Thich Nhat Hanh ist ein buddhistischer Mönch, Dichter und Friedensaktivist aus Vietnam. Er gründete die buddhistische V...
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Thich Nhat Hanh ist ein buddhistischer Mönch, Dichter und Friedensaktivist aus Vietnam. Er gründete die buddhistische Van Hanh Universität in Saigon und schrieb mehrere Bücher. Heute lebt Thich Nhat Hanh in der Gemeinschaft »Plum Village« in Frankreich, wo er lehrt und schreibt.
THICH NHAT HANH
DAS WUNDER DER ACHTSAMKEIT Einführung in die Meditation
THE SEU S VERLAG
Titel der amerikanischen Originalausgabe: The Miracle of Mindfulness erschienen bei Beacon Press, Boston, MA., U.S.A. Übersetzung aus dem Amerikanischen: Sylvia Wetzel © 1975 by Thich Nhat Hanh © 1988 der deutschen Ausgabe by Theseus-Verlag Zürich-München 4. Auflage 1993 Alle Rechte der Verbreitung in deutscher Sprache, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe und auszugsweisen Nachdruck vorbehalten durch Theseus-Verlag. Durchgesehen von Judith Bossert Foto: Jim Forest Herstellung: Verlagsdruckerei E. Rieder Nachf., Schrobenhausen Printed in Germany ISBN 3-85936-021-3
Inhalt
1. Der Kern der Übung
9
2. Das Wunder, auf der Erde zu gehen
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3. Ein Tag der Achtsamkeit
29
4. Der Kieselstein
33
5. Eins ist Alles — Alles ist Eins: Die Fünf Aggregate
43
6. Der Mandelbaum in deinem Vorgarten
50
7. Drei wunderbare Antworten
62
Achtsamkeitsübungen
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Nhat Hanh: Mit den Augen des Mitgefühls sehen von James Forest
87
7
1
Der Kern der Übung
Gestern kam Allen mit seinem Sohn Joey auf einen Besuch vorbei. Joey ist groß geworden. Er ist schon sieben und spricht fließend Französisch und Englisch. Er hat sogar schon etwas Slang auf der Straße aufgeschnappt. Es besteht ein großer Unterschied zwischen dem Erziehungsstil hier und dem bei uns zuhause. Hier meinen die Eltern, »Ein Kind braucht Freiheit in seiner Entwicklung«. In den zwei Stunden, die ich mit Allen sprach, mußte er Joey ständig im Auge behalten. Joey spielte und redete ununterbrochen, störte, und es war unmöglich, ein normales Gespräch zu führen. Ich gab ihm einige Bilderbücher, aber kaum hatte er sie angesehen, warf er sie schon wieder zur Seite und unterbrach wieder unser Gespräch. Ständig forderte er die Aufmerksamkeit der Erwachsenen. Später zog Joey seine Jacke an und ging nach draußen und spielte mit einem Nachbarkind. Ich fragte Allen: »Ist es einfach, mit einer Familie zu leben?« Allen antwortete nicht direkt. Er sagte, daß er in den letzten Wochen, seit der Geburt von Ana, kaum richtig hatte schlafen können. Nachts weckt Sue ihn auf und bittet ihn — da sie selbst zu müde zum Aufstehen ist — nachzusehen, ob Ana noch atmet. »Ich stehe auf, schaue nach dem Säugling, gehe wieder ins Bett und schlafe weiter. Manche Nacht findet das 9
Ritual zwei-, dreimal statt.« »Ist es einfacher, mit einer Familie zu leben, als Junggeselle zu sein?«, fragte ich. Er antwortete nicht direkt. Aber ich verstand. Ich stellte eine weitere Frage: »Viele Leute sagen, daß man mit einer Familie weniger einsam ist und mehr Sicherheit genießt? Trifft das zu?« Allen nickte und murmelte etwas vor sich hin. Ich verstand ihn auch so. Dann sagte Allen: »Ich habe einen Weg gefunden, viel mehr Zeit für mich zu haben. Früher betrachtete ich meine Zeit so, als sei sie in verschiedene Abschnitte unterteilt. Einen Teil hatte ich für Joey reserviert, einen anderen für Sue, einen weiteren, um ihr mit Ana zur Hand zu gehen und einen weiteren für die Hausarbeit. Die noch verbleibende Zeit betrachtete ich als mir gehörig. Ich konnte dann lesen, schreiben, Untersuchungen anstellen und Spazierengehen. »Jetzt versuche ich, meine Zeit überhaupt nicht mehr in Abschnitte zu unterteilen. Ich betrachte die Zeit mit Joey und Sue als meine eigene Zeit. Wenn ich Joey bei seinen Hausaufgaben helfe, versuche ich, einen Weg zu finden, diese Zeit als meine eigene zu sehen. Ich arbeite mit ihm seine Hausaufgaben durch, teile seine Gegenwart mit ihm und suche nach Wegen, Interesse an dem zu gewinnen, was wir gerade tun. Auf diese Weise wird die ihm gewidmete Zeit zu meiner eigenen Zeit. Das gleiche mache ich mit Sue. Und das Bemerkenswerte daran ist, daß ich jetzt unbegrenzt Zeit für mich selbst habe!« Allen lächelte, als er das erzählte. Ich war überrascht. Ich wußte, daß Allen das nicht aus Büchern gelesen hatte. Das war etwas, was er in seinem Alltag für sich selbst herausgefunden hatte.
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Abwaschen um abzuwaschen Vor dreißig Jahren, als ich noch als Novize in der Tu-HieuPagode lebte, war Abwaschen kaum eine angenehme Aufgabe. In der Zeit der Exerzitien, wenn alle Mönche ins Kloster zurückgekehrt waren, mußten zwei Novizen das Kochen und Abwaschen für manchmal mehr als einhundert Mönche besorgen. Es gab keine Seife. Wir hatten nur Asche, Reisspelzen und Schalen von Kokosnüssen. Das war alles. Einen solch großen Stapel von Schüsseln zu waschen, war eine schwere Aufgabe, besonders im Winter, wenn das Wasser eiskalt war. Wir mußten zuerst einen großen Topf Wasser heiß machen, bevor wir mit dem Schrubben anfangen konnten. Heutzutage steht man in einer Küche, in der es flüssige Seife, besondere Spülbürsten und sogar fließend heißes Wasser gibt, was alles sehr viel angenehmer macht. Es fällt heutzutage leichter, gerne abzuwaschen. Jeder kann das Geschirr schnell spülen, sich dann hinsetzen und in Ruhe eine Tasse Tee genießen. Ich halte es für sinnvoll, eine Waschmaschine anzuschaffen — obgleich ich meine Kleider von Hand wasche — aber eine Geschirrspülmaschine geht mir doch etwas zu weit! Wenn man abwäscht, sollte man nur abwaschen, d. h. man sollte sich dabei völlig bewußt sein, daß man abwäscht. Auf den ersten Blick mag das ein wenig albern erscheinen. Warum sollte man solches Gewicht auf eine so einfache Sache legen? Aber das ist genau der Punkt. Die Ihtsache, daß ich hier stehe und diese Schalen abwasche, ist eine wunderbare Wirklichkeit. Ich bin völlig ich selbst, folge meinem Atem und bin mir meiner Gegenwart, meiner Gedanken und Handlungen bewußt. Ich kann so unmöglich unbewußt umhergeschleudert werden wie eine Flasche, die von den Wellen hin und her geworfen wird.
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Die Tasse in der Hand In den Vereinigten Staaten habe ich einen guten Freund. Er heißt Jim Forest. Als ich ihm vor acht Jahren zum ersten Mal begegnete, arbeitete er bei der Katholischen Friedensgesellschaft. Im letzten Winter besuchte mich Jim. Normalerweise wasche ich das Geschirr gleich nach dem Abendessen ab, bevor ich mich wieder hinsetze und mit den anderen Tee trinke. Eines Abends fragte mich Jim, ob er nicht abwaschen solle. Ich sagte: »Ja, mach nur, aber wenn du abwäschst, dann mußt du auch wissen wie.« Jim entgegnete: »Komm, komm, meinst du denn, ich weiß nicht, wie man Geschirr spült!« Ich antwortete: »Es gibt zwei Arten, Geschirr zu spülen. Einmal, damit man hinterher sauberes Geschirr hat, und die zweite Art besteht darin, abzuwaschen um abzuwaschen.« Jim war entzückt und sagte: »Ich wähle die zweite Art — abwaschen um abzuwaschen.« Von da an wußte Jim, wie man den Abwasch macht. Ich übertrug ihm die Verantwortung dafür für eine ganze Woche. Wenn wir beim Abwasch nur an die Tasse Tee denken, die auf uns wartet, und uns beeilen, damit wir schnell fertig werden, so, als ob der Abwasch etwas Überflüssiges sei, dann »waschen wir nicht ab um abzuwaschen«. Und mehr noch, wir leben nicht, wenn wir abwaschen. Wir sind in der Tat völlig unfähig, das Wunder des Lebens zu begreifen, wenn wir so am Spülbecken stehen. Wenn wir nicht abspülen können, ist es gut möglich, daß wir auch nicht in der Lage sind, unseren Tee zu trinken. Wenn wir Tee trinken, werden wir nur an andere Dinge denken und uns kaum der Tasse in unseren Händen bewußt sein. So verschlingt uns die Zukunft — und wir sind in der Tat unfähig, auch nur eine Minute unser Leben zu leben.
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Eine Mandarine essen Ich erinnere mich noch an die Zeit, es war vor einigen Jahren, als ich mit Jim zum ersten Mal in die Vereinigten Staaten reiste. Wir saßen unter einem Baum und aßen Mandarinen. Er fing an, über unsere Zukunftspläne zu sprechen. Immer wenn wir über ein Vorhaben nachdachten, das anziehend oder anregend schien, vertiefte sich Jim so sehr darin, daß er im wahrsten Sinne des Wortes vergaß, was er im Augenblick gerade tat. Er steckte ein Stück Mandarine in den Mund, und bevor er mit Kauen angefangen hatte, war er schon dabei, das nächste Stück in den Mund zu stecken. Er merkte kaum, daß er eine Mandarine aß. Ich brauchte lediglich zu sagen: »Du solltest zuerst das Stück essen, das du im Mund hast«, und Jim sah, was er tat. Es war so, als ob er überhaupt keine Mandarine gegessen hätte. Wenn er irgendetwas gegessen hatte, dann vielleicht seine Zukunftspläne. Eine Mandarine besteht aus verschiedenen Stückchen. Wenn ihr ein Stück essen könnt, so könnt ihr möglicherweise die ganze Mandarine essen. Wenn ihr aber das eine Stück nicht essen könnt, dann könnt ihr vermutlich auch die ganze Mandarine nicht essen. Jim verstand. Er führte seine Hand nach unten und richtete seine Aufmerksamkeit auf das Stück, das er gerade im Mund hatte. Sorgfältig kaute er es, bevor er das nächste Stück in die Hand nahm. Später kam Jim dann wegen seiner AntikriegsAktivitäten ins Gefängnis. Ich machte mir Sorgen, ob ihm die Gefängniswände nicht zu eng werden würden und schickte ihm einen kurzen Brief: »Denkst du noch manchmal an die Mandarine, die wir miteinander gegessen haben? Dein Aufenthalt im Gefängnis gleicht der Mandarine. Schluck es und sei eins damit. Morgen ist es vorbei.«
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Der Kern der Übung Vor mehr als dreißig Jahren, als ich ins Kloster eintrat, gaben mir die Mönche ein kleines Büchlein mit dem Titel »Der Kern der Übung für den Alltagsgebrauch«, verfaßt von dem buddhistischen Mönch Doc The von Bao Son Pagode. Sie rieten mir, es auswendig zu lernen. Es war ein dünnes Büchlein mit kaum mehr als vierzig Seiten. Es enthielt aber alle Gedanken, die Doc The anwendete, um seinen Geist bei der Arbeit wach zu halten. Wachte er am Morgen auf, dann war sein erster Gedanke: »Gerade erwacht, wünsche ich mir, daß alle Menschen großes Gewahrsein erreichen und mit völliger Klarheit sehen mögen.« Wusch er seine Hände, hielt er mit folgendem Gedanken seine Achtsamkeit aufrecht: »Meine Hände waschend wünsche ich mir, daß alle reine Hände zum Empfang der Wirklichkeit haben mögen.« Das ganze Buch besteht aus solchen Sätzen. Die Absicht dabei war, den Anfängern in der Übung zu helfen, ihre Bewußtheit aufrechtzuerhalten. Zenmeister Doc The half allen jungen Novizen auf einfache Art, das zu üben, was in der Sutra über die Achtsamkeit gelehrt wird. Jedes Mal, wenn man die Roben anlegte, Geschirr abwusch, auf die Toilette ging, die Sitzmatte zusammenlegte, Eimer mit Wasser trug oder Zähne putzte, konnte man mit einem Gedanken aus dem Büchlein das eigene Bewußtsein unter Kontrolle bekommen. In der Sütra über die Achtsamkeit1 heißt es: »Wenn er geht, muß der Übende sich bewußt sein, daß er geht. Wenn er sitzt, muß der Übende sich bewußt sein, daß er sitzt. Wenn er sich hinlegt. . . Gleichgültig, in welcher Haltung sich der Körper befindet, der Übende muß sich dieser Haltung bewußt sein. Wenn er so übt, lebt der Übende in der unmittelbaren und fortwährend auf den Körper gerichteten Achtsamkeit. . .« Die auf die Körperhaltung gerichtete 14
Achtsamkeit reicht aber noch nicht aus. Wir müssen uns jedes Atemzuges bewußt sein, jeder Bewegung, jedes Gedankens und Gefühls, all dessen, was in irgendeiner Beziehung zu uns steht. Was ist der Sinn dieser Anweisungen in der Sutra? Wo finden wir die Zeit für eine solche Übung von Achtsamkeit? Wenn man den ganzen Tag mit der Übung von Achtsamkeit verbringt, wie soll man dann je genügend Zeit finden, für all die Arbeiten, die getan werden müssen, um die Gesellschaft zu verändern und eine Alternative zu ihr aufzubauen? Wie kann Allen arbeiten gehen, die Hausaufgaben von Joey nachschauen, Anas Windel in die Waschmaschine stecken und gleichzeitig Achtsamkeit üben?
1
In den Sutren lehrt der Buddha üblicherweise, daß wir mit unserem Atem versuchen sollten, Konzentration zu entwickeln. Die Sutra, die über den Gebrauch des Atems für die Aufrechterhaltung von Achtsamkeit spricht ist die Anapanasati-Sutra. Diese Sutra wurde von einem vietnamesischen Zenmeister aus Zentralasien namens Khuong Tang Hoi am Anfang des dritten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung übersetzt und kommentiert. Anapana heißt Atem und Sati Achtsamkeit. Tang Hoi übersetzt es mit »den Geist bewachen«. Die Anapanasati Sutra ist also die Sutra, die uns lehrt, wie wir den Atem zur Aufrechterhaltung von Achtsamkeit nutzen können. Die Sutra über den Gebrauch des Atems zur Aufrechterhaltung von Achtsamkeit ist die 118. Sutra in der Majhima Nikaya Sammlung der Sutren und lehrt 16 Methoden der Atembetrachtung.
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2
Das Wunder, auf der Erde zu gehen
Allen sagt, daß er, seit er Joeys und Sues Zeit als seine eigene Zeit ansieht, »unbegrenzt Zeit hat«. Das mag sein, vielleicht aber nur im Prinzip. Denn es gibt ohne Zweifel Umstände, in denen es Allen vergißt, Joeys Zeit als seine eigene zu betrachten. Wenn er mit ihm über seinen Hausaufgaben sitzt, verliert er diese Zeit vielleicht. Vielleicht hofft er, daß die Zeit schnell vergeht, oder er wird ungeduldig, weil er glaubt, seine Zeit zu verschwenden, weil diese Zeit nicht seine eigene ist. Wenn er wirklich »unbegrenzt Zeit haben« möchte, so muß er seine Verwirklichung lebendig halten, »daß das seine Zeit ist«, wenn er mit Joey lernt. In solchen Zeiten wird unser Geist aber unvermeidlich von anderen Gedanken abgelenkt. Wenn man wirklich seine Bewußtheit lebendig halten möchte (von jetzt ab werde ich den Begriff »Achtsamkeit« benutzen, wenn es darum geht, das Bewußtsein für die gegenwärtige Wirklichkeit wach zu halten), dann muß man jetzt im Alltag üben und nicht nur während der Meditation. Wenn ihr auf einem Weg zu einem Dorf geht, so könnt ihr die Achtsamkeit üben. Wenn ihr einen Feldweg entlang geht, umgeben von grünen Wiesen, so werdet ihr, wenn ihr Achtsamkeit übt, den Weg ins Dorf erfahren. Ihr übt, indem ihr diesen einen Gedanken lebendig haltet: »Ich gehe 16
auf dem Weg, der ins Dorf führt.« Ob die Sonne scheint oder ob es regnet, ob der Weg trocken ist oder naß, ihr haltet diesen einen Gedanken aufrecht. Wiederholt ihn aber nicht wie eine Maschine. Maschinendenken ist das genaue Gegenteil von Achtsamkeit. Wenn wir auf dem Weg ins Dorf wirklich Achtsamkeit üben, erleben wir jeden Schritt als ein unendliches Wunder, und Freude wird unser Herz öffnen wie eine Blume, und wir können in die Welt der Wirklichkeit eintreten. Ich gehe gerne auf Landstraßen, mit Reispflanzen und wildem Gras zu beiden Seiten. Ich setze jeden Fuß voller Achtsamkeit auf die Erde, im Wissen, daß ich auf einer wunderbaren Erde gehe. In solchen Augenblicken ist Dasein eine wunderbare und geheimnisvolle Wirklichkeit. Normalerweise betrachten es Menschen als Wunder, wenn jemand auf dem Wasser oder in der dünnen Luft gehen kann. Das wirkliche Wunder besteht für mich aber nicht darin, auf dem Wasser oder in der dünnen Luft zu gehen, sondern auf der Erde. Jeden Tag haben wir Teil an einem Wunder, das wir nicht einmal als solches sehen: ein blauer Himmel, weiße Wolken, grüne Blätter, die schwarzen neugierigen Augen eines Kindes — unsere eigenen Augen. Alles ist ein Wunder.
Sitzen Der Zenmeister Doc The sagt, daß wir in der Meditation aufrecht sitzen und folgenden Gedanken entwickeln sollen: »Hier sitzen heißt am Bodhi-Ort sitzen.« Der BodhiOrt ist der Ort, wo der Buddha Erleuchtung erlangte. Wenn alle Buddha werden können, und wenn die Buddhas all die unzähligen Wesen sind, die Erleuchtung erlangt haben, dann haben schon viele an diesem Ort gesessen, an 17
dem ich jetzt sitze. Am gleichen Ort sitzen wie der Buddha macht uns glücklich und in Achtsamkeit sitzen heißt ein Buddha sein. Der Dichter Nguyen Cong Tru erfuhr das gleiche, als er sich an einem bestimmten Ort niedersetzte und plötzlich sah, wie vor unzähligen Jahren viele andere genau an dem selben Ort gesessen hatten, und wie auch zukünftig andere wieder da sitzen würden. Am selben Ort sitze ich heute, wo andere lange vor mir saßen, und wo in tausend Jahren noch andere kommen. Wer ist es, der singt und wer; der lauscht? Der Ort und die Minuten, die er da verbrachte, schufen eine Verbindung zur ewigen Wirklichkeit. Aktive, engagierte Menschen haben aber keine Muße, langsam auf Wegen mit grünem Gras zu gehen und unter Bäumen zu sitzen. Man muß Pläne schmieden, sich mit Nachbarn beraten, eine Million Schwierigkeiten lösen und hart arbeiten. Man muß mit schwierigen Umständen fertig werden und in jedem Augenblick auf seine Arbeit achten, wach und bereit, mit diesen Umständen geschickt und intelligent umzugehen. Ihr fragt jetzt vielleicht: Wie sollen wir da Achtsamkeit üben? Meine Antwort darauf ist die: Richtet eure Aufmerksamkeit auf eure Arbeit, seid wach und bereit, mit jeder Situation, die entsteht, geschickt und intelligent umzugehen — das ist Achtsamkeit. Es gibt keinen Grund, warum das Ausrichten all unserer Aufmerksamkeit auf unsere Arbeit, unsere Wachheit und Bereitschaft, nach besten Kräften zu handeln, etwas anderes als Achtsamkeit sein sollte. In den Augenblicken, wo man Rat gibt, Probleme löst, und alles, was entsteht, anpackt, braucht man ein ruhiges Herz und Selbstbeherrschung, wenn man gute Ergebnisse erzielen 18
will. Das liegt auf der Hand. Wenn wir uns nicht beherrschen können und uns stattdessen von Ungeduld und Ärger leiten lassen, hat unsere Arbeit keinen Wert. Achtsamkeit ist das Wunder, mit dessen Hilfe wir Herr unserer selbst werden und uns erneuern können. Stellt euch z. B. einen Zauberer vor: einen Zauberer, der seinen Körper in viele Stücke zerschneidet und jeden Teil in eine andere Richtung legt — die Hände in den Süden, die Arme in den Osten, die Beine in den Norden. Dann läßt er mit Hilfe von Zauberkräften einen Schrei ertönen, der alle Teile seines Körpers wieder zusammenholt. So wirkt Achtsamkeit. Sie ist das Wunder, das auf einen Schlag unseren zerstreuten Geist zurückrufen kann und ihn wieder ganz werden läßt, so daß wir jede Minute unser Leben leben können.
Bewußt atmen Achtsamkeit ist in diesem Sinne sowohl Mittel als auch Ziel, gleichzeitig Same und Frucht. Wenn wir Achtsamkeit üben, um Konzentration aufzubauen, dann ist Achtsamkeit der Same. Achtsamkeit ist aber das Leben, das Lebendige im Gewahrsein. Wenn Achtsamkeit da ist, gibt es Leben. Somit ist Achtsamkeit auch die Frucht. Achtsamkeit erlöst uns von Vergeßlichkeit und Zerstreuung und ermöglicht uns, jede Minute des Lebens ganz zu leben. Achtsamkeit schenkt uns Leben. Ihr solltet wissen, wie man mit dem Atem Achtsamkeit aufrechterhält, denn der Atem ist ein natürliches und äußerst wirksames Werkzeug, mit dem wir Zerstreutheit vermeiden. Der Atem ist die Brücke zwischen Leben und Bewußtsein und er vereinigt Körper und Gedanken. Immer wenn euer Geist zerstreut ist, sammelt ihn wieder mit eurem Atem. 19
Atmet leicht und tief durch, seid euch bewußt, daß ihr tief atmet. Dann atmet alle Luft aus den Lungen aus und seid euch die ganze Zeit bewußt, daß ihr ausatmet. Die Sutra über die Achtsamkeit lehrt folgende Methode, des eigenen Atems gewahr zu werden: »Sei immer achtsam, wenn du einatmest und achtsam, wenn du ausatmest. Wenn du tief einatmest, dann wisse, ,Ich atme tief ein', und wenn du tief ausatmest, dann wisse, ,Ich atme tief aus4. Wenn du kurz einatmest, dann wisse, ,Ich atme kurz ein4, und wenn du kurz ausatmest, dann wisse, ,Ich atme kurz aus'.« »Den ganzen Atem-Körper erfahrend, atme ich ein«, so übt ihr. »Den ganzen Atem-Körper erfahrend, atme ich aus«, so übt ihr. »Die Geschäftigkeit des Atem-Körpers zur Ruhe bringend, atme ich ein«, so übt ihr. »Die Geschäftigkeit des Atem-Körpers zur Ruhe bringend, atme ich aus«, so übt ihr. In einem buddhistischen Kloster lernen alle, den Atem als Werkzeug zu nutzen, um der geistigen Zerstreutheit ein Ende zu bereiten und Konzentrationskraft zu entwicklen. Konzentrationskraft ist die Stärke, die mit der Übung von Achtsamkeit entsteht. Diese große Konzentration kann uns helfen, das große Erwachen zu verwirklichen. Wenn ein Arbeiter sich seines Atems bewußt wird, ist er schon erwacht. Wenn wir über lange Zeit Achtsamkeit aufrechterhalten möchten, müssen wir damit fortfahren, auf unseren Atem zu achten. *
Hier ist es Herbst, und die goldenen Blätter, die eins ums andere zu Boden fallen, sind wirklich wunderschön. Ich gehe für zehn Minuten im Wald spazieren, achte auf meinen Atem, bleibe achtsam und fühle mich erfrischt und wie neu. So kann ich wirklich mit jedem einzelnen Blatt Zwiesprache halten. 20
Wenn man alleine einen Feldweg entlang geht, fällt Achtsamkeit leicht. Wenn wir einen Freund zur Seite haben, der auch nicht spricht, sondern ebenfalls auf seinen Atem achtet, können wir ohne Schwierigkeiten unsere Achtsamkeit aufrechterhalten. Wenn der Freund neben uns jedoch anfängt zu reden, wird es ein wenig schwieriger. Wenn ihr jetzt im Geist denkt: »Oh, wenn doch dieser Mensch nur aufhören würde zu reden, damit ich mich konzentrieren kann«, dann habt ihr eure Achtsamkeit schon verloren. Wenn ihr aber denkt, »Wenn er reden möchte, werde ich ihm antworten, aber weiterhin achtsam sein, mir dessen bewußt, daß wir zusammen auf diesem Weg gehen und worüber wir sprechen. So kann ich gleichzeitig auf meinen Atem achten.« Wenn ihr solche Gedanken wecken könnt, fahrt ihr mit eurer Achtsamkeit fort. Unter solchen Umständen zu üben ist schwieriger als allein, wenn ihr aber mit der Übung fortfahrt, werdet ihr die Fähigkeit zu weit größerer Konzentration entwickeln. In einem vietnamesischen Volkslied lautet eine Zeile: »Am schwersten ist die Übung zu Hause, dann in der Menge und dann in der Pagode«. Nur in einer aktiven und anstrengenden Situation wird Achtsamkeit zu einer echten Herausforderung.
Den Atem zählen und dem Atem folgen In den Meditationssitzungen, die ich unlängst für NichtVietnamesen zu geben begann, schlage ich gewöhnlich verschiedene Methoden vor, die ich selbst versucht habe. Es sind ganz einfache Methoden. Anfängern empfehle ich die Methode »Der Länge des Atems folgen«. Der Schüler legt sich auf den Boden, auf den Rücken. Dann bitte ich alle Teilnehmer, sich um ihn herum zu setzen, damit ich sie auf 21
ein paar einfache Punkte hinweisen kann. Obgleich das Ein- und Ausatmen durch die Lungen veranlaßt wird und im Brustkorb stattfindet, spielt auch der Bauch eine Rolle. Der Bauch hebt sich, wenn sich die Lungen füllen. Zu Beginn eines Atemzuges hebt sich die Bauchdecke. Nach etwa Zweidrittel des Einatmens senkt sie sich wieder. Warum? Zwischen Brustkorb und Bauch gibt es ein Muskelhäutchen, das Zwerchfell. Wenn ihr korrekt einatmet, dann füllt die Luft zuerst den unteren Teil der Lungen. Bevor sich der obere Teil der Lungen mit Luft füllt, übt das Zwerchfell nach unten Druck auf den Bauch aus und veranlaßt dadurch das Heben der Bauchdecke. Wenn ihr den oberen Teil der Lungen mit Luft gefüllt habt, weitet sich der Brustkorb und veranlaßt das Senken der Bauchdecke. Aus diesen Gründen haben die Menschen früher davon gesprochen, daß der Atem am Nabel beginnt und bei den Nasenöffnungen endet. Für Anfänger ist es hilfreich, sich für die Atemübung hinzulegen. Das Wichtigste dabei ist, zuviel Anstrengung zu vermeiden. Wenn wir uns zu sehr anstrengen, können die Lungen Schaden nehmen, besonders wenn sie durch jahrelanges falsches Atmen schwach geworden sind. Am Anfang sollte der oder die Übende auf einer flachen Matte oder Decke auf dem Rücken liegen und die Arme locker an die Seiten legen. Legt den Kopf nicht auf ein Kissen. Richtet eure Aufmerksamkeit auf das Ausatmen und achtet darauf, wie lange es dauert. Stellt seine Dauer durch langsames Zählen fest: eins, zwei, drei. . . Nach einigen Atemzügen kennt ihr die »Länge« eures Atems, vielleicht fünf. Versucht jetzt das Ausatmen um eine Einheit oder zwei zu verlängern, so daß es sechs oder sieben Einheiten dauert. 22
Zählt beim Ausatmen von eins bis fünf. Wenn ihr bei fünf angekommen seid, versucht, das Ausatmen bis sechs oder sieben auszudehnen, statt wie zuvor schon bei fünf auszuatmen. Auf diese Art entleert ihr die Lungen noch mehr. Wenn ihr das Ausatmen beendet habt, haltet für einen Augenblick inne und laßt eure Lungen alleine Luft schöpfen. Laßt sie soviel Luft einatmen, wie sie möchten, ohne euch anzustrengen. Normalerweise ist das Einatmen kürzer als das Ausatmen. Bleibt beim Zählen, um die Länge von beiden zu messen. Übt einige Wochen auf diese Weise und haltet die Achtsamkeit für das Ein- und Ausatmen im Liegen. (Wenn ihr einen laut tickenden Wecker habt, so könnt ihr ihn zu Hilfe nehmen, um die Länge von Aus- und Einatmen zu verfolgen.) Fahrt damit fort, euren Atem zu messen, im Gehen, Sitzen und Stehen und insbesondere außer Haus. Wenn ihr geht, könnt ihr eure Schritte als Maß für den Atem nehmen. Nach etwa einem Monat wird sich der Unterschied zwischen Ein- und Ausatmen verringern, bis beide gleich lang sind. Wenn ihr beim Ausatmen auf sechs zählt, dann wird auch das Einatmen sechs Einheiten dauern. Wenn ihr bei der Übung müde werdet, dann hört sofort damit auf. Aber auch wenn ihr nicht ermüdet, dehnt die Übung des langen, gleichmäßigen Atmens nicht über eine kurze Zeitspanne aus — zehn bis zwanzig Atemzüge sind genug. Wenn ihr die kleinste Müdigkeit verspürt, kehrt zum normalen Atmen zurück. Müdigkeit ist ein hervorragender Körpermechanismus und der beste Ratgeber dafür, ob man sich ausruhen oder weitermachen sollte. Um euren Atem zu messen, könnt ihr zählen oder einen rhythmischen Satz nehmen, den ihr gerne habt. Wenn die Länge eures Atems sechs ist, dann könnt ihr statt der Zahl sechs die sechs Worte nehmen: »Mein Herz ruht jetzt in Frieden«. Wenn sie sieben ist, dann könnt ihr folgenden Satz 23
nehmen: »Ich gehe auf dem frischen grünen Gras.« Ein Buddhist kann sagen: »Ich nehme Zuflucht zum Buddha.« Ein Christ kann sagen: »Vater unser (der du bist) im Himmel.« Beim Gehen sollte jedem Schritt ein Wort entsprechen.
Stilles Atmen Euer Atem sollte leicht, gleichmäßig und fließend sein, wie ein dünner Wasserlauf im Sand. So still, daß die Person neben euch nichts hört. Der Atem sollte so anmutig dahinfließen wie ein Fluß, so, wie eine Wasserschlange durchs Wasser gleitet. Er sollte nicht einer Kette zerklüfteter Berge gleichen oder dem Galopp eines Pferdes. Unseren Atem unter Kontrolle zu halten, heißt Körper und Geist beherrschen. Jedes Mal, wenn wir merken, daß wir zerstreut sind, und es uns schwerfällt, uns mit Hilfe verschiedener Methoden wieder zu sammeln, sollten wir die Methode der Atembetrachtung anwenden. Wenn ihr euch zum Meditieren hinsetzt, fangt mit der Betrachtung des Atems an. Atmet zuerst normal und laßt den Atem langsam zur Ruhe kommen, bis er still und gleichmäßig ist und die Atemzüge verhältnismäßig lang sind. Vom Augenblick des Hinsetzens bis zu dem Augenblick, wo der Atem tief und still geworden ist, seid euch all dessen bewußt, was in euch geschieht. In der buddhistischen Sutra über die Achtsamkeit heißt es: »Wenn du tief einatmest, dann wisse, ,Ich atme tief ein', und wenn du tief ausatmest, dann wisse, ,Ich atme tief aus'. Wenn du kurz einatmest, dann wisse, ,Ich atme kurz ein', und wenn du kurz ausatmest, dann wisse, ,Ich atme kurz aus'.« »Den ganzen Atem-Körper erfahrend, atme ich ein«, so 24
übt ihr. »Den ganzen Atem-Körper erfahrend, atme ich aus«, so übt ihr. »Die Geschäftigkeit des Atem-Körpers zur Ruhe bringend, atme ich ein«, so übt ihr. »Die Geschäftigkeit des Atem-Körpers zurvRuhe bringend, atme ich aus«, so übt ihr. Nach zehn bis zwanzig Minuten kommen eure Gedanken zur Ruhe, sie sind still wie ein Teich, auf dem sich keine einzige Welle kräuselt.
Den Atem zählen Die Methode, den Atem ruhig und gleichmäßig werden zu lassen, heißt »Dem Atem folgen«. Wenn euch das anfangs zu schwer fällt, könnt ihr stattdessen die Methode »Die Atemzüge zählen« anwenden. Beim Einatmen zählt ihr im Geist eins und wenn ihr ausatmet, wieder eins. Einatmen, zwei, Ausatmen, zwei. Zählt bis zehn und beginnt dann wieder von vorne. Das Zählen gleicht einer Leine, die die Achtsamkeit an den Atem bindet. Diese Übung ist der Anfangspunkt in dem Prozeß, euch des Atems fortwährend bewußt zu sein. Ohne Achtsamkeit werdet ihr aber das Zählen schnell vergessen. Wenn ihr es vergessen habt, kehrt einfach wieder zu eins zurück. Versucht es immer wieder, bis ihr das Zählen korrekt einhalten könnt. Wenn ihr eure Achtsamkeit wirklich auf das Zählen ausrichten könnt, habt ihr den Punkt erreicht, wo ihr damit aufhören könnt. Jetzt fangt damit an, euch nur auf den Atem zu konzentrieren. Wenn ihr aufgeregt und zerstreut seid und es schwierig findet, Achtsamkeit zu üben, kehrt zum Atem zurück: sich des Atems bewußt zu werden ist schon Achtsamkeit. Der Atem ist das Wundermittel, mit dem wir unser Bewußtsein sammeln können. Eine religiöse Gemeinschaft hat folgen25
de Aussage in ihren Regeln: »Verliert euch nie in geistiger Zerstreutheit oder in der Umgebung. Lernt den Atem zu betrachten, um Körper und Geist zu beherrschen, Achtsamkeit zu üben und Konzentration und Weisheit zu entwickeln.«
Jede Handlung ist ein Ritual Stellt euch eine hohe Mauer vor, von der aus man weit schauen kann. Es gibt allerdings keinen klaren Weg hinauf. Nur ein dünner Faden hängt zu beiden Seiten herunter. Ein kluger Mensch wird am einen Ende des Fadens eine dickere Schnur festknüpfen, auf die andere Seite der Mauer gehen und dann an dem Faden ziehen, um die Schnur auf die andere Seite zu bringen. Dann wird er das Ende der Schnur mit einem dicken Seil verknüpfen und hinüberziehen. Wenn das Seil auf der einen Seite bis zum Boden reicht und auf der anderen Seite gut befestigt ist, dann ist es ein leichtes, die Mauer zu ersteigen. Unser Atem gleicht diesem dünnen Faden. Wenn wir ihn zu nutzen wissen, dann kann er zu einem wunderbaren Werkzeug werden, mit dem wir Situationen meistern können, die uns sonst hoffnungslos erscheinen. Unser Atem ist die Brücke zwischen Körper und Geist, ein Element, das Körper und Geist miteinander versöhnt und ihr Eins- oder Einig-Sein ermöglicht. Der Atem ist sowohl auf den Körper als auch den Geist ausgerichtet und er allein ist das Werkzeug, das beide zusammenbringen und Frieden und Ruhe schenken kann. Viele Menschen und Bücher sprechen über den gewaltigen Nutzen von korrektem Atmen. Sie sagen, daß eine Person, die zu atmen weiß, in der Lage ist, endlos Lebenskraft aufzubauen. Der Atem baut die Lungen auf, er stärkt das 26
Blut und belebt jedes Organ im Körper. Es heißt, richtiges Atmen sei wichtiger als Essen. Alle diese Aussagen treffen zu. Vor Jahren war ich sehr krank. Jahrelang nahm ich Arznei zu mir und unterzog mich medizinischer Behandlung. Mein Zustand besserte sich aber nicht. Ich wandte mich dem Atem zu und war dank dieser Methode in der Lage, mich selbst zu heilen. Atem ist ein Werkzeug. Atem ist Achtsamkeit. Der Gebrauch des Atems als Werkzeug kann uns großen Nutzen bringen. Aber es ist kein Selbstzweck. Dieser Nutzen ist lediglich Nebenprodukt der Verwirklichung von Achtsamkeit. In meinem kleinen Meditationskurs für NichtVietnamesen sind viele junge Leute. Ich habe ihnen gesagt, es sei gut, wenn sie täglich eine Stunde meditieren, aber das ist nicht annähernd genug. Ihr solltet Meditation üben beim Gehen, Stehen, Liegen, Sitzen und Arbeiten, beim Händewaschen, Abspülen, Kehren und Teetrinken, im Gespräch mit Freunden und bei allem, was ihr tut. »Wenn ihr abwascht, denkt ihr vielleicht an den Tee danach und versucht, es so schnell wie möglich hinter euch zu bringen, damit ihr euch setzen und Tee trinken könnt. Das bedeutet aber, daß ihr in der Zeit, wo ihr abwascht, nicht lebt. Wenn ihr abwascht, muß der Abwasch das Wichtigste in eurem Leben sein. Und wenn ihr Tee trinkt, dann muß das Tee trinken das Wichtigste auf der Welt sein.« Und so weiter. Holz hacken ist Meditation. Wasser holen ist Meditation. Seid 24 Stunden am Tag achtsam, nicht nur in der Stunde, die ihr für die formale Meditation oder das Lesen von Schriften oder die Rezitation von Gebeten reserviert habt. Ihr müßte jede Handlung mit Achtsamkeit ausführen. Jede Handlung ist ein Ritual, ist eine Zeremonie. Wenn ihr eine Tasse zum Mund hebt, ist das ein Ritual. Klingt euch das 27
Wort »Ritual« zu feierlich? Ich benutze es, um euch ein für alle Mal deutlich zu machen, daß Gewahrsein, Bewußtheit eine Sache von Leben und Tod ist.
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Ein Tag der Achtsamkeit
Jeden Tag und jede Stunde sollten wir Achtsamkeit üben. Das läßt sich leicht sagen, es aber praktisch umzusetzen, ist nicht einfach. Aus diesen Gründen rate ich denjenigen, die zu meinen Meditationssitzungen kommen, sich sehr zu bemühen, einen Tag in der Woche der Praxis von Achtsamkeit zu widmen. Im Prinzip sollte natürlich jeder Tag euer Tag und jede Stunde eure Stunde sein. Es ist aber so, daß nur sehr wenige von uns an diesem Punkt sind. Wir haben den Eindruck, daß Familie, Arbeitsplatz und Gesellschaft uns unsere ganze Zeit stehlen. Ich bitte euch daher inständig darum, einen Tag pro Woche für die Praxis herzunehmen. Vielleicht den Samstag. Wenn es der Samstag ist, dann muß das völlig euer Tag sein. Ein Tag, an dem ihr euer eigener Herr seid. Dann wird der Samstag zum Ansatzpunkt, der euch hilft, Achtsamkeit zu einer Gewohnheit werden zu lassen. Jede Person, die in einer Friedens- oder Hilfsorganisation mitarbeitet, hat ein Recht auf einen solchen Tag, gleichgültig wie wichtig ihre Arbeit ist. Denn ohne einen solchen Tag verlieren wir uns ganz schnell in einem Leben voller Sorgen und Aktivitäten, und unsere Reaktionen werden so immer weniger bewirken. Welchen Tkg ihr auch wählt, betrachtet ihn als den Tag der Achtsamkeit. 29
Wenn ihr einen Tag der Achtsamkeit einrichten wollt, dann versucht einen Weg zu finden, wie ihr euch, schon wenn ihr aufwacht, daran erinnert, daß heute euer Tag der Achtsamkeit ist. Ihr könnt etwas an die Decke oder an die Wand hängen: ein Stück Papier mit dem Wort »Achtsamkeit« darauf oder einen Kiefernzweig — irgendetwas, was euch, wenn ihr eure Augen öffnet und es seht, deutlich macht, daß heute euer Tag der Achtsamkeit ist. Heute ist euer Tag. Wenn ihr daran denkt, dann spürt ihr vielleicht ein Lächeln, das euch eure Achtsamkeit bestätigt, ein Lächeln, das diese völlige Achtsamkeit nährt. Noch im Liegen fangt langsam an, eurem Atem zu folgen — macht lange und bewußte Atemzüge. Steht dann langsam auf — statt wie üblich mit einem Satz aus dem Bett zu springen — und stärkt eure Achtsamkeit mit jeder Bewegung. Wenn ihr dann aufgestanden seid, putzt eure Zähne, wascht euer Gesicht und führt alle morgendlichen Handlungen ruhig und entspannt aus. Verbringt jeden Augenblick in Achtsamkeit. Folgt eurem Atem. Seid euch eures Atems bewußt und laßt die Gedanken nicht umherirren. Jede Bewegung sollte in Ruhe geschehen. Meßt eure Schritte mit ruhigen, langen Atemzügen. Haltet ein Halblächeln aufrecht. Nehmt euch mindestens dreißig Minuten für ein Bad. Badet langsam und achtsam, so daß ihr euch hinterher leicht und erfrischt fühlt. Danach könnt ihr die Hausarbeit erledigen, wie abwaschen, Staub wischen, Tische reinigen, den Küchenboden schrubben oder Bücher ordnen. Was auch immer ihr tut, macht es langsam, entspannt und voller Achtsamkeit. Erledigt keine Arbeit mit dem Gefühl, sie schnell hinter euch bringen zu wollen. Entschließt euch dazu, jede Arbeit entspannt zu machen, mit all eurer Aufmerksamkeit. Freut euch daran und seid eins mit der Arbeit. Ohne das hat der Tag der Achtsamkeit keinen Wert. 30
Das Gefühl, daß irgendeine Arbeit eine Last ist, verschwindet sehr schnell, wenn ihr sie achtsam tut. Nehmt euch die Zenmeister zum Vorbild. Welche Arbeit oder Bewegung sie auch ausführen, sie tun es langsam, gleichmäßig und ohne Widerwillen. Für diejenigen, die mit der Praxis erst beginnen, ist es am besten, diesen Tag im Geist des Schweigens zu verbringen. Das heißt nicht, daß ihr am Tag der Achtsamkeit überhaupt nicht sprechen sollt. Ihr könnt reden, ja sogar singen. Wenn ihr aber sprecht oder singt, tut es in völliger Achtsamkeit dafür, was ihr sagt oder singt. Und haltet das Reden und Singen auf ein Minimum begrenzt. Natürlich ist es möglich, zu singen und gleichzeitig achtsam zu sein, solange man sich der Tatsache bewußt ist, daß man singt und was man singt. Doch ich warne euch, es ist viel leichter, von der Achtsamkeit abzukommen, wenn ihr singt oder redet, solange die Kraft eurer Meditation schwach ist. Bereitet euch das Mittagessen alleine zu. Kocht euer Essen und spült in Achtsamkeit ab. Am Morgen, wenn ihr das Haus geputzt und in Ordnung gebracht habt, und am Nachmittag, wenn ihr im Garten gearbeitet, Wolken beobachtet oder Blumen gepflückt habt, bereitet euch eine Kanne Tee zu und trinkt sie in Achtsamkeit. Gebt euch ausreichend Zeit dafür. Trinkt euren Tee nicht wie jemand, der in einer Arbeitspause eine Tasse Kaffee hinunterstürzt. Trinkt euren Tee langsam und voller Achtung, so als ob das die Achse sei, um die die Erde sich dreht — langsam, gleichmäßig und ohne auf die Zukunft hinzueilen. Lebt den konkreten Augenblick. Nur dieser konkrete Augenblick ist Leben. Hängt nicht an der Zukunft. Macht euch keine Sorgen über das, was ihr zu tun habt. Denkt nicht ans Aufstehen oder Weggehen, um irgend etwas zu erledigen. Denkt nicht daran, »abzureisen«. 31
Sei ein Knospe, die still in einer Hecke ruht. Sei ein Lächeln, Teil einer Wunderwelt Bleib hier. Du mußt nicht weggehen. Diese Heimat ist so schön wie die Heimat unserer Kindheit Füg ihr keinen Schaden zu, bitte, und sing weiter ... (»Schmetterling über dem Feld der goldenen Senfblumen«) Am Abend könnt ihr Schriften lesen, Teile daraus abschreiben, Briefe an Freunde schreiben, oder irgendetwas tun, was außerhalb eurer üblichen Pflichten der Woche liegt. Was immer ihr jedoch tut, tut es mit Achtsamkeit. Eßt am Abend nur wenig. Später, gegen zehn oder elf, wenn ihr meditiert, fällt es euch leichter, wenn der Magen leer ist. Hinterher könnt ihr vielleicht einen langsamen Spaziergang in der frischen Nachtluft machen. Folgt dabei eurem Atem mit Achtsamkeit und meßt die Länge der Atemzüge mit euren Schritten. Kehrt dann in euer Zimmer zurück und geht in Achtsamkeit schlafen. Wir müssen irgendwie einen Weg finden, jedem arbeitenden Menschen einen Tag Achtsamkeit zu ermöglichen. Solch ein Tag ist äußerst wichtig. Seine Auswirkung auf die anderen Tage der Woche ist unermeßlich. Vor zehn Jahren hat ein solcher Tag der Achtsamkeit Chu Van und unseren anderen Schwestern und Brüdern im Tiep Hien Orden über viele schwierige Zeiten hinweggeholfen. Wenn ihr nur drei Monate lang einen Tag in der Woche der Achtsamkeit widmet, werdet ihr eine bedeutende Veränderung in eurem Leben wahrnehmen; dessen bin ich mir sicher. Der Tag der Achtsamkeit wird die übrigen Tage der Woche durchdringen und es euch schließlich ermöglichen, sieben Tage in der Woche in Achtsamkeit zu leben. Ich bin sicher, ihr stimmt mir darin zu, daß ein Tag der Achtsamkeit in der Woche eine wichtige Sache ist. 32
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Der Kieselstein
Warum sollen wir meditieren? Zuerst einmal, weil wir alle die Erfahrung völliger Ruhe und Erholung brauchen. Selbst eine Nacht Schlaf schenkt uns keine völlige Ruhe. Wir drehen und wenden uns, unsere Gesichtsmuskeln sind angespannt und ständig träumen wir — das kann man kaum Ruhe nennen. Noch ist das Ruhe, wenn wir uns hinlegen, uns immer noch unruhig fühlen und uns drehen und wenden. Mit ausgestreckten, aber nicht steifen Armen und Beinen auf dem Rücken liegen, kein Kissen unter dem Kopf — das ist eine gute Stellung für die Atemübung und das Entspannen aller Muskeln. So schläft man aber auch leicht ein. Ihr könnt mit der Meditation im Liegen nicht so weit kommen wie mit der Sitzmeditation. Man kann im Sitzen völlige Ruhe finden, so die Meditation vertiefen, und alle Sorgen und Schwierigkeiten auflösen, die unser Bewußtsein in Aufregung versetzen und blockieren. Viele unserer Mitarbeiter in Vietnam können in der Lotus-Stellung sitzen, den linken Fuß auf dem rechten und den rechten Fuß auf dem linken Oberschenkel. Andere können im halben Lotus sitzen, den linken Fuß auf dem rechten oder den rechten Fuß auf dem linken Oberschenkel. In unserem Meditationskreis in Paris gibt es einige Personen, die sich in keiner der beiden beschriebenen Haltun33
gen wohlfühlen, und so habe ich ihnen gezeigt, wie man auf die japanische Art sitzt — man kniet und ruht auf den Beinen. Wenn man ein Kissen unter die Füße legt, kann man so über eine halbe Stunde sitzen. Jeder kann es aber lernen, im Halblotus zu sitzen, auch wenn es am Anfang etwas schmerzt. Nach einigen Wochen Übung wird die Haltung ziemlich bequem. In der Anfangszeit, wenn die Schmerzen lästig fallen, könnt ihr ab und zu die Beinstellung ändern oder eine andere Stellung einnehmen. Wenn man im Lotus oder Halblotus sitzt, sollte man auf einem Kissen sitzen, damit beide Knie den Boden berühren. Wenn ihr so mit drei Punkten den Boden berührt, wird eure Haltung sehr stabil. Haltet euren Rücken aufrecht. Das ist sehr wichtig. Nacken und Kopf sollten in einer Linie mit der Wirbelsäule verlaufen. Diese Linie sollte gerade sein, aber nicht so, daß ihr euch steif oder hölzern fühlt. Richtet eure Augen ein, zwei Meter vor euch auf den Boden. Wenn möglich, haltet ein Halblächeln aufrecht. Fangt jetzt damit an, eure Atemzüge zu zählen und alle Muskeln zu entspannen. Konzentriert euch darauf, die Wirbelsäule aufrecht zu halten und dem Atem zu folgen. Laßt alles andere los. Alles. Wenn ihr die sorgenvoll gespannten Muskeln im Gesicht lockern wollt, so setzt ein Halblächeln auf. Wenn das Halblächeln erscheint, fangen alle Gesichtsmuskeln an sich zu entspannen. Je länger ihr das Halblächeln aufrecht erhaltet, desto besser. Es ist das gleiche Lächeln wie das auf dem Gesicht des Buddha. Legt eure linke Hand, mit der Innenfläche nach oben, in eure Rechte. Entspannt alle Muskeln in Händen, Füßen, Armen und Beinen. Laßt alles los. Seid wie Wasserpflanzen, die mit der Strömung fließen, während unter der Oberfläche des Wassers das Flußbett bewegungslos liegt. Haltet an nichts fest, nur am Atem und am Halblächeln. Für Anfänger ist es besser, nicht länger als zwanzig oder 34
dreißig Minuten zu sitzen. In der Zeit könnt ihr leicht völlige Ruhe finden. Die Methode, mit der wir diese Ruhe erlangen, liegt in zwei Dingen begründet — im Beobachten des Atems und im Loslassen, auf den Atem achten und alles andere loslassen. Entspannt jeden Muskel im Körper. Nach etwa fünfzehn Minuten könnt ihr tiefe Ruhe, voll innerer Freude und innerem Frieden, finden. Behaltet diese Ruhe und diesen Frieden. Einige Menschen betrachten Meditation als eine Mühsal und möchten, daß diese Zeit schnell vorübergeht, damit sie hinterher ausruhen können. Solche Menschen wissen noch nicht, wie man sitzt. Wenn ihr richtig sitzt, könnt ihr schon in der Sitzhaltung selbst völlige Entspannung und völligen Frieden finden. Oft hilft es, wenn man über das Bild eines Kieselsteins meditiert, der in ein Flußbett geworden wurde. Wie kann uns das Bild eines Kieselsteines helfen? Setzt euch in der Haltung hin, die euch am angenehmsten ist, im halben oder ganzen Lotus, mit geradem, aufrechtem Rücken und einem Halblächeln auf dem Gesicht. Atmet langsam und tief, folgt jedem Atemzug, werdet eins mit dem Atem. Dann laßt alles los. Stellt euch vor, ihr seid ein Kieselstein, der in einen Fluß geworfen wurde. Ohne sich anzustrengen, sinkt der Kiesel im Wasser. Losgelöst von allem, fällt er auf dem kürzesten Weg und landet schließlich auf dem Grund, dem Punkt vollkommener Ruhe. Ihr seid wie ein Kieselstein, der sich in den Fluß fallen läßt und alles losläßt. Die Mitte eures Wesens ist der Atem. Ihr braucht die Zeitspanne nicht zu kennen, die es dauert, bis ihr den Punkt vollkommener Ruhe in dem Bett von feinem Sand, unten im Wasser erreicht. Wenn ihr das Gefühl habt, ihr seid wie ein Kiesel, der das Flußbett erreicht hat, dann seid ihr an dem Punkt, wo ihr anfangt, Ruhe zu finden. Ihr werdet nicht mehr länger von irgendetwas getrieben oder gezerrt. 35
Wenn ihr in diesen Augenblicken des Sitzens keinen Frieden und keine Freude findet, dann wird auch die Zukunft an euch vorbeifließen; ihr werdet sie nicht anhalten können, ihr werdet unfähig sein, die Zukunft zu leben, wenn sie zur Gegenwart geworden ist. Freude und Frieden sind die Freude und der Frieden, die in dieser Stunde des Sitzens möglich sind. Wenn ihr sie hier nicht finden könnt, könnt ihr sie nirgendwo finden. Lauft euren Gedanken nicht hinterher, wie ein Schatten seinem Gegenstand. Lauft euren Gedanken nicht hinterher. Findet Freude und Frieden in diesem Augenblick. *
Das ist eure Zeit. Der Ort, an dem ihr sitzt, ist euer Ort. An diesem Ort und in diesem Augenblick könnt ihr Erleuchtung erlangen. Ihr braucht nicht in einem fernen Land unter einem bestimmten Baum zu sitzen. Übt einige Monate auf diese Weise und ihr werdet eine tiefgründige und erneuernde Freude kennenlernen. Ob ihr euch beim Sitzen wohlfühlt, hängt davon ab, ob ihr am Tag viel oder wenig Achtsamkeit übt. Und auch davon, ob ihr regelmäßig sitzt oder nicht. Wann immer möglich, verabredet euch mit Freunden oder Verwandten für eine Stunde gemeinsames Sitzen am Abend, vielleicht von zehn bis elf. Alle die mögen, können sich für eine halbe Stunde oder eine ganze dazusetzen.
Achtsamkeit des Geistes Jemand fragt vielleicht: ist Entspannung denn der einzige Zweck der Meditation? Tatsächlich geht es beim Meditieren um etwas viel Tieferes. Entspannung ist zwar der not36
wendige Ausgangspunkt, wenn man aber erst einmal entspannt ist, kann man ein ruhiges Herz und einen klaren Geist verwirklichen. Mit einem ruhigen Herzen und einem klaren Geist ist man auf dem Weg der Meditation schon sehr weit gekommen. Um unseren Geist unter Kontrolle und unsere Gedanken zur Ruhe zu bringen, müssen wir natürlich auch Achtsamkeit für unsere Gefühle und Wahrnehmungen üben. Um Kontrolle über euren Geist zu erlangen, müßt ihr Achtsamkeit auf den Geist üben. Ihr müßt wissen, wie ihr das Vorhandensein von jedem Gefühl und Gedanken, die entstehen, beobachten und erkennen könnt. Der Zenmeister Thuon Chien schrieb: »Wenn der Übende seinen Geist klar erkennt, wird er mit nur wenig Anstrengungen Ergebnisse erzielen. Weiß er aber nicht alles über seinen Geist, sind alle seinen Mühen vergeblich.« Wenn ihr euren eigenen Geist kennenlernen wollt, gibt es nur einen Weg: alles an ihm zu beobachten und zu erkennen. Das müßt ihr immer tun. Im Alltag nicht weniger als in der Stunde, in der ihr meditiert. In der Meditation können unterschiedliche Gefühle und Gedanken entstehen. Ohne Achtsamkeit auf den Atem werden euch diese Gedanken schnell von eurer Achtsamkeit weglocken. Der Atem ist jedoch nicht einfach ein Mittel, solche Gedanken und Gefühle zu verscheuchen. Der Atem bleibt das Mittel, das Körper und Geist vereinigt und das Tor zur Weisheit öffnet. Entsteht ein Gefühl oder ein Gedanke, dann sollte es euch nicht darum gehen, sie zu verscheuchen, auch wenn durch die fortgesetzte Konzentration auf den Atem das Gefühl oder der Gedanke von allein aus dem Geist verschwindet. Es geht nicht darum, sie zu verscheuchen oder zu hassen, sich Sorgen darüber zu machen oder Angst davor zu haben. Was sollt ihr nun genau mit solchen Gedanken und Gefühlen tun? Ganz einfach ihr Vorhandensein anerkennen. Wenn z.B. ein Gefühl von 37
Trauer entsteht, sollt ihr erkennen: »Ein Gefühl von TVauer ist in mir entstanden.« Wenn das Gefühl von Tteiuer anhält, dann haltet eure Bewußtheit aufrecht: »Es ist immer noch ein Gefühl der Trauer in mir.« Wenn ein Gedanke aufkommt wie, »Es ist spät und die Nachbarn sind recht laut«, dann erkennt, daß dieser Gedanke entstanden ist. Wenn er anhält, so seid euch dessen weiterhin bewußt. Taucht ein anderes Gefühl oder ein anderer Gedanke auf, so anerkennt sie in gleicher Weise. Der Kernpunkt dabei ist, kein Gefühl und keinen Gedanken entstehen zu lassen, ohne sie mit Achtsamkeit zu erkennen, so wie eine Palastwache sich jedes Gesichtes bewußt ist, das durch den Haupteingang kommt. Gibt es keine Gedanken oder Gefühle, erkennt, daß keine Gedanken oder Gefühle da sind. So üben, heißt achtsam für eure Gedanken und Gefühle zu werden. Bald werdet ihr Kontrolle über euren Geist erlangen. Man kann die Methode der Achtsamkeit auf den Atem mit der Achtsamkeit für Gefühle und Gedanken verbinden.
Die Wache — oder der Schatten des Affen? Wenn ihr Achtsamkeit übt, laßt euch nicht von der Unterscheidung zwischen Gut und Schlecht beherrschen. Dadurch erzeugt ihr einen inneren Kampf. Immer wenn ein heilsamer Gedanke auftaucht, anerkennt ihn: »Ein heilsamer Gedanke ist gerade entstanden.« Wenn ein unheilsamer Gedanke entsteht, so anerkennt ihn ebenfalls: »Ein unheilsamer Gedanke ist gerade entstanden.« Haltet nicht an ihm fest und versucht nicht, ihn loszuwerden, wie sehr ihr ihn auch verabscheuen mögt. Es reicht ihn anzuerkennen. Wenn ihr abgeschweift seid, dann müßt ihr wissen, daß ihr abgeschweift seid, und wenn ihr 38
noch da seid, seid euch bewußt, daß ihr noch da seid. Wenn ihr ein solches Gewahrsein erreicht habt, dann habt ihr nichts mehr zu befürchten. Als ich von der Wache am Palast des Kaisers sprach, habt ihr euch vielleicht eine Vorhalle mit zwei Toren vorgestellt, einem Eingang und einem Ausgang, mit eurem Geist als Wächter. Welches Gefühl oder welcher Gedanke auch eintritt, ihr seid euch des Eintretens bewußt, und wenn sie gehen, seid ihr euch bewußt, daß sie gehen. Das Bild hat jedoch einen Nachteil: es legt nahe, daß die, die den Gang betreten und ihn wieder verlassen, sich vom Wächter unterscheiden. Tatsächlich sind wir unsere Gefühle und Gedanken. Sie sind ein Teil von uns. Wir sind versucht, sie oder zumindest einige von ihnen als feindliche Kräfte zu betrachten, die versuchen, unsere Konzentration und das Verstehen unseres Geistes zu stören. Tatsächlich sind wir jedoch die Wut, wenn wir wütend sind. Wenn wir glücklich sind, dann sind wir selbst das Glück. Wenn wir bestimmte Gedanken haben, dann sind wir diese Gedanken. Wir sind gleichzeitig Wache und Besucher. Wir sind der Geist und der, der diesen Geist beobachtet. Aus diesen Gründen ist das Verscheuchen von oder Festhalten an irgendeinen Gedanken nicht die Hauptsache. Die Hauptsache ist das Gewahrsein, die Bewußtheit, für den Gedanken. Diese Beobachtung ist keine Objektivierung von Geist: sie schafft keine Unterscheidung von Subjekt und Objekt. Der Geist greift nicht nach dem Geist; und der Geist verscheucht auch den Geist nicht. Geist kann sich nur selbst beobachten. Diese Beobachtung ist keine Beobachtung eines äußeren Objektes, und sie ist auch nicht unabhängig vom Beobachter. Denkt an den Koan des Zenmeisters Bach An, der fragte: »Was ist der Ton einer klatschenden Hand?« Oder nehmt das Beispiel vom Geschmack und der Erfahrung der Zun39
ge: was macht den Unterschied zwischen Geschmack und Geschmacksknospe aus? Der Geist erfährt sich selbst, unmittelbar in sich. Das hat eine besondere Bedeutung, und in der Sutra von der Achtsamkeit gebraucht der Buddha immer den Ausdruck »Achtsamkeit des Gefühls im Gefühl, Achtsamkeit des Geistes im Geist«. Einige meinen, der Buddha habe diesen Ausdruck gewählt, um solche Wörter wie Gefühl und Geist zu betonen. Ich glaube jedoch nicht, daß sie die Absicht des Buddha begriffen haben. Achtsamkeit des Gefühls im Gefühl bedeutet Achtsamkeit für das Gefühl, unmittelbar wenn wir das Gefühl erfahren; sicherlich nicht die Betrachtung einer Vorstellung von Gefühl, die man erzeugt, um dem Gefühl ein objektives, abgetrenntes, eigenes Dasein, außerhalb von uns, zu geben. Beschreibende Worte lassen es als Rätsel, als Paradox oder Zungenbrecher erscheinen: Achtsamkeit des Gefühls im Gefühl ist der Geist, der Achtsamkeit für den Geist im Geist erfährt. Die Objektivität eines außenstehenden Beobachters, der etwas untersucht, ist eine Methode der Naturwissenschaften, aber nicht die Methode der Meditation. Das Bild vom Wächter und den Besuchern kann also die achtsame Beobachtung des Geistes nicht angemessen veranschaulichen. Der Geist gleicht einem Affen, der sich von Zweig zu Zweig durch einen Wald schwingt, so sagt die Sutra. Um den Affen nicht durch eine plötzliche Bewegung aus den Augen zu verlieren, müssen wir ihn ständig beobachten und sogar eins mit ihm werden. Der Geist, der den Geist beobachtet, gleicht einem Gegenstand und seinem Schatten — der Gegenstand kann den Schatten nicht abschütteln. Die zwei sind eins. Wohin auch immer der Geist geht, er liegt im Geschirr des Geistes. Die Sutra gebraucht manchmal den Ausdruck »den Affen fesseln«, wenn sie von der Kontrolle des Geistes spricht. Das Bild des Affen 40
ist jedoch nur ein Ausdrucksmittel. Wenn der Geist unmittelbar und fortwährend seiner selbst bewußt ist, gleicht er nicht mehr länger einem Affen. Es gibt nicht zwei Arten von Geist, einer, der sich von Ast zu Ast schwingt und einer, der ihm folgt, um ihn mit einem Seil anzubinden. Jemand, der Meditation übt, hat normalerweise die Hoffnung, sein eigenes Wesen zu erkennen, um zu erwachen. Wenn ihr jedoch gerade anfangt, wartet nicht darauf »in euer eigenes Wesen zu schauen«. Erwartet am besten gar nichts. Erwartet vor allem nicht, den Buddha oder irgendeine Art »letztendlicher Wirklichkeit« zu sehen. Versucht in den ersten sechs Monaten vor allem eure Konzentrationskraft auszubilden, um innere Ruhe und heitere Freude zu entwicklen. Ihr werdet alle Angst abschütteln, völligen Frieden genießen, und euren Geist beruhigen. Ihr werdet euch erfrischt fühlen, eine umfassendere, klarere Sicht der Dinge erwerben und die Liebe in euch vertiefen und stärken. Und ihr werdet fähig sein, allen um euch herum mehr Hilfe zu leisten. Die Sitzmeditation ist Nahrung für euren Geist und auch für euren Körper. Durch das Sitzen erlangt unser Körper mehr Ausgeglichenheit, er fühlt sich leichter und fried-voller. Der Weg vom Beobachten des Körpers zur »Schau des eigenen Wesens« wird dann nicht mehr allzu rauh sein. Wenn ihr euren eigenen Geist erst einmal zur Ruhe bringen könnt und wenn euch eure Gefühle und Gedanken nicht mehr länger stören, dann wird von diesem Punkt an euer Geist anfangen, im Geist zu ruhen. Euer Geist wird anfangen, auf eine unmittelbare und wunderbare Weise den Geist unter Kontrolle zu halten, ohne länger zwischen Subjekt und Objekt zu unterscheiden. Wenn ihr eine Tasse Tee trinkt, dann wird sich der scheinbare Unterschied zwischen dem, der trinkt, und der Tasse Tee, die getrunken wird, in Luft auflösen. Das Trinken einer Tasse Tee wird zu 41
einer direkten und wundervollen Erfahrung, in der es die Unterscheidung zwischen Subjekt und Objekt nicht mehr länger gibt. Auch ein zerstreuter Geist ist Geist, so wie die Wellen, die sich im Wasser kräuseln, auch Wasser sind. Hat der Geist Kontrolle über den Geist erlangt, wird der irregeführte Geist zum wahren Geist. Der wahre Geist ist unser wirkliches Selbst, ist der Buddha: das reine Eins-sein, das nicht durch die trügerischen Unterteilungen in getrennte Selbste, die von Begriffen und Sprache geschaffen wurden, entzweigeschnitten werden kann. Viel möchte ich jedoch darüber nicht sagen.
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Eins ist Alles, Alles ist Eins: Die Fünf Aggregate
Ich möchte hier ein paar Zeilen den Methoden widmen, mit denen ihr Befreiung von engen Sichtweisen, Furchtlosigkeit und großes Mitgefühl erlangen könnt. Es sind Betrachtungen über gegenseitige Abhängigkeit, Unbeständigkeit und Mitgefühl. In eurer Sitzmeditation könnt ihr, wenn ihr euren Geist unter Kontrolle gebracht habt, das Wesen der gegenseitigen Abhängigkeit bestimmter Gegenstände betrachten. Diese Meditation ist kein diskursives Nachdenken über eine Philosophie der gegenseitigen Abhängigkeit. Es geht um ein Eindringen des Geistes in den Geist selbst, wobei wir unsere Konzentrationskräfte gebrauchen, um das wirkliche Wesen des Objektes der Betrachtung zu enthüllen. Ruft euch einfach eine alte Wahrheit ins Gedächtnis: das Subjekt von Wissen kann nicht unabhängig vom Objekt des Wissens existieren. Sehen heißt etwas sehen. Hören heißt etwas hören. Sich ärgern heißt sich über etwas ärgern. Hoffen heißt auf etwas hoffen. Denken heißt an etwas denken. Wenn das Objekt von Wissen (das Etwas) nicht da ist, kann es auch kein Subjekt von Wissen geben. Der Übende meditiert über den Geist und kann dadurch die gegenseiti43
ge Abhängigkeit von dem Subjekt und dem Objekt von Wissen erkennen. Wenn wir Achtsamkeit des Atems üben, dann ist das Wissen vom Atem Geist. Wenn wir Achtsamkeit des Körpers üben, dann ist das Wissen vom Körper Geist. Wenn wir Achtsamkeit von Dingen außerhalb von uns selbst üben, dann ist das Wissen um diese Gegenstände auch Geist. Deshalb ist die Betrachtung des Wesens der gegenseitigen Abhängigkeit auch eine Betrachtung von Geist. Jeder Gegenstand des Geistes ist selbst Geist. Im Buddhismus nennen wir die Objekte von Geist Dharmas. Dharmas werden üblicherweise in fünf Klassen unterteilt: 1. 2. 3. 4. 5.
körperliche Formen Gefühle Wahrnehmungen geistige Funktionen Bewußtsein
Diese fünf Klassen nennt man die fünf Aggregate bzw. Anhäufungen. Die fünfte Klasse, Bewußtsein, enthält jedoch alle anderen und ist die Grundlage ihrer Existenz. Die Betrachtung über gegenseitige Abhängigkeit ist ein tiefes Schauen in alle Dharmas, um zu ihrem wirklichen Wesen vorzustoßen, um sie als Teil des großen Korpus der Wirklichkeit zu erkennen, und zu erkennen, daß dieser Korpus der Wirklichkeit unteilbar ist. Man kann Wirklichkeit nicht in Stücke schneiden, so daß getrennte, eigenständige Existenzen entstehen. Der erste Gegenstand unserer Betrachtung ist unsere eigene Person, die Ansammlung der fünf Aggregate in uns selbst. Ihr betrachtet hier und jetzt die fünf Aggregate, die euch ausmachen. Ihr seid euch der Gegenwart der körperlichen Form, von Gefühl, Wahrnehmung, geistigen Funktionen und des Be44
wußtseins gewahr. Ihr beobachtet diese »Objekte« solange, bis ihr erkennt, daß jedes von ihnen eine innige Verbindung mit der Außenwelt hat: gäbe es die Welt nicht, so könnte auch die Ansammlung der fünf Aggregate nicht existieren. Nehmt zum Beispiel einen Tisch. Die Existenz des Tisches wird ermöglicht durch die Existenz von Dingen, die wir »die Welt des Nicht-Tisches« nennen: der Wald, in dem das Holz wuchs und wo es gefällt wurde, der Zimmermann, das Eisenerz, das zu Nägeln und Schrauben wurde, die zahllosen anderen Dinge, die einen Bezug zu dem Tisch haben, die Eltern und die Vorfahren des Zimmermanns, die Sonne und der Regen, die das Wachstum der Bäume ermöglichten. Wenn ihr die Wirklichkeit des Tisches begreift, dann seht ihr, daß im Tisch selbst alle die Dinge vorhanden sind, die wir normalerweise als Nicht-Tisch-Welt ansehen. Wenn ihr irgendeines dieser Nicht-Tisch-Elemente wegnehmen und zu ihrem Ursprung zurückbringen würdet — die Nägel zurück zum Eisenerz, das Holz in den Wald, den Zimmermann zu seinen Eltern — so gäbe es den Tisch nicht mehr länger. Eine Person, die den Tisch anschaut und das Weltall sehen kann, ist eine Person, die den Weg sehen kann. Meditiert über die Ansammlung der fünf Aggregate in euch auf die gleiche Weise. Meditiert darüber, bis ihr in der Lage seid, das Vorhandensein der Wirklichkeit von Eins-Sein in euch selbst zu erkennen, und auch daß euer eigenes Leben und das Leben des Weltalls eins sind. Wenn die fünf Aggregate zu ihrem Ursprung zurückkehren, gibt es das Selbst nicht mehr länger. In jeder Sekunde nährt die Welt die fünf Aggregate. Das Selbst unterscheidet sich nicht von der Ansammlung der fünf Aggregate. Die Ansammlung der fünf Aggregate spielt eine ebenso entscheidende Rolle in der 45
Gestaltung, Erschaffung und Zerstörung aller Dinge im Weltall.
Befreiung vom Leiden Normalerweise schneiden die Menschen die Wirklichkeit in Stücke und sind so nicht in der Lage, die wechselseitige Abhängigkeit aller Phänomene zu erkennen. Eines in allem und alles in einem zu sehen heißt die große Schranke zu durchbrechen, die unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit einschränkt, eine Schranke, die der Buddhismus das Anhaften an eine falsche Sichtweise des Selbst nennt. Anhaften an eine falsche Sichtweise des Selbst bedeutet den Glauben an das Vorhandensein von unveränderlichen Wesenheiten, die aus sich selbst heraus existieren. Diese falsche Sichtweise durchbrechen, heißt frei werden von jeder Art von Angst, Schmerz und Sorge. Als der weibliche Bodhisattva Quan the Am, eine Quelle von Inspiration für die Friedensarbeiter in Vietnam, die Wirklichkeit der fünf Aggregate erkannte, die das Selbst entstehen lassen, war sie befreit von allem Leid und Schmerz, von Zweifel und Wut. Das gilt für alle. Wenn wir die fünf Aggregate beharrlich und eifrig betrachten, werden auch wir frei von Leiden, Angst und Schrecken. Wir müssen alle Hindernisse beseitigen, wenn wir als Teil des universellen Lebens leben wollen. Ein Mensch ist keine private Wesenheit, die unberührt durch Zeit und Raum reist, als ob sie vom Rest der Welt mit einer dicken Schale abgeschirmt sei. Hundert oder hunderttausend Leben so abgeschirmt zu leben, ist nicht nur kein Leben, sondern gar nicht möglich. In unserem Leben sind eine Vielzahl von Phänomenen gegenwärtig, so wie wir selbst in vielen Phänomenen vorhanden sind. Wir sind Leben, und 46
Leben hat keine Grenzen. Vielleicht kann man sagen, daß wir nur lebendig sind, wenn wir das Leben der Welt, und so Leid und Freude von anderen leben. Das Leiden von anderen ist unser eigenes Leiden und das Glück von anderen unser eigenes Glück. Wenn unser Leben keine Grenzen hat, dann hat auch die Ansammlung der fünf Aggregate, die unser Selbst ausmachen, keine Grenzen. Der unbeständige Charakter des Weltalls, die Erfolge und Mißerfolge des Lebens können uns dann nicht länger manipulieren. Wenn ihr die Wirklichkeit der gegenseitigen Abhängigkeit erkannt habt und tief in ihre Wirklichkeit eingedrungen seid, kann euch nichts mehr länger unterdrücken. Ihr seid frei. Setzt euch in die Lotusstellung, betrachtet euren Atem und fragt den, der für andere gestorben ist. Meditation über gegenseitige Abhängigkeit muß man ständig üben, nicht nur im Sitzen, sondern als integralen Bestandteil unserer Beschäftigung mit allen gewöhnlichen Aufgaben. Wir müssen erkennen lernen, daß die Person, die vor uns steht, wir selbst sind, daß wir diese Person sind. Wir müssen fähig werden, den Prozeß des Entstehens in Abhängigkeit in allen Ereignissen zu erkennen, in denen, die jetzt geschehen und in denen, die noch geschehen werden.
Eine Reise auf den Wogen von Geburt und Tod Ich kann das Problem von Leben und Tod nicht auslassen. Viele junge Menschen und auch andere sind hierher gekommen, mit dem Wunsch anderen zu dienen und für den Frieden zu arbeiten, aus Liebe zu allen, die leiden. Es ist ihnen stets bewußt, daß die wichtigste Frage die nach Leben und Tod ist, aber oft realisieren sie nicht, daß Leben und Tod zwei Seiten einer Medaille, zwei Gesichter einer Wirk47
lichkeit sind. Wenn wir das begreifen, werden wir den Mut aufbringen, beiden gegenüberzutreten. Als ich erst neunzehn Jahre alt war, wies mich ein alter Mönch an, über das Bild eines Leichnams auf dem Friedhof zu meditieren. Es fiel mir sehr schwer und ich wehrte mich gegen diese Meditation. Jetzt geht es mir nicht mehr so. Damals dachte ich, eine solche Meditation sei nur etwas für ältere Mönche. Seither habe ich viele Soldaten bewegungslos nebeneinander liegen sehen, einige von ihnen erst dreizehn, vierzehn oder fünfzehn Jahre alt. Sie waren auf den Tod nicht vorbereitet und nicht bereit dafür. Jetzt sehe ich, daß wenn man nicht zu sterben weiß, auch kaum weiß, wie zu leben — denn der Tod ist ein Teil des Lebens. Vor genau zwei Tagen sagte mir Mobi, daß man, ihrer Meinung nach, mit zwanzig Jahren alt genug ist, um über den Leichnam zu meditieren. Sie ist selbst gerade einundzwanzig geworden. Wir müssen dem Tod ins Auge schauen, ihn anerkennen und annehmen, genauso wie wir das Leben anschauen und annehmen. Die buddhistische Sutra von der Achtsamkeit spricht von der Meditation über den Leichnam: meditiere über den Zerfall des Körpers, wie er sich aufbläht und violett verfärbt, wie er von Würmern aufgefressen wird, bis nur noch Fetzen von Fleisch und etwas Blut an den Knochen hängen. Meditiere bis zu dem Punkt, wo es nur noch weiße Knochen gibt, die langsam verwesen und sich in Staub verwandeln. Meditiert auf diese Weise, im Wissen, daß euer eigener Körper dem gleichen Vorgang unterliegt. Meditiert über den Leichnam, bis ihr ruhig und friedvoll seid, bis Herz und Geist leicht und ruhig sind, und auf euren Gesicht ein Lächeln erscheint. Wenn wir Widerwillen und Angst überwinden, können wir das Leben als etwas unendlich Kostbares erkennen, etwas, das jede Sekunde wert ist gelebt zu werden. Und wir erkennen nicht nur unser eige48
nes Leben als kostbar, sondern das Leben jeder einzelnen Person, jedes anderen Wesens, jeder anderen Wirklichkeit. Wir werden nicht mehr länger von der Einstellung in die Irre geführt, daß die Zerstörung des Lebens von anderen notwendig sei für unser eigenes Überleben. Wir erkennen, daß Leben und Tod lediglich zwei Seiten des Lebens sind, und daß Leben ohne beides nicht möglich ist, so wie eine Münze zwei Seiten braucht, um Münze zu sein. Nur jetzt können wir uns über Geburt und Tod erheben, nur jetzt lernen, wie wir leben und wie wir sterben können. Die Sutra sagt, daß die Bodhisattvas, die der Wirklichkeit von gegenseitiger Abhängigkeit erkannt haben, alle engen Sichtweisen durchbrochen haben und in der Lage sind, Leben und Tod so zu nehmen wie jemand, der eine Fahrt in einem kleinen Boot unternimmt, ohne unterzugehen und ohne in den Wogen von Geburt und Tod zu ertrinken. Einige Menschen haben gesagt, wenn man die Wirklichkeit mit den Augen eines Buddhisten anschaut, wird man pessimistisch. In Begriffen von Optimismus und Pessimismus zu denken, vereinfacht die Wahrheit. Das Problem besteht darin, die Wirklichkeit so zu sehen, wie sie ist. Eine pessimistische Haltung kann niemals das ruhige und heitere Lächeln erzeugen, das auf den Lippen der Bodhisattvas und all derer blüht, die den Weg erfolgreich gehen.
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Der Mandelbaum in deinem Vorgarten
Ich habe über die Betrachtung der wechselseitigen Abhängigkeit gesprochen. Natürlich sollten alle Methoden, die der Suche nach Wahrheit dienen, eher als Mittel denn als Selbstzweck oder absolute Wahrheit angesehen werden. Die Meditation über gegenseitige Abhängigkeit hat das Ziel, die eingebildeten Schranken der Unterscheidung zu beseitigen, damit wir die universelle Harmonie des Lebens erfahren können. Es geht nicht darum, ein philosophisches System, eine Philosophie über wechselseitige Abhängigkeit, zu erfinden. Hermann Hesse hat das in seiner Erzählung Siddhartha noch nicht erkannt, und so spricht sein Siddhartha in etwas naiv erscheinenden Worten über die Philosophie der gegenseitigen Abhängigkeit. Der Autor bietet uns ein Bild von gegenseitiger Abhängigkeit, in der alles miteinander in Beziehung steht, ein System, in dem es keinen Fehler gibt: alles muß in das narrensichere System der gegenseitigen Abhängigkeit passen, ein System, in dem man das Problem der Befreiung in dieser Welt nicht in Erwägung ziehen kann. Einer Einsicht unserer Ttadition zufolge hat das Wesen der Wirklichkeit drei Aspekte: Einbildung, gegenseitige Abhängigkeit und das Wesen letztendlicher Vollkommenheit. Zuerst befaßt man sich mit gegenseitiger Abhängig50
keit. Aus Vergeßlichkeit und aus Vorurteilen verhüllen wir die Wirklichkeit mit einem Schleier falscher Ansichten und Meinungen. Das bedeutet, daß wir die Wirklichkeit durch Vorstellungen bzw. Einbildungen sehen. Einbildungen täuschen uns über die Wirklichkeit, sie sieht Wirklichkeit als Ansammlung von in kleine Stücke aufgeteilten Wesenheiten und Selbste. Um da durchzustoßen meditiert der Übende über das Wesen von gegenseitiger Abhängigkeit oder die wechselseitigen Beziehungen der Phänomene im Prozeß von Erschaffen und Zerstören. Diese Überlegungen stellen eine Art Betrachtung dar, sie sind nicht die Grundlage einer philosophischen Lehre. Wenn man sich lediglich an ein System von Vorstellungen klammert, fährt man sich fest. Die Meditation über gegenseitige Abhängigkeit hilft uns, Wirklichkeit zu durchdringen, damit wir eins mit ihr werden. Sie ist nicht dazu da, daß wir uns in philosophischen Meinungen oder Meditationsmethoden verfangen. Das Floß ist dazu da, den Fluß zu überqueren. Man braucht es nicht auf seinen Schultern umhertragen. Der Finger, der auf den Mond zeigt, ist nicht der Mond selbst. Schließlich kommt man zum Wesen der letztendlichen Vollkommenheit — der Wirklichkeit frei von allen falschen Sichtweisen, die unsere Einbildung erzeugt. Wirklichkeit ist Wirklichkeit. Sie überschreitet jede begriffliche Vorstellung. Es gibt keinen Begriff, keine Vorstellung, die sie angemessen beschreibt, nicht einmal der Begriff der gegenseitigen Abhängigkeit. Um sicherzugehen, daß wir uns nicht an philosophischen Vorstellung verhaften, spricht unsere Lehre von den drei Mc/tf-Wesen. Damit hindert sie den einzelnen, sich in den Lehren von den drei Arten von Wesen zu verfangen. Darin liegt der Kern der Mahayana* Lehren. Wenn man die Wirklichkeit in ihrem letztlich vollkom51
menen Wesen wahrnimmt, hat der Übende eine Ebene von Weisheit erreicht, die man den nicht-unterscheidenden Geist nennt — eine wunderbare Verbundenheit, in der es keine Unterscheidung von Subjekt und Objekt gibt. Das ist kein weitentfernter, unerreichbarer Zustand. Jeder von uns kann — wenn er auch nur mit ein wenig Ausdauer übt — zumindest eine Ahnung davon erlangen. Ich habe gerade einen Stoß von Unterstützungsanträgen von Waisenkindern auf meinem Schreibtisch liegen.1 Jeden Tag übersetze ich einige davon. Bevor ich mit der Übersetzung beginne, schaue ich dem Kind auf dem Foto in die Augen und betrachte seinen Ausdruck und seine Züge ganz genau. Ich spüre eine tiefe Verbindung mit jedem Kind, die es mir erlaubt, in eine ganze besondere Zwiesprache mit ihm zu treten. Wenn ich das jetzt für euch aufschreibe, sehe ich, daß die Verbundenheit, die ich in solchen Augenblicken und Stunden beim Übersetzen dieser einfachen Zeilen in den Anträgen gespürt habe, eine Art nicht-unterscheidender Geist war. Ich sehe kein »Ich« mehr, das die Anträge übersetzt, um damit den Kindern zu helfen. Ich sehe auch kein Kind mehr, das Liebe und Hilfe erfährt. Das Kind und ich sind eins: niemand hat Mitleid; niemand bittet um Hilfe. Es gibt keine Aufgabe, keine Sozialarbeit, die zu tun wäre, kein Mitgefühl, keine besondere Weisheit. Das sind Augenblicke von nicht-unterscheidendem Geist. Wenn Wirklichkeit in ihrem letztendlich vollkommenen Wesen erfahren wird, enthüllt ein Mandelbaum in eurem Vorgarten sein Wesen in seiner ganzen Vollkommenheit. Der Mandelbaum selbst ist Wahrheit, ist Wirklichkeit. Er 1
Die vietnamesisch-buddhistische Friedensdelegation hat ein Programm durchgeführt, um finanzielle Unterstützung für Familien in Vietnam zu finden, die Waisen zu sich nehmen. In den Vereinigten Staaten unterstützt ein Spender mit 6 US $ im Monat eine Familie, die einem oder einer Waise hilft.
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ist euer eigenes Selbst. Wieviele von den Menschen, die an eurem Garten vorbeigehen, haben den Mandelbaum wirklich gesehen? Das Herz eines Künstlers ist vielleicht einfühlsamer. Ich hoffe, daß Künstler den Baum tiefer wahrnehmen als andere. Weil sein oder ihr Herz offener ist, gibt es eine bestimmte Verbundenheit zwischen Künstler und Baum. Was zählt, ist euer eigenes Herz. Wenn euer Herz nicht von falschen Ansichten verdunkelt wird, könnt ihr in eine natürliche Zwiesprache mit dem Baum eintreten. Der Mandelbaum ist dann bereit, sich in seiner ganzen Vollkommenheit zu offenbaren. Den Mandelbaum sehen heißt den Weg sehen. Als ein Zenmeister gebeten wurde, das Wunder der Wirklichkeit zu enthüllen, deutet er auf eine Zypresse und sagte: »Schaut diese Zypresse hier an.«
Die Stimme der Flut Ist euer Geist befreit, strömt euer Herz über von Mitgefühl. Mitgefühl für euch selbst, weil ihr unzählige Leiden erfahren habt, da ihr euch noch nicht von falschen Ansichten, Haß, Unwissenheit und Wut befreien konntet; und Mitgefühl für andere, weil sie immer noch nicht ihre falschen Ansichten, Unwissenheit, Haß und Wut erkennen können, damit in ihnen gefangen bleiben und so ständig weiteres Leiden für sich und andere erzeugen. Schaut jetzt euch selbst und andere mit den Augen von Mitgefühl an, wie ein Heiliger, der das Weinen jedes Geschöpfes im Weltall hört, und dessen Stimme die Stimme eines jeden ist, der die Wirklichkeit in ihrer ganzen Vollkommenheit geschaut hat. Eine buddhistische Sutra hört die Stimme des Bodhisattvas des Mitgefühls so: Die wunderbare Stimme, die Stimme dessen, der das Weinen der Welt hört, 53
die edle Stimme, die Stimme der steigenden Flut, die alle Klänge der Welt übertrifft, möge unser Geist auf diese Stimme hören. Laßt allen Zweifel beiseite und meditiert über das reine und heilige Wesen dessen, der das Weinen der Wesen hört, denn er ist unsere Stütze, wenn Schmerz, Verzweiflung, Unglück und Tod herrschen. Vollkommen in allen Verdiensten, sieht er alle Wesen mit den Augen des Mitgefühls, ohne Grenzen wird durch ihn das Meer von Segen, vor ihm wollen wir uns verneigen. Die Übung, alle Wesen mit den Augen des Mitgefühls zu betrachten, ist die Meditation, die man »Meditation über Mitgefühl« nennt. Die Meditation über Mitgefühl solltet ihr im Sitzen und in jedem Augenblick, in dem ihr für andere arbeitet, verwirklichen. Wohin ihr auch geht, wo immer ihr sitzt, erinnert euch an den heiligen Ruf: »Schaut auf alle Wesen mit den Augen des Mitgefühls.« Es gibt soviele Meditationsthemen und -methoden, daß ich sie unmöglich alle für meine Freunde aufschreiben kann. Ich erwähne hier lediglich einige einfache, aber grundlegende Methode. Ein Friedensarbeiter ist ein Mensch wie jeder andere auch. Sie oder er müssen ihr eigenes Leben leben. Arbeit ist nur ein Teil des Lebens. Aber Arbeit ist nur dann Leben, wenn sie mit Achtsamkeit ausgeführt wird. Sonst wird man zu einem Menschen, »der lebt als ob er tot sei«. Wir müssen unser eigenes Licht anzünden, wenn wir weitermachen wollen. Unser aller Leben ist mit dem Leben der anderen um uns herum verbunden. Wenn wir es verstehen, in Achtsamkeit zu leben, wenn wir 54
wissen, wie wir uns um unseren eigenen Geist und unser eigenes Herz zu kümmern haben, dann können unsere Brüder und Schwestern mit unserer Hilfe auch lernen, in Achtsamkeit zu leben.
Meditation enthüllt und heilt Wenn wir in Achtsamkeit sitzen, können Körper und Geist in Frieden und völliger Entspanntheit ruhen. Dieser Zustand von Frieden und Entspannung unterscheidet sich aber grundlegend von dem faulen, halbbewußten Geisteszustand, in den man gerät, wenn man sich ausruht und döst. Wenn man in einem solchen faulen Halbbewußtsein sitzt, dann ist man weit davon entfernt, achtsam zu sein. Es ist eher so, als ob man in einer dunklen Höhle säße. Mit Achtsamkeit ist man nicht nur ausgeruht und glücklich, sondern auch aufgeweckt und wach. Meditation ist nicht Flucht, sondern eine gelassene Begegnung mit der Wirklichkeit. Wenn man Achtsamkeit übt, sollte man nicht weniger wach sein, als wenn man einen Wagen fährt; ist der Übende nicht wach, wird er von Zerstreutheit und Vergeßlichkeit überwältigt, so wie ein schläfriger Fahrer sehr leicht einen schweren Unfall verursachen kann. Seid so wach wie eine Person, die auf hohen Stelzen geht — jeder falsche Schritt kann einen Sturz auslösen. Seid wie ein Ritter im Mittelalter, der ohne Waffen durch einen Wald von Schwertern geht; wie ein Löwe, der mit langsamen, sanften und festen Schritten einhergeht. Nur mit dieser Art von Wachsamkeit könnt ihr völlig erwachen. Anfängern rate ich zur Methode des reinen Anerkennens: Anerkennung ohne Urteil. Gefühle, ob Mitgefühl oder Irritation sollten willkommen sein, anerkannt und völlig gleichwertig behandelt werden; denn beides seid ihr 55
selbst. Die Mandarine, die ich esse, das bin ich. Die Senfpflanze, die ich setze, das bin ich. Ich pflanze sie mit ganzem Herzen und Geist. Ich reinige diese Teekanne mit der gleichen Aufmerksamkeit, mit der ich den Säugling Buddha oder Jesus baden würde. Nichts sollte mit mehr Sorgfalt behandelt werden als irgend etwas anderes. In Achtsamkeit ist alles heilig: Mitgefühl, Irritation, Senfpflanze und Teekanne. Wenn ihr voller Trauer, Angst, Haß oder Leidenschaft oder was auch immer seid, mag es schwer fallen, die Methode des reinen Anerkennens anzuwenden. Wenn dem so ist, dann wendet euch einer Meditation auf ein bestimmtes Objekt zu, macht euren eigenen Geisteszustand zum Meditationsthema. Eine solche Meditation enthüllt und heilt. Die Trauer oder die Angst, der Haß oder die Leidenschaft enthüllen unter dem beobachtenden Blick der Konzentration und Meditation ihr eigenes Wesen — eine Offenbarung, die ganz natürlich zu Heilung und Befreiung führt. Wir können die Trauer (oder was auch immer den Schmerz verursacht hat) als Mittel zur Befreiung von Kummer und Leid nutzen, so wie man mit einem Dorn einen Dorn beseitigen kann. Wir sollten unsere Sorgen und Schmerzen, unseren Haß und unsere Leidenschaft sanft und voller Achtung behandeln; ihnen keinen Widerstand leisten, sondern mit ihnen leben, mit ihnen Frieden schließen und ihr Wesen durchdringen, indem wir über gegenseitige Abhängigkeit meditieren. Man lernt schnell, Meditationsthemen auszusuchen, die der Situation angemessen sind. Meditationsthemen wie gegenseitige Abhängigkeit, Mitgefühl, das Selbst, Leerheit und Nichthaften gehören alle zur Klasse der Meditationen, die die Kraft haben, zu enthüllen und zu heilen. Eine Meditation über diese Themen kann jedoch nur dann erfolgreich sein, wenn wir eine gewisse Konzentra56
tionskraft aufgebaut haben, eine Kraft, die wir durch die Übung von Achtsamkeit im Alltag erlangen, in der Betrachtung und der Anerkennung von allem, was geschieht. Die Gegenstände der Meditation müssen aber Wirklichkeiten sein, mit echten Wurzeln in euch, nicht bloß philosophische Spekulationen. Jedes Thema sollte wie eine Speise sein, die zuerst lange über einem heißen Feuer gekocht wurde. Der Topf, das sind wir, und die Hitze, mit der wir kochen, das ist das Feuer der Konzentration. Der Brennstoff entstammt der fortwährenden Übung von Achtsamkeit. Ohne ausreichende Hitze wird das Essen nicht gar. Wenn es aber gar ist, dann offenbart es sein wahres Wesen und hilft uns, Befreiung zu erlangen.
Das Wasser ist klarer, das Gras grüner Der Buddha hat einmal gesagt, daß das Problem von Leben und Tod eine Frage von Achtsamkeit ist. Ob man lebt, hängt von der eigenen Achtsamkeit ab. In der Samyutta Nikaya Sutra erzählt der Buddha eine Geschichte, die sich in einem kleinen Dorf zutrug: »Eine berühmte Tänzerin war gekommen, und das ganze Dorf war auf den Beinen, um einen Blick auf sie zu erhaschen. Zu dem gleichen Zeitpunkt mußte ein verurteilter Verbrecher mit einer Schale Öl, voll bis zum Rand, das Dorf durchqueren. Mit aller Kraft mußte er sich darauf konzentrieren, die Schale gerade zu halten, denn wenn er auch nur einen Tropfen davon verschütten würde, so mußte der Soldat, der hinter ihm herging, ihm laut Befehl mit dem Schwert den Kopf abschlagen. Als er an diesem Punkt in der Geschichte angelangt war, fragte der Buddha: ,Glaubt ihr, der Gefangene war in der Lage, seine Aufmerksamkeit so auf die Schale mit Öl zu richten, daß sein Geist 57
nicht abschweifte, um einen Blick auf die berühmte Tänzerin im Ort zu erhaschen, oder die Massen der Dorfbewohner zu betrachten, die eine solche Unruhe auf der Straße verbreiteten, daß er jederzeit von einem von ihnen angestoßen werden konnte?« Ein anderes Mal erzählte der Buddha eine Geschichte, die mich plötzlich die höchste Bedeutung der Übung von Achtsamkeit für das eigene Selbst erkennen ließ — d. h. sich selbst zu schützen und sich um sich selbst zu kümmern, und sich nicht in erster Linie damit befassen, wie andere mit sich umgehen, eine geistige Gewohnheit, die zu Abneigung und Angst führt. Der Buddha sprach: »Es waren einmal zwei Akrobaten. Der Lehrer war ein armer Witwer und die Schülerin ein kleines Mädchen mit dem Namen Meda. Die zwei führten ihre Künste auf der Straße vor und konnten sich damit gerade ihr Brot verdienen. Sie hatten einen großen Bambusstab, den der Lehrer auf seinem Kopf balancierte, während die Schülerin daran langsam nach oben kletterte. Dort oben blieb sie dann, während der Lehrer weiter auf dem Boden ging. »Beide mußten all ihre Aufmerksamkeit aufwenden, um ein vollkommenes Gleichgewicht zu halten und einen Unfall zu verhindern. Eines Tages wies der Lehrer das Mädchen an: ,Hör zu, Meda, ich werde auf dich achten und du auf mich, so helfen wir einander, unsere Konzentration aufrechtzuerhalten und einen Unfall zu vermeiden. Dann werden wir sicherlich unser Brot verdienen! Das kleine Mädchen aber war weise und antwortete: »Lieber Meister, ich glaube es ist besser für uns beide, wenn jeder auf sich selbst achtet. Wenn wir auf uns selbst achten, dann achten wir auch auf den anderen. Ich bin sicher, daß wir auf diese Weise jeden Unfall vermeiden und unser Brot verdienen.'« Der Buddha sprach: »Das Kind sagte die Wahrheit.« 58
Wenn in einer Familie eine Person Achtsamkeit übt, dann wird die ganze Familie achtsamer. Weil eine Person in Achtsamkeit lebt, wird die ganze Familie daran erinnert, in Achtsamkeit zu leben. Wenn ein Schüler in einer Klasse in Achtsamkeit lebt, hat das einen Einfluß auf die ganze Klasse. In Friedensorganisationen müssen wir dem gleichen Prinzip folgen. Macht euch keine Sorgen, wenn die Menschen um euch herum nicht ihr Bestes tun. Sorgt euch nur darum, daß ihr eure Sache gut macht. Wenn ihr euer Bestes tut, dann ist das der sicherste Weg, diejenigen, die um euch sind, daran zu erinnern, ihr Bestes zu tun. Um eure Sache gut zu machen, müßt ihr ständig Achtsamkeit üben. Das steht fest. Nur durch die Übung von Achtsamkeit verlieren wir uns nicht, sondern entwickeln strahlende Freude und Frieden. Nur durch die Übung von Achtsamkeit können wir jeden mit offenem Geist und mit Augen der Liebe betrachten. Ich war kürzlich unten im Haus zu einer Tasse Tee eingeladen. Eine Freundin, eine unserer Helferinnen, wohnt da, und sie besitzt ein Klavier. Als Kirsten — sie stammt aus Holland — mir einen Tee einschenkte, warf ich einen Blick auf ihren Stoß Arbeit und fragte: »Warum machst du nicht eine Pause mit dem Übersetzen der Waisenanträge und spielst mir etwas auf dem Klavier vor?« Kirsten war froh, ihre Arbeit für eine Weile zu unterbrechen und setzte sich ans Klavier. Sie spielte ein paar Stücke von Chopin, den sie seit ihrer Kindheit kennt. In den Stücken gibt es einige Rhythmen, die sanft und melodisch sind, aber auch andere, die laut und schnell gespielt werden. Ihr Hund lag unter dem Teetisch. Als die Musik aufregend wurde, begann er zu bellen und zu winseln. Es war klar, er fühlte sich unwohl und wollte, daß die Musik aufhörte. Kirstens Hund wird so 59
freundlich behandelt wie ein kleines Kind und ist vielleicht sogar empfänglicher für Musik als ein kleines Kind. Vielleicht hat er so reagiert, weil seine Ohren bestimmte Schwingungen aufnehmen, die menschliche Ohren nicht hören können. Kirsten spielte weiter und versuchte gleichzeitig, den Hund zu beruhigen, aber ohne Erfolg. Sie spielte das Stück zu Ende und spielte dann etwas von Mozart, etwas Leichtes und Harmonisches. Jetzt lag der Hund ganz still da und schien Frieden zu haben. Als Kirsten fertig war, kam sie herüber, setzte sich neben mich und sagte: »Oft, wenn ich ein Stück von Chopin spiele, das auch nur ein wenig laut ist, kommt der Hund und zerrt mich am Hosenbein und versucht mich dazu zu zwingen, das Klavier zu verlassen. Manchmal muß ich ihn erst nach draußen bringen, bevor ich weiterspielen kann. Doch immer, wenn ich Bach oder Mozart spiele, ist er friedlich.« Kirsten erwähnte einen Bericht über Menschen in Kanada, die ihren Pflanzen nachts Mozart vorspielten. Die Pflanzen wuchsen schneller als üblich und die Blüten neigten sich in die Richtung, aus der die Musik kam-. Andere spielten jeden Tag auf ihren Weizen- und Roggenfeldern Mozart und konnten feststellen, daß der Weizen und Roggen auf diesen Feldern schneller wuchs als auf anderen. Als Kirsten das erzählte, dachte ich an Konferenzräume, in denen Menschen streiten und debattieren, wo wütende und vorwurfsvolle Worte hin- und hergeschleudert werden. Wenn man Blumen in solche Räume stellt, hören sie möglicherweise auf zu wachsen. Und ich dachte an den Garten, der von einem Mönch betreut wird, der in Achtsamkeit lebt. Seine Blumen sind immer frisch und grün, genährt vom Frieden und der Freude, die aus seiner Achtsamkeit fließen. Einer der alten Weisen sagte,
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Wird ein großer Meister geboren, so fließt das Wasser klarer in den Bächen und die Pflanzen wachsen grüner Am Anfang jeder Sitzung und vor jedem Gespräch sollten wir Musik hören oder uns hinsetzen und den Atem betrachten.
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Drei wunderbare Antworten
Zum Schluß möchte ich eine kurze Geschichte von Tolstoi erzählen, die Geschichte von den drei Fragen des Kaisers. Tolstoi kannte den Namen des Kaisers nicht. . . Eines Tages begab es sich, daß ein gewisser Kaiser meinte, wenn er nur die Antwort auf drei Fragen wisse, er nie mehr in die Irre gehen könne. Welche Zeit ist die beste für jede Sache? Welche Menschen sind die wichtigsten, mit denen es zu arbeiten gilt? Welches ist die wichtigste Sache, die man stets tun sollte? Der Kaiser gab eine Bekanntmachung in seinem Reich heraus, die besagte, daß jeder, der ihm diese Fragen beantworten könne, reichlich belohnt werden solle. Viele, die diese Bekanntmachung lasen, machten sich sogleich auf den Weg zum Palast, und jeder hatte eine andere Antwort. Als Antwort auf die erste Frage sagte einer, der Kaiser solle sich einen genauen Zeitplan machen und jede Stunde, jeden Tag, jeden Monat und jedes Jahr für bestimmte Aufgaben festlegen und dann diesen Plan genauestens befolgen. Nur so könne er hoffen, jede Aufgabe zur rechten Zeit 62
zu erfüllen. Ein anderer antwortete, es sei unmöglich, alles im voraus zu planen, der Kaiser solle daher alle nichtigen Vergnügungen lassen und seine Aufmerksamkeit auf jedes einzelne Ding richten, um so zu wissen, wann er was tun solle. Ein anderer bestand darauf, daß der Kaiser für sich alleine nie die nötige Voraussicht und Befähigung haben könne, zu entscheiden, wann jede Aufgabe zu tun sei, und was er wirklich brauche, sei die Einrichtung eines Rates von Weisen, und das Befolgen ihrer Ratschläge. Ein anderer sagte, daß gewisse Angelegenheiten eine sofortige Entscheidung forderten und nicht auf Beratung warten könnten, daß er aber, wenn er im voraus wissen wolle, was geschehen würde, Zauberer und Wahrsager befragen solle. Auch in der Beantwortung der zweiten Frage herrschte keine Übereinstimmung. Einer sagte, der Kaiser solle all sein Vertrauen in Verwalter setzen, ein anderer drängte darauf, sich auf Priester und Mönche zu stützen, andere empfahlen Ärzte. Und wieder andere setzten ihr Vertrauen in Krieger. Die dritte Frage brachte eine ähnliche Vielfalt von Antworten. Einer sagte, die Wissenschaften seien das Wichtigste, womit es sich zu befassen gälte. Andere bestanden auf der Religion. Und wieder andere behaupteten, das Wichtigste sei die Kriegskunst. Der Kaiser war mit keiner der Antworten zufrieden, und so gab es keine Belohnung. Nachdem er einige Nächte mit Nachdenken zugebracht hatte, beschloß der Kaiser, einen Einsiedler aufzusuchen, von dem es hieß, er sei erleuchtet. Der Kaiser wollte den Einsiedler suchen, um die drei Fragen an ihn zu richten, obgleich er wußte, daß der Einsiedler die Berge nie verließ 63
und dafür bekannt war, daß er nur die Armen empfing und sich weigerte, irgend etwas mit Menschen von Wohlstand oder Macht zu tun zu haben. So verkleidete sich der Kaiser als einfacher Bauer und befahl seinen Dienern, am Fuße des Berges auf ihn zu warten, während er sich alleine auf den Weg machte, den Einsiedler zu suchen. Als er den Wohnort des heiligen Mannes erreichte, war der Einsiedler gerade dabei, einen Garten anzulegen. Als er den Fremden sah, nickte er ihm einen Gruß zu und grub weiter. Offensichtlich fiel ihm die Arbeit schwer. Er war ein alter Mann und jedes Mal, wenn er seinen Spaten in den Boden stieß, um die Erde auszuheben, atmete er schwer. Der Kaiser näherte sich ihm und sprach: »Ich bin hierher gekommen, um deine Hilfe bei drei Fragen zu erbitten. Welche Zeit ist die beste für jede Sache? Welche Menschen sind die wichtigsten, mit denen es zu arbeiten gilt? Und was ist die wichtigste Sache, die man stets tun sollte?« Der Einsiedler hörte aufmerksam zu, klopfte dem Kaiser aber nur auf die Schulter und grub weiter. Der Kaiser sagte: »Du mußt müde sein, laß mich dir dabei helfen.« Der Einsiedler dankte ihm, gab dem Kaiser den Spaten und setzte sich zum Ausruhen auf die Erde. Als er zwei Beete umgegraben hatte, hielt der Kaiser inne, wandte sich an den Einsiedler und wiederholte seine drei Fragen. Der Einsiedler antwortete ihm immer noch nicht, stand stattdessen auf, wies auf den Spaten und sagte: »Warum ruhst du dich jetzt nicht aus? Ich kann wieder weitermachen.« Der Kaiser fuhr jedoch fort zu graben. Es verging eine Stunde und eine zweite. Schließlich begann die Sonne hinter den Bergen unterzugehen. Der Kaiser setzte den Spaten nieder und sagte zu dem Einsiedler: »Ich kam her, um dich zu fragen, ob du mir meine drei Fragen beantworten kannst. Wenn du jedoch keine Antworten für mich hast, so lasse es mich wissen, damit ich mich auf den Weg 64
nach Hause machen kann.« Der Einsiedler hob seinen Kopf und fragte den Kaiser: »Hörst du jemanden dort drüben laufen?« Der Kaiser wandte seinen Kopf. Beide sahen einen Mann mit einem langen weißen Bart aus dem Wald hervortreten. Er rannte schnell und hielt beide Hände gegen eine blutende Wunde in seinem Bauch gepreßt. Der Mann rannte auf den Kaiser zu und fiel dann ohnmächtig zu Boden und stöhnte. Sie öffneten die Kleider des Mannes, und der Kaiser und der Einsiedler sahen, daß der Mann eine tiefe Wunde erhalten hatte. Der Kaiser reinigte die Wunde sorgfältig und verband sie mit seinem eigenen Hemd, aber sofort saugte es sich voll mit Blut. Er wrang das Hemd aus und verband ihn ein zweites Mal und fuhr damit fort, bis die Wunde aufhörte zu bluten. Zuletzt erlangte der Mann sein Bewußtsein wieder und bat um einen Schluck Wasser. Der Kaiser eilte zu dem Bach und brachte einen Krug mit frischem Wasser. Inzwischen war die Sonne untergegangen und die Nachtluft war kalt geworden. Der Einsiedler half dem Kaiser, den Mann in seine Hütte zu tragen und auf sein Bett zu legen. Der Mann schloß seine Augen und lag ganz ruhig da. Der Kaiser warmüde nach diesem langen Tag, vom Aufstieg auf den Berg und vom Graben im Garten. Er lehnte sich gegen den Türpfosten und schlief ein. Als er aufwachte war die Sonne schon über den Bergen aufgegangen. Für einen Augenblick wußte er nicht mehr, wo er war und warum er gekommen war. Er schaute zum Bett und sah, daß auch der Verwundete verwirrt um sich schaute. Als dieser den Kaiser erblickte, schaute er ihn eindringlich an und sagte mit kaum hörbarem Flüstern: »Vergebt mir.« »Was hast du getan, wofür ich dir verzeihen sollte?« fragte der Kaiser. »Ihr kennt mich nicht, Eure Majestät, aber ich kenne 65
Euch. Ich war Euer eingeschworener Feind, und ich hatte gelobt, mich an Euch zu rächen, denn im letzten Krieg habt Ihr meinen Bruder getötet und meinen Besitz an Euch gebracht. Als ich hörte, daß Ihr allein auf den Berg kommen würdet, um den Einsiedler aufzusuchen, beschloß ich, Euch auf dem Rückweg aufzulauern und zu töten. Nachdem ich jedoch schon lange gewartet hatte und immer noch kein Zeichen von Euch zu sehen war, verließ ich meinen Hinterhalt, um Euch zu suchen. Statt Euch zu finden, traf ich auf Eure Diener, die mich erkannten und mir diese Wunde zufügten. Glücklicherweise konnte ich entfliehen und eilte hierher. Hätte ich Euch nicht angetroffen, wäre ich sicherlich jetzt tot. Ich hatte vor, Euch zu töten und nun habt Ihr mir stattdessen das Leben gerettet! Ich bin beschämt und nicht in der Lage, meine Dankbarkeit in Worte zu fassen. Wenn ich am Leben bleibe, gelobe ich, für den Rest meines Lebens Euch zu dienen, und ich werde meine Kinder und Kindeskinder anweisen, desgleichen zu tun. Gewährt mir Verzeihung, ich bitte Euch.« Der Kaiser war überaus erfreut, wie leicht er sich mit seinem früheren Feind aussöhnen konnte. Er vergab diesem Mann nicht nur, sondern versprach, ihm all seinen Besitz wieder zurückzugeben und seinen Leibarzt und seine eigenen Bediensteten zu ihm zu schicken, damit sie ihn bis zur völligen Genesung pflegten. Nachdem er seinen Dienern aufgetragen hatte, den Mann nach Hause zu bringen, kehrte der Kaiser zum Einsiedler zurück. Bevor er wieder in seinen Palast zurückkehrte, wollte er seine drei Fragen noch einmal wiederholen. Als er kam, war der Einsiedler dabei, Samen in die Erde zu säen, die sie am Tag zuvor umgegraben hatten. Der Einsiedler stand auf und schaute den Kaiser an: »Aber Eure Fragen wurden doch schon bereits beantwortet.« 66
»Wie das?« fragte der Kaiser voller Staunen. »Hättet Ihr gestern nicht Mitleid mit meinem Alter gehabt und mir geholfen, diese Beete anzulegen, hätte Euch der Mann auf Eurem Rückweg überfallen. Dann hättet Ihr es tief bereut, nicht bei mir geblieben zu sein. Die wichtigste Zeit war also die Zeit, in der Ihr die Beete ausgehoben habt, die wichtigste Person war ich, und die wichtigste Aufgabe bestand darin, mir zu helfen. Als später der Verwundete hierher gerannt kam, war die wichtigste Zeit die, die Ihr mit dem Verbinden der Wunde zubrachtet, denn wenn Ihr ihn nicht gepflegt hättet, wäre er gestorben, und Ihr hättet die Möglichkeit versäumt, Euch mit ihm auszusöhnen. Wie zuvor war die wichtigste Person also er, und die wichtigste Aufgabe bestand darin, seine Wunden zu versorgen. Denkt daran, es gibt nur eine wichtige Zeit und die ist jetzt. Der gegenwärtige Augenblick ist die einzige Zeit, über die wir verfügen. Und die wichtigste Person ist immer der Mensch, mit dem Ihr beisammen seid, der unmittelbar vor Euch steht, denn, wer weiß, ob Ihr in Zukunft mit irgendeinem Menschen zu tun haben werdet? Und die wichtigste Aufgabe besteht darin, den Menschen an Eurer Seite glücklich zu machen. Das allein ist Sinn und Zweck des Lebens.« Tolstois Geschichte hört sich an wie eine Geschichte aus den Schriften. Sie wiegt nicht geringer als irgendein heiliger Text. Wir sprechen über soziale Dienste, den Dienst am Volk, den Dienst an der Menschheit, den Dienst am Menschen, die weit weg sind und möchten damit unseren Beitrag zum Frieden in der Welt leisten. Oft vergessen wir, daß es gerade die Menschen um uns herum sind, für die wir in erster Linie leben müssen. Wenn ihr eurer Frau oder eurem Mann, den Kindern oder Eltern nicht dienen könnt — wie wollt ihr dann der Gesellschaft dienen? Wenn ihr euer eige67
nes Kind nicht glücklich machen könnt, wie könnt ihr hoffen, irgend jemand anderen glücklich zu machen? Wenn ihr, die ihr alle in der Friedensbewegung oder in Hilfsorganisationen aller Art arbeitet, einander nicht liebt und euch nicht gegenseitig helft, wen können wir dann lieben, wem helfen? Arbeiten wir für andere Menschen oder lediglich im Namen einer Organisation? Dienen Dem Frieden dienen. Jedem Menschen in Not dienen. Der Begriff Dienen ist so umfassend. Fangen wir doch zuerst einmal ganz klein an: mit unserer Familie, unseren Klassenkameraden, unseren Freunden, unserer eigenen Gemeinschaft. Für sie müssen wir leben — wenn wir nämlich nicht für sie leben können, für wen wollen wir dann leben? Tolstoi ist ein Heiliger — wir Buddhisten nennen einen solchen Menschen einen Bodhisattva. War aber auch der Kaiser selbst in der Lage, Sinn und Richtung seines Lebens zu erkennen? Wie können wir im gegenwärtigen Augenblick leben, jetzt mit den uns gerade umgebenden Menschen leben und dazu beitragen, ihr Leiden zu verringern und ihr Leben glücklicher zu gestalten? Wie? Die Antwort lautet so: wir müssen Achtsamkeit üben. Das Prinzip, das Tolstoi erklärt, scheint einfach. Wenn wir es jedoch umsetzen wollen, müssen wir die Methode der Achtsamkeit anwenden, um den Weg zu suchen und zu finden. Ich habe diese Seiten zum Gebrauch für unsere Freunde geschrieben. Es gibt viele Menschen, die über diese Dinge schreiben, ohne sie zu leben. Ich habe jedoch nur solche Dinge niedergeschrieben, die ich selbst erlebt und erfahren habe. Ich hoffe, daß diese Dinge für euch und eure Freunde zumindest eine kleine Hilfe sind auf dem Weg unserer Suche: dem Weg zurück nach Hause. 68
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Achtsamkeitsübungen
Es folgen hier einige Übungen und Meditationsansätze, die ich oft angewandt habe. Ich habe einige Methoden abgewandelt, um sie meinen eigenen Umständen und Neigungen anzupassen. Such dir diejenigen heraus, die du besonders gerne magst und die dir am angemessensten sind. Der Wert jeder Methode ändert sich, in Abhängigkeit von den einzigartigen Bedürfnissen der einzelnen. Diese Übungen sind zwar verhältnismäßig einfach, bilden aber doch die Grundlage, auf der alles Weitere aufbaut Halblächeln beim Erwachen am Morgen Häng dir einen Zweig oder irgendein anderes Zeichen, oder sogar das Wort »Lächeln« an die Decke oder Wand, so daß du es sofort siehst, wenn du deine Augen öffnest. Dieses Zeichen soll dir als Erinnerung dienen. Nutze die Sekunden vor dem Aufstehen und spüre deinen Atem. Atme dreimal sanft ein und aus und halte dabei ein Halblächeln aufrecht. Folge deinem Atem. Halblächeln in freien Augenblicken Wo immer du sitzt oder stehst, übe ein Halblächeln. Schau 69
ein Kind an, ein Blatt, ein Gemälde an der Wand, irgendetwas, was verhältnismäßig ruhig ist und lächle. Atme dreimal still ein und aus. Halte ein Halblächeln aufrecht und betrachte den Punkt deiner Aufmerksamkeit als dein wahres Wesen. Halblächeln beim Musikhören Höre zwei, drei Minuten ein Musikstück an. Richte deine Aufmerksamkeit auf die Worte, die Musik, den Rhythmus und deine Empfindungen. Lächle und achte auf Ein- und Ausatmen. Halblächeln bei Gereiztheit Wenn du eine Gereiztheit bemerkst, übe ein Halblächeln. Atme ruhig ein und aus und halte das Halblächeln für drei Atemzüge aufrecht. Loslassen im Liegen Lege dich auf den Rücken, auf eine flache Unterlage, ohne eine Matratze oder ein Kissen als Stütze. Halte die Arme locker auf den Seiten und deine ausgestreckten Beine leicht auseinander. Halte ein Halblächeln aufrecht. Atme sanft ein und aus und halte deine Aufmerksamkeit beim Atem. Laß jeden Muskel im Körper los. Entspanne jeden Muskel so, als ob er nach unten, durch den Boden sänke, oder als ob er sanft und nachgiebig sei wie ein Stück Seide, das in der Luft zum Trocknen hängt. Laß alles los, und richte deine Aufmerksamkeit nur auf den Atem und das Halblächeln. Stell dir vor, du seist eine Katze, die ganz entspannt vor einem warmen Feuer liegt und deren Muskeln jedem Druck widerstandslos nachgeben. Führe das fort während fünfzehn Atemzügen.
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Loslassen im Sitzen Setze dich in den halben oder vollen Lotussitz, mit gekreuzten, oder untergeschlagenen Beinen, vielleicht sogar auf einen Stuhl, mit beiden Fußsohlen auf dem Boden. Übe ein Halblächeln. Atme ein und aus und halte das Halblächeln aufrecht. Laß los. Tiefes Atmen Lege dich auf den Rücken. Atme gleichmäßig und sanft und richte deine Aufmerksamkeit auf die Bewegungen deines Bauches. Wenn du anfängst einzuatmen, laß deine Bauchdecke sich heben, um so dem unteren Teil der Lungen Luft zuzuführen. Wenn sich der obere Teil der Lungen mit Luft zu füllen beginnt, hebt sich deine Brust, und die Bauchdecke beginnt zu sinken. Ermüde dich nicht. Tu das für zehn Atemzüge. Das Ausatmen wird länger dauern als das Einatmen. Den Atem mit den Schritten messen Gehe langsam und entspannt im Garten umher, an einem Fluß entlang oder auf einem Feldweg. Atme normal. Bestimme die Länge eines Atemzuges, die Dauer von Einund Ausatmen, durch die Anzahl deiner Schritt. Tu das für einige Minuten. Fange damit an, das Ausatmen um einen Schritt zu verlängern. Zwinge dich nicht zu einer längeren Einatmung. Atme natürlich. Achte beim Einatmen sorgfältig darauf, ob der Wunsch entsteht, es zu verlängern. Tu das während zehn Atemzügen. Verlängere jetzt das Ausatmen um einen weiteren Schritt. Achte darauf, ob sich auch das Einatmen um einen Schritt verlängert oder nicht. Verlängere das Ausatmen nur, wenn du das Gefühl hast, daß es dir Freude bereitet. Kehre nach zwanzig Atemzügen zum normalen Atmen zu71
rück. Nach etwa fünf Minuten kannst du wieder mit der Übung der verlängerten Atemzüge beginnen. Wenn du die geringste Müdigkeit verspürst, kehre zum normalen Atmen zurück. Nach mehreren Sitzungen solcher Übungen des verlängerten Atems werden Ein- und Ausatmung gleich lang. Dehne das lange gleichmäßige Atmen nicht über zehn oder zwanzig Atemzüge aus und kehre dann zum normalen Atmen zurück. Den Atem zählen Setze dich in den vollen oder halben Lotussitz oder mache einen Spaziergang. Wenn du einatmest, dann sei dir bewußt: »Ich atme ein, eins.« Wenn du ausatmest, dann sei dir bewußt: »Ich atme aus, eins.« Denke daran, vom Bauch her zu atmen. Wenn du mit dem zweiten Einatmen beginnst, sei dir bewußt: »Ich atme ein, zwei.« Wenn du langsam ausatmest, sei dir bewußt: »Ich atme aus, zwei.« Fahre so fort bis zehn. Wenn du bei zehn angekommen bist, dann kehre zu eins zurück. Immer wenn du das Zählen vergißt, kehre zu eins zurück. Dem Atem folgen beim Hören von Musik Höre dir ein Musikstück an. Atme lang, leicht und gleichmäßig. Folge deinem Atem, sei Herr deines Atems, und sei dir der Bewegung und deiner Empfindungen bei der Musik bewußt. Verliere dich nicht in der Musik, sondern bleibe weiterhin Herr deines Atmens und Herr deiner selbst. Dem Atem folgen bei einem Gespräch Atme lang, leicht und gleichmäßig. Folge deinem Atem, wenn du den Worten eines Freundes oder deinen eigenen Antworten zuhörst. Fahre damit fort wie bei dem Musikstück. 72
Dem Atem folgen Setze dich in den vollen oder halben Lotus oder gehe spazieren. Fange damit an, sanft und normal (vom Bauch her) zu atmen, dir bewußt: »Ich atme normal ein.« Tu das für drei Atemzüge. Folge jetzt sorgfältig deinem Atem und sei dir jeder Bewegung deines Bauches und deiner Lungen bewußt. Folge dem Ein- und Ausatmen der Luft. Sei dir bewußt: »Ich atme ein und folge dem Einatmen von Anfang bis Ende. Ich atme aus und folge dem Ausatmen von Anfang bis Ende.« Tu das während zwanzig Atemzügen. Kehre dann zum normalen Atmen zurück. Wiederhole die Übung nach fünf Minuten. Denke daran, beim Atmen das Halblächeln beizubehalten. Wenn du diese Übung beherrschst, gehe weiter zur nächsten. Atmen zur Beruhigung von Körper und Geist, um Freude zu erfahren Setze dich in den vollen oder halben Lotus. Übe ein Halblächeln. Folge deinem Atem. Wenn Körper und Geist ruhig sind, fahre fort, sehr leicht ein- und auszuatmen und sei dir bewußt: »Ich atme ein und mache den Atemkörper leicht und friedvoll.« TU das für drei Atemzüge und lasse achtsam den Gedanken entstehen: »Ich atme ein und mache meinen ganzen Körper leicht und friedvoll und froh.« Tu das für drei Atemzüge und lasse achtsam den Gedanken entstehen: »Ich atme ein, und Körper und Geist sind ruhig und froh. Ich atme aus und Körper und Geist sind ruhig und froh.« Halte diesen Gedanken achtsam aufrecht, für fünf bis dreißig Minuten oder eine ganze Stunde, entsprechend deinen Fähigkeiten und der verfügbaren Zeit. Anfang und Ende der Übung sollten enstpannt und sanft sein. Wenn du 73
aufhören möchtest, so massiere zuerst Augen und Gesicht mit beiden Händen und dann die Beine, bevor du wieder aufstehst und eine normale Sitzhaltung einnimmst. Halte einen Augenblick inne, bevor du aufstehst. Achtsamkeit für die Körperhaltung Diese Übung kannst du überall und jederzeit durchführen. Fange damit an, die Aufmerksamkeit auf deinen Atem zu richten. Atme ruhig und tiefer als üblich. Sei dir der Haltung deines Körpers bewußt, ob du gehst, stehst, liegst oder sitzt. Sei dir bewußt, welchen Zweck deine Haltung hat. Du bist dir z. B. bewußt, daß du auf einem grünen Hügel stehst, um dich zu erfrischen, um den Atem zu betrachten oder einfach zu stehen. Wenn es keinen bestimmten Zweck gibt, dann sei dir bewußt, daß es ohne Zweck geschieht. Achtsamkeit bei der Teezubereitung Bereite einen Kanne Tee zu, für einen Gast oder für dich selbst. Mache jede Bewegung langsam, in Achtsamkeit. Laß keine Einzelheit deiner Bewegungen geschehen, ohne dir ihrer bewußt zu sein. Sei dir bewußt, daß deine Hände die Kanne am Henkel hochheben. Sei dir bewußt, daß du den heißen Tee in die Tasse gießt. Folge jedem Schritt in Achtsamkeit. Atme sanft und tiefer als üblich. Werde dir deines Atems bewußt, wenn deine Gedanken abschweifen. Der Abwasch
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Spüle das Geschirr entspannt ab, als sei jede Schale Gegenstand deiner Betrachtung. Betrachte jeden Teller als heilig. Folge deinem Atem, damit dein Geist nicht abschweift. Versuche nicht, dich zu beeilen, um die Arbeit hinter dich zu bringen. Betrachte den Abwasch als das Wichtigste auf 74
der Welt. Abwaschen ist Meditation. Wenn du nicht achtsam abwaschen kannst, kannst du auch nicht meditieren, wenn du still sitzt. Wäsche waschen Wasche nicht zu viele Stücke auf einmal. Wähle dir drei, vier Teile aus. Suche dir die angenehmste Stellung dafür, im Sitzen oder Stehen, so daß dein Rücken nicht schmerzt. Wasche die Wäsche entspannt. Richte deine Aufmerksamkeit auf jede Bewegung deiner Hände und Arme. Achte auf Seife und Wasser. Wenn du mit Waschen und Klarspülen fertig bist, sollten sich Körper und Geist so rein fühlen wie die Kleider. Denke daran, ein Halblächeln beizubehalten und achte auf deinen Atem, wenn dein Geist abschweift. Hausputz Teile deine Arbeit in Abschnitte ein: aufräumen und Bücher einordnen, Toilette und Bad putzen, Fußböden aufwischen und abstauben. Nimm dir für jede Aufgabe genügend Zeit. Bewege dich langsam, dreimal so langsam wie üblich. Richte deine ganze Aufmerksamkeit auf jede Aufgabe. Wenn du z. B. ein Buch ins Regal zurückstellst, schau dir das Buch an, sei dir bewußt, welches Buch es ist, daß du dabei bist, ins Regal an einen bestimmten Ort zurückzustellen. Sei dir bewußt, daß deine Hand nach dem Buch greift und es hochnimmt. Vermeide jede abrupte und hastige Bewegung. Halte die Achtsamkeit auf den Atem aufrecht, vor allem wenn die Gedanken abschweifen. Ein Bad in Zeitlupe Genehmige dir dreißig bis fünfundvierzig Minuten für ein Bad. Eile dich nicht für eine Sekunde. Vom Augenblick an, in dem du das Badewasser zubereitest, bis du saubere Klei75
der anziehst, lasse jede Bewegung leicht und langsam sein. Sei achtsam auf jede Bewegung. Richte deine Aufmerksamkeit auf jeden Teil des Körpers, ohne Unterscheidung und ohne Furcht. Sei achtsam auf jeden Wasserstrahl auf deinem Körper. Nach dem Baden sollte sich dein Geist so friedvoll und leicht fühlen wie dein Körper. Folge deinem Atem. Stell dir vor, du seist in einem sauberen, duftenden Lotusteich im Sommer. Der Kieselstein Wenn du sitzt und langsam atmest, dann stelle dir vor, du seist ein Kieselstein, der in einen klaren Fluß fällt. Wenn du nach unten sinkst, so wird deine Bewegung nicht von irgendeiner Absicht geleitet. Sinke zum Ort der völligen Ruhe auf den weichen Sand des Flußbettes. Fahre fort, über den Kieselstein zu meditieren, bis Geist und Körper sich in völliger Ruhe befinden: ein Kiesel, der im Sand ruht. Halte diese Ruhe und diesen Frieden für eine halbe Stunde aufrecht und beobachte dabei deinen Atem. Kein Gedanke an Vergangenheit oder Zukunft kann dich von deiner gegenwärtigen Ruhe und Freude ablenken. Das Weltall existiert im gegenwärtigen Augenblick. Kein Wunsch kann dich von diesem gegenwärtigen Frieden ablenken, nicht einmal der Wunsch, Buddha zu werden, oder der Wunsch, alle Wesen zu retten. Sei dir bewußt, daß ein Buddha zu werden und alle Wesen zu retten nur auf der Grundlage des reinen Friedens im gegenwärtigen Augenblick verwirklicht werden kann. Ein Tag der Achtsamkeit Nimm dir einen Tag in der Woche, jeden beliebigen Tag, der für dich günstig ist. Vergiß die Arbeit, die du in den anderen Tagen zu tun hast. Verabrede dich mit niemandem und lade auch keine Freunde ein. Mache nur einfache Tätigkei76
ten, wie das Haus putzen, kochen, Wäsche waschen und abstauben. Wenn das Haus sauber und aufgeräumt und alles in Ordnung gebracht ist, nimm ganz langsam ein Bad. Bereite dir danach einen Tee und nimm ihn zu dir. Du kannst heilige Schriften lesen oder an enge Freunde schreiben. Danach kannst du einen Spaziergang machen und dabei den Atem betrachten. Wenn du heilige Schriften liest oder Briefe schreibst, bleibe achtsam und lasse dich durch sie nicht irgendwo anders hinziehen. Wenn du einen heiligen Text liest, sei dir bewußt, was du liest; wenn du einen Brief schreibst, sei dir bewußt, was du schreibst. Gehe genauso vor, wie wenn du ein Musikstück hörst oder mit einem Freund sprichst. Bereite dir am Abend eine leichte Mahlzeit, vielleicht nur ein paar Früchte oder ein Glas Fruchtsaft. Meditiere für eine Stunde im Sitzen, bevor du zu Bett gehst. Mache während des Tages zwei, drei Spaziergänge von je einer halben Stunde bis fünfundvierzig Minuten. Sei Herr deines Atems. Atme sanft (dehne deine Atemzüge nicht zu lange aus) und folge dabei dem Heben und Senken von Bauch und Brust mit geschlossenen Augen. Jede Bewegung an diesem Tag sollte zumindest doppelt so langsam sein wie üblich. Betrachtung über wechselseitige Abhängigkeit Suche ein Kinderbild von dir heraus. Setze dich in den vollen oder halben Lotus. Fange an, deinem Atem zu folgen. Nach zwanzig Atemzügen fange an, deine Aufmerksamkeit auf das Foto vor dir zu richten. Erschaffe die fünf Aggregate nach, die dich damals ausgemacht haben, als das Foto entstand, und erlebe sie wieder: deine körperlichen Eigenschaften, deine Gefühle, Wahrnehmungen, geistigen Funktionen und das Bewußtsein in jenem Alter. Fahre fort, deinem Atem zu folgen. Laß nicht zu, daß dich deine Erin77
nerungen weglocken oder überwältigen. Bleibe fünfzehn Minuten lang bei dieser Meditation. Behalte ein Halblächeln bei. Richte dann deine Aufmerksamkeit auf dein gegenwärtiges Selbst. Sei dir deines Körpers, deiner Gefühle, Wahrnehmungen, der geistigen Funktionen und deines Bewußtseins im gegenwärtigen Augenblick bewußt. Schau dir die fünf Aggregrate an, die dich ausmachen. Frage dich: »Wer bin ich?« Die Frage sollte ganz tief in dir Wurzeln schlagen, so wie ein neues Samenkorn, das tief in die weiche Erde eingegraben wurde und ganz feucht ist. Die Frage »Wer bin ich?« sollte keine abstrakte Frage sein, die du mit deinem diskursiven Intellekt betrachtest. Die Frage »Wer bin ich?« ist nicht beschränkt auf deinen Intellekt, sie geht alle fünf Aggregate an. Versuche nicht, eine intellektuelle Antwort zu finden. Betrachte die Frage nur fünf Minuten und atme dabei leicht, aber tief, um dich nicht von philosophischen Spekulationen ablenken zu lassen. Du selbst Setze dich allein in ein dunkles Zimmer, oder allein in der Nacht an einen dunklen Fluß. Fange damit an, dir deines Atems bewußt zu werden. Laß den Gedanken in dir entstehen, »Ich werde mit meinem Finger auf mich zeigen«, und statt auf deinen Körper zu zeigen, zeige in die entgegengesetzte Richtung. Stelle dich dir außerhalb deiner körperlichen Form vor. Stelle dir deine körperliche Form vor dir vor — in den Bäumen, dem Gras, den Blättern und dem Fluß und betrachte sie. Sei dir bewußt, daß du im Weltall bist und das Weltall in dir: wenn es das Weltall gibt, dann gibt es dich; wenn es dich gibt, dann gibt es auch das Weltall. Es gibt keine Geburt. Es gibt keinen Tod. Kein Kommen und kein Gehen. Behalte ein Halblächeln bei. Sei dir deines Atems bewußt. Bleibe für zehn bis zwanzig Minuten bei dieser Betrachtung. 78
Dein Skelett Lege dich auf ein Bett oder eine Matte oder ins Gras, in einer Stellung, die dir angenehm ist. Gebrauche kein Kissen. Fange damit an, dir deines Atems bewußt zu werden. Stell dir vor, daß alles, was von deinem Körper übrig geblieben ist, ein weißes Skelett ist, das auf der Erde liegt. Halte ein Halblächeln aufrecht und folge deinem Atem weiter. Stelle dir vor, daß all dein Fleisch verwest ist und sich aufgelöst hat, und daß dein Skelett jetzt, achtzig Jahre nach der Beerdigung, in der Erde liegt. Stelle dir ganz deutlich die Knochen von Kopf, Rücken, Rippen, Hüften, Armen, Beinen und Fingern vor. Behalte ein Halblächeln bei und atme ganz leicht, mit gelassenem Herzen und Geist. Erkenne, daß du nicht das Skelett bist. Du bist nicht deine körperliche Form. Sei eins mit dem Leben. Lebe ewig in den Bäumen und dem Gras, in anderen Menschen, in den Vögeln und anderen Tieren, im Himmel und in den Wellen des Meeres. Dein Skelett ist nur ein Teil von dir. Du bist überall und in jedem Augenblick gegenwärtig. Du bist nicht nur eine körperliche Form oder nur Gefühle, Gedanken, Handlungen und Wissen. Meditiere so für zwanzig bis dreißig Minuten. Dein wahres Gesicht vor deiner Geburt Setze dich in den vollen oder halben Lotus und folge deinem Atem. Konzentriere dich auf den Punkt A, den Anfang deines Lebens, und sei dir bewußt, daß das auch der Punkt ist, wo du anfängst zu sterben. Erkenne, daß beides, Leben und Tod, sich gleichzeitig zeigen: das eine ist durch das andere, das eine kann nicht ohne das andere sein. Erkenne, daß dein Leben und dein Tod voneinander abhängen: das eine ist die Grundlage des anderen. Erkenne, daß du gleichzeitig dein Leben und dein Tod bist; daß die bei79
den keine Feinde sind, sondern zwei Aspekte derselben Wirklichkeit. Konzentriere dich dann auf den Punkt, wo die beiden Manifestationen enden, den Punkt B, den man fälschlicherweise den Tod nennt. Erkenne, daß das der Endpunkt von beiden Manifestationen, von Leben und Tod, ist. Erkenne, daß es keinen Unterschied gibt zwischen der Zeit vor A und nach B. Suche nach deinem wahren Gesicht in der Zeit vor A und nach B. Ein geliebter Mensch ist gestorben Setze dich auf einen Stuhl oder lege dich auf ein Bett, in einer Haltung, die dir angenehm ist. Fange damit an, daß du dir deines Atems bewußt wirst. Betrachte den Körper eines geliebten Menschen, der gestorben ist, sei es vor einigen Minuten oder vor vielen Jahren. Werde dir klar darüber, daß alles Fleisch dieser Person verwest und nur noch ein Skelett übrig ist, das ruhig unter der Erde ruht. Erkenne deutlich, daß dein eigenes Fleisch noch da ist, und daß in dir die fünf Aggregate von körperlicher Form, Gefühl, Wahrnehmung, geistigen Funktionen und Bewußtsein zusammen vorhanden sind. Denke an die Wechselwirkung zwischen dieser Person und dir, damals und jetzt. Behalte ein Halblächeln bei und sei dir deines Atems bewußt. Bleibe für fünfzehn Minuten bei dieser Betrachtung. Leerheit Setze dich in den vollen oder halben Lotus. Fange damit an, deinen Atem zu regeln. Betrachte das Wesen der Leerheit in der Ansammlung der fünf Aggregate: körperliche Form, Gefühl, Wahrnehmung, geistige Funktionen und Bewußtsein. Gehe von der Betrachtung eines Aggregates zum nächsten. Erkenne, daß sich alle verwandeln, alle un80
beständig und ohne Selbst sind. Die Ansammlung der fünf Aggregate entspricht der aller Phänomene: alles gehorcht dem Gesetz der wechselseitigen Abhängigkeit. Ihr Zusammenkommen und Vergehen ähnelt dem Entstehen und der Auflösung von Wolken am Gipfel eines Berges. Hänge weder an den fünf Aggregaten noch lehne sie ab. Erkenne, daß Mögen und Nichtmögen Phänomene sind, die zur Ansammlung der fünf Aggregate gehören. Werde dir klar darüber, daß die fünf Aggregate leer und ohne Selbst sind, daß sie aber auch wunderbar sind, wunderbar wie jedes Phänomen im Weltall, wunderbar, wie das Leben, das es überall gibt. Versuche zu erkennen, daß die fünf Aggregate in Wirklichkeit nicht erschaffen und zerstört werden, denn sie sind die letztendliche Wirklichkeit. Versuche durch diese Betrachtung zu erkennen, daß Unbeständigkeit ein Begriff, eine Vorstellung ist, daß Nicht-Selbst und Leerheit Vorstellungen sind, dann verfängst du dich nicht in den Vorstellungen von Unbeständigkeit, Nicht-Selbst und Leerheit. Du erkennst, daß auch Leerheit leer ist und daß sich die letztendliche Wirklichkeit von Leerheit nicht von der letztendlichen Wirklichkeit der fünf Aggregate unterscheidet. (Diese Übung sollte nur dann durchgeführt werden, wenn der Schüler die vorangegangenen fünf Übungen gründlich geübt hat. Die dafür notwendige Zeit hängt vom einzelnen ab — vielleicht eine Stunde, vielleicht zwei.) Mitgefühl für die meistgehaßte oder -verachtete Person Setze dich ruhig hin. Atme und übe ein Halblächeln. Betrachte das Bild einer Person, die dir größtes Leid zugefügt hat. Betrachte die Seiten, die du am meisten haßt oder verachtest oder am widerwärtigsten findest. Versuche herauszufinden, was diese Person glücklich macht und was ihr in ihrem alltäglichen Leben Leiden bringt. Betrachte die Wahrnehmungen dieser Person; versuche zu erkennen, 81
welchen gedanklichen Mustern und Argumenten sie folgt. Überprüfe, was die Hoffnungen und Handlungen dieses Menschen motiviert. Betrachte schließlich sein Bewußtsein. Finde heraus, ob seine Ansichten und Einsichten offen und frei sind oder nicht, ob er von irgendwelchen Vorurteilen, von Engstirnigkeit, von Haß oder Wut beeinflußt wird oder nicht. Finde heraus, ob er Herr seiner selbst ist. Fahre mit diesen Überlegungen fort bis dein Herz von Mitgefühl erfüllt ist, wie eine Quelle mit frischem Wasser, und dein Ärger und deine Abneigung verschwinden. Führe diese Übung viele Male mit derselben Person durch. Leiden durch Mangel an Weisheit Setze dich in den vollen oder halben Lotus. Fange an, deinem Atem zu folgen. Wähle die Situation einer Person, einer Familie oder einer Gesellschaft, die mehr leiden, als alle anderen, die du kennst. Nimm sie zum Gegenstand deiner Betrachtung. Im Falle einer Person versuche, jedes Leiden zu erkennen, das dieser Mensch erfährt. Fange mit den Leiden der körperlichen Form an (Krankheit, Armut, körperliche Schmerzen) und gehe dann über zu Leiden, das durch Gefühle verursacht wird (innere Konflikte, Angst, Haß, Eifersucht, Gewissensqualen). Betrachte als nächstes die Leiden, die durch Wahrnehmungen entstehen (Pessimismus, an den eigenen Problemen engstirnig festhalten und ständig schwarz sehen). Finde heraus, ob seine geistigen Funktionen von Angst, Entmutigung, Verzweiflung oder Haß motiviert sind. Schau, ob sein Bewußtsein verschlossen ist, wegen seiner Umstände, seiner Leiden, wegen der Menschen um ihn herum, seiner Erziehung, aufgrund von Propaganda oder mangelnder Selbstkontrolle. Meditiere über alle diese Leiden, bis dein Herz von Mitgefühl erfüllt ist, wie eine Quelle mit frischem Wasser, und du sehen kannst, 82
daß diese Person an ihren Umständen und ihrer Unwissenheit leidet; Entschließe dich dazu, dieser Person aus ihrer gegenwärtigen Situation herauszuhelfen, auf möglichst stille und unauffällige Weise. Im Falle einer Familie folge derselben Methode. Gehe die Leiden einer Person durch und gehe dann über zur nächsten, bis du die Leiden der ganzen Familie untersucht hast. Erkenne, daß ihre Leiden deine eigenen sind. Erkenne, daß es unmöglich ist, auch nur einer Person in dieser Familie einen Vorwurf zu machen. Erkenne, daß du ihnen helfen mußt, sich aus ihrer gegenwärtigen Situation zu befreien, auf möglichst stille und unauffällige Weise. Im Falle einer Gesellschaft nimm dir ein Land vor, das Krieg erfährt oder unter irgend einer anderen Ungerechtigkeit leidet. Versuche zu begreifen, daß jede Person in diesem Konflikt ein Opfer ist. Erkenne, daß keine Person, einschließlich der kriegführenden Parteien und sich gegenüberstehenden Lager, das Leiden fortsetzen möchte. Begreife, daß man nicht einem oder wenigen Menschen die Schuld an der Situation zuschieben kann. Erkenne, daß die Situation möglich ist durch das Festhalten an Ideologien und an einem ungerechten ökonomischen Weltsystem, das von jeder Person durch Unwissenheit und einem Mangel an Entschiedenheit, es zu ändern, aufrechterhalten wird. Erkenne, daß die beiden Seiten in einem Konflikt nicht wirkliche Gegensätze bilden, sondern zwei Aspekte derselben Wirklichkeit darstellen. Erkenne, daß das Wichtigste das Leben ist und daß sich gegenseitig töten oder unterdrücken nichts lösen kann. Erinnere dich an die Worte der Sutra: In Zeiten des Krieges laß in dir den Geist des Mitgefühls entstehen. Hilf den Lebewesen, überwinde den Wunsch zu kämpfen. 83
Wo immer die Schlacht tobt, Nutz all deine Macht, die Kräfte beider Seiten gleich zu halten und tritt ein in den Streit, um zu versöhnen. Vimalakirti Nirdesa Sutra Meditiere solange, bis jeder Vorwurf und aller Haß verschwinden und Mitgefühl und Liebe in dir aufwallen wie ein Quell frischen Wassers. Gelobe, für Bewußtheit und Versöhnung zu arbeiten, auf möglichst stille und unauffällige Weise. Handeln ohne An Haftung Setze dich in den vollen oder halben Lotus. Folge deinem Atem. Nimm ein Projekt der ländlichen Entwicklung oder irgendein anderes Projekt, das du für wichtig erachtest, zum Thema deiner Betrachtung. Untersuche die Ziele der Arbeit, die angewandten Methoden und die daran beteiligten Menschen. Betrachte zuerst das Ziel des Projektes. Erkenne, daß die Arbeit darin besteht, zu dienen, Leiden zu lindern und mit Mitgefühl zu handeln und nicht darin, den Wunsch nach Lob oder Anerkennung zu befriedigen. Sieh das Projekt nicht als karitative Tätigkeit an. Denke an die beteiligten Menschen. Betrachtest du sie in Begriffen von dienen und geholfen werden? Wenn du immer noch diejenigen siehst, die dienen und die, die daraus Nutzen ziehen, dann arbeitest du um deinetwillen und für deine Kollegen und nicht, um zu dienen. Die Prajnaparamita-Sutra sagt: »Der Bodhisattva hilft, die anderen Wesen zum anderen Ufer zu bringen, aber tatsächlich gibt es keine Wesen, die man zum anderen Ufer geleiten muß.« Beschließe, im Geiste des Nicht-Haftens zu handeln.
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Nicht-Haften Setze dich in den vollen oder halben Lotus. Erinnere dich an die bedeutsamsten Ereignisse deines Lebens und überprüfe jedes einzelne. Untersuche deine Begabungen, deine Tugenden, deine Fähigkeiten und das Zusammenkommen günstiger Bedingungen, die zum Erfolg geführt haben. Überprüfe die Selbstgefälligkeit und den Hochmut, die daraus entstanden sind, daß du dich selbst als Hauptgrund für deinen Erfolg ansiehst. Betrachte die ganze Angelegenheit im Lichte der wechselseitigen Abhängigkeit und erkenne, daß der Erfolg in Wirklichkeit nicht dir gehört, sondern eine Folge des Zusammentreffens unterschiedlicher Bedingungen ist, die außerhalb deiner Reichweite liegen. Erkenne das, damit du nicht an deine Erfolge gebunden bist. Nur wenn du diese Fesseln sprengen kannst, wirst du wirklich frei von ihnen, und sie können dich nicht mehr behelligen. Rufe dir die bittersten Fehlschläge deines Lebens ins Gedächtnis und überprüfe jeden einzelnen. Untersuche deine Begabungen, deine Tugenden und Fähigkeiten und das Fehlen günstiger Bedingungen, die zu diesem Fehlschlag geführt haben. Versuche, alle Komplexe zu erkennen, die durch das Gefühl entstanden sind, daß du unfähig zum Erfolg seist. Betrachte die ganze Angelegenheit im Lichte der wechselseitigen Abhängigkeit und erkenne, daß Fehlschläge nicht durch Unfähigkeit entstehen, sondern eher durch das Fehlen günstiger Bedingungen. Sieh ein, daß du diese Mißerfolge nicht auf dich nehmen mußt und daß sie nicht dein Selbst sind. Erkenne, daß du frei bist von ihnen. Nur wenn du sie loslassen kannst, wirst du wirklich frei von ihnen, und dann können sie dich nicht mehr länger behelligen.
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Betrachtungen über das Nicht-Aufgeben Setze dich in den vollen oder halben Lotus. Folge deinem Atem. Nimm dir eine der Übungen über wechselseitige Abhängigkeit vor: du selbst, dein Skelett oder jemand, der gestorben ist. Erkenne, daß alles unbeständig und ohne ewige Identität ist. Erkenne, daß die Dinge, obgleich unbeständig und ohne dauernde Identität, nichtsdestoweniger voller Wunder sind. Weder bist du durch das Bedingte noch durch das Unbedingte gebunden. Erkenne, daß der Heilige weder in den Lehren der wechselseitigen Abhängigkeit gefangen ist, noch von den Lehren abweicht. Obgleich er die Lehren wie kalte Asche hinter sich lassen kann, kann er in ihnen ruhen, ohne zu ertrinken. Er gleicht einem Boot auf dem Wasser. Erkenne, die erwachten Menschen sind keine Sklaven ihres Dienstes an den Lebewesen und hören doch nie auf, ihnen zu dienen.
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Nhat Hanh: Mit den Augen des Mitgefühls sehen von James Forest
1968 begleitete ich Thich Nhat Hanh auf einer Vortragsreise der »Gesellschaft für Wiederaussöhnung«, bei der er mit kirchlichen und studentischen Gruppen, mit Senatoren, Professoren, Geschäftsleuten und — welch ein Segen — auch mit einigen Dichtern zusammentraf. Fast überall, wohin der braungekleidete buddhistische Mönch aus Vietnam kam (er sah um vieles jünger aus als der Mitvierziger, der er war), entwaffnete er die Menschen, mit denen er zusammentraf. Seine Sanftheit, Intelligenz und geistige Gesundheit machten es den meisten Menschen, die ihm begegneten, unmöglich, an ihrem stereotypen Bild über Vietnamesen festzuhalten. Seine Geschichten und Erzählungen flössen über vom Reichtum der vietnamesischen buddistischen Vergangenheit. Sein Interesse am Christentum, ja seine Begeisterung dafür, inspirierte Christen oft dazu, ihre Herablassung gegenüber Nhat Hanhs Tradition zuzugestehen. Er konnte Tausenden von Amerikanern helfen, den Krieg mit den Augen der Bauern zu sehen, die in Reisfeldern arbeiten und ihre Kinder und Kindeskinder in Dörfern, umgeben von alten Bambushainen, großziehen. Er weckte das 87
Kind im Erwachsenen, wenn er die Kunstfertigkeit der Drachenbauer in den Dörfern beschrieb und den Klang der Windinstrumente, die von diesen zerbrechlichen Gefäßen in die Wolken getragen werden. Nach einer Stunde mit ihm wurde man nicht mehr losgelassen von der Schönheit Vietnams und war voll Schmerz über Amerikas Intervention und die politischen und kulturellen Qualen des vietnamesischen Volkes. Plötzlich stand man ohne seine gewohnten politischen Loyalitäten da, die den Kampf der einen oder anderen Partei rechtfertigen und spürte den Schrecken von bomberstarrenden Himmeln, niedergebrannten Häusern, verbrannten Menschen und von Kindern, die dem Leben ohne die Gegenwart und Liebe von Eltern und Großeltern gegenüberstehen. Eines Abends aber weckte Nhat Hanh bei einem Amerikaner kein Verständnis, sondern maßlosen Zorn. Er hatte im Saal einer wohlhabenden christlichen Kirche in einem Vorort von St. Louis gesprochen. Wie immer hatte er betont, daß die Amerikaner unbedingt aufhören sollten, das Land zu bombardieren und seine Menschen zu töten. Es gab Fragen und Antworten, und dann erhob sich ein Hüne von einem Mann und sprach mit harter Verachtung von dem »sogenannten Mitgefühl dieses Herrn Hanh«. »Wenn Ihnen Ihr Volk so am Herzen liegt, Herr Hanh, warum sind Sie dann hier? Wenn Sie sich so um die Verwundeten sorgen, warum verbringen Sie dann ihre Zeit nicht mit ihnen?« An diesem Punkt setzt meine Erinnerung an seine Worte aus, und ich erinnere mich nur noch an die heftige Wut, die über mich kam. Als er zu Ende gesprochen hatte, schaute ich voller Verwirrung auf Nhat Hanh. Was sollte er — oder irgend jemand anders — dazu sagen? Der Geist des Kriegers hatte plötzlich den Raum erfüllt, und man konnte kaum atmen. Es herrschte Schweigen. Dann begann Nhat Hanh zu 88
sprechen. Sanft, mit einer tiefen Ruhe, sogar mit einem Gefühl von persönlicher Sorge um den Mann, der ihn gerade verdammt hatte. Die Worte fielen wie Regen auf ein Feuer. »Wenn Sie möchten, daß ein Baum wächst«, sagte er, »dann reicht es nicht, wenn Sie die Blätter gießen. Man muß der Wurzel Wasser geben. Viele Wurzeln des Krieges sind hier in diesem Land. Um den Menschen zu helfen, die bombardiert werden sollen, um sie vor diesem Leiden zu bewahren, bin ich hierher gekommen.« Die Atmosphäre im Raum war wie verwandelt. In der Wut des Mannes hatten wir unsere eigene Wut erlebt. Wir hatten die Welt wie durch einen Bombenhagel gesehen. In Nhat Hanhs Antwort erfuhren wir von einer anderen Möglichkeit: der Möglichkeit (den Christen hier von einem Buddhisten und den Amerikanern von einem »Feind« nahegebracht), Haß durch Liebe zu überwinden, und die in der menschlichen Gesellschaft endlos scheinende Kettenreaktion von Gewalt zu durchbrechen. Nach dieser Antwort flüsterte Nhat Hanh dem Versammlungsleiter etwas zu und ging schnell aus dem Raum. Mit dem Gefühl, daß etwas verkehrt gelaufen war, folgte ich ihm nach draußen. Es war eine kühle, klare Nacht. Nhat Hanh stand auf dem Bürgersteig neben dem Parkplatz der Kirche. Er rang nach Luft — wie jemand, der unter Wasser geraten ist und es gerade noch geschafft hat, die Oberfläche zu erreichen, um nach Luft zu schnappen. Einige Minuten verstrichen, bevor ich es wagte, ihn nach seinem Befinden und dem, was geschehen war, zu fragen. Nhat Hanh sagte, daß ihn die Bemerkung des Mannes sehr erregt habe. Er sei drauf und dran gewesen, ihm voller Ärger zu antworten. So habe er tief und sehr langsam durchgeatmet und nach einem Weg gesucht, voller Ruhe und Verständnis zu antworten. Das Atmen sei jedoch zu langsam und zu tief gewesen. 89
»Warum sollst du keine Wut gegen ihn haben?« fragte ich, »auch Pazifisten haben ein Recht auf Wut.« »Wenn es nur um mich ginge, ja. Ich spreche hier aber für die vietnamesischen Bauern. Wir müssen unser Bestes geben.« Dieser Augenblick war sehr wichtig für mein Leben. Ich habe immer wieder über ihn nachgedacht. Es war das erste Mal, daß ich verstand, daß es eine Verbindung gibt zwischen der Art und Weise, wie wir atmen und wie wir auf die Welt um uns herum reagieren. Bis vor kurzem hatte Nhat Hanh nie versucht, westlichen Menschen irgend etwas über Meditation — er spricht von Achtsamkeit — beizubringen. Erst im letzten Jahr (1975, Anm. d. Ü.) fing er damit an, Meditation zu lehren, zuerst für ein paar westliche Freunde, die in der Vietnamesisch-Buddhistischen Friedensdelegation in Paris mitarbeiteten, später für eine Gruppe im Internationalen Quäkerzentrum dieser Stadt. Jetzt hat er ein kleines Buch geschrieben, Das Wunder der Achtsamkeit, ein Handbuch der Meditation. Nhat Hanh ist ein Dichter, ein Zenmeister und einer der Vorsitzenden der »Gesellschaft für Wiederaussöhnung«. In Vietnam spielte er eine bedeutsame Rolle in der Schaffung eines »engagierten Buddhismus« — einer tiefgreifenden religiösen Erneuerung, verwurzelt in Mitgefühl und dem Geist des Dienens, woraus zahllose Projekte entstanden, die Hilfe für Kriegsopfer mit gewaltlosem Widerstand gegen den Krieg selbst verbanden. Wegen dieser Arbeit wurden Tausende von Buddhisten — Nonnen, Mönche, Laien — erschossen oder eingesperrt. Seine Arbeit in Vietnam war die Geburtsstunde der Jugendschule für Soziale Dienste, der Van Hanh Universität, einem kleinen Kloster, das zu einem frühen Stützpunkt der gewaltfreien Bewegung wurde, einer pazifistischen Unter90
grunddruckerei (von seinem Mitarbeiter Cao Ngoc Phuong geleitet) und der La Boi Druckerei, einem der wichtigsten Instrumente für die kulturelle und religiöse Erneuerung. Seine Verse liefern die Texte für viele der populärsten Lieder im modernen Vietnam, Lieder der Hoffnung, die die TVauer überlebt. Auch im Exil, als Repräsentant der Vereinigten Buddhistischen Kirche von Vietnam, setzt er sich weiterhin für Gewaltlosigkeit und Versöhnung in seinem Heimatland ein und organisiert Hilfe aus anderen Ländern. (Seine Freundschaft mit Martin Luther King spielte eine Rolle in Dr. Kings Entscheidung den Rat vieler Kollegen und Mitarbeiter zu ignorieren, die sich dem Mischen von Themen entgegenstellten, und sich am Widerstand gegen den Vietnamkrieg zu beteiligen. Kurz vor seiner Ermordung schlug Dr. King für den Friedensnobelpreis Nhat Hanh vor.) Nur wenige seiner Bücher wurden außerhalb von Vietnam veröffentlicht: Lotus im Feuersee, Vietnam ruft, Der Rückweg setzt die Reise fort, Zen Schlüssel und Das Floß ist nicht das Ufer (englische Titel s. S. 3, Anm. d. Ü.) Bei unseren Gesprächen mit Nhat Hanh und seinen Mitarbeitern in Paris, im Büro der Vietnamesisch-Buddhistischen Friedensdelegation, wanderten unsere Gedanken zum Fehlen einer meditativen Dimension in einem Großteil der amerikanischen Friedensbewegung. Ihr Fehlen half uns verstehen, warum der Großteil der amerikanischen »Friedensbewegung (die man besser die amerikanische Rückzugsbewegung nennen sollte) ein so geringes und nur oberflächliches Interesse an der buddhistischen Kampagne für Gewaltlosigkeit gegen den Krieg hatte. Die unbewaffneten Buddhisten wurden nicht als wirklich »politisch« eingeschätzt, sondern lediglich als religiöse Bewegung: bewunderungswürdig, ungewöhnlich mutig im 91
Vergleich mit anderen politischen Gruppen, aber eine Randerscheinung. Was die amerikanischen Friedensaktivisten von ihren vietnamesischen Kollegen lernen können, ist folgendes: solange es in der Friedensbewegung keine stärkere meditative Dimension gibt, ist unsere Wahrnehmung von Wirklichkeit (und damit unsere Fähigkeit, Verständnis und Umwandlung zu bewirken) aufs höchste beschnitten. Welchen religiösen oder nicht-religiösen Hintergrund und welches Vokabular wir auch haben mögen, wir übersehen dabei etwas so Wesentliches für unser Leben und unsere Arbeit wie den Atem selbst. Der Atem. Atmen. Für viele ist es eine erstaunliche Neuigkeit, daß etwas so Einfaches wie der Atem, eine zentrale Rolle in Meditation und Gebet einnimmt. Es klingt wie die Vorstellung eines Romanschreibers, der die Diamanten im Goldfischglas versteckt: zu offensichtlich, um aufzufallea. Seit diese Neuigkeit die Schranken meiner eigenen Skepsis überwunden hat, sind die Bestätigungen ohne Ende — in erster Linie Bestätigungen durch Erfahrung. Das Problem mit Meditation besteht darin, daß ihr Zusammenhang zu nahe liegt. Die Gelegenheiten sind überall zu finden, wie Nhat Hanh zeigt: in der Badewanne, am Spülstein, an der Werkbank, auf dem Bürgersteig oder einem Weg, im Treppenaufgang eines Mietshauses, auf einem Streikposten, an der Schreibmaschine . . ., buchstäblich überall. Augenblicke und Orte von Ruhe und Stille sind wunderbar und hilfreich, aber nicht unerläßlich. Das meditative Leben erfordert kein abgeschlossenes Dasein in einem Gewächshaus. (Es erfordert gelegentlich Zeiträume, sogar einen ganzen Tag in der Woche, an dem wir uns besonders um Achtsamkeit kümmern, aber für Christen und Juden sollte der Gedanke eines Sabbats nicht neu sein.) Für einen Skeptiker klingen Nhat Hanhs Vorschläge 92
ziemlich absurd, ein schlechter Witz am Ende der Geschichte, der jüngste Kartentrick aus dem alten Blatt mysteriöser Doppelzüngigkeit. Doch klingt auch die Beteuerung der Pazifisten für viele nicht weniger absurd: das Leben zu nähren und waffenlos in einer mörderischen Welt zu leben. Der Weg der Meditation trägt diese persönliche Abrüstung, mit der wir schon angefangen haben, einen bedeutsamen Schritt weiter — Gewaltlosigkeit nicht nur angesichts von Regierungen, Aktiengesellschaften und Befreiungsarmeen, sondern eine gewaltlose Begegnung mit der Wirklichkeit selbst. So können wir eine einfache Wahrheit verstehen, die Nhat Hanh an anderer Stelle mitgeteilt hat: »Menschen ohne Mitgefühl können nicht sehen, was die Augen des Mitgefühls sehen.« Diese umfassende Sichtweise macht den kleinen, aber grundlegenden Unterschied aus zwischen Verzweiflung und Hoffnung.
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