschenkel mit beiden Armen und riß die Frau zu Boden. Aneinander geklammert rollten wir über die Planken. Die Harpune zischte durch die Luft, verfehlte uns um eine Handbreite und bohrte sich mit krachendem Geräusch in die Bordwand. Ich hatte gesehen, daß der Fischer in der anderen Hand zwei dieser Waffen gehalten haste. Jetzt erkannte ich die schnelle Bewegung, mit der er den linken Arm hochwarf, mit der Rechten die Harpune aus der Luft fing und wieder ausholte. Mein Schrei hatte die Besatzung für einen Augenblick erstarren lassen. Jetzt sprangen aus allen Richtungen Männer auf den
Attentäter zu. Ich versuchte, auf die Füße zu kommen, griff in rasender Eile nach einem verschnürten Gegenstand und sah, wie sich die Finger vom Schaft der Harpune lösten, am Ende der nach vorn geführten Bewegung. Ich fing die Harpune mit dem Packen auf, meine Arme gaben nach, das Paket wurde hart gegen meine Brust geschlagen. Ich warf es zur Seite, griff nach meinem Dolch, aber da warf der Attentäter seine dritte Harpune. Ich sprang nach rechts, meine Hände griffen um den Schaft der langen Rah; als ich mich hochschwingen ließ, summte die Harpune unter mir vorbei und bohrte sich tief in das eng gewickelte Seil am Maststumpf. Sofort hörte ich ein lautes Klatschen, als ich sicher auf dem Deck stand, sah ich den dunklen Körper von Zakanza-Upuaut über die Bordwand springen. Ich rannte hinterher und sah, wie mein Freund dicht hinter dem flüchtenden Attentäter ins Wasser eintauchte und wie ein langer Fisch auf den Mann zustrebte. »Aus dem Weg! Nach links! Geht an Land!« schrien Stimmen vom Heck der Barke. Ptah-Sokar und Rawer standen dort, hatten ihre Bögen ausgezogen und schossen gleichzeitig die Pfeile ab. Die Fischer in der Binsenbarke paddelten wie besessen in die Mitte des Fusses hinaus. In fast geraden Bahnen flogen die Geschosse. Ein Pfeil traf den vorderen Ruderer in den Nacken, der nächste durchbohrte die Wirbelsäule des dahinter rudernden Fischers. Als die zwei Toten aus dem Boot kippten und das Binsenkanu umwarfen, tauchten zugleich Zakanza und der Mörder zwanzig Schritte unterhalb der Barke auf. Ich stand am Ende der riesigen Rah, die quer über dem Schiffchen lag, hielt mich am Tragseil fest und donnerte: »Bringt Asyrta-Nebkaura ins Haus! Holt ein anderes Boot. Schnell!« Meine Muskeln spannten sich. Ich war bereit, einzugreifen, aber Zakanza-Upuaut kämpfte schnell und erbarmungslos. Er umklammerte mit einer Hand den Hals des Attentäters und versetzte ihm mit der geballten Faust eine Serie wilder Schläge ins Gesicht, ohne sich um die verzweifelte Gegenwehr zu kümmern. Dann schwang Zakanza sich aus dem Wasser hoch und schloß beide Hände um den Hals des Mannes. Er drückte ihn unter Wasser,
kämpfte mit gewaltiger Anstrengung, und beide trieben ab. Ich erkannte, daß die Bewegungen des Fischers schwächer wurden und schließlich aufhörten. »Wo ist das Boot?« Ich rannte quer über das Schiff, sprang in die hohen Gräser und sah mich um. Ptah-Sokar winkte von einem Platz etwa fünfzig Schritte weiter flußabwärts. Ich hastete auf ihn zu und schwang mich in das Binsenboot, in dem zwei Bogenschützen saßen. Sofort stießen sie ab und ruderten hinter Zakanza her, der versuchte, gegen den Strom anzuschwimmen. Nach etwa dreißig kräftigen Ruderschlägen waren wir neben ihm. Ich beugte mich über den Rand des Bootes und half Zakanza herein. Er klammerte sich an den hochgebogenen, zusammengeschnürten Bug, keuchte und spuckte Wasser. »Ich danke dir, Zakanza«, sagte ich leise. »Es wird so weitergehen, nicht wahr?« Er wischte sich Wasser aus Gesicht und Haar, dann holte er tief Luft und murmelte: »Dancredi muß die Mörder ausgeschickt haben, ehe er mit uns zusammentraf und starb. Anders kann es nicht sein.« »Wahrscheinlich hast du recht.« Ich griff nach einem Paddel und half, das Boot wieder ans Ufer zu bringen. Wir zogen es an Land und sahen uns nach dem Eigentümer um, aber er war nicht zu sehen. Langsam gingen wir auf den Landeplatz zu. »Asyrta ist wohlauf?« fragte Zakanza und schüttelte sich. »Ja. Vielleicht ein paar blaue Flecken, nicht mehr.« Ich ging auf das Haus zu. Auch dieser zweite Mordversuch war gut vorbereitet worden. Winzige Zufälle hatten verhindert, daß mich eine der Harpunen getroffen haste. In der kommenden Zeit mußte ich sogar beim Essen und Trinken wachsam bleiben. Die Mörder würden es immer wieder versuchen. »Es wird Zeit, daß wir die Schiffe erreichen und in See gehen«, murmelte ich. »Bis nach Punt werden mir die Attentäter wohl schwerlich nachsegeln.« »Das nicht, Horus des Horizonts. Aber vielleicht gibt es den einen oder anderen unter den achteinhalb Hundert Männern.«
Ich drehte mich herum und sah Ptah-Sokar ins Gesicht. Wir nickten und wußten, daß wir uns aufeinander verlassen konnten. Ich fand alles so, wie wir es verlassen hatten: Mein Zimmer war sauber, einige neue Möbel waren hereingebracht worden. Die vielen Zimmer füllten sich mit unseren Freunden; man brachte den Besitz Asyrtas, und die Diener bekamen wieder viel Arbeit. Alles war auf das beste gepflegt. Küche und Kammern quollen von Vorräten über. Ich breitete meine Habseligkeiten aus und befestigte die mitgenommene Karte der Hapigegend neben denjenigen, die den möglichen Weg nach Punt wiesen; Karten, die nur Meer und Ufergegenden zeigten, bis zum Äquator von Larsaf Drei und darüber hinaus. Asyrta trat hinter mich und legte die Hände auf meine Schultern. »Ich hoffe, Amenemhet läßt uns nicht zu lange warten«, flüsterte sie. »Meine Angst wächst mit jedem Tag.« Wir blickten über die Terrasse hinweg auf den Plattenweg, die Felder und den Strom; am Ende der Geraden befand sich der Mast der Barke. »Hier sind wir sicher«, antwortete ich. »Hier haben wir Ruhe. Ptah ist hier, ebenso Zakanza und Rawer. Wir treffen erst bei den Schiffen zusammen. Wir müssen so lange warten, bis sie die Gespanne hergeführt haben.« »Ich seine es ein, Liebster. Es ist fürchterlich, diese Abhängigkeit, dieses Ausgeliefertsein, die ES uns zumutet!« »Mir geht es nicht um einen Deut anders«, murmelte ich und zog sie an mich. Wir waren sicher, daß sich diese kosmische Intelligenz eine neue Variante ausgedacht hatte oder von einem ihrer Wanderer-Geschöpfe dazu gezwungen wurde, uns erneut zu manipulieren. Eine Reihe von Tagen verging. Jeder Tag, jede Nacht schien ein Zwilling des vorangegangenen zu sein. Wir schwammen in dem kleinen Becken, wir schliefen lange, aßen gut und sonnten uns, bis unsere Haut bronzefarben war. Wir beobachteten das Leben auf den Feldern und in der Wüste. Die Abende waren ausgefüllt mit langen Gesprächen. Hin und wieder zog ich mich in mein Zimmer zurück und versuchte, auf Binsenblättern etwas zu konstruieren. Ich setzte meinen Ehrgeiz daran, mit vorhandenen Mitteln und
Möglichkeiten etwas Neues oder ein hilfreiches Verfahren zu entwickeln, aber ich ahnte, daß sich die Zivilisation dieses Reiches nur noch langsam entfaltete. Ptah-Sokars Bogenschützen und Zakanzas Späher schützten die Grenzen des weitläufigen Gutshofes; Asyrta und ich konnten uns sicher fühlen. Einige Nächte später schreckte ich auf. Blinzelnd erkannte ich Asyrta, die ein Öllämpchen anzündete. Ich spürte, wie kalter Schweiß von der Stirn und aus den Haaren tropfte. Mein Herz schlug rasend. Ich hörte, wic der Extrasinn flüsterte: ein wüster Alptraum, Atlan. Beruhige dich! Asyrta glitt heran, legte die Hand auf meine Stirn und sagte: »Du hast wild geträumt, Liebster. Zweimal hat du geschrien; fremde Worte. Ich hab’ nichts verstanden.« Ich stand auf, schloß die Augen und zwang meinen Körper mit einer Dagorübung unter meine Kontrolle. Vorsichtig setzte ich Schritt um Schritt und lehnte mich gegen die gemauerten Wandnischen. Meine Finger waren unruhig, als ich einen Becher mit schwerem Wein aus Keftiu füllte. Ich nahm einen Schluck und sagte leise: »Ich weiß nichts mehr. Ich erinnere mich nicht. Ich triefe vor… Angstschweiß?« Ich zog die Vorhänge auf, öffnete die Fechtwerktür und ging, den Becher in den Fingern, zum Waschbecken. Ich setzte mich auf den Rand und spürte das kühle Wasser an meinen Beinen. Ich hob den Kopf und starrte die Mondsichel zwischen den Sternen an. Plötzlich war es, als schöbe sich eine riesige graue Wolke über den Nachthimmel. Ich lauschte in mich hinein und versuchte zu erkennen, welche geheime Furcht mich gepackt haste. Durch meine Gedanken zogen furchtbare Ahnungen von Verwundungen, unnennbaren Katastrophen und Tod. Ich fühlte mich ausgesetzt und ausgestoßen, einsam, aufs höchste gefährdet, und als Asyrta sich lautlos neben mich setzte und ihre Arme um mich legte, wurde sie Teil dieser Vorahnung furchtbarer Geschehnisse. Ich hörte die Grillen und Frösche, als wären es Laute einer anderen, gräßlichen Welt, und die Federmäuse und Eulen schienen Schatten kommenden Todes zu sein. Wir tranken abwechselnd; ich holte tief Luft und flüsterte:
»Alle Gefahren, die wir zusammen erlebt und überstanden haben, Asyrta, sind sich in diesem wahnsinnigen Alptraum zugleich begegnet. Ich hab’ gezittert vor Furcht.« Sie legte die Hand auf meine Brust und sagte leise: »Dein Herz schlägt wie rasend. Sagt der Traum etwas von der Zukunft? Unserer Zukunft?« »Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich und meine Freunde – und Amenemhet – , wir werden alles tun, damit unsere Zukunft nichts mit dem Traum zu tun hat. Ich rufe Rico-Riancor-Rechme. Er soll uns mehr Ausrüstung schicken. Ich will nicht, daß wir nur in der Überlebenskuppel sicher sind. Beruhige dich, Liebste. Der Spuk ist vorbei, wenn die Sonne aufgegangen ist.« Sie nickte. Der Becher war leer. Wir gingen zurück in den kühlen Schlafraum und versuchten, jeder in den Armen des anderen, wieder einzuschlafen. Ich lag schlaflos da, wartete auf den Morgen und ahnte, daß der Traum und das Gefühl kommenden Unheils einen Teil unserer Zukunft vorweggenommen haste. Zum erstenmal seit langer Zeit fürchtete ich mich vor der Zukunft.
23. Die Überwachungsinstrumente hatten zu blinken angefangen. Wirre Linien zeichneten sich auf den Monitoren ab, die SERT-Haube hob sich. Cyr Aescunnar schreckte aus seinem Universum aus Text, Worten, Bildern und Stimmungen auf, tastete nach der Brille und setzte sie auf. Die Zeilen auf dem Stimmprinter erstarrten nach Atlans letztem Wort. MASTERCONTROL löste den zweiten Alarm aus. Ärzte und Wachpersonal in der Überlebensstation für Langzeittherapie rannten auf das gläserne Becken zu; die Reihen und Felder der Kontrollichter badeten die Szenerie in ein rotes Blitzgewitter. Ein Monitor zeigte, daß Atlans Herzschlag entweder ausgesetzt oder sich verändert haste. Die Sperren der Erinnerungsblockade, von der Katharsis aufgebrochen, schienen zu einem ungünstigen Zeitpunkt völlig beseitigt worden zu sein: aber noch während sich um den regungslosen Arkoniden im Bad der
Regenerationsflüssigkeit die Ärzte versammelten, während in die farbigen Schläuche der intravenösen Versorgung herzstärkende Medikamente eingespeist wurden, beendete MASTERCONTROL den Systemalarm. Die erste Batterie Warnlichter erlosch. Der Herzschlag stabilisierte sich auf dem normalen Wert. Aescunnar atmete auf. »Ein Schrecken jagt den anderen, Atlan«, brummte er und lehnte sich erleichtert im Sessel zurück. »Mitten im Idyll von Nubet oder Edfu, in Asyrtas Armen, versetzt du das gesamte NEI in Panik.« Sein Blick fiel auf seine Notizen, die er während der letzten Tage und Stunden wahllos aneinandergereit hatte: Gebräuchlicher Name Nubets = Edfu. Die Grenzfestung Iken ist identisch mit Mirgissa vor dem 3. Katarakt. Atlan ist mitunter ungenau, spricht im Hapiland von»Zentimetern« etc. Cyr hob die Schultern; es war absolut verständlich, daß bei dieser gigantischen Datenfülle auch das perfekte Erinnerungsvermögen des Arkoniden winzige – und völlig bedeutungslose – Fehler machte. Buhen? Ist der Historischen Fakultät der altägyptische Namen dieser Grenzfestung bekannt? Die »Nehesi« waren die »SüdlandBewohner«, die Festung Semna (wirklicher Name?) heißt »Sesostris ist mächtig«. Die holografischen Karten des Hapi-Landes zeigten unverändert in perfekter Deutlichkeit die Wege, die Atlan zurückgelegt und die Orte, an denen er sich aufgehalten haste. Immer wieder blickte der Geschichtswissenschaftler auf die Holoprojektionen, die ihm die Vorgänge im Zentrum der Überlebensstation zeigten. Noch immer hatte sich die modifizierte SERT-Haube nicht gesenkt. Atlan schwebte mit geschlossenen Augen über dem Antigravgitter im Nährbad; gerade lösten Ghoum-Ardebil und zwei junge Ärzte einen Verband an Atlans rechtem Schienbein. Langsam beruhigte sich auch Aescunnar und blickte auf den Chronometer. Es war längst wieder Nacht geworden: 22.35 Uhr am 10. Oktober 3561. Die Pharaonen der sog. 12. Dynastie (nach Manetho) bauten beim heutigen El-Lisht eine neue Stadt, die Memphis (= Menefru-Mire) ablösen sollte, nannten sie »Amenemhet, der die beiden Länder in Besitz nahm«: Itch-Towy. Damm und Schleusen, von Sesostris (11.) angefangen und vom
Enkel Amenemhets (111.) beendet, erschlossen den heutigen Moeris-See für die Landwirtschaft… konstruierte Atlan bei diesem riesigen Vorhaben mit? Durchaus denkbar. Cyr Aescunnar stand auf, dehnte seine Muskeln und ging leise zum Schlafraum. Oemchen Orb schlief; in der kleinen Küche des Büros hatte sie für Cyr ein Essen zubereitet. Cyr hob die Schultern: Seine Empfindungen schwankten zwischen der Sorge um Atlans Überleben und einer deutlichen Spur Erleichterung über die Beendigung des Alarms. Er ging zu seinem Arbeitspult, verfolgte sekundenlang die Bemühungen der Ärzte und hob, als der alte AraMediziner zufällig in die Objektive blickte, die Hand. GhoumArdebil nickte und fragte: »Sie wollen wissen, Cyr, wie es um Atlan steht? Uns hat der Alarm ebenso erschreckt wie Sie. Wir sind sicher, daß sein kurzer Schock nur die Reaktion auf eine Passage seines Traumes ist.« »Auf die Erinnerung daran«, sagte Aescunnar. »Gut, das von Ihnen zu hören, Ghoum. Ich schalte meine Warngeräte an und versuch’, ein paar Stunden zu schlafen.« »Wir rechnen mit einer längeren Pause.« Ghoum-Ardebil deutete auf die Überwachungsgeräte. »Die Erzählung war sehr lang, die Abenteuer ziemlich dramatisch, zweifellos ist der Arkonide erschöpft. Wir haben alle etwas Ruhe verdient. Gönnen Sie sich die Erholung, Cyr.« »Einverstanden. Danke, Doktor. Ich versuch’s.« Als Cyr einen Teil der Arbeitsleuchten und einige Geräte ausschaltete und durch das halbdunkle Studio ging, galt sein letzter Blick der ausgestreckten Gestalt im Überlebenstank. Die Gedanken an Atlans Bericht, der unvollständig schien, ließen ihn nicht lost Als er einzuschlafen versuchte, glaubte er für die Länge eines Gedankens sich in Atlans Zustand während des letzten Kapitels seiner Erlebnisse versetzen zu können: Für einen ebenso langen Augenblick spürte er den kalten Hauch von Atlans Todesfurcht. Über die kaum vorstellbare zeitliche Entfernung von fast fünf Jahrtausenden hinweg begann Aescunnar zu ahnen, mit welch angestrengter Energie Atlan damals überlebt und um das Überleben derer gekämpft hatte, für die er sich verantwortlich fühlte. Wenn er
auch heute mit der gleichen Energie um sein Überleben kämpfte, würde er – höchstwahrscheinlich – durchkommen. Cyr lächelte, als er einschlief. ENDE