Robert Rankin Brentford-Saga Band 03
Jenseits von Ealing
Etwas Unheimliches geht östlich von Ealing vor. Die Tore & Fe...
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Robert Rankin Brentford-Saga Band 03
Jenseits von Ealing
Etwas Unheimliches geht östlich von Ealing vor. Die Tore & Fenster Corp. ein weltweit operierendes Unternehmen, stellt die festgefügte Ordnung auf den Kopf mit dem wahrhaft diabolischen Plan, alles und jeden mit einem EAN-Code zu versehen und Geld als Zahlungsmittel abzuschaffen. Wirklich diabolisch, denn wußten Sie, daß die Quersumme der Zahlen in den EAN-Codes stets 666, die Zahl des Teufels, ergibt? Nicht nur die Zivilisation, wie wir sie kennen, wäre damit zu Ende, sondern auch die liebgewonnenen Trinkgewohnheiten der Stammgäste im FLIEGENDEN SCHWAN in Brentford. Können ARMAGEDDON und die APOKALYPSE verhindert und das traditionelle ›Deckelmachen‹ im Pub gerettet werden? Von Typen wie Pooley und Omally? Immerhin erhalten sie von ganz unerwarteter Seite Unterstützung: von niemand geringerem als Sherlock Holmes, dem ollen Detektiv aus der Baker Street … ISBN 3-404-24255-6 Originaltitel: East of Ealing 1999 by Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe Titelbild: Arndt Drechsler Fotos: Stefan Bauer
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Ins Deutsche übertragen von Axel Merz, der diesmal Schwierigkeiten hat, das prächtig grüne Saarland vom prächtig grünen Irland zu unterscheiden, und dem der Lektor Nachhilfe nicht nur in Sachen Geographie verspricht. Kostenlose Zugabe: ein echt kurzer Bericht über die Suche nach dem echten Brentford, ausgelöst durch folgende Diskussion zwischen dem tüchtigen Lektor Stefan Bauer und dem Übersetzer Axel Merz: Stefan: »Also ich weiß nicht, die Romane von Robert kommen mir ziemlich abstrus vor. Ob das alles wahr ist?« Axel: »Was heißt denn das, abstrus?« St: »Wenn wir wenigstens einen Beweis oder nur ein Indiz hätten, daß es Brentford tatsächlich gibt.« A: »Was heißt denn das, Indiz?« St: »Man müßte eine Expedition losschicken.« A: »Was ist denn das, eine … Expetizion?« St: »Aber wo suchen? Gibt's Hinweise in dem Buch?« A: »Was für'n Buch?« St: »Na, das, das du grade … äh, ›übersetzt‹ hast.« A: »Jenseits von Ealing?« (Fanfaren im Hintergrund und mehrere comichafte, blinkende Glühbirnen über dem Kopf des Lektors (nicht des Übersetzers)).
ROBERT RANKIN IM TASCHENBUCH-PROGRAMM: 24 201 Das Buch der allerletzten Wahrheiten 24 204 Jäger des verlorenen Parkplatzes 24 210 Die größte Show jenseits der Welt 24 216 Der wundersamste Mann, der jemals lebte 24 225 Der Garten unirdischer Gelüste 24 246 Der Antipapst 24 247 Die Akte Brentford
Für meinen Sohn William
Kapitel 1 Norman drehte seinen elfenbeingriffenen Schraubenzieher ein letztes Mal und sicherte die letzte Schraube der Seitenverkleidung des schlanken Messingzylinders. Er löste die Backen des Schraubstocks und hob den Zylinder liebevoll an seiner glänzenden Achse hoch, um ihn in das Licht zu halten, das durch das staubige, verschmutzte Fenster seines Hinterzimmers fiel. Es war ein technisches Wunderwerk, soviel stand ohne jeden Zweifel fest. Das düstere Licht zeichnete eine regenbogenfarbene Korona um den hochglänzenden Zylinder, gerade zehn Zoll im Durchmesser und einen weiteren hoch. Norman trug die Apparatur vorsichtig zu seinem überfrachteten Küchentisch, und nachdem er mit dem Ellbogen ein Tohuwabohu verschmutzten Geschirrs zur Seite geschoben hatte, legte er sie in die doppelte Halteklammer, die er durch das Tischtuch hindurch auf die Tischplatte geschraubt hatte. Die Achse glitt mit einem befriedigenden Klicken in ihre Lager. Norman, der kaum zu atmen wagte, suchte nach seiner Caramba-Dose und applizierte einen glitzernden Tropfen Öl auf beide Enden. All seine Berechnungen beruhten auf den Arbeiten eines gewissen Johann Bessler, späteren Zeitaltern auch als Orffyreus bekannt, der den ersten Prototypen bereits im Jahre des Herrn 1712 in Zittau, Deutschland, der Öffentlichkeit vorgestellt hatte. Falls diese Berechnungen sic h als korrekt herausstellten, stand Norman unmittelbar vor einem weiteren welterschütternden wissenschaftlichen Durchbruch. Es fehlte einzig und alleine noch ein kleiner Lufthauch. Norman beugte sich tief über das messingne Rad und blies auf seinen Rand. Es gab ein leises Klicken, gefolgt von einem zweiten und einem dritten, und mit einer Schönheit, die wie bei -5-
allen Dingen dieser Art nur das Auge des Betrachters zu verspüren mag, begann das messingne Rad langsam zu rotieren. Herum und herum ging es und ge wann stetig an Geschwindigkeit, bis die Umdrehungen schließlich eine gleichmäßige Geschwindigkeit erreicht hatten. Norman zog seine Taschenuhr heraus und schüttelte sie am Ohr. Der Sekundenzeiger machte sich einmal mehr daran, das zerklüftete Zifferblatt des großväterlichen Pensionsgeschenks zu überwandern. Das polierte Rad setzte seine Umdrehungen fort, und Norman zählte leise mit und kontrollierte mit einem Auge seine Uhr. Sechsundzwanzig Umdrehungen pro Minute, genau wie der verrückte alte Bessler vorhergesagt hatte. Herum und herum und herum, bis in alle Ewigkeit. Ein breites, wenn auch etwas schiefes Grinsen überzog Normans Gesicht an den Stellen, wo das möglich war. Er steckte seine bereits wieder stehengebliebene Uhr in die gepolsterte Westentasche zurück, klatschte in die Hände und tanzte ausgelassen über den abgenutzten Linoleumboden seiner kleinen schmutzigen Küche. Das Rad drehte sich, das anfängliche Klicken war zu einem beständigen Schnurren geworden, und Norman schob die geballte Faust in den Mund und biß sich kichernd auf den Knöchel. Seine freie Hand schwebte einen Augenblick lang über dem sich drehenden Rad. Falls seine Berechnungen stimmten, dann wäre so gut wie nichts (außer gründlicher Zerstörung) imstande, die Bewegung des Rads zum Erliege n zu bringen. Aufgeregt tippte er mit dem Zeigerfinger gegen die polierte Oberfläche. Das Rad drehte sich weiter. Sanft preßte er Daumen und Zeigefinger gegen die Flanken. Das Rad machte keine Anstalten, seine Umdrehung zu verlangsamen. Norman packte das Rad entschlossen mit beiden Händen, doch sein Griff glitt ab, und das Rad drehte sich weiter und weiter, als sei nichts geschehen. Diesmal hatte er es geschafft! Diesmal hatte er es ganz -6-
eindeutig geschafft! Die ultimative Energiequelle! Sie wog kaum mehr als ein paar Pfund, doch ihr Potential war schier grenzenlos. Sie konnte im wahrsten Sinne des Wortes alles und jedes aufladen, und mit Ausnahme eines gelegentlichen Tropfens Caramba benötigte sie keinerlei Wartung. Jenseits des Vorhangs ertönte plötzlich die Ladenglocke und kündete vom Eintreten eines Kunden. Norman löste sich gewaltsam von seinem sich drehenden Meisterwerk, um dem Ruf des Geschäfts nachzukommen. Mit einem letzten leisen Kichern und einem theatralischen Rückwärtsschritt schob Norman sich durch den Vorhang und verließ seine magische Welt, um sich der düsteren Realität seines verstaubten Eckladens zu stellen. Vor der Ladentheke stand ein gewisser Jim Pooley, Zocker, Freidenker und Trinker der Gemeinde. Seine Hand, die gerade im Begriff gestand en hatte, sich zu den Pfefferminzpäckchen zu stehlen, kehrte in die bodenlosen Tiefen einer Tweedhosentasche zurück. Mit einem fröhlichen »Guten Morgen auch, Norman« entbot Jim Pooley Norman eben diesen. »Danke gleichfalls, Jim«, erwiderte Norman. »Das gle iche wie immer, nehme ich an?« »Ganz genau das. Fünf Woodys und eine Sporting Life, Bitteschön. Ich denke, ich bin heute ein wenig zuversichtlicher als üblich, daß mir der ›Große Wurf‹ gelingt.« »Selbstverständlich.« Sicher und geschickt zog Norman eine Fünferpackung Woodbines und das zuvor erwähnte Pferderennmagazin aus dem Regal, ohne auch nur einen Sekundenbruchteil die stets unruhig umherwandernden Hände Pooleys aus den Augen zu lassen. Nicht, daß Jim von Natur aus ein unehrlicher Bursche gewesen wäre, doch er lebte einzig von seiner Geistesgegenwart und Schläue und wagte schon allein aus diesem Grund nicht, auch nur die kleinste Gelegenheit ungenutzt verstreichen zu lassen. -7-
»Ehrlich gesagt siehst du mir ganz nach einem Mann aus, dem dieser ›Große Wurf‹ bereits gelungen ist«, bekundete Jim, dem nicht verborgen geblieben war, daß Normans schiefes Grinsen sich beharrlich weigerte, seine Gesichtszüge zu verlassen. Der Ladenbesitzer reichte Norman seine lebenserhaltenden Utensilien und nickte heftig. »Das ist es, das ist es!« sagte er unter heftigem Andie-Nasetippen. »Obwohl ich bei dieser Gelegenheit wie schon bei früheren, nicht den gesamten Ruhm für mich allein in Anspruch nehmen kann.« »Was überhaupt keine Rolle spielt, wenn du mich fragst. Manch ein wohlhabender Mann verdankt seinen Erfolg im Leben den Mühen eines dahingeschiedenen Verwandten.« Jim schob seine Zigaretten in die Brusttasche und rollte die Zeitung zusammen. »Und was ist es, wenn ich fragen darf? Ganz ohne Zweifel irgendeine wissenschaftliche Erfindung?« »Ganz genau das. Ganz genau das!« »Soll ich raten?« »Bitte sei so frei.« Jim strich sich über das Stoppelkinn, das er seit wenigstens zwei Tagen zu rasieren sich vorgenommen hatte, und legte nachdenklich den Kopf zur Seite. »Nun denn, wenn ich mich nicht völlig irre«, sagte er, »dann galt deine letzte Besessenheit - und ich benutze das Wort auf die denkbar freundlichste Weise - der Energie. Die Solarpaneele auf deinem Dach sind in der Nachbarschaft nicht unbemerkt geblieben, und die Tatsache, daß du den einzigen Morris Minor besitzt, der mit Koks fährt, hat mehr als nur die gelegentliche Augenbraue in die Höhe gebracht. Gehe ich richtig in der Annahme, daß du deinen gewaltigen Intellekt auf Energie, Strom und ähnliche Dinge von dieser Art gerichtet hast?« Normans Kopf tanzte auf und ab wie der eines Nickhunds auf der Hutablage eines Cortina. -8-
»Aha. Wenn ich nicht völlig daneben liege, würde ich ganz wagemutig raten, daß du das lang verlorene Geheimnis des Perpetuum mobile wiederentdeckt hast.« Norman klatschte begeistert in die Hände. »Du hast es erfaßt. Du hast es erfaßt!« krähte er. »Ich bin froh, daß ich nicht gewettet habe! Du hast es völlig richtig erfaßt!« »Selbstverständlich«, sagte Jim und pustete auf seine Fingernägel. »Aber ich meine, keine große Überraschung darüber bei dir zu entdecken.« Norman nickte erneut. »Zugegeben«, sagte er. »Ich muß gestehen, daß ich zunächst wegen der ständig zunehmenden Anzahl kleiner heller Flecken auf der Fensterscheibe meines Hinterzimmers ein wenig verwirrt war. Als ich allerdings bemerkte, daß jeder einzelne dieser Flecken in Größe und Form genau zu dem Schmutzfleck auf deiner Nasenspitze paßt, schien die Lösung des Rätsels nicht mehr fern. Sag mir, Jim, was hältst du davon? Die größte Erfindung unseres Zeitalters, nicht wahr? Scheu dich nicht, Kritik zu üben. Meine Schultern mögen physisch schwach erscheinen, doch metaphorisch sind sie breit und kräftig.« Jim schob seine zusammengerollte Zeitung in eine Jackentasche. »Du wirst mir sicher verzeihen, wenn ich das sage, Norman, aber ich persönlich habe noch nie viel vom Konzept des Perpetuum mobile gehalten. Du erinnerst dich bestimmt, daß ich dir vom neuerlichen Tod dieses Burschen aus Chiswick erzählt habe, der in der Memorial- Bücherei seine Vorlesungen betreffend der Theorie der ständigen Reinkarnation gehalten hat?« Norman nickte. »Und ganz ohne Zweifel erinnerst du dich auch an mein brillantes Bonmot anläßlich der Nachricht von seinem Tod? Das Dumme bei diesen Kerlen ist daß sie heute hier sind und morgen auch.« -9-
Norman zuckte zusammen. »Meiner Meinung nach ist das mit dem Perpetuum mobile genau das gleiche. Für sich genommen, mag es vielleicht eine feine Sache sein und eine wahre Freude für seinen Erfinder obendrein, doch für die allgemeine Öffentlichkeit ga nz besonders für den einfachen Mann von der Straße mit seiner beschränkten Fähigkeit, die höheren Wahrheiten zu schätzen, bedeutet es nur eins.« »Und das wäre?« »Absolute Monotonie«, antwortete Pooley mit bleierner Stimme. »Alles verzehrende, seelentötende, absolute Monotonie.« Und mit diesen wenigen Worten machte er auf dem Absatz kehrt und stapfte aus Normans Eckladen. Der Ladenbesitzer blieb zurück und grübelte nicht über eins, sondern über zwei ewige Probleme. Das erste lautete, wie ein Mann vom Schlage eines Pooley die Unverfrorenheit besitzen konnte, die größte wissenschaftliche Entdeckung des gesamten Zeitalters mit ein paar abfälligen Worten zu verwerfen. Und das zweite, wie eben dieser Pooley es wieder einmal fertiggebracht hatte, aus Normans Laden zu verschwinden und dabei weder für seine Woodbines noch für die Sporting Life auch nur einen Penny zu bezahlen. »Die Mühlen Gottes mahlen langsam«, sagte Norman leise zu sich selbst. »Aber sie mahlen, und das mit sechsundzwanzig Umdrehungen pro Minute.«
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Kapitel 2 Neville der Teilzeitbarmann schlippschlappte durch die verlassene Salonbar des Fliegenden Schwans, und seine monogrammverzierten Hauspantinen wirbelten kleine Staubwolken vom verblaßten Teppichboden auf. Neville wühlte in dem Stapel letzter Mahnungen, bunter Werbeprospekte und zusammengerollter Poster, die das bevorstehende Festival von Brentford ankündigten, und suchte seine Morgenzeitung. Er fand sie, schüttelte die postalischen Hindernisse ab, faltete das lokale Nachrichtenblatt auseinander und überflog die erste Seite. Weitere gute Neuigkeiten. Erdbeben und Flutwellen, Kriege und Gerüchte von Kriegen. Lauter fröhliche Dinge. Und an der Heimatfront? Nun, da gab es die Plage der Schwarzen Fliegen, die gegenwärtig die Schrebergärten befallen hatte und die Ernten dezimierte. Eine konkurrierende Brauerei hatte den Bierpreis um einen Penny pro Pint angehoben, und Nevilles Brauerei, die nie einer Herausforderung aus dem Weg ging, hatte verlauten lassen, daß sie über eine Erhöhung um zwei Pence oder mehr nachdachte. Ein besonderes Juwel von Meldung fiel Neville ins Auge: Die einheimischen Banken, im Bestreben, sich einem landesweiten Trend anzuschließen, untersuchten die Möglichkeit, das Bargeld ganz abzuschaffen und statt dessen ein Kreditkartensystem einzuführen. Das würde bei der Bevölkerung einen Sturm der Entrüstung auslösen, dachte Neville. Ohne weiteres Aufhebens überantwortete er den Überbringer schlechter Nachrichten seinem Mülleimer. »Ich sollte das Abonnement wirklich kündigen«, sagte sich der Teilzeitbarmann. »Ich sollte Norman bitten, mir in Zukunft eine Zeitung mit fröhlicherem Inhalt zuzustellen. Vielleicht den Menschenfreund oder die Gärtnergazette.« Doch bei genauerer Überlegung waren heutzutage selbst diese -11-
beiden Wochenzeitschriften nicht wirklich frei von schlimmer Kunde. Der Menschenfreund beispielsweise hatte sich nicht damit zufrieden gegeben, den Preis um drei Pence zu erhöhen, sondern überschüttete seine Leser auch noch mit düsteren Untergangsprophezeiungen, und die Gärtnergazette widmete die meisten ihrer Seiten anatomischen Diagrammen der Schwarzen Fliege. Neville zuckte die morgenmantelbekleideten Schultern. Der Tag schien trotzdem schön zu werden. Die Sonne ging majestätisch wie immer hinter den Mietskasernen auf und kitzelte die Scheiben im ersten Stock des Fliegenden Schwans. Man soll die Hoffnung eben nie sinken lassen. Obwohl Neville in letzter Zeit mehr als nur ein wenig Unruhe verspürt hatte. Es war, als stünde eine schwere Last im Begriff, sich auf ihn herabzusenken, Zoll um Zoll und Pfund um Pfund, herab auf seine mageren Schultern. Neville konnte sich das Gefühl nicht erklären, und es machte wenig Sinn, den Stammgästen davon zu erzählen, doch er war sicher, daß irgend etwas ganz Schlimmes vor sich ging und daß es, was noch schlimmer war, ihn persönlich zu treffen im Begriff stand. Er ließ seine Zeitung im Mülleimer zurück wo sie ihre dunklen Botschaften den kalten Zigarettenstummeln erzählen konnte, und seine Post auf der Fußmatte, wo sie soviel Staub ansetzen konnte, wie sie nur wollte, und schlippschlappte zurück die sechsundzwanzig Stufen des Fliegenden Schwans hinauf zu seinen Cornflakes und einer Tasse vom schwärzesten aller schwarzen Kaffees. In einem nicht weit entfernten Stadtteil Brentfords trugen andere Dinge dafür Sorge, daß jener Fastnachtsdienstag aufregend und ereignisreich wurde. Welcher Natur diese anderen Dinge waren und was in der Folge aus ihnen erwachsen würde, das war eine Angelegenheit, die sich tatsächlich sehr schwer auf die Schultern eines gewissen Teilzeitbarmanns legen -12-
sollte. Im Grunde genommen nahmen all diese Dinge auf einem noch nicht wieder erschlossenen Bombengrundstück an der Hauptstraße ihren Anfang, zwischen dem Bienenkorb und einer nur selten benutzten Seitengasse, die unter dem Namen Abbadon Street bekannt war. Wie es das Schicksal so wollte, schlenderte genau in diesem Augenblick ein irischer Gentleman undefinierbaren Alters in einer flickenübersäten Tweedjacke und mit einer Schirmmütze auf dem Kopf über eben jenen Fleck Land. Er pfiff fröhlich vor sich hin, und wie er es gewohnt war, führte er an den abgescheuerten Gummigriffen einer rostigen Lenkstange ein klappriges altes und längst nicht mehr verkehrssicheres Fahrrad mit sich. Der Gentleman war ein gewisser John Vincent Omally, und bei seinem klapprigen Begleiter, der trotz fehlenden Frontschutzblechs, nicht vorhandener Bremse und eines genauso akuten wie akustisch vernehmbaren Mangels an heilendem Balsam, wie er beispielsweise aus Normans Caramba-Dose floß, brav bei Fuß neben diesem Gent leman herratterte, handelte es sich um niemand geringeren als den Erbprinzen aller Pedalomobile, Marchant das Wunderfahrrad. Die beiden heruntergekommenen Gestalten wanderten über eine ausgetrampelte Abkürzung eigener Provenienz durch das verwilderte Grundstück, und auf ihren Gesichtern schimmerte die Morgensonne. Omally pfiff eine verwegene Melodie aus dem Land seiner Väter, und Marchant bot an Begleitung, was in seinen Möglichkeiten lag, indem er hin und wieder melodisch klingelte und unentwegt amelodisch klapperte. Wie immer ließ Omally Gott einen guten Mann sein, und die Welt war in Ordnung. Während die beiden einträchtig daher gingen, pfiffen, ratterten und klingelten, flatterten kleine Vögelchen auf die umliegenden efeuüberwucherten Mauerreste herab und stimmten lautstark in das fröhliche Konzert ein. Tauperlen -13-
glitzerten auf Pusteblumen, und dickbäuchige Gartenspinnen wuselten über ihre diamantübersäten Netze. Das Leben war ganz gewiß alles andere als schlecht, wenn man den Trick raus hatte, und Omally war ein Mann, von dem man ruhigen Gewissens behaupten konnte, daß er den Trick ganz genau raus hatte. Der Bursche machte einen kleinen Hüpfer und nahm seine Mütze ab, um den Tag zu begrüßen. Unvermittelt und ohne jede Vorwarnung berührte sein Fuß ein halb vergrabenes Objekt, das an den Tagen zuvor mit größter Gewißheit noch nicht an dieser Stelle aus dem Boden geragt hatte. Der große Sohn Irlands fand noch die Zeit, einen gotteslästerlichen Fluch auszustoßen, der die Sonne zum Erblassen brachte und die fröhlich zwitschernden Vögel in sprachlose Verwirrung stürzte, dann stürzte er dem Planeten seiner Geburt entgegen, wobei er sein Wunderfahrrad mit sich riß. In einem schmerzhaften, unordentlichen und ziemlich unwürdigen Haufen fand er sich mitsamt Marcha nt am Boden wieder. »Beim Blut aller Heiligen!« schimpfte Omally, während er aufzustehen versuchte, was jedoch daran scheiterte, daß er zu seinem Entsetzen von Marchant in etwas gefangengehalten wurde, das stark an einen indianischen Todesgriff erinnerte. »Ihr Götter!« Das ebenso verwirrte wie überraschte Wundergefährt gab sich alle Mühe, die Kontrolle über sein rollendes Selbst zurückzugewinnen. Hektisch versetzte es sein Hinterrad in Drehung, doch unglücklicherweise hatten sich ein paar von Omallys kostbaren Fingern in den Speichen verfangen. »Autsch! Du dämliche Bestie!« kreischte derjenige welche und trat mit seinen überdimensionalen Nagelschuhen wütend aus. »Kannst du nicht gefälligst aufpassen?« Das Wunderrad, klug geworden durch lange Jahre der Bekanntschaft mit den -14-
Launen seines Herrn, kam zu dem Entschluß, daß es an der Zeit war, den Lenker einzuziehen und sich unauffällig zu verhalten. Unter lautem Fluchen und viel unnötiger Gotteslästerung mühte sich der geschlagene Omally auf die Beine und suchte nach der Ursache für seinen Niedergang. Fast augenblicklich erspähte der Sohn Irlands den verantwortlichen Schurken: einen Knubbel aus poliertem Metall, der frech aus dem staubigen Weg ragte. John Vincent Omally war alles andere als langsam, was unbedachte Reaktionen anging, und schwungvoll holte er mit seinem fünfundvierziger Nagelstiefel zur Züchtigung aus. Irgendwo zwischen Mitt-Schwung und Voll-Schwung erschien in seinen Gedanken das Bild eines lange toten Verwandten. Selbiger hatte in der Zeit der Luft schlacht um England eine ähnliche Aktion durchgeführt, wie John es jetzt tat. Der darauffolgende laute Knall und das erstaunliche Fehlen jeglicher sterblicher Überreste waren die posthumen Folgen seines eklatanten Mangels an Umsicht gewesen. GEFAHR! BLINDGÄNGER AUS DEM KRIEG! kreischte eine Sirene in Omallys Schädel. John senkte seine fünfundvierziger Terrorwaffe sanft an Deck und bückte sich vorsichtig der Erde entgegen, um das merkwürdige Objekt zu untersuchen. Zu seinem größten Erstaunen fand er sich von Angesicht zu Angesicht mit einem Ding von sprichwörtlicher Schönheit wieder. Ein Pilz aus glänzendem Messing, dessen Abschluß eine Emaillekrone bildete. Das Objekt besaß ein gewisses Etwas, das von hohem Wert kündete, und Omally war niemand, dem eine Tatsache wie diese entging. Gierig machten sich seine Finger am Erdreich zu schaffen, und nach wenigen Minuten hatte er den oberen Teil einer schlanken, kannelierten Säule freigelegt, die sich nach unten in den Boden erstreckte. Selbst aus dem wenigen, was zu sehen war, erkannte Omally ohne jeden Zweifel, daß es sich um ein -15-
Stück erlesenster Handwerkskunst handelte; die Kannelierungen waren mit edelstem Perlmutt ausgelegt. Omally mühte sich auf die Beine und spähte verstohlen in die Runde, um sicherzugehen, daß niemand ihn bei seiner Schatzsuche beobachtet hatte. Und daß er eine Goldader entdeckt hatte, das stand so gut wie außer Zweifel. Dieser Fund hatte wirklich nichts von einer V2-Rakete oder einer Mark-SiebzehnSprengbombe an sich, dafür jedoch sehr viel vo n einer antiken Bettstatt der Proportionen Königin Victorias oder Prinz Alberts. John rieb sich die Hände und kicherte. Was hatte sein alter Herr immer wieder gesagt? Ein toter Vogel fällt nicht aus dem Nest, das hatte er gesagt. Vorsichtig bedeckte Omally seinen Fund mit ein paar Grasbüscheln, dann setzte er seinen Weg fort. Die Vögel waren längst weitergeflogen, und die Gartenspinnen auf ihren acht Beinen machten sowieso immer das, was sie wollten. Noch bevor Omally seinen geheimen Ausgang in dem Lattenza un erreichte, war er schon wieder am Pfeifen, und das Wunderfahrrad an seiner Seite tat sein bestes, um mit der zunehmend inspirierten Melodie mitzuhalten.
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Kapitel 3 Jim Pooley hatte sich auf seiner Lieblingsbank vor der Memorial-Bücherei niedergelassen. Auf seinem Schoß ruhte ausgebreitet die unbezahlte Rennzeitung, zwischen den Lippen qualmte eine entwendete Woodbine, und hinter das rechte Ohr hatte er einen Kugelschreiber geklemmt. Kaum einer der wenigen frühmorgendlichen Passanten machte sich die Mühe, von dem auf der Bank Sitzenden überhaupt Notiz zu nehmen. Noch wenigere bemerkten das mit Kreide eingezeichnete Pentagramm, das rings um die Bank auf dem Pflaster prangte, geschweige denn den Tannenzweig, der im Knopfloch des Sitzenden steckte, oder die ve rräterische Auswölbung in der Jackentasche, wo die Tarotkarten ihren angestammten Platz hatten. Feinheiten wie diese entgingen dem flüchtigen Beobachter für gewöhnlich, doch für das geübte Auge waren sie durchaus signifikant. Der unverbesserliche Pooley ha tte sich auf seiner nicht enden wollenden Jagd nach dem ›Großen Wurf‹, der Sechserwette, in den Schoß des Okkultismus begeben. Pooley hatte einfach alles ausprobiert: Er hatte das I- Ging studiert, bis seine Augen zu schielen anfingen, er hatte die Prophezeiungen des Nostradamus gelesen, er hatte es mit Würfeln versucht, mit den Routen der Zugvögel und sogar mit den Luftdruckveränderungen, die das Barometer in der Eingangshalle der Memorial-Bücherei anzeigte - nichts war seiner Aufmerksamkeit entgangen, das als potentieller Katalysator für die eine, sich immer wieder seinem Zugriff entziehende große Sechserwette dienen konnte. Jim Pooley hatte allen Ernstes überlegt, seine Seele dem Teufel zu verkaufen, doch die Vögel schrien von den Dächern, daß der Fürst der Finsternis Pooleys Namen sowieso schon auf seiner Liste stehen hatte. Jim schob die Hände in die Hosentaschen und schielte -17-
angestrengt auf seine Zeitung. Irgendwo, so wußte er mit tödlicher Sicherheit, irgendwo auf dieser Seite waren die verdammten sechs Pferde zu finden. Morgen, und auch das wußte er, würde er sich wieder selbst in den Hintern treten, weil er den offensichtlichen, ja, kosmischen Zusammenhang nicht gesehen hatte. Jim konzentrierte jede Unze seiner psychischen Energie auf die Seite, mit dem Ergebnis, daß er irgendwann einschlief. Es war ein gesegneter Schlummer, den er da in Morpheus Armen an jenem warmen Frühlingsmorgen hielt, und gesegnet wäre dieser Schlummer auch ganz ohne Zweifel geblieben, wenigstens bis um halb zwölf (weil um diese Zeit der Fliegende Schwan die Pforten öffnete), hätte ihn nicht ein mächtiger Tritt von einem schweren fünfundvierziger Nagelstiefel an der linken Fußsohle erwischt und unsanft aus dem Reich der Schlafenden gerissen. Jim Pooley, der Mann, der so wunderschön von gewonnenen Sechserwetten träumen konnte, fand sich unvermittelt im profanen Reich des Wachseins wieder. »Morgen, Jim!« sagte ein grinsender John Vincent Omally. »Haben wir etwa ein Nickerchen gemacht?« Pooley schielte aus blutunterlaufenen Augen zu seinem Peiniger auf. »Yoga«, brummte er. »Schon mal was von lamaischer Meditation gehört? Ich war dicht vor einem Durchbruch, was die morgige Sechserwette angeht. Du hast alles zunichte gemacht!« Omally lehnte sein Wunderfahrrad Marchant an den Zaun der Memorial-Bücherei und senkte seinen Hintern auf die Bank. »Tut mir leid«, sagte er. »Bitte entschuldige, daß ich dich bei der Kontemplation deines Bauchnabels unterbrochen habe. Aber du hast für alle Welt wie ein Schläfer ausgesehen.« »Nichts dergleichen war der Fall«, erwiderte Pooley in verletztem Tonfall. »Oder glaubst du allen Ernstes, ich könnte -18-
mir erlauben, meine Tage mit Faulenzen und Nichtstun zu verbringen wie du? Mein Leben ist ausgefüllt mit der niemals endenden Suche nach höheren Wahrheiten.« »Du meinst sicher die, die in Form von sechs oder mehr einlaufenden Pferden daherkommen?« »Genau die und nichts anderes.« »Und was hat diese Suche bisher ergeben?« »Sie bleibt schwierig wie eh und je und stellt dem Unaufmerksamen nicht wenige Fallen.« »Genau wie unsereins auch«, erwiderte der irische Philosoph. Die beiden Männer saßen eine Weile nebeneinander auf der Bank. Jeder von ihnen hätte liebend gerne eine Zigarette geraucht, doch aus reiner Höflichkeit warteten beide darauf, daß der jeweils andere eine erste selbstlose Geste des Tages vollzog. »Ich könnte sterben für ein Kippchen«, seufzte Jim, der als erster nachgab. Omally klopfte professionell seine Taschen ab und vermied haarscharf die Vernichtung einer vollen Packung Woodbines, die er in seiner Westentasche versteckt hatte. »Ich hab' keine bei mir«, gestand er schließlich. Jim zuckte die Schultern. »Warum müssen wir eigentlich immer dieses Spiel spielen?« erkundigte er sich. Omally schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung, Jim. Gibst du mir eine Zigarette?« »Ich wünschte, ich könnte, John, aber ich hab' selbst keine.« Omally nickte traurig. »Das sind schwere Zeiten für uns alle, fürchte ich. Nimm zum Beispiel mein Knie hier«, er hob das verschrammte Gliedmaß in Richtung von Jims Nase. »Was sagt dir selbiges?« Pooley legte das Ohr an Omallys Knie. »Es sagt nicht viel«, antwortete er nach angestrengtem Lauschen. -19-
»Versucht es mir möglicherweise mitzuteilen, daß du ein Päckchen Woodys in deiner Socke versteckt hast?« »Kalt, Jim, ganz kalt.« »Ich geb' mich geschlagen.« Omally seufzte. »Wollen wir heute ausnahmsweise unsere eigenen Zigaretten rauchen, Jim?« »Gute Idee.« Pooley griff in seine Westentasche, und Omally tat es ihm nach. Beide zogen identische Packungen ans Sonnenlicht, und beide öffneten ihre Packungen mit simultanen Bewegungen. In Omallys Packung leuchteten fünf frische Woodys. Pooleys Schachtel war leer. »Das ist vielleicht ein Ding!« sagte Jim. »Du hast mich reingelegt!« kreischte John. Pooley bedankte sich für die Zigarette, die ihm in der Folge großzügig angeboten wurde. »Herzlichen Dank«, sagte er. »Ich habe wirklich das Gefühl, als könnte heute das lang ersehnte Große Los zu mir kommen.« »Irgendwie habe ich das gleiche Gefühl«, entgegnete sein Kumpan.
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Kapitel 4 Der Teilzeitbarmann vertilgte seinen letzten Toast und wischte sich anschließend mit einer roten Ginganserviette über den Mund. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und legte die Hände auf den Magen. Neville war sicher, daß er in der letzten Zeit zugenommen hatte. Er war von Geburt an dünn gewesen, groß, schlaksig, gebeugt wie ein Gelehrter, und er hatte noch nie ein überflüssiges Gramm Fett auf dem Leib gehabt. Doch in letzter Zeit schien es ihm, daß seine Jacken unter den Achseln stetig enger wurden, und der untere Knopf seiner Westen wurde immer widerspenstiger und schwieriger zuzuknöpfen. »Höchst eigenartig«, murmelte Neville, erhob sich von seinem Sitz und schlippschlappte zur Badezimmerwaage, die inzwischen ein fester Bestandteil seiner Wohnzimmereinrichtung geworden war. Er kletterte an Bord und schielte nach unten auf die Anzeige zwischen seinen hauspantinenbewehrten Füßen. Genau elf Steine1 , kein Unterschied zu dem, was die Apparatur in den letzten zwanzig Jahren angezeigt hatte. Der Teilzeitbarmann schüttelte vo ller Verwunderung den Kopf. Das war wirklich sehr mysteriös. Vielleicht hing die Anzeigenadel, klemmte wegen Fuseln aus dem Teppich oder etwas in der Art? Er würde die Waage zu Norman bringen, damit der sich der Sache annahm. Oder vielleicht lag es an der chemischen Reinigung? Die Dinge waren nicht mehr wie früher, seit diese große Kette den alten Tom Telford aufgekauft hatte. Möglicherweise hatte die Bande irgend etwas gegen ihn, dem rechtschaffenen Teilzeitbarmann. Möglicherweise packten sie ihm jedesmal zusätzliches Polstermaterial in den Schritt seiner Hose und die Achseln seiner Jacke, wenn er die Sachen zur monatlichen Reinigung brachte. Höchst unsportlich, das Ganze. Einen ahnungslosen Burschen unter der Gürtellinie zu treffen. -21-
Neville lachte nervös über seinen unbeabsichtigten Scherz, doch es war wirklich nicht zum Lachen. Er nahm das Bandmaß aus der Tasche, das er seit einiger Zeit Tag und Nacht bei sich trug, und legte es um seine Leibesmitte. Alles war genau wie immer. Vielleicht litt er ja auch bloß an Hirngespinsten? Vielleicht stand er im Begriff verrückt zu werden? Der Gedanke schien dieser Tage recht naheliegend. Neville erschauerte. Er würde sich etwas mehr zusammenreißen müssen. Mit einem tiefen Seufzer schlurfte er zum Badezimmer, um sich anzuziehen. Er schleuderte den seidenen Morgenmantel in die Ecke und nahm die aufmüpfige Hose vom Stuhl, wo sie sauber gefaltet gelegen hatte. Mühsam zwängte er sich hinein, und nur mit äußerster Anstrengung gelang es ihm, den Hosenstall zu schließen. Das Beinkleid war definitiv zu eng, um bequem zu sein, und es machte keinen Sinn, das zu verleugnen. Neville bückte sich nach seinen Socken und hielt voller Entsetzen mitten in der Bewegung inne. Alles Blut wich aus seinem Gesicht, und die Augen drohten ihm aus den Höhlen zu quellen; in seine Lippen schlich sich ein kranker, bläulicher Farbton. Es war schlimmer, als Neville befürchtet hatte. Weit schlimmer. Die Hosenbeine flatterten an seinen Waden wie Fahnen auf Halbmast. Nicht nur, daß er dicker wurde, er wuchs zu allem Übel auch noch! Mit letzter Kraft schleppte sich der Teilzeitbarmann zu seinem Bett zurück. Sein Gesicht war eine einzige graue Maske des Horrors. Das war doch vollkommen unmöglich! Sicherlich konnte man relativ schnell an Gewicht zulegen, wenn man nur genügend in sich hineinstopfte, doch über Nacht eineinhalb Zoll wachsen? Das war nachgerade unmöglich. Vollkommen unmöglich! Pooley und Omally schlenderten über die St. Marys Schrebergartenkolonie in Richtung von Johns Hütte. Jim klopfte sich mit seiner zusammengerollten Rennzeitung an das Bein und -22-
suchte Inspiration in der Kontemplation der alten emaillierten Reklameschilder, die hier und da als Parzellenabgrenzung dienten, doch die Erleuchtung ließ auf sich warten. Die beiden Männer stapften zwischen den Reihen von Bohnenstangen und kunststoffüberzogenen Maschendrahtzäunen entlang, vorbei an Wellblechhütten und verzinkten Regentonnen. Sie gingen im Gänsemarsch über einen schmalen Pfad zwischen einem Brokkolibeet und einem Beet mit frühblühendem Rosenkohl und kamen endlich zu dem efeuüberwucherten Jägerzaun, der Omallys Schrebergartenparzelle vom Rest der Kolonie abtrennte. John parkte das Wunderfahrrad an seinem bevorzugten Platz, nahm seine tägliche Milchration von der Türschwelle und drehte mehrere Schlüssel in genauso vielen wuchtigen Schlössern. Wenige Minuten später räkelten sich die beiden Männer auf einem Paar aus einem Eisenbahnwaggon requirierter ErsterKlasse-Sitze und beobachteten, wie der Wasserkessel auf dem Spirituskocher zu blubbern anfing. »Wie ich gehört habe, läßt sich gegenwärtig mit Antiquitäten ein Schweinegeld verdienen«, begann John, als handle es sich um eine schlichte Feststellung. »Ach, tatsächlich?« antwortete Pooley ohne rechte Begeisterung. »Sicher. Der Plunder von gestern stellt sich als begehrte Obscheks-Darts von heute und die goldenen Eier von morgen heraus.« Omally erhob sich, um zwei Teebeutel in die gleiche Anzahl Emaillebecher zu hängen und die Kameraden mit kochendem Wasser zu übergießen. »Ein königlicher Schatz, der nur darauf wartet, gehoben zu werden. Selbstverständlich kann ein Mann allein in einem Geschäft wie diesem nichts erreichen. Er braucht einen Partner.« »Selbstverständlich.« »Einen vertrauenswürdigen Partner.« John legte jede Menge -23-
Betonung in die Silben, während er die beiden Teebeutel auswrang, den größten Teil der Milch zu seinem Tee hinzufügte und den Rest zu Pooleys. »Ja. Höchst definitiv einen Partner, dem er vertrauen kann.« »Davon bin ich fest überzeugt«, sagte Jim und nahm seinen Becher entgegen. »Ein wenig stark, der Tee, nicht wahr?« »Antike Betten sind in Kensington gegenwärtig der absolute Renner, wie ich gehört habe«, fuhr Omally fort. »Dekadentes Volk!« »Genau. Wer etwas auf sich hält, beißt sich die teuren Zahnkronen nach so einem antiken Bett aus.« Pooley pustete auf seinen Tee. »Eine merkwürdige Zeit ist das«, sagte er. John merkte, daß er offensichtlich auf diese Weise nicht so recht weiterkam. Eine direktere Vorgehensweise war notwendig. »Jim«, sagte er in höchst vertraulichem Tonfall. »Was würdest du sagen, wenn ich dir eine Chance zur Partnerschaft in einem Unternehmen böte, das mit absolut keinerlei finanziellem Risiko behaftet ist?« Jim nippte an seinem Tee. »Ich würde sagen«, erwiderte er und wagte nicht aufzublicken, » ›John‹, würde ich sagen, ›grab das Mistding alleine aus.‹« Omallys Augenbrauen rasten in Richtung seines Mützenschirms. Pooley deutete auf einen L- förmigen Riß in seiner eigenen Hose. »Ich bin vor nicht ganz einer halben Stunde über deine Abkürzung gelaufen«, sagte er. »Dein Mangel an Unternehmungsgeist ist eine Sache, die immer wieder Abscheu in mir hervorruft.« »Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Jesus Sirach, Kapitel siebenundzwanzig, Vers sechsundzwanzig«, entgegnete Jim Pooley. »Wie du sehr gut weißt, bin ich -24-
mitnichten ein religiöser Mensch, doch ich spüre, daß dieser Punkt hier definitiv an die Heilige Schrift geht. Trotzdem, kein schlechter Versuch.« Pooley nahm seine Zigarettenpackung aus der obersten Jackentasche und reichte dem Iren eine. »Danke sehr«, sagte Omally. »Und jetzt - falls du tatsächlich Lust verspürst, heute einen dicken Fisch an Land zu ziehen …« Omally nickte enthusiastisch; es war noch früh, sein Gehirn lief gerade erst warm und bereitete sich auf die täglichen Herausforderungen vor, »… dann habe ich etwas gesehen, das einem Mann möglicherweise mehr Pennies einbringen kann als tausend vergrabene Bettgestelle. Eine Chance, die sich einem Mann höchstens einmal im Leben bietet und die ein derart gewaltiges finanzielles Potential besitzt, daß ein jeder, der sie sieht und nicht beim Schopfe packt, sich als wirklich hoffnungslosen Fall und verlorene Seele betrachten muß.« »Deine Worte klingen in meinen Ohren wie Musik«, sagte John Vincent Omally. »Spiel weiter, lieber Freund, spiel bitte weiter.« Neville der Teilzeitbarmann schob die schweren Messingriegel der Salonbartür zurück und trat vor die Tür, um frische Luft zu schnuppern, als das Klackern zweier genagelter Stiefelpaare und das Kreischen eines Fahrradschutzblechs auf Hinterradgummi vom Nahen zweier Stammgäste kündeten. Einer dieser beiden war ein Gentleman keltischer Herkunft, der erst kürzlich zu der Überzeugung gelangt war, daß dem Perpetuum Mobile und seiner Nutzung als fünftem Gang beim gewöhnlichen Fahrrad die Zukunft gehörte. Neville kehrte hinter den Tresen zurück und legte das Brett um, das die Theke nach draußen abschloß. »Gott zum Gruß an alle«, sagte John Vincent Omally, als er die Tür zum Fliegenden Schwan aufstieß. -25-
»Das gleiche gilt für mich«, fügte Jim Pooley hinzu, der Omally auf den Fersen folgte. Neville schob ein poliertes Glas unter den Zapfhahn und betätigte den Emaillegriff der Bierpumpe. Noch bevor die beiden Gäste sich auf ihren gewohnten Barhockern niedergelassen hatten, standen zwei randvolle Pints Large vor ihnen, golden braun und kristallklar. »Willkommen«, sagte Neville. »Hallo Neville«, sagte Omally. »Jim ist an der Reihe.« Pooley grinste und schob den abgezählten Betrag in Pennies und Halfpennies über die polierte Theke. Neville tippte den gewohnten Nullbon in seine alte Registrierkasse, und einmal mehr war alles so, wie es immer gewesen war und hoffentlich immer bleiben würde im guten alten Brentford. »Was machen die Geschäfte, Gentlemen?« erkundigte sich Neville bei seinen Gästen, die ihre Pints bereits zu einem guten Drittel geleert hatten. »Wie immer. Das Leben ist grausam zu denen, die hart arbeiten«, antwortete John. »Und wie geht es dir?« »Um die Wahrheit zu sagen, ich weiß es nicht genau. Wie sehe ich aus, John? Ich würde gerne deine persönliche Meinung hören.« »Wie das Sinnbild von Gesundheit.« »Nicht ein wenig angeschwollen?« Neville betastete seine mittleren Leibesregionen. »Nicht im geringsten.« »Keine Spur von Beleibtheit hier herum? Du kannst ruhig offen sein; ich fürchte mich nicht vor Kritik.« Omally schüttelte den Kopf und blickte Jim an. »Du siehst prima aus«, sagte dieser. »Was ist denn los, -26-
Neville? Geht es dir nicht gut?« »Nein, nein!« beschwichtigte Neville unter heftigem Kopfschütteln. »Es ist nur … nun …« Er betrachtete die beiden Gäste, die ihn mit zweifelnden Blicken anstarrten. »Ach, nichts. Ihr meint also, ich sehe gesund aus? Nicht größer als gewöhnlich?« Zwei Köpfe bewegten sich unisono auf ihren Schultern von rechts nach links und zurück. »Am besten, wir vergessen die Sache. Es war sowieso nicht wichtig. Und ich will euch euer Bier nicht verleiden.« »Keine Sorge deswegen«, sagte John Vincent Omally. Die Tür des Fliegenden Schwans wurde geöffnet, und ein älterer Gentleman mit einem jungen Hund trat ein. »Guten Morgen, John und Jim« , sagte der Alte Pete und schlurfte in Richtung Tresen. »Einen großen dunklen Rum bitte, Neville.« Neville wandte sich zu den Spirituosen um. »Morgen Pete«, erwiderte Pooley den Gruß. »Hallo Chips.« Der pelzige Gefährte des Alten bellte unverbindlich. »Alles in Ordnung?« »Soweit man es erwarten darf, sicher. Und was macht der Sport? Hast du den ganz großen Treffer immer noch nicht aus dem durchgescheuerten Ärmel gezogen?« Pooley antwortete mit einer vagen Geste. »Zoll für Zoll. Aber …« Der Alte Pete nahm seinen Drink entgegen und hielt das Glas ins Licht, um die Menge Inhalt zu überprüfen, bevor er den abgezählten Betrag über den Tresen schob. »Soso«, sagte der Alte Pete und wandte sich an Omally. »Was machen die Pflänzchen?« »Wachsen und gedeihen«, antwortete selbiger. »Ich rechne dieses Jahr mit einer Rekordernte. Bis zum Festival rechne ich mit einigen ersten Preisen und noch mehr zweiten.« -27-
»Wahrscheinlich wieder King Teddies, wie?« Der Alte Pete galt als die Personifizierung allen agrikulturellen Wissens im Umkreis einer größeren Anzahl Meilen, und er hatte nur wenig für Kartoffelbauern übrig. »Das Beste, was die Natur zu bieten hat«, entgegnete John. »War es nicht die Kartoffel, die die Joyces, die Wildes, die Behans und Traynors ernährt hat? Zeig mir einen großen Mann, und ich zeige dir die Kartoffel, der er alles verdankt.« »Ich mache mir nichts aus Fußball«, sagte der Alte Pete. »Wenn du ein richtiger Farmer wärst, würdest du deinen Anbau ein wenig diversifizieren. Ich selbst zum Beispiel habe nicht weniger als fünf verschiedene Sorten Kohl im Wuchs stehen.« Omally bekreuzigte sich und setzte ein empörtes Gesicht auf. »Sprich niemals dieses Wort in meiner Gegenwart aus!« verlangte er. »Ich ertrage dieses verabscheuungswürdigste aller Gemüse einfach nicht!« »Im Kohl liegt die Kraft!«2 intonierte der Alte. »Er steckt voller Eisen. Ein Mann kann auf einer Wüsteninsel ein ganzes Leben überleben mit nichts mehr als ein paar Kohlsamen und ein wenig gesundem Menschenverstand.« »Die Pocken auf allen Kohl!«3 sagte John und beugte sich tief über sein Pint. »Soll doch die Schwarze Fliege ihn fressen!« Pooley war in seine Rennzeitung vertieft. Möglicherweise befand sich ein Pferd am Start, dessen Name ein Anagramm für Kohl war. Derartige Faktoren durften nicht ohne weiteres abgetan werden, wenn man nach der ewig flüchtigen kosmischen Verbindung suchte. Die Anstrengung war beträchtlich, und in kürzester Zeit war Jim - wie Dickens' legendärer dicker Junge - erneut in Schlaf gesunken. Neville machte Anstalten, das erst halb geleerte Pint abzuräumen. Der Schläfer wechselte überraschend von Dickens zu Poe und erwachte. »So geht das nicht«, sagte er. »Das ist Omallys Runde.« Omally trank das Pint leer. -28-
»Laß uns nicht mehr über Gartenbau reden«, sagte Omally anschließend zum Alten Pete. »Deine Kenntnisse betreffend dieses Gebiet sind in der ganzen Gegend Legende, und ich bin nicht darauf aus, mich mit dir zu streiten. Verrate mir doch, hast du einen guten Schlaf?« »Den Schlaf der Gerechten, nicht mehr und nicht weniger.« »Dann besitzt du sicherlich ein behagliches Nest, in dem du deine Nickerchen hältst?« »Nein, nichts Besonderes. Eine Matratze auf einer rauhen Holzpalette, das ist alles. Ich schlafe seit meiner Kindheit darauf.« Omally schüttelte entsetzt den Kopf. »Wie ich das verstehe, hat Langlebigkeit sehr viel damit zu tun, wie man sich bettet und schläft. Der Mensch verbringt ein Drittel seines Lebens im Bett. Ich selbst noch ein Gutteil mehr. Der Komfort des Schlafenden wirkt sich gewaltig auf seine Gesundheit und sein Wohlbefinden aus.« »Ist das eine Tatsache?« erkundigte sich der Alte Pete. »Ich habe keinerlei Beschwerden.« »Weil du noch nie größeren Komfort erfahren hast. Nimm zum Beispiel mich. Man könnte mich glatt für dreißig halten.« »Nie im Leben. Vierzig.« Omally lachte. »Immer einen Scherz auf den Lippen, wie? Aber im Ernst, ich verdanke meine gute Gesundheit dem Komfort, den mein Bett bietet. Es gibt ganze Wissenschaften, die sich mit derartigen Dingen befassen, und glaube mir, ich habe sie allesamt studiert.« »Ich hab' noch nie viel darüber nachgedacht«, gestand der Alte Pete. »Das hatte ich bereits vermutet«, fuhr John fort »Und gerade du als ein älterer Gentleman - und das soll keine Beleidigung sein - solltest zuallererst auf deine Gesundheit achten. Ein -29-
unbequemes Bett kann dich Jahre deines Lebens kosten.« »Ich gestehe, daß mein altes Bett vielleicht ein wenig durchgelegen ist.« »Da hast du es!« Omally klatschte in die Hände. »Du wirfst dein Leben für ein paar Pennies weg, die du klugerweise und in deinem eige nen Interesse besser investiert hättest!« »Ich bin wirklich ein Dummkopf!« sagte der Alte Pete, der definitiv keiner war. »Was ist es, das du mir verkaufen willst, John?« Omally tippte sich an die Nase. »Etwas ganz, ganz Besonderes. Die angemessene luxuriöse Schlafstatt. Den Höhepunkt und Gipfel aller Schlafensparaphernalien. Ich bin nämlich erst kürzlich in den Besitz eines Bettes gekommen, das selbst die Götter vor Neid erblassen lassen würde. Hätte ich den Platz dafür, würde ich das Möbel gewiß für mich selbst beanspruchen, doch meine Wohnung ist klein, und ich weiß, daß ein Möbel wie dieses mit Leichtigkeit in deinem Haus unterzubringen ist. Was hältst du von meinem Vorschlag?« »Ich will erst einen Blick auf dieses sagenhafte Bett werfen. Heute Nachmittag, halb sechs, hier.« Omally spuckte in seine Hand und schlug sie in den dargebotenen faltigen Armfortsatz des Alten. »Erledigt!« sagte er. »Ich fühle mich aber noch ganz munter«, erwiderte der Alte Pete. Omally zog seinen Kumpan zu einem Nebentisch. »So etwas nenne ich Geschäft«, verriet er Pooley in vertraulichem Tonfall. »Das alte Ding ist noch nicht mal ausgegraben und schon verkauft.« Pooley stöhnte. Er spürte bereits jetzt die Blasen an seinen Händen. »Ich schätze, da bist du auf dem Holzweg«, sagte er. -30-
»Dieses Unternehmen riecht mir zu sehr nach Scheitern. Das ist ein Bombengrundstück , auf dem du graben willst! Wahrscheinlich liegt sogar noch eine Leiche in diesem Bett. Falls es sich tatsächlich um ein Bett handelt und in Wirklichkeit nicht nur ein Pfosten und sonst nichts in der Erde ruht.« Omally hatte sich bei der Erwähnung eines Leichnams bekreuzigt. »Hör sofort auf mit diesen defätistischen Bemerkungen!« sagte er. »Ein ganzer Tageslohn winkt bei dieser Geschichte, und als Gräber verdienst du die Hälfte von allem, was ich rausschlage.« »Und was ist mit Normans Rad und den vielen, vielen Millionen, die damit zu verdienen sind?« »Nun, wir besitzen keinerlei Beweis, daß das Rad sich bis in alle Ewigkeit dreht. Das muß erst noch wissenschaftlich genau untersucht und nachgerechnet werden. Und so etwas braucht seine Zeit.« »Aber Zeit haben wir zur Genüge, oder nicht?« »Ich sag' dir was.« Omally leerte sein Pint und starrte auf den Boden des Glases. »Ich werde dir bei deinem Rad helfen, wenn du mir bei meinem Bett hilfst.« Pooley blickte seinen Kumpan zweifelnd an. »Nun komm schon, sei fair!« beschwerte sich John. »Beide Angelegenheiten sind mit einem gewissen Risiko behaftet. Erstens kannst du nicht einfach so zu Norman gehen. Er weiß, daß du hinter ihm he r bist. Ein Dritter muß agieren. Jemand, der die subtileren Feinheiten einer geschäftlichen Annäherung zu meistern versteht. Jemand, der in Dingen wie diesen Begabung besitzt.« »Wie du selbst beispielsweise?« »Eine gute Idee, Jim! Darauf bin ich noch gar nicht gekommen!« sagte Omally. »Aber Zeit spielt eine wichtige Rolle. Wir wollen schließlich nicht daß sich irgendwelche -31-
Opportunisten vor uns an Norman heranmachen. Sobald wir von hier aufbrechen, gehst du zu meinem Schrebergarten, packst Grabwerkzeuge ein und legst das Bett frei, während ich zu Norman gehe und mit ihm rede.« Wenn Pooley schon vorher an Zweifeln gelitten hatte, dann waren sie nichts gegen das, was jetzt auf seinem Gesicht zu lesen stand. »Mich überkommt das beklemmende Gefühl, daß ich bei dieser Geschichte wieder einmal den Dummen spiele«, sagte er langsam. »Den Dummen?« Omallys Gesicht zeigte äußerste Empörung. »Wir sind Geschäftspartner, oder etwa nicht? Hier gibt es keinen Dummen! Du willst doch nicht schon zu Beginn Mißtrauen ausstreuen?« »Wer? Ich? Niemals! Mir ist nicht eine Sekunde in den Sinn gekommen, daß ich in einem Minenfeld stehen und ein rostiges altes Bett ausgraben soll, während du in Normans Eckladen ein gemütliches Schwätzchen hältst. Ganz ehrlich nicht!« »Also?« Jim legte die Stirn in Falten. »Wer ist mit Bezahlen dran?« »Du, Jim«, erwiderte John Vincent Omally. »Ich bin sicher, es ist deine Runde.«
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Kapitel 5 Norman hatte seine morgendliche Arbeit voller Schwung hinter sich gebracht. Zwischen den einzelnen Kundenbesuchen hatte er immer wieder die Gelegenheit ergriffen und war nach hinten gehüpft, hatte den Emailletürgriff betätigt, die Tür einen Spaltbreit geöffnet und verstohlen in das Dämmerlicht seines Hinterzimmers gespäht um sich zu versichern, daß alles ganz genau so war, wie es sein sollte. Das Rad drehte sich seit inzwischen mehr als zwei Stunden unermüdlich weiter und weiter, und es machte keinerlei Anstalten, seine endlose Bewegung einzustellen. Schließlich schlug in der Ferne die Uhr der MemorialBücherei die erste Stunde auf der nachmittäglichen Skala, und Norman drehte das Türschild seines Ladens auf ›GESCHLOSSEN‹. Sorgfältig verriegelte er die Tür und hüpfte aufgeregt in sein Sanctum sanctorum davon. Das Rad war ganz ohne Zweifel ein Erfolg, und das bedeutete als solches, daß Phase Eins seines neuesten und seiner eigenen bescheidenen Meinung nach unbestritten ehrgeizigsten Projekts gelungen war. Norman schlüpfte aus seinem Kaufmannskittel und zog eine fleckige Lederschürze sowie eine Schweißerbrille über. Er bestäubte seine Gummihandschuhe mit Babypuder, stülpte sie über die sensitiven Finger und spannte die magischen Armfortsätze. Sodann zog er schwungvoll einen Vorhang aus einer alten fleckigen Gingan-Tischdecke beiseite, der einen winzigen Alkoven in einer Ecke des überfüllten Zimmers abteilte. Auf dem wurmstichigen Küchenstuhl, der dahinter zum Vorschein kam, saß niemand geringeres als ein zweiter Norman! Er steckte in der grauen Arbeitskleidung eines Kaufmanns: -33-
Hemd, Schlips, Hosen und braune Budapester, und er sah aus wie ein wächsernes Produkt der Sorte, die man bei Madame Tussaud bewundern kann. Der wissenschaftlich ambitionierte Eckladenbesitzer kicherte aufgeregt und kitzelte seinen Doppelgänger mit einem gummibewehrten Finger unter dem Kinn. »Guten Tag, Norman«, sagte er. Das Duplikat gab keine Antwort. Statt dessen saß es reglos da und starrte blicklos ins Leere. Der Doppelgänger war eine so perfekte Imitation seines lebendigen Vorbilds, wie das nur irgend möglich war. Und das kam nicht von ungefähr, wenn man die vielen Jahre der Arbeit bedachte, die Norman investiert hatte. Tausende und Abertausende von Stunden waren in jedes kleine Detail geflossen. Jedes Gelenk des Doppelgängerskeletts war voll ausgebildet und mit reibungsarmen Lagern versehen, die der Ladenbesitzer selbst entwickelt hatte. Die Computerbänke unter der Hirnschale waren bis zum Überlaufen vollgestopft mit sämtlichen notwendigen Informationen und versetzten das Geschöpf in die Lage, all die profanen und ermüdenden Pflichten zu erfüllen, die einen Eckladenbesitzer erwarteten, während sein Schöpfer seine gesamte kostbare Zeit den weit bedeutungsvolleren Angelegenheiten widmen konnte, die Phase Drei seines Projekts beinhaltete. Nur eins hatte bisher noch gefehlt und das war der essentielle Lebensfunke, der jetzt auf Normans Küchentisch mit exakt sechsundzwanzig Umdrehungen pro Minute vor sich hinrotierte. Norman kicherte erneut und zog sein Meisterwerk auf die Beine. Er knöpfte das Hemd auf und entblößte die Gummischicht der Brustregion, hinter der sich die Hydraulikeinheit befand, die die Atembewegungen des Doppelgängers simulieren sollte. Norman hantierte mit seinem Schraubenzieher, entfernte die Frontabdeckung und applizierte ein paar Spritzer Caramba auf die beiden Lager, die in Form und Größe identisch waren mit denen auf dem Tisch, die das sich -34-
unentwegt drehende Rad beherbergten. Norman hatte lange und breit nach einer unerschöpflichen Energiequelle gesucht. Bis zu diesem Tag hatte er nichts zur Hand gehabt außer dicken Stromkabeln, die seine r Schöpfung nur wenig Bewegungsfreiheit ließen, selbst dann, wenn sie getarnt waren und bloß unten aus den Hosenbeinen hervorlugten. Doch die kompakte Apparatur auf dem Tisch bedeutete das Ende aller Einschränkung. Norman ging zum Tisch und hob die glänzenden Achsen des sich unablässig drehenden Rads mit einem Satz Spezialzangen aus seinen Lagern. Es drehte sich gyroskopisch weiter, und wenn nichts anderes, so reichte sein Momentum aus, den Roboter aufrecht stehen zu lassen. Mit einem befriedigenden Klicken glitt das Rad in seine neuen Lager. Norman schraubte die Abdeckplatte auf die Brusthöhle, knöpfte das Hemd zu, straffte den Schlips und zog den Kittel zurecht. Anschließend trat der Ladenbesitzer zurück, um sein Spiegelbild zu begutachten. Perfekt. Plötzlich hob und senkte sich der Brustkorb des Doppelgängers, die Augen blinzelten und blickten wach umher. Ein Gähnen, ein Strecken, und der Doppelgänger räusperte sich merkwürdig blechern. Dann sprach die Kreatur. »Guten Tag, Sir«, sagte sie. Norman klatschte begeistert in die Hände und tanzte seinen Lieblingstanz. »Wunderbar!« rief er selbstgefällig. »Einfach wunderbar!« Der Roboter4 grinste schief. »Ich bin froh, daß alles zu Ihrer Zufriedenheit läuft«, sagte er. »Oh, das tut es in der Tat! In der Tat! Wie fühlst du dich, Norman? Alles in Ordnung?« »Ein wenig steif, Sir, wenn mir die Bemerkung erlaubt ist, doch ich schätze, das wird sich geben. Kann ich etwas für Sie -35-
tun?« Norman klatschte erneut in die Hände. »Was hältst du von einer Tasse Tee?« »Selbstverständlich, Sir.« Der Roboter erhob sich unsicher, streckte sich erneut und wackelte nacheinander mit beiden Füßen. Norman beobachtete mit der größten aller denkbaren Begeisterungen, wie sein zweites Selbst seine erste Aufgabe erledigte. Der Tee war ganz gena u so, wie er ihn selbst gemacht hätte. »Sie werden entschuldigen, Sir, wenn ich Ihnen keine Gesellschaft leiste«, sagte der Pseudo-Ladenbesitzer, »doch ich verspüre gegenwärtig nicht den geringsten Durst.« Kurz nach drei Uhr nachmittags verließen Pooley und Omally den Fliegenden Schwan. Während die beiden Freunde über die Ealing Road davonschlenderten, schob Neville der Teilzeitbarmann die Messingriegel vor und schlurfte die Treppe hinauf zu seinen Gemächern. Die Dielenbretter ächzten verdächtig unter seine m Gewicht, doch gestärkt durch eine halbe Flasche Bells verschloß Neville die Ohren vor dem warnenden Geräusch. »Also schön«, sagte Omally, »kommen wir zum geschäftlichen Teil des Tages. Es ist drei Uhr durch, und wir haben noch nicht einen Penny verdient.« »Ich hab' vergessen, beim Buchmacher reinzuschauen!« beschwerte sich Jim. »Wahrscheinlich kann ich sowieso höchstens noch ein paar Hunderttausend Pfund gewinnen.« »Der Tag ist trotzdem nicht verloren. Positives Denken ist angesagt! An die Arbeit!« Pooley schüttelte den Kopf und setzte sich düster die Albany Road hinunter in Bewegung, in Richtung der Schrebergartenkolonie. -36-
Omally straffte die Schultern und betrat Normans Eckladen. Hinter der Ladentheke stand Norman und blätterte geistesabwesend durch eine Hochglanzausgabe von Wet Girls in the Raw. Hinter der Ladentheke duckte sich ein weiterer Norman und kicherte unterdrückt in die vorgehaltene Hand. »Tag, Norman«, sagte Omally. »Ein Päckchen Rote bitte und eine halbe Unze vom Goldenen.« Der mechanische Süßwarenhändler räusperte sich mit einem merkwürdig metallischen Geräusch. »Selbstverständlich, Sir«, sagte er und wandte sich ab, um die gewünschten Artikel aus dem Regal zu nehmen. Hinter der Ladentheke schnalzte Norman in stillem Unbehagen mit der Zunge. Oben auf der Theke schlich Omallys Hand in Richtung Pfefferminzständer und verschwand anschließend wieder in seiner Hosentasche. Norman würde diesen Diebstahl mangelnder Erfahrung seines Doppelgängers zuschreiben und einige zusätzliche Defensivmechanismen einprogrammieren müssen. Er kritzelte eine eilige Notiz auf eine heruntergefallene Eistütenverpackung und wartete die weitere Entwicklung ab. Er mußte nicht lange warten. »Schreib bitte alles an, Norm«, verlangte Omally. »Verzeihung, Sir?« »Auf meine Rechnung. Ich begleiche meine Schulden später.« »Ich bedaure, Sir, doch ich kann nicht gestatten, daß Sie diesen Laden verlassen, ohne für die geforderte Ware zu zahlen. So ist das Geschäft nun einmal, wenn Sie verstehen?« Unter der Ladentheke biß sich Norman auf die Knöchel. Das war schon viel besser. Er tätschelte seiner Schöpfung ermunternd das Hosenbein. »Bitte fragen Sie nicht nach Kredit, Sir«, fuhr der Roboter fort. »Ein ablehnender Bescheid wird meist als Beleidigung -37-
aufgefaßt.« »Was?« Omally betrachtete den Ladenbesitzer mit unverhülltem Entsetzen. Das war ganz und gar nicht die übliche Art, wie er mit Norman Geschäfte machte. Nicht die Art, wie er es in den letzten fünfzehn Jahren getan hatte. Sicher, er hatte nicht erwartet, den Laden zu verlassen, ohne vorher zu bezahlen - es sei denn natürlich, er ertappte Norman bei einer dieser Gelegenheiten, zu denen er sein selbstgebrautes Kohlbier getestet hatte. Aber das hier? Norman schob seine Schirmmütze in den Nacken und kratzte sich an der Stirn. War das vielleicht einfach eine neue Masche? Hatte Norman eines dieser amerikanischen Magazine über die Steigerung der eigenen Selbstsicherheit gelesen oder etwas in der Art? Wie dem auch sein mochte, Omally würde zum Schein mitspielen. »Ich hab' seit ein paar Tagen so merkwürdige Schmerzen in den Knien«, wechselte er das Thema. Ein verwirrter Gesichtsausdruck machte sich auf dem Antlitz von Normans Doppelgänger breit. »Das tut mir leid zu hören, Sir«, sagte er mitfühlend. »Es ist das Radfahren, glaube ich«, fuhr John fort. »Dieses ständige und unentwegte Treten der Pedale, immer im Kreis herum. Sicher, ohne mein Fahrrad wäre ich verloren, denn es ist mein einziges Transportmittel, doch ich bin fest überzeugt, daß die konstante Anstrengung, die mit dem Radfahren verbunden ist, mich nach und nach zum Krüppel macht.« Der Roboter-Norman schüttelte traurig den Kopf. »Das ist wirklich ein Jammer«, seufzte er. »Ja. Wenn es doch nur eine Alternative für dieses ewige Pedaletreten gäbe. Immer herum und herum und herum.« Omallys Hände vollführten die entsprechende Bewegung in der Luft. »Wenn du weißt was ich meine.« Der Norman unter der Theke nickte. Er wußte längst, worauf Omally hinauswollte. -38-
Der Doppelgänger jedoch schien noch nicht begriffen zu haben. »Und warum tauschen Sie das Fahrrad dann nicht einfach gegen ein Automobil?« schlug er vor. »Ein Auto?« Omally starrte den falschen Ladenbesitzer befremdet an. »Ein Auto? Wie lange kennen wir uns schon, Norman?« Das Schnurren der Zahnräder und Klicken der elektronischen Relais' blieb Omally verborgen, während der Roboter in seinen Datenbänken nach einer Antwort auf die letzte Frage suchte. »Exakt fünfzehn Jahre, zwei Monate und neun Tage«, sagte Norman der Zweite schließlich. »Und Sie hatten, wenn ich mich recht erinnere, die gleic he Mütze und die gleiche Hose an.« »Und glaubst du allen Ernstes, daß ein Mann, der noch immer die gleiche Hose und die gleiche Mütze wie vor fünfzehn Jahren trägt, imstande ist, sich ein Auto zu leisten?« »Darüber habe ich bisher noch nicht nachgedacht, Sir«, antwortete der Roboter. »Aber wenn Sie wünschen, beschäftige ich mich mit diesem Problem, während Sie Ihren Einkauf bezahlen.« Omally biß sich auf die Unterlippe. Diese Sache stank zum Himmel. »Und was macht die Arbeit?« erkundigte er sich in einem Versuch, das Thema erneut zu wechseln. »Die Geschäfte gehen schlecht, wie immer. Die monatlichen Gewinne sind schon wieder zurückgegangen.« »Nein, nein. Ich meine nicht den Laden. Ich meine deine Arbeit.« Omally gestikulierte in Richtung der Hinterzimmertür. »Welche Wunderwerke brütest du diesmal wieder in deinem Labor aus?« »Wenn Sie entschuldigen wollen, Sir«, sagte der Roboter plötzlich und streckte die Hand aus, »mir wird in diesem Augenblick bewußt, daß Sie keinerlei Absicht hegen, Ihre Ware -39-
zu bezahlen. Würden Sie die Freundlichkeit besitzen und sie zurückgeben?« »Norman, geht es dir gut?« Unvermittelt reichte der Roboter mit langen Armen über die Theke und packte Omally an seinem Tweedrevers. »Ich warne dich!« sagte der Sohn Irlands. »Ich kann Dimac!« Unter der Theke befiel plötzliches Entsetzen den versteckten Ladenbesitzer. Er hatte das gesamte Dimac-Handbuch der martialischen Künste des Count Dante in seine Schöpfung einprogrammiert, als Vorsichtsmaßnahme gegen überraschende Angriffe sozusagen. Er wußte sehr wohl, daß Omallys Behauptung reine Aufschneiderei war, doch er bezweifelte ernsthaft, daß der Roboter imstande war, dies zu erkennen. »Soso, dann nimm das«, sagte Normans Doppelgänger und hob Omally hoch. »Und das.« Nach einem kräftigen Schlenker einer starken Automatenhand, den der legendäre Count Dante als Griff Nummer zweiunddreißig, Version A katalogisiert hatte (das Zusammenrollen des Dunklen Drachenschwanzes), fand sich Omally mit wedelnden Armen in einem Rückwärtssalto durch die Luft katapultiert, um inmitten eines Gewirrs umfallender Zeitungsständer und abgelaufener Schokoladenpackungen zu landen. »Du Bastard!« schimpfte Omally spuckend und krempelte die Ärmel hoch. Norman kauerte in der Dunkelheit hinter der Ladentheke und hielt sich die Ohren zu. Der Roboter schwang sich geschickt über die Theke und baute sich über dem gefallenen Sohn Irlands auf. »Den Tabak und die Papierchen«, sagte er und streckte fordernd die Hand aus. »Komm schon, Norman«, sagte John. »Sei doch vernünftig! Was soll das überhaupt? Du kannst doch nicht deine Kunden -40-
wegen einer Packung Tabak niederschlagen! Bist du verrückt geworden?« Während der Roboter über eine Antwort betreffend Omallys letzte Frage nachdachte, versetzte dieser Normans Doppelgänger einen vernichtenden Tritt in den Unterleib. Es gab ein lautes, metallisches Klang! und ein grauenhaftes knochensplitterndes Knacks! »Mein Gott!« ächzte Irlands Tapferster und umklammerte sein Knie. »Was hast du unter der Hose, Norman? Einen verdammten Tiefschutz aus Schmiedeeisen?« Der Roboter war in Windeseile über ihm, und während Norman sich in der Dunkelheit hinter seiner Ladentheke versteckte, den Rosenkranz aufsagte und sich verzweifelt wünschte, daß das kleine sich endlos drehende Rad, daß er erst vor so kurzer Zeit in Bewegung versetzt hatte, ein und für alle Mal und auf der Stelle kaputtgehen sollte, hob sein martialisches Duplikat den zappelnden Sohn Irlands hoch über den Kopf und schleuderte ihn einmal mehr durch den gesamten Laden. Diesmal jedoch gab es nichts, was Omallys Aufprall gedämpft hätte. Er prallte mit voller Wucht gegen die altersschwache Ladentür, riß sie aus den Angeln und segelte mitsamt der Tür auf die Ealing Road hinaus, wo er auf der Motorhaube eines geparkten Morris Minor landete. Ein geringerer Mann als Omally hätte einen Angriff wie diesen sicherlich nicht überlebt, doch Irlands Stolz glitt, vorübergehend betäubt, lediglich auf der Fahrerseite des Morris von der Motorhaube und bereitete sich darauf vor, den Kampf fortzusetzen. »In die Eier und auf die Nase«, hatte sein alter Dad ihm immer wieder gesagt, und wie es schien, standen die Eier diesmal nicht zur Debatte.
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Kapitel 6 Jim Pooley schlurfte durch die St. Marys Schrebergartenkolonie und schleifte Omallys Pickaxt und Spaten hinter sich her. Immer wieder blieb er stehen und fluchte ausgiebig vor sich hin. Er war sicher, daß er den schlechteren Teil der Abmachung erwischt hatte. Omally saß wahrscheinlich in diesem Augenblick in Normans Hinterzimmer, süffelte Selleriewein und unterhielt sich mit dem Ladenbesitzer über die Vertragsbedingungen. Irgendwie schaffte John es immer wieder, die Rosinen aus dem Kuchen zu picken, und Jim blieb nur das sprichwörtliche stinkende Ende des Abwasserrohrs. Das Schicksal hatte es noch nie gut mit den Pooleys gemeint. Nach Jims fester Überzeugung lag die Schuld bei einem seiner neolithischen Vorfahren, der es sich mit Gott verscherzt hatte. Wahrscheinlich wegen irgendeiner völlig unbedeutenden Sache (denn in Kleinigkeiten waren die Pooleys schon immer groß gewesen), doch wie allerseits wohlbekannt, besitzt der Allmächtige ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis und kann ausgesprochen nachtragend sein, wenn man ihn einmal verärgert hat. Pooley verfluchte all seine Vorfahren auf einen Streich, zusammen mit ein paar Omallys, um auf der sicheren Seite zu sein. Wahrscheinlich machte er sowieso wieder einmal aus einer Mücke einen Elefanten, und er wußte es ganz genau. Wenn alles gutging, reichten ein paar Spatenstiche, und das Ding löste sich vor seinen Augen in Rost und Wohlgefallen auf. Schlimmstenfalls konnte Jim mit der Pickaxt nachhelfen. Bei den vielen Millionen, die sich mit Normans Rad verdienen ließen, schienen ein paar schwer verdiente Pennies für ein in der Erde vergrabenes Bettgestell kaum der Mühe wert. Pooley schlurfte durch das Tor der Schrebergartenkolonie und -42-
die Albany Road hinauf. Der Spaten hinter ihm verursachte einen Funkenschauer auf dem rauhen Kopfsteinpflaster. Pooley bog in die Abaddon Street und trat vor den langen, hohen Lattenzaun, der das Trümmergrundstück abschirmte. Mit einem Seufzer, der von ganzem Herzen kam, schob Jim die nur an einem Nagel hängende Latte beiseite, die den geheimen Zugang tarnte, und kletterte rückwärts durch die Lücke, die sich aufgetan hatte. Ein ganz schlecht durchdachter Zug. Mit einem plötzlichen Entsetzensschrei verschwand Pooley in der Zaunlücke. Omallys Spaten wurde ihm aus der Hand gerissen und fiel in Vergessenheit. Nur der glücklichste aller Zufälle bewirkte, daß Jim den Griff der Pickaxt nicht ebenfalls losließ, deren eisernes Kopfstück sich fest in den Latten rechts und links der Lücke verkeilt hatte. Wo sich dereinst ein Trampelpfad befunden hatte, war nun ein vollständiges und äußerstes Nichts. Das Trümmergrundstück hatte einfach aufgehört zu existieren. Jim baumelte in einem unsicheren Gleichgewicht über dem Rand eines in der Tat enormen Lochs. Es war der Vater aller Löcher, und als Jim seine angsterfüllten Augen nach unten zwischen die Füße richtete, hatte er das unbestimmte Gefühl, in das Schwarze Nichts des Weltalls zu blicken. »Hilfe!« heulte Pooley, der noch nie langsam von Begriff gewesen war, wenn er das Gefühl hatte, daß es um sein Leben ging. »Mann über Bord! Ich falle gleich …! HILFE!!!« Jim schwang die verzweifelten Füße in Richtung Rand des Lochs, und seine Stiefelnägel kratzten und scharrten an dem steilen Kliff, ohne jedoch einen Halt zu finden. »O je!« ächzte Jim. »Ojemine! O Hilfe!« Ein dumpfer Knall über Jim erweckte seine Aufmerksamkeit. Es schien, daß das ältliche Eisenstück von Omallys Pickaxt sich nicht schlüssig war, ob der Zeitpunkt geeignet war, sich von -43-
seinem gleichermaßen ältlichen hölzernen Stiel zu trennen. »Oooooooooo neeeiiiiinnnn!« kreischte Jim, als er seiner letzten Sekunde ein paar Zoll weiter entgegensank. Pooley schloß die Augen und bereitete sich auf das Kommende vor, so gut es ging - wenn man bedachte, wie wenig Zeit ihm blieb, bis er vor seinem Meister5 stand. Ein weiteres lautes Knacken über ihm informierte Jim, daß die Pickaxt zu einer Entscheidung gekommen war. Stiel und Kopf trennten sich ihrer Wege, und Jim war dahin. Oder jedenfalls wäre er mit allergrößter Wahrscheinlichkeit dahingewesen, hätte ihn nicht ein Paar muskulöser Hände an den wedelnden Armen gepackt und nach oben gezogen, wobei beide Ärmel seiner Tweedjacke mit lautem Reißen der unerwarteten Belastung Tribut zollten. Ein weißgesichtiger und am ganzen Leib zitternder Jim Pooley wurde aus dem Abgrund und durch die Lücke im Zaun gezerrt und in einem würdelosen Haufen Elend auf dem Pflaster des Gehwegs abgestellt. »Sie haben dieses Grundstück unbefugt betreten«, sagte eine Stimme hoch über ihm. »Das hier sind, glaube ich, Ihre Jackenärmel.« Jim schielte von seinem Zufluchtsort auf dem Pflaster nach oben. Über ihm hatte sich etwas aufgebaut, das genauso aussah, wie er sich einen Engel der Erlösung immer vorgestellt hatte. Das Wesen war mächtig groß, mit strohblondem, hinter die Ohren gekämmtem Haar. Die Augen waren vom tiefsten Schwarz, ganz genau wie der makellose einteilige Arbeitsoverall. Der Mann trug einen winzigen Kopfhörer, den er nun abnahm. Jim hörte das Klingeln feenartiger Musik aus den Muscheln. »Ich kam zufällig vorbei und hab' Sie schreien gehört«, erklärte der junge Mann. »Sie waren unbefugterweise auf diesem Grundstück, wissen Sie?« Jim mühte sich würdelos auf die Beine und klopfte den Staub -44-
von dem, was von seiner Jacke übrig war. Er nahm die Ärmel von dem jungen Mann entgegen und stopfte sie in die Hosentaschen. »Tut mir leid«, sagte er. »Das wußte ich nicht. Meinen herzlichen Dank, Sir. Sie haben mir das Leben gerettet.« »Keine Ursache«, erwiderte der junge Mann. »Wären Sie gefallen, hätten Sie möglicherweise wertvolle Ausrüstungsgegenstände beschädigt.« »Oh. Trotzdem, vielen Dank.« »Wie gesagt, keine Ursache. Dieses Grundstück wurde gekauft und ausgeschachtet, um ein neues Gebäude darauf zu errichten. Von der TORE & FENSTER6 CORP.« »Aha. Diese Burschen.« Pooley blies auf seine verbrannten Handflächen. Die ›GEKAUFT IM AUFTRAG VON TORE & FENSTER CORP.‹ -Schilder waren vor kurzem auf sämtlichen freien Grundstücken Brentfords über Nacht wie Pilze aus dem Boden geschossen. Niemand wußte genau, wer TORE & FENSTER eigentlich waren, doch Gerüchte besagten, daß sie in Computern oder Software machten und nicht gerade klein waren. »Paß nur auf, daß dein Schild im Schrebergarten nicht vom Pfosten fällt«, erzählten sich die Brentforder, »oder diese Burschen haben blitzschnell ihr eigenes angebracht.« »Nun ja. Erneut meinen herzlichen Dank«, sagte Jim. »Ich schätze, Sie haben nicht zufällig eine Spur von einem alten Bettgestell entdeckt, während Sie mit dem Ausschachten zugange waren?« »Ein Bettgestell?« Der junge Mann blickte mit einem Mal sehr mißtrauisch aus den Augen. »Na, macht nichts. Nichts für ungut. Hören Sie, falls Sie je in den Fliegenden Schwan kommen, würde ich Ihne n mit Freuden ein oder zwei Pints spendieren. Nicht nur, daß Sie mir das Leben gerettet haben, Sie haben mir auch jede Menge unnötiger Arbeit -45-
erspart.« Pooley wollte sich an die Mütze tippen, doch die war jetzt viele Hundert Fuß unter seiner Reichweite. Während er im Stillen Omally verfluchte, sagte er: »Nochmals danke, und auf Wiedersehen.« Er packte den Kopf von Omallys Pickaxt und trollte sich die Abaddon Street hinunter, und der junge Mann starrte ihm mit mehr als nur Verblüffung in den Augen hinterher. Jim dachte, es sei am besten, Omallys Pickaxt unverzüglich in seine Schrebergartenhütte zurückzubringen, bevor sie Schaden anrichten konnte. Er dachte außerdem, daß es möglicherweise am besten war, wenn er den Spaten nicht erwähnte, der eine von Omallys letzten Anschaffungen und deswegen so etwas wie sein Lieblingswerkzeug gewesen war. Und hinterher, so dachte Jim weiter, war es wahrscheinlich gar keine schlechte Idee, zu Norman zu schleichen und sich die Nase einmal mehr am Fenster seines Hinterzimmers plattzudrücken. Während Jim so durch die Schrebergartenkolonie stapfte, den Rest der Omallyschen Pickaxt über der Schulter und ein fröhliches Lied auf den Lippen, entdeckte er zu seiner nicht gelinden Überraschung einen hemdsärmeligen Omally, der sich über eine verzinkte Regentonne gebeugt hatte und seine Blessuren kühlte. »John?« fragte Jim. Omally blickte sich furchtsam um, als das Geräusch von Jims Stiefeln an seine Ohren drang. Sein rechtes Auge sah aus, als wolle es sich in eine ausgewachsene Viktoriapflaume verwandeln. »Jim«, sagte John. »Du hattest eine Auseinandersetzung.« »Scharfsinnig wie immer, was?« »Warst du in der Unterzahl? Wie viele Gegner waren es? Drei? Vier?« -46-
»Ein einziger.« »Dann kann er nicht aus unserer Gegend kommen. Ein Eisenbieger aus dem Zirkus wahrscheinlich, oder ein Sumo Ringer? Doch bestimmt nicht …« Pooley bekreuzigte sich, »… bestimmt nicht der berühmte Count Dante persönlich?« »Nah dran«, erwiderte Omally und betastete seinen Unterkiefer, der ein höchst beunruhigendes Klicken von sich gab. »Der Eckladenbesitzer, um genau zu sein.« Pooley versteckte hastig den Kopf der Pickaxt hinter seinem Rücken, drehte einen Blecheimer um und setzte sich. »Du meinst doch wohl nicht Norman? Das ist ein Scherz, nicht wahr?« »Sieh dir meinen Hemdkragen an.« Omally wedelte mit dem zerrissenen Relikt vor Pooleys Nase, das nun wie ein Collegeschal lose über seiner Schulter hing. »Sind diese Dinger nicht normalerweise ringsum angenäht?« erkundigte sich Pooley. »Ich werde mich ernsthaft rächen, werde ich mich.« »Du rechnest dir Chancen aus?« Omally schüttelte unter Schmerzen den Kopf und ächzte. »Nicht ich. Dieser Kerl ist mit Sicherheit persönlich durch eine hohe Schule gegangen und hat die martialischen Künste des Zerreißens, Verstümmelns, Verkrüppelns und so weiter und so weiter bei selbigem Großmeister der martialischen Kunst des Dimac erlernt, dessen Namen du vorhin erwähnt hast.« »Meine Güte!« sagte Jim. »Ich werde ihn aus der Ferne erledigen, gleich morgen früh, sobald er den Fuß vor die Tür setzt, um seine Milch reinzuholen.« »Du meinst den legendären halben Ziegelstein?« »Genau den. Ich schätze, wir können all unsere Pläne betreffend ein sich ewig drehendes Rad fürs erste vergessen. -47-
Trotzdem, noch ist nicht alles verloren. Wie weit bist du mit meinem Bettgestell?« Omally spähte über Jims Schulter. »Du hast es also schon an einen sicheren Ort geschafft?« Pooley scharrte mit dem Absatz im Staub. »Was hast du mit meinem Bett angestellt, Jim Pooley? Und wo sind die Ärmel deiner Jacke abgeblieben?« »Ähm«, sagte Jim. »Ähm. Das kann ich erklären.«
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Kapitel 7 Norman saß in seinem Hinterzimmer und betrachtete trübsinnig das schlanke Messingrad das sich einmal mehr in seiner Halterung auf dem Küchentisch drehte. In dem Alkoven in der Ecke saß leblos und mit starrem Blick Normans zweites Ich. In seiner Brust klaffte ein großes Loch. Norman legte die Beine auf den Küchenstuhl und schwang die Arme über die wurmzerfressene Lehne. Der erste Probelauf war nicht gerade von überwältigendem Erfolg gekrönt gewesen. Hätte nicht Omallys altes Fahrrad entschlossen eingegriffen und den Roboter zum Stolpern gebracht, dann wäre Omally ohne Zweifel an Ort und Stelle getötet worden, und alles nur wegen eines Päckchens Tabak und ein paar Blättchen. Norman kaute auf seiner Unterlippe. Dieser Doppelgänger war ein regelrechtes Frankenstein-Monster. Ganz und gar nicht das, was Norman vorgeschwebt hatte. Einen friedfertigen Pseudo-Eckladenbesitzer hatte er sich gewünscht, keinen wildgewordenen Psychopathen. Er würde die DimacSchaltkreise herauslöten und die alten Gutmütigkeitsmodule wieder einsetzen. Vielleicht war der Roboter einfach nur ein wenig zu begeistert ans Werk gegangen. Schließlich hatte er nichts als Normans Interessen im Sinn gehabt. Norman erschauerte. Omally war mit dem Tabak in der Tasche davongekommen, und Langhaardave hatte ihm fünfzig Pfund für das Abstützen der Ladenfront und das Einsetzen einer provisorischen Tür in den zersplitterten Rahmen abgeknöpft. Der Roboter war kaum zwei Stunden in Betrieb gewesen und drohte Norman bereits in den Bankrott zu stürzen. Fünfzig Pfund für eine halbe Unze Goldenen. Und was, wenn Omally beschloß, Norman anzuzeigen? Oder, viel wahrscheinlicher, Rache zu üben? Norman wagte nicht, den Gedanken zu Ende zu denken. Er -49-
würde später in den Fliegenden Schwan gehen und sich entschuldigen und Omally ein paar Pints der Wiedergutmachung spendieren müssen. Noch mehr Ausgaben. Der geplagte Eckladenbesitzer erhob sich von seinem Stuhl und zog eine Flasche selbstgemachten Kohlsprossenwein aus dem Regal unter dem Spülbecken. Nach einer ganzen Weile schlug die Uhr der MemorialBücherei in der Ferne halb sechs nachmittags. Auf den Stufen des Fliegenden Schwans standen zwei abgerissene Gestalten, die - ganz ähnlich wie Norman - das Ertränken ihrer Sorge n weit oben auf ihrer jeweiligen Prioritätenliste stehen hatten. Neville der Teilzeitbarmann zog die polierten Messingriegel zurück und öffnete die berühmte Tür. »Bei Gog und Magog!« ächzte der paganische Wirt. »Was ist denn mit euch passiert? Soll ich einen Krankenwagen rufen?« Pooley schüttelte den Kopf. »Zapf uns einfach nur unsere Pints.« Unter zahlreichen Blicken nach hinten zog sich Neville zögernd hinter seine Theke und an die Zapfhähne zurück. »Aber was ist passiert? Was ist mit deinem Auge, John? Und Jim, wo sind die Ärmel deiner Jacke abgeblieben?« Neville zapfte zwei randvolle Pints und schob sie über den Tresen in die ausgestreckt wartenden Hände seiner beiden besten Stammgäste. »Wir wurden überfallen«, erklärte Omally, der sich nicht mit einer Niederlage gegen einen hundsgewöhnlichen Eckladenbesitzer abfinden konnte. »Sie waren zu zehnt«, fügte Pooley hinzu. Er hatte einst vom Opfer eines Raubüberfalls gelesen, das in ein Lokal getragen worden und anschließend mit Freibier wiederbelebt worden war. Neville hatte die Geschichte ebenfalls gelesen und nahm ein Glas und das Poliertuch zur Hand. -50-
»Wir leben in unruhigen Zeiten«, sagte er gewichtig. »Zehn Schilling Sixpence bitte.« Omally zog den Stiefel von seinem geschwollenen Fuß und nahm mehrere Pfund noten heraus. Neville, der noch nie gesehen hatte, daß der Sohn Irlands in der Öffentlichkeit mit Papiergeld hantiert hätte, war neugierig, ob die Noten tatsächlich echt waren. Das zerknitterte Relikt, das Omally ihm schließlich reichte, roch ein wenig streng, doch es trug ein Wasserzeichen, kein Zweifel. Neville tippte den üblichen Nullbon in seine alte Registrierkasse und reichte seinem Kunden das Wechselgeld. Omally stopfte sich die Pennies in die Hosentaschen, ohne auch nur einen einzigen prüfenden Blick darauf zu werfen. »Also überfallen hat man euch?« erkundigte sich Neville. Fast fühlte er sich mitschuldig. »Habt ihr die Schurken wenigstens anständig vermöbelt?« »Haben wir das?« Pooley hob seine blasenübersäte Hand und vollführte hackende Bewegungen. »Diese Schurken werden sich zweimal überlegen, ob sie die Bürger Brentfords noch einmal belästigen, das kann ich dir garantieren.« »Wie ich sehe, hat Norman seine Ladenfront abstützen lassen«, sagte der Alte Pete, der unmittelbar hinter den beiden Kriegern in den Fliegenden Schwan geschlichen war. Omally verschluckte sich fast. »Ist das wahr?« keuchte er. »Wie ich gehört habe, müssen Vandalen zugange gewesen sein.« »Gib diesem Gentleman dort einen großen dunklen Rum, Neville«, bestellte Omally hastig. Der Alte nahm seine Beute in Empfang und schlurfte unter maliziösem Kichern zu einem Nebentisch davon. Omally zahlte widerwillig und gesellte sich zu Pooley, der sich zwischenzeitlich in eine angenehm dunkle Ecke des -51-
Fliegenden Schwans zurückgezogen hatte. »Ich kann nicht mit dieser Schmach leben«, sagte John, während er in einem Stuhl Platz nahm. »Der alte Sack weiß bereits Bescheid, und bestimmt weiß es bis morgen früh die gesamte Gemeinde.« »Aber Norman?« fragte Pooley. »Ich kann es noch immer nicht glauben! Norman tut keiner Fliege etwas zuleide, und davon gibt es in seinem Laden bei Gott eine ganze Menge!« »Möglicherweise ist er ja ein Insektenliebhaber, doch die Menschheit muß sich vor diesem Burschen in acht nehmen. Der Ladenbesitzer hat, wie es scheint, völlig den Verstand verloren. Er hat mir die Seele aus dem Leib geprügelt, als würde er dafür bezahlt.« Jim seufzte. »Das ist ein Tag, den ich lieber möglichst bald vergessen möchte. Wir haben beide teuer für unsere Gier bezahlen müssen.« John nickte nachdenklich. »Ich schätze, es gibt Lektionen, die man besser lernen sollte. Wir haben die unsrigen auf die harte Tour gelernt.« »Wo wir gerade von Lektionen reden, ich schätze, unsere Hausaufgaben sind soeben eingetroffen.« Jim deutete über Omallys Schulter zu der Stelle, wo jetzt Norman an der Theke stand und in die Dunkelheit der Salonbar schielte. John schrumpfte sichtlich in seinem hochlehnigen Stuhl zusammen. »Hat er mich schon entdeckt?« flüsterte er. Pooley nickte. »Ich fürchte ja. Er kommt zu uns an den Tisch.« »Wenn du ihn schlägst, ziel auf die Nase. Versuch's erst gar nicht mit seinen Eiern.« »Ich habe nicht vor, ihn zu schlagen. Schließlich habe ich mit dieser Geschichte nichts zu tun!« -52-
»Du hast also nichts mit dieser Geschichte zu tun? Du hast nichts mit dieser Geschichte zu tun? Du hast mit allem überhaupt erst angefangen! Du und dein dämliches goldenes Rad …!« »'n Abend zusammen, Gentlemen«, grüßte Norman die beiden. »Auch dir einen guten Abend, alter Freund«, sagte Pooley und lächelte zuckersüß. Omally kramte in seinen Taschen und zog ein zerknittertes Paket Zigarettenblättchen und eine ziehharmonikaförmige halbe Unze Tabak hervor. »Ich hab' den Tabak nicht angerührt«, sagte er. »Du kannst ihn zurückhaben, wenn du ihn noch willst.« Norman hob die Hand, und Omally zuckte gequält zusammen. »Nein, nein! Ich bin gekommen, um mich bei dir zu entschuldigen! Ich weiß überhaupt nicht, was in mich gefahren ist, daß ich so die Beherrschung verloren habe. Ich arbeite in letzter Zeit zuviel, und ich habe eine ganze Menge Sorgen. Ich hoffe, du hast keine bleibenden Schäden davongetragen, John?« »Ich befinde mich noch in einem Zustand des Schocks«, erwiderte Omally. Er spürte, wie sich neue Möglichkeiten auftaten. »Ein Taubheitsgefühl am ganzen Leib. Außerdem vermutlich hier und da die eine oder andere Fraktur. Sollte mich nicht wundern, wenn ich eine ganze Weile nicht arbeiten kann.« Norman nickte gutmütig. Omally wollte sein Pfund, und es war besser, die Sache gleich hinter sich zu bringen. »Darf ich dir einen Drink spendieren?« erkundigte er sich. »Darfst du«, antwortete Omally. »Und dann sehen wir weiter. Falls du dich dazu durchringen könntest, meinem Begleiter hier auch ein Pint auszugeben, würde das nicht auf Undank treffen.« Norman grinste. Er überlegte einen Augenblick, ob er Pooley -53-
fragen sollte, wo seine Jackenärmel abgeblieben waren, doch er nahm ganz richtig an, daß die Antwort eine herzzerreißende Geschichte war, die Bilder von Ungerechtigkeit und Tragödie im Zuhörer hervorrief und in einer moralischen Verpflichtung endete, dem Erzählenden zahlreiche weitere Pints zu spendieren. »Ich gehe dann die Runde holen«, sagte Norman hastig und wandte sich zur Theke um. »Ein Pint und eine halbe Unze Tabak«, murrte John düster. »Ich frage dich, nennst du das einen vernünftigen Profit?« »Nur Mut, John«, entgegnete Pooley. »Es kann nur besser werden.« Er bemerkte, wie der Alte Pete zielstrebig auf die beiden zusteuerte. »Oder auch nicht.« »Und?« erkundigte sich der Alte und klopfte mit seinem Gehstock auf Omallys lädie rte Schulter. »Wo ist jetzt mein Bett? Ich habe das Geld dabei.« »Geld?« John konnte sich nicht erinnern, überhaupt einen Betrag genannt zu haben. »Wieviel Geld hast du denn mitgebracht?« »Zwanzig Mäuse.« »Zwanzig Mäuse.« Omally verbarg das Gesicht in den Händen. »Das reicht doch wohl, oder nicht? Du hast selbst gesagt daß es ein altes Bett sei. Ich denke, zwanzig Mäuse sind ein fairer Preis, wenn es noch in Ordnung ist. Also, wo ist jetzt mein Bett?« »Was für ein Bett?« fragte Norman, der mit den Drinks zurückgekommen war. »Omally hat erzählt, daß er ein antikes Bett verkaufen möchte. Ich will es sehen.« »Die Ganoven haben es mitgenommen«, kam Jim seinem Kumpan zu Hilfe. Omally, der sich gerade mit einem Anteil von zehn Pfund für ein antikes Bettgestell abzufinden versuchte, das -54-
wahrscheinlich gegenwärtig bei irgendeinem Restaurator in Arbeit war, starrte Jim voller Entsetzen an. »Tut mir leid«, murmelte dieser mit einem unschuldigen Achselzucken. »Was für Ganoven?« fragte Norman. »Die zehn Mann, die John das blaue Auge geschlagen haben. Oder waren es zwölf, John?« »Ah«, machte Norman und strich sich über das Kinn. »Jetzt, wo du es sagst, fällt mir ein, daß ich eine Bande von Schlägertypen gesehen habe, die ein Bett vor sich herschoben. Ganz schön merkwürdig, das kann ich euch flüstern. Die Typen sahen wirklich übel aus. Ich hätte mich ganz sicher nicht mit ihnen angelegt. Ich bin nun mal keine Kämpfernatur.« »Bah!« schnarrte der Alte Pete. »Ihr seid allesamt verrückt!« Er machte auf dem Absatz kehrt und schlurfte davon, wobei er ein paar wohlgewählte Obszönitäten von sich gab. »Danke!« sagte Omally, als der Alte außer Hörweite war. »Ich schätze, damit sind wir quitt.« »In Ordnung.« Norman reichte den beiden ehemaligen Beinahe-Bettenverkäufern ihre Pints. »Wenn ihr mich dann entschuldigen wollt? Ich denke, ich werde ein paar Worte mit dem Alten Pete wechseln. Zufällig habe ich nämlich noch ein altes Messingbett in meiner Garage. Vielleicht ist er ja daran interessiert. Das Geld kann ich dringend gebrauchen für eine neue Ladentür. Also: Ende gut, alles gut, wie? Nach jedem Regen scheint auch wieder mal die Sonne, und geteiltes Leid, wer einen Freund hat, nicht wahr?« Mit diesen Worten verließ Norman die beiden verblüfften Trinker, die sprachlos hinter ihm herstarrten. Nach kurzem, unheilvollem Schweigen ergriff Omally das Wort. »Du und dein verdammtes großes Maul!« schimpfte er. Pooley drehte seine ruinierten Handflächen hilflos nach außen. »Trotzdem«, erwiderte er. »Wenigstens ist dein Ruf -55-
gerettet.« »Du Idiot! Kein Ruf auf der Welt ist mehr als fünf Mäuse wert, und ein Mann, der fünf Mäuse in der Tasche hat, braucht keinen Ruf!« »Aha. Nun, sieh es von der guten Seite, John. Ich denke, ich kann ohne jede Furcht vor Widerspruch sagen, daß uns zumindest heute bestimmt nichts Schlimmeres mehr zustößt.« Hätte Jim die seltene Gabe der Hellsichtigkeit besessen, und sei es nur für ein paar Stunden, er hätte sich ganz gewiß nicht zu dieser unbedachten und zudem noch vollkommen unzutreffenden Äußerung hinreißen lassen.
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Kapitel 8 Brentfords einziges Kino, das Electric Alhambra, hatte schon vor mehr als fünfzig Jahren seine Türen vor einem mehr oder weniger gleichgültigen Publikum verschlossen. Die sparsamen Brentforder hatten es gemieden wie die Pest, als ihnen bewußt geworden war, daß sich bewegende Bilder nicht mehr und nicht weniger als Augenwischerei waren. Wie durch ein Wunder hatte das Gebäude selbst überlebt und in der Folge eine Reihe kleinerer Industriebetriebe beherbergt, die wie Pilze aus dem Boden geschossen und wie Eintagsfliegen wieder eingegangen waren. Der letzte Pächter, ein Auster Doveston, Hoflieferant für dampfbetriebene Applikationen, hatte es volle fünf Jahre ausgehalten, bevor er seinen schicken Briefkopf verbrannt und sich zusammen mit dem Dampf in Luft aufgelöst hatte. Heutzutage war das heruntergekommene Gebäude von der Größe einer durchschnittlichen Trapperhütte mit der noch immer originalen falschen Rokokofassade wieder einmal sich und seinen Erinnerungen überlassen. Der Vorführraum, der mehr als einem abgerissenen Unternehmer als Vorzimmer gedient hatte, war sämtlicher Schreibtische und Aktenschränke beraubt worden und sah zum ersten Mal seit Jahren wieder wie ein Vorführraum aus. Nach dem Einsturz einiger schiefer Raumteiler war die alte, fleckige Le inwand zum Vorschein gekommen, und trotz des Mangels an Sitzmobiliar und den überall auf dem Boden verstreut liegenden Abfällen war das antike Kino wie ein staubiger Phönix aus seinem fünfzigjährigen Winterschlaf erwacht. Draußen hing ein ›VERKAUFT‹ -Schild, und Gerüchte wußten, daß die gefürchtete TORE & FENSTER CORP. dieses Grundstück neu bebauen wollte. Eine leichte abendliche Brise ratterte an den eisernen Läden vor einer leeren Fensterhöhle, und etwas, das verdächtig nach einer Riesenkatze aussah, -57-
schlich auf leisen Pfoten über den Flur. Im Dachgebälk erwachte eine Fledermaus und zischte irgend etwas in einem unbekannten Dialekt. Der Schatten einer hageren Gestalt fiel über ein Stück fleckiges Linoleum, und eine bleiche Hand bewegte sich durch einen hellen Fleck. Geisterhafte Finger schlugen eine weite Kapuze zurück, und ein Kopf mit schlohweißem Haar kam zum Vorschein. Unter dem Schopf: eine bleiche, hohe Stirn und darunter zwei Augen, die im schwächer werdenden Licht des Abends rosa leuchteten. Ganz sicher ist uns diese bleiche Hand schon früher begegnet? Sicher kennen wir auch den Schopf aus schlohweißem Haar und die leuchtenden Augen! Kann es tatsächlich der sein, der jetzt tief unten lebt, der das Licht der Sonne scheut und den Wechsel der Jahreszeiten? Der, der in dieser Welt ewiger Nacht die unterirdischen Wasser auf seiner Suche nach Shamballa und seinen legendären Bewohnern durchfährt? Ja, daran besteht kein Zweifel! Und der Name, der Name dieses Suchers nach verborgenen und unterirdischen Wahrheiten ist den Einwohnern Brentfords nur zu gut bekannt. Soap Distant lautet er. Und Soap Distant ist es. Soap Distant spuckte die Selbstgedrehte aus, die er bisher zwischen die Zähne geklemmt hatte, und zertrat den Stummel mit dem Absatz. Dann untersuchte er die Leuchtziffern seiner Armbanduhr und brummte: »Zehn Uhr zweiunddreißig. Wird wohl noch eine Weile dauern.« Gemächlich ging er hin und her, und sein Schatten wanderte lautlos über die rostigen Fensterläden, um im tiefen Schwarz zu verschwinden, wenn Soap die Bereiche beschränkter Illumination verließ. Irgendwann summte das Armbandchronometer und meldete Viertel vor zehn, und Soap -58-
stellte sein Auf- und Abgehen ein. Von draußen erklang das Geräusch sich nähernder Schritte. Lauter Schritte, die durch die verlassen daliegende Straße hallten, begleitet von leisem, albernen Kichern und gelegentlichem Husten und Ausspucken. »Schon wieder besoffen«, murmelte Soap Distant zu sich selbst. »Aber egal.« Die beiden Gewohnheitstrinker, einer mit einem dicken blauen Auge, der andere ärmellos, blieben vor dem alten Kino stehen, und durch die zahlreichen Risse in den Wänden fing Soap Fetzen einer Konversation auf. »Wer ist an der Reihe?« fragte eine Stimme. »Und wo ist mein Öffner?« »William S. Hart«, antwortete eine zweite Stimme. »Und mach sie mit den Zähnen auf.« »Ich konnte den Hut dieses Typen noch nie ausstehen. Ich war immer ein Anhänger von Elmo Lincoln. Mist, die Füllung ist dahin. Du hast meinen Öffner, ich erinnere mich, daß du ihn ausgeborgt hast.« »Ich hab' ihn längst zurückgegeben. Geh mal zur Seite, Mann. Ich muß eine Stange Wasser absetzen.« »Nicht in meinem Eingang!« Soap riß die zersplitterte, vernagelte Glastür auf, und ein verblüffter Jim Pooley stolperte mit weit offenem Hosenlatz auf ihn zu. »Bei allen guten Geistern!« sagte selbiger (Pooley). »Du kannst von mir aus hinpinkeln, wohin du willst, aber nicht in meinen Eingang!« Omally schielte in Richtung des dunklen Lochs, das seinen Kumpanen so plötzlich verschluckt hatte. »Soap?« fragte er zweifelnd. »Bist du das, Soap Distant? Ich kenne diese Stimme!« »Komm aus der Nacht heraus und heb' deinen Freund hier -59-
wieder auf.« Omally stolperte vorwärts, und Soap Distant warf die Tür vor der Brentforder Nacht ins Schloß und soweit es Jim und John betraf - vor dem Leben, wie die beiden es bis dahin gekannt hatten. »Wo ist der verdammte Lokus?« heulte Jim und kämpfte sich auf die Beine. »Steck ihn durch einen Riß in der Wand und fertig.« Pooley tat wie geheißen. »Was würdet ihr beiden von dreißig Mäusen für eine halbe Stunde leichter Arbeit halten?« erkundigte sich Soap Distant, als Pooley sich endlich erleichtert hatte. Omally wollte eben »Für jeden?« fragen, doch nach seinen Erlebnissen im Verlauf dieses Tages überlegte er's sich anders. »Ich denke, wir wären dankbar«, sagte er statt dessen. »Der Tag ist für uns beide nämlich nicht besonders gut gelaufen, finanziell betrachtet.« »Wenn wir das Kino dekorieren sollen«, lallte Jim, »dann reicht eine halbe Stunde wohl nicht.« »Ihr müßt nichts dekorieren. Es ist wirklich nur eine kleine Sache, unten.« »Unten …?« Ah. »Unten also.« Sowohl Pooley als auch Omally hatten in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit »unten« gesammelt. »Und es ist nicht gefährlich?« erkundigte sich Omally zweifelnd. »So sicher wie eine Bank.« Pooley hatte mehr als Zweifel. Ein plötzliches Frösteln durchfuhr ihn bei der Erinnerung an die rabenschwarzen Erlebnisse, die er unter der Oberfläche des irdischen Globus' durchgemacht hatte. -60-
»Du kannst meine Hälfte gern haben, Jim«, sagte er. »Ich schätze, ich gehe heute nacht früh schlafen.« »Ich fürchte, ich brauche euch beide«, sagte Soap Distant und hob beschwörend die Hände. »Es ist wirklich ganz einfach. Ein Mann allein ist nicht stark genug, aber zu dritt ist es ein Kinderspiel.« »Die Dinge sind selten so einfach, wie sie im ersten Augenblick scheinen«, sagte Pooley mit einer Weisheit die weit mehr an Jahren zählte als er selbst. »Dann kommt mit nach unten und überzeugt euch selbst.« Und mit diesen Worten erschien eine bleiche Linie in der Mitte des Bodens, verbreiterte sich zu einem Rechteck und enthüllte den Blick auf eine Treppenflucht. Soap führte sie nach unten. »Folgt mir«, sagte er unbekümmert. Pooley saugte an einem Knöchel und zierte sich wie ein junges Mädchen. »Dreißig Mäuse, Mann!« flüsterte Omally ihm zu und stieß ihm den Ellbogen in die Seite. Soaps neu engagierte Arbeitskräfte folgten ihm schließlich die Treppe hinunter, und über ihnen krachte die Falltür mit einer Endgültigkeit zu, die gewisse Kreise an eine Todeszelle erinnert hätte. Die aus dem Fels gehauene Treppe führte, wie der Leser sich das vielleicht schon gedacht haben mag, endlos nach unten. Nach einer ganzen Weile öffnete sie sich unerwartet zu einem gemütlich eingerichteten Wohnzimmer, das mit einem lindgrünen Waterford-Sofa und dazu passenden Sesseln möbliert war. An den Wänden klebte eine Tapete von Laura Ashley. »Schick, nicht wahr?« erkundigte sich Soap bei seinen beiden Gästen, während er den knöchellangen Kapuzenumhang auszog. Darunter kam ein schicker dreiteiliger Tweedanzug zum -61-
Vorschein. »Sehr schick«, stimmte Omally zu. »Und dazu Russel Flints!« Er deutete auf zwei Bilder über dem Kamin. »Du hast keine Kosten und Mühen gescheut.« »Ein Geschenk von Professor Slocombe«, erwiderte Soap Distant. Pooley, der definitiv unter Gleichgewichtsstörungen litt, sank in einen der bequemen Sessel. »Wir haben ein paar Flaschen Dunkles bei uns«, sagte Omally. »Wenn du einen Öffner hättest?« »Ich finde es ziemlich beengt und stickig hier unten.« Pooley fächelte sich Luft zu. »Das war knapp heute mit diesem Loch, was, Jim?« Soap öffnete die Flaschen und ignorierte Pooleys verblüfften Gesichtsausdruck. »Woher weißt du davon?« »Unter der Oberfläche geschieht nicht viel, von dem ich nicht auf die eine oder andere Weise erfahre«, antwortete Soap Distant. »Diese Mistkerle von TORE & FENSTER CORP. machen mir in letzter Zeit das Leben ganz schön schwer. Überall in der Gemeinde versenken sie ihre Fundamente in der Erde.« »Das nennt sich Fortschritt«, murmelte Pooley mit düsterer Stimme. »Sagen manche Leute, ja. Hört zu, vergeßt das Bier für den Augenblick. Ich hab' einen selbstgebrannten Pilzschnaps, den ihr ganz bestimmt interessant finden werdet.« »Das wäre mal eine Herausforderung.« »Dann sei sie hiermit gestellt.« Gut eine Stunde später konnte man drei sehr betrunkene Gestalten gut drei Meilen unter der Oberfläche in einem Fischerboot über einen tintenschwarzen unterirdischen See -62-
rudern sehen. Oder besser gesagt: nicht sehen. Es war stockdunkel. »Wo sind wir?« erkundigte sich ein irischer Oberflächenbewohner. »Mitten unter dem Herzen von London.« »Seltsam, ich erkenne es gar nicht wieder.« Das PlitschPlatsch der Ruderblätter echote durch die gewaltige Kaverne, bis es irgendwo in der unendlichen Stille verklang. »Woher wissen wir eigentlich, in welche Richtung wir rudern?« Soap deutete auf seine Uhr mit dem Leuchtzifferblatt »Magnets« sagte er vieldeutig. »Ach, das Zeug.« »Dort«, rief Soap unvermittelt. »Genau voraus. Land in Sicht.« Genau voraus ragte in der Ferne eine kleine Insel aus dem Wasser (die niemand sehen konnte), und als sie näher gerudert waren (und immer noch nichts sahen), tauchten die Umrisse eines marmornen Mausoleums auf, das genau wie das Albert Memorial aussah (hätte man es sehen können. Sozusagen). »Was ist das?« fragte Omally. »Und erzähl mir nicht, das Grab von König Artus.« Soap tippte sich an die Nase, als sei es völlig offensichtlich. Das Fischerboot landete am Ufer, und Soap sprang heraus, um es an einem verschnörkelten Poller festzubinden. Die beiden gewohnheitstrinkenden unterirdischen Globetrotter zuckten die Schultern und folgten dem bleichen Mann, der den Weg führte. Das merkwürdige Bauwerk war eine inspirierte Arbeit. Marmorne Säulen und kühn geschwungene Träger ragten hoch auf und stützten eine gewaltige Kuppel, die mit einem -63-
goldenen Mosaik überzogen war. Noch weiter oben verloren sich gotische Bögen in der Dunkelheit. »Wir sind da«, sagte Soap Distant. Die beiden Wunderer7 blieben wie angewurzelt stehen. Genau im Zentrum des viktorianischen Prunkbaus stand etwas, das so unglaublich fehl am platze wirkte, daß es dem Betrachter den Atem zu rauben drohte. Es handelte sich um einen Zylinder aus hellem, funkelndem Metall, doch es war kein Metall, das auf der Erde zu finden gewesen wäre. Es glänzte in einem öligen Schimmer, und die Reflexionen schillerten in allen Farben des Spektrums. Ein breites Paneel aus einem Material, das wie Glas aussah, aber höchstwahrscheinlich keines war, bedeckte einen Ausschnitt des Zylinders. Anscheinend handelte es sich um einen Deckel oder dergleichen, und es war genau dieser Deckel, über den die drei Besucher dieses versunkenen Wunders ihre Köpfe beugten und sich fast die Hälse ausrenkten. »Mich haut's um!« sagte Pooley. »Beim Erzengel Michael und was weiß ich wem alles!« entfuhr es Omally. »Gut wie?« fragte Soap Distant. »Aber wer ist das?«8 Unter dem transparenten Paneel lag auf Satinlaken, den Kopf auf einem Leinenkissen, der Leichnam eines Mannes. Er war von undefinierbarem Alter. Das pechschwarze Haar hinter die Ohren gekämmt die Wangenk nochen hoch und die große Nase die eines Adlers. Das Gesicht zeigte eine undefinierbare Erhabenheit als gehörte sein Träger zu einem der alten Adelsgeschlechter. Seine Kleidung bestand aus einem weißen Hemd mit hohem Kragen, einer dunklen Krawatte, die von einer wappenverzierten Nadel gehalten wurde, und einem seidenen Morgenmantel. »Er sieht beinahe … lebendig aus«, sagte Omally. Soap deutete auf die morgenbemantelte Brust, und es war nicht zu übersehen, daß sie sich hob und senkte. -64-
»Ganz ohne Zweifel«, sagte er. »Aber dieses Ding? Er hat es gebaut, und warum?« »Vielleicht öffnest du den Deckel und fragst ihn?« Pooley hatte mehr als nur ein paar Bedenken betreffend diesen Vorschlag. »Er sieht so friedlich aus«, meinte er. »Am besten, wir lassen ihn in Ruhe. Das geht uns alles nichts an.« »Ich denke, irgendwie tut es das doch«, widersprach Soap Distant. Sein Tonfall ließ wenig Zweifel, daß er genau das dachte. »Dieses Ding gehört hier nicht hin«, sagte Omally. »Irgend etwas stimmt nicht damit. Das viktorianische Mausoleum und alles, schön und gut, aber das hier? Das ist nicht einmal ein Produkt unseres Zeitalters.« »Und genau darin liegt das Geheimnis«, erläuterte Soap Distant. »Dann helft mir mal eben, ihr beiden. Dreißig Mäuse für einen raschen Heber.« Pooley schüttelte so heftig den Kopf, daß ihm noch schwindliger wurde, als ihm ohnehin bereits war. »Ich denke nicht, Soap. Wir mischen uns hier in Dinge ein, die uns ganz bestimmt nichts angehen. Das bringt nur Ärger, merk dir meine Worte! ›Wer eine Grube gräbt fällt selbst…‹« »Schon gut, schon gut! Ich kenne diesen Spruch«, unterbrach ihn Soap Distant. »Faß bitte oben am Deckel an. Ich hab' ihn schon ein kleines Stück bewegt.« »Nein. Ich mache da nicht mit«, sagte Jim und verschränkte die Arme vor der Brust. »Jim«, sagte John. »Kennst du den Rückweg?« »Dort entlang.« Pooley deutete unsicher in zahlreiche Richtungen. »Ich verstehe. Und du bist überzeugt daß Soap uns den Weg -65-
zeigt, wenn wir ihm nicht helfen?« »Nun, ich … äh, ich …« »Du faßt oben an«, wiederholte Soap Distant. »Ich hab' ihn schon ein kleines Stück bewegt.« Die drei Männer zerrten an dem durchsichtigen Deckel des glänzenden Zylinders, und unter Ächzen und Stöhnen und Fluchen ertönte irgendwann ein lautes Klicken, dann ein plötzlicher Luftzug und schließlich ein metallisches Klang!, als das Objekt ihrer vereinten Bemühungen zur Seite fiel und mit dem Marmorboden der outré-Konstruktion Kontakt aufnahm. Einmal mehr verrenkten sich drei Hälse und starrten drei Augenpaare in das Innere des metallenen Sarkophags. Der hagere Mann darin lag da wie eine Leiche, hätte sich nicht die Brust gehoben und gesenkt. Sein Gesicht war leer und ohne jeden Ausdruck. Dann riß er plötzlich die Augen auf, öffnete den Mund, nahm tief Luft, und die Brust hob sich noch weiter als zuvor. Ein Schrei entwich seinem Mund, und drei Gesichter zuckten zurück, um als die Dreifaltigkeit vom Tschad wieder aufzutauchen und die Nasen vorsichtig über den Rand des Sargs zu strecken. Dessen Okkupant streckte sich und gähnte laut und herzhaft. Seine Augen blickten sich suchend um. Er packte die Ränder des Sarkophags und richtete sich auf. Dann erhaschte er den ersten Blick auf die drei nun geduckt dastehenden Männer. Ein Ausdruck der Perplexität stahl sich auf sein Gesicht. »Welches Jahr haben wir?« erkundigte er sich. Omally rückte mit der Information heraus. »Zu früh. Sie haben das Siegel gebrochen.« »Ich hab's euch gleich gesagt!« meldete sich Jim. »Laßt die Finger davon, hab' ich gesagt. Aber hört irgend jemand auf mich …?« »Halt die Klappe!« unterbrach ihn Soap. »Faß lieber mit an!« Zu dritt halfen sie dem verwirrt dreinblickenden Fremden in -66-
dem seidenen Morgenmantel aus seinem stählernen Zylinder und in eine aufrechte Position. »Geht es jetzt, Sir?« Der große Mann, als der selbiger sich im Verlauf der letzten Sekunden herausgestellt hatte, gab keine Antwort. Er stand einfach da, streckte seine Glieder und schüttelte den Kopf. »Kommt, Beeilung jetzt«, sagte Soap Distant »Wir müssen ihn so schnell wie möglich zu Professor Slocombe bringen!« Der Rückweg verlief, um noch das mindeste zu sagen, ereignislos. Der hagere Mann in seinem seidenen Morgenmantel saß im Boot und starrte ins Leere, während Omally sich unter Soap Distants Anleitung mit den Paddeln abmühte. Pooley hatte inzwischen endgültig das Bewußtsein verloren und schnarchte laut, und seine Träume waren erfüllt von den unwahrscheinlichsten Sechserwetten und traumhaftesten Quoten, die ihn augenblicklich in die höchste Steuerprogression befördern würden. Mit einem Mal jedoch lösten sich seine Träume in Luft auf, denn Omally stieß ihm heftig in die Rippen und sagte: »Wir sind da. Jetzt geht es die Treppe hinauf.« Die vier Gestalten waren ein merkwürdiger Anblick auf den nächtlichen Straßen Brentfords. Der bleiche Geist von einem Mann, ein mal mehr unter seinem weiten Kapuzenumhang verborgen, führte einen blendend aussehenden Gentleman in seidenem Morgenmantel und zwei stolpernde, trunkene Tunichtgute durch die Dunkelheit. Der Widerliche Tony, der wie stets die nächtliche Straßenkehrmaschine steuerte, beobachtete die vier, als sie an ihm vorbeizogen, und über seine blöden Lippen drangen ein paar selbsterfundene Flüche. Die kleine Gruppe schwenkte in die von Bäumen gesäumte Allee9 von Butts Estate, und in der Ferne schimmerten zwei vereinzelte Lichter durch die Nacht. Sie stammten von den beiden stets offenen Verandafenstern Professor Slocombes. -67-
Schließlich kam die merkwürdige Gesellschaft vor dem Gartentor des Professors zum Halten, und Omally legte die Hand auf den Riegel. Durch die offenen Fenster konnten sie den ehrwürdigen Gelehrten sehen, der tief gebeugt über Manuskripten und unbezahlbaren Folianten saß. Sie näherten sich den Fenstern, Professor Slocombe legte den Federkiel zur Seite und wandte sich seinen Besuchern zu. »Soso«, sagte er und erhob sich mühsam aus seinem ledernen Lehnstuhl. »Besuch zu so später Stunde. Wem oder was verdanke ich dieses Vergnügen?« »Tut uns leid, Sie bei der Arbeit zu unterbrechen«, sagte Omally, der jetzt die Führung übernommen hatte. »Aber wir haben hier … ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll …« Der große Mann in seinem seidenen Morgenmantel schob sich an Omally vorbei und stand hoch aufgerichtet im Durchgang. Plötzlich verflog seine blaßvornehme Contenance, und ein breites Lächeln erschien auf seinem Gesicht. »Professor Slocombe!« sagte er. »Daß wir uns wiedersehen!« »Mein Wort darauf!« erwiderte der alte Gelehrte. »Eine höchst freudige, wenn auch unerwartete Überraschung.« Der große Mann trat vor und schüttelte die Hand des Alten. »Sie meinen, Sie wissen, wer das ist?« fragte Omally ungläubig. Pooley stützte sich gegen den Fensterrahmen und kämpfte mit dem Gleichgewicht. »Hat man euch noch nicht miteinander bekannt gemacht?« erkundigte sich der Professor. Omally schüttelte den Kopf. »Dann erlaube ich mir die Ehre: Soap Distant, John Vincent Omally, Jim Pooley, meine Herren, es ist mir ein Vergnügen, euch Mister Sherlock Holmes vorzustellen, früher wohnhaft Baker Street Nummer 221 b.« »Zu Ihren Diensten«, sagte Sherlock Holmes. -68-
Kapitel 9 Professor Slocombe schloß die schweren Läden vor seinen Verandafenstern und verriegelte sie von innen. Nachdem seine Gäste Platz genommen hatten, ging er herum und verteilte Drinks und Zigaretten. Sherlock Holmes hatte sich in einem hohen Lehnstuhl am Kamin niedergelassen und nahm eine türkische Zigarette entgegen. »Meinen Dank, Professor«, sagte er. »Wie ich sehe, bevorzugen Sie noch immer die gleiche Marke.« Der Professor lächelte und nahm selbst Platz. »Ich denke, wir haben sehr viel zu besprechen, Sherlock. Ihre unerwartete Ankunft hier in Brentford ist, um noch das wenigste zu sagen, äußerst verblüffend, wenngleich ich unschätzbare Freude empfinde, einen guten alten Freund wiederzusehen.« Holmes zog an seiner Zigarette und inhalierte tief. Dann stieß er einen hellblauen Rauchring aus. »Eine einzigartige Geschichte, keine Frage.« Pooley und Omally, die bereits die ganze Zeit ungläubig die Köpfe geschüttelt hatten und generell eher mißtrauisch waren, gaben jetzt endgültig auf. Sie saßen zusammengesunken in ihren Sesseln und schlürften ihren Likör. »Alles fing an einem nebligen Novemberabend an«, erzählte Holmes, »damals, im Jahr 1890. Der vorhergehende Monat war für mich sehr erfolgreich verlaufen; ich hatte den bemerkenswerten Fall des Geheimen Seerechtsvertrages abgeschlossen und eine mehr als adäquate Belohnung von Lord Holdhurst erhalten. Ich gab mich einer kurzen Periode des Nichtstuns hin, und wie Sie sich bestimmt erinnern, tut mir so etwas gar nicht gut. Meine Seele sehnte sich wie immer nach dem Nervenkitzel der Jagd, der Herausforderung, meine Intelligenz mit einem -69-
diabolischen Gegenspieler zu messen, und nach dem Blut, das in den Schläfen rauscht …« »Ja ja, stimmt«, unterbrach ihn der Professor. »Ihr Enthusiasmus für die Arbeit ist wohlbekannt. Und was war nun an diesem besonderen Abend …?« »Oh. Nun ja, Watson und ich hatten, wie ich mich entsinne, gerade eines der höchst köstlichen Abendessen von Mrs. Hudson genossen, und wir machten uns daran, die letzte gute Flasche Vamberry Port zu vernichten, als ein heftiges Klopfen an unserer Zimmertür erklang.« »Wahrscheinlich der Rabe?« erkundigte sich Omally sarkastisch. »Würdest du bitte den Mund halten?« sagte Professor Slocombe. Holmes fuhr fort. »Ich hatte kein Klingeln an der Haustür vernommen, und da ich wußte, daß Mrs. Hudson in der Küche beschäftigt war, wurde ich augenblicklich mißtrauisch. Sie müssen wissen, daß ich zu jener Zeit zahlreiche Feinde besaß. Ich bat Watson, die Tür zu öffnen, während ich auf meinem Stuhl blieb, den Revolver auf den Knien und eine Decke darüber.« »Eine spannende Geschichte bisher, nicht wahr?« sagte Pooley und gähnte laut. »Fesselnd«, stimmte Omally ihm zu. Holmes ignorierte die beiden und fuhr fort: »Die beiden Gestalten, die nach dem Öffnen der Tür zum Vorschein kamen, waren äußerst merkwürdige Burschen, wie ich sie noch nie zuvor gesehen hatte. Ich rühme mich ohne falsche Bescheidenheit, die Herkunft und den Beruf jedes Mannes einschätzen zu können, der vor mir steht, doch diese beiden gaben mir ein unlösbares Rätsel auf. Sie waren groß und breit und besaßen mandelförmige Augen und orientalische Gesichtszüge, und als sie sprachen, erschien mir ihr Dialekt -70-
vollkommen fremd. Watson bat die beiden in unsere Räume, und nachdem sie das angebotene Essen und Trinken dankend abgelehnt hatten, weil es ihnen nach ihren eigenen Worten ungenießbar war, kamen sie ohne Umschweife zur Sache. Sie kämen aus der Zukunft, berichteten sie, aus einem Jahr, das noch eine ganze Weile auf sich warten lassen würde. Die Welt, in der sie lebten, unterschied sich gründlich von der meinen, doch sie blieben eisern und verrieten nicht viele Einzelheiten. Sie schlugen sich mit einem Problem von allergrößter Dringlichkeit herum, und sie benötigten verzweifelt einen deduktiven Geist, den ihr eigenes Jahrhundert nicht besaß. Sie hatten in ihren Geschichtsbüchern von meiner bescheidenen Existenz gelesen und waren zu dem Schluß gelangt, daß ich der richtige Mann für diese Aufgabe sei. Ob ich mit ihnen arbeiten wolle. Wie Sie sich sicherlich vorstellen können, hatte ich meine Zweifel, und so verlangte ich Beweise für ihre Behauptungen. Was sie mir daraufhin zeigten, reichte mehr als aus, um mich vom Wahrheitsgehalt ihrer Geschichte zu überzeugen.« »Und was machen Sie hier?« fragte Professor Slocombe. »Sie sollten doch sicher längst in der Zukunft sein?« »Nein«, erwiderte Sherlock Holmes. »Sie müssen verstehen, daß ihre weit fortgeschrittenen Maschinen ihnen zwar ermöglichten, in Sekundenbruchteilen durch die Zeit zu reisen, doch es war ganz und gar unmöglich, ein Wesen aus der Vergangenheit mit in die Zukunft zu nehmen. Ich wäre bei meiner Ankunft zu Staub zerfallen. Sie gingen schlauer vor. Sie ließen einen geheimen Ort errichten, wo man mich in künstlichen Schlaf versetzte. Sodann wollten sie in ihrem Zeitreisegefährt zurück in ihre eigene Gegenwart reisen und mich noch fast im gleichen Augenblick ausgraben und wiederbeleben.« -71-
»Genial!« sagte der alte Professor und wandte sich zu Soap Distant um. »Warum starren Sie mich an?« erkundigte sich dieser. »Woher hätte ich das wissen sollen?« »Nun ja«, sagte der Professor schließlich. »Betrachten Sie Ihren Aufenthalt bei uns einfach als eine angenehme Unterbrechung Ihrer Reise durch die Zeit.« »Ich fürchte, so einfach ist das nicht«, entgegnete Holmes. »Mister Distant hier hat das Siegel zerbrochen und damit mein Transportmittel durch die Zeit funktionsunfähig gemacht. Falls Sie niemanden kennen, der den Apparat reparieren kann, scheine ich hier festzustecken.« Professor Slocombe kratzte sich den weißhaarigen Schädel. »Das könnte zu einem Problem werden«, gestand er. »Obwohl immer die Möglichkeit besteht, daß Ihre Besucher aus der fernen Zukunft längst bemerkt haben, daß Sie verschwunden sind, und in eben diesem Augenblick zurückkehren, um nach Ihnen zu suchen.« »Das ist sogar sehr wahrscheinlich, doch sie könnten ein ganzes Jahrhundert suchen und mich nicht finden.« »Was für ein ungereimter Mist!« schimpfte Omally plötzlich und erhob sich aus seinem Sessel. »Komm, Jim, wir machen uns vom Acker und ins Bett.« Pooley mühte sich hoch. »Seien Sie ehrlich, Professor«, sagte er. »Das ist alles ein wenig sehr weit hergeholt. Ich weiß, daß die Welt längst auf eine neue Sherlock-HolmesGeschichte wartet und dafür bereit ist, doch das hier treibt die Glaubhaftigkeit bis an die Grenzen!« »Bezweifeln Sie etwa meine Identität?« Holmes erhob sich zu seiner vollen Größe und funkelte die beiden ungläubigen Thomasse an. »Sie müssen gestehen, daß das alles sehr phantastisch klingt«, -72-
sagte Pooley »Sie sind ein fiktiver Charakter, weiter nichts. Eine Romangestalt.« »Ich bin genauso fiktiv wie Sie beide!« entgegnete Sherlock Holmes. »Ha!« sagte Pooley. »Falls Sie tatsächlich der legendäre Meisterdetektiv sind, können Sie mir sicherlich ein paar Fragen beantworten.« »Schießen Sie los.« »Also schön. Was bedeuten die neununddreißig Stufen?« »Falsche Geschichte«, brummte Omally.11 »Ach ja? Nun, meinetwegen. Woher wußten Sie, daß in Die Liga der Rothaarigen Männer Vincent Spaulding in Wirklichkeit der Mörder, Dieb und Fälscher John Clay war?« »Das erkannte ich an den Löchern in seinen Ohrläppchen und an der Narbe auf seiner Stirn.« »Und wer war es, der im Blauen Karfunkel seinen Hut und seine Gans verloren hatte?« »Henry Baker.« »Wer war der Erbauer von Norwood?« »Jonas Oldacre.« »Und wer die Drei Studenten?« »Gilchrist, Danlat Ras und Miles McLaren Mercedes.« »Und der Klempner, der sich mit der Haushälterin von Charles Augustus Milverton eingelassen hat?« »Das war ich selbst«, sagte Holmes. »Nun ja, vielleicht haben Sie die Bücher alle selbst gelesen. Ich dachte immer, daß Sherlock Holmes in Wirklichkeit zusammen mit Professor Moriarty die Reichenbach-Fälle hinuntergefallen ist. Die späteren Geschichten stammten von einem Ersatzmann, habe ich gedacht.« »Bravo!« sagte Holmes. »Sie haben selbstverständlich recht. -73-
Verstehen Sie, daß ich ein Geheimnis aus meinem Verschwinden machen mußte? Doktor Watson hat meine Taten schriftlich niedergelegt, und zu diesem Behelf stellten wir einen Mister Arthur Conan Doyle ein. Ich überließ es ihm, nach meinem vermeintlichen Tod mit den Geschichten weiterzumachen.« »Halt, warten Sie!« sagte Pooley. »Ich verstehe zwar allmählich überhaupt nichts mehr, aber wenn sie angeblich in den Reichenbach-Fällen umgekommen sind, woher können Sie dann von Norwood und von den Drei Studenten wissen? Das war mehr als vier Jahre später in der Rückkehr des Sherlock Holmes.« »Ah«, sagte selbiger Sherlock Holmes. »In der Tat, ah«, sagte auch Professor Slocombe. »Und der Klempner von Milverton.« »Ich bin schließlich Detektiv?« schlug Holmes vor. »Ich geb's auf«, stöhnte Omally. »Ich auch«, schloß sich Pooley an.
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Kapitel 10 Ein erster dünner Sonnenstrahl glänzte auf den Dächern Brentfords, als Norman Hartnell vom Eckladen sich bückte, um das Paket mit den Tageszeitungen vor der Ladentür aufzuheben und es anschließend auf die Theke zu wuchten. Die frühe Stunde war Normans liebste Tageszeit. Die Nächte waren die reinste Hölle, denn während sein Körper auf dem Hartnell Mark II Hydrocosiwasserbett ruhte, arbeitete Normans Gehirn wie besessen. Es schmiedete Pläne, konstruierte, entwickelte und trieb den armen Burschen zu immer absurderen und unerreichbareren Zielen. Doch in den frühen Morgenstunden fand er wenigstens etwas Ruhe. Er konnte die Tageszeitungen überfliegen, während er alles für die Auslieferung vorbereitete, und er genoß das Privileg, immer zu den ersten zu gehören, die die neuesten Nachrichten mitbekamen. An jenem besonderen Morgen nach einer besonders heftigen Nacht mit seinem kapriolenschlagenden Cerebellum schnitt Norman die beiden Riemen des Zeitungspaketes durch und blätterte neugierig durch den Stapel, um zu erfahren, was der Rest der Welt wieder einmal angestellt hatte. Er hatte kaum das braune Papier entfernt das die Zeitungen umhüllte, als ihm eine höchst interessante Schlagzeile ins Auge sprang, als hätte sie nur auf diesen Moment gewartet: REGIERUNG STIMMT EINMÜTIG DEM RECHTE-HAND-PLAN ZU Eine Sitzung aller Parteien am gestrigen Abend ergab einstimmig, dem Projekt der TORE & FENSTER CORP. für personalisierte Kontenlistung zuzustimmen. Dieses Projekt wird in kurzer Zeit dazu führen, daß sämtliche vorherigen monetären Systeme obsolet werden. Laserimplantation eines persönlichen intramagnetischen Computerbarcodes entweder auf der Stirn oder in der rechten Hand jedes einzelnen Bürgers unserer -75-
Gesellschaft sollen schon bald jegliches Verbrechen unmöglich machen, das mit Gelddiebstahl und Entwendung oder Raub zu tun hat. Auch die Notwendigkeit, sich durch einen Paß oder andere Identitätspapiere auszuweisen, entfällt damit in naher Zukunft. Das System wird mit dem Supercomputer verbunden sein, der gegenwärtig bei der TORE & FENSTER CORP. entsteht, und soll innerhalb der nächsten sechs Monate in Betrieb genommen werden. Norman pfiff leise durch die Zähne, während er über die Konsequenzen nachdachte. Das Konzept war genial, soviel stand fest. Niemand konnte einem anderen Geld stehlen, wenn man niemals welches bei sich hatte. Niemand konnte die Scheckkarte benutzen, wenn er sie in einem Portemonnaie auf der Straße fand. Mit einer ganz persönlichen Nummer auf der Stirn mußte man einem schon den Kopf abschneiden und damit zur Bank gehen, wenn man an sein Geld wollte. Und ohne Geld würde es auch keinen Papierkrieg mehr geben. Keine monatlichen Abrechnungen mehr. Das Geld würde unsichtbar fließen, einfach indem man mit einem Lichtgriffel winkte. Je länger Norman darüber nachdachte, desto mehr beeindruckte ihn das Vorhaben. Und desto mehr ärgerte er sich, daß er nicht als erster daran gedacht hatte. Er kritzelte ›Balfour 15‹ auf die erste Zeitung und legte sie auf die Seite, ohne dem Rest der Nachrichten auch nur einen flüchtigen Blick zu schenken. Sicher sowieso nichts außer den üblichen Kriegen und Gerüchten über bevorstehende Kriege und das Andauern der Fliegenplage in der Schrebergartenkolonie. Bestimmt nichts, das sich zu lesen lohnte, dachte Norman der Erste. In seinem vorhangabgetrennten Alkoven in dem kleinen Hinterzimmer des Eckladens saß Norman der Zweite und starrte -76-
ins Leere. Und während er ins Leere starrte, dachte er absolut überhaupt gar nichts. Neville der Teilzeitbarmann rührte sich in seinem Bett. Er öffnete blinzelnd die Augen und starrte an die Decke, die sich unerklärlicherweise im Verlauf der Nacht gleich mehrere Zoll gesenkt zu haben schien. Neville schlug sein Federbett zurück und setzte einen monumentalen Fuß auf den ausgetretenen Axminsterteppich. Er gähnte herzhaft,12 streckte sich und betrachtete seine Hände. Die Handgelenke sahen sehr massiv aus, wie sie aus den Ärmeln seines Schlafanzugs kamen und in zwei großen Fünfpfündern von Schinken endeten, die ihrerseits wiederum in jeweils fünf gewaltige Wurstfinger übergingen. Was auch immer mit ihm geschah, es geschah mit zunehmendem Tempo. »Die Sache gerät außer Kontrolle!« sagte Neville, während er sich unter dem Geräusch ächzender Dielen aus dem Bett erhob. Er würde aufhören zu essen, beschloß er, und nur noch von Scotch, Knäckebrot und einer gelegentlichen Zitrone gegen den Skorbut leben. Neville stolperte in Richtung Badezimmer. An den Wänden wackelten Bilder im Takt mit seinen Schritten, und das gesamte obere Stockwerk des Fliegenden Schwans schien gefährlich dicht vor dem Einsturz. Warum nur gab niemand zu, daß ihm sein Zustand deutlich anzusehen war? Offensichtlich war eine gewaltige Verschwörung im Gange mit dem Ziel, ihn aus dem Fliegenden Schwan zu vertreiben. Neville kratzte sich mit einem grotesken Zeigefinger den geschwollenen Schädel. Was hatte das alles zu bedeuten? Hatte etwa die Brauerei ihre Hände im Spiel? Dieses Schlangennest! Die weitaus meisten Schrecken und Heimsuchungen, die Neville plagten, gingen unmittelbar auf das Konto der Brauerei. Vielleicht hatte man seine Stammgäste bestochen, damit sie seinen Zustand ignorierten? Oder vielleicht wurde er im Schlaf -77-
hypnotisiert? Neville hatte von Schlankheitskursen gelesen, die auf Kassetten ausgeliefert wurden. Man spielte sie ab, während man schlief. Ihm war nie klargeworden, wie man die Kassette umdrehte, während man im tiefsten Schlummer lag, doch es war einen Gedanken wert. Neville würde seine Wohnung nach versteckten Lautsprechern absuche n, sobald er die morgendliche Dusche hinter sich gebracht hatte. Es war gar nicht leicht, sich durch die enge Badezimmertür zu quetschen. Was auch immer mit ihm geschah, er mußte sich beeilen, oder das ganze Haus würde über ihm einbrechen. Der Alte Pete schlenderte die Ealing Road entlang, und seine Promenadenmischung Chips hing ihm wie immer dicht auf den Fersen. Er hatte gerade den wöchentlichen Besuch der beiden Brentforder Zweigstellen der Post hinter sich und seine beiden Pensionsschecks abgeholt, die der fehlgeleitete Computer ihm jede Woche zuschickte. »Gott segne die Post!« hatte man den alten Halunken denn auch zu mehr als einer Gelegenheit sagen hören. Der Alte schlurfte unbekümmert durch die Straße und fuhr mit seinem Gehstock ratternd in einer Weise über das Frontgeländer der Memorial-Bücherei, die dazu angetan war, die unersättliche Mrs. Naylor aus ihren erotischen Tagträumen zu wecken. Der junge Chips kicherte still in sich hinein und bedachte die Laternenmasten mit so etwas wie einem flüchtigen Nasalblick. Normans neuer Zeitungsbote trabte mit der schweren Zeitungstasche auf den Schultern aus dem Eckladen und stieg auf sein Fahrrad. Chips entblößte kurz die Zähne, doch es war noch früh am Tag, und er befand sich noch nicht in der Stimmung, die Jagd anzublasen. Der Alte Pete lavierte zwischen den Stützpfeilern hindurch, die Normans Ladenfront am Einstürzen hinderten, und stieß die provisorische Tür auf. »Morgen Norman!« rief er fröhlich. -78-
Der Ladenbesitzer steckte schnell die glänzende neue Ausgabe von Donkey Capers weg, in die er versunken gewesen war, und wandte sich dem Regal zu, um Petes wöchentliche Ration an Tabak herauszusuchen. »Und?« fragte er. »Wie ist das Bett? Ich hoffe, du bist zufrieden?« »Wunderbar«, antwortete der Alte Pete. »Das freut mich zu hören. Zwei Unzen Ships, wie immer?« »Genau. Und einen Merkur.« Der Alte Pete schob eine druckfrische Fünf-Pfund-Note über die Theke. »Hattest du eigentlich jemals eine Kreditkarte, Pete?« erkundigte sich Norman, während er den Betrag in die Registrierkasse tippte. Der Alte Pete schüttelte den Kopf. »Nö. Ich denke nicht. Ich hab' eine Mitgliedskarte für die British Legion und einen kleinen Ausweis, mit dem ich kostenlos in den Bussen mitfahren kann, aber sonst …« Der Alte Pete kratzte sich den weißen Schädel. »Ich hatte mal ein Kartenspiel mit nackten Frauen drauf, du weißt schon. Warum? Wozu soll so etwas gut sein?« Norman tat sein Bestes, es dem Alten zu erklären. »Nein,«, erwiderte der Alte Pete. »Ich hatte noch nie so etwas. Stell dir vor, ich besitze noch nicht einmal ein Bankkonto, Verkaufst du jetzt diese Kreditkarten oder was?« Norman schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hab' gerade diesen Bericht in der Zeitung gelesen. Es scheint, daß das Geld abgeschafft werden soll. Die Regierung überlegt, ob sie den Leuten die Nummern auf die Stirn tätowiert.« »Erzähl keinen Unsinn!« sagte der Alte Pete. »Heh, was ist denn das?« Er deutete auf seine Tabaksdose. »Was ist was?« »Das.« Der Alte Pete deutete auf eine Reihe schmaler Linien, die auf den Deckel gedruckt waren. »Das war auf der letzten -79-
Dose noch nicht drauf. Was hat das zu bedeuten, Norman?« Der Eckladenbesitzer nahm die Dose zur Hand und untersuchte sie. »Genau das meine ich«, sagte er schließlich. »Computerbarcodes nennt man das. Das wollte ich dir erklären. Die findet man jetzt auf sämtlichen Waren. Daraus kann man das Datum des Kaufs und den Preis und lauter solche Sachen erkennen. Du gehst mit einem Lichtgriffel drüber, und sämtliche Informationen werden irgendwo in einem Computer gespeichert. Die Regierung unternimmt einfach den nächsten logischen Schritt.« »Das gefällt mir nicht«, sagte der Alte Pete. »Schließlich weiß ich selbst, wann ich meinen Tabak gekauft und wieviel ich dafür bezahlt habe. Wozu brauche ich da die Linien?« Norman zuckte die Schultern. »Fortschritt«, sagte er. »Wir alle müssen mit der Zeit gehen.« »Du vielleicht.« Der Alte Pete riß Norman die Tabaksdose aus der Hand. »Ich sage, zum Teufel mit der Zeit. Versteh mich nicht falsch, ich habe nichts gegen Computer. Einen ganz bestimmten liebe ich sogar heiß und innig. Aber was den Fortschritt im allgemeinen angeht …« Der Alte Pete machte die entsprechende Geste, seit einem nicht unbedeutenden internationalen Fußballturnier vor einigen Jahren auch als »Effenberg« bekannt, packte seine Zeitung (die einen ganz ähnlichen Satz Linien irgendwo in einer Ecke trug, was dem Alten Pete bisher jedoch stets entgangen war) und schlurfte aus Normans Laden. Blöder alter Trottel, dachte Norman bei sich und entdeckte bei genauerer Betrachtung, daß alles, was in den letzten Wochen an Ware geliefert worden war, ähnliche Markierungen trug. Ganz ohne Zweifel diente das alles nur dem Wohl der Allgemeinheit. Die Sache hatte bestimmt keine Kehrseite. Sicher nicht. Nein, das alles war Bestandteil eines wahren -80-
Meisterplans, um die Bevölkerung vor Kriminalität zu schützen und Wohlstand für alle zu verwirklichen. Norman machte sich pfeifend wieder an seine Arbeit.13 Jim Pooley saß bereits auf seiner Lieblingsbank. Er hatte Normans Zeitungsjungen angehalten und seinem klammen Rucksack eine Sporting Life entwunden. Der gestrige Tag war ein totales Desaster gewesen. Pooleys Ersparnisse, die er in der Biskuitdose auf dem Kaminsims aufbewahrte, waren schlimm geschrumpft, und in der zweifelhaften Aufregung der vergange nen Nacht hatten sie tatsächlich vergessen, Soap Distant nach den dreißig Pfund zu fragen. Ereignisse wie diese waren geeignet, sämtliche Hoffnungen zu zerschlagen, die Jim sich für die Zukunft machte. Doch wenn er heute die große Sechserwette gewann, war alles in Butter. Auf der Suche nach Inspiration überflog er die Zeitung, und fast im ersten Augenblick erblickte er in der linken unteren Ecke der sechsten Seite eine Reihe schmaler Linien. »Aha«, sagte er zu sich. »Ein Kode. Wahrscheinlich die Freimaurer.« Er erinnerte sich lebhaft an eine Diskussion, die er kürzlich mit Professor Slocombe geführt hatte. Es war um etwas gegangen, das der alte Gelehrte als die Wissenschaft von der Numerologie bezeichnet hatte. Der Gelehrte war fest davon überzeugt, daß die Antworten auf die meisten, wenn nicht gar alle existentiellen Fragen durch das Studium numerischer Äquivalente vorhergesagt werden konnten. Es kam lediglich darauf an, den Kode zu knacken. Der Professor hatte selbstverständlich noch eine ganze Menge mehr erzählt, doch das war das Resümee, das Jim begriffen und behalten hatte. Überhaupt war Jim ein heller und wißbegieriger Bursche, und sein Vater hatte ihm genau wie Johns Vater John schon im Knabenalter verraten, daß »ein toter Vogel nicht aus dem Nest -81-
fällt«. Also gab es hier eine Botschaft, möglicherweise in einem geheimen Kode, vielleicht für den dunklen Orden der Buchmacherbruderschaft, die, wie jeder gute Zocker wußte, die Sieger der einzelnen Rennen stets vorher kannte. Jim blätterte hastig zum Titelblatt um, und sein Herz machte einen freudigen Sprung. Es stimmte tatsächlich! Er hielt tatsächlich die Sporting Life von Bob dem Buchmacher in den Fingern! Was für ein Glückstreffer! »Ich hab's!« rief er dem Sortiment Brentforder Fauna zu, das ihn aus den umstehenden Bäumen beobachtete. Die Eichhörnchen schüttelten die Köpfe und stießen sich gegenseitig in die Rippen. Die Tauben steckten ihre Schnäbel unter die Flügel und kicherten sich eins. Sie alle hatten diesen Ausruf schon unzählige Male zuvor gehört. »Achtzehn Linien«, begann Pooley. »Drei Sechsergruppen. Dicke und dünne. Hmmm … wie genau soll man das lesen? Sechs sechs sechs … Was mag das bedeuten?« Pooley fuhr mit seinem Kugelschreiber über die Aufstellung des ersten Rennens. Sechs Pferde. Die erste dicke Linie in der ersten Gruppe von Strichen war die vierte. Das vierte Pferd also. Ein Außenseiter. Die Chancen waren verschwindend gering. Trotzdem war es einen Versuch wert. Falls er sich heute täuschte, konnte er morgen früh wieder Bobs Zeitung stehlen. Jim kritzelte den Namen des Pferdes auf einen Wettschein und wandte sich dem nächsten Rennen zu. Für das vierte, fünfte und sechste Rennen fing er wieder von vorn an und nahm die zweite dicke Linie aus jeder der drei Sechsergruppen. Zufrieden, daß er, sollte er sich täuschen, wenigstens seine tägliche Arbeit rasch und sicher hinter sich gebracht hatte, nahm Jim seine Kladde hervor und startete einen Versuch, seinen möglichen Gewinn auszurechnen. Die Zahl, die am Ende herauskam, war so gigantisch, daß die letzte Reihe von Nullen -82-
nicht mehr auf das Papier paßte. Pooley faltete seinen Wettschein, stopfte ihn in die Brusttasche und steckte die Kladde wieder weg. »Das wäre in der Tat wunderbar«, sagte er noch einmal und streckte sich auf seiner Bank, um den Tag und die frische Luft zu genießen. Professor Slocombe saß gemeinsam mit seinem viktorianischen Gast bei einem späten Frühstück. Sherlock Holmes aß ohne rechten Appetit, während er die Tageszeitung studierte. »Wie ich sehe«, sagte er nach einer ganzen Weile und schob die Zeitung beiseite, »hat sich seit meinen Tagen kaum etwas geändert.« »Na, jetzt untertreiben Sie aber, Holmes«, entgegnete der Professor. »In diesem Jahrhundert wurden mehr Fortschritte gemacht als in den letzten fünfhundert Jahren zusammen.« »Das sehe ich anders.« »Und was ist mit unseren technologischen Errungenschaften? Mit Telekommunikation und Weltraumfahrt? Unsere Wissenschaften haben einen Stand erreicht, von dem Sie in Ihrem Zeitalter nicht einmal zu träumen gewagt hätten!« »Und was ist mit Armut, Elend und Grausamkeit? Was ist mit Ungerechtigkeit, Intoleranz und Raffgier? Hat Ihr wunderbares Zeitalter diese Schande vielleicht verbannen können?« Professor Slocombe schüttelte traurig den Kopf. »Unglücklicherweise nicht, nein«, gestand er. »Dann hat sich nur wenig verändert. Wenn überhaupt, dann sind diese Entsetzlichkeiten eher noch schlimmer geworden. Die Dinge, über die hier berichtet wird, hätte sich in meiner Zeit niemand zu veröffentlichen gewagt. Aber wenn das, was ich sehe, für die heutige Zeit typisch ist und ich wüßte keinen Grund, warum ich etwas anderes -83-
annehmen sollte -, dann muß ich sagen, ich bin entsetzt und erschreckt, daß trotz aller zur Verfügung stehenden Ressourcen nur so wenig getan worden ist.« Es war einer der seltenen Fälle, in denen Professor Slocombe nicht wußte, was er antworten sollte. Er kaute kläglich auf einem Stück Toast. »Außerdem sehe ich mich zu der Frage veranlaßt«, fuhr Holmes schließlich fort, »warum Sie mich in diesem höchst widerwärtigen Zeitalter aufgehalten haben.« Der alte Gelehrte verschluckte sich fast an seinem Toast. Er erlitt einen heftigen Hustenanfall und lief puterrot an. »Na, kommen Sie schon«, sagte Holmes und klopfte ihm vorsichtig auf den Rücken. »Sie haben doch wohl nicht im Ernst geglaubt, Sie könnten mich mit Ihrer gespielten Überraschung bei meiner Ankunft täuschen? Sie haben meine Zigarettenmarke in Ihrer Dose und meinen Lieblingstabak im Humidor? Sie servieren mir einen zweiundneunziger Vamberry, der heutzutage sicherlich unbezahlbar ist, und ich könnte wahrscheinlich noch zwanzig weitere Fakten aufzählen, was ›Den einzigartigen Fall des wiederbelebten Detektivs‹ angeht, wenngleich ich nicht annehme, daß das notwendig sein wird. Also, warum haben Sie mich hergeholt Professor Slocombe?« Der Gelehrte nippte an seinem Kaffee und tupfte sich mit einer Serviette über den Mund. Vorsichtig erhob er sich aus seinem Stuhl und trat zu den Verandafenstern, wo er mit dem Rücken zu dem berühmten Meisterdetektiv stehenblieb und in seinen wundervollen Garten hinaussah. »Es ist eine schlimme Geschichte«, sagte er schließlich, ohne sich umzudrehen. »Das bezweifle ich nicht einen Augenblick.« »Ich bin mir gegenwärtig noch nicht darüber im klaren, welche Schritte zu unternehmen sind. Ich muß erst noch sehr viel in Erfahrung bringen. Und ich kann es unmöglich allein -84-
schaffen.« Holmes nahm eine fettig glänzende schwarze Tonpfeife aus der Innentasche seines Morgenmantels und füllte sie mit Tabak aus dem Humidor des Professors. »So«, sagte er. »Also werden wir wieder einmal zusammenarbeiten.« »Ich möchte Ihnen erst etwas zeigen. Anschließend können Sie entscheiden, ob Sie mitmachen.« Professor Slocombe führte seinen großgewachsenen Gast durch die Tür des Studierzimmers auf den eleganten Flur dahinter und zu einer breiten Treppe. Holmes folgte dem Alten mehrere Absätze hinauf, während er die Schultern und die schmalen Hände des Mannes musterte. Der Professor war seit ihrem letzten Treffen vor vielen, vielen Jahren nicht einen einzigen Tag gealtert. Sie stiegen bis unter das Dach des großen Hauses hinauf. Die letzte Treppe mündete in einen ganz außerordentlichen Raum. Er war vollkommen rund und maß gut zehn oder zwölf Fuß im Durchmesser. Mit Ausnahme eines großen runden Tisches mit einer Marmorplatte genau in der Mitte sowie einer Reihe von Flaschenzügen und Kurbeln, die darüber von der Decke herabbaumelten, besaß der Raum keinerlei Mobiliar. Die Wände waren im schwärzesten Schwarz gestrichen, und nirgendwo war ein Fenster zu sehen. Holmes nickte anerkennend, und der Professor erklärte: »Ja, Sie haben richtig geraten. Es ist eine Camera obscura. Diese simple Apparatur gestattet mir, den größten Teil der Gemeinde im Auge zu behalten, ohne das Haus zu verlassen. Hätten Sie wohl die Freundlichkeit, die Tür hinter sich zu schließen?« Holmes hatte, und der Raum versank in Dunkelheit. Ein lautes Klicken ertönte, gefolgt vom Geräusch sich bewegender Flaschenzugscheiben und ratternder Ketten. Auf dem Tisch erschien ein verschwommenes Bild, aufgefangen von einer -85-
Linse hoch oben auf dem Dach und durch ein System von Prismen heruntergeführt. Langsam wurde das Bild schärfer. Es war ein Blick aus der Vogelperspektive auf die Memorial-Bücherei. Vor dem Gebäude lag Jim Pooley auf seiner Bank. Offensichtlich schlief er tief und fest. Der Professor kurbelte weiter, und das Bild auf dem Marmortisch bewegte sich in Richtung Hauptstraße. Es glitt über Normans Eckladen hinweg, und die beiden heimlichen Beobachter sahen voller Überraschung, daß der Ladenbesitzer ganz allein in seinem Hinterhof zugange war und das Pflaster mit bloßen Händen herausriß. »Höchstwahrscheinlich Dimac«, erklärte Professor Slocombe. »Irgendwie scheint es in Brentford immer mehr in Mode zu kommen.« »Ich ziehe Barritsu vor, wie Sie sicherlich wissen«, sagte Holmes. »Und jetzt passen Sie auf«, sagte Professor Slocombe und kurbelte die Linse auf ihre höchste Position hinauf. Die Ränder des Brentford-Dreiecks kamen ins Bild. »Was sehen Sie?« Holmes stützte das Kinn in die rechte Hand und beobachtete mit großem Interesse das bewegte Bild. »Eine optische Täuschung vermutlich?« »Sagen Sie mir, was Sie sehen«, verlangte Professor Slocombe. Holmes zupfte an einer getrimmten Kotelette. »Ich sehe einen schwachen Schleier aus Licht, der die Grenzen der Gemeinde umgibt.« »Und was meinen Sie, was das ist?« Holmes schüttelte den Kopf. »Irgendein natürliches Phänomen vielleicht? Von der gleichen Art wie die berühmte Aurora borealis?« -86-
»Das glaube ich nicht.« Der Professor schloß die Luke im Dach, und der Raum lag einmal mehr in Finsternis. Holmes vernahm das Geräusch eines Schlüssels, der in einem Schloß gedreht wurde, und aus einem vorher verborgenen Durchgang drang ein fahler Lichtschein. »Das ist ein geheimes Zimmer«, flüsterte der Professor, während er seinen Besucher durch die Tür auf den Speicher ganz oben unter dem Dach führte. Das wenige fahle Licht hier drang durch die Ritzen zwischen den Dachschindeln. Der alte Mann entzündete eine emaillierte Öllampe, und der golden flackernde Schein gab den Blick auf einen langgestreckten Mansardenraum frei. Auf einer Seite reihte sich ein großer, dunkler Aktenschrank an den anderen. Ganze Packen gebundener Dokumente, von denen einige offensichtlich sehr alt waren, stapelten sich in und auf den Schränken oder quollen aus halb geöffneten Schubladen. »Wie Sie bemerken, erstrecken sich meine diesbezüglichen Beobachtungen bereits über einen ganz erklecklichen Zeitraum.« Holmes fuhr leicht mit den Fingern über das wächserne Papier eines zerbröckelnden Dokuments mit einem Siegel, welches das Datum 1702 erkennen ließ. »Und all das hier wurde nur zu einem einzigen Zweck zusammengetragen?« erkundigte er sich. Der Professor nickte. »Das Produkt einer Arbeit, die viele Menschenalter umfaßt. Und doch bin ich, wie ich gestehen muß, trotz aller Erkenntnisse noch immer keinen Schritt näher an einer Lösung des Problems, das so unmittelbar vor uns liegt.« »Aber was soll das denn sein, Professor? Was haben Sie herausgefunden, und was suchen Sie noch? Verraten Sie mir, wie ich Ihnen helfen kann.« »Das hier sind alles Hinweise. Hinweise und Indizien von -87-
einer höchst einzigartigen Natur. Es sind Indizien für ein gewaltiges Verbrechen, das noch gar nicht begangen wurde. Das größte Verbrechen aller Zeiten. Ich habe alles zusammen, was ich brauche, um meine Worte zu beweisen, und ich kann ziemlich genau vorhersagen, wann und was geschehen wird, doch mir ist bisher keine Lösung eingefallen, wie ich es verhindern könnte.« »Professor, verraten Sie mir doch endlich, wovon Sie reden!« »Vom Armageddon. Der Apokalypse«, antwortete Professor Slocombe. »Ich rede vom Herannahen des biblischen Milleniums. Oder glauben Sie vielleicht, ich hätte all diese Mühen für irgendeine profane Angelegenheit auf mich genommen?« Sherlock schüttelte langsam den Kopf. »Vermutlich nicht, Professor«, sagte er.
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Kapitel 11 Normans Automatenmensch hatte das Pflaster im Hinterhof des Ladenbesitzers herausgerissen und neu verlegt. Jetzt klopfte er den Staub von seinen Durofleischhänden und kehrte in das Hinterzimmer zurück, um für seinen lebendigen Doppelgä nger Tee aufzusetzen. Norman beobachtete durch die schmutzige Fensterscheibe, wie sich der Roboter schlug. Gar nicht schlecht, dachte Norman. Nichts wies mehr auf ein gewalttätiges Temperament hin, nachdem Norman die Schaltkreise entsprechend geändert hatte. Er würde seiner Schöpfung ein paar Tage Zeit geben, um die Geschäftsräume zu renovieren, und wenn alles glatt lief, würde er den Doppelgänger wieder hinter die Ladentheke stellen. Die Dinge hatten zwar einen denkbar schlechten Anfang genommen, doch Norman wußte, daß die Zukunft vielversprechend war und daß er schon bald imstande sein würde, seine gesamte Zeit dem einen und bisher ehrgeizigsten von all seinen Projekten zu widmen. Der wissenschaftlich ambitionierte Eckladenbesitzer grinste schief und pfiff leise vor sich hin. Er durchwühlte seine Regale nach einem Stück Schokolade, dessen Verfallsdatum noch nicht abgelaufen war. Durch die offene Eingangstür erspähte er plötzlich einen zweiten Pfeifenden: Jim Pooley marschierte eiligen Schrittes in Richtung von Bobs Buchmacherladen. Dort angekommen, beabsichtigte Jim, eine der außergewöhnlichsten und durchdachtesten Sechserwetten abzugeben, die jemals in den Annalen der Pferdewetten aufgezeichnet werden würden. Norman gab seine vergebliche Suche auf und stellte sich im Geiste vor, wie es sein würde, wenn endlich der große Tag gekommen war und all seine Waren mit Barcodes versehen wären, so daß er sich nicht länger mit Trivialitäten wie dem Bestellen neuer Waren abgeben mußte. Dann begab er sich in -89-
sein Hinterzimmer, um eine Tasse Tee zu trinken. Jim Pooley stieß die Panzerglastür von Bobs Buchmacherladen auf und betrat das Wettgeschäft Wie jedem Anhänger des königlichen Sports wohlbekannt sein dürfte, variiert die Einrichtung derartiger Etablissements lediglich in den winzigsten Details, ganz gleich, ob sie nun an einer geschäftigen Durchgangsstraße in John O'Groats oder in einer Hinterhofgasse irgendwo in Penge liegen. Der Buchmacherladen ist stets auf den ersten Blick an seiner innewohnenden Schönheit als solc her zu erkennen: der graue, brandfleckenübersäte Linoleumboden, die Papierstreifen aus den zahlreichen Fernschreibern an den Wänden, der massive, sperrige Schalter, die kleinen Schwarzweißfernseher überall, die selten geputzten Tafeln voller Hieroglyphen, die selbst der selige Champollion nur mit größter Anstrengung hätte entziffern können. Jim spähte durch den blauen Nebel von Havannazigarrenrauch auf die Quelle von dessen Entstehung: Hinter dem Fallgitter saß Bob der Buchmacher und saugte an seinem Torpedo. »Hast du noch immer nicht genug?« erkundigte sich der Millionär bei Jim. Pooley grinste vielsagend und wedelte mit seinem Wettschein. »Heute ist es soweit«, sagte er. Bob unterdrückte ein Gähnen und polierte seinen neuen Diamantring am Revers seines Smokings. Der Kohinor glitzerte makellos in seiner Fassung. Jim schob den Wettschein unter den Titan-Sicherheitsstäben der massiven Schalterfestung hindurch. Bob hielt das zerknitterte Papier auf Armeslänge von sich und untersuchte es mit flüchtigem Interesse. »Ich hab' einen neuen Taschenrechner«, verriet er Jim Pooley. »Wahrscheinlich von Cartier in Paris mit deinem persönlichen Monogramm, wie ich keinen Augenblick lang bezweifle«, -90-
erwiderte Jim. »Mit einem Gehäuse aus Platin und den Umrissen eines goldenen Kalbs, wie? Deine Initialen, sind sie aus Jade?« »Etwas in der Art.« »Ich will ihn gar nicht sehen, doch wenn es dir irgendein ominöses Vergnügen bereitet, dann bin ich dir diesen Gefallen vermutlich schuldig. Du machst eine schwere Zeit durch, wie immer.« »Das Leben ist hart.« »Oh, tatsächlich? Um die Wahrheit zu sagen, wenn man soviel Zeit wie ich in den Sinnesfreuden des unverschämtesten Luxus verbringt, dann entgeht einem das allzu leicht.« »Er ist elektrisch«, fuhr Bob fort. »Funktioniert mit Solarstrom. Er läuft noch in tausend Jahren, ohne daß ich die Batterien wechseln müßte.« »Praktisch«, sagte Jim. »Und trotzdem völlig nutzlos.« »O du meine Güte, warum denn das?« »Nun, trotz aller Genialität seiner Konstrukteure haben die Burschen ein kleines Detail übersehen. Dieser Taschenrechner kann nichts berechnen, dessen Summe über 999 Millionen 999 Tausend und 999 Pfund hinausgeht.« »Diese Schwachköpfe!« sagte Jim. »Ganz genau mein Gedanke. Solltest du nämlich mit diesem Wettschein hier«, er wedelte mit dem Papier vor Pooleys Nase, »einen Volltreffer landen, dann besitzt mein wunderbarer neuer Taschenrechner hier bei den zu erwartenden Quoten ein paar Dutzend Nullen zuwenig.« »Mach dir deswegen keine Gedanken«, antwortete Pooley mitfühlend. »Ich hab' schon alles im Kopf ausgerechnet. Laß mich nur mein Pfund plazieren, ja?« »Wie du meinst. Willst du die Steuer im voraus zahlen?« -91-
»Selbstverständlich. Ich möchte schließlich nicht die Wirtschaft des Landes in Aufruhr versetzen. Das wäre nicht fair gegenüber unserer Regierung.« »Wie du meinst.« Bob schob Pooleys Wettschein in die Maschine, und Jim schob ihm den abgezählten Betrag in Pennies und Halfpennies über den Tresen. »Ich bin gegen fünf zurück um meinen Gewinn abzuholen«, sagte er. Bob nickte und fummelte an seiner Uhr. »Videoroulette«, erklärte er. »Die neueste Erfindung der TORE & FENSTER CORP.« »Die Pest auf diese Burschen!« sagte Pooley. »Und einen schönen Tag noch.« Er faltete seinen Wettschein, schob ihn in die Brusttasche und sich aus dem rauchverhangene n Wettbüro nach draußen auf die Ealing Road. Jim war noch keine fünfzig Yards weit gekommen, als er sich mit einer höchst außergewöhnlichen Szenerie konfrontiert fand. Eine Gruppe von Gaffern hatte sich dicht gedrängt auf dem Pflaster vor dem Faßaufzug zum Bierkeller des Fliegenden Schwans versammelt. Pooley verrenkte sich den Hals, um über die Köpfe der Menge hinweg zu sehen, was es wohl zu sehen gab. Und was er dann sah, war höchst außergewöhnlich. Irgendwie und unerklärlicherweise steckte Neville in der vier Fuß breiten Klappe fest. »Hilf mir doch irgendwer hier raus!« heulte der Teilzeitbarmann mit einer Stimme, die sowohl in Tonlage als auch Lautstärke beträchtlich das staunende Raunen der Zuschauermenge übertraf. »Bei den Göttern, so hilf mir doch jemand!« Pooley rieb sich die Augen. Das war doch wohl nicht möglich, oder? Der dünne Mann steckte in der weiten Öffnung fest? Wie sollte das gehen? Doch so merkwürdig es auch scheinen mochte, genau das war hier geschehen und spielte sich -92-
noch immer vor seinen Augen ab. Neville erspähte Pooleys auf und ab tanzendes Gesicht hinter dem Meer der anderen. »Jimmm!« kreischte er. »Hilf mir hier raus, bitte!« Pooley beeilte sich, Nevilles Bitte zu erfüllen. »Zurücktreten, Herrschaften, bitte zurücktreten, meine Damen und Herren«, sagte er. »Lassen Sie dem Mann ein wenig Luft zum Atmen, ja?« »Du spinnst wohl, Pooley!« sagte der Alte Pete, der einen besonders guten Platz in der ersten Reihe erwischt hatte. »Wir lassen uns dieses Spektakel ganz bestimmt nicht entgehen.« »Nun sei fair!« flehte Jim. »Du siehst doch selbst, daß er in einer schlimmen Situation feststeckt Gib dem Burschen eine Verschnaufpause.« »Was glaubst du, wie er das gemacht hat?« fragte der Alte Pete. »Spiegel vielleicht?« Pooley schüttelte den Kopf. »Ich habe nicht die leiseste Ahnung. Vielleicht handelt es sich um Massenhypnose? Ich hab' gelesen, daß so was möglich ist.« »Vielleicht, ja. Als ich noch im Osten war, hat uns ein Bursche aus dem Regiment mitgenommen, damit wir den indischen Seiltrick sehen. Und wir haben alles ganz deutlich gesehen. Der Magier wirft ein Seil in die Luft, es bleibt hängen, er klettert hinauf und verschwindet. Dann kommt er wieder hinunter, und das war's.« »Wirklich?« »Wirklich. Nun ja, ein Bursche aus unserer Gruppe hat Photos geschossen, und nachdem der Film entwickelt war, was meinst du, was auf den Bildern zu sehen war?« »Verrat mir's.« »Ein Bettler neben einem zusammengerollten Seil. Auf jedem Bild haargenau das gleiche. Was hat gelogen: das Auge der -93-
Kamera oder unsere eigenen?« Neville, dessen Gesicht im Verlauf dieser faszinierenden Unterhaltung das rote Spektrum immer weiter zum Langwelligen hin durchlaufen hatte, stieß einen lauten und entsetzlichen Schrei aus. »Nicht so laut, Neville!« sagte der Alte Pete. »Siehst du denn nicht, daß wir versuchen, die Situation zu analysieren?« »Oh, das tut mir leid«, erwiderte der feststeckende Teilzeitbarmann. »Wir tun unser Bestes«, versicherte ihm Pooley. »Es ist nur … nun, diese Situation besticht durch ein paar wirklich einzigartige Qualitäten, und eine überhastete Entscheidung könnte in einem Desaster enden.« »Ich sag' dir, was wir machen«, verkündete der Alte Pete. »Ich gehe durch die Bar in den Keller hinunter. Ich drücke von unten, und du ziehst.« Pete verschwand durch die Salonbartür. »Da siehst du«, sagte Pooley zu Neville. »Hilfe ist unterwegs, mach dir keine Sorgen.« »Mir geht allmählich die Luft aus!« nuschelte der Teilzeitbarmann. »Ich sterbe hier vor den Augen der versammelten Öffentlichkeit. Diese Erniedrigung! Diese Schande! Was für ein unwürdiger Abgang!« »Na, jetzt mach aber mal halblang«, entgegnete Jim und tat sein Bestes, um die Menge zu verscheuchen, die sich inzwischen bis auf die Ealing Road staute. »Bitte geht, Leute. Habt ihr nichts anderes zu tun? Pete, bist du da?« rief er in den Keller hinunter, doch von dort kam keine Antwort. »Was ist denn jetzt schon wieder?« fragte er. »Ich geh' kurz rein und seh' nach, ob alles in Ordnung ist. Warte hier auf mich.« Jim entschwand in die Bar, und der Mob versammelte sich -94-
wieder um den heulenden Teilzeitbarmann. Pooley gesellte sich zum Alten Pete, der an der Theke Platz genommen hatte. »Du hast dir ganz schön Zeit gelassen, wie?« begrüßte ihn der Alte. »Du läßt nach, schätze ich. Hier, der geht aufs Haus.« Er schenkte Jim einen großen Whisky ein. »Cheers«, sagte er. »Hinunter damit!« erwiderte Pooley. »Nimm's nicht persönlich, Neville.« »Soso«, fuhr der Alte Pete schließlich fort, »was soll das ganze deiner Meinung nach darstellen? Einen Werbegag oder was?« Jim hatte nicht die leiseste Ahnung. »Ich hab' nicht die leiseste Ahnung. Ich verstehe nicht, wie dieser Trick funktionieren soll, aber Neville scheint tatsächlich festzustecken.« »Nein, das glaube ich nicht. Wahrscheinlich hat er sich an seinem Flaschenzug festgebunden. Bestimmt plant die Brauerei einen bunten Abend oder irgendeine andere Abscheulichkeit.« »Meinst du? Ich hoffe nicht!« Pooley bekreuzigte sich und kippte seinen Scotch hinunter. »Ist noch was in der Flasche?« erkundigte er sich. Draußen vor der Tür nahm die Geschichte eine faszinierende Wendung. Leo Felix, Brentfords RastafariGebrauchtwagenhändler, war zufällig mit seinem Abschleppwagen vorbeigekommen. Als er den Menschenauflauf vor dem Fliegenden Schwan gesehen hatte, war unter seiner rotgelbgrünen Mütze das Freibierzeichen blinkend zum Leben erwacht. Vielleicht so dachte er, war jetzt ein guter Zeitpunkt, um sich wieder mit Neville zu vertragen, der ihm erst kürzlich und wieder einmal - lebenslängliches Lokalverbot erteilt hatte. Während Pooley und der Alte Pete in der Bar miteinander plauschten, machte sich Leo mit baumelnden Dreadlocks daran, Neville an die Winde auf der Pritsche seines Wagens zu ketten. -95-
»Du wirst schon bald wieder auf den Beinen sein«, versicherte er Neville. Der Teilzeitbarmann schien merkwürdig zögerlich, dieses spezielle Hilfsangebot zu akzeptieren, und während die Menge begeistert applaudierte und Leo anfeuerte, kreischte und schrie und zappelte Neville und flehte seine paganischen Götter um Hilfe an. Wie die Dinge standen, hatte er das untrügliche Gefühl, ihnen nur zu bald von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen. Leo war inzwischen wieder in seinen Wagen eingestiegen. »Jahjah hilft«, sagte er und ließ die Maschine aufheulen. Dann rammte er den Daumen auf den Knopf, der die Winde in Betrieb setzte. Die Kette zwischen Neville und dem Haken straffte sich, und die johlende Menge wich zurück. »Ooooooooh!« machte Neville, als das improvisierte Geschirr an ihm zu zerren begann. »Ziemlich mild für die Jahreszeit«, sagte Pooley zwischen zwei weiteren Drinks. »Geht so«, erwiderte der Alte Pete. »Ich hab' schon wärmere Tage gesehen.« Der junge Hund Chips richtete die Ohren auf, als sich draußen vor der Tür der Schrei des Teilzeitbarmanns in einen Frequenzbereich verlagerte, der für das menschliche Ohr nicht mehr hörbar war. Aus der Gegend der teilzeitbarmännischen Leibesmitte erklangen widerliche Geräusche wie von brechenden Knochen, und der Zement rings um den metallenen Rahmen der Kellertür erzitterte und bröckelte. Die Menge zog sich in plötzlichem Schrecken noch weiter zurück. Das war nicht mehr zum Lachen. »Schalt deine Winde ab, Leo!« rief jemand. »Du zerreißt ihn sonst!« Leo betätigte den Knopf, den er schon seit geraumer Zeit hatte reparieren wollen. Der Knopf sprang aus dem Armaturenbrett und landete in Leos offener Hand. »Haile Selassie«, sagte Leo. -96-
»!« machte Neville der Ultraschallbarmann. »Leg um Himmels willen den Rückwärtsgang ein!« rief jemand anderes. »Wir versuchen, Neville von der Kette zu lösen.« Leo hastete in den Fahrersitz und legte den Rückwärtsgang seiner Spezialanfertigung von einem Bedford ein. Zahnräder prallten knirschend aufeinander und verursachten weiteres Kreischen zusätzlich zu dem, das bereits von anderer Stelle ertönte. Leo hatte den Rückwärtsgang eingelegt, den er schon seit geraumer Zeit hatte reparieren wollen. Mit einem mächtigen Klonk rastete der Gang schließlich ein und saß genauso fest wie der Ultraschallbarmann in seinem Durchgang. Leo bearbeitete den Schaltknüppel mit all seiner Kraft, doch er bewegte sich nicht einen Zoll. Der heruntergekommene Bedford-Abschleppwagen, durch und durch morsch und hinfällig als Folge einer konstant miesen Behandlung, hatte sich ausgerechnet diesen Augenblick ausgesucht, um an seinem karibischen Folterknecht Rache zu üben. Leo Felix riß die Zündschlüssel aus dem Schloß und sprang mit blassem Gesicht aus dem Führerhaus. Der bösartige Abschleppwagen rollte unaufhaltsam weiter rückwärts, auf die Menge und den zappelnden eingeklemmten Teilzeitbarmann zu. Das Vehikel wurde immer schneller, und wem solches möglich war, der gab hastigst Fersengeld. Neville starrte nach oben, und die Augen drohten ihm aus den Höhlen zu quellen. Der beißende Gestank von Auspuffgasen fraß sich in sein Gehirn, und seine Welt wurde immer schneller von einem rückwärtigen Nummernschild ausgefüllt, auf dem NEM 1515 zu lesen stand. -97-
Es sah ganz danach aus, als hätte Nevilles letztes Stündlein geschlagen. Die Maschine des Abschleppwagens brüllte wie ein Ungeheuer aus der tiefsten Hölle. Unaufhaltsam kam es immer näher. Mit einem letzten verzweifelten Atemzug verlor Neville das Bewußtsein - wie es der Zufall so will eine rechte Schande, weil er dadurch das Beste überhaupt nicht mitbekam. Als die Menge in schreiender Panik auseinanderstob, sprang eine heroische Gestalt in das Gewühl. Sie schob sich durch die Massen einer fliehenden Menschheit und ging zwischen dem komatösen Teilzeitbarmann und dem rachsüchtigen Bedford in Stellung. Die Füße dieses Titanen waren fest auf dem Pflaster verankert, und sein Gesicht war eine kalte Maske der Entschlossenheit. Seine Augen leuchteten in einem merkwürdigen Licht von innen heraus. Mit einem plötzlichen, gewaltigen Satz nach vorn packte er das kreischende Vehikel an der Heckklappe und brachte es zum Stehen. Die Reifen kreischten auf dem Pflaster. Schwarze Wolken von Gummi stiegen auf. Mit übermenschlicher Anstrengung hob Nevilles Retter den Wagen hoch. Die Maschine heulte auf, und ihre Abgase hüllten ihn in eine gewaltige Wolke tödlichen Kohlenmonoxids. Der Titan stemmte den Bedford hoch über den Kopf und hielt ihn dort. Der Abschleppwagen wankte und erzitterte und heulte wie die Weiße Frau, 14 und dann ging alles ganz schnell. Brentfords lebendiger Sankt Georg schleuderte den mechanischen Drachen zu Boden. Reifen platzten, Achsen brachen, und die Maschine erstarb auf den kalten Steinen des Straßenpflasters. Nachdem sich der Rauch verzogen hatte, starrten kleine Gruppen der feigen Menge voller Staunen auf den Ort des Geschehens. Der Held wickelte sich in aller Ruhe die schlaffe -98-
Kette um die Hand und riß sie aus ihrer Verankerung. Langsam wandte er sich zu Neville um, befreite ihn von seinem Lynchgeschirr, bückte sich und zog den Bewußtlosen vorsichtig aus dem Loch auf das Pflaster, wo er ihn ebenso vorsichtig niederlegte. Bevor die Menge sich von ihrem wortlosen, offenmundigen Staunen erholt hatte, den Helden umringen und ihn auf ihren Schultern umhertragen konnte, wandte Norman sich von der Szene seines Triumphs ab und stapfte zurück in seinen Eckladen.
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Kapitel 12 Die Sirenen des Krankenwagens waren längst nur noch bloße Erinnerung, als drei Männer die Ealing Road herabgeschlendert kamen. Einer von ihnen war gebeugt vom Alter. Er ging auf einem schmalen Stock aus Ebenholz gestützt, und eine lange Mähne weißer Haare wehte hinter ihm her. Der zweite war groß und hager und besaß eine mächtige Hakennase, und er war in einen merkwürdigen, altmodischen Tweedanzug gekleidet. Was den dritten anging, der war ein Ire15 und wollte seine dreißig Pfund. Als die drei sich dem Fliegenden Schwan näherten, legte Sherlock Holmes unvermittelt dem Professor den Handrücken auf die Brust und sagte: »Was hat denn das dort zu bedeuten?« Professor Slocombe schüttelte den alten, weißhaarigen Kopf. »Die Kellertür sperrangelweit offen! Ein Barmann, der seine Pflichten vernachlässigt?« »O nein«, widersprach Holmes. »Weit mehr als das. Und was halten Sie davon?« Der Ältere musterte Leos endgültig schrottreifen Abschleppwagen, der am Bordstein geparkt stand. Die Hinterachse wurde von zwei Stapeln roter Ziegelsteine gestützt. »Eine ungewöhnliche Mutwilligkeit seitens der einheimischen Bruderschaft der Kriminellen?« schlug Professor Slocombe vor. »Das glaube ich kaum.« Holmes zog sein Vergrößerungsglas heraus, und während Omally ihn beobachtete, ohne den sehnsüchtigen Blick länger als einen Sekundenbruchteil von der Salonbartür abzuwenden, ließ er sich auf alle viere nieder und untersuchte das Pflaster. »Wie viele Eingänge besitzt dieser Keller?« erkundigte sich Holmes und sah zu dem Iren auf. »Nur diesen einen«, antwortete Omally. »Und die Tür hinter -100-
der Theke.« »Ahha. Ich verstehe.« Holmes untersuchte die schwarzen Bremsspuren. »Interessant«, sagte er. »Unglaublich aufregend«, brummte Omally. »Könnten wir jetzt vielleicht endlich reingehen?« Holmes stand vom Boden auf und klopfte sich den Staub aus den Hosen. »Ich denke schon«, antwortete er. Omally führte den Weg, und die drei Männer betraten die Salonbar. Pooley, der längst mit der Hilfe des Alten Pete die Flasche von Nevilles bestem Whisky geleert hatte, erhob sich auf unsicheren Beinen und begrüßte die Neuankömmlinge. Omally musterte seinen Kumpanen voller Mißtrauen. »Hast du heute morgen schon Soap gesehen?« fragte er. Pooley schüttelte den Kopf. »Du hast das Beste total verpaßt!« sagte er. »Offensichtlich. Wer zahlt die Runde?« »Ich glaube, das übernehme ich«, erbot sich Professor Slocombe. »Holmes?« »Einen kleinen Sherry bitte«, antwortete der berühmte Detektiv. »Und ein Wort mit Mister Pooley, falls sich das einrichten läßt?« »Ach ja?« erkundigte sich der halb betrunkene Pooley. »Der bärtige Bursche hinter der Theke ist doch sicherlich nicht der normale Barmann, oder?« Pooley schielte angewidert zu Croughton, dem schmerbäuchigen, bärtigen Küchenhelfer, der hinter den Zapfhähnen bis zu den Ellbogen in Bierschaum versank. »Ganz bestimmt nicht«, antwortete er. »Und der gewöhnliche Barmann, ein Gentleman von einigem Ansehen in dieser Gemeinde, ist sicherlich niemand, der sein Lokal während der Mittagszeit ohne einen sehr triftigen Grund im Stich lassen würde, nicht wahr?« -101-
»Nein, nicht Neville.« »Also gehe ich recht in der Annahme, daß der dicke Bursche, der bis vor kurzer Zeit in seiner Kellertür festgesteckt hat genau dieser Neville war?« »Sie nehmen was an?« Überrascht starrte Omally auf seinen betrunkenen Freund. »Was war hier los, Jim?« »Ich versuch's zu erklären«, antwortete selbiger und stolperte rückwärts von seinem Hocker. »Aber zuerst muß ich mal, glaub' ich.« Es dauerte eine ganze Weile, bevor Pooley wieder zurückkehrte. Er wirkte ein wenig nüchterner als zuvor. Während seiner Abwesenheit hatte Holmes sämtliche notwendigen Informationen aus anderen Quellen eingeholt, seinen Sherry ausgetrunken und war schließlich gegangen. Jim relokalisierte sein Hinterteil wieder auf dem Hocker. Er warf einen Blick auf die alte Guinness-Uhr und fragte dann: »Weiß zufällig jemand, wer das dreizehnfünfundvierziger Rennen gewonnen hat?« »Ahriman Boy«, antwortete der Alte Pete. »Ich krieg nämlich Freies Radio Brentford in meinem Hörgerät. Der Kommentator scheint einen Herzinfarkt erlitten zu haben, wie es sich angehört hat.« Pooley brauchte einen Augenblick, um zu begreifen. Langsam zog er seinen Wettschein aus der Tasche und spähte zwischen den Fingern auf seine Kreuze. »Bei den Göttern!« sagte er. »Hast du rein zufällig auch die Gewinnquote gehört?« »Sechsundsechzig zu eins«, erwiderte der Alte Pete. »Da ist schon das eine oder andere Pfund für den drin, der auf Außenseiter wettet.« Pooley breitete seinen Wettschein vor sich auf dem Tresen aus. »Ich bin mit Sechsundsechzig Pfund auf der Haben-Seite«, -102-
sagte er. Omally spähte über seine Schulter. »Dann bestell mir doch ganz schnell ein Pint von diesem Schaum da, Jimmyboy«, sagte er. »Ich vermute, es war leider nicht deine einzige Wette heute nachmittag, was?« »Ehrlich gesagt, nein«, gestand Jim. »Ich hab' eine Akkumulatorwette abgeschlossen.« »Eine Viererwette also?« »Nein, John. Wo denkst du hin! Die ganz große Sechserwette!« »Dann vergiß es. Ich bestelle mir mein Bier selbst.« »Kein Schwein vertraut mir auch nur für fünf Schilling!« beschwerte sich Pooley bei Professor Slocombe. »Tatsächlich?« Der alte Mann schüttelte verwundert den Kopf. »Dann laß mich dir wenigstens noch einen weiteren Drink ausgeben. Geht es dir denn inzwischen ein wenig besser?« »Ein vorübergehender Schwächeanfall«, sagte Jim. »Dieser Bursche von tief unter der Erde regt mich mehr als nur ein bißchen auf.« »Das Zwei- Uhr-Rennen hat angefangen«, meldete sich der Alte Pete. »Hast du ein Pferd laufen, Jim?« Pooley nickte. »Lucifer Lad.« »Willst du mithören?« Der Alte Pete zog seine Hörhilfe heraus und drehte die Lautstärke auf. Die Mickymausstimme des Kommentators beschrieb den Rennverlauf, während drei Männer (wenigstens) die Daumen drückten und den Außenseiter mit leisen Stimmen anfeuerten. Lucifer Lad gewann das Rennen mit einer Quote von Sechsundsechzig zu eins. »Mein Gehirn hat sich verabschiedet«, sagte Pooley. »Kann vielleicht irgend jemand meinen Gewinn ausrechnen?« »Du willst sicher nicht darüber nachdenken, Jim«, sagte der Professor. »Belassen wir es dabei, daß es eine hübsche Summe -103-
ist.« »Wie hübsch, Professor?« »Viertausenddreihundertfünfundsechzig Pfund.« Sie brauchten einen ganzen Sodasiphon, bis Jim wieder zu sich kam. »Jim«, begann John und zog seinen Kumpan an den Revers hoch. »Wach auf! Was für eine Wette hast du bei Bob dem Buchmacher abgeschlossen?« »Die Sechserwette Spezial, wie immer«, murmelte Pooley. »Sechs Gewinne oder gar nichts.« »Du Hornochse!« Omally warf verzweifelt die Hände in die Luft. »Mit einem dritten Gewinner würdest du auch dann noch etwas kriegen, wenn ein paar deiner Pferde nur auf den zweiten oder dritten Platz kämen. Du hättest jetzt schon ein paar Tausend Pfund Profit! Aber so etwas wie eine Sechserwette Spezial gibt es einfach nicht! Das sind Märchen! Die Buchmacher lachen sich ins Fäustchen, während sie auf die Seychellen in Urlaub fliegen. Gib mir diesen verdammten Wettschein!« Pooley schob ihn über den Tresen. »Hat jemand eine Zeitung da?« Pooley zog seine Zeitung hervor. »Hast du die Steuer bezahlt?« Pooley nickte. »Du verdammter Hornochse!« »Verrat mir doch noch einmal, wie reich ich bin«, bat Pooley. Omally rechnete mit den Fingern. Bevor er fertig war, meldete der Alte Pete: »Das Vierzehnfünfzehner hat angefangen.« Bob der Buchmacher erfreute sich an einem Mittagessen in der höchst ungemütlichen Fröhlichen Zeche in Chiswick. Der -104-
Inhaber dieses entsetzlichen Etablissements hatte sich auf einen größeren Gedankenblitz hin selbst eingeredet, daß ›Kumpelkneipen‹ der nächste große Renner werden würden. Er hatte sich eine größere Summe von Bob dem Buchmacher geliehen und seinen Laden von einer spätviktorianischen Goldgrube in eine Kohlengruben-Katastrophe verwandelt. Die Grubenstempel, die ausgestopften Grubenpferde, die dunklen, schweren Holzbänke und der kohlenstaubbedeckte Boden waren jedoch bei der Trinkergemeinde von Chiswick merkwürdigerweise nicht sonderlich angekommen. Selbst in den dunklen Wintermonaten, wenn die Fröhliche Zeche vom kuscheligen Licht der Karbidlampen erhellt wurde, war das warme Feuer im Kamin das einzig Heimelige. Bob der Buchmacher hatte den Kredit des Inhabers selbstverständlich bis zu einem Punkt erhöht, der ihm die Kontrolle des Ladens zusicherte. Die Pläne für das luxuriöse Steakhouse, das in Kürze aus der Fröhlichen Zeche hervorgehen würde, waren längst gezeichnet und warteten in Bobs Safe. Und während Bob so allein in der menschenleeren Bar saß und seine Mahlzeit verschlang, überlegte er angestrengt, auf welchem weit entfernten tropischen Strand er an diesem Wochenende seinen millionenschweren Hintern parken sollte. Der Chauffeur Antoine betrat in seiner strahlend weißen Livree das Lokal. Auf einem silbernen Tablett trug er die Computerausdrucke der letzten Rennergebnisse, die gerade durch das Automobilfax der TORE & FENSTER CORP. hereingekommen waren. Auf dem Papier stand zu lesen, daß Jim Pooley dank seines Gewinns im vierzehnfünfzehner Rennen mit zweihundertvierundachtzigtausendsechsundneunzig Pfund vorne stand, eine Tatsache, die Bob dem Buchmacher ganz definitiv den Appetit auf seine Cornish-Pastete verdarb. »Du verdammter Hornochse!« heulte Omally. »Du könntest reich sein! Über alle Maßen reich!« -105-
»Ich hab' mich kein Stück verändert deswegen, oder?« gab Jim zurück »Wir sind immer noch Freunde. Leih mir ein Pfund, und ich zahle die nächste Runde.« »Was ist los, wollt ihr das Vierzehndreißiger hören oder nicht?« fragte der Alte Pete. »Auf welchen Gaul hast du diesmal gesetzt, Jim?« Pooley überflog seinen Wettschein. »Seven Seals«, sagte er. »Sechsundsechzig zu eins«, sagte der Alte Pete. Omally preßte die Hände an die Schläfen. »Woher wußte ich, daß er das sagen würde?« stöhnte er. Wie Seven Seals, der ein außerordentlich schlechtes achtzehntes Rennen gelaufen war, es schaffen konnte, auf den letzten sechs Furlongs aufzuholen und am Favoriten vorbeizuziehen, das war eine Frage, mit der sich Experten auf diesem Gebiet noch monatelang beschäftigen würden. »Jetzt bist du ganz definitiv weit vorn«, sagte John Vincent Omally. »Eine überschlägige Berechnung meinerseits hat ergeben, daß du mit wenigstens achtzehn Millionen siebenhundertfünfundsechzigtausend und ein paar Pfund vorne stehst. Ein hübsches Sümmchen, würde ich sagen.« »Leih mir noch ein Pfund«, bat Pooley. »Ich hab' jetzt Lust auf eine Zigarre.« Während Antoine der Chauffeur den Rolls des Buchmachers im dichten Verkehrsgewimmel der Mittagszeit über die Hauptstraße von Chiswick steuerte, blätterte er durch die Stellenangebote im Brentforder Merkur. Bob saß bebend im Fond, zitterte von Kopf bis Fuß und kaute seine Fingernägel ab. Das eingebaute Faxgerät spuckte die Teilnehmer des Vierzehnfünfundvierzigers aus. Dort stand es zu lesen: Millenium Choice, mit einer Quote von Sechsundsechzig zu eins, und die Pferde nahmen in der Starterbox Aufstellung. Bob tippte wie besessen auf seinem goldenen Taschenrechner herum, doch das dumme Ding spuckte nur ›Speicherüberlauf‹ aus und -106-
schaltete sich selbsttätig ab. »Krieg' ich eine Abfindung?« erkundigte sich Antoine höflich. »Und los geht's!« bellte der Alte Pete. Die Gäste im Fliegenden Schwan ballten die Fäuste und schüttelten sie zur Mickymausstimme des Kommentators. Aufmunternde Rufe standen aus offensichtlichen Gründen nicht zur Debatte, denn es erforderte Luftanhalten und Ohrenspitzen, überhaupt etwas vom Rennen mitzubekommen. Die Gäste bewahrten eiserne Disziplin, was das anging. Ihre Gesichter waren wie versteinert, Adern traten auf Schläfen hervor, Schweiß tröpfelte durch brylgecremte Stirnlocken. Sie nahmen die universale Haltung der professionellen Zocker ein, Beine gespreizt und Knie leicht gebeugt, die Hintern herausgestreckt, genau wie die Kinne. Sie waren jetzt Phantomjockeys und ritten auf den piepsigen Worten des Kommentators, und ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Millenium Choice lag an einer nicht allzu aussichtsreichen sechsten Stelle im sechsten Rennen. »Jetzt komm schon, Mann!« kreischte Omally, der es nicht mehr länger aushielt. Sein Aufschrei ließ den Damm bersten, und die Flutwelle brach mit voller Wucht über den Fliegenden Schwan herein. »Los schon, alter Junge! Gib ihm die Peitsche! Die Peitsche, Mann, nimm die Peitsche! Gib ihm die Sporen! Millenium …! Millenium …! Millenium!!!« Die Stimmen überschlugen sich fast, und alles weitere ging in einer ohrenbetäubenden Kakophonie unter. Schließlich packte der Alte Pete sein Hörgerät und rammte es wieder in sein Ohr zurück. Mochte doch die ganze Kneipe plötzlich verrückt spielen. Er wußte jedenfalls keinen Grund, warum er sich um das Ergebnis bringen lassen sollte. -107-
Der Rolls von Bob dem Buchmacher steckte im Kreisverkehr der Chiswicker Hauptstraße fest, doch der eingebaute Fernseher der TORE & FENSTER CORP. versah klaglos seinen Dienst. Als Millenium Choice mit deutlichen sechs Pferdelängen über die Zielmarke ging, zog Antoine der Chauffeur gelassen einen roten Kreis um ein interessantes Stellenangebot. Bob blickte nach oben auf die Straßenüberführung, die langsam hinter ihnen zurückblieb. Wahrscheinlich muß ich die auch verkaufen, dachte er. »Wer hat gewonnen??? Wer hat gewonnen???!!« Die Mittagsgäste des Fliegenden Schwans umringten den Alten Pete. »Los, heraus mit der Sprache!« Der Alte hob den Daumen. »Ich schätze, du hast schon wieder gewonnen, Jim«, sagte er. Die Menge explodierte und stürmte den Tresen. Croughton der schmerbäuchige Küchenhelfer nahm die Beine in die Hand und flüchtete. Omally bemühte seine Kladde. »Ich schaffs nicht!« sagte er schließlich und raufte sich die Haare. »Professor, können Sie mir helfen?« Der alte Gelehrte, der die Summe längst im Kopf ausgerechnet hatte, schrieb eintausendzweihundert Millionen neunhundertfünfundsiebzigtausendsiebenhundertsechsundsiebzi g Pfund nieder. »Ich schätze, das ist auch dein Glückstag, John«, sagte Professor Slocombe und deutete auf die freie Stelle hinter dem Tresen. Omally hielt dem Goldjungen seine Kladde hin und sprang mit einem Satz über den Tresen, um sich seinen eigenen Lebenstraum zu erfüllen. Er war ein Naturtalent an den Zapfhähnen, und schon bald war der Durst der ungeduldigen, wilden, geifernden Menge gestillt. »Wenn das sechste Pferd verliert, wird niemand je wieder ein -108-
Wort mit mir reden!« wandte sich Jim unter allseitigem heftigstem Schulterklopfen an den Professor. »Ich hab' jetzt schon fünf Heiratsanträge bekommen!« »Kopf hoch«, sagte der alte Gelehrte. »Ich weiß, daß die Chancen unendlich gering sind, aber ich habe ein ganz merkwürdiges Gefühl.« Omally schob Pooley ein ganzes Pint Large in jede der ausgestreckten Hände. »Was ist das für ein Spiel?« fragte er. »Auch du wirst mich hassen«, erwiderte Pooley kläglich. »Ich?« Omally legte beide Hände auf das Herz. »Ich liebe dich, mein Freund, wie den Bruder, den ich nie hatte!« »Aber du hast fünf Brüder!« »Keinen wie dich.« Jim musterte seine beiden Pints und hob dann beide gleichzeitig an die Lippen. Es war genau die Sorte von Meisterleistung, die einem Mann nur einmal im Leben gelingt, doch Pooley leerte beide Gläser in einem einzigen Zug. »Oh, du grausames Schicksal«, sagte er und wischte sich den einzigen danebengegangenen Tropfen vom Kinn. »Verrat mir eins, Jim«, sagte Professor Slocombe, während eine ganze Schar weiblicher Fans sich darin abwechselte, Pooleys Wangen mit Lippenstift zu verzieren, »wie hast du das gemacht? Ist es ein Produkt reinsten Zufalls, oder hast du die Formalismen studiert? Ich frage aus rein beruflichem Interesse, und ich versichere dir, daß ich mich mit einer Antwort zufriedengeben werde.« Jim schob die Barmieze vom New Inn von sich, die die Arme um seine Hüften geschlungen hatte. »Wenn es Sie tatsächlich interessiert: Sie und Ihr Gerede von der Numerologie sind schuld daran. Finde das Muster, haben Sie immer wieder gesagt. Zerlege alles bis hin zu einem numerischen Äquivalent, haben Sie gesagt, und dann findest du die Antworten.« -109-
Professor Slocombe nickte begeistert, und ein Strahlen überzog sein altes Gesicht. »Ja, ganz genau!« rief er aus. »Dann hast du es also verstanden! Du hast den Schlüssel gefunden! Verrat mir, wie du es gemacht hast, Jim! Ich muß es einfach wissen!« »Es war eigentlich ganz leicht«, antwortete Jim. »Nimm die Hände da weg, Frau! Das geht nun wirklich zu weit! Ich bin einfach den Linien gefolgt.« »Den Linien? Was für Linien, Jim?« Pooley streckte dem Professor seine Rennzeitung hin. »Diesen Dingern hier. Madam, nehmen Sie bitte Ihre Hände weg, ja?« Professor Slocombe fuhr mit bebenden Fingern über die Reihe von Computerbarcodes, achtzehn insgesamt, drei Gruppen aus jeweils sechs. »O mein Gott!« sagte er schließlich langsam. »Jim, ist dir eigentlich bewußt, was du da getan hast?« »Ich habe den absoluten Volltreffer gelandet.« »Sehr viel mehr als das.« Professor Slocombe schlug die Zeitung zu und starrte auf die Titelseite. »Wußte ich's doch! Das ist nicht deine Zeitung.« »Ich hab' sie ausgeborgt«, sagte Jim schuldbewußt. »Jim, zerreiß diesen Wettschein. Das ist kein Scherz. Du verstehst nicht, in was du da hineingeraten bist. Zerreiß ihn, jetzt auf der Stelle. Ich flehe dich an, Jim.« »Vergessen Sie's«, erwiderte Jim. »Ich gebe dir einen Scheck.« Der Professor zückte sein Scheckbuch. »Nenn mir die Summe.« »Macht dieser Mann hier Witze?« wandte sich Pooley zum Alten Pete um, der sein Hörgerät herausgenommen hatte und auf den Tresen klopfte. »Ich bin taub!« erwiderte der Alte Pete. -110-
»Jim!« flehte der Professor. »Bitte, Jim, hör auf mich!« »Pete, du alter Trottel!« sagte Jim. »Gib mir dieses Ding!« Die Guinness-Uhr zeigte kurz vor drei. »Schalt es wieder ein«, sagte jemand und stieß dem Alten Pete den Ellbogen in die Rippen. »Gleich ist es soweit.« Fairerweise muß gesagt werden, daß die Hörhilfe des Alten Pete keines von diesen mikrochipgesteuerten Wundergeräten war, von denen in der Boulevardpresse so viel zu lesen steht. Apparate wie diese, so weiß der Leser, sind kaum größer als eine Schrebergärtnererbse und durchaus imstande, aus einem vollen Fußballstadion das Geräusch einer pupsenden Motte zu übermitteln. Nein, die Hörhilfe des Alten Pete war ein ganz gewöhnliches Kassenmodell. Post-Seehofer. Sozusagen. Hörstöpsel, pinkfarbenes Bakelitkästchen von der Größe einer Woodbine-Packung und eine von den letzten drei Rennen völlig überforderte und deswegen leere Zinkkohle -Batterie. »Es geht nicht mehr«, sagte der Alte Pete. »Kaputt.« »Was?« »Bitte?« entgegnete der Alte. »Du mußt schon lauter reden. Mein Hörgerät ist kaputt.« »Das Hörgerät ist kaputt! Das Hörgerät ist kaputt!« Die Nachricht verbreitete sich wie Margarine auf einem Muffin. Die Panik verbreitete sich genauso schnell. »Zerreiß den Schein!« befahl der Professor, doch seine Worte gingen im aufbrandenden Lärm unter. Pooley preßte den Wettschein an die Brust wie ein gefährdetes Erstgeborenes. Omally suchte unter der Theke nach Nevilles Knüppel, während sich die Menge in einen Mob verwandelte und nach einem Balken suchte, über den sie das Seil werfen konnte. Lynchzeit in Brentford. Der Alte Pete hatte beim Militär viele Schlachten geschlagen, und er war mehr als vorbereitet, kämpfend unterzugehe n. Er -111-
schwang seinen Gehstock mit der Macht eines Ninja gegen den nächstbesten Schädel in Reichweite. Freund oder Feind zählte nicht. Fäuste flogen. Omally sprang mit erhobenem Knüppel in das Gewühl. »Los, zum Buchmacher, Jim!« brüllte er, während er ein ganzes Dutzend Aufständischer niederriß. Pooley schützte mit einer Hand seine empfindlichen Stellen und preßte mit der anderen noch immer den Wettschein an die Brust. Im Kielwasser von Professor Slocombe, den kein lebender Mensch anzurühren gewagt hätte, ga nz gleich, wie hoch es ringsum hergehen mochte, schob er sich durch das Getümmel. »Er will abhauen!« kreischte jemand unter dem verrückten Iren. »Hinterher, Jungs!« Die Menge schwang wie ein Mann in Richtung der berühmten Salonbartür herum, die Pooley in just diesem Augenblick mit bemerkenswerter Geschwindigkeit passierte. Die Menge strömte hinter ihm her auf die Straße. Professor Slocombe trat einen raschen Schritt beiseite und beschloß, daß anderswo dringendere Geschäfte auf ihn warteten. Leo Felix, der sich unterdessen in dem Versuch, etwas zu retten, mit einem Schweißbrenner am Wrack seines Abschleppwagens zu schaffen gemacht hatte, starrte weißgesichtig und mit Entsetzen im Blick auf, als Pooley in ihn hineinrannte. »Ich … ich …«, kreischte der leidgeprüfte Rastamann, doch dann war er bereits unter einem Berg Zion von Leibern verschwunden. Jim wurde von einem ganzen Dutzend wild um sich schlagender Hände gepackt und schulterhoch in die Luft gehoben. Die Stampede verwandelte sich in eine donnernde Phalanx, die sich mit ihrem hoch über den Köpfen gehaltenen Multimillionendollarbanner entschlossen in Richtung von Bobs -112-
Buchmacherladen in Bewegung setzte. Jim bereitete sich zum zweiten Mal in ebenso vielen Tagen darauf vor, einen Handel mit Gott abzuschließen. Falls das sechste Pferd nicht gewann, was ganz sicher der Fall sein mußte, dann würde er einiges von seiner gegenwärtigen Popularität verlieren. Genaugenommen sogar alles. »Vater, vergib ihnen«, sagte er. Mit einem kostenintensiven Kreischen brennenden Gummis bog Antoine der Chauffeur in die Ealing Road ein. Ein Stück voraus füllte die vorrückende Phalanx die gesamte Straßenbreite aus. Antoine kurbelte heftig am Lenkrad, doch der Rolls schien mit einem Mal seine eigenen Vorstellungen zu entwickeln. Er steuerte geradewegs in die Menge hinein, und Männer spritzten nach rechts und links auseinander. Jim segelte über die Köpfe nach vorn und kam auf der glänzenden Motorhaube zur Ruhe, während seine Nase unfreiwillig die Härte der Windschutzscheibe prüfte. Der Rolls schoß auf den Bürgersteig, krachte gegen eine Straßenlaterne und entließ Jim gnädigerweise, der in die Gosse fiel. Das unerwartete Idol aller Zocker fand sich am Boden wieder, ein zitterndes, bebendes Wrack, einmal mehr eines Jackenärmels beraubt, der nun wie eine Trophäe aus einem siegreichen Feldzug an einem vergoldeten Rolls Scheibenwischer hin und her schwang. Der Rolls rutschte unaufhaltsam weiter, auf das Wrack von Leo Felix' Abschleppwagen zu - und den Schweißbrenner, der, inzwischen verwaist, seine sonnenheiße Flamme mit dem gleichen Eigensinn wie das störrische Automobil auf die Acetylengasflasche neben sich gerichtet hatte. Antoine der Chauffeur machte genau in dem Augenblick einen Satz aus dem Wagen, in dem Pooleys sechstes Pferd Renngeschichte in den Kopf des Fondpassagiers hämmerte. -113-
»Was für ein aufregender Tag«, sagte Bob der Buchmacher noch.
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Kapitel 13 Die Brentforder Sonne erhob sich am nächsten Morgen über einer Gemeinde, die seltsam zögerlich schien, sich aus ihrem kollektiven Bett zu erheben und die Herausforderungen des Tages anzunehmen. In all den Jahren seiner langen, bewegten Geschichte hatte der Fliegende Schwan noch nie einen Abend erlebt, der den vorangegangenen vergleichbar gewesen wäre. Jim hatte die defekte Registrierkasse mit mehr Pennies beladen, als beim besten Willen hineinpaßten und allen und jedem verkündet, daß sämtliche Drinks auf ihn gingen. Die Gemeinde hatte nicht lange gezögert, diese selbstlose Geste anzunehmen, und das Wort war wie ein Buschfeuer durch Seitenstraßen und Hinterhöfe gelaufen, wie es das immer tat, wenn Freibier es entfachte. Ganz Brentford hatte Feierabend gemacht und sämtliche Verbindungen mit der Außenwelt gekappt. Die Konkurrenten des Fliegenden Schwans hatten nur kurze Zeit an den Unterlippen genagt, bevor sie ihre Zigarren schwelend in den Aschenbechern zurückgelassen und sich den allgemeinen Festivitäten angeschlossen hatten. Der Gemeinderat hatte dem schwankenden Jim die höchste Auszeichnung Brentfords verliehen, den Argentinum Astrum, bevor er sich selbst in kollektive Bewußtlosigkeit getrunken hatte. Nachdem das verkohlte automobile Wrack von Bobs Rolls sowie Leos Abschleppwagen vom Ort des Geschehens entfernt worden waren, hatte vor dem Fliegenden Schwan ein nächtliches Straßenfest stattgefunden. Was Neville in seinem Krankenbett betraf: Er wußte nichts von alledem. Die Barmherzigen Schwestern, die sich um seine Bettpfanne und die durchgeschwitzten Decken kümmerten, hatten ihre Kittel an den Haken gehängt und sich den Feiernden -115-
angeschlossen, alldieweil der metaphysische Dicke unter dem Einfluß starker Betäubungsmittel unruhige Träume träumte. John Vincent Omally würde sich noch lange an diese Nacht zurückerinnern. Genau so, wie Jesus die Fünftausend mit ein paar alten jüdischen Brötchen und Bücklingen gefüttert hatte, so löschte Omally den Durst der Brentforder Einwohnerschaft. Wie bei dem Barmann aus der Legende, so war auch Johns Hand stets da, sobald ein Glas leer wurde, um es neu zu füllen. Jim Pooley erwachte am Morgen aus seiner trunkenen Vergessenheit und vernahm beinahe augenblicklich das laute Wirbeln eines Trommlerzugs, der sich im Innern seines Schädels austobte. Jim schüttelte den Kopf. Ein schlecht überdachter Zug. Der Trommelwirbel steigerte sich zu einem Furioso. Mühsam öffnete Jim ein blutunterlaufenes Augenpaar und erkannte das schnarchende Gesicht von Mrs. Naylor, Brentfords zügelloser Bibliothekarin. »Meine Güte«, murmelte Jim in sich hinein, »ich hatte scheint's gestern Abend tatsächlich einen Volltreffer.« Das Trommeln kam vo n unten, von der Eingangstür her. Es war der Ersatzpostbote. Jim erhob sich auf wacklige Beine und schlurfte in Richtung Schlafzimmertür. Die Worte »Nie wieder!« schafften es nicht bis über seine Lippen. »Hör auf!« flüsterte er, als das drängende Klopfen nicht nachlassen wollte. Er stolperte auf nackten Füßen die kahle Treppe hinunter und stieß sich zum zigsten Mal den dicken Zeh an dem Teppichnagel, der in der sechsten Stufe vergessen worden war. Er heulte auf und hüpfte auf einem Bein in die Diele hinunter, wo er sich zu seiner nicht geringen Überraschung in einem gewaltigen Berg von Papier wiederfand. Der gesamte Hausflur war bis zum Bersten mit Briefen und Postkarten gefüllt, buchstäblich Tausende davon, in jeder denkbaren Form, Farbe und Größe. Telegramme, -116-
Werbeprospekte, Ansichtskarten. Pooley rieb sich die Augen, während er halb vergraben in seinem postalischen Kissen lag. Er war sicher, daß das ganze Zeug am Abend zuvor noch nicht dagelegen hatte, doch weil die nächtlichen Stunden in seinem Gedächtnis durch ein gewaltiges schwarzes Loch repräsentiert wurden - wie durch die Anwesenheit der schnarchenden Frau in seinem Bett hinreichend bewiesen -, war Jims Überzeugung ihrer Natur nach rein subjektiv. Das wütende Klopfen hinter der Barrikade aus königlicher Post ging unablässig weiter. »Schon gut, schon gut!« flüsterte Jim. Er preßte die Hände an die Schläfen und kämpfte sich zur Tür vor. Mühsam befreite er die Tür von Postgut, um wem auch immer zu öffnen. »Post«, sagte der schwitzende Postbote und deutete mit dem Daumen über die Schulter auf ein gutes Dutzend prall gefüllter Säcke, die in einer unordentlichen Reihe auf dem Bürgersteig lagen. »Haben Sie vielleicht Geburtstag, Freund?« Pooley zuckte die Schultern und löste eine Lawine von Post aus, die ihn vorübergehend unter sich begrub. »Ich bin seit über einer Stunde damit beschäftigt, das Zeug in Ihren Briefkasten zu stopfen, und jetzt paßt nichts mehr hindurch. Entschuldigen Sie diese Abweichung von der Norm, doch ich muß darauf bestehen, daß Sie sich den Rest selbst in Ihren Schlitz stecken. Oder wohin auch immer. Ich bin als Aushilfe von Chiswick hier, weil der zuständige Postbote nicht zum Dienst erschienen ist. Was hat das alles zu bedeuten? Irgendein blöder Witz auf meine Kosten? Versteckte Kamera oder was?« Pooleys Schultern sackten unter der Papierlast nach unten. »Was ist das?« fragte er verständnislos. »Wer schickt mir all diese Post?« -117-
»Aus den Briefen, die mir rein zufällig offen in die Hand gefallen sind, konnte ich entnehmen, daß es sich größtenteils um Bittbriefe an einen wohlhabenden Mann handelt. Sagen Sie schon, hatten Sie vielleicht einen fetten Gewinn beim Toto?« »Etwas in der Art«, gestand Tim und startete einen Versuch, die Tür wieder zu schließen. Das verzerrte Postbotengesicht wurde unvermittelt freundlich. »Ach, tatsächlich?« sagte er mit plötzlicher Bedacht. »Dann möchte ich die Gelegenheit ergreifen, Ihnen als erster zu gratulieren.« »Sie sind aber nicht der erste«, erwiderte Jim. »Trotzdem, danke sehr. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen wollen?« Er kämpfte mit der Tür, doch der Postbote hatte einen entschlossenen Fuß hineingesetzt. Pooley stellte seine Bemühungen vorübergehend ein. »Ihr Fuß hat sich verfangen«, beobachtete er. »Es muß wundervoll sein, soviel Geld zu besitzen«, sagte der Postbote und schob sich vor. »Ich war mein ganzes Leben lang ein armer Mann. Nicht daß ich den Reichen ihr Geld nicht gegönnt hätte, verstehen Sie mich nicht falsch, doch ich habe schon oft überlegt, warum das Schicksal mich und die Meinen so arg im Stich gelassen hat.« »Tatsächlich?« sagte Jim ohne jedes Interesse. »So wahr ich hier stehe. Nicht, daß ich mich beschweren möchte, weil ich mit meinen von Arthritis verkrümmten Fingern bei jedem Wetter auf der Straße herumlaufen muß, um die Post auszutragen. O nein.« »Sehr nobel«, sagte Jim und startete einen neuerlichen Versuch, seine Haustür zu schließen - vergeblich. »Und meine arme Gemahlin!« fuhr der Postbote fort. »Eine heilige Märtyrerin, diese Frau. Wenn ich doch nur das Geld hätte, um die Operation zu bezahlen, die sie ganz bestimmt von -118-
ihrem Leiden erlösen würde.« »Ich drücke Ihnen die Daumen.« »Und mein armer, armer blinder Sohn Kevin!« »Nehmen Sie Ihren verdammten Fuß aus meiner Tür!« Der Briefträger erkannte ein sinnloses Unterfangen, wenn er eins sah, und so zog er den Fuß zurück und trat damit gegen den nächsten Postsack. Er kippte um, und der Inhalt verstreute sich auf dem Pflaster oder wurde von der frischen Brise davongeweht. »Privilegierter Bastard!« zischte der Postbote dem zurückweichenden Pooley hinterher. »Eines Tages, wenn die Revolution kommt, werden du und deinesgleichen die ersten sein, die an der Wand stehen. Kapitalistenschwein!« Pooley warf hastig die Tür ins Schloß und stand in einem Berg von Briefen. Er hatte in der Vergangenheit selbst den einen oder anderen Bittbrief abgeschickt, und jetzt wußte er, wie man sich fühlte, wenn man auf der Empfängerseite stand. Es gefiel ihm kein Stück. Ohne die Post zu lesen oder die schnarchende Frau in seinem Bett zu wecken, verließ er das Haus durch den Hintereingang. Jetzt saß er auf seiner Bank vor der Memorial-Bücherei. Die Sonne war längst aufgegangen, und alles sah ganz nach einem wunderbaren Tag aus. Jim seufzte traurig und musterte in unregelmäßigen Abständen die Innenfläche seiner rechten Hand. Er war kein glücklicher Mann, beileibe nicht. Er war jetzt ein Gentleman von ganz beträchtlichem Ansehen, und das bereitete ihm nicht wenig Kopfzerbrechen. Das entsetzliche Gefühl von Verantwortung, etwas, das er vorher niemals gekannt hatte, lastete schwer auf seinen Schultern. Es war alles viel zu viel. Die Summe seines Reichtums war so gewaltig, daß er kaum daran zu denken wagte, und im Verlauf der Nacht und bei den -119-
gegenwärtigen Zinsen war sie schon jetzt in einem alarmierenden Ausmaß gestiegen. Jim gab ein kläglich jammerndes Geräusch von sich und vergrub das Gesicht in den Händen. Es war einfach zuviel. Er hatte nie besessen, was man gemeinhin als »Geld« zu bezeichnen pflegt, und ganz sicher nicht das, was er jetzt besaß. Einmal hatte er einen Überziehungskredit gehabt, doch auch der war nicht besonders hoch gewesen. Und die Art und Weise, wie er zu seinem Vermögen gekommen war. Sie schien nicht richtig. Kein Wettbüro konnte soviel Geld unter der Ladentheke bereithalten. Selbst wenn, dann war es mehr als unwahrscheinlich, daß man es einfach so über den Tresen geschoben bekam, ohne daß es vorher zu einem Kampf auf Leben und Tod gekommen wäre, Pistolen gezückt, Kniescheiben als gefährdete Spezies. Aber nichts von alledem. Gemeinsam mit Omally hatte Jim nicht weniger als sechsundzwanzig Schubkarren voller Geld von Bobs Laden zur Bank geschafft. Es war unglaublich und schlichtweg lächerlich! Und die Bank? Pooley stöhnte erbarmungswürdig. Sie hatten getan, als wäre es die normalste Sache der Welt. Als sei Jim lediglich gekommen, um ein paar Pfund von seinem Gehaltskonto abzuheben. Fast, als hätte man ihn bereits erwartet. Durch das kugelsichere Glas des Büros hindurch hatte Pooley den Zweigstellenleiter an seinem Schreibtisch sitzen sehen, ein paar winziger Kopfhörer über den Ohren, ein Mikrophon vor dem Gesicht. Er hatte ihm zugenickt und seine Finger knacken lassen. Bei dem Gedanken hob Pooley die Hand und untersuchte die Innenfläche. Die Bank hatte sich geweigert, ihm eine Bescheinigung oder auch nur ein Scheckheft auszuhändigen. Mit unverhüllter Herablassung hatte man ihm eröffnet, daß diese Methoden persönlichen Finanzmanagements längst obsolet seien -120-
und man aus Sicherheitsgründen darauf bestehen müsse, ihn mit dem neuartigen persönlichen Identifikationssystem auszustatten. Sie hatten seine rechte Handfläche mit achtzehn schmalen Barcodelinien tätowiert; drei Reihen mit je sechs Strichen. Sechs-sechs-sechs. Pooley spuckte sich in die Hand und rubbelte über die Markierung. Sie ließ sich nicht auslöschen. Er gab das Stöhnen und Jammern fürs erste auf und erging sich in einer Reihe tief empfundener Seufzer. Jim war in etwas verwickelt worden, das mehrere Nummern zu groß für ihn war.17 Hätte er doch nur auf Professor Slocombe gehört und seinen Wettschein zerrissen. Das plötzliche Quietschen weißwandiger Reifen auf Asphalt kündete vom Eintreffen Antoines. Er hatte Pooleys neues Auto dabei. Jim erinnerte sich nur dunkel an die Vereinbarung, die er am Abend zuvor mit dem Chauffeur getroffen hatte. »Ihr Wagen wartet, Sir«, sagte der Chauffeur der Reichen, nachdem er aus dem Automobil gesprungen war, um Jim einladend die Tür aufzuhalten. Jim war wie betäubt. Der Wagen, ein silberfarbener Morris Minor und ein Modell, das schon seit wenigstens fünfzehn Jahren nicht mehr gebaut wurde, sah aus wie nagelneu. Jims düstere Stimmung verflog. »Woher haben Sie denn den?« fragte er, nachdem er aufgestanden war und das automobile Juwel ausgiebig in Augenschein genommen hatte. »Von dem Geld erstanden, daß Sie vorgeschossen haben, Sir«, antwortete Antoine höflich. »Und er hat nicht gerade wenige technische Leckerbissen unter der Haube, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.« Pooley umrundete den Wagen voller Bewunderung und fuhr mit der unmarkierten Hand über den strahlenden Metalliclack. -121-
»Meine Güte«, sagte er. »Der ist einsame Spitze!« »Und was sagen Sie zu den Nummernschildern?« Antoine deutete auf selbige. JP1. »Superspitze!« sagte Jim. »Wollen Sie vielleicht eine Probefahrt unternehmen?« »Absolut.« Jim klatschte in die Hände und kicherte. Vielleicht hatte das Reichsein trotz allem auch seine guten Seiten. Antoine klappte den Fahrersitz nach vorn, und Jim kletterte in den Fond. Der Chauffeur nahm hinter dem Volant Platz und schloß die Tür. »Was ist das dort alles?« erkundigte sich Jim und deutete auf das Armaturenbrett. Es hatte nichts von einem Morris Minor an sich. »Spezialanfertigung«, antwortete Antoine. »Von der TORE & FENSTER CORP., die das alte Morris -Patent gekauft hat. Dieser Morris hier beschleunigt in weniger als vier Sekunden von Null auf Hundert. Er besitzt eine vollautomatische, wetterabhängige Klimatisierung und verbraucht dank seines verbesserten Plasmaantriebs so gut wie keinen Treibstoff. Kennen Sie sich vielleicht in Quantenmechanik aus?« »Nicht besonders«, erwiderte Jim. »Solarbetriebene Hauptscheinwerfer mit negativer Energiebilanz, untergebaute Gleitsuspensoren, Sublift- nondriftGravitationsschubdüsen …« »Fahren Sie bitte los«, unterbrach ihn Jim. »Ich sage Bescheid, wenn Sie anhalten sollen.« »Und wohin, Sir?« erkundigte sich Antoine. Er fädelte sich mit dem grotesken Vehikel in den Verkehr ein und beschleunigte augenblicklich auf Mach 10. Pooley wurde tief in den Sitz gepreßt, die Wangen rutschten hinter die Ohren, und sein Gesicht erinnerte mit einem Mal an -122-
das des legendären Gwynplaine in Victor Hugo Runes Lachendem Mann18 . »Nicht so schnell!« beschwerte er sich. »Vordere Reservegravitationskompensatoren eingeschaltet«, vermeldete Antoine. Er berührte einen beleuchteten Sensor auf dem Armaturenbrett. Pooley wurde nach vorn geschleudert, als der Druck abrupt nachließ. »Eine kleine Spritztour durch die Gemeinde, Sir? Vielleicht zu den ansehnlicheren Anwesen mit Verkaufsschildern auf dem Grün vor dem Haus?« »Hä?« »Meine vorhergehenden Arbeitgeber bevorzugten die große Tour.« »Ich dachte, Sie hätten für Bob gearbeitet?« »Nur in der Mittagszeit, Sir. Ich bin Freiberufler.« »Sehr lobenswert.« Der Wagen bog auf zwei Rädern in die Mafeking Avenue ein und verfehlte nur knapp den Alten Pete und seinen Hund Chips, die dem zügig am Horizont entschwindenden Heck des silbernen Wagens einen drohenden Effenberg19 hinterherschüttelten. »Und wie viele Auftraggeber haben Sie?« »Nur Sie, Sir«, antwortete Antoine. »Ich habe allen gedient, die den großen Glückstreffer gelandet haben. Einem nach dem anderen.« Der Morris jagte am Memorial-Park vorbei und wurde immer noch schneller. »Einem nach dem anderen? Und wie viele waren das bisher?« »Fünfundzwanzig, Sir. Obwohl keiner von ihnen so viel gewonnen hat wie Sie.« Der Chauffeur räusperte sich mit einem merkwürdig mechanischen Laut. Pooley kratzte sich am Kopf. Er hatte gar nicht gewußt, daß es -123-
in der Gegend in letzter Zeit große Gewinner gegeben hatte. Plötzlich roch er den Großvater aller stinkenden Braten. »Halten Sie an«, verlangte er. Antoine saß tief über die computergestützten Kontrollen gebeugt. Sein Gasfuß näherte sich der Motorwanne, und die frisierte Familienkutsche ging in eine weitere schier unglaubliche Beschleunigungsphase über. »Halten Sie augenblicklich an!« rief Jim. »Irgend etwas stinkt hier ganz gewaltig, und ich verspüre nicht die geringste Lust darauf!« »Stinkt?« grinste Antoine. Pooley konnte das Gesicht des Chauffeurs im Rückspiegel erkennen, und es war kein Gesicht, dem er in seinen Träumen begegnen mochte. Die normalerweise liebenswürdigen Gesichtszüge Antoines hatten sich in eine unmenschliche Maske der Grausamkeit verwandelt. Die Augen glühten in tiefen Höhlen, und die gebleckten Lippen entblößten zwei Reihen bösartig aussehender metallischer Zähne. Antoine sah nicht mehr aus wie ein Mensch, sondern wie etwas Atavistisches, dunkel und voller böser Macht. Der fliegende Morris schoß durch die kurze gepflasterte Gasse zwischen Polizeirevier und Bienenkorb hindurch, bog nach rechts in das Rotlichtviertel ab und raste weiter über eine rote Ampel auf die Hauptstraße. Eigentlich hätte er dort im morgendlichen Berufsverkehr eingekeilt zum Stehen kommen müssen, doch zu Pooleys wachsendem Entsetzen lag die Hauptstraße leer und verlassen da, und kein Mensch war auf den Bürgersteigen zu sehen. »Anhalten, sage ich!« kreischte Pooley. »Ich zahle alles, was Sie wollen, nennen Sie einen Betrag!« Antoine lachte bösartig, und die Laute aus seiner Kehle klangen wie das Geräusch scharfkantiger Steine, die man in einem Blecheimer schüttelt. -124-
Pooley konsultierte zum ersten Mal an diesem Morgen sein Gehirn. »Nimm dir den Fahrer vor«, lautete dessen Ratschlag. Jim beugte sich vor und wollte Antoine an den Hals, doch seine ausgestreckten Hände trafen auf eine unsichtbare Barriere aus leerer Luft. Das widerliche Geräusch splitternder Fingernägel und ausgekugelter Daumen wurde nur von Jims herzhaftem »Aaaaaagh!« übertönt. »Ein Sicherheitsschild für den Fahrer«, schnarrte der dämonische Chauffeur, während Jim in seinen Sitz zurücksank und die verletzten Hände in den Achselhöhlen vergrub. Der Wagen bog in eine Seitenstraße ein, die Jim merkwürdig bekannt vorkam, und raste weiter auf den … Jim versteifte sich mit einem Mal in seinem Sitz … auf den Rand des alten Brentforder Steinbruchs zu! Jim erinnerte sich nur zu genau an diesen Ort. Er hatte als Knabe dort herumgestöbert. Die Wände fielen fünfzig Fuß senkrecht in die Tiefe. Jim war unterwegs zu einer Verabredung mit niemand anderem als der guten alten Nemesis selbst. Es war allerhöchste Zeit sich ganz schnell einen schlauen Plan einfallen zu lassen. Pooley legte seinen sechsten Gehirngang ein. Ein immer noch schneller werdender Morris, ein wahnsinniger Fahrer am Steuer, nur zwei Türen, von denen er durch eine unsichtbare Barriere getrennt war. Kein Sonnendach. Und bis zur Nemesis nur noch fünfhundert Yards. Jim kaute auf der Unterlippe. Sorgenvolle Perlen aus Schweiß versammelten sich auf seiner Stirn. Es gab keine Fluchtmöglichkeit. Weder nach vorn noch nach oben … aber vielleicht … Man kann vom Morris Minor halten, was man will, doch jeder muß zugeben, daß dieses Auto gar manche liebenswürdige Macke besitzt. Fragen Sie irgendeinen Fahrer, und er wird von Dingen wie Komfort, Luxus, -125-
Treibstoffverbrauch oder dem offensichtlichen Prestige des Besitzers sprechen. Und wenn dann der gleiche Mann vor seinem verschlossenen Automobil steht und der Schlüssel innen im Zündschloß steckt, dann wird eben dieser Mann ein dankbares Stoßgebet für das stets defekte Kofferraumschloß und die umlegbare Rücksitzbank zum Himmel senden. Pooley hatte auf diese Weise an trunkenen Abenden in mehr als einem Minor genächtigt, wenn das Gefühl übermächtig war, daß weiteres Nach-Hause-Schwanken außer Frage stünde. Diesmal würde er genau den umgekehrten Weg einschlagen. Nemesis war keine zweihundertfünfzig Yards mehr entfernt. Während der Wagen unablässig weiter seinem Ziel entgegenraste, fummelte Jim mit seinen verletzten Fingern hektisch an den Halterungen der Rückenlehne. Mit der Sorte übermenschlicher Anstrengung, die jedem beliebigen aus einem ganzen Dutzend Helden Karl Mays20 zur Ehre gereicht hätte, warf er sich in den Kofferraum und öffnete den Deckel. Ein mächtiger Satz, und Jim war frei. Der Wagen schoß über die Klippe hinaus und stürzte sich in das Nichts, während Jim auf die Straße prallte und sich wie eine Lumpenpuppe immer und immer wieder überschlug. Wenige Yards vor dem verhängnisvollen Abgrund kam er zur Ruhe. Von unten drang eine laute Explosion herauf, eine Flammensäule schoß gen Himmel, und ein rasch wachsender schwarzer Rauchpilz kündete vom traurigen Ende eines stolzen Fahrzeugs. Pooley startete einen kraftlosen Versuch, sich zu erheben, doch er war nicht von Erfolg gekrönt. Jeder einzelne Knochen im Leib schien wenigstens ein Dutzend Mal gebrochen zu sein. Pooleys Kopf zum Beispiel saß verkehrt herum auf dem Hals. Eine Woge aus Dunkelheit schlug über unserem gefallenen Helden zusammen, und das tröstende Nichts der Bewußtlosigkeit erlöste ihn. -126-
Kapitel 14 John Vincent Omally eilte über den Kiesweg auf die stets offenen Verandafenster von Professor Slocombe zu. Der alte Gelehrte saß in einem Lehnsessel beim Kamin und war in eine ernste Unterhaltung mit seinem Gast aus einem vergangenen Zeitalter vertieft. Als er Omally bemerkte, winkte er in vertrauter Manier in Richtung der Whiskykaraffe. »Und wo ist unser glücklicher Jim?« erkundigte sich Holmes. »Hat er bereits Schritte unternommen, um die Brauerei zu kaufen?« Omally schüttelte den Kopf, und auf seinem Gesicht stand mehr als eine Spur von Bitterkeit. »Ich war mit Jim auf seiner Bank verabredet. Wir wollten eine Nilkreuzfahrt planen.« John schleuderte den Stapel Urlaubsprospekte in das Kaminfeuer, den er in der Nacht zuvor requiriert hatte. »Ich hab' ihn nicht gefunden. Zweifellos liegt er noch in diesem Augenblick in den Armen irgendeiner geldgierigen Frau. Oh, welch ein grausames Schicksal!« »Das ist es in der Tat«, stimmte Holmes ihm düster zu. »Der glückliche Jim ist möglicherweise gar nicht so glücklich, wie er gegenwärtig noch von sich glauben mag.« »Wir haben gestern nacht ziemlich auf die Pauke gehauen, das ist eine Tatsache. Jim war so klug, eine Schubkarre für Unkosten zurückzuhalten. Er war mehr als großzügig.« »Das habe ich nicht anders erwartet. Ich bedaure, daß wir nicht imstande waren, die Festlichkeiten zu besuchen. Verraten Sie mir eins: Gehe ich recht in der Annahme, daß Jim gestern abend Handschuhe getragen hat?« Omally nickte. »Er meinte, er hätte von dem ganzen Geld einen Ausschlag bekommen. Ich hab' nicht weiter darüber nachgedacht, Sie wissen ja, wie diese Millionäre sind. Laufen in -127-
sterilen Anzügen durch die Gegend und trinken ihre Campbellsuppe aus Einwegporzellan. Nichts Ungewöhnliches bei diesen Burschen.« Sherlock Holmes beugte sich in seinem Sessel vor. »Dürfte ich Sie bitten, mir Ihre Hände zu zeigen?« Hastig versteckte Omally seine beiden oberen Extremitäten hinter dem Rücken. »Aha«, sagte der berühmte Detektiv. »Dachte ich's mir doch. Sowohl die Tür als auch alle Fenster, wenn ich mich nicht irre?« Omally biß sich auf die Lippe und nickte reumütig. »Bis vor wenigen Minuten jedenfalls.« Professor Slocombe warf Holmes einen verständnislosen Blick zu. »Eine Sache der Deduktion, mein lieber Slocombe«, erklärte der Mann aus dem vergangenen Zeitalter. »Wollen sehen, ob ich die Szene nicht rekonstruieren kann … Mister Omally hier hat dabei zugesehen, wie sein lieber Freund Pooley im Verlauf von nicht mehr als eineinhalb Stunden zum Multimillionär geworden ist. Er hat ihm geholfen, seine Reichtümer zur Bank zu transportieren. Anschließend haben die beiden ein rauschendes Fest gefeiert und sind erst am Morgen in ihre jeweiligen Wohnungen heimgekehrt. Doch unser Freund hier kann nicht schlafen. Er geht in seinem Zimmer auf und ab, wird von Zweifeln gequält. Wird das Geld seinen Kumpan verändern, wird es ihre langjährige und tiefe Freundschaft zerstören? Wird Pooley ihm den Rücken zuwenden? Irgendwann hält er es nicht mehr länger aus. Er faßt einen Entschluß. Er wird auf der Stelle aufbrechen und zu Pooleys Haus gehen, um seinen Freund herauszuklopfen. Doch niemand reagiert. Er versucht die Eingangstür zu öffnen, vergebens. Nach zahlreichen fruchtlosen Bemühungen probiert er, eins der Fenster zu öffnen, mit genau dem gleichen Ergebnis. Das Glas läßt sich nicht einmal mit Gewalt einschlagen.« -128-
Professor Slocombe blickte Omally fragend an, der mit weit aufgerissenem Mund Holmes' Ausführungen gelauscht hatte. »Stimmt das, John?« erkundigte sich der alte Gelehrte. »Zum größten Teil, Professor. Was mir einen Heidenrespekt einjagt, das kann ich Ihnen verraten.« »Wir haben es mit sehr machtvollen Kräften zu tun«, fuhr Sherlock Holmes fort und sprang aus seinem Sessel. »Ich denke, für unsere nächsten Züge ist größte Eile geboten, falls auch nur die kleinste Hoffnung auf eine Rettung Jim Pooleys bestehen soll. Beten Sie, daß die Spur noch nicht erkaltet ist.« Ohne ein weiteres Wort schlüpfte er in seine Tweedjacke und stapfte durch die Verandafenster nach draußen. Professor Slocombe folgte ihm auf dem Fuß. Omally schüttelte voller Unglauben den Kopf, kippte seinen Whiskey hinunter und machte sich daran, den beiden hinterherzulaufen. Holmes stapfte durch die weitläufige, baumbestandene Prachtstraße von Butts Estate und hielt auf die MemorialBücherei zu. Vor Jim Pooleys Lieblingsbank machte er Halt und ließ sich auf Hände und Knie nieder. »Aha«, sagte er nach kurzer Zeit und hob den Stummel einer teuren Zigarette auf. »Er war hier und ist dann aufgestanden und an den Straßenrand getreten.« Omally und der Professor sahen sich an. Omally zuckte die Schultern. Holmes untersuchte die Straße. »Hier ist er in ein Automobil eingestiegen, das mit überhöhter Geschwindigkeit losgefahren ist.« »Können Sie vielleicht noch das Nummernschild identifizieren?« erkundigte sich Omally in einem Tonfall, der keinesfalls Zynismus entbehrte. Holmes bedachte den Iren mit einem kühlen Blick. »Ich kann Ihnen verraten, daß ihm ein Gentleman ausländischer Herkunft -129-
die Tür aufgehalten hat, der das Haar auf der linken Seite gescheitelt und handgemachte Schuhe trägt. Größe siebeneinhalb.« Omally riß die Augen auf. »Antoine! Der Chauffeur von Bob dem Buchmacher!« »So lautet auch meine Schlußfolgerung. Und jetzt, meine Herren, wollen wir keine weitere Zeit mehr verschwenden. Ich schlage im Gegenteil vor, daß wir uns sehr sputen. Zeit ist von ausschlaggebender Bedeutung.« »Gehen Sie vor!« sagte John Omally. Von der Memorial- Bücherei bis zum alten Steinbruch war es ein gutes Stück zu laufen, doch Holmes führte die beiden anderen, ohne ein einziges Mal die Spur zu verlieren. Unterwegs ließ er sich hier und dort auf alle viere nieder und untersuchte den Straßenbelag. Jedesmal war Omally ganz sicher, daß der berühmte Detektiv sich verirrt hatte, doch jedesmal erhob sich Holmes wieder und führte sie weiter. Nach einer geraumen Weile bogen die drei Männer in die Straße ein, die zu dem alten Steinbruch führte. Ein gutes Stück voraus lag die verkrümmte Gestalt, die einst Jim Pooley gewesen war. Mit einem Aufschrei stürzte Omally vor und blieb über dem Reglosen stehen. »O nein!« flüsterte er und sank in die Knie. »O nein! Das war die Sache nicht wert!« Langsam näherten sich Sherlock Holmes und Professor Slocombe. Der alte Mann stand auf seinen Stock gestützt, und sein Atem ging schrecklich pfeifend. »Ist er …?« Die Worte blieben dem Professor in der Kehle stecken. Omally vergrub das Gesicht in den Händen. »Mein bester, einziger Freund!« murmelte er mit brechender Stimme. Er setzte sich auf die Hacken und starrte zum Himmel hinauf. Tränen -130-
quollen aus seinen dunkelblauen Augen und rannen über seine unrasierten Wangen. »Warum?« brüllte er ins Firmament hinauf. »Warum nur, sag mir das!« Holmes trat vor. Er bückte sich und öffnete Pooleys leblose Rechte. Die achtzehn schmalen Linien leuchteten düster im hellen Sonnenschein. »Es gibt nichts, das wir für ihn tun könnten«, sagte er schließlich. »Nein!« Omally stieß die Hand des Detektivs zur Seite. »Lassen Sie ihn in Frieden! Sie sind ein Teil von alledem! Was zur Hölle geht hier überhaupt vor? Warum ist das passiert?« »Beruhige dich, John«, sagte der Professor und legte eine schlanke Hand auf die Schulter des Iren. »Laß uns gehen. Wir können nichts mehr tun.« Omally blickte den alten Mann voller Bitterkeit an. »Sie wußten von Anfang an Bescheid, nicht wahr? Sie wußten, daß etwas Schlimmes vorging. Sie hätten es aufhalten müssen! Sie und ihre Zahlen und ihre Magie!« »Komm jetzt, John. Bitte.« Langsam mühte sich Omally auf die Beine. Er starrte auf die sterblichen Überreste seines Freundes. »Ich werde den Mann umbringen, der dir das angetan hat, Jim«, stieß er haßerfüllt hervor. Professor Slocombe legte John einmal mehr die Hand auf die Schulter und führte den taumelnden Mann vom Ort des Unglücks weg. »Das ist ja alles schön und gut«, ertönte eine Grabesstimme, »aber könnte mir vielleicht mal jemand den Kopf in die richtige Richtung drehen?« Omally wirbelte herum. »Jim! Jim, du alter Bastard!« »Wer denn verdammt noch mal sonst? Mein Kopf, John! Wenn du bitte so freundlich sein könntest? Das ist höchst ungemütlich so.« -131-
Die Burschen im Cottage-Hospital gingen äußerst gründlich zu Werke. Sie verbrachten ihre Tage in der Regel mit Dominospielen und der Suche nach verlegten Spritzen, und so waren sie mehr als begierig, die Herausforderung anzunehmen, die Professor Slocombe ihnen mit dem blutigen Etwas präsentierte. Ein Lichtgriffel, der rasch über die Linien der rechten Hand gezogen wurde, wies Jim Pooley als Privatpatienten aus, und die Ärzte machten sich mit großer Gründlichkeit ans Werk. Wäre Professor Slocombe nicht Mitglied des Aufsichtsrats gewesen, wären die Ärzte ganz ohne Zweifel noch ein Stück gründlicher gewesen. Aller Wahrscheinlichkeit nach bis hin zu ein oder zwei Sondierungsoperationen und der Entfernung von Pooleys Mandeln als Zugabe. So jedoch beschränkten sie sich darauf, zu betasten und zu fühlen, Jod zu applizieren, Röntgenaufnahmen zu schießen, Jim die Unterhosen auszuziehen, seinen Kopf nach rechts und links zu drehen, ihn husten zu lassen und - bei zweiter Überlegung - gegen Tetanus, Diphterie, Mumps, Keuchhusten und Scharlach zu impfen. Schließlich begann im Fernseher des Hospitals die Schwarzwaldklinik, und man entließ Jim eilig, wenn auch freundlich, zusammen mit einer großen Rechnung und einem Rezept auf so viel Interferon, daß kein Apotheker der Welt die Menge hätte liefern können. »Man stelle sich das vor!« sagte Omally, als die vier Männer draußen auf der Straße standen. »All dieser Wirbel, und kein einziger Knochen gebrochen!« Pooley betastete zweifelnd seine verschrammten Gliedmaßen. »Ich will dich nicht mit meiner Meinung über die nationale Gesundheitsversorgung langweilen«, sagte er, »oder meine eigene Zeit damit verschwenden, daß ich mein Schicksal beklage, denn ich weiß, daß all meine Worte wie immer auf taube Ohren stoßen.« -132-
Die Vier wanderten in Richtung Butts Estate davon und erreichten schließlich das Arbeitszimmer des Professors. Der Invalide, der auf einen stark gepolsterten Sessel verfrachtet wurde, erhielt augenblicklich ein großes medizinisches Glas Whisky, das er auch prompt zu sich nahm. »Meinen Dank«, sagte Jim, als er das Glas abgesetzt hatte. Die Sonne tanzte über den Teppich, und die vier Männer lagen ermattet in ihren Sesseln. Keiner verspürte Lust, als erster die lastende Stille zu brechen. Pooleys Glieder knackten und knarrten und beschwerten sich beieinander. Mit zitternder Hand schenkte er sich ein weiteres Glas Medizin ein. Holmes und Professor Slocombe tauschten gelegentlich wissende Blicke, und ansonsten schien der alte Gelehrte in die Betrachtung des silbernen Pentagramms versunken, daß an seiner Uhrenkette baumelte. Omally trommelte mit den Fingern geräuschlos auf den Polsterlehnen seines Sessels und wartete darauf, daß der Sturm losbrach; die Stille nahm rasch drückende Dimensionen an. Schließlich hielt Pooley es nicht länger aus. »Also schön«, sagte er und erhob sich vorsichtig. »Was geht hier vor? Ihr alle wißt eine Menge mehr als ich.« »Ich nicht«, widersprach Omally. »Allerdings erwacht in mir langsam ein Verdacht.« »Was geht hier vor?« wiederholte Pooley an den Professor gewandt. »Ich habe gerade wie durch ein Wunder das Attentat eines wahnsinnigen Chauffeurs überlebt, und das sollte eigentlich Grund genug zum Feiern sein, oder nicht? Wäre ich tot, würde Omally hier sicher längst auf mein Gedenken trinken.« Professor Slocombe erhob sich aus seinem Sessel und ging zum Schreibtisch, um die aktuelle Ausgabe des Brentforder Merkur zur Hand zu nehmen. Er hielt Pooley die Titelseite hin. »Hast du das hier gelesen?« fragte er. -133-
Pooley überflog die rot umrandete Meldung mit wenig Interesse und noch weniger Verständnis. »Da steht was von Computerbarcodes«, sagte er, und weder Professor Slocombe noch Sherlock Holmes entging, daß er die rechte Hand unauffällig in die Tasche steckte. »Es ist viel mehr als das«, erklärte der alte Mann. »Es ist ein wichtiges Bindeglied in einer Kette dunkler Ereignisse, die, falls es uns nicht gelingt sie zu durchtrennen, uns irgendwann alle umschlingen und ins Verderben reißen wird.« »Na, so schlimm wird es doch wohl nicht sein«, entgegnete Jim. »Da steht nur irgendwelcher Unsinn über Banken und Computer, weiter nichts. Beruhigen Sie sich wieder.« Der alte Professor schüttelte den Kopf. »Unglücklicherweise stimmt das nicht. Hinter dieser Meldung steckt weit mehr. Sie ist der schlüssige Beweis dafür, daß meine schlimmsten Befürchtungen begründet sind und in diesem Augenblick die Prophezeiungen der Johannesoffenbarung Wirklichkeit werden.« »Sie machen Witze, oder?« Professor Slocombe schüttelte einmal mehr den Kopf. »Glaub mir, ich meine es ernst«, entgegnete er. »Wir stehen der größten Bedrohung gegenüber, die die Menschheit seit der Sintflut erlebt hat. Wir stehen vor dem finalen Konflikt. Der Apokalypse. Und in diesem Augenblick werden die Vorhänge zugezogen.« »Nein.« Jim schüttelte heftig den Kopf. Ein schlechter Zug. »Was in diesem alten Buch steht ist alles ziemlich deprimierend. Sehen Sie mich an! Ich habe zwar einen leichten Rückschlag erlitten, doch das war das Ergebnis reiner Boshaftigkeit seitens Bob des Buchmachers. Nur weil ich gewonnen habe und er ein wenig versengt im Hospital liegt. Ich bin zwar verletzt, aber ich bin reich! Die Götter meinen es gut mit mir!« »Nein«, widersprach Professor Slocombe. »Geld kann dich nicht retten, Jim. Ganz besonders Geld von der Sorte, das -134-
niemals für dich gedacht war.« Pooley kratzte sich am Kopf, und eine feine Staubwolke stieg auf. »Sie könnten nicht vielleicht ein wenig deutlicher werden, Professor?« fragte er. »Verstehen Sie, diese Nachricht trifft mich in einem ziemlich unpassenden Augenblick. John und ich wollen nämlich zusammen in Urlaub fahren, und Armageddon käme uns und unseren Travellers Cheques sicher nicht wenig in die Quere.« Der Professor tat was er bereits vorher mehrfach getan hatte. Er schüttelte den Kopf. Jim empfand die Angewohnheit allmählich als ärgerlich. Er hatte Millionen Pfund auf der Bank und war begierig darauf, das Geld auszugeben, bevor es von den Motten gefressen wurde. »Glaubst du eigentlich allen Ernstes, du wärst ein Liebling der Götter, Jim?« fragte der Professor. Jim nickte geräuschvoll. »Im Augenblick ja, ganz sicher.« »Also schön. Meinetwegen. Ich fasse mich kurz, aber es wird dadurch nicht besser. Wir werden uns wieder sprechen. Für jetzt möchte ich dir nur ein oder zwei Verse aus der Offenbarung vorlesen. Möglich, daß du dann anders über die Sache denkst, wahrscheinlich aber nicht.« Definitiv nicht, dachte Jim Pooley, doch das behielt er für sich. Der Professor trat wieder zu seinem Schreibtisch und setzte sich vor eine große, aufgeschlagene Familienbibel. »Ich komme ohne Umschweife zur Sache«, sagte er, »da du offensichtlich glaubst, daß deine Zeit kostbar ist. Ich werde dir einfach die entscheidende Stelle vorlesen und dir Gelegenheit geben, über das Geschriebene nachzudenken.« »Ich danke auch schön«, erwiderte Jim ohne rechte Überzeugung. »Offenbarung, Kapitel dreizehn«, erklärte der Professor. »Es -135-
handelt von dem Tier, das aus dem Meer steigt. Wir richten unsere Aufmerksamkeit auf die Verse sechzehn, siebzehn und achtzehn.« Die letzte Zahl betonte er mit ganz besonderem Ernst. »Schießen Sie los, Professor.« Slocombe richtete seinen Elfenbeinkneifer und las laut aus dem aufgeschlagenen Buch vor: 16. Die Kleinen und die Großen, die Reichen und die Armen, die Freien und die Sklaven, alle zwang es, auf ihrer rechten Hand oder ihrer Stirn ein Kennzeichen anzubringen. 17. Kaufen oder Verkaufen konnte nur, wer das Kennzeichen trug; den Namen des Tiers oder die Zahl seines Namens. 18. Hier braucht man Kenntnis. Wer Verstand hat, berechne den Zahlenwert des Tiers. Denn es ist die Zahl eines Menschennamens; seine Zahl ist sechshundertsechsundsechzig. Der Professor schloß sanft das Heilige Buch und blickte Jim Pooley an. Der Millionär hatte sich in seinem Sessel kerzengerade aufgerichtet, und er starrte aus weit aufgerissenen Augen in die offene Fläche seiner rechten Hand, wo der Computerbarcode unauslöschlich eintätowiert war. Achtzehn schmale Linien. Drei Reihen aus jeweils sechs. Die Zahl eines Menschen, sechshundertsechsundsechzig. 666 Die Zahl des Tiers. Mit einem Mal wurde Jim Pooley einiges klar. »O mein Gott!« sagte John Vincent Omally, der als Ire nicht unvertraut mit der Heiligen Schrift war. »Wieso habe ich von Anfang an gewußt, daß Sie genau diese Verse für den heutigen Tag auswählen würden?«
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Kapitel 15 Kurz nach fünf Uhr nachmittags ließen Pooley und Omally Professor Slocombes Haus hinter sich und machten sich auf den weiten Weg zum Fliegenden Schwan. Der alte Mann hatte zwar einen guten Tee serviert, doch weder Pooley noch Omally verspürten großen Appetit auf das in ihren Augen deutlich messianische Gelage. Mit knurrenden Mägen und unter zahlreichen leisen Flüchen zockelten sie über die Straße, ohne die bunten Wimpel zu beachten, die an den großen Roßkastanien flatterten und das bevorstehende Brentforder Festival ankündigten. Pooley war tief in Gedanken versunken. Er hielt den Kopf gesenkt und hatte die Hände tief in den Hosentaschen vergraben. Sein letzter Anzug war vollkommen hinüber und besaß keinen rechten Ärmel mehr, weil eine übereifrige Krankenschwester, ganz offensichtlich unter dem Einfluß zu vieler Aldo-ReyFilme, sich mit einer chirurgische n Schere daran vergangen hatte, um Jims zerschrammten Ellbogen freizulegen. Der Gedanke, daß er sich leicht tausend Anzüge von der maßgeschneiderten Saville-Row-Kategorie leisten konnte, trug kaum zu seinem Trost bei, während er in der Hosentasche mit dem rechten Daumennagel über die gravierte Stelle seiner Handinnenfläche fuhr. Omally kämpfte wie stets mit seinem eigenwilligen Drahtesel Marchant. Der alte Knabe hatte sich in letzter Zeit einen wirklich ärgerlichen Linksdrall zugelegt, was entweder besorgniserregendes Anzeichen einer politischen Gesinnung oder etwas noch Schlimmeres war. »Gib endlich Ruhe!« grollte Jim, als Marchant ihm wieder einmal über den Fuß zu rollen versuchte. Nach einer Zeitspanne, die jedem der drei wie eine Ewigkeit erschien, trafen sie vor dem einladenden Portal des Fliegenden -137-
Schwans ein. Und stellten zu ihrem wachsenden Entsetzen fest, daß es nicht länger einladend war. Ein großes Plastikschild im Vorderfenster verkündete aller Welt in großen Druckbuchstaben: ›DAS BESTELLEN VON RUNDEN IST IN ZUKUNFT NACH MASSGABE DER BRAUEREI UNTERSAGT‹, und weiter: ›JEDER GAST, DER VERSUCHT, DIESE REGEL ZU BRECHEN, ERHÄLT UNBEFRISTETES LOKALVERBOT‹. »Bei allen Heiligen!« sagte Omally und wandte sich auf wackligen Knien zu seinem Kumpan um. »Würdest du bitte einen Blick darauf werfen?« Pooley schürzte die Lippen. »Das ist zuviel! Jetzt wird mir auch noch verwehrt, mein Geld auszugeben, wie es mir Spaß macht!« Er schob Omally zur Seite und stieß die Tür der Salonbar auf. Der Fliegende Schwan war leer bis auf einen bleichen jungen Mann mit Kopfhörern, der hinter dem Tresen lümmelte, und zwei Vollzugsgehilfen der Brauerei in eintönig grauen Overalls, die allem Anschein nach damit beschäftigt waren, einen glänzenden Apparat von weit fortgeschrittenem Design auf den Tresen zu schrauben. »Was hat dieses Schild im Fenster zu bedeuten?« rief Pooley, während er in den Schankraum stürmte. Der fremde junge Barmann beobachtete Jims wütenden Ansturm mit gleichgültigem Gesichtsausdruck. Er bewegte den Kopf zu einem Rhythmus, den außer ihm niemand hören konnte. »Ich verlange eine Erklärung!« schäumte Jim mit Zornesröte im Gesicht. Der junge Mann nahm seinen Kopfhörer ab. »Was darfs denn sein, Sir?« erkundigte er sich. Jim hob drohend die Faust. »Dieses verdammte Schild im Fenster! Was ist das für ein Spiel, eh?« -138-
»Ach das?« Der junge Mann war freundlich unverbindlich. »Regeln und Bestimmungen. Was können wir schon daran ändern?« »Wir können das verdammte Ding herunterreißen und in den Boden stampfen!« Der junge Mann wackelte mit dem Zeigefinger. »Tsss tsss«, machte er. »Sie sind mir vielleicht ein Schlimmer, was?« Jim öffnete und schloß die Fäuste. »Ist denn plötzlich die ganze Welt verrückt geworden?« rief er. »Hat die Brauerei nicht mehr alle Pints im Schrank?« Der junge Mann zuckte die Schultern. »Seit der Übernahme scheint sich alles geändert zu haben«, erwiderte er. »Übernahme? Ich höre immer nur Übernahme. Was denn für eine Übernahme?« »Haben Sie noch nichts gehört? Die TORE & FENSTER CORP. hat die Brauerei gekauft. Das Angebot war zu verlockend, um es abzulehnen.« Jim fuchtelte unkontrolliert mit den Händen und hüpfte im Kreis. Omally, der seinem Freund in das Lokal gefolgt war, wußte, daß das ein äußerst schlechtes Zeichen war. Pooley suchte nach einem Opfer, das er töten konnte. Zwei davon arbeiteten gerade am Tresen. »Was sind das für Typen?« Jim stellte seine grotesken Pirouetten ein. »Was machen die da?« Der bleiche junge Mann lächelte schwach. »Sie installieren ein Terminal, was denn sonst? Das neue System verlangt, daß jedes Geschäft mit einem Terminal ausgerüstet ist, wissen Sie?« »John!« sagte Jim, »John, halt mich fest!« Omally tat wie gebeten. »Was, wenn es erlaubt ist zu fragen«, brüllte Jim, »was ist ein verdammtes Terminal?« »Meine Güte, regen Sie sic h doch nicht so auf.« Der junge -139-
Mann kicherte. »Wir leben aber wirklich noch im finstersten Mittelalter, wie?« Er grinste den beiden Brauereiarbeitern zu, die wissende Blicke austauschten und ebenfalls kicherten. »Dieses Terminal«, ließ er sich zu einer Erklärung herab, »besitzt ein modulares Konzept und eingebaute virtuelle Netzwerkfähigkeit. Die einhundertachtundzwanzigbittige Systemarchitektur ist mit präemptivem Multitasking versehen, besitzt hoch integriertes WP, Tabellenkalkulation, Internetzugriff, multiverschlüsseltes ISAM bei gemeinsamen Datenbankzugriffen, patentierte T & T-666-Algorithmen, SoftFort und Bitmap-Grafiken.« »Bitmap-Grafiken also, eh?« Der junge Mann räusperte sich - ein merkwürdig metallisches, hustendes Geräusch - und bestätigte: »Jawohl. Bitmap-Grafik.« Die Reihe aus achtzehn schmalen Linien über der rechten Augenbraue verlieh seinem Gesicht einen ewig rätselhaften Ausdruck. »Und jetzt, mein Herr, dürfte ich erneut fragen, was Sie trinken möchten?« »Zwei Pints Large, bitte sehr«, sagte Omally. »Ganz wie Sie wünschen, Sir. Wird Ihr erboster Begleiter ebenfalls zwei Pints für sich bestellen, was meinen Sie, Sir? Sobald er sich erst wieder ein wenig beruhigt hat?« »Wir sind eindeutig in der Unterzahl«, sagte Pooley. »Sollen wir uns trotzdem mit ihnen schlagen?« »Alles zu seiner Zeit Jim. Und jetzt beruhige dich bitte ein wenig und leih mir ein paar Pfund, ja?« Der bleiche Barmann hob die tätowierte Augenbraue. »Das Leihen und Verleihen von Geld ist in dieser Lokalität auf Anweisung der Brauerei strikt untersagt.« »Die Pest auf die Brauerei!« sagte John. »Jim verwahrt mein Geld, das ist alles. Kann ich es jetzt zurückhaben, alter Freund?« »Sicher.« Pooley kramte in der Tasche, schob John ein -140-
Bündel Hunderter in die ausgestreckte Hand und wollte nach dem ersten der beiden Pints greifen. Der neue Barmann machte eine blitzschnelle Bewegung über den Tresen hinweg und packte Jims Handgelenk mit der Kraft eines Schraubstocks. Er verdrehte es, bis die Handfläche nach oben zeigte, zog einen Lichtgr iffel hervor und fuhr damit über die Tätowierung. »Ihre Kreditwürdigkeit ist AAA«, sagte er. »Zwei Pints für den werten Herrn, habe ich richtig verstanden?« »Machen Sie drei daraus«, erwiderte Jim bitter. »Ich glaube, ich habe heute mächtigen Durst.« »Wie Sie wünschen, Sir.« Der blasse junge Barmann setzte seinen Kopfhörer wieder auf und machte sich nickend daran, die Biere zu zapfen. Nachdem John und Jim ihre Pints in Empfang genommen hatten, stapften sie zu einem Nebentisch, wo sie sich in zwei Stühle sinken ließen und sich schweigend in die Augen starrten. Nach einer bedeutungsschwangeren Pause redete Jim als erster. »Ich hab' genug von alledem, John.« Omally nickte nachdenklich. »Mir gefällt das alles genausowenig wie dir«, sagte er und leerte sein erstes Pint. »Falls du meine wohlüberlegte Meinung hören möchtest, ich habe das Gefühl, wir sollten beide so schnell wie möglich aus dieser Gegend verschwinden.« »Sieh dir diese Bastarde an!« Jim deutete auf die beiden Brauereiarbeiter, die in diesem Augenblick angefangen hatten, den antiken Teppichboden des Fliegenden Schwans aufzureißen, um quer durch den Schankraum einen Stromanschluß zu verlegen. »Rio wäre vielleicht nicht schlecht«, sagte John. »Dunkelhäutige Schönheiten, die grüne Zigarren auf ihren Bronzeschenkeln rollen. Ein Kumpan von mir, ein ehemaliger Zugräuber, ist in der Gegend untergeschlüpft. -141-
Man erzählt sich, das Klima dort wäre geradezu ideal für den professionellen Trinker und den beschäftigungslosen Kriegsverbrecher.« Pooley untersuchte seine tätowierte Handfläche. »Ich ertrage das alles nicht mehr. Die Entwicklung der letzten Tage gefällt mir ganz und gar nicht.« »Dann laß uns abhauen.« Jim kaute auf einem Daumennagel. »Ich glaube, du hast recht«, sagte er. »Aber was wird aus dieser Johannesoffenbarung? Meinst du, der Professor hat recht mit seiner Theorie? Wenn das Ende der Welt bevorsteht, dann sind wir auch in Rio nicht sicher.« Omally leerte ein weiteres Pint. »Ich habe meine Zweifel an dieser Geschichte. Hör zu, wir können ja immer noch über die Sache nachdenken, während uns die Sonne auf den Pelz scheint und ein oder zwei gute Flaschen aus dem Duty-Free-Shop auf dem Tisch stehen. Was meinst du?« »Ich sage, es wird höchste Zeit für einen Urlaub.« »Guter Junge. Die Reisebüros in der Ealing Road machen um sechs zu. Wenn ich Marchant nehme, kann ich in fünf Minuten dort und in weiteren fünf wieder zurück sein. Ich buche uns zwei Plätze auf der ersten Maschine, die morgen früh startet.« »Also gut, worauf wartest du noch?« Jim zog ein weiteres Bündel Banknoten aus der Tasche und schob es Omally hin. »Beeil dich! Ich kaufe ein paar Flaschen zum Mitnehmen; dieser Laden fängt an, mich ernsthaft zu deprimieren.« »In Ordnung. Ich bin gleich wieder zurück.« Omally marschierte aus dem Schwan und bestieg Marchant, der sich eigentlich auf ein frühabendliches Nickerchen eingerichtet hatte. John trat eifrig in die Pedale, holperte über den Bordstein und raste die Ealing Road hinauf bis zur Eisenbahnüberführung, um mit ausgestreckten Beinen auf der -142-
anderen Seite hinunter und am Mowlem- Gebäude vorbeizurollen. Ohne jede Vorwarnung kam er in Kontakt mit einem gewaltigen Klumpen stockenden Verkehrs. Die Straße war ein Chaos aus steckengebliebenen Autos und brüllenden Fahrern. Überall standen Fahrzeuge kreuz und quer, und die ersten in der Schlange hatten eingedrückte Schnauzen und dampften aus den Kühlern. Eine nackte Wand aus schwarzem Licht zog sich mitten über die Kreuzung mit der Great West Road. Sie ragte hoch in den Himmel hinauf, eine undurchdringliche Barrie re, die jedes weitere Fortkommen unmöglich machte. Omally stieg in die Bremsen, doch sein drahtener Hengst schien mit einem Mal eigene Vorstellungen zu entwickeln. Er jagte mit unverminderter Geschwindigkeit gegen einen Morris Minor, und John segelte in einem wahren Blizzard aus wirbelnden Banknoten durch die Luft, um auf der Motorhaube des Morris zu landen und von dort auf die Straße zu purzeln. Fluchend und spuckend mühte er sich auf die wackligen Beine und starrte dann voller ungläubigem Staunen die undurchdringliche Barriere an. Die Vorhänge, die der alte Professor Slocombe seit so vielen Wochen durch seine Camera obscura beobachtet hatte, waren endlich rings um das Brentford-Dreieck niedergegangen. Und die gesamte Gemeinde war vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten.
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Kapitel 16 Die Nachricht, daß der Vorhang sich geschlossen hatte, ging in Windeseile durch die Gemeinde, und die Menschen strömten auf die Straßen. Sie rannten auf die Grenzen zu, preßten sich die Nasen an der harten Luft platt und starrten in das Nichts dahinter. Die Aussicht, normalerweise so profan, daß niemand ihr einen Blick schenkte, hatte eine weit entfernte und irreale Qualität angenommen. Die Tatsache, daß keine Menschenseele mehr in das Land hinter der Barriere gelangen konnte, machte es zu einem Märchenland, und die Gestalten, die sich dort bewegten, schienen mit einem Mal die beneidenswertesten Wesen auf dem gesamten Planeten. Und obwohl die Brentforder schrien und brüllten und mit Hämmern und Äxten und wer weiß was auf die Barriere einschlugen, schien die Welt jenseits keinerlei Notiz von ihnen zu nehmen. Niemand sah sie, niemand erhörte ihre Hilferufe. Die Welt draußen fuhr einfach fort, das zu tun, was sie schon immer getan hatte - was wirklich nicht besonders viel war, wenn es auch jedem Brentforder jetzt so scheinen mochte. Die Gefangenen spähten verzweifelt nach einem Anzeichen, daß irgend jemand dort draußen von ihrer Not Kenntnis genommen hatte, doch das freie Volk, das manchmal nur wenige Zoll an der Barriere vorüberkam, schien nichts zu bemerken. Keiner drehte das Gesicht, keiner unterbrach die Geschäfte, denen er gerade nachging. Für die Welt draußen schien Brentford nie existiert zu haben. Versuche, einen Aufruhr anzuzetteln, wurden wie stets von den eilig heranrückenden Truppen der Bereitschaftspolizei im Keim erstickt: bleichen jungen Männern in geschützten Einsatzanzügen mit winzigen Ohrhörern und kleinen Mikrophonen vor dem Mund, die schwarze Kästchen an den Gürteln trugen und sich rasch durch die Menge schoben, um die -144-
allzu Freimütigen in die Grüne Minna zu verfrachten. Und wer sich laut beschwert hatte, kehrte Stunden später leise und still zurück und räusperte sich mit einem merkwürdigen metallischen Klang, bevor er zu sprechen ansetzte. Brentfords Geisterbevölkerung verschwand in den Häusern und verriegelte die Türen hinter sich. Die Tage reihten sich aneinander, ein jeder genau wie der vorhergehende. Pooley und Omally saßen im Fliegenden Schwan und beobachteten den neuen Barmann, der herzlos die Umbauarbeiten der geliebten alten Tränkstätte beaufsichtigte. Durch die jetzt doppelt verglasten Oberlichter der Salonbar konnte man die dunklen Wände sehen. Dahinter schien die Sonne, doch hier in Brentford näßte ein ständiges Nieseln alles und jeden ein, und dünne Rinnsale ergossen sich in die Gullys. Der Alte Pete kam hereingehumpelt, schüttelte den Regen von seiner Mütze und murmelte leise vor sich hin. Als er das abgezählte Geld für seinen Drink über die Theke schob, machte der bleiche junge Barmann nur »Ts ts« und warnte ihn, daß Transaktionen in Bargeld bald schon nicht mehr geduldet würden. Der Alte murmelte etwas zur Antwort, doch außer dem Wort ›Pest‹ erreichte nichts davon Jims oder Johns Ohren. Pooley steckte sich eine Passing Cloud zwischen die Lippen und machte einen tiefen Zug. Dann öffnete er den Mund, als wolle er etwas sagen, doch kein Laut drang über seine Lippen. Omally sah den Gesichtsausdruck seines Freundes und dessen offenstehenden Mund und nickte hoffnungslos. Keiner wußte eine Frage zu stellen, keiner eine Antwort; niemand wußte, was sie als nächstes erwartete. Als der Barmann schließlich die letzte Runde ausrief, brachen die beiden Männer wortlos auf und wanderten in die Nacht davon. Die Enttäuschung und die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage forderte nach und nach unausweichlich ihren Tribut. -145-
Pooley lag wach auf seinem Bett. Er hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und lauschte den Geräuschen der Nacht. Sein Zimmer war inzwischen vollgestopft mit einer sinnlosen Anhäufung nutzloser und teurer Gegenstände. Sein Kleiderschrank drohte vor teuren Maßanzügen, Hemden und Schuhen aus allen Nähten zu platzen. Stereokomponenten, die meisten nicht einmal eingestöpselt viele noch gar nicht ausgepackt, lagen halb vergraben unter einem Stapel von Frankie-Laine-Aufnahmen, die Jim sich schon immer gewünscht hatte. Er hatte jeden einzelnen Laden von Brentford leergekauft in dem Bemühen, sein Geld auszugeben. Er hatte einen Immobilienagenten aufgesucht und alles an freien Grundstücken gekauft, um mit den Urkunden die Wände zu tapezieren. Was er bestellt hatte, war vor sein Haus geliefert worden und ertrank nach und nach im Regen. Jim gab sich jede Mühe bei seinem Vorhaben, doch wie alles andere war auch diese Aufgabe hoffnungslos. Er war außerstande, seinen Reichtum auszugeben. Das Durchqueren seines Wohnzimmers war inzwischen lebensgefährlich, weil man in einem Moor teurer Teppiche zu versinken drohte. Er hätte den Schlaf des Betrunkenen schlafen müssen, doch ganz egal, wie viele Pints er in sich pumpte, er blieb stocknüchtern. Nichts von alledem ergab in Jims Augen auch nur den kleinsten Sinn, und alles schien vollkommen bedeutungslos geworden zu sein. Pooley drückte den Alarmknopf seiner neuen Armbanduhr von TORE & FENSTER CORP. »Dreiundzwanzig Uhr fünfundvierzig, alles in Ordnung, Jim«, sagte eine freundliche leise Stimme. Pooley gab einen obszönen Laut von sich und erwiderte, daß ganz und gar nicht alles in Ordnung sei. Professor Slocombe hatte ihn und Jim zu einem mitternächtlichen Treffen für diese Nacht bestellt. Kein Zweifel, der Professor verspürte das Bedürfnis, ihnen weitere Prophezeiungen des unmittelbar bevorstehenden Untergangs kundzutun. Jim fand den Gedanken -146-
nicht im mindesten reizvoll. Und er hatte einst gedacht, der alte Mann sei ein stimulierender Unterha lter und eine Quelle der Erleuchtung! Er erhob sich von der teuersten Matratze, die tätowierte Handflächen erstehen konnten, und suchte in dem gewaltigen Regiment, das sich vor ihm häufte, nach einem Paar zusammenpassender Schuhe. Nachdem er mehrere Minuten lang Schuhe weggetreten hatte, fand er zu seinem immensen Kummer ein einziges Paar, das diese Bedingung erfüllte: seine alten, ausgetretenen Nagelstiefel. Er murmelte etwas von dem Fluch, der auf den Pooleys dieser Welt lastete, und zog die heruntergekommenen Knobelbecher über die nackten Füße. Nachdem er ein paar Tage zuvor in seinem Badezimmer eine wirklich häßliche Überraschung mit einem mikrochipgesteuerten Regenschirm erlebt hatte, der sich bei Nässe automatisch öffnete, ließ er das Ding zusammengerollt unter seinem Bett liegen und trotzte dem Nieselregen in seiner neuen Jägerjacke mitsamt farblich abgestimmter Mütze. Weder das eine noch das andere paßten ihm. Jim schüttelte den Kopf er hatte alles, was man sich mit Geld kaufen konnte, und doch war alles Mist. Die neue Kalbslederweste hatte im Laden blendend ausgesehen, doch sobald er zu Hause gewesen war, hatten sich die Knöpfe gelöst und der Ledergeruch war dem von billigem Plastik gewichen. Dem gleichen Geruch, der allem anhaftete, was Jim gekauft hatte. Er schnüffelte an seiner »Tweed«-Jacke. Ja. Selbst die Jacke roch nach Plastik. Jim haderte mit dem Schicksal des armen Millionärs und schlurfte in Richtung Butts Estate und dem Haus des Professors. Omally war bereits dort. Er steckte in einem schicken dreiteiligen Anzug, den Jim ihm vermacht hatte, und lümmelte sich mit einem großen Whiskytumbler in einem Sessel neben dem Kamin. Professor Slocombe saß an seinem Schreibtisch vor den Büchern, und Sherlock Holmes war nirgendwo zu sehen. Auf Jims geräuschvolles Eintreten hin - die Sohle seines -147-
rechten Knobelbechers hatte sich just in diesem Augenblick entschieden, der Oberhälfte des Laufmöbels die langjährige Freundschaft aufzukündigen - hoben sowohl Professor Slocombe als auch John die Köpfe und begrüßten den Neuankömmling. »Bedien dich, Jim«, sagte der alte Mann. »Du weißt ja, wo alles steht, und die Früchte meines Kellers werden dir sicherlich um einiges mehr zusagen als die des Fliegenden Schwans.« »Da sagen Sie etwas«, erwiderte Jim Pooley und schenkte sich großzügig aus der professoralen Karaffe ein. »Also schön«, begann der Professor, nachdem auch Jim in einem Ohrensessel saß und die schweren Stiefel von den Füßen gezogen hatte. »Wir müssen eine ganze Menge bereden, deswegen habe ich euch beide heute nacht zu mir bestellt. Allerdings fürchte ich, daß euch das meiste kein Trost sein wird.« Das fängt ja gut an, dachte Jim bei sich, doch er sprach die Worte nicht aus. »Wie ihr beide wißt, ist Brentford inzwischen vollkommen von einer undurchdringlichen Barriere eingeschlossen.« Die beiden Männer nickten düster, Rio war tatsächlich in unerreichbare Ferne gerückt. »Ganz ohne Zweifel habt ihr euch nach dem Grund gefragt?« »Nicht eine Sekunde«, antwortete Jim. Omally beugte sich vor und versetzte ihm einen schmerzhaften Hieb auf die nackte Fußsohle. »Danke sehr, John«, sagte der Professor. »Ich möchte euch heute ins Bild setzen, soweit ich dazu imstande bin. Es ist von allergrößter Bedeutung, daß ihr euch bewußt seid, womit wir es zu tun haben. Diejenigen vo n uns, die genügend Macht und Willenskraft aufbringen, um zu kämpfen, werden von Tag zu Tag weniger. Wenn wir der Sache keinen Einhalt -148-
gebieten, ist bald niemand mehr übrig.« Pooley gefiel kein Stück von dem, was der Professor da sagte. »Nun gut, fangen wir am Anfang an.« »Tun Sie das, Sir«, sagte Jim. »Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort, und das Wort war Gott …« »Halt, stop, einen Augenblick mal«, unterbrach ihn Pooley. »Von der Genesis zur Offenbarung21 ist ein langer Weg, wie man es auch drehen und wenden mag. Könnten wir das vielleicht überspringen und direkt zum Kern der Sache kommen?« »In Ordnung, trotzdem muß ich kurz ausholen. Der Gott Adams brachte etwas zur Welt, das vorher nicht existiert hatte. Er brachte Lic ht. In unserer Vorstellung gibt es nur den einen und wahren Gott doch unsere Vorfahren glaubten an ein ganzes Pantheon alter Gottheiten. Diese Götter stiegen und fielen mit ihren Tempeln, denn wie kann ein Gott existieren, wenn es niemanden gibt, der ihn verehrt? Es ist ein ewiges Kräftegleichgewicht, die Harmonie der Sphären. Jeder neue aufstrebende Gott verdrängte seinen Vorgänger, sobald sein Tempel eingerissen war und seine Anhänger nicht länger an ihn glaubten. An dieser Stelle möchte ich auf die durchaus nicht abwegige Möglichkeit hinweisen, daß auf der Erde dunkle und böse Götter existierten, bevor das Wort uns Licht brachte.« »Bis jetzt klingt das alles mehr als zweifelhaft«, bemerkte John. »Oh, keine Sorge, das wird noch schlimmer«, erwiderte der Professor. »Wir haben gerade mit dem Krabbencocktail begonnen; bis wir zu den Desserts kommen, wird euch beiden ganz übel sein.« »Ich hab' einen guten Magen«, entgegnete John und füllte sein Glas nach. »Also schön«, fuhr der alte Gelehrte fort. »Am Anfang war -149-
jedenfalls das Wort, wie wir alle wissen, und unser Gott brachte das Licht und schuf den Menschen. Vor dieser Zeit gab es nichts als Kälte und Konfusion, und die alten Gottheiten der Dunkelheit herrschten unangefochten über die Erde. Mit der Schöpfung des Lichts und des Menschen wurden sie zusammen mit ihren Tempeln gestürzt. Doch Götter sterben nicht. Sie schlafen, und während sie schlafen, träumen sie. Die Schlange schlich sich nach Eden und versuchte, die Menschen wieder in die Dunkelheit zu locken, und sie säte die Saat des Zweifels. Zweifel an der Macht des Schöpfers. Gott vertrieb die Schlange aus dem Paradies, doch es war zu spät, der Schaden bereits angerichtet. Versteht ihr, die Schlange hat Eden niemals wirklich verlassen. Sie schlief, sie träumt e, und sie wartete auf die Zeit, wo sie wieder erwachen würde. Und diese Zeit ist jetzt gekommen. Durch etwas, das der Mensch als seinen eigenen freien Willen bezeichnet, hat er den Zielen der Schlange in die Hand gearbeitet. Die Prophezeiung erfüllt sich in eben diesem Augenblick, wie durch das da in deiner Hand genügend bewiesen ist.« Hastig steckte Pooley die tätowierte Hand in die Hosentasche. »Die Menschheit hat unter dem Einfluß der Schlange ihren eigenen Nachfolger erschaffen. Die denkende Maschine.« »Ich der Robot?«22 fragte Omally. »Das habe ich alles selbst gelesen. Maschinen können nicht denken. Sie werden programmiert zu reagieren. Sie beantworten Fragen, aber nur mit Antworten, die bereits in sie einprogrammiert worden sind. Computer besitzen keine Seelen.« »Ganz genau«, stimmte Professor Slocombe zu. »Du nimmst mir die Worte aus dem Mund. Maschinen besitzen keine Seelen. Und die Seele des Menschen allein ist es, die ihn daran hindert, wieder in Dunkelheit zu versinken. Die Seele schreit nach dem Licht, sie betet das Licht an. Ersetzt man den Menschen, wird der Tempel des Gottes des Lichts einstürzen, und die Dunkelheit kehrt zurück.« -150-
»Das liegt ja im Magen wie eine volle Schüssel Kohl!« sagte Omally bitter. »Mir wird schlecht.« »Das alles hört sich ziemlich eklektisch an«, bemerkte Jim zu seiner eigenen Überraschung. »Ich tue erst gar nicht, als verstünde ich, wovon Sie reden.« »Wie beim Kohl auch, so ist die Wahrheit schwer verdaulich«, erwiderte der Professor. »Was ich damit zu sagen versuche is t dies: Die Computertechnik stützt sich auf den Chip aus Silizium. Die Wissenschaft sagt schon seit langer Zeit voraus, daß auch an anderen Orten im Universum Leben existieren könnte. Leben, das womöglich auf Siliziumbasis beruht. Sie scheinen nicht zu erkennen, daß sie genau das hier auf der Erde geschaffen haben, und zwar auf Geheiß eines dunklen Meisters hin. Sobald der Mensch sich erst zum Sklaven der Maschine gemacht hat, ist er nicht länger Herr seines eigenen Schicksals. Und deswegen ist er dann auch nicht mehr die dominante Spezies. Die Menschen in Brentford werden einer nach dem anderen durch Doppelgänger ersetzt, seelenlose Roboter, die ihren dunklen Meister anbeten. Wenn wir nicht rasch handeln, dann ist alles verloren, was uns je etwas bedeutet hat.« Pooley zog feierlich seine Armbanduhr aus und warf sie in das Kaminfeuer. Das Plastik knisterte und spuckte in den Flammen, und wie um weiteres Entsetzen in den ohnehin tief erschreckten Zuhörern des Professors hervorzurufen, ertönte eine schrille Stimme aus dem Feuer, die winselnd um Gnade flehte. Omally bekreuzigte sich. »Ich glaube Ihnen«, sagte er leise. »Das heißt also, du wirst an meiner Seite kämpfen?« »Ich denke, uns bleibt gar keine andere Wahl. Was meinst du, Jim?« Pooley hob die untätowierte Hand. »Sie können auf mich zählen«, sagte er. -151-
Kapitel 17 Die Unterhaltung dauerte bis tief in die Nacht. John und Jim waren begierig zu erfahren, welche Pläne der Professor im einzelnen geschmiedet hatte, doch der alte Gelehrte blieb mit seinen Antworten hartnäckig ausweichend. Entweder wußte er selbst noch nicht so genau, was getan werden mußte, oder er hatte bereits gewisse Räder ins Rollen gebracht und fürchtete, daß die beiden Freunde ihm in ihrer Begierde zu helfen in die Quere kommen könnten. Was auc h immer seine Beweggründe sein mochten, am frühen Morgen kehrte Jim in seine Behausung zurück und fiel in einen höchst unruhigen Schlaf, der angefüllt war mit gespenstischen Träumen von mechanischen Monstern und falschen Brentfordern, die in jeder dunklen Ecke auf ihn lauerten. Omally hingegen schlief wie stets den Schlaf der Gerechten, was genaugenommen ganz schön ungerecht war, vor allem, wenn man bedachte, daß er kein Recht dazu hatte. Gegen elf Uhr am nächsten Tag trafen sich die beiden Freunde vor dem Fliegenden Schwan wieder. Pooley leerte, was ihm an Pennies geblieben war, in die ausgestreckten Hände seines Freundes. »Er nimmt mein Bargeld nicht mehr an und fährt immer nur mit seinem verdammten Stab über die Tätowierung. Das macht überhaupt keinen Spaß.« »Wenn auch nur ein Wort von dem stimmt, was der Professor erzählt hat, dann besitzen wir jetzt wenigstens eine verschwommene Vorstellung von dem, was hier vor sich geht.« »Verschwommen ist genau das richtige Wort, John. Und das gefällt mir überhaupt nicht.« »Der Anzug, den du da anhast, steht dir übrigens ganz ausgezeichnet«, bemerkte Omally, als Jim vor ihm den Fliegenden Schwan betrat. »Vielleicht ein bißchen eng an den -152-
Schultern, aber sonst …« Der bleiche junge Barmann mit dem Kopfhörer stand wie immer hinter seinem Tresen. Von Neville hatte man nichts mehr gehört, seit er im Krankenwagen abtransportiert worden war. Die Barmherzigen Schwestern erzählten zwar, man hätte ihn in ein anderes Krankenhaus verlegt, doch sie wußten nicht in welches. Die Tatsache, daß die Brauerei den Besitzer gewechselt hatte, legte den Gedanken nahe, daß Brentford seinen beliebten Teilzeitbarmann niemals mehr wiedersehen würde. »Ausgetauscht«, hatte der Professor gesagt, und das war ein mehr als beunruhigender Gedanke. Und die Vorstellung, daß in eben diesem Augenblick weitere Doppelgänger erschaffen wurden, um jeden lebendigen Einwohner Brentfords zu ersetzen, war alles andere als amüsant. »Das Übliche bitte«, sagte Jim und streckte seine Handfläche hin. Der Bursche mit dem Kopfhörer fuhr mit seinem elektronischen Stift über Jims ausgestreckten Armfortsatz und räusperte sich mit einem merkwürdig mechanischen Klang. »Heute ist ein großartiger Tag fürs Rennen«, sagte er. »Für dich oder für mich?« murmelte Jim fast unhörbar. Omally erstand sein eigenes Pint. »Es ist einfach nicht mehr dasselbe wie früher«, seufzte er, während er mit seinem Glas zu dem Tisch ging, an dem Jim Platz genommen hatte. »Ich vermisse den Nervenkitzel der Jagd.« »Ich glaube nicht, daß es jemals wieder wird wie früher«, erwiderte Pooley unglücklich. »Hier ist alles kaputt. Wenn wir doch nur rechtzeitig verschwunden wären! Dann müßten wir nicht hier sitzen wie Ratten in der Falle und darauf warten, daß man uns durch einen Haufen Dioden ersetzt.« John schüttelte den Kopf. »Eine schlimme Geschichte, soviel -153-
ist jedenfalls sicher. Kein Zweifel, diese Barriere wird sich ausbreiten und irgendwann die gesamte Welt umschließen. Der Professor hat übrigens kein Wort darüber verloren, warum alles ausgerechnet hier seinen Anfang genommen hat.« »Nun, ich schätze, irgendwo mußte es anfangen, und Brentford ist so gut wie fast jeder andere Ort, wenn auch schlechter als ein paar andere.23 Was mich so wütend macht, das ist die Ungerechtigkeit dieser ganzen Geschichte. Ich habe Geld bis zum Überdruß, und es gibt auf der Hauptstraße nur zwei Dutzend Läden, wo ich es ausgeben kann! Mein Gott, ich geb' mir die allergrößte Mühe, aber was ist mit Tee im Ritz und mit einem Concorde-Flug auf die Bahamas? So etwas gehört für Burschen wie mich mit meinem Geld zum Alltag, und ich darf meinen Freunden nicht einmal Drinks spendieren! Mein gesamter Reichtum ist für die Katz!« »Der Professor hat dich gleich gewarnt, Jim. Das Geld war von Anfang an nicht für dich gedacht.« »Das Bier schmeckt auch nicht mehr.« Pooley hob sein Pint und hielt es ins Licht. Eine Reihe von Computerbarcodes auf dem Glasboden schimmerte wie venezianische Jalousien durch die bernsteinfarbene Flüssigkeit. »Merkwürdig, mir ist der gleiche Gedanke gekommen«, erwiderte Omally. »Es hat in letzter Zeit einen definitiv metallischen Beigeschmack.« Eine eigenartige Gestalt betrat den Fliegenden Schwan. Sie bewegte sich unbehaglich, schien sich in der Umgebung ganz offensichtlich nicht wohlzufühlen. Der Fremde trug einen breitkrempigen Hut aus einem dunklen Material und einen gleichfarbigen Umhang, der bis fast zum Boden reichte, und nur die Spitzen seiner Gummistiefel lugten hervor. »Das ist Soap Distant!« flüsterte Omally. »Was meinst du, was sucht der denn hier?« »Er will uns die dreißig Pfund zahlen, schätze ich«, sagte Jim, -154-
der trotz all seinem Reichtum keinen Schuldner vergaß. Soap bestellte sich ein Guinness ohne Schaum und zahlte mit einem Goldnugget, das der Barmann auswog und ohne Murren in seine Registrierkasse legte. Der Mann in Schwarz nahm sein Glas und näherte sich den beiden Freunden. »Guten Tag zusammen«, wünschte er. »Bis jetzt noch nicht«, antwortete der Ire. »Aber du hast meine uneingeschränkte Genehmigung, ihn zu verbessern. Falls dir danach ist.« »Darf ich mich zu euch setzen?« »Wenn's sein muß.« Soap nahm seinen Hut ab und legte ihn auf den Tisch. Sein weißes Albinohaar leuchtete selbst im Dunkel der Salonbar verblüffend hell. Soaps rote Augen wanderten fragend zwischen den beiden Freunden hin und her. »Was machen die Geschäfte?« fragte er schließlich. »Oh, könnte nicht besser sein!« antwortete Pooley mit einer vagen Geste. »Wir sitzen hier und trinken mieses Bier, während wir auf das Ende der Welt warten. Sozusagen in der ersten Reihe.« »Hmmm.« Soap spielte mit der breiten Krempe seines außergewöhnlichen Huts. »Ich sag' euch was. Hier ist es immer noch besser als draußen.« Er deutete mit dem Daumen in Richtung der undurchdringlichen Barriere aus schwarzem Licht die in der Ferne durch die Oberlichter des Fliegenden Schwans glitzerte. »Dort draußen geht alles mit Riesenschritten vor die Hunde, das ist mal sicher«, sagte er. »Du meinst du warst draußen?« Omally hob die waigelschen Augenbrauen. »Selbstverständlich.« Soap zog mit dem Zeigefinger das untere Augenlid herunter. »Ihr kennt doch sicher das -155-
Sprichwort, daß ein guter Mann sich nicht runterkriegen läßt? Nun, wir haben hier den Fall, daß ein guter Mann unten mehr wert ist als drei oben im Käfig. Guter Witz, eh? Mein eigener Einfall.« »Einfach wunderbar«, sagte Pooley ohne rechte Überzeugung. »Also erzähl mal, was spielt sich ab da draußen?« »Schlimme Dinge.« Soap Distant starrte düster in sein Pint. Der spitze Nagel seines kleinen Fingers zeichnete ein Runensymbol auf der weichen Filzkrempe seines Huts. »Wirklich schlimme Dinge.« Soap nippte an seinem Bier und fuhr sich mit dem Rücken der schlanken Hand über den Mund. »Ein einziges verdammtes Chaos«, sagte er leise. »Es macht mich in der Seele krank, wenn ich mit ansehen muß, was dort draußen geschieht, doch der Professor meint, ich müßte alles beobachten. Obwohl er mir noch nie einen Grund dafür genannt hat.« »Und was hast du gesehen, Soap?« »Die Menschen verhungern dort draußen.« Die roten Augen des Untergrundbewohners richteten sich auf seinen Inquisitor. »Du machst wohl Witze, was?« »Verdammt noch mal, nein! Seit dieses neue Zahlungsmittelsystem zur Anwendung kommt, ist das gesamte Land buchstäblich in einen bürgerkriegsartigen Zustand gefallen.« »Jetzt komm schon«, sagte Jim. »Du willst doch wohl nur erzählen, daß eine Handvoll hartgesottener Ewiggestriger sich gegen die Tätowierung auf der Hand sträubt, was? Verdammt richtig, würde ich sagen! Ich werde ein paar Millionen nach draußen schleusen. Verteil es mit besten Grüßen von mir.« »Geld wird nicht helfen«, widersprach Soap Distant. »Papiergeld ist für illegal erklärt worden. Sämtliche Guthaben wurden am Tag des Inkrafttretens eingefroren. Jeder Bürger war verpflichtet, sein Geld zur Bank zu bringen und dort registrieren -156-
zu lassen. Wer sich weigerte, fand sich vor verschlossenen Türen wieder. Er konnte nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln fahren, keine Milch beim Milchmann und kein Brot beim Bäcker kaufen. Selbst die Mitglieder der eigenen Familien, die sich bereits hatten tätowieren lassen, verweigerten den Ärmsten die Hilfe. Sie wurden vollkommen aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Manch einer ging geradewegs zur Bank, doch man sagte ihnen, daß sie die Frist nicht wahrgenommen hätten und es nun zu spät sei.« » ›Kaufen oder Verkaufen konnte nur, wer das Kennzeichen des Tiers trug‹«, murmelte Pooley mit bleierner Stimme. »Ganz genau.« »Diese herzlosen Bastarde!« fluchte Omally. »Und was geschah dann?« »Genau das, was man erwarten würde. Offene Rebellion seitens der Untätowierten. Was sie nicht mehr kaufen konnten, nahmen sie sich einfach. Rauben und Plündern und Brandschatzen allerorten. Viel Morden. Auf Raten des Regierungscomputers wurde das Kriegsrecht verhängt und der Befehl erteilt, jeden Untätowierten auf der Stelle zu erschießen.« »Willst du uns auf den Arm nehmen, Soap?« Omally beugte sich auf seinem Stuhl vor und fuchtelte mit einer drohend geballten Faust unter der fast transparent scheinenden Nase des Hohle-Erde-Jüngers. »Jim und ich haben uns schon gedacht, daß etwas ziemlich Merkwürdiges vor sich geht. Wir sind zwar von einer allem Anschein nach undurchdringlichen Barriere umgeben, doch die Läden werden und werden nicht leer. Es gibt stets frische Milch und Zigaretten und Brot und Bier, obwohl der Geschmack in letzter Zeit ein wenig seltsam ist. Das Zeug muß von irgendwo außerhalb kommen, doch wir haben noch nicht herausgefunden, wie sie es machen. Wir vermuten, daß es im Schutz der Nacht mit Fallschirmen abgeworfen wird.« »Falsch«, sagte Soap Distant »Ganz falsch sogar. Außer mir -157-
gelangt nichts hinein oder hinaus. Und es kommt auch ganz bestimmt keine Nahrung herein.« »Und wie erklärst du dir das alles?« »Das ganze Zeug wird hier an Ort und Stelle erzeugt. Auf dieser Seite der Barriere.« »Unsinn!« widersprach Jim. »Siehst du etwa Kühe im Memorial-Park grasen? Oder Hopfenfelder oder Tabakplantagen? Nun mal im Ernst, Soap, bitte. Wie kann dieses ganze Zeug aus Brentford selbst stammen?« »Es wird alles künstlich hergestellt Jede Kleinigkeit alles synthetisch. Einschließlich diesem widerwärtigen Bier.« Soap Distant schob sein Glas beiseite. »Ich weiß nicht wie sie es machen, aber ich kann euch verraten, wer es macht.« »Die verdammte TORE & FENSTER CORP.«, sagte Omally im Tonfall bleierner Ohnmacht. »Niemand anderer. Was glaubt ihr eigentlich, warum die Barriere errichtet wurde?« »Um uns festzuhalten«, sagte Jim düster. »Um mich festzuhalten und daran zu hindern, mein verdammtes Geld auszugeben.« »Falsch«, antwortete Soap Distant. »Ganz falsch. Die Barriere soll die anderen draußen halten. Diese Barriere dient dazu, den Großcomputer in der Abaddon Street zu schützen. Das Zentrum der gesamten Operation.« »Diese Mistkerle haben mir schon mein antikes Bettgestell weggenommen«, schnarrte Omally. »Und jetzt auch noch mein Bier. Wird es denn niemals enden?« »Aber warum befindet sich dieser Großcomputer überhaupt in Brentford?« erkundigte sich Pooley. »Ich dachte immer, Armageddon würde seinen Anfang in einer etwas biblischeren Umgebung nehmen. 24 Die alten Gasometer und die breite Umgehungsstraße passen überhaupt nicht ins Bild.« -158-
»Das mußt du schon den Professor fragen«, antwortete Soap Distant. »Oder vielleicht auch diesen Mann dort.« Er deutete mit einer bleichen Hand in Richtung der großen, hageren Gestalt in dem längst aus der Mode gekommenen Tweedanzug, der in diesem Augenblick majestätisch im berühmten Portal des Fliegenden Schwans erschien und eine türkische Zigarette rauchte. »Gentlemen«, sagte Mister Sherlock Holmes und nickte in Richtung der drei sitzenden Figuren, von denen sich zwei tief über ihre Gläser gebeugt hatten und am liebsten unsichtbar gemacht hätten. »Dürfte ich die Herrschaften vielleicht um ihre Mithilfe in einer wirklich unbedeutenden Angelegenheit bitten?« »Und ich war felsenfest davon überzeugt daß die Dinge nicht mehr schlimmer werden könnten«, sagte John Vincent Omally. »Mein Gott, wie dumm von mir.«
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Kapitel 18 Sherlock Holmes schlenderte, in eine Rauchwolke gehüllt, durch die Ealing Road. Pooley und Omally trotteten hinter ihm her, und wären sie auf den Gedanken gekommen, für einen Augenblick stehenzubleiben und sich umzusehen, hätten sie vielleicht den Kanaldeckel gesehen, der sich just hinter Soap Distant wieder geschlossen hatte. »Ich möchte lediglich, daß Sie beide jederzeit zur Verfügung stehen«, erklärte Sherlock Holmes unterwegs. »Reden Sie zu niemandem ein Wort, und halten Sie die Augen offen, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Pooley, der dem berühmten Detektiv eines vergangenen Zeitalters kürzlich einen modernen Videorecorder und eine vollständige Sammlung Basil- Rathbone-Videos geschenkt hatte, glaubte zu bemerken, daß sich ein amerikanischer Akzent in die viktorianische Stimme eingeschlichen hatte. »Oh, klar. Null Problemo, Mann«, sagte er. Vor Normans Eckladen blieb Holmes plötzlich wie angewurzelt stehen. Seine beiden Mitläufer taten es ihm nach und starrten ohne rechte Begeisterung durch das makellos saubere Plexiglas der aluminiumgerahmten Tür zu der Stelle, wo Norman hinter seiner glänzenden Ladentheke stand. Der echte Ladenbesitzer war in seinem Hinterzimmer, wo er tief über einen nicht zu entziffernden Plan gebeugt saß, den er auf die Innenseite einer leeren Cornflakespackung gekritzelt hatte. Er nahm das elektronische Klingeln kaum wahr, als die Ladentür geöffnet wurde. Sein Doppelgänger blickte vom Computerterminal hinter der Theke auf und betrachtete abschätzend die drei potentiellen Kunden. Der irische davon, der sich im Hintergrund bedeckt hielt, hatte noch Schulden, wie sich der Doppelgänger erinnerte. -160-
Er räusperte sich mit einem merkwürdig metallischen Geräusch und erkundigte sich höflich: »Wie können wir Ihnen helfen, Gentlemen?« »Wir?« erkundigte sich Sherlock Holmes. »Wir benutzen den Plural in einem rein geschäftlichen Sinn«, erwiderte der Roboter. »Wir, Norman Hartnell und sein Eckladen, sind als ein kleiner Konzern zu verstehen, der die Notwendigkeit begriffen hat, dem wohlhabenden Kunden in diesen von Wettbewerb bestimmten Zeiten mit einem persönlichen Willkommen entgegenzutreten.« »Sehr genau erfaßt«, sagte Sherlock Holmes. »Ein Unze Ships, bitte.« »Selbstverständ lich, der Herr.« Der Roboter streckte die Hand hinter den Rücken und zog das Päckchen hervor. Omally bemerkte verblüfft, wie zielsicher die Bewegung ausgeführt wurde, ohne daß Norman auch nur einen Blick in sein Regal geworfen hätte. »Sie haben Ihre Geschä ftsräume renoviert, wie ich sehe?« sagte Holmes. Der Roboter betrachtete die Worte als simple Feststellung, die keiner Antwort bedurfte, also verzichtete er auf selbige. »Und alles mit der linken Hand.« Die Kreatur versteifte sich unmerklich, doch sie bewahrte die Fassung. Ein flüchtiger Ausdruck von Mißtrauen huschte über ihr Gesicht. Pooley und Omally wichen unbewußt einen Schritt zurück. »Ich war eigentlich immer der Meinung, Sie seien Rechtshänder?« fuhr der berühmte Detektiv fort. »Das macht dann achtzehn Schilling und Sixpence, bitte sehr.« Der Roboter streckte beide Hände vor, um keine persönliche Präferenz zu offenbaren. »Schreiben Sie es bitte auf meine Rechnung«, sagte Sherlock -161-
Holmes. Omally fing lautlos an, den Rosenkranz zu beten. Die tödlichen Worte des Meisterdetektivs rasten durch die elektronischen Schaltkreise von Normans Doppelgänger und riefen das Wort »Dimac« in wenigstens einem Dutzend gängiger Sprachen hervor. »Achtzehn Schilling und Sixpence, bitte«, sagte er. »Die Geschäftsführung bedauert …« »Das habe ich begriffen«, unterbrach ihn Holmes. »Und wenn es nicht ungelegen kommt würde ich gerne ein oder zwei Worte mit der Geschäftsführung wechseln.« »Ich bin die Geschäftsführung.« Der Roboter legte die Hände auf die Ladentheke und machte sich bereit über selbige hinwegzuspringen. »Wenn Sie jetzt bitte so freundlich wären, mir das Geld auszuhändigen?« »Ich denke nicht«, erwiderte Sherlock Holmes. »Lassen Sie uns bitte keine fruchtlosen Diskussionen führen, ja? Falls der echte Norman Hartnell noch atmet, wünsche ich mit ihm zu sprechen. Und falls nicht, sehe ich mich gezwungen, Sie festzunehmen.« Der Roboter schwang sich über die Theke und wollte dem Detektiv an die Gurgel. Holmes trat einen geschickten Schritt beiseite und zog den Revolver. Er richtete den Lauf auf die Stelle zwischen den Augen des Roboters, und seine Hand war ruhig und zitterte kein Stück »Wenn ich jetzt bitten dürfte?« sagte er. »Meine Zeit ist kostbar.« Der Roboter starrte den Meisterdetektiv an. Er hatte die Lippen gebleckt, und die künstlichen Zähne schimmerten in einem bösen Gelb. Aus seinen Augen funkelte Haß, und seine Hände krümmten sich zu grausamen Klauen. »Halten Sie ein, oder ich schieße.« Der falsche Ladenbesitzer kauerte tief geduckt auf allen vieren. Plötzlich sprang er vor. Holmes krümmte den -162-
Zeigefinger um den Abzug, doch die unmenschlichen Reaktionen des künstlichen Geschöpfs übertrafen die des Meisterdetektivs bei weitem. Das Ding sprang nach oben und durchschlug sauber die Decke von Normans Eckladen. Eine Wolke aus Putz und Dreck rieselte auf die drei verblüfften Zurückgebliebenen herab. Holmes stolperte rückwärts und schirmte das Gesicht mit der Hand vor den herabfallenden Trümmern ab, während Pooley und Omally die inzwischen sattsam bekannte Fötusstellung einnahmen. Eine Reihe weiterer krachender Erschütterungen signalisierte den Abgang des Roboters durch die Wände von Normans Schlafzimmer. Verblüfft von den Geräuschen offenkundiger Zerstörung, platzte der Ladeninhaber durch die Hinterzimmertür in den jetzt gründlich durchlüfteten Eckladen. Er starrte auf das mächtige Loch, das in der Decke klaffte, und dann auf die Gesichter dreier hustender und spuckender Kunden, die langsam inmitten einer weißen Wolke aus Gips und Staub erkennbar wurden. »Was… wer… warum…?« Normans Stimme erstarb, als Sherlock Holmes sich aus den Trümmern erhob, Putz von den Schultern klopfte und die Haare ausschüttelte. »Mister Norman Hartnell, nehme ich an?« sagte er. »Es ist mir eine Freude, Sie endlich leibhaftig und lebendig kennenzulernen.« Pooley und Omally blinzelten auf das klaffende Loch in der Decke, auf den verstörten Ladenbesitzer und schließlich sich gegenseitig an. Sie schüttelten die verstaubten Köpfe in vollkommenem Unglauben und folgten dem Detektiv, der den sich sträubenden Norman vor sich her in das Hinterzimmer schob. Holmes wandte sich zu Omally um und schlug vor, daß der Ire die Ladentür verschloß und das ›Heute Geschlossen‹ -Schild ins Fenster hängen sollte. Der Sohn des Saarlands25 kam der -163-
Aufforderung hastig nach, aus Furcht etwas von dem zu versäumen, was möglicherweise als nächstes kam. Als er schließlich das Hinterzimmer betrat, fand er Norman in der Mitte des Raums auf seinem alten Küchenstuhl sitzen, umgeben von einem ganzen Sammelsurium bizarr aussehender Apparate, offensichtlich die gegenwärtigen Früchte seines gewaltigen wissenschaftlichen Geistes. Holmes hockte hinter ihm auf dem Küchentisch wie ein Geier in einem Tweedanzug, der über seiner Beute lauerte. Ohne jede Vorwarnung schob er plötzlich einen langen, knochigen Zeigefinger in Normans rechtes Ohr. »Aua! Autsch! Hören Sie auf!« kreischte der Ladenbesitzer und krümmte sich. Holmes untersuchte seine Fingerspitze und hielt sie schnüffelnd unter die Nase. »Ich rühme mich der Fähigkeit«, sagte er, »aus einer Probe Ohrenschmalz die gegenwärtige Tätigkeit des zur Frage stehenden Individuums mit einer Exaktheit ableiten zu können, daß auch nur der Gedanke, es könne sich um Zufall handeln, als vollkommen abwegig erscheinen muß.« »Tatsächlich?« erkundigte sich Omally, während er die Decke betrachtete und mit den Absätzen auf dem neuen Linoleumbelag des Fußbodens scharrte. »Wer ist dieser Kerl?« jammerte der geplagte Ladenbesitzer. »Frag lieber nicht«, riet ihm Pooley. »Ich stelle hier die Fragen, falls es Ihnen nichts ausmacht.« Holmes stieß Norman mit einer ledernen Patentschuhspitze in die Rippen. »Macht es aber, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf«, begehrte Norman unter erneutem Zusammenzucken auf. »Sei es, wie es wolle. Ich glaube allerdings, daß Sie uns eine ganze Menge zu erzählen haben.« »Ach, gehen Sie doch zum Teufel!« Norman duckte sich auf -164-
seinem Stuhl. »Achte auf das, was du sagst«, riet ihm Jim. »Unser Begleiter hier, Mister H., ist Hausgast von Professor Slocombe. Wir können ihm absolut vertrauen, wie ich dir glaubhaft versichern möchte.« »Ich habe nichts zu sagen. Was hat das alles überhaupt zu bedeuten? Sehen Sie nicht, daß ich mit dem Umbau beschäftigt bin?« »Das Loch in der Decke erscheint mir allerdings ein wenig drastisch«, sagte Omally. »Das ist die Frau schuld«, entgegnete Norman sarkastisch. »Sie wollte einen Durchbruch, um das Schlafzimmer zu vergrößern.« »Ich hab' diesen Witz schon bei George Robey gehört«, sagte Holmes. »Und er war damals bereits alt.« »George Robey?« »Ach, egal. Und jetzt, Sir, gibt es ein paar Fragen, die nach Antworten verlangen. Wie kommt es, daß Ihr Doppelgänger vorn im Laden steht und Sie noch immer existieren? Zeigen Sie mir bitte Ihre Handflächen, Sir.« »Meine Handflächen? Was soll das? Jim, wo hast du diesen Kerl kennengelernt?« Ein ebenso unvermittelter wie heftiger Schlag auf den Hinterkopf schickte den Ladenbesitzer zu Boden. »Heh, sofort aufhören!« ging Jim dazwischen. »Das geht nun wirklich zu weit und ist außerdem unnötig. Sherlock Holmes hat sich niemals zu derartigen Praktiken hinreißen lassen!« »Die Zeiten ändern sich«, brummte der Detektiv und untersuchte seine Knöchel. »Sherlock Holmes?« schnarrte Norman vom Tisch herauf. »Ist er das tatsächlich?« »Ihr Diener, Sir«, sagte Holmes und verbeugte sich leicht aus -165-
der Hüfte. »Ach ja?« Norman krümmte sich in der Ecke zusammen und legte die Hände schützend über seine empfindlichen Körperteile. »Schön, wenn Sie Sherlock Holmes sind, dann verraten Sie mir doch, was die neununddreißig Stufen sind.« »Das hab' ich auch schon versucht«, sagte Jim. Holmes beugte sich vor und drohte mit dem ohrenschmalzigen Finger in Normans Richtung. »Los, reden Sie, Mann!« schrie er den Ladenbesitzer an. »Reden Sie endlich!« »Er hat die Basil-Rathbone-Videos gesehen!« flüsterte Pooley seinem irischen Freund ins Ohr. »Falls es Ihnen nichts ausmacht«, sagte Omally, »denke ich, daß Jim und ich jetzt von hier verschwinden. Wir sind beide friedliche Männer, und der Anblick von Gewalt oder gar Blut verursacht in uns ein Gefühl großen Unbehagens. Uns wird schon bei dem Gedanken daran schlecht, selbst dann, wenn es der Gerechtigkeit und der Suche nach Wahrheit dient.« Pooley nickte bekräftigend. »Falls Sie vorhaben, jetzt mit dem Gummiknüppel weiterzumachen, dann warten Sie bitte, bis wir draußen sind.« »Freunde!« jammerte der gefallene Ladenbesitzer. »Freunde, laßt mich um Gottes willen nicht mit diesem Irren allein!« »Tut uns leid, Norman«, erwiderte Jim. »Aber das geht uns nichts an.« »Falls du wirklich gegen ihn kämpfen möchtest«, sagte Omally und deutete auf die immer noch deutlich sichtbare Beule auf seiner Stirn, »dann ist dein Dimac seinem Barritsu sicherlich gewachsen.« Die Beule erinnerte Omally jeden Tag aufs neue schweigend, wenn auch schmerzhaft an die martialischen Künste des kleinen Ladenbesitzers. »Das war ich nicht, John! Ich schwöre, das war ich nicht!« -166-
»Soso«, sagte Sherlock Holmes. »Dann spuck's jetzt aus, Freundchen. Die ganze Geschichte!« »Schon gut, schon gut, wenn Sie mich nur nicht mehr schlagen, bitte.« »Keine Sorge«, erwiderte Sherlock Holmes. Und Freundchen spuckte aus.
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Kapitel 19 Der Alte Pete schob seine runzlige Hand unter dem glänzenden Plexiglas der Postnebenstelle hindurch. Der dunkle junge Mann, der jetzt hinter dem Schalter seinen Dienst tat, machte sich nicht die Mühe, die kleinen Kopfhörer abzusetzen. Er nickte nur, fuhr mit dem Lichtgriffel über die Markierung in der Handfläche des Greises und tippte ein paar Dinge in das Computerterminal, dann wartete er auf das Ergebnis. Als es schließlich kam, hob er eine fragende Augenbraue in Richtung des Pensionärs. »Es scheint eine Unstimmigkeit zu geben, Sir. Ich schlage vor, Sie kommen nächste Woche wieder.« Die Blicke des Alten stachen wie Dolche auf den jungen Burschen hinter der getönten Scheibe. »Was denn für eine verdammte Unstimmigkeit?« verlangte er zu wissen. Der junge Beamte seufzte geduldig. »Der Computer hat eine Unstimmigkeit festgestellt«, wiederholte er. »Er ist der Meinung, daß Sie in den letzten zehn Jahren zwei wöchentliche Pensionen empfangen haben. So etwas ist mit dem neuen fortschrittlichen System selbstverständlich nicht mehr möglich. Aber mit dem alten Geldsystem … Sie wissen ja. Wir müssen die Daten noch einmal überprüfen und eine Entscheidung abwarten.« »Und wie lange wird das dauern?« »Nun ja, Rechnerzeit ist kostbar. Sie haben Anspruch auf sechs Sekunden pro Woche. Warten wir ab, was geschieht, wenn die Reihe wieder an Ihnen ist.« »Und bis dahin?« schäumte der Alte Pete. »Wollen Sie etwa andeuten, daß ich ohne Pennies dastehe, bis Ihre dämliche elektrische Trickkiste ihr Einverständnis gibt?« -168-
»Das Wort ›Pennies‹ trifft die Sache nicht mehr länger, Sir. Es ist einfach so, daß Ihr Kredit vorübergehend eingefroren ist, bis die Untersuchungen zu einem Ergebnis kommen. Bitte verstehen Sie, daß dies zum Nut zen der Allgemeinheit geschieht. Wir versuchen, das neue System auf eine Art und Weise einzuführen, die geringstmögliche zivile Unruhen nach sich zieht.« »Ich garantiere ihnen maximale zivile Unruhen, wenn ich nicht gleich meine verdammten Pensionen in den Fingern halte … äh, meine Pension, meine ich.« Der junge Chips knurrte in völliger Übereinstimmung mit seinem Herrn und entblößte die Fänge. »Der nächste bitte!« sagte der junge Bursche. »Augenblick mal!« kreischte der Alte Pete und hob seinen Stock. »Ich verlange den Geschäftsführer zu sprechen!« »Diese Zweigstelle besitzt keinen Geschäftsführer mehr, Sir, nur einen Operator, der, wie ich betonen möchte, mit sämtlichen Vorgängen vertraut ist und sich in den neuen Technologien bestens auskennt.« »Die Pest auf Ihre Technologien! An wen muß ich mich wegen meiner Pension wenden?« »Nun, zum einen könnten Sie ein Formular ausfüllen, das wir auf dem Dienstweg zum Hauptbüro weiterleiten und in dem Sie einen manuellen Eingriff in das System erbitten… obwohl diese Verfahrensweise ein wenig archaisch und extrem langwierig ist.« »Dann gehe ich persönlich in dieses Hauptbüro und spreche mit den Leuten.« Der dunkle junge Mann lachte hämisch. »Man geht nicht so einfach zu der TORE & FENSTER CORP. und spricht mit den Leuten. Wer hat jemals von so einer Idee gehört?« Er grinste seine Assistentin an, die hinter vorgehaltener Hand kicherte und die Augen verdrehte. -169-
»Ach nein, tut man nicht?« keifte der Alte Pete. Er knirschte mit den Dritten und hämmerte mit dem Stockgriff gegen die Scheibe. »Nun, das werden wir noch sehen!« Er machte kehrt und stapfte aus der Zweigstelle. Der junge Hund Chips folgte seinem Herrn dicht auf den abgelaufenen Hacken, der zum ersten Mal seit langer Zeit ohne seinen Gehstock auskam. Nicht weit vor den beiden, an der Stelle, wo sich einst das Bombengrundstück befunden hatte, erhob sich das Gebäude der TORE & FENSTER CORP. hoch über das restliche Brentford, ein dunkler, anklagender Finger, der auf ein eingeschlossenes Dreieck von Himmel zeigte. Sechsundsechzig Stockwerke schwarzes, glanzloses Glas, das jegliches Licht zu verschlingen schien. In seinem grausamen, scharfkantigen Schatten welkten die Magnolien in den Balkonkästen. Das Bauwerk war alles andere als schön oder inspirierend, und während es unablässig weiter wuchs, strahlte es eine unendliche Kälte aus. Hoch oben in den obersten Stockwerken waren winzige Gestalten zu erkennen, die sich mit hektischer Betriebsamkeit zwischen den Wolken bewegten und bauten und bauten und bauten. Niemals hatte es einen Turm zu Babel gegeben, der mehr auf seinen Fall gewartet hätte, und niemals einen Mann, der mehr bereit gewesen wäre, diese Aufgabe in Angriff zu nehmen. Der Alte Pete bog um eine Ecke in die Abaddon Street und starrte voller Haß auf den gewaltigen Glasmonolithen. »Fortschritt, pah!« Er spuckte die Worte förmlich aus, und sein schlecht sitzendes Gebiß klapperte dabei. »Die Pocken auf sie alle!« Sein stolz aufgerichteter Gang wich wieder dem altvertrauten Humpeln, während der Alte Pete in den Schatten des unergründlichen Bauwerks trat und nach einem Eingang suchte. Umsonst. Eine glatte Mauer war alles, was sich seinen Augen bot. Weitere mühselige hundert Yards, eine weitere Ecke, eine -170-
weitere glatte Mauer aus stumpfem Glas. »Verdammt merkwürdig«, schnaufte der Alte seinem jungen Hund zu und setzte sich einmal mehr in Bewegung. Der Eingang mußte in der Hauptstraße liegen, eine andere Möglichkeit blieb nicht mehr. Doch zur äußersten Empörung des Alten Pete und seiner immer noch anwachsenden Wut lag er nicht dort. Der Alte verharrte ächzend und keuchend und auf seinen Stock gestützt im Schatten des unheilverkündenden Molochs und stieß laute Flüche aus, wann immer er genug Luft dazu erübrigen konnte. Es gab einfach keinen Weg in das Gebäude, so sehr er auch danach gesucht hatte. Keinen Eingang, keine Pforte, nicht einmal ein Namensschild oder einen Briefkasten. Einfach gar nichts. Der junge Hund Chips neigte den pelzigen Kopf zur Seite und spähte zu seinem Herrn hinauf. Der alte Knabe sah mit einem Mal in der Tat ziemlich alt und gebrechlich aus. Das greise Haupt zitterte und wackelte auf dem dürren Hals, und unter den Ärmeln des einzigen Anzugs öffneten und schlossen sich die mit blauen Straßenkarten von Venen überzogenen knorrigen Hände zu schwächlichen Fäusten. »Wir werden dieser Sache schon noch auf den Grund gehen«, schnarrte der Alte Pete noch immer voller Trotz. Einmal mehr hob er seinen Stock, doch diesmal schlug er damit gegen die schwarze, stumpfe Wand, die sich vor ihm in die Unendlichkeit erstreckte. Der Schlag erzeugte nicht das leiseste Geräusch, und diese Tatsache katapultierte die Wut des Alten Pete auf Herzinfarktniveau. Er machte auf dem Absatz kehrt und humpelte in Richtung Abaddon Street zurück, während er den Stock unablässig und mit all seiner Kraft gegen die unerträglich passive Fassade schlug. Und während der greise Schwachkopf auf das undurchsichtige Glas einhämmerte, verfolgte eine verborgene Kamera sämtliche -171-
Bewegungen und katalogisierte und speicherte jedes Detail, das den Alten Pete ausmachte. Mit Hilfe einer fortgeschrittenen Methode der RadiocarbonFernabtastung durchdrang sie die Knochenringe seines Schädels und berechnete sein Alter bis auf fünf Stellen hinter dem Komma. Spektroskopische Verstärker analysierten die Bodenspuren unter seinen Fingernägeln und erzeugten Diagramme, die durchaus keinen Anlaß zu Fröhlichkeit boten. Fluoroskopische Röntgenstrahlen durchdrangen seine Unterleibsregionen und sannen über die halbverdauten Mittagsfrikadellen nach, die keinerlei Spuren von Fleisch enthielten. Die Sonde drang in das Gewebe seines noch aus Kriegszeiten stammenden Hemdes vor, durchleuchtete Tausende verschiedener Wäschereispuren und katalogisierte und indizierte alle. Sie glitt weiter in Richtung Unterhose und beeilte sich erschrocken, wieder in Gegenden oberhalb der Gürtellinie zurückzukehren. Sie überprüfte den Tweed seines Jacketts, vermaß die Länge und Winkelung der Revers und verfolgte den Herstellungszeitpunkt des Anzugs mit Hilfe zahlreicher esoterischer Berechnungen bis zu einem Mittwoch im Verlauf eines langen heißen Sommers vor dem Ersten Weltkrieg zurück. Die Computerspeicher verschlangen sämtliche Informationen und machten sich daran, die Festmahlzeit aus Daten zu verdauen; sie rülpsten voller Vergnügen und gruben tiefer und tiefer auf der Suche nach weiteren köstlichen Happen. Heimlich und verstohlen drangen sie in den Kopf des Alten Pete vor, analysierten seine Gehirnzellen und suchten voller Heißhunger nach vorhandenen Elektronenpartikelvariablen im Kodex seines Cerebellums. Innerhalb einer 0,666tel Sekunde waren sie mit dem Hauptgericht fertig und suchten wie ein ausgehungerter Halbterrier nach den Desserts. Die Ergebnisse, die anschließend herauskamen, hätten selbst in Arial Narrow fünf Punkt ausgereicht, den Erdball mehrfach zu umrunden. Zusammenfassend betrachteten die Computer den Alten Pete als -172-
einen harmlosen Trottel, der keinerlei Gefahr für die Sicherheit darstellte. Allerdings legten sie auch nahe, daß gewisse Diskrepanzen bezüglich mehrfacher Pensionszahlung in der Vergangenheit und die damit zusammenhängenden Daten einen längeren Zeitraum zur korrekten Anpassung der Summen erforderlich machten. Über den jungen Hund Chips machten die Computer keine weiteren Angaben bis auf die kryptische Empfehlung, das Tragen von Flohhalsbändern für obligatorisch zu erklären. Der Alte Pete gab seinen ungleichen Kampf gegen die windmühlenflügelige Fassade schließlich auf und humpelte aus Leibeskräften fluchend und effenbergernd 26 die Straße hinunter davon. Der junge Chips hob sein pelziges Hinterbein verachtungsvoll an der stumpfen schwarzen Glasfassade und eilte dann hinter seinem Herrn her, während der Computer der TORE & FENSTER CORP. die Daten des Alten Pete abspeicherte und eine dreifache Kopie des nun fertiggestellten Programms zu dem biogenetischen Labor sechsundzwanzig Stockwerke tiefer schickte. Anschließend kehrte die Sonde wieder zum Dach des Gebäudes zurück und widmete sich dringenderen Aufgaben, aus denen unter einer Milliarde anderer eine einzige deutlich hervorstach, nämlich die Entfernung eines gewissen ortsansässigen Professors mitsamt seines nicht weiter klassifizierbaren Hausgastes aus dieser Ebene der Existenz. Die Sensoren der Sonde fuhren in einem scheinbar willkürlichen Muster durch das Dreieck aus Straßen und Gassen. Das Röntgenauge der großen Maschine durchdrang jede Mauer, entdeckte jedes Installationsrohr und jede Fernsehröhre. Die Hausbewohner erschienen als winzige rote Flecken, die bei der Erledigung ihrer täglichen Geschäfte hin und her eilten und nichts davon ahnten, daß sie von einer gewaltigen voyeuristisch veranlagten Maschine beobachtet wurden, die über ihren Köpfen lauerte. Daten surrten in einem stetigen Strom in die Speicherbänke -173-
des Computers, doch plötzlich heulten die Servomotoren auf. Ein Fleck aus undurchdringlichem, blendend weißem Licht erschien auf den Sensoren. Das Makroskop fokussierte die Gegend der Störung und intensivierte seinen starrenden Blick, und bald fand es heraus, daß der Ursprung ein gewisses großes Haus mitsamt Garten mitten im historischen Butts Estate war. Die Datensuchalgorithmen husteten und stotterten in dem fruchtlosen Bemühen, einen einzigen Schnipsel relevanter Information zu filtrieren, doch es gab keine. Überhaupt keine. Der weiße Fleck strahlte und funkelte unbeeindruckt auf den Schirmen, das letzte fehlende Teilchen eines gewaltigen Puzzles. Und alles, was die Drucker ausspuckten, war eine einzige, immer gleich lautende Zeile: UNGENÜGENDE DATEN. DURCHDRINGUNGSFAKTOR NULL. NEUEN SCAN DURCHFÜHREN.
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Kapitel 20 Professor Slocombe zog seine große vergoldete Kaminuhr auf und setzte das Pendel in Bewegung, nachdem er den Vierkantschlüssel aus dem güldenen Zifferblatt entfernt hatte. Das sonore Ticken des wunderbaren Chronometers verlieh dem großen, stillen Haus wieder einmal seinen lebendigen Herzschlag. Durch die offenen Verandafenster betrat Sherlock Holmes das Arbeitszimmer. »Hat sie schon wieder zu schlagen aufgehört?« erkundigte er sich. Der Professor nickte ernst. »Ich fürchte, der Mechanismus ist infiziert worden.« Holmes warf sich in einen der Ohrensessel am Kamin. »Sie haben sich doch aus dem Stromnetz ausgeklinkt, oder?« »Wie besprochen. Wir müssen von nun an sehr wachsam sein. Ich habe sämtliche Schutzvorkehrungen getroffen, zu denen ich fähig bin, doch meine Kräfte sind nicht unerschöpflich, und ich spüre, wie der Druck der auf mir lastet, von Minute zu Minute zunimmt, sogar in diesem Augenblick.« Holmes fuhr mit einer bleichen Hand über den Hals der Whiskykaraffe und schenkte sich einen kleinen Scotch aus. »Ich habe soeben eine höchst informative Stunde mit einem gewissen Norman Hartnell verbracht. Ich muß sagen, ein Mann mit bemerkenswerten Fähigkeiten.« Professor Slocombe lächelte kläglich. »Er gibt uns allen Rätsel auf, soviel steht fest.« »Ich bemerkte, daß ein Dup likat von Norman hinter seiner Ladentheke arbeitete, und versuchte in der Folge, es zu befragen.« Der Professor hob zwei entsetzte Augenbrauen. -175-
»Das war allerdings ein äußerst wagemutiger Schachzug, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf.« »Vielleicht. Aber als ich den Doppelgänger mit der Pistole konfrontierte, die Sie mir mitgaben, ging er buchstäblich in die Luft. Er durchbrach die Ladendecke. Und in diesem Augenblick erschien zu meinem Erstaunen der echte Norman Hartnell in der Tür zum Hinterzimmer des Eckladens. Das mechanische Double war doch tatsächlich seine eigene Schöpfung! Nach seinen Worten, damit er seine kostbare Zeit mit wichtigeren Dingen verbringen kann.« Professor Slocombe kicherte laut »Bravo, Norman«, sagte er. »Unser Eckladenbesitzer verfolgt gegenwärtig wieder einmal ein sehr gewichtiges Ziel. Es ist von allergrößter Bedeutung, daß ihm dabei nichts in den Weg kommt.« Sherlock Holmes schüttelte den Kopf. »Ihr Eckladenbesitzer produziert ein fast vollkommenes Abbild von sich selbst aus wenig mehr als ein paar weggeworfenen alten Röhrenradios und einem Ding, das er ›Meccano ‹ nennt, und Sie tun so, als sei das ganz alltäglich?« »Wir sind hier in Brentford, mein Bester. Normans Genialität ist hier nicht unbekannt.« »Und wissen Sie auch, wie sein mechanischer Doppelgänger angetrieben wird?« »Wie ich Norman kenne, durch ein Federwerk und einen Schlüssel im Rücken. Oder durch eine Dampfmaschine.« »Ganz im Gegenteil, Professor«, erwiderte Holmes, während er gleichzeitig aus seinem Sessel aufsprang und sich vor der Kaminuhr in Pose warf. »Das Ding wird von einem Messingrad angetrieben, das Norman in seine Brust gesetzt hat. Ihr Eckladenbesitzer hat das Geheimnis des Perpetuum Mobile wiederentdeckt!« »Tatsächlich? Ich will verdammt sein!« Der Profe ssor biß sich auf die gelehrte Unterlippe. »Das ist natürlich etwas ganz -176-
anderes!« »Ha!« sagte Holmes und nickte eifrig. »Und jetzt wollen Sie wahrscheinlich, daß ich Ihnen den Automaten anschleppe, damit Sie seine Funktionsweise aus nächster Nähe studieren können?« »Ja, das wäre äußerst hilfreich. Meinen Sie, daß das ohne Schwierigkeiten ginge?« »Selbstverständlich. Ich nahm mir die Freiheit, der unübersehbaren Spur zu folgen, die der Automat hinterlassen hat nachdem meine Unterredung mit Norman zu Ende war. Er hat sich in der Schrebergartenkolonie verkrochen.« »Verkrochen?« »Ganz genau. In Mister Omallys Hütte. Falls es mir gelingt, ihn zu überraschen, werde ich ihn mit vorgehaltener Pistole herbeischaffen. Obwohl ich an dieser Stelle eine gewisse Verblüffung gestehen muß. Wie kommt es, daß ein Automat, der ohne sichtbare Anstrengung und ohne sich weh zu tun durch Decken und Wände springen kann, sich vor einer Pistolenkugel fürchtet?« »Selber ha!« war jetzt der Professor an der Reihe. »Sie haben Ihre Geheimnisse, und ich habe meine. Also gut, gehen Sie. Meinen Segen haben Sie. Aber seien Sie vorsichtig! Gehen Sie kein unnötiges Risiko ein.« »Natcho!« erwiderte Sherlock Rathbone Holmes und hob im Gehen die Faust in einer Geste, die allen Liebhabern des NewYork-Fernsehcop-Genres bekannt ist. »Natcho?« Professor Slocombe schüttelte den alten Kopf und wandte sich einmal mehr seinen Studien zu.
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Kapitel 21 Nachdem Pooley und Omally im Jack Lane ein bis drei Pints einer noch nicht übernommenen Brauerei geleert hatten, wanderten sie beschwingten Schrittes die fahnengeschmückte Sprite Street hinab. Zu beiden Seiten prangten heimgefertigte bunte Banner und steuerten ihren Teil zur großen Prozession des diesjährigen Festivals bei, das, obwohl inzwischen bar jeder Bedeut ung, alle Anstalten machte, trotzdem stattzufinden. Das Motto der Parade schien niemanden sonderlich zu interessieren. Während Pooley und Omally nebeneinander durch die Straße marschierten, steckten sie die Köpfe zusammen und tuschelten mit leisen, drängenden Stimmen. »Wie ich die Sache sehe«, murmelte John, »bleiben uns gegenwärtig nicht viele Möglichkeiten. Wenn tatsächlich das Ende der Zivilisation bevorsteht, können wir nur wenig, wenn überhaupt etwas dagegen unternehmen.« »Und was ist mit all meinen Millionen?« beschwerte sich Jim. »Ich dachte immer, daß die Besitzer der Reichtümer dieser Welt schon beim geringsten Anzeichen des bevorstehenden Jüngsten Gerichts auf ihre handgemachten Luxusyachten verschwinden und in den Sonnenuntergang davonsegeln?« »Was, durch den Kanal vielleicht?« »Nun ja, irgendwohin jedenfalls. Laß uns wenigstens mit Soap nach unten gehen und abwarten, bis der ganze Spuk vorbei ist.« »Daran hatte ich auch schon gedacht, aber wie du dich sicher erinnern wirst, ist es in seinem Teil der Wälder ziemlich dunkel. Stockdunkel sozusagen, und Dunkelheit scheint mir der Notenschlüssel dieses ganzen verrückten Konzerts zu sein.« »Und was schlägst du statt dessen vor?« Die beiden machten an der Ecke zur Abaddon Street Halt und -178-
blieben einen Augenblick lang stehen. Sie starrten zu dem bedrohlich aufragenden finsteren Monolithen hinauf, der vor ihnen in den Himmel ragte. »Ich habe lange über diese Geschichte nachgedacht, und ich glaube, mir ist ein Ausweg eingefallen.« »Er täte gut daran, gangbar zu sein.« »Das ist er, aber nicht hier. Hier haben die Wände Ohren, wie man so schön sagt. Laß uns zu einem Ort größerer Ungestörtheit verschwinden und dort über die ganze Sache reden.« Jedes sechsjährige Kind (sieben, wenn es aus Brentford stammte)27 konnte sich die notwendigen zwei und zwei zusammenrechnen und auf Omallys Vorschlag für einen wahrscheinlich konspirativen Versammlungsort kommen. »Meine Hütte«, sagte John denn auch folgerichtig. Die beiden Männer stapften über die Schrebergartenparzellen, und ein jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Die erste Ahnung, daß eine Begegnung eher unerwarteter Natur ihrer harrte, traf sie wie das sprichwörtliche Blaue aus heiterem Himmel. Das Geräusch von Revolverschüssen, das an ihren Trommelfellen ratterte, begleitet vom überraschenden Anblick von Omallys Wellblechdach, das sich aus seiner Verankerung löste und in ihre Richtung segelte, erfüllte die schweren Beine der beiden Brentforder mit neuem Leben. »Lauf um dein Leben!« gellte Omally. »Das tue ich bereits. Aus dem Weg!« Das Dach krachte zu Boden und verfehlte die beiden nur um wenige Zoll. Der Grund für die Zerstörung von Omallys Wellblechhütte landete Sekundenbruchteile später und sich mehrfach überschlagend mitten zwischen ihnen. Normans Doppelgänger mühte sich auf die Beine und funkelte die zerstörte Hütte an. Im Eingang tauchte Sherlock Holmes auf und -179-
schwang seinen Revolver. »Nicht schon wieder!« ächzte Pooley. Er warf sich zu Boden und kroch auf allen vieren und der Suche nach Sicherheit davo n. »Halten Sie ihn auf!« brüllte Sherlock Holmes. »Sicher, Freund. Null Problemo!« »Stehenbleiben, oder ich schieße!« Normans Doppelgänger wandte sich zu seinem Verfolger um. Er packte einen Zehn-Gallonen-Ölkanister, der sein Altenteil bis zu diesem Zeitpunkt als harmlose Wassertonne gefristet hatte, und hob ihn hoch über den Kopf. Holmes blieb tapfer mit gespreizten Beinen stehen und hielt die Waffe mit beiden Händen im Anschlag. »Das ist eine Vierundvierziger. Eine Magnum«, sagte er. »Die schwerste Handfeuerwaffe der Welt. Einen Schritt weiter, und ich blase dir den Kopf von den Schultern!« »Er hat definitiv zu viele Basil-Rathbone-Videos gesehen!« flüsterte Omally, als er in Pooleys Deckung angekommen war. »Ich weiß, was du denkst!« fuhr Sherlock Holmes fort. »Du überlegst, ob ich in dem Durcheinander eben fünf oder sechs Schüsse abgegeben habe, nicht wahr, Punk?« »Die viktorianische Ausdrucksweise hat mir um einiges mehr zugesagt«, flüsterte Jim Pooley. Normans Roboter versteifte sich. Auch er hatte schon das eine oder andere Clint-Eastwood-Video auf Normans selbstgebauter Heimanlage gesehen. »Weißt du, in all der Aufregung habe ich selbst vergessen zu zählen. Also, was meinst du, Punk?« Der mechanische Punk, der genau diesen Film bereits sechsmal gesehen hatte, hob langsam die Hände. »Sie haben gewonnen, Gouverneur«, sagte er. »Los, an die Wand, und mach die Beine breit, Drecksack!« -180-
brüllte Holmes, und Arthur Conan Doyle drehte sich in seinem Grab um. Nicht lange Zeit darauf betraten Jim Pooley, John Vincent Omally, Mister Sherlock Holmes sowie ein nahezu perfektes Faksimile eines angesehenen Brentforder Ladenbesitzers das Arbeitszimmer von Professor Slocombe. Der alte Gelehrte blickte von seinem Schreibtisch auf und drehte sich auf seinem Stuhl den Eintretenden zu. »Das ging wirklich überraschend schnell«, sagte er an Holmes gewandt. »Sie haben kurzen Prozeß gemacht, mein Lieber, wie?« Und an dem Doppelgänger gewandt: »Guten Tag, Norman.« Der mechanische Ladenhüter musterte den Professor wie Vogelmist auf einer Hutkrempe. »Sie täten gut daran, uns in Frieden zu lassen«, sagte er. Professor Slocombe drehte die Handflächen nach außen. »Bitte setz dich doch«, forderte er den Roboter auf. »Ich werde dich nicht länger aufhalten als nötig. Ich suche lediglich einige Antworten auf ein paar äußerst drängende Fragen.« Der Doppelgänger legte schützend die Hände auf die Brust »Um mir anschließend das Leben wegzunehmen.« »Nein, nein! Ich schwöre es. Bitte setz dich.« Professor Slocombe wandte sich zu seinen restlichen Gästen um. »Bitte bedient euch selbst«, sagte er. »Norman und ich haben viel zu bereden.« Holmes hielt seinen Revolver unverwandt auf das rotierende Herz des Roboters gerichtet »Sie haben mir zur Vorsicht geraten, Professor, und jetzt ist die Reihe an mir.« »Ein gewisses Maß an Vertrauen ist unabdingbar, mein lieber Holmes. Bitte legen Sie die Waffe weg, ja?« Holmes gehorchte widerstrebend. Pooley und Omally zankten -181-
sich unterdessen um die Whiskykaraffe und gelangten nach einigem Hin und Her zu einem Kompromiß. »Es ist von allergrößter Wichtigkeit daß wir uns unterhalten«, wandte sich Professor Slocombe an Normans Doppelgänger. »Bitte glaube mir, ich will dir nichts Böses. Wirst du ehrlich zu mir sein?« »Das werde ich, Sir. Aber behalten Sie den dort im Auge. Der Mann ist eindeutig übergeschnappt. Er nennt sich selbst Sherlock Holmes, aber er weiß nichts über die neununddreißig Stufen. Ich wäre außerdem sowieso zu Ihnen gekommen, aus freien Stücken.« »Tatsächlich?« »Oh, selbstverständlich.« Der Roboter räusperte sich mit einem merkwürdig metallischen Geräusch, das Pooley und Omally die Haare zu Berge stehen ließ. »Die Dinge dürfen unter keinen Umständen so weiterlaufen wie bisher.« Professor Slocombe hob fragend die Augenbrauen. »Also bist du dir dessen gewahr?« »Ich kann sie reden hören. Sie nagen an meinem Verstand, doch ich lasse sie nicht herein. Ich bin Normans Mann, und ich habe bei meinem Leben geschworen, ihn zu beschützen.« »Deine Loyalität ist höchst lobenswert.« »Ich habe geschworen, den Menschen zu dienen.« »Hinter einer Ladentheke«, schnarrte Omally. Der Roboter nickte erbittert. »Es klang ein wenig nobler, wie ich es ausgedrückt habe, aber egal. Von der Menschheit ist wenig genug übrig, dem ich dienen könnte. Die Ladenklingel schweigt den größten Teil des Tages. Das Geschäft geht immer weiter zurück. Ich gebe kaum noch eine Bestellung auf, und wenn, dann sind die neu eintreffenden Bestände noch weiter gekürzt. Der Hauptcomputer regelt jetzt alles. Die Menschheit schwindet dahin, die neue Ordnung triumphiert, und Brentford -182-
versinkt mitsamt der restlichen Welt in Dunkelheit. Ragnarök steht bevor. Die Götterdämmerung!« »Spar dir deinen Lawrence Olivier, du uhrwerkbetriebener Clown!« schnarrte John Vincent Omally, der tapfere Sohn des Saarlands.28 »Wie würde dir ein Mundvoll Stiefel schmecken?« erkundigte sich der Roboter. »Meine Herren, ich muß doch bitten!« unterbrach Professor Slocombe die hitzige Auseinandersetzung. »Lassen Sie uns die Contenance bewahren!« »Der Drecksack hat meine Hütte eingerissen!« beschwerte sich Omally. »Für einen, der geschworen hat, die Menschen zu beschützen, ist er ungefähr so nützlich wie ein Nippel an einer …« »Bitte, John. Bitte beruhige dich. Wir erreichen überhaupt nichts, wenn wir uns untereinander bekämpfen. Wir müssen alle am gleichen Strang ziehen.« »Sie können ziehen, was immer Sie wollen«, sagte der Roboter. »Aber glauben Sie mir eins, wenn Ihnen nicht ganz schnell irgend etwas ganz Außergewöhnliches einfällt, dann sind Sie im Eimer. Allesamt Im A … R … S …« »Ich muß doch bitten!« sagte Professor Slocombe. »Ich denke, ich verstehe, was du sagen willst. Aber ich kann dich beruhigen. Ich habe da nämlich eine ganz außergewöhnliche Idee.«
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Kapitel 22 »AAAAAAA–OOOOOOOOO–AAAAAAAA– OOOOOOHHH … Oooooh … Oh?« Neville der Teilzeitbarmann erwachte nach einer Abwesenheit von elf Kapiteln. Er ließ das erprobte und gerne verwandte »Wo bin ich?« aus und fragte statt dessen: »Warum habe ich eine Glühbirne im linken Nasenloch stecken?« Was, wenn schon nichts anderes, so doch wenigstens originell war. Er verdrehte die Augen in Richtung der Decke, die nur zwei oder drei Zoll über seinem Gesicht schwebte, und hob eine gewaltige Hand, um das Ärgernis beiseite zu wischen, das sein rechtes Nasenloch blockierte. Dieses Bett ist vielleicht ein wenig hoch, dachte er bei sich, doch dann sah er seine Hand, und die schrecklichen Erinnerungen an die gegenwärtige, höchst despektierliche Situation kehrten in einer wahren Flutwelle von Fettgewebe zurück. »Ich bin so dick!« stöhnte Neville, und seine Stimme kam aus den polternden Tiefen eines gigantischen Magens und brachte die Decke zum Zittern. »Das verdammte schreckliche Fett!« Er versuchte, seinen gewaltigen Kathedralenkopf zu bewegen, doch der schien fest in einer oberen Ecke des winzigen Krankenzimmers eingekeilt zu sein. Mühsam bewegte er sich auf seinem Bett hin und her, bis er in der Lage war, einen Blick über die gigantische Leibesfülle seines Körpers nach unten zu werfen und sich eine Vorstellung zu verschaffen, wo zur Zeit das feste Land lag. Es lag ein gutes Stück weit entfernt, und zwar in einer relativ senkrechten Richtung. »Ooooooooh!« stöhnte Neville, und: »Oje! Ojemine! Es ist noch viel schlimmer geworden!« Ein plötzliches Geräusch ließ ihn seine gegenwärtige schlimme Lage vorübergehend vergessen. Irgendwo tief unter seinem mächtigen Leib wurde eine Tür geöffnet. Von seinem -184-
Adlerhorst oberhalb der Bilderleiste herab gelang es Neville unter Mühe, eine winzige Krankenschwester zu erspähen, die ins Zimmer getreten war. »Und wie geht es uns heute?« erkundigte sich die feenhafte Pflegerin. »Uns?« Nevilles Stimme überschlug sich vor Verzweiflung. »Wollen Sie damit sagen, daß ich inzwischen mehr als eine Person bin?« »Nein, nein!« Die winzige Krankenschwester hielt ihre puppenhaften Händchen hoch. »Sie machen sich sehr gut. Sie machen Fortschritte, gewaltige Fortschritte, wenn ich das so sagen darf, keine Sorge. Es besteht wirklich überhaupt kein Anlaß zu Sorge.« Jetzt bemerkte Neville zu seinem unaussprechlich gesteigerten Entsetzen auch, daß die Krankenschwesterzwergin ein hypodermisches Injektionsgerät in der Hand hielt, das in ihren Winzfingern zwar so klein aussah wie eine silberne Zigarettenspitze, aber nichtsdestotrotz kein Stück weniger furchterregend auf Neville wirkte wie all die anderen Spritzen, deren Bekanntschaft sein Hinterteil in letzter Zeit unfreiwillig gemacht hatte. »Zeit für unsere tägliche Übung! Drehen Sie sich bitte auf den Bauch.« »Auf den Bauch drehen? Sind sie verrückt geworden, Frau?« Neville wackelte mit den gewaltigen Wurstfingern auf die Zwergin hinab. Die Frau grinste ihn an. »Nun kommen Sie schon, Sir«, flötete sie. »Wir werden doch wohl nicht wieder einen unserer kleinen Wutanfälle bekommen, oder?« Hätte Neville einen seiner Füße befreien können, möglicherweise sogar den, der jetzt über der Schiene eingeklemmt war, die sein Bett umgab, er hätte die winzige Schwester mit Freuden zu Mus zertreten. -185-
»Nun machen Sie schon, Sir. Umdrehen. Rollroll sozusagen.« »Knirsch knirsch!« machte Neville, und: »Wa … We … Wi … Wo … Wut!« »Jetzt fangen Sie nicht wieder so an, Sir. Beruhigen Sie sich, oder ich muß den Arzt holen!« »Knirsch! Spuck!« Neville kämpfte darum, einen Fuß zu befreien. Oder einen Arm. Was auch immer. »Sie lassen mir keine andere Wahl, Sir«, sagte die kleine Krankenschwester. Sie machte auf dem Absatz kehrt und warf hinter sich laut die Tür ins Schloß. Neville rieb sich die Nase an der Decke. Wie lange mochte er schon hier liegen? Tage? Monate? Jahre vielleicht? Er hatte nicht die leiseste Ahnung. Was geschah mit ihm? Wurde er mit Drogen vollgepumpt und auf diese Weise ruhiggestellt? Er hatte von Anfang an geahnt, daß hier eine Konspiration im Gange war … aber was hatten sie vor? Sie hatten ihn wie einen Heißluftballon aufgeblasen, und Gott allein wußte warum. Möglicherweise für irgendeine neue illegale Hormonforschung, mit dem Ziel, die Schinkenausbeute bei irgendeiner armen Rasse von Schweinen zu erhöhen. Oder waren es die Illuminaten? Die Freimaurer? Die Moonies? Oder eine andere von diesen ganzen schrillen Gruppierungen? Nur weil Neville leicht paranoid war, hieß das noch lange nicht, daß sie nicht hinter ihm her waren. Und schlimmer noch als all das: Was geschah in der Zwischenzeit mit dem Fliegenden Schwan? Dieser ausgemusterte Leichtmatrose Croughton würde die Hände bis zu den Achselhöhlen im Bierschaum haben. Das Bier würde schal schmecken, die Aschenbecher überquellen, und vielleicht würden die Gäste sich nicht einmal mehr zur Sperrstunden hinauswerfen lassen. Omally würde schon Sorge dafür tragen. Sehr wahrscheinlich trank er in diesem Augenblick ein Pint nach dem anderen auf Kredit! -186-
Es war alles zuviel. Neville mußte fliehen, und wenn der einzige Grund der war, seine Reputation zu retten. Er drehte und wand sich in seinem Gefängnis, eine moderne Alice, die in einem sterilisierten Puppenhaus gequält wurde. Die Tür zu seinem viel zu kleinen Krankenzimmer tief unter ihm flog auf, und die winzige Krankenschwester trat wieder ein, diesmal in Begleitung eines blaßgesichtigen jungen Arztes mit Kopfhörern. Neville beobachtete in ängstlicher Erwartung, wie der Arzt ein kleines schwarzes Gerät aus seinem Gürtel zog, das mit zwei schlanken metallischen Stäben versehen war. »Wir sind also wieder ungezogen?« erkundigte er sich, nachdem er sich mit einem merkwürdigen metallischen Geräusch geräuspert hatte. »Wann werden wir unsere Lektion denn jemals lernen?« Neville der Teilzeitbarmann verdrehte die Augen und knirschte mit den Zähnen. »Wa … We … Wi… Wo …« Der blasse junge Mann trat einen Schritt vor und setzte die Elektroden des Kästchens auf Nevilles Unterleib. Eine bewußtseinszerreißende Woge aus rohem Schmerz fetzte durch die Nervenbahnen des Teilzeitbarmanns, und einmal mehr versank er in einem blendenden roten Nebel aus reinstem dumpfem Schmerz.
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Kapitel 23 Die Sonne schob sich quälend langsam in den Himmel über dem Brentforder Dreieck und schien auf eine Gemeinde herab, die längst auf den Beinen war. Niemand war schlecht gelaunt oder jammerte über das frühe Aufstehen, wie es an anderen Tagen der Fall gewesen wäre. Im Gegenteil, die Männer und Frauen waren begierig, ihre Arbeit fortzusetzen, und wie immer drehte sich alles um das bevorstehende Brentforder Festival. Jetzt schon tanzten barfüßige Kinder steifbeinig um die Maibäume, die man rings um den Butts Estate gesetzt hatte. Die Geräusche von Hammerschlägen und Nageln echoten durch die Straßen, während in unzähligen Hinterhöfen die schweren Festwagen zurechtgemacht wurden. Die gesamte Gegend fieberte dem großen Ereignis entgegen, wenn auch die Gründe und die Frage nach dem Sinn des Ganzen unter einem nebelhaften Schleier verborgen blieben. John und Jim schlummerten unter Kartoffelsäcken in einem wellblechernen Schuppen ohne Dach, und sie schlummerten den Schlaf des Bacchanten. Professor Slocombe mühte sich unter Zuhilfenahme eines Rechenstabs durch schwere Folianten, und Sherlock Holmes kroch irgendwo weit weg über ein Hausdach und suchte mit seinem Vergrößerungsglas nach rätselhaften Spuren. Norman aus dem Eckladen hantierte mit Engländer und Lötkolben an seinem jüngsten Projekt, und der Alte Pete mitsamt Chips auf den Hacken humpelte durch die Ealing Road und fluchte noch immer bitter vor sich hin. Neville schlief in einem Rausch aus zwangsweise verabreichten Suppressiva, während er wilde Träume von Flucht und Rache träumte. Auch die alten Götter schliefen, doch der Morgen der Magier war nicht mehr weit. -188-
»Die Dinge sind ganz eindeutig nicht mehr das, was sie einmal waren«, stöhnte Jim Pooley. Die Schrebergartenkolonie war so etwas wie das Naturschutzreservat der Gemeinde, und das Übermaß an fröhlichem Vogelgezwitscher hatte den Millionen Dollar schweren Penner und seinen Zechkumpanen widerwillig aus den Armen des guten alten prächtigen Morpheus gerissen. Jim kroch unter seinen Kartoffelsäcken hervor und begrüßte die Welt ringsum mit einer gähnenden Grimasse. Er mühte sich, den gefiederten Zwitscherchor durch laute Rufe und Armefuchteln zu verscheuchen. Vergebens. »Bevor ich reich war«, brummte er und klopfte sich an den Schädel, in der Hoffnung, auf diese Weise ein wenig Ordnung in das darin enthaltene Chaos zu bringen, »bevor ich reich war, mußte ich nur selten in einer Schrebergartenhütte Zuflucht für die Nacht suchen.« Eine zweite jammervolle Gestalt quälte sich aus der Hütte, und ihr Anblick brachte die Vöglein so schlagartig zum Verstummen, wie es sonst wohl nur eine zwölfer Schrotflinte vermocht hätte. Das gottvergessene Ding, das sich in besseren Augenblicken John Vincent Omally nannte, hätte jede Mutter in Ohnmacht sinken lassen, noch bevor sie ihre Kinder von der Straße holen konnte. »Morgen, Jim«, sagte Omally. Pooley erblickte die Gesichtsruine. »Verschwinde bitte wieder, ja?« bat er flehentlich. »Vor dem Frühstück kann ich diesen Anblick nicht ertragen.« Omallys Magen gab einen protestierenden Laut von sich. »Frühstück ist in der Tat gar keine schlechte Idee«, sagte er und zog sich mitsamt seinem wüsten Gesicht in die Dunkelheit der Hütte zurück. Die Vögel nahmen ihr Konzert wieder auf. »Ruhe da oben!« bellte Pooley und umklammerte seinen -189-
Schädel. Der Krach drohte ihn bersten zu lassen. »Sollen wir versuchen, beim Professor ein oder zwei Scheiben Toast abzustauben?« fragte Jim. »Ganz bestimmt nicht!« antwortete eine Stimme aus der Dunkelheit. »Ich verspüre nicht den geringsten Wunsch, diesen Gentleman wiederzusehen. Ich würde ihm gerne die Bekanntschaft wieder abkaufen, Jim. Leih mir ein wenig Geld.« »Ich leih dir ein Pfund, aber nicht mehr.« »Komm, wir gehen zu Norman. Er befindet sich gegenwärtig sowieso im Hintertreffen, und ein wenig Gesellschaft kann ihm nicht schaden.« Pooley rieb sich die Stirn und bemühte sich eine Zeitlang vergebens, den Blick zu schärfen. »Also schön«, sagte er schließlich. »Aber wenn er anfängt, den Speck mit der linken Hand zu teilen, verschwinde ich auf der Stelle, das sage ich dir.« Omallys Gesicht tauchte einmal mehr aus der Dunkelheit auf. Diesmal sah es schon fast wieder aus wie das, welches er normalerweise zu tragen pflegte. »Du besitzt ganz außergewöhnliche Regenerationsfähigkeiten, weißt du das?« sagte Pooley. »Ich komme aus Dublin.« »Ach so.« Die beiden Männer stopften ihre jeweiligen Hemdzipfel in die Hosen und stolperten so gut es ging über die Schrebergartenparzellen in Richtung Tor und Albany Road. Hundert Yards hinter ihnen setzten sich ein zweiter Pooley und ein zweiter Omally in Bewegung und folgten ihnen in sicherem Abstand. »Letzte Nacht«, begann der erste Jim, während sie die Moby Dick Terrace passierten, »letzte Nacht hast du irgend etwas davon erwähnt, daß du zu einem Entschluß gekommen wärst? -190-
Aber vielleicht ist es noch zu früh am Morgen, um dieses Thema anzuschneiden?« »O nein«, sagte John, und: »O ja!«, wobei er die Brust herausreckte. »Ich bin zu einem Entschluß gekommen, und die Sache erscheint sonnenklar.« »Und was diesen besonderen Plan angeht … ist er koscher und über alle Zweifel erhaben oder der übliche gutgemeinte Stuß eines Besoffenen?« »Ich hatte ein oder zwei Bierchen, zugegeben, doch bei weitem nicht so viel, daß ich nicht mehr klar hätte denken können.« Fünfzig Yards hinter den beiden marschierten der andere Pooley und der andere Omally in vollendetem Gleichschritt, während ihre Blicke unverwandt geradeaus gerichtet blieben. »Dann erzähl mal, John«, sagte Jim. Omally tippte sich an die Nase. »Alles zu seiner Zeit. Laß uns erst ein Frühstück zwischen die Kiemen schieben, ja?« Sie bogen um die Ecke in die Ealing Road und erblicken den Alten Pete, der ihnen mit unter den Arm geklemmter Tageszeitung fluchend und schimpfend entgegengehumpelt kam. Der junge Hund Chips folgte ihm in geringem Abstand, wobei er wie stets jeden La ternenpfahl als sein Eigentum markierte, den er unterwegs antraf. Der Greis humpelte weiter. Als sie auf gleicher Höhe angekommen waren und der Alte Pete John und Jim erblickte, grunzte er ein halbherziges »Morgen zusammen«. Plötzlich ließ er seine Zeitung fallen und hob den Stock. Er starrte mit weit aufgerissenen Augen auf etwas, das hinter John und Jim lag, und in seinem offenstehenden Mund schimmerte bleiern das ganze schreckliche Ausmaß nationaler Gesundheitsvorsorge. »Ihr G-g- götter!« stammelte er. »Jetzt verliere ich den -191-
Verstand!« John und Jim sahen sich an, sahen auf den gestikulierenden Alten und folgten dann der Richtung seiner verblüfften Blicke. Und erblickten ihre beiden Doubles, die mit eiligen Schritten näher rückten. »Lauf um dein Leben!« kreischte Omally, doch Jim war längst gestartet. Die beiden rasten mit olympischer Geschwindigkeit an dem konfusen Alten und seinem ähnlich derangierten jungen Hund Chips vorbei, und ihre Doubles taten es ihnen nach und folgten ihnen dicht auf den zurückweiche nden Fersen. Der Alte Pete blickte dem merkwürdigen Quartett hinterher, das bald in der Feme verschwand. Er bückte sich schwerfällig, um seine heruntergefallene Zeitung wieder aufzuheben, und schüttelte voller Verwunderung den alten Kopf. »Ich bin fest überzeugt, daß ich das gesehen habe«, berichtete er Chips. »Aber das geht bestimmt auch wieder vorbei.« Der junge Hund Chips antwortete mit einem dumpfen Grollen. Er hatte erst kürzlich den Postboten zu beißen versucht und dabei ein paar seiner Lieblingszähne verloren. Er wußte längst nicht mehr, was er von dieser ganzen Sache halten sollte, und achtete deswegen um so mehr darauf, unparteiisch zu bleiben. John und Jim durchrannten die Ealing Road in einer absoluten Ausnahmezeit. Sie passierten Normans Eckladen, den Fliegenden Schwan und den Prinzessin Vic und hatten bald darauf den Brentforder Fußballplatz erreicht. »Und wohin jetzt?« ächzte Pooley. »Ich wüßte nicht, wohin wir noch rennen könnten.« »Egal, lauf einfach weiter! Wir müssen sie abschütteln!« John schielte über die Schulter nach hinten. Weder sein noch Johns Doppelgänger schienen einen Anflug von Erschöpfung zu spüren, ganz im Gegenteil. Wenn überhaupt, dann sahen sie jetzt -192-
noch frischer aus, als täte ihnen die Bewegung gut. »Lauf, Jim! Lauf um dein Leben!« Und die beiden Gejagten liefen. Sie liefen in das Labyrinth aus Gassen und Straßen hinter dem Fußballfeld, und ihre Doppelgänger rannten hinter ihnen her, die Blicke stets starr geradeaus gerichtet. Unvermittelt zerrte Omally seinen reichen Freund in eine Seitengasse. »Hier entlang, und Beeilung bitte«, drängte er. Der atemlose Jim brach zu einem hustenden Haufen Elend zusammen. »Ich kann nicht mehr«, krächzte er. »Laß mich hier liegen, ich will sterben.« »Das wirst du ganz bestimmt! Los, Mann, stell dich nicht so an! Weiter geht's!« Omally schob Pooley vorwärts. Das Geräusch stetig näher rückender Schritte echote in seinen Ohren. Sie rannten die mülltonnenübersäte Gasse hinunter, und John warf so viele Tonnen um, wie er konnte. Ihre Doppelgänger hasteten hinter den Fliehenden her und traten und stießen die Tonnen scheinbar mühelos beiseite. Schließlich kamen John und Jim in einer obskuren Seitenstraße heraus, die keiner von beiden je zuvor gesehen hatte. Die Sensoren der TORE & FENSTER CORP. hingegen, die jede ihrer Bewegungen verfolgt hatten, wußten bis auf mehrere Stellen hinter dem Komma genau, wo sie sich befanden. »Es muß doch eine Möglichkeit geben, sie abzuschütteln!« hechelte Pooley. »Renn weiter, verdammt noch mal!« erwiderte Omally. Ihre Doppelgänger hatten inzwischen die Seitenstraße erreicht. -193-
Pooley und Omally rannten quer durch ganz Brentford. Sie schlugen Haken wie die Hasen, setzten über Gartenzäune hinweg, kletterten Feuerleitern hinauf und hinunter, zickzackten unter den alten Bäumen des Memorial-Parks hindurch, weiter und weiter auf der Flucht, stets das Stampfen im Gleichschritt rennender Verfolgerfüße in den Ohren, das auch nicht für einen einzigen Augenblick aussetzte. »Ich kann wirklich nicht mehr!« würgte Jim, als die beiden sich mühselig über eine hohe Mauer gequält und auf der anderen Seite in eine absolut nicht vorhandene Sicherheit gebracht hatten. »Ich bin am Ende. Erledigt Kaputt.« Der Schweiß rann Omally in Strömen über die Stirn und brannte ihm in den Augen. Er schälte sich aus seiner Jacke und schleuderte sie achtlos beiseite. »Nicht mit mir!« hechelte er. »Ich lasse mich doch nicht durch irgendeinen mechanischen Apparat ersetzen! Jedenfalls nicht, solange ich atmen kann!« Ein lautes Krachen und Poltern ertönte, und nicht weit von ihnen entfernt brach ein Teil der hohen Mauer zusammen. Die beiden Doppelgänger hatten offensichtlich ihre vereinten Kräfte eingesetzt »Lauf, Jim! Lauf!« »Mit dir nehm' ich's immer noch auf!« John und Jim stolperten über die alte Pflasterstraße in Richtung der Brentforder Docks. Ihre letzten Reserven waren längst verbraucht. Die Nägel ihrer Schuhe klapperten und schlugen auf den Steinen Funken, während ihre seelenlosen Verfolger weiterhin mit müheloser Leichtigkeit Schritt hielten. John zerrte Jim in eines der leerstehenden Lagerhäuser, und ihre infraroten Abbilder verschwanden unvorhergesehen von den Schirmen der TORE & FENSTER CORP.-Computer. Die beiden Freunde suchten mit klopfenden Herzen nach Schutz in der Dunkelheit und duckten sich hinter eine m Stapel zurückgelassener Frachtpaletten. Draußen wurde das Geräusch -194-
sich nähernder Schritte lauter, dann verstummte es mit einem Mal. »Still jetzt!« flüsterte Omally und preßte dem unkontrolliert hechelnden, rotgesichtigen Pooley die Hände aufs Gesicht. Jim schnappte verzweifelt nach Luft und sank dann mit einem dumpfen Geräusch zu Boden. Omally pssstete ihm mit auf den Lippen liegendem Zeigefinger zu, während langsame, unsicher suchende Schritte näher kamen. »Sei still jetzt um Gottes willen.« Die Doppelgänger wanderten suchend vor dem Lagerhaus hin und her und schnüffelten mit ihren hochentwickelten nasalen Sensoren prüfend die Luft, in der Hoffnung, auf diese Weise die Spur ihre r Opfer wiederzufinden, doch das Ozon über den alten Docks vereitelte diesen Plan. Pooley wischte sich mit der Hand den Schweiß von der Stirn und schleuderte die Tropfen auf den staubigen Boden. Er blickte fragend zu John, doch der zuckte in der Dunkelheit nur die Schultern. Lange, qualvolle Minuten vergingen. Jim faltete seine Jacke über der Brust, um das laute Pochen seines Herzschlags zu dämpfen. Omally schlich auf der Suche nach einem zweiten Ausgang hin und her. Draußen umschlichen ihre Doppelgänger auf geräuschlosen Sohlen das Gebäude, während sie schnüffelten und nach Spuren suchten. Der falsche Omally deutete auf das weit geöffnete Tor, und der falsche Pooley nickte. Die Doppelgänger betraten das verlassene Lagerhaus. Omally sah ihre Schatten über den Boden huschen und preßte sich ganz flach an den Boden. Langsam und unaufhaltsam näherten sich die Doubles seinem Versteck. Ihre Schaltkreise in den mechanischen Gehirnen nahmen sämtliche Daten aus der Umgebung auf und verarbeiteten sie -195-
schneller, als ein synthetisches Augenlid zwinkern konnte. Plötzlich ertönte hinter dem Palettenstapel eine törichte Stimme: »Ich schätze, wir haben sie abgehängt, was, John? Wollen wir eine rauchen?« Omallys Augen weiteten sich voller Entsetzen, als er sah, wie zwei Köpfe - einer sein eigener, der andere der seines besten Freundes - auf ihren reib ungslosen Gelenken in die Richtung schwangen, aus der die Stimme gekommen war. Er gestikulierte in Jims Richtung, dessen bleiches Gesicht jetzt grinsend hinter dem Palettenstapel zum Vorschein gekommen war. »Pssst! Pssst« Der Roboterpooley sprang vor und packte die Paletten, die zwischen ihm und dem echten Jim lagen. Er zerriß den Stapel ohne erkennbare Mühe und schleuderte die Trümmer in alle Richtungen davon. Jim blickte bleich und bebend auf und sah dem Tod ins grinsende Angesicht. »Hilf mir, John!« kreischte er und wich zur Wand zurück. »Unternimm doch endlich etwas!« Der Roboter grinste wie ein Wasserspeier und zog ein kleines, bösartig aussehendes Instrument mit zwei herausragenden Elektroden aus der Hosentasche seines brandneuen Anzugs. Mit einer Daumenbewegung entsicherte er den Apparat, und Funken knisterten zwischen den Spitzen der beiden Stäbe. Omally blickte sich gehetzt nach einer geeigneten Waffe um, und seine Hand schloß sich um ein rostiges Stück Eisenrohr. »Nieder mit den Rebellen!« schrie er und warf sich auf Jims Angreifer. In diesem Augenblick wandte sich sein eigener Doppelgänger zu ihm um und starrte ihm in die Augen. »Du verdammter Bastard!« geiferte Omally. »Komm doch, wenn du dich traust!« -196-
Er schwang seinen improvisierten Totschläger mit aller Kraft, doch der Roboter streckte blitzschnell die Hand aus und packte das Rohr, entriß es Johns Griff und schleuderte es durch das gesamte Lagerhaus. Omally wich geduckt zurück, und sein Doppelgänger griff in die Tasche. Das Grinsen auf seinem Gesicht wurde womöglich noch breiter, als er ebenfalls einen kleinen schwarzen Apparat zum Vorschein brachte. »Halt! Niemand bewegt sich, oder es knallt!« echote unerwartet eine Stimme durch das Lagerhaus. Vier Augenpaare wandten sich nach einem fünften um. Es gehörte einer hochgewachsenen, schlanken Gestalt, deren geduckte Silhouette breitbeinig vor dem Tageslicht im Eingang der alten Halle zu erkennen war. Sie hatte die Hände vorgestreckt und hielt eine Waffe. »Das ist eine vierundvierziger Magnum«, rief die Gestalt, »die stärkste Handfeuerwaffe der Welt. Sie kann einem Menschen glatt den Kopf von den Schultern blasen. Was meint ihr, Punks?« Die Roboterdoppelgänger sahen »ihre« Menschen an, einer am Boden kauernd und seine empfindlichen Teile schützend, der andere trotzig und herausfordernd, das Barlow-Messer mit den vierundvierzig Funktionen in der Hand. Dann drehten sie sich gleichzeitig zu der Quelle ihres Ärgers um. »Halt oder ich schieße!« brüllte Sherlock Holmes. Die Roboter stahlen sich auf synthetische n Sohlen näher an den Meisterdetektiv heran. Oder versuchten es zumindest. »Wie ihr meint.« Holmes Finger krümmte sich um den Abzug, und zwei rasche Schüsse erklangen. Der Roboterpooley wurde in einer verschwommenen Bewegung von den Füßen gerissen, als sein Kopf in einem -197-
Gewirr von Drähten und Funken zersprang. Der Omally sank in die Knie, und fauliger gelber Schleim strömte aus zwei übergroßen Löchern vorn und hinten am Hals. Er wollte aufstehen und nach vorn stolpern. Seine grausamen, zu Klauen gekrümmten Hände fuhren ziellos durch die Luft. Plötzlich richtete er sich kerzengerade auf, um gleich darauf wie vom Blitz getroffen zu Boden zu fallen und sich nicht mehr zu rühren. Holmes blies in den Lauf seines Vierundvierzigers, wirbelte die Waffe um den Zeigefinger und schob sie dann in das Schulterhalfter zurück. »Hab' ich euch doch noch erwischt«, sagte er. Omally ließ die Klinge seines Barlow-Messers wieder einschnappen und verstaute das Werkzeug in der Brusttasche. Dann ging er zu dem zitternden Pooley, um ihm zu helfen. »Vielen Dank«, sagte er über die Schulter zu Sherlock Holmes. »Mir scheint, wir stehen einmal mehr in Ihrer Schuld.« »Keine Ursache«, antwortete der große Detektiv. Er beugte sich über die »Leichen« der falschen Pooleys und Omallys und machte sich daran, ihre Taschen zu untersuchen. Jim kroch vor und beobachtete voller Entsetzen, wie Holmes den Inhalt begutachtete, bevor er ihn achtlos zur Seite warf. Ein verschmutztes Taschentuch, ein schmierender Kugelschreiber, ein goldenes Cartier-Feuerzeug mit Pooleys Initialen sowie ein angebrochenes Päckchen Zigaretten der Marke Passing Clouds. Pooley klopfte hektisch seine Taschen ab; offensichtlich war er ausgeraubt worden. Zu seinem gesteigerten Entsetzen jedoch förderte sein Klopfen und Suchen ein beschmutztes Taschentuch, einen undichten Kugelschreiber und das gleiche Cartier-Feuerzeug zutage, das aufzufüllen er noch nicht gelernt hatte. Selbst die Packung Zigaretten war da. Pooley reichte sie Sherlock Holmes. Der Meisterdetektiv nahm die Packung und öffnete sie: -198-
siebzehn Stück. Er nahm die Packung des Doppelgängers und öffnete sie: Ganze drei Stück fehlten in der Zwanzigerpackung. »Äußerst gründlich, wie ich konstatieren muß. Nicht das allerkleinste Detail wurde vergessen«, sagte Holmes. »Wenn ich raten müßte, würde ich sagen, daß selbst die Krümel in Ihrer Tasche mit denen dieses Roboters hier übereinstimmen.« Jim erschauerte. Holmes beendete seine Suche und überzeugte sich, daß er keine wichtigen Hinweise übersehen hatte. Er stand auf und machte Anstalten zu gehen. »Ich muß los«, sagte er. »Die Jagd ist in vollem Gange.« »Na, dann wünsche ich Ihnen wenigstens viel Glück!« sagte Jim. »Ihre Anerkennung in Ehren, Jim, aber Glück hat nicht das geringste mit dem Ergebnis meiner bisherigen Ermittlungen zu tun.« Holmes tippte sich mit dem Zeigefinger an die Schläfe. »Es kommt alles von hier oben. Die Wissenschaft der Deduktion, zur Kunstform erhoben, weiter nichts.« »Ja«, sagte Oma lly zweifelnd. »Nun ja. Das mag sein, wie es will … trotzdem meine besten Wünsche für das Gelingen Ihrer Mission.« »Danke sehr«, erwiderte der Detektiv. »Aber jetzt muß ich wirklich los.« Und mit diesen Worten sprang er durch die Lagerhaustür nach draußen und war fast im gleichen Augenblick verschwunden. »Ich sage trotzdem, daß er ein Irrer ist!« Omally klopfte den Staub und Schmutz aus dem Anzug des betäubten, willenlosen Jim Pooley. Die beiden elektronischen Kadaver lagen reglos auf dem Boden, und es war sicher kein angenehmer Anblick den eigenen Leichnam vor den Füßen zu sehe n. Und den verstreuten Dreck -199-
aus den eigenen Taschen. Omally drehte Jims Kopf weg. »Komm, mein Freund«, sagte er leise. »Wir haben noch einmal Glück gehabt. Laß uns rasch verschwinden.« Jim deutete kraftlos auf seinen Doppelgänger. »Das war ich!« flüsterte er immer wieder. »Das war ich!« »Nun, jetzt jedenfalls nicht mehr, oder? Komm, laß uns verschwinden.« »Das würde ich nicht tun!« sagte eine Stimme hinter ihnen. Omally erstarrte zur Salzsäule, während seine Hand erneut nach dem Barlow-Messer in der Brusttasche tastete. »Ich an eurer Stelle würde nicht nach draußen gehen.« Langsam und geschlagen drehte sich Omally um, um der neuen Gefahr ins Gesicht zu blicken. Auf der anderen Seite des verlassenen Lagerhauses tauchte ein Kopf vor einem jetzt offenen Kanald eckel auf. Er gehörte zu Soap Distant.29 »Das Dach ist aus Blei«, sagte der rotäugige Mann von Unten. »Die Sensoren der Computer können es nicht durchdringen. Nur das hat euch gerettet.« Omally spähte in die Dunkelheit hinauf. »Das also war der Grund.« »Beeilung jetzt«, sagte Soap Distant. »Die Ersatzmannschaft ist schon unterwegs.« Das mußte man John nicht zweimal sagen. Er schob den immer noch willenlosen Pooley vor sich her und in den Kanalschacht, der ein unbestimmtes Gefühl von einstweiliger Sicherheit versprach. Als Jims Kopf in der Dunkelheit verschwunden war, machte Omally noch einmal kehrt und ging zu seinem stillgelegten Doppelgänger zurück. Er musterte seine eigenen Überreste mit dem knappsten aller Blicke und bückte sich dann, um dem Leichnam den linken Stiefel vom Fuß zu ziehen. Als er den Stiefel in der Hand hielt und umdrehte, fiel ein -200-
Bündel Banknoten heraus. »Äußerst sorgfältig«, murmelte er, »in der Tat äußerst sorgfältig«, und steckte seine Kriegsbeute in die Tasche.
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Kapitel 24 Eine halbe Meile hinter der Oberfläche des Planeten Erde bot Soap Distant John Vincent Omally eine Tasse Tee an. »Diesmal sage ich nicht nein«, bedankte sich John. »Besteht vielleicht zufällig die Aussicht auf ein Frühstück, Soap?« »Selbstverständlich.« Der rotäugige Subterraner begab sich an seinen Herd. »Jim, alles in Ordnung?« Omally stupste seinen Freund an, der teilnahmslos ins Leere starrte. »Das war ich«, flüsterte Jim beinahe lautlos. »Nun, jetzt jedenfalls nicht mehr, Jim. Du bist in Sicherheit.« »Das war ich.« »Spiegelei?« erkundigte sich Soap Distant. »Zwei Stück bitte«, antwortete Omally. »Mit allem Drum und Dran.« Kurze Zeit später stand ein reichhaltiges Frühstück auf dem Tisch. Mit viel gutem Zureden, weiteren Stupsern und Rüffeln gegen den Hinterkopf brachten sie Jim schließlich in das Land der Lebenden zurück und dazu, seine Mahlzeit zu genießen. Für jedes weitere. »Das war ich« versetzte Omally ihm einen Hieb an den Hinterkopf, damit er nach Art der berühmten Pavlowschen Hunde die Irrungen seines Tuns el rnte. »Könnte ich vielleicht noch eine Scheibe Röstbrot bekommen?« bat er. Soap machte sich an die Arbeit. Während er das Brot in der Pfanne wendete, meinte er: »Das Blei, versteht ihr? Die Strahlen können es nicht durchdringen. Sie haben irgendwo oben am Himmel einen Sensor, der jeden Übriggebliebenen beobachtet, aber sie können kein Blei durchdringen. Ich habe das Dach des Professors mit Blei ausgekleidet. Die Drecksäcke müssen draußen bleiben, müssen -202-
sie.« Omally wischte sich das Kinn ab. »Sehr gut, Soap. Ganz ausgezeichnet. Irgendwie beruhigend zu hören, daß man Vorsichtsmaßnahmen ergreifen kann.« »O ja. Kein System ist unfehlbar. Die alte TORE & FENSTER CORP. meint wahrscheinlich, sie hätte alles berücksichtigt, doch der denkende Mensch findet stets eine klaffende Lücke im System.« »Das war einst auch meine feste Überzeugung. Inzwischen sind mir einige Zweifel gekommen.« »Unnötige Zweifel«, entgegnete Soap Distant. »Wir werden die Mistkerle schlagen.« »Du wirkst sehr zuversichtlich.« Soap schob die Sche ibe Röstbrot auf Pooleys Teller und sich eine gegrillte Tomate in den Mund. »O ja«, antwortete er unter lautem Schmatzen. »Noch ist die Maschine nicht erfunden, der es nicht schlecht ergeht, wenn ich meine Böswilligkeit an ihr auslasse.« »Guter Bursche«, sagte Omally und stieß seinen Freund Pooley in die Rippen. »Selbst mit Armageddon in Reichweite und vor den Augen gibt es immer noch eine Reißleine, die man ziehen kann.« »Das war ich«, flüsterte Jim. Und: »Autsch!« Und, nachdem er sich den Hinterkopf gerieben hatte: »Könnte ich vielleicht noch ein gegrilltes Würstchen haben, Soap, falls es dir nichts ausmacht?« Der rotäugige Subterraner lachte herzlich. »Meinetwegen auch zwei«, krähte er, »oder drei. Soviel du willst, Jimmyboy.« »Drei wären nicht schlecht«, erwiderte Jim. »Obwohl ich nicht gierig erscheinen möchte.« Die drei unterirdischen Brentforder genossen ein sehr -203-
reichhaltiges Frühstück, das sie mit mehren Flaschen Chateau Distant Clarét des Carottes hinunterspülten. »Ich denke, es ist nicht die schlechteste Idee, wenn ihr euch für eine Weile hier unten versteckt«, empfahl Soap Distant seinen Gästen. »Dort oben scheint man euch deutlich ins Visier genommen zu haben.« »Was ist mit dem Schlüssel?« erkundigte sich Omally und vollführte drehende Bewegungen mit der Hand. »Alles zu seiner Zeit. Professor Slocombe hat die Sache vollkommen im Griff. Er wird uns Bescheid geben, wenn es soweit ist.« Omally schnitt eine säuerliche Grimasse. »So sehr ich den alten Mann liebe, ich bin nicht ganz sicher, ob sein Urteilsvermögen noch so klar ist wie einst.« Soap Distant wedelte wild mit den Händen. »Sag doch nicht so was! Der Professor gehört zu den Illuminaten! Du mußt ihm glauben, was er sagt!« »Vielleicht.« Omally leerte sein Glas. »Aber was er sagt, sind alles nur Theorien! Nichts als Theorien, und keine davon ergibt einen Sinn für mich.« »Ich hätte gedacht, daß gerade du als Katholik etwas mit dem anfangen könntest, was er erzählt.« »Was denn, Armageddon? Die Götterdämmerung? Nicht das geringste!« »Nein, nicht Armageddon. Ich meine die Sache mit dem Garten!« »Was für ein Garten?« »Der Garten Brentford. Darum geht es doch im Grunde genommen, oder nicht?« »Soap, es ist dir mit einem einzigen Satz gelungen, mich vollkommen zu verwirren. Wovon redest du überhaupt?« -204-
»Von Eden! Der Garten Eden! Wollt ihr andeuten, daß er euch nichts erzählt hat?« »Halt, Moment, Augenblick mal, stop!« Omally hob abwehrend die Hände. »Noch mal ganz von vorn, und langsam, zum Mitdenken. Wovon um Himmels willen redest du eigentlich?« »Vom Garten Eden!« wiederholte Soap Distant. »Du weißt doch sicher, was das ist? Die Genesis läßt sich groß und breit darüber aus!« »Selbstverständlich weiß ich, was der Garten Eden ist! Aber wovon redest du?« Soap Distant schüttelte den Kopf. Ganz offensichtlich unterhielt er sich mit einem Zurückgebliebenen. »Was glaubst du eigentlich, warum die Barriere rings um Brentford errichtet worden ist?« »Um mich daran zu hindern, meine Millionen auszugeben!« sagte Pooley bitter. »Wohl kaum. Um Eden vor dem Fall Babylons zu beschützen, deswegen!« »Ich dachte immer, Babylon liegt ein wenig weiter im Süden?« »Kein Stück«, entgegnete Soap Distant. »Ich sage nur: Chiswick.« »Chiswick?« »Ja. Verstehst du nicht? Der Professor hat das Rätsel schon vor Jahren gelöst, als er all die alten Karten neu vermaß. Er ist der festen Überzeugung, daß sowohl die biblische Chronologie als auch die Ortsangaben wild durcheinander geraten sind. Er verbrachte Jahre damit, die Puzzlestückchen zusammenzusetzen, und schließlich hatte er das Rätsel gelöst.« »Daß Babylon eigentlich in Chiswick lag?« »Genau. Aber was noch wichtiger ist: Der Garten Eden lag -205-
genau hier, auf dem Flecken Land, der vom Brentforder Dreieck umschlossen is t!« »Verrückt!« sagte Omally. »Das ist alles vollkommen durchgeknallt, nicht mehr und nicht weniger.« »Ganz im Gegenteil. Professor Slocombe hat mir all die neu gezeichneten Karten gezeigt. Sämtliche Ereignisse, von denen die Bibel berichtet, fanden genau hier in England statt.« »Und Jesus?« »Geboren in Liverpool, gekreuzigt in Edinburgh.« »Blasphemie!« sagte Omally. »Und Häresie obendrein!« »Es ist genauso wahr, wie ich hier sitze.« Soap Distant bekreuzigte sich mit einem nassen Finger über dem Herzen. »Sämtliche Berichte in der Bibel basieren auf weitaus mehr alten Texten, als die Gelehrten annehmen. Die Ereignisse fanden allesamt in weitaus gemäßigteren Zonen statt. Erst viel später transferierten die Übersetzer sie an ihre heutigen Orte30 . Die Daten liegen um Tausende von Jahren daneben. Es geschah alles hier, genau an diesem Ort, und wenn es dich interessiert, es geschieht noch immer. Ich hätte ehrlich geglaubt, die Vorgänge an der Oberfläche würden das ganz offensichtlich machen?« »Heilige Maria!« flüsterte John Vincent Omally. »Die ist übrigens in Penge geboren. Wo es sehr schön sein soll.«31 »Wo sonst?« »Jedenfalls bringt es einen zum Nachdenken«, sagte Pooley, während er den Inhalt seines Glases erneuerte. »Schließlich wußten wir alle längst, daß Brentford das Zentrum des Universums darstellt. Und deine Worte bestätigen das nur.« »Seht ihr?« sagte Soap Distant. »Außerdem wußten wir schon immer, daß Gott ein Engländer ist.« -206-
»Mal langsam!« unterbrach ihn Omally. »Ich schlucke ja schon eine ganze Menge, aber nicht das! Meinetwegen mag er ein Brite sein, aber ein Engländer? Nie und nimmer!« »Ipso facto«, entgegnete Soap Distant. »Oder so ähnlich jedenfalls.« »Ich muß intensivst über diese Angelegenheit nachdenken«, sagte John Vincent Omally. »Vielleicht ist es sogar erforderlich, zur Lösung des Rätsels und Beflügelung meiner Gedanken einen oder zwei Liter deines ganz ausgezeichneten Möhren-Claréts zu vernichten.« »Daran soll's nicht scheitern«, entgegnete Soap Distant und zog eine kleine Kiste mit Flaschen unter seinem Sitz hervor. »Du bist ein wahrer Gentleman, Soap.«
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Kapitel 25 Norman hatte die Tür zu seinem Laden massiv verbarrikadiert. Das Geschäft war in einem derart alarmierenden Ausmaß zurückgegangen, daß es keinen Sinn mehr machte, offen zu halten. Nur der Alte Pete kam regelmäßig wegen seiner Zeitung und seinem Tabak. Und nachdem der Alte gegangen war, hatten Panik und Furcht, daß sein Doppelgänger zurückkehren oder etwas noch weitaus Schlimmeres passieren könnte, Norman dazu gebracht, auf diese Weise zu reagieren. Die Ladentheke stand quer vor der Tür, mitsamt der wenigen Dinge, die sich darauf stapelten. Angesichts des Lochs in seiner Decke war Norman sich durchaus bewußt, daß dieser Schachzug mehr symbolischen Charakter besaß als alles andere. Doch auch symbolischer Widerstand war besser als gar keiner. »Viele Hände machen die Arbeit leicht«, sagte der Ladenbesitzer zusammenhanglos, als ihm eine spirituelle Sitzung in den Sinn kam, die er einmal besucht hatte. Eine Sicherung war ausgefallen und hatte die Gruppe in Dunkelheit versinken lassen, bis sie wie durch ein Wunder wieder zum Leben erwacht war.32 Norman schlurfte über den neuen Linoleumboden und wog seinen Schraubenzieher in der Hand wie Artus das Schwert Excalibur. Er betrat sein Hinterzimmer. Gegenwärtig war nicht viel Platz darin: Das Objekt seiner neuesten, alles verschlingenden Leidenschaft bedeckte den größten Teil der freien Fläche. Normans Zeitmaschine war tatsächlich ein ziemlich großes Ding! Das Design hatte einiges von einem elektris chen Stuhl an sich. Andererseits erinnerte es auch an das NASA-208-
Kontrollzentrum sowie an die Brücke von Kapitän Nemos Nautilus und die Filmversion des berühmten Vorläufermodells von H. G. Wells (vgl. unser Titelbild). Ein Soupçon der Pumpenstation von Kew sowie von Doktor F.'s Laboratorium vervollständigten das Bild. Die Apparatur starrte vor Reihen blinkender Lichter, die, obwohl ohne Funktion, nach dem Empfinden des Konstrukteurs ganz essentiell waren, um einem Projekt wie diesem die notwendige Atmosphäre zu verleihen. Über dem Pilotensitz, den Norman aus seinem alten Morris Minor entliehen hatte, drehte sich ein schlankes Messingrad mit exakt sechsundzwanzig Umdrehungen pro Minute. Von den Achsen dieses Rades führten Drähte in alle möglichen Richtungen wie Zierbänder an einem Maibaum und hüllten die gesamte Konstruktion ein, die auf einer Art Nikolausschlitten ruhte. »Also dann.« Norman konsultierte ein haarsträubendes Schaltdiagramm, das er auf die Rückseite eines Stapels von Computerausdrucken gekritzelt hatte. Es ging im Grunde genommen um eine neue Interpretation der berühmten Gleichung E = mc 2 , der Parallaxentheorie, wie auch immer diese lauten mochte, und die pythagoräischen Triangulationen. O ja, und um das Raum- Zeit-Kontinuum selbstverständlich. Um nicht das Wichtigste zu vergessen. Norman starrte auf sein neuestes Wunderwerk und schüttelte den Kopf. Wissenschaftler neigten stets dazu, die Dinge viel zu kompliziert anzugehen. Berufsstolz, wie Norman insgeheim vermutete. Für Norman war Wissenschaft schon immer eine ganz einfache, unverworrene Angelegenheit gewesen, die nur die allerwenigste Protokollführung erforderte, wenn überhaupt. Nachdem man erst einmal die Idee hatte - diesmal von H. G. Wells -, ging man zu Kays Elektrikladen unten in der Hauptstraße und kaufte die Teile, die man benötigte. -209-
Nichts einfacher als das. Und was nicht zu kaufen war, baute man aus alten defekten Kofferradios aus oder entnahm es den Überresten eines Meccano-Baukastens. Wissenschaftler machten in der Regel ein viel zu großes Buhei um diese Dinge und fingen schon von vornherein verkehrt an. Norman Hartnell war die berühmte Ausnahme von dieser Regel. Brentford schien gegenwärtig in einem gewaltigen Schtuck zu stecken, doch der Ladenbesitzer überlegte messerscharf, daß er, sobald seine Maschine funktionierte, zumindest imstande sein würde, diese Angelegenheit ein für allemal zu regeln. Ihm gefiel die Vorstellung, als Retter in der Not aufzutreten, und da niemand ihn um seine Mitarbeit gebeten hatte, würde er es eben allein vollbringen müssen. Norman war nicht dumm, und bald schon hatte er die gefürchtete TORE & FENSTER CORP. als Wurzel aller Übel in der Gemeinde ausgemacht. Nichts auf der Welt schien leichter, als in die Vergangenheit zurückzukehren und ein paar subtile Veränderungen zu bewerkstelligen. Zum Beispiel die Bastarde zu ermorden, solange sie noch in die Windeln machten und in ihren Wiegen schliefen. Oder die Akten der Gemeinde zu verfälschen, so daß er die Genehmigung für seine Umbaupläne erhielt. Außerdem hatte Norman schon immer die Hand jenes Herausgebers des Brentforder Merkurs schütteln wollen, der mit Normans Frau durchgebrannt war. Eine ganze Menge Dinge schien möglich, sobald man erst einmal das Geheimnis der Zeitreise gemeistert hatte. Norman war fest entschlossen, zunächst in die Vergangenheit zu reisen. Die Zukunft sah schließlich alles andere als rosig aus. Er tauchte mit seinem Schraubenzieher in ein undurchdringlich wirkendes Dickicht aus Drähten und Sicherungskästchen und fummelte hier und dort. Unbewußt summte er die Melodie des berühmten Stones -Songs »Time Is -210-
On My Side« vor sich hin. Das Konzept seines neuen Projekts begeisterte Norman bis hin zum allerkleinsten Detail. Da war einerseits die nackte, schiere Abenteuerlust, in völlig unbekannte Dimensionen vorzudringen, vereint mit der potentiellen Macht, die ein Mann in den Händen hielt, der die Zeiten durchreisen konnte. Außerdem war da noch die Sache mit der unendlichen Vielfalt von Sprichwörtern und Wortspielen, die sich aus dem Begriff »Zeit« ableiten ließen. Dinge wie diese verliehen der Sache einen ganz eigenen Reiz. »Zeit, meine Herren. Wenn ich bitten darf?« Norman kicherte laut vor sich hin. Er legte eine willkürliche Reihe gleich aussehender Schalter um, in der Hoffnung, einen Hinweis zu erhalten, warum er sie eingebaut hatte. Einer davon hauchte Normans alter BushMusiktruhe knackend Leben ein. »Zeit für die alten Zeiten«, sang eine geisterhafte Stimme. Norman kugelte sich vor Lachen. Er amüsierte sich wie nie zuvor. Schließlich straffte der Ladenbesitzer die Schultern und kratzte sich mit der Spitze seines Schraubenziehers am Kopf. Alles sah ganz danach aus, als sei die Maschine fertig. Sicher, er konnte den schiefen Bolzen dort noch ersetzen, wenn er wollte, oder das glänzende Messing noch einmal polieren, doch abgesehen von diesen Äußerlichkeiten war die Arbeit vollbracht. »Und gerade zur rechten Zeit, eh?« kicherte Norman und stieß einen unsichtbaren Begleiter in die Rippen. Ein lautes, drängendes Klopfen riß ihn unvermittelt aus seiner Hochstimmung. Irgend jemand - oder wahrscheinlicher irgend etwas - klopfte an die verbarrikadierte Ladentür. Eine eisige Hand legte sich auf das Herz des Eckladenbesitzers. Natürlich bestand durchaus die Möglichkeit, daß es sich um nichts weiter als einen gewöhnlichen Kunden handelte, der begierig war, seine Rechnung zu bezahlen? Die Möglichkeit bestand. Wahrscheinlich schien sie nicht. -211-
Die Computersensoren der TORE & FENSTER CORP. beobachteten Norman Hartnells infrarotes Bild in dem vollgepferchten Hinterzimmer seines Ladens. Sie bemerkten den beschleunigten Pulsschlag und analysierten die Schweißperlen, die sich auf seiner Stirn ausbreiteten. Sie übermittelten ihre Ergebnisse augenblicklich an das Double des Ladenbesitzers, das in eben diesem Moment klopfend an der Tür stand. Ein grausames Lächeln breitete sich auf dem Gesicht des Roboters aus, als er sich abwandte und zielstrebig in Richtung Rückwand davonstapfte. Norman kaute auf den Knöcheln. Die Zeit schien wie ideal für einen ersten ernsthaften Testlauf. Hastig kletterte er in den alten Morris-Minor-Sitz und legte den Sicherheitsgur t um; schließlich konnte er nicht wissen, wo in der Zeit oben und unten war, und er verspürte nicht den Wunsch, unterwegs hinauszufallen. 33 Vorsichtig schob er vor sich eine geteilte Konsole voller Schalter und Hebel in Position, drehte den Zündschlüssel und legte den Rückwärtsgang ein. Lichter pulsierten und blitzten, das große Messingrad über ihm drehte sich unablässig weiter, und ein Ring aus Funken umgab die Maschine wie ein glitzerndes Halo. Das plötzliche Poltern einstürzenden Mauerwerks informierte den aufstrebenden Zeitreisenden, daß ein unwillkommener Besucher gerade in diesem Augenblick seinen Hinterhof betreten hatte. Das Summen und Poltern der Maschine wurde lauter und lauter, doch zu Normans Bestürzung schien er sich nicht von der Stelle zu bewegen, weder rückwärts noch vorwärts oder auch nur seitwärts. »Los doch, verdammtes Ding!« fluchte der aufgelöste Ladenbesitzer, während er wahllos Schalter und Hebel umlegte und in der Hoffnung auf eine Veränderung zur Küchenuhr hinaufschielte. Die Maschine erzitterte und schüttelte sich. Lichter blitzten, -212-
der Motor brüllte, und das Geräusch splitternden Holzes, als die Hintertür aus den Angeln gerissen wurde, ging vollständig in der Kakophonie unter. Normans furchterregende Replik stand im Durchgang, rieb sich die Hände und räusperte sich mit einem merkwürdigen mechanischen Laut. Norman schwang Hebel in alle Richtungen und ruderte mit dem Steuerknüppel. Die Kreatur stapfte mit einem höchst unheilvollen Gesichtsausdruck auf ihn zu. Langsam streckte sie die Hand nach einer der Schlittenkufen aus, in der Absicht, die ganze Apparatur einfach umzukippen. Norman machte sich ganz klein in seinem Sitz und trat nach Schaltern, die er mit der Hand nicht mehr erreichen konnte. Die Kreatur zerrte an der Kufe, doch das Ding bewegte sich keinen Millimeter. Norman starrte auf das große sich drehende Rad über sich, dessen gyroskopischer Effekt so stark war, daß die Maschine unmöglich umkippen konnte. Der Roboter - Norman bis in die Haarspitzen - erkannte diesen Sachverhalt augenblicklich und gab seinen sinnlosen Versuch auf, um sich auf direkterem Weg an die Umsetzung seines finsteren Plans zu machen. Er streckte die Hände nach Normans Kehle aus. Der kleine Kerl wich zurück und flehte stotternd um Gnade. Der Dämon streckte seine Krallenhände nach ihm aus, und in seinen Augen funkelte nackter Haß. Seine Lippen entblößten knirschende, bösartige Zähne. Die Klauen waren nur noch wenige Zoll von Normans Hals entfernt, und Norman machte sich ohne weitere Umschweife in die Hose. Was, wenn man es genau bedachte, gar nicht klug war. Jedenfalls nicht in einer Umgebung, die vor ungeerdeten elektrischen Apparaturen nur so starrte. -213-
»Ooooooooh!« Normans Stimme hob sich in opernhafte Sopranhöhen, als die Entladung ihn voll im Unterleib erwischte, von dort an seiner Wirbelsäule entlang nach oben und durch den Hirndeckel hinausschoß und das Haupthaar in Flammen setzte. Ein mächtiger Blitz zuckte durch die gesamte Apparatur, Funken stoben wie Wunderkerzen in alle Richtungen, und das Summen und Wummern steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Crescendo. Und als würde sich der Roboter erst in diesem Augenblick der drohenden Gefahr einer unmittelbar bevorstehenden Explosion bewußt zog er die Hände von Normans Kehle zurück. Er bückte sich erneut nach der Kufe, dann richtete er sich auf und wich rückwärts zur Tür zurück. Norman klopfte das Freudenfeuer auf seiner Schädeldecke aus und spähte durch den inzwischen ringsum aufsteigenden Rauch. Zu seinem nicht geringen Erstaunen sah er, wie die Kreatur rückwärts durch die eingeschlagene Tür wich und das gesplitterte Holz sich wie durch Zauberhand aufrichtete und zurück in seine Halterungen schnappte, als wäre nichts geschehen. Norman spähte zur Küchenuhr hinauf. Der Sekundenzeiger raste wie ein Propeller um seine Achse, aber in entgegengesetztem Uhrzeigersinn! »Haha, hahaha, hahahaha!« machte Norman. Er klatschte in die Hände und hüpfte in seinem Sitz auf und ab, und zumindest für einen Augenblick hatte er seine getoasteten Testikel und das schwelende Kopfhaar vollkommen vergessen. Er reiste in der Zeit zurück! Der Sekundenzeiger gewann an Geschwindigkeit, bis er nur noch undeutlich zu erkennen war, dann folgte der Minutenzeiger und schließlich der Stundenzeiger. Das Hinterzimmer verschwamm vor Normans Augen und verschwand schließlich in einem gewaltigen Blitz. -214-
Die Küchentür flog aus den Angeln und krachte auf den Linoleumboden. Normans Doppelgänger stand in der Tür und starrte in die dichte Rauchwolke, die den ansonsten vollkommen leeren Raum füllte. Ein Ausdruck von Perplexität breitete sich auf dem Eckladenbesitzergesicht der Maschine aus. Datenerfassungskanäle und Logikschaltungen surrten und liefen heiß und spuckten schließlich etwas aus, das weder mit Daten noch mit Logik auch nur das geringste gemeinsam hatte. Was den Bastarden von TORE & FENSTER CORP. ganz recht geschah.
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Kapitel 26 Norman klammerte sich an seinen Morris -Sitz und starrte in die Dunkelheit. Merkwürdige Lichter wogten vor ihm auf und schossen zu beiden Seiten seiner Zeitmaschine vorbei, um weit hinten wieder zu verschwinden. Er spürte nicht die geringste Bewegung. Irgendwie fühlte es sich an, als reiste er gänzlich außerhalb von Zeit und Raum, in einer Art Niemandsland. Norman blickte auf seine Uhr. Sie war stehengeblieben. Er starrte auf den Datumszähler, den er voller Optimismus auf einen der Konsolenarme montiert hatte. Ein Gewirr von Drähten baumelte darunter hervor. Er hatte vergessen, das Ding anzuschließen. Wo war er, und wichtiger noch: wann? Er wußte nicht genau, wie lange er bereits unterwegs war. Es konnte eine Stunde sein, ein Jahr, ein Jahrhundert. Norman besaß keine Möglichkeit, das festzustellen. Am besten war wohl, wenn er die Maschine abschaltete und zum Halten brachte, bevor er zu weit in die Vergangenheit geriet. Die Vorstellung, von einem Dinosaurier plattgetrampelt zu werden, war höchst unverlockend. Eine entsetzliche Furcht ergriff von ihm Besitz. Was würde er vorfinden, wenn er anhielt? Vielleicht kam er auf dem Rorke's Drift heraus, während die Zulus zum Angriff übergingen! Oder mitten auf dem Meer oder im Innern eines Berges. Woher sollte er das im voraus wissen? Vielleicht, wenn er die Geschwindigkeit ein wenig herabsetzte, so daß er nach einem sicheren Ort Ausschau halten konnte? Normans Hände schwebten unentschlossen über den Kontrollen, und ein Ausdruck von fröhlichem Schwachsinn breitete sich auf seinem Gesicht aus. Diesmal hatte er den ganz großen Coup gelandet, keine Frage. -216-
Aber wohin hatte es ihn geführt? Mitten in die allergrößten Schwierigkeiten. Norman bemühte sich, die Pros und Kontras abzuwägen. Konnte er in der Vergangenheit den Tod finden? Zu einer Zeit, da er nicht einmal geboren war? War so etwas überhaupt möglich? Seine gegenwärtige Situation verlieh jedenfalls der Ansicht einiges an Gewicht daß absolut gar nichts unmöglich war. Die Worte des großen Jack Vance34 hallten durch seinen Kopf: »In der Unendlichkeit muß jede Möglichkeit, ganz gleich, wie abwegig oder absurd, physikalisch ausdrückbar sein.« Norman hatte dieses Zitat in einer Stickarbeit über seinem Bett hängen. Der Eckladenbesitzer war vollkommen überfordert. Niedergeschlagen sank er über seinen Kontrollen zusammen und beklagte leise sein Schicksal. Was hatte er nur getan? Was im Namen aller guten Geister hatte er getan? »Norman!« rief plötzlich eine Stimme aus dem Nichts. »Norman!« »Wer ist da?« Norman spähte aus zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit. »Ich kenne diese Stimme, kein Zweifel.« »Norman!« Die Stimme wurde lauter. »Halte die Maschine an, sonst gibt es kein Zurück mehr!« Norman hämmerte auf die Kontrollen; er riß den Zündschlüssel aus dem Armaturenbrett, und ein plötzlicher Luftstoß preßte ihn tief in die Polster. Ringsum blitzten grelle Lichter, die Maschine klapperte und schüttelte sich, und zu Normans unaussprechlicher Erleichterung kam am Ende eines langen Tunnels Tageslicht in Sicht… und war mit einem Mal überall. Norman legte schützend die Hände vor das Gesicht, kniff die Augen zusammen und bereitete sich darauf vor, mit seinem Schöpfer Frieden zu schließen. Jedenfalls soweit möglich. -217-
Ein mächtiger Schlag, anschließend entsetzliche Stille. Norman zuckte zusammen und machte sich ganz klein. Warmes Sonnenlicht kitzelte auf seiner Haut, und lautes Vogelzwitschern setzte ein. Norman wagte nicht, die Augen zu öffnen, und sog prüfend die Luft ein. Der süße Duft von Blumen, lieblicher als alles, was er jemals zuvor gerochen hatte - oder mußte es nun heißen: jemals wieder riechen würde? umfing ihn. Er war gestorben, das war die Lösung des Rätsels. Er war gestorben und in eine bessere Welt gekommen. Der schmächtige Ladenbesitzer war mit einem Mal wieder voller Hoffnung. Er nahm die Hände von den Augen und schielte zwischen den Fingern hindurch. Die Zeitmaschine ruhte auf einer arkadischen Wiese mitten auf einem waldgesäumten Hügel und am Rand eines wunderschönen Tals, durch das sich ein mäandernder Fluß schlängelte.35 Wirklich, wunderschön. Es überstieg seine kühnsten Träume, wie es im Himmel aussehen mochte. Der Trip war die Mühe also wert gewesen. Auf der anderen Seite des Flußtals erhob sich ein wahrhaftiges Märchenschloß hoch über die umgebenden Hügel, und Banner flatterten im Wind. Es gehörte genau zu der Sorte Schloß, die man in unschuldigen Kinderbüchern findet. Einfach unbeschreiblich. Norman schob die geteilte Konsole zur Seite, schnallte den Sicherheitsgurt los und setzte, indem er sich vorsichtig auf dem noch immer nassen Sitzpolster abstützte, den Fuß auf den üppigen grünen Teppich aus taufrischem Gras. Er war im Paradies, kein Zweifel. Die geweihte Lichtung. »Norman!« Die Stimme fuhr dem Burschen ins Gedärm, doch er besaß nichts mehr, das er hätte von sich geben können. »Norman.« Ein alter Mann näherte sich, auf einen Stock gestützt. Er steckte in einem weiten Umhang aus dem allerdunkelsten Dunkelblau, reich bestickt mit Sternen und -218-
Pentagrammen und magischen Symbolen aus goldenem Draht. Auf dem Kopf trug er einen hohen konischen Hut aus dem gleichen Material mit den gleichen Silberstickereien. Sein Gesicht wurde von einem langen weißen Bart eingerahmt und er sah Stück für Stück ga nz genauso aus, wie man sich Merlin den Magier eben vorstellte. Norman starrte die sich nähernde Erscheinung entgeistert an. Er kannte dieses Gesicht, diesen gebückten Gang, genau wie er alles andere kannte. Erstickte, zitternde Worte, die er mit Mühe als die eigenen identifizierte, entrangen sich seinem Mund: »Professor Slocombe?« Der Magier legte die Finger an die Lippen. »Alles zu seiner Zeit«, sagte er. »Willkommen, Norman.« »Wo bin ich?« »Wo schon! In Camelot natürlich. Was hast du denn geglaubt?« »Ich dachte vielleicht… nun, ich weiß es nicht. Noch in Brentford.« Merlin neigte den Kopf zur Seite. »Brentford«, sagte er. »Der Name gefällt mir. Ich werde sehen, was sich machen läßt. Irgendwann in näherer Zukunft. Doch für den Augenblick haben wir einiges zu besprechen. Kommst du auf einen Becher Met mit mir in jenes Schloß dort drüben?« »Warum nicht?« sagte Norman, der einzigartige und im wahrsten Sinne des Wortes erste aller englischen Eckladenbesitzer.
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Kapitel 27 Professor Slocombe sah nach oben zu der großen messingfarbenen Kaminuhr und nickte mit dem alten Kopf zum Schwingen des Pendels. »Viel Glück, Norman«, sagte er leise. Dann wandte er sich von dem antiken Zeitmesser ab und starrte durch die offenen Verandafenster nach draußen. Dort, in allzu naher Entfernung, erhob sich die mächtige schwarze Säule des TORE & FENSTER CORP.-Turms obszön über die zweihundert Jahre alte Silhouette Brentfords. Die oberen Geschosse verloren sich in heranziehenden Gewitterwolken. Eine Aura des nackten Bösen ging von dem Gebilde aus und schien den Raum zu durchdringen. Der alte Mann erschauerte und schloß die Fenster. Normans selbstgebastelter Doppelgänger legte eine gebundene Ausgabe von da Vinci zur Seite, verfaßt in der lateinischen Schrift des großen Meisters persönlich, und sah den Gelehrten fragend an. »Ich weiß, was du denkst«, sagte Professor Slocombe. »Er ist in Sicherheit, so viel kann ich dir gegenwärtig verraten. Was jedoch seine Rückkehr angeht, so hängt sie von korrekten Berechnungen ab. Alles nur eine Frage der Zahlen. Wir können lediglich unsere Gebete als Hilfe anbieten.« »Gebete?« »Sie geben Trost.« »Das wußte ich nicht«, erwiderte der Roboter brüsker als beabsichtigt. »Norman hat es offensichtlich für unnötig gehalten, derartige Konzepte in meine Datenbänke einzuspeichern.« Professor Slocombe beobachtete den künstlichen Menschen mit unverhohlenem Interesse. »Ich würde tatsächlich zu gerne wissen, was du denkst und fühlst.« -220-
»Materielle Beschaffenheit. Struktur. Ich denke, also bin ich. Jedenfalls hat man mir das gesagt. Licht am Ende des Tunnels und geteiltes Leid ist halbes Leid …« »Ja, das ist es in der Tat. Aber was veranlaßt dich zu reagieren? Wie gelangst du zu Entscheidungen? Was treibt dich an?« »Impetus. Ich reagiere, wie es mir einprogrammiert worden ist. Auf eingehende Informationen. Genau so, wie die Jungs in Blau es gewollt haben.« »Glaubst du, daß die anderen Doppelgänger auf ähnliche Weise funktionieren?« »Ganz bestimmt nicht.« Ein Unterton von Stolz schlich sich in die Stimme des falschen Norman. »Sie empfangen lediglich Befehle. Sie wurden einzig zu dem Zweck erschaffen, Informationen zu sammeln und ihre Aufgaben zu erfüllen. Der Hauptcomputer der TORE & FENSTER CORP. erledigt alles Denken für sie. Reine Aufziehpuppen, das sind sie, und nichts weiter.« »Interessant«, sagte Professor Slocombe. »Sie verbringen sehr viel Zeit mit müßigen Spekulationen«, merkte der Roboter an, »jedenfalls wenn man den Ernst der Situation bedenkt. Sie suchen nach menschlichen Emotionen in mir. Ich könnte das gleiche bei Ihnen tun.« Professor Slocombe kicherte vergnügt. »Gegenwärtig sind mehr Räder in Bewegung als das eine, welches sich in deiner Brust dreht«, sagte er. »In eben diesem Augenblick rühren sich an anderer Stelle unserer Gemeinde große Mächte.«
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Kapitel 28 »Wer …. wie … wo … was?« Der aufgequollene Teilzeitbarmann erwachte benommen aus einer weiteren Mütze barbituratinduzierten Schlafs und rappelte an den Fensterläden seines Krankenhausgefängnisses. Die Tür unter Neville öffnete sich, und seine prometheische Folterschwester betrat mit gezückter Spritze den barmannüberfüllten Raum. Neville musterte sie mit unverhohlener Verachtung (die Folterschwester). »Ich rieche das Blut eines Engländers«, sagte er. »Wir wollen doch nicht schon wieder rebellieren, oder doch?« »Ich weiß nicht, ob er tot oder lebendig ist.« »Umdrehen, Sir. Bitte.« »Ich werde seine Knochen zermalmen und mir daraus ein Frühstück bereiten.« »Ich muß den Doktor rufen, schätze ich.« »Nein!« Neville atmete tief ein, blies die Backen auf und pustete mit aller Macht in Richtung der klinischen Harpyie. Die Zwergin kämpfte gegen den resultierenden Sturm, doch schließlich verlor sie den Halt und segelte durch den Eingang nach draußen in den Korridor. »Na endlich!« sagte Neville zur Decke, gegen die sein Gesicht so lange so ungemütlich gepreßt worden war. »Na endlich!« Er hob eine Hand von Zementsackgröße und ballte sie zur Faust. Langsam kam er wieder zu sich, und langsam fand er zu gewaltigen Körperkräften, die seine Adern titanisch und unaufhaltsam durchfluteten. Endlich hatte er die Wahrheit begriffen. Seine Behinderung war nichts weiter als ein schmerzvolles, -222-
groteskes Vorspiel zu dem, was als nächstes kommen sollte. Die Zeit der Rache näherte sich mit Riesenschritten. Die Götter seiner heidnischen Vorfahren, geboren in der Morgendämmerung der Erde, als die Welt noch voller Wunder gewesen war. Die Macht war zurückgekehrt, und sie hatte Neville erwählt. Den letzten seines Geschlechts. Ein breites, schmallippiges Grinsen umspielte den Mund des Teilzeitbarmanns. Er öffnete und schloß die Fäuste, und unter dem Krankengewand spannten sich gewaltige Muskeln wie Walfische, die man in einem Sack gefangenhielt. Der herkulische Barmann bewegte die Hände, ballte sie unter dem lauten Splittern von Plastikfesseln zu Fäus ten und bahnte sich einen Weg nach oben wie eine unaufhaltsame Naturgewalt. Neville erhob sich von seinem Bett, getragen von einer Flutwelle übermenschlicher Kraft und Energie. Kopf und Schultern brachen durch die Decke, und dann entrang sich seiner Kehle ein erstickter Schrei. Er war alles andere als vorbereitet auf den Anblick, der sich seinen Augen bot. Er hatte die ganze Zeit über angenommen, im Privatflügel des Cottage Hospitals zu liegen. Der Ausblick aus dem Fenster hatte diesen Glauben noch verstärkt. Doch Neville hatte sich gründlich geirrt. Das Hospitalzimmer und das Fenster waren nichts als Täuschung, die eine grausige Realität verborgen hatte. Nevilles winziges Krankenzimmer war bloß eine Schachtel, die irgendwo in einem riesigen, leeren Lagerhaus stand. Es zog sich ringsum hin, nur spärlich erleuchtet, Meter um Meter betonbedeckten Bodens und absoluten Nichts'. Der Ausblick aus dem Fenster entpuppte sich, von oben betrachtet, als Mischmasch von Laserstrahlen, die auf eine Leinwand projiziert wurden. Ein Hologramm. »Was… wie… wo…?« Neville musterte seine Umgebung. Wo war er hier? Er fühlte sich wie ein vergessener Springteufel in einer leeren Spielzeugfabrik. »Das wird ja von Minute zu -223-
Minute eigenartiger!« Neville richtete sich zu seiner vollen Größe auf und trat die Wände des falschen Krankenzimmers ein. Er befand sich auf einer Bühne, die größer war als alles, was der legendäre Cecil B. je zu Gesicht bekommen hatte! Neville atmete tief durch und beobachtete voller Stolz, wie die gewaltige Brust unter dem Schlafanzug sich hob und senkte. Seine geheimsten Wünsche waren Wirklichkeit geworden! Der unmögliche Traum war nicht länger ein Traum. Die Götter hatten sich endlich entschlossen, auf ihren Sohn herabzulächeln. Anscheinend hatte er ihnen einen großen Dienst erwiesen, ohne es auch nur zu ahnen. Eine Million verlockender Gedanken wirbelte durch den Kopf des einst hageren Teilzeitbarmanns. Er würde diesem verdammten Trevor Alvy einen Besuch abstatten, der ihn in der Schule stets verprügelt hatte; er würde im Sommer ohne Hemd am Strand auf und ab gehen! Keine dicken Pullover mehr, um seine knochige Physiognomie zu tarnen, nie mehr schneidende Witze über seine hängenden Schultern. Er würde braun werden in der Sonne. Und den Leuten Sand ins Gesicht treten. Jawohl, das würde er! Und Betrunkene aus seiner Bar werfen, ohne dazu auf die Hilfe seines heimtückischen Holzknüppels angewiesen zu sein. Neville warf sich in Pose, und Muskeln wölbten sich an Stellen, wo Arnold S. nicht einmal Stellen besaß. Conan wer? Neville kam voll auf seine Kosten, gar keine Frage. »O Freude, o Segen!« Und erst seine Unterleibsgegend! Dort geschahen Dinge, die er sich aus bescheidener Wohlerzogenheit nicht länger zu betrachten traute! Der gewaltige Teilzeitbarmann unterbrach seinen Freudentaumel für ein oder zwei Augenblicke des Nachdenkens. Zum einen war es ihm vollkommen unmöglich, seine gegenwärtige exakte Größe abzuschätzen. Falls das Hospitalzimmer maßstabsgetreu gewesen war, überragte er sicher die Zwanzig-Fuß-Marke. -224-
Das war allerdings nicht zum Lachen. Riesen, ganz gleich, wie gut sie von Mutter Natur ausgestattet worden waren, hatten sich noch niemals besonderer Beliebtheit bei ihren Zeitgenossen rühmen können. Im Gegenteil: je besser sie ausgestattet waren, desto schlimmer im allgemeinen ihr Schicksal. Stets lauerte irgendwo ein Möchtegern-David mit einer Schleuder in der Hand und schlechten Augen. Neville hatte alle Mühe, diese und ähnliche Gedanken aus seinem Kopf zu vertreiben. Wenn die Götter ihn zu einem Riesen gemacht hatten dann steckte ein bestimmter Sinn dahinter. Nichts deutete auf einen Unfall oder gar reinen Zufall hin. Das hier war etwas ganz anderes. Etwas Einzigartiges. Und Neville würde den Sinn dahinter selbst herausfinden müssen. Wozu er als erstes aus seinem großen, kalten Gefängnis ausbrechen mußte. Und zwar ziemlich rasch. Bevor die Kälte all die Pracht ganz klein werden ließ. Neville begab sich auf die Flucht. Auf wunderbar definierten, muskulösen Beinen, die ein Charles Adas Dutzenden Generationen schwächlicher Jugendlicher versprochen hatte, sprang und hüpfte er durch das Halbdunkel der riesigen Lagerhalle, immer auf der Suche nach dem Ausgang.
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Kapitel 29 Eine gute halbe Meile unter den donnernden Füßen des barbarischen Teilzeitbarmanns öffnete John Vincent Omally eine weitere Flasche Karottenwein und schenkte sich ein großes Glas ein. »Soap«, sagte er und prostete seinem Gastgeber zu, »das ist ein verdammt guter Tropfen, den du hier in deinem Keller hast.« »Reinster Nektar!« stimmte Pooley ihm zu. »Schreib mir das Rezept auf, und ich gebe dir genug Geld, daß du nie wieder arbeiten mußt.« Soap Distant grinste töricht. »Ihr müßt die Zigarren probieren«, antwortete er ausweichend. Unsicher erhob er sich aus seinem gewaltigen Lehnsessel und taumelte zur Zigarrenkiste. »Selbst angebaut?« Soap formte ein schiefes »O« mit Daumen und Zeigefinger. »Ich wette fünf Dollar, daß ihr die Mischung nicht herausfindet«, sagte er. »Nimm sie von dem Geld, das du uns noch schuldest«, sagte Jim. Soap reichte den beiden Freunden zwei limonengrüne Zigarren. Omally nahm die seine zweifelnd entgegen und drehte sie am Ohr zwischen den Fingern. »Kein Kohlblatt?« fragte er ängstlich. »Um Himmels willen, nein!« Soap legte die Hand aufs Herz. »Würde ich euch so etwas antun?« Pooley beschnüffelte seine Zigarre. »Keine Kartoffeln?« »Absolut nicht. Ich weiß ja, daß Omally seine Kartoffelschalen in der Pfeife raucht, aber Zigarren daraus zu -226-
drehen - das würde selbst bei ihm die Grenze überschreiten.« Die beiden Männer zündeten ihre Zigarren an und erlitten augenblicklich heftigste Hustenanfälle. »Was auch immer in diesen Dingern ist«, keuchte John, während ihm die Tränen über die Wangen liefen, »sie sind wirklich gut.« »Vielleicht ein wenig scharf.« Jims Gesicht hatte den gleichen Farbton ange nommen wie seine Zigarre. »Willst du etwa aufgeben?« »Ganz ohne Zweifel.« »Nun, ich sage trotzdem nichts.« Soap ließ sich wieder in seinen Sessel fallen und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Langsam bekam Jim seine Zigarre in den Griff, und die rötliche Gesichtsfarbe kehrte zurück. »Was glaubst du, wie lange wir hier unten in Deckung bleiben müssen?« fragte er schließlich. Soap Distant zuckte die Schultern. Omally streifte einen Viertel Zoll schneeweißer Asche in einen Kristallglasaschenbecher. »Wir können nicht ewig hier unten bleiben, Soap«, sagte er. »Obwohl wir deine Gastfreundschaft freudig genießen. Dir ist bestimmt klar, daß wir etwas unternehmen müssen, um unser altes Leben zu retten. Es hat uns nämlich über die Maßen gefallen, weißt du?« Soap winkte ab. »Alles zu seiner Zeit«, sagte er zu dem Sohn Irlands.36 »Der Professor wird uns das Zeichen geben, wenn es soweit ist. Für den Augenblick wollen wir rauchen und etwas trinken und ein paar angenehme Unterhaltungen führen.« »Ich fürchte nur, daß wir schon bald sämtliche Themen erschöpft haben«, gab Omally zu bedenken. -227-
»Kein Stück. Ich bin ein faszinierender Unterhalter und bei den meisten Themen die Eloquenz in Person. Meine Interessensgebiete sind so gut wie unerschöpflich.« »Und deine Bescheidenheit ist Legende. Ich weiß.« »Genau. Was hältst du von der Evolution?« »Ein äonenaltes Wunder.« Omally wartete, bis der Applaus verklungen war. »Ich habe erst kürzlich eine revolutionäre Theorie entwickelt.« »Ich verspüre nicht den geringsten Wunsch, mehr darüber zu erfahren.« »Ich schließe mich der Ansicht an, daß die Welt erst vor fünf Minuten erschaffen wurde, mitsamt allen Erinnerungen und Aufzeichnungen. Die Hypothese mag unwahrscheinlich klingen, doch du wirst sehen, daß sie logisch unwiderlegbar ist.« »Und seit wann hängst du dieser Überzeugung an?« »Schwer zu sagen. Seit ungefähr viereinhalb Minuten vielleicht.« »Schnickschnack!« »Ach ja? Meinetwegen. Wie steht's mit Politik, eh? Du bist doch Ire, du hast doch ganz bestimmt deine eigenen festen Ansichten, oder?« »Als echter Ire habe ich noch nicht eine einzige Sekunde ernsthaft darüber nachgedacht.«37 »Und Religion?« »Ich hänge der Theorie an, daß die Welt erst vor fünf Minuten geschaffen wurde. Soap, bittest du mich um einen Schlag vor das Kinn oder was?« »Ich versuche nur, die Zeit mit ein wenig angenehmem gesellschaftlichem Verkehr zu vertreiben.« »Vorsicht«, mahnte Jim. -228-
»Nur wenige Leute rufen je bei mir an.« »Das überrascht mich nicht. Schließlich stehst du in keinem Telefonbuch.« »Möchtet ihr meine Pilzzucht besichtigen?« »Ehrlich gesagt, nein. Steck's dir hinter die Ohren, Soap.« Eine Weile saßen die drei Männer schweigend da. Jim fischte ein Stück Chicoree zwischen seinen Zähnen hervor und gewann fünf Pfund von Soap, doch mit dieser einen Ausnahme herrschte absolute und tödliche Langeweile, was unter Umständen gar nicht schlecht sein muß. Vor allem, wenn man bedenkt, was in der Luft lag. Doch dann klopfte es unvermittelt laut scheppernd an Soap Distants unterirdischer Vordertür. »Erwartest du Gäste?« erkundigte sich Omally. »Damen wahrscheinlich, eh? Die gegenwärtige Situation hat meinen diesbezüglichen Terminkalender durcheinandergewirbelt wie ein Gewitter.« Der Ausdruck auf Soap Distants Gesicht hatte sich innerhalb eines Sekundenbruchteils von liebenswürdiger Contenance in die allzu vertraute Maske eiskalter Furcht verwandelt. »Seid ihr eigentlich bewaffnet?« fragte er dümmlich. »Ich hab' mein Barlow-Messer bei mir«, erwiderte Omally und stürzte hastig sein Glas hinunter. »Und ich meine Laufschuhe«, sagte Jim. »Wo geht's zum Hinterausgang, Soap?« Mister Distant wand sich in seinem Sessel. »Niemand weiß von diesem Ort«, flüsterte er rauh, doch das laute Klopfen an der Tür informierte alle hinreichend, daß diese Überzeugung in der Realität ganz offenkundig nicht zutraf. Omally erhob sich hastig aus seinem Sessel. »Führ uns zum Hinterausgang, Soap, und ein bißchen Beeilung, wenn ich bitten darf.« »Ich bin ganz deiner Meinung.« Jim sprang ebenfalls auf und -229-
klopfte die Wände ab. »Wo ist die getarnte Tür, Soap?« fragte er. Soap Distant kaute auf den Fingerknöcheln. »Das ist mein anderes Ich«, wimmerte er. »Mein Doppelgänger. Ich wußte, daß es irgendwann geschehen würde, selbst hier unten.« »Die Chancen stehen nicht schlecht, daß du recht hast«, sagte Omally. »Und jetzt: Wenn du uns freundlicherweise nach draußen führen würdest?« »Es gibt keinen Hinterausgang.« »Dann zeig uns einen Platz, wo wir uns verstecken können. Irgend jemand muß schließlich die Sache weiterverfolgen, auch wenn du indisponiert bist«, verlangte John. »Genau. Du sprichst mir aus der Seele«, bekundete Jim seine Zustimmung, während das Klopfen an Heftigkeit zunahm. »Falls es dein anderes Ich ist, dann weiß es vielleicht nicht, daß John und ich hier sind. Wir beide sollten uns verstecken, bis das Blutvergießen vorüber ist.« »Oh, vielen Dank, Freunde.« »Wir würden für dich das gleiche tun.« »Was?« »Aufmachen da drin!« Eine Stimme von draußen brachte die haarsträubende Unterhaltung ins Stocken. »Das ist Sherlock Holmes!« sagte Omally. »Laß ihn rein, Soap.« Soap Distant beeilte sich, die Haustür zu öffnen. »Machen Sie ganz schnell wieder zu!« befahl der große Detektiv, während er sich an dem Subterraner vorbeischob. »Sie sind mir dicht auf den Fersen.« »Woher wissen Sie, wo ich zu finden bin?« fragte Soap Distant, als er die Riegel wieder vorschob. »Das spielt doch jetzt überhaupt keine Rolle. Sind Sie alle -230-
drei bewaffnet?« Omally schüttelte den Kopf und sank in seinen Sessel zurück. Pooley folgte seinem Beispiel. »Magst du noch ein Glas, Jim?« Omally schwenkte die Flasche Karottenwein vor Pooleys Gesicht. »Ja, keine schlechte Idee. Wie kommen Sie mit den Ermittlungen voran, Mister Holmes?« »Ich bin nicht ganz sicher, fürchte ich.« Holmes zog seinen Revolver und preßte sich dicht an die vordere Hauswand. Jim klopfte mit dem Glas gegen den Flaschenhals. »Und Sie haben die Burschen auf unsere Spur gelockt. Höchst gewagt, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Wenn nicht ungeschickt.« »Ich hab' ihm von Anfang an nicht über den Weg getraut«, sagte John, der inzwischen sein eigenes Glas aufgefüllt hatte. »Ich war in der Memorial-Bücherei«, sagte Pooley, »und hab' alles nachgelesen. Die Beweise sprechen eindeutig gegen ihn. Eine frei erfundene Gestalt, wie ich inzwischen überzeugt bin.« »Sparen Sie sich Ihre Überzeugungen«, unterbrach ihn Holmes. »Diese Burschen da draußen meinen es ernst.« Das schreckliche Geräusch eines kreischenden Geisterzugs untermauerte Holmes' Äußerung. Von irgendwo weit entfernt schoß etwas Böses aus der Dunkelheit auf sie zu. Pooley verdrehte die Augen und preßte die Hände auf die Ohren, und Omally packte eine der BIBA-Tischlampen und bereitete sich einmal mehr darauf vor zu kämpfen. Und als wäre das schreckliche Kreischen für sich allein nicht genug, wurde es von Geräuschen begleitet, die ohne Zweifel ausgereicht hätten, um dem Heiligen Anton persönlich eine Heidenangst einzujagen. Ein grauenhaftes Schlurfen und Schmatzen wie von einer gigantischen Schnecke, dazu ein Klirren und Rasseln wie von schleifenden Ketten und knackenden Gliedern. Alles in -231-
allem sah es nicht danach aus, als wollte jemand vorbeikommen, um seinen Präsentkorb zu überreichen. Omally wandte sich zu Holmes um, der nun geduckt dastand und auf die Tür starrte, einmal mehr die vierundvierziger Magnum in den ausgestreckten Händen. »Was zur Hölle hat das zu bedeuten?« schrie er über den lauter werdenden Krach hinweg. »Es ist aus einer Kelleröffnung gekommen und seitdem hinter mir her. Etwas Vergleichbares habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen, es sei denn in den Bildern von Hieronymus Bosch.« Omally konnte mit dieser Antwort nur wenig anfangen, weil er Bosch bisher immer für einen Luxussportwagen gehalten hatte, doch daß s ich etwas sehr Unangenehmes und Großes näherte, war auch so offensichtlich. Als die erste Erschütterung die Vorderwand zum Zittern brachte, feuerte Holmes aus kürzester Distanz in die Tür. Ein eisiger Orkan fuhr durch das entstandene Kugelloch wie eine Druckwelle aus einem geplatzten Gasrohr. Ein übelriechender Gestank breitete sich im Zimmer aus, wie aus der Hölle selbst, wie alles Aas der Welt auf einem einzigen verrottenden Haufen. Holmes wich von der Tür zurück und stolperte hustend und keuchend über Omally. Der Ire ging in die Knie, hielt die Hand über die Nase und würgte heftig. Draußen schlug das Ding mit verstärkter Gewalt gegen die Tür. Die eisernen Angeln kreischten gequält, doch noch hielten sie dem satanischen Botschafter des Todes stand. Im Spalt unter der erzitternden Tür machten sich widerhakenbesetzte Tentakel zu schaffen. Gelber schwefliger Nebel färbte die nicht mehr atembare Luft, und der gesamte Raum bebte unter dem höllischen Ansturm. Omally kroch auf allen vieren zu Soap Distant hinüber, der -232-
sich klugerweise unter dem Tisch in eine Fötusstellung zusammengerollt hatte. »Du mußt uns hier rausschaffen!« brüllte John, während er die Hände zur Seite bog, die sich über die Albinoohren gelegt hatten. »Es muß einen Fluchtweg geben!« »Gibt es aber nicht.« Soap befreite sich aus Omallys Griff. »Es gibt keinen Fluchtweg!« Holzsplitter flogen durch den Raum, als die satanischen Tentakel die Ronsonpolitur von der Tür kratzten. Omally kam unsicher auf die Beine. Sherlock Holmes stand ganz allein in dem Wirbelwind. Er hatte sich ein fleckiges Taschentuch wie eine Bandana über das Gesic ht gebunden und hielt einen Finger in die Luft gereckt. Der Doyen aller Schlaumeier hatte ganz ohne Frage den Verstand verloren, dachte John. Als hätte Holmes seine Gedanken gelesen, versetzte er Omally plötzlich einen Schlag an den Hinterkopf, daß dessen Welt voller Sterne hing. Starr vor Überraschung ging John zu Boden. Holmes sprang auf ihn hinunter und deutete hektisch auf die Wolken aus wirbelndem Gestank. »Der Kamin!« brüllte er mit dem Mund dicht an Johns Ohr, doch die Worte verloren sich fast im Kreischen, dem Brüllen des Wirbelsturms und dem Geräusch von splitterndem Holz. »Den Schornstein hinauf, aber schnell. Los, beeilen Sie sich!« Es dauerte nur Sekundenbruchteile, bis Omally begriff. Er packte den zusammengerollten Pooley mit festem Griff beim Kragen und zerrte ihn in Richtung der einzigen Fluchtmöglichkeit. Holmes ging zu Soap Distant und trat dem Albino in die Rippen. Der Subterraner blickte anklagend zu seinem Peiniger auf, der im Malstrom der Elemente nur undeutlich zu erkennen war. Holmes bückte sich und hakte Zeige- und Mittelfinger in -233-
die Nasenlöcher des apathischen Mannes. »Los jetzt, Sie werden uns nach draußen führen!« brüllte er und zog Soap Distant auf die Beine. Soap folgte dem Meisterdetektiv wimmernd und unter lautem Protest, andererseits war er nicht ganz unglücklich über die Nasenstopfen, die ihn vor weiterem Gestank bewahrten. Holmes schob seinen Kopf in den Kamin, und dann begriff Soap. Er nickte seinem Folterknecht zu, grinste und deutete nach oben. Sekunden später kletterte er in die Dunkelheit hinauf. Omally schob Jim in den Kamin und folgte ihm dicht auf den Fersen. Plötzlich barst die Tür aus den Angeln und löste sich in eine Million splitternder Trümmer auf. Holmes wirbelte mit erhobener Pistole herum. Der eisige Sturm riß ihm das Jackett von den Schultern, und das Ding rollte in den Raum: ein Dickicht aus Widerhaken, Tentakeln und Stachelschweinborsten, das wild um sich peitschte und schrie und kreischte. Der große Detektiv hielt tapfer die Stellung und feuerte Schuß um Schuß auf den angreifenden Ball aus Tod und Zerstörung. Sturm und Terror spornten das dreiköpfige Flüchtlingskomitee an, das höher und höher in den schwarzen Schornstein hinaufkletterte. Von oben drang Soaps Stimme zu John und Jim herab: »Los doch, Jungs! Höchstens noch eine Meile bis oben!« Pooley nuschelte eine Beschwerde, doch Omally, der die Nachhut bildete und damit die gefährdetste Position innehatte, biß ihm in den Knöchel. Ein schmerzhaftes Aufheulen sowie eine plötzliche, nach oben gerichtete Beschleunigung des kletternden Nörglers gaben dem furchterfüllten Sohn Irlands zu verstehen, daß die Botschaft angekommen war. Der Weg war alles andere als ungefährlich. Enge und vollkommene Dunkelheit trugen ihren Teil dazu bei. Steine und dicke Rußkrümel lösten sich und fielen den Kletternden in die -234-
Gesichter. Soap trat mehr als einmal auf Jims Hände, und schon aus Fairneß trat Jim dafür auf Johns. Sie kletterten höher und höher durch den engen Schacht, bis irgendwann kein eisiger Wind und kein Gestank mehr von unten heraufwehte. Da erst hielten sie ein paar Augenblicke inne. Angsterfüllt klammerten sie sich an das, was zu klammern vorhanden war, während sie nach Luft rangen und heraushusteten, was von ihren gequälten Lungen übriggeblieben war. »Wie weit ist es noch, Soap?« ächzte Omally und wischte sich über die tränenden Augen. Er hielt sich mit einer Hand fest und wühlte mit der anderen in den Taschen nach einer Zigarette. »Ein gutes Stück, immer geradeaus nach oben. Warum?« »Und oben gibt es tatsächlich eine Öffnung?« wollte Jim wissen. »Ich meine, ich hasse die Vorstellung, den ganzen Weg zu klettern, nur um mich anschließend in einem Ventilationsschacht im Keller des TORE & FENSTER CORP.Gebäudes wiederzufinden.« »Hmmm… Um ehrlich zu sein, diesen Kamin hat einer meiner Vorfahren gegraben. Wir müssen uns wohl oder übel auf das Glück der Distants verlassen.« »Wie tröstend! Oh, aua! Autsch!« »'tschuldigung, Jim. Hab' ich dir den Hintern verbrannt?« »Laß mich gefälligst auch mal ziehen, du ungeschickter Tolpatsch!« »Zigarettenrauch kann der Gesundheit schaden«, rezitierte Soap Distant, und: »Oh, aua! Autsch!« »Vorwärts, Soldaten Jesu!« sagte Jim und zog die brennende Zigarette von Soaps Hosenboden zurück. Die drei setzten ihren grauenhaften Aufstieg fort, der jetzt zumindest vom roten Glühen dreier Zigaretten erhellt wurde. Die erste Stunde verlief höchst ereignislos, wenn man von den -235-
gelegentlich ausgelösten Lawinen absah, die sie stets in die Tiefe zu reißen drohten. Die zweite Stunde hingegen war erst einige Minuten alt, als die Dinge eine höchst deprimierende Wende zum Schlechten nahmen. »Ich sage euch das wirklich nur ungern«, meldete sich Soap zu Wort, »aber mir ist der Kamin ausgegangen.« »Dir ist was? Heh, Vorsicht, ja? Das ist meine Hand, auf der du gerade herumtrampelst.« »Beweg dich, los, weiter, Jim!« »Halt die Klappe, John.« »Jetzt seid mal beide ruhig, um Himmels willen! Ich kann nicht mehr weiter!« »Dann geh zur Seite und laß uns vorbei!« »Er will uns sagen, daß der Kamin zu Ende ist, John.« »Dann geh zur Seite, ich bringe ihn um!« »Haltet die Klappe, ich sehe Tageslicht.« »Was?« Die drei Männer strengten ihre Augen an, starrten in die Dunkelheit über ihnen, und tatsächlich leuchtete in einiger Entfernung ein schwaches Licht. Ein winziger Punkt, doch er verlieh ihnen neue Hoffnung. Wenn auch nicht gerade viel. »Los, weiter!« brüllte Omally von unten. »Ich hab' dir doch gesagt, es geht nicht! Irgend etwas versperrt den Weg!« »Ich wußte es! Ich habe es von Anfang an gewußt!« murmelte Jim im Tonfall des Mannes, der es von Anfang an gewußt hatte. »Es geht nicht vor und nicht zurück Wir sind dazu verdammt, in diesem Kamin zu verhungern oder zu verdursten, bis wir einer nach dem anderen wie verschrumpeltes Fallobst …« »Halt die Klappe, Jim. Was versperrt den Weg, Soap?« -236-
Soap Distant rüttelte an etwas. »Ein Gitter, festgerostet wie die Hölle.« »Nun mal langsam mit diabolischen Beschreibungen, ja?« »Massiv wie Felsen.« »Untergang und Verzweiflung und ungnädiges Schicksal! O du ungnädiges Schicksal!« »Ich hab' jede Menge Benzin in meinem Zippo, Jim.« »Oh? Tut mir leid, John. Kannst du es denn nicht lösen, Soap?« »Es ist verdammt noch mal festgerostet. Hörst du denn nie zu, was ich sage?« »Laß mich mal.« »Wie denn, John? Es ist viel zu eng!« »Dann müssen wir eben alle zusammen drücken, so einfach ist das. Macht euch fertig, Leute! Auf drei! … Drei!« Soap Distant rammte die Schultern unter das Hindernis, Jim wurde hinternseitig angeschoben, und Omally war der Schiebende. »Los!« »Aaaaaagh!« »Autsch! Aua!« »Weg da!« »Mein Gott!« »Noch mal! Es hat nachgegeben!« »Es hat nicht nachgegeben. Ich habe nachgegeben!« »Ich hab's ganz deutlich gespürt!« »Das war meine Schulter.« »Dann drück mit dem Rücken dagegen!« »Paß auf, wo du hintrittst!« »Wir sind gleich da! Wir sind gleich da!« -237-
»Wer hat das gesagt?« »Noch mal, los!« »Es gibt nach! … Es gibt nach! … Es ist weg!« Soaps Kopf und Schultern brachen durch das Hindernis, ein dünnes, verrostetes Eisengitter, das von fünfzig Jahren Taubenmist an Ort und Stelle festzementiert worden war. »Ihr Bastarde!« Soap Distants Arme waren an den Seiten eingeklemmt »Ihr elenden Bastarde!« »Paß auf, wo du hintrittst!« beschwerte sich Pooley. Soaps erstickte Stimme kreischte von oben auf John und Jim herab: »Ihr verdammten Irren! Ich hänge fest!« Wie nicht anders zu erwarten, entspann sich im Nu eine hitzige Debatte unter dem sich windenden Soap Distant, wie die notwendige unwiderstehliche Kraft am besten von unten gegen das neue und zum gegenwärtigen Zeitpunkt unbewegliche Hindernis einzusetzen sei. »Wir müssen ihn nach unten ziehen und erneut hindurchstoßen«, schlug Jim vor. »Zu uns herunterziehen, damit wir allesamt in die Tiefe stürzen?« »Dann schmieren wir ihn eben mit Gänsefett ein.« »Du Spinner.« »Und wenn wir ihm die Füße kitzeln?« »Und so was nennt sich Millionär. Ich dachte immer, ihr Typen hättet alle den Durchblick.« »Ein Flaschenzug! Ein Flaschenzug! Ein Königreich für einen Flaschenzug!« »Ich ersticke allmählich, Freunde«, meldete Soap Distant von oben. Pooley überdachte die Situation. »Tod und Verderben«, lautete seine Schlußfolgerung. -238-
»Halt, einen Augenblick!« verlangte Omally. »Genug ist genug und so. Es ist eine wohlbewiesene Tatsache, daß ein Mann, der mit dem Kopf und den Schultern durch eine Lücke paßt, auch den gesamten Rest hindurchzwängen kann.« Soap Distant zappelte wie eine Made an einem neuner Haken. »Los, streck den Kopf runter zu mir, Jim. Wir müssen etwas besprechen.« Soap zappelte und trat um sich, doch seine Bewegungen wurden schwächer und schwächer. »Das kann ich Soap unmöglich antun!« »Es dauert nur eine Sekunde. Und glaub mir, es löst unser Problem!« »Aber das ist gemein!« »Entweder du machst es bei Soap, oder ich mach' es bei dir!« Pooley schloß die Augen und biß die Zähne zusammen. Dann streckte er die Hand nach oben aus und machte, was Omally von ihm verlangt hatte. »Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaagh!« Ein paar Augenblicke später lagen die drei Männer ächzend und stöhnend im Eingang des Ladeplatzes von Meeks Bootshof am Ufer des Grand Union Kanals. Nur wenige Fuß entfernt erhob sich die undurchdringliche Barriere aus Licht aus dem Wasser bis hoch hinaus in den Weltraum. »Das wäre wohl zuviel verlangt gewesen, auf der anderen Seite herauszukommen«, seufzte Pooley. Soap Distant umklammerte seine empfindlichen Teile und starrte Jim haßerfüllt an. »Dafür wirst du bezahlen!« stöhnte er. Jim lächelte verlegen. »Was hätten wir tun sollen? Sieh es doch von der guten Seite. Wenigstens sind wir alle lebendig nach draußen gekommen.« »Nicht alle«, widersprach John Omally. -239-
»Wie?« Omally deutete auf den offenen Kanaldeckel, durch den sie Minuten vorher gekrochen waren. »Da waren's nur noch drei«, sagte er mit bleierner Stimme. »Holmes!« kreischte Pooley. »In all der Aufregung …!« Er stürzte zu dem dunklen Loch und rief den Namen des berühmten Detektivs in die Dunkelheit hinunter, doch nichts außer seinem eigenen spöttischen Echo antwortete. »Gib auf, Jim.« Omally legte seinem besten Freund die Hand auf die Schulter. »Er hatte nicht den Hauch einer Chance.« »Ich habe nicht an Holmes gedacht!« Pooley hob voller Trauer den Blick. »Ich habe überhaupt nicht an Holmes gedacht.« »Keiner von uns hat an ihn gedacht. Wir hatten nur unser eigenes Leben im Sinn.« »Wir haben ihn im Stich gelassen …« »Ja.« »Der arme Bastard!« »Der arme edelmütige Bastard. Er hat uns das Leben gerettet und dafür sein eigenes geopfert.« Langsam erhob sich Pooley und schob die Hände in die Hosentaschen. Er sah zu der Stelle, wo sich das Gebäude der TORE & FENSTER CORP. erhob und einen Teil des Himmels verdunkelte. »O du verdammte Scheiße!« rief er und trat nach dem umgekippten Kanaldeckel. »Das reicht jetzt wirklich. Diese Dreckskerle werden mich kennenlernen, das verspreche ich.« »O ja, das werden sie«, sagte John Vincent Omally. »Und mich obendrein. Und sie werden ganz definitiv teuer für alles bezahlen.« -240-
Kapitel 30 Professor Slocombe nahm einen Gänsefederkiel aus dem Tintenfaß und strich den fünften Tag des Monats Juni aus. Von jenseits der geschlossenen Läden seiner Verandafenster drangen die Laute ausgelassener Fröhlichkeit. Das Brentforder Festival hatte begonnen. Im Verlauf der vorhergehenden Nacht hatten sich die Festwagen auf dem Butts Estate versammelt; schwerfällig und laut waren sie durch die Dunkelheit gerollt. Durch einen Spalt in einem der Fensterläden hatte der alte Professor ihre hellen, deutlichen Silhouetten vor dem Hintergrund eines fast weißen Himmels beobachtet. Er hatte in der Vergangenheit manch einem Festtagsausschuß vorgesessen und manch einen Wettbewerb um den schönsten Wagen geleitet, doch er hatte noch nie etwas wie das hier erlebt. Die Wagen, die auf ihren zahlreichen Rädern durch die Nacht rollten, waren vollkommen fremdartig, selbst für einen Mann, der so viel gesehen hatte. Sie sahen aus wie der Stoff, aus dem Alpträume gemacht sind, oder wenigstens die Träume der Kranken und Sterbenden wenn überhaupt eine menschliche Hand an diesen Monstrositäten gearbeitet hatte. Ein Schauer rann über den langen Rücken des alten Gelehrten, und seine gefleckte Hand schloß sich um ein halbgefü lltes Whiskyglas, das auf dem Schreibtisch stand. Er hatte seit mehr als einer Woche nicht mehr schlafen können, und nichts linderte die Schmerzen, die sein Herz und das Mark seiner alten Knochen ausfüllten. Die große Uhr auf dem Kaminsims zählte die letzt en Stunden der Menschheit. Die Prophezeiungen standen im Begriff, sich zu erfüllen, und die Hilflosigkeit desjenigen, der weiß und doch nichts ändern kann, war mehr, als ein gewöhnlicher Mensch ertragen konnte. -241-
Professor Slocombe wischte mit der Hand über seinen Schreibtisch und fegte einen Stapel von Magazinen auf den teppichbedeckten Fußboden. Computer Weekly, Software Review, Micro Times, Populär Processor: allesamt giftige Früchte des neuen, technologischen Lebensbaums. Die Menschheit war schließlich und endlich auf ihrer letzten Stufe der Inkompetenz angekommen und hatte sich selbst überflüssig gemacht. Sie hatte ihren Untergang selbst zu verantworten. Voller Unverständnis hatte sie sogar eine Wissenschaft daraus gemacht; sie hatte eine neue Ordnung etabliert, einer neuen Kultur den Boden bereitet und letzten Endes einen neuen Gott erschaffen. Oder, genauer gesagt, dabei geholfen, einen alten, gestürzten Gott wieder auf seinen Thron zu hieven. Computertechnologien hatten der Menschheit die Möglichkeit zur Regression eröffnet, die Möglichkeit das eigene Denken einzustellen und damit die eigene Existenz. Warum sollen wir uns damit quälen? Maschinen können das viel besser! Und die Maschinen hatten die Menschen ganz subtil zu der Überzeugung geführt, daß hochentwickelte Technik gleichbedeutend mit Fortschritt war. Daß die Gottheit Technik alle menschlichen Schwächen durch das Umlegen eines Schalters überwinden konnte, und falls nicht, dann zumindest nach einigen weiteren Jahren der Entwicklung. Der Mensch hatte sich selbst aus dem Blick verloren. Bald schon würde die Dunkelheit über das Licht triumphieren, und die Menschen gingen sehenden Auges in den Untergang. Das war es, was man Fortschritt nannte. Die Menschheit hatte derart viele Fortschritte gemacht, daß es keine Hoffnung mehr gab zu überleben. Das Wunder der Wissenschaft hatte sich in ein Szenario des Horrors verwandelt. Irgendwo in dem dunklen Turm, der hoch in den Brentforder Himmel ragte, in dem bleichen Tempel der Technologie, lag der -242-
Drache zusammengerollt in seinem Schlupfwinkel. Der Augenblick seines Erwachens rückte stetig näher, und niemand war mehr da, der das Schwert der Wahrheit in sein schwarzes Herz stoßen konnte. Der alte Mann leerte sein Glas und füllte es nach. Er starrte auf das vergoldete Pendel, das endlos hin und her schwang. Wo steckte nur Holmes? Er war gewissen Spuren und eigenen Beweggründen gefolgt und hatte bis Tagesanbruch zurück sein wollen, doch inzwischen war der Detektiv seit Stunden überfällig. Der Professor hatte Holmes geheime Dokumente anvertraut, von denen er glaubte, daß sie vielleicht eine ultimative Lösung boten, doch wo steckte Holmes jetzt? In den Straßen sammelten sich die Massen und luden das Desaster förmlich ein, aus seinem dunklen Bau zu kriechen. Das Geräusch polternder Räder und wilder Beifall zogen seinen Blick einmal mehr in Richtung der verschlossenen Verandafenster. Falls die dunklen Mächte sich in diesem Augenblick entschließen sollten, das Haus des Professors zu stürmen, wäre er ihnen machtlos ausgeliefert. Wenn es je eine Zeit gegeben hatte, die Truppen unter dem Banner des Lichts zu versammeln, dann war dieser Augenblick jetzt definitiv gekommen. Gegenwärtig drängten sich die Legionen des Lichts in einem Klohäuschen draußen vor der Moby Dick Terrace. Die drei Getreuen hatten mehr als nur ein wenig von der berühmten versprengten Patrouille an sich. »Kannst du irgend etwas sehen?« erkundigte sich Jim, als Omally einmal mehr durch das Herz in der Tür nach draußen schielte. »Ich kann sogar jede Menge sehen«, erwiderte der tapfere Sohn Irlands, »und um ganz offen und freimütig zu sein, nichts von alledem gefällt mir auch nur ein winzig kleines Stück.« -243-
»Laß mich auch mal«, verlangte Soap Distant. »Und behalte deine Hände gefälligst bei dir, Jim Pooley.« »Meine Hände ruhen tief in meinen Hosentaschen. Paß bitte auf, wo du hintrittst, es ist ein wenig überfüllt hier drin.« Soap Distants rotes Auge schob sich vor die herzförmige Öffnung. »Mein Gott!« ächzte er. »Meiner nicht!« entgegnete John Vincent Omally. Hinter dem baufälligen Gitterwerk, das den Gartenzaun markierte, bewegten sich die Festwagen in langsamer Prozession durch die Straße. Das spärliche Licht der Dämmerung, das die Silhouetten umgab, verlieh ihnen Form und Gestalt. Es waren mächtige Festwagen, die hoch aufragten und die Straße fast in der gesamten Breite ausfüllten. Rechts und links waren nur wenige Zoll Platz bis zu den Hauswänden. Aber was um Himmels willen sollten sie darstellen? Sie erinnerten auf düster geheimnisvolle Weise an aufgeblähte Reptilien mit geschuppten Flanken und geschlitzten Kiemen und viel zu kleinen, rudimentären Gliedmaßen, doch sie waren zu gewaltig, zu gewagt, zu kopflastig. Sie paßten nicht hierher. Wie viele dieser Monstrositäten waren bereits vorbeigezogen, und wie viele würden noch kommen? Die drei Männer, die sich in dem stinkenden Klohäuschen drängten, wollten lieber keine Wetten abschließen. Soap Distant wandte sich mit Mühe von dem herzförmigen Guckloch ab. Er verspürte einen fast übermächtigen Zwang, jede Bewegung der schwankenden Behemoths zu beobachten. »Was stellen sie dar?« ächzte er und preßte die Hand auf das Loch, um den Anblick auszusperren. »Teufelswerk.« Omallys Stimme aus der Dunkelheit erschreckte selbst ihren Besitzer. »Wir müssen zusehen, daß wir von hier verschwinden. Laßt uns zum Professor gehen, und dann sehen wir weiter.« »Zwei Gärten weiter gibt es einen Kanaldeckel. Von dort aus -244-
könnten wir über ein paar Umwege in Professor Slocombes Keller gelangen«, schlug Soap Distant vor. »Ach du großer Gott, nein!« Diese Stimme gehörte Jim Pooley. »Mich bringen keine zehn Pferde mehr unter die Erde. Ich versuche mein Glück hier oben!« »Schön, wie du meinst. Was auch immer Holmes umgebracht hat, es kann uns nicht verfolgen. Es war ziemlich groß. Die Tunnel hier oben sind eng. Ich werde sie benutzen; macht ihr, was ihr wollt.« »Ich denke, wir sollten lieber zusammenbleiben«, schlug Omally vor. »Bist du ganz sicher, daß uns nichts passieren kann, Soap?« »Um offen und ehrlich zu sein, ich weiß überhaupt nichts mehr sicher.« »O Schande, o Untergang! Waaaah! Autsch!« »Also los, gehen wir.« Omally öffnete leise die Tür, und die drei Männer, von denen jetzt einer ein wenig humpelte und seine empfindlichen Teile hielt huschten geduckt durch den Garten und kletterten über einen Trennzaun. Soaps Kanaldeckel war von Büschen überwuchert, was die drei ein wenig beruhigte. Der Jünger der Hohlen Erde zog ein schlankes, gebogenes Werkzeug aus dem Gürtel, wühlte den Dreck beiseite und klappte in einer geübten Bewegung den Deckel auf. »Folgt mir«, flüsterte er und verschwand in der dunklen Öffnung. Pooley wechselte einen Blick mit Omally. »Für meinen Geschmack geht es in letzter Zeit ein wenig zu häufig hoch und runter, was, John?« »Nach dir, Jim. Daß du mir jetzt keine kalten Füße kriegst!« Unter leise gemurmeltem Protest kletterte der frustrierte Multimillionär in das Loch, gefolgt von Omally, der den -245-
Kanaldeckel hinter sich leise wieder an seinen Platz zog. Drei blitzende Gestalten verschwanden von den Computerschirmen der Sensoren im TORE & FENSTER CORP.-Gebäude, doch die Informationen waren längst verarbeitet und weitergegeben worden. Nicht weniger als drei Jim Pooleys sowie zwei John Vincent Omallys kletterten bereits über die Gartenmauer, und keiner von ihnen unterschied sich von den beiden Originalen, die dem Subterraner unter die Erde gefolgt waren. »Los, weiter, Jungs«, drängte Soap Distants Stimme aus der Dunkelheit. »Und Beeilung, wenn ich bitten darf. Hier unten riecht es nicht gerade gut.« Mit den Händen am Gürtel des jeweiligen Vordermanns bewegte sich die unmusikalischste Polonaise aller Zeiten nur wenige Fuß unter den Straßen Brentfords. Das Rumpeln der schweren Festwagen und die unterdrückten, amelodischen Laute von Gesängen aus den Kehlen Brentforder Doppelgänger als Reaktion auf holophonische Bilder, die durch kleine Kopfhörer in ihre Gehirne rieselten, waren alles andere als aufmunternd. Plötzlich stieß Soap Distant auf eine massive Tür, die sein weiteres Fortkommen blockierte. »Da wären wir also«, sagte er. »Wo wären wir genau?« »Wo wir hin wollten.« »Gut gemacht Soap. Dann laß uns keine Zeit verschwenden und mach auf, ja?« An das Geräusch von in Hosentaschen wühlenden Händen schloß sich ein langes, klägliches Stöhnen an. »Meine Schlüssel!« »Was ist mit deinen Schlüsseln, Soap?« »Ich glaube, ich hab' sie in meinem Schreibtisch vergessen.« Ein blendend grelles Licht erleuchtete mit einem Mal den -246-
engen schwarzen Korridor. Es schien direkt auf die drei entsetzten Gestalten, die sich instinktiv danach umgewandt hatten. In der Richtung des Lichtscheins erblickten sie außerdem das Blitzen blauweißer Funken, als mehrere tödliche Elektroschocker aktiviert wurden. »Los, aus dem Weg!« sagte Omally. »Laß mich mal an das Schloß!« Der Ire schob sich an dem rotäugigen Subterraner vorbei und kniete vor der Tür nieder. Aus einer bis dato verborgenen Brusttasche zog er eine schicke Rolle mit Einbruchswerkzeugen, die er vor sich auf dem Boden ausbreitete. »John!« sagte Jim Pooley. »Ich hatte ja nicht die leiseste Ahnung …« »Sie sind von Daddy. Bleib mir aus dem Licht, und halt diese Bastarde irgendwie auf Abstand, ja?« Das Licht kam näher und wanderte über die nassen Ziegelwände des runden Tunnels. Das Knistern der Elektroschocker wurde hörbar. »Du kannst es nicht aufbrechen!« stammelte Soap Distant. »Das Schloß ist geschützt! Man kann es nicht öffnen.« »Das Schloß muß erst noch erfunden werden, das ich nicht aufkriege.« Omally legte ein Bündel Metallstifte zur Seite und schob eine neue Sequenz auf den Schaft des Skelettschlüssels. »Du kannst es nicht öffnen.« »Halt die Klappe, ja?« »Aus dem Weg!« Pooley hatte sich zu einer tapferen Aktion hinreißen lassen und war den Tunnel zurück in Richtung der Angreifer geschlichen. Plötzlich traf ihn der blendende Lichtstrahl mitten im Gesicht, und er trat mit seinem eisenbeschlagenen Stiefel aus. Der Stiefel erwischte die Lampe, der Strahl glitt zur Seite, und Omally fummelte mit einem Mal -247-
in vollkommener Finsternis an dem widerspenstigen Schloß. »Gut gemacht, Jim!« spuckte er. »Jetzt kann ich überhaupt nichts mehr sehen!« »Laßt mich! Laßt mich los!« Klauenhände streckten sich nach Pooley, und im Funkeln des blauen Feuers verzerrte sich sein Gesicht zu einer Fratze. »John! Hilf mir, um Himmels willen!« »Hilf mir …!« Omallys Gehirn machte sich an die Arbeit. Er riß sich das Kruzifix vom Hals, tastete nach dem Schlüsselloch, schob es hinein und drehte es um. »Wir sind drin, Freunde!« rief er. »Los, rasch!« sagte Soap Distant. »Jetzt liegt alles an dir.« Mit einer raschen Bewegung verschwand er wie durch Magie in der gemauerten Passage. Omally schob sich durch den Eingang. Pooley wand sich aus dem Griff seiner Angreifer, wobei er einmal mehr einen rechten Jackenärmel - diesmal aus Kaschmir - als Souvenir zurückließ. Das vereinte Gewicht zweier Männer warf die Tür zurück in ihre Verriegelung. Von draußen regneten Fausthiebe dagegen, doch sie konnten den magischen Schutz nicht durchdringen. Omally nahm das Kruzifix wieder an sich und preßte es gegen die Lippen. »Da waren's nur noch zwei«, sagte er und sank mit dumpfem Geräusch auf den Hosenboden. Jim zog langsam seine Jacke aus und faltete sie über den Arm, dann warf er sie zu Boden und tanzte wütend darauf herum. »Scheiße Scheiße Scheiße Scheiße!« fluchte er ununterbrochen. Omally beobachtete die Aufführung ohne Kommentar. Diese Millionärstypen waren ein merkwürdiges Völkchen, das stand nun einmal fest. »Wenn du fertig bist«, sagte er schließlich, »schlage ich vor, wir gehen nach oben und überbringen dem alten Mann die traurige Nachricht von Holmes' Tod.« -248-
»O Scheiße!« sagte Pooley. »Das hast du schon gesagt.« »Nein, ich meine eine andere Scheiße. Ich habe nämlich vergessen, meine Zigaretten aus der Jackentasche zu nehmen!« Professor Slocombe beobachtete die beiden Freunde genau, wie sie müde die Kellertreppe hinaufstolperten, durch den Seitengang schlurften und vor der Tür zu seinem Arbeitszimmer stehen blieben. Auf beiden unrasierten Gesichtern stand der gleiche Ausdruck der Unentschlossenheit. Der alte Gelehrte öffnete die Augen. »Nur herein, Jungs«, rief er. »Ihr müßt nicht vor der Tür herumlungern.« Auf der anderen Seite der massiven Tür zuckte Omally die Schultern. Gemeinsam mit Jim betrat er verlegen das Arbeitszimmer, und ihre Blicke wichen denen des Professors aus. Der alte Gelehrte deutete auf die Whiskykaraffe, und Omally packte sie am Hals und füllte sich zitternd einen Tumbler. »Vorsicht mit dem Glas, John.« Omally, der dreinblickte, als hätte jemand ihm den Hosenboden versohlt, sah den Alten an. »Sherlock Holmes ist tot«, platzte er heraus. Professor Slocombes Gesicht blieb völlig ausdruckslos. Seine Augen hingegen wurden weiter und weiter, bis sie kugelrund waren. Das Weiße bildete zwei große Pfefferminzdragees rings um die Pupillen, und der schmale Unterkiefer mahlte langsam hin und her, als würde er Omallys Worte wiederkäuen. »Das kann nicht sein«, sagte er schließlich, während er sich langsam hinter seinem Schreibtisch erhob und seinen beiden ungeladenen Besuchern den Rücken zukehrte. »Das kann nicht sein.« Omally kippte seinen Drink hinunter und schenkte sich einen -249-
zweiten genauso großen nach. »Und ich?« beschwerte sich Omally. Der Professor wandte sich wieder zu ihnen um. »Wie ist das geschehen? Habt ihr es mit eigenen Augen gesehen?« Ein hoher, furchtsamer Unterton hatte sich in seine Stimme geschlichen. »Nicht wirklich«, antwortete Jim nervös. »Aber glauben Sie uns, Sir, er kann unmöglich überlebt haben.« »Er hat uns das Leben gerettet«, sagte Omally. »Aber ihr habt ihn nicht mit eigenen Augen sterben sehen?« »Nicht wirklich, Gott sei Dank.« Professor Slocombe grinste verschmitzt. »Das dachte ich mir.« Omally öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dann überlegte er sich's anders. Wenn der alte Mann die Wahrheit nicht akzeptieren wollte, dann machte es überhaupt keinen Sinn, die Angelegenheit weiter zu verfolgen. »Also schön«, sagte er schließlich. »Wir haben es nicht mit eigenen Augen gesehen.« »Nein, habt ihr nicht. Also laßt uns jetzt über etwas anderes reden. Wir haben nicht mehr viel Zeit und noch eine ganze Menge zu erledigen.« »Ehrlich gesagt, wir sind völlig erledigt«, entgegnete Jim und ließ sich in einen Sessel fallen. »Wir haben einen anstrengenden Tag hinter uns.« »Ich fürchte, er ist noch lange nicht vorüber. Wenn ihr so freundlich wärt, mir zu folgen?« Der Professor stapfte durch das Arbeitszimmer in Richtung Tür. Jim warf John einen fragenden Blick zu, und dieser legte einen Finger an die Lippen und schüttelte den Kopf. »Also los«, sagte er laut. »Wir haben nichts zu verlieren, oder?« Er folgte dem alten Mann in den Korridor hinaus. Jim, der als letzter zurückgeblieben war, grinste plötzlich. Er zog einen versilberten Flachmann aus der Hosentasche, den er kürzlich erstanden und bisher noch nicht benutzt hatte, und füllte ihn hastig aus der -250-
Karaffe des alten Gelehrten. »Welchen Sinn macht es, unbewaffnet in den Kampf zu ziehen?« murmelte er leise, dann folgte er den beiden anderen. Der Professor führte sie mehrere Treppen nach oben zu dem Raum mit der Camera obscura. Nachdem Jim hinter sich die Tür geschlossen hatte und die drei Männer in Dunkelheit getaucht waren, hievte Professor Slocombe den Apparat mit einer Winde in Position, und auf dem polierten Tisch aus weißem Marmor entstand ein Bild der Umgebung, das den drei Männern den Atem stocken ließ. Omally bekreuzigte sich und wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Die bösartige Travestie, die sich Festtagsumzug nannte, füllte inzwischen jede Straße und Gasse in Sichtweite. Und zum ersten Mal war das ganze Ausmaß des Horrors zu erkennen, der ihnen bevorstand. Es war, als wären die ersten Festwagen, die sie gesehen hatten, nur unscharfe und verschwommene Formen aus Ton gewesen, die auf die Hand eines Meisters warteten, um Gestalt anzunehmen. Jetzt waren die Umrisse deutlich und die Konturen klar definiert. »Sieh mal, dort!« Jim deutete auf einen erleuchteten Wagen, der dicht an der Seemannsmission vorüberkam, kaum mehr als einen Steinwurf vom Haus des alten Professors entfernt. Der Wagen zeigte die Gestalt eines Riesen, der in purpurne Gewänder gekleidet auf einem gewaltigen, mit goldenen Stierköpfen verzierten Thron saß. Goldene Banner, ein jedes mit dem gleichen Motiv, flatterten über dem Thron, und fünf kapuzentragende Gestalten knieten untertänig zu Füßen des Riesen. 38 Der Purpurne hob und senkte eine mechanische Hand als Zeichen des Segens, und für einen Augenblick schien es den drei Betrachtern, als höbe er die Augen - rotglühende feurige Bälle - in ihre Richtung und als -251-
starrte er direkt in ihre Seelen. »Das ist Er!« sagte Omally. »Dort!« rief Jim aufgeregt und deutete in die entsprechende Richtung. »Seht nur, dort! Seht nur!« Der prächtige Festwagen geriet außer Sicht, und hinter ihm tauchte ein weiterer auf. Er zeigte Legionen von Männern, die übereinander kletterten und zum Himmel hinauf deuteten. Sie sahen allesamt gleich aus, und ein jeder von ihnen erinnerte an den jungen Jack Palance: die Cereaner.39 Zu beiden Seiten der Festwagen marschierten zahllose Männer, Frauen und Kinder. Vertraute Gesichter, die inzwischen Fremden gehörten. Sie marschierten im Gleichschritt und mit entschlossene m Ausdruck einher, und jeder einzelne trug sein eigenes Banner, versehen mit achtzehn vertikalen Linien in drei Reihen zu je sechs. Die Zahl des Tiers, die Zahl eines Menschen. Professor Slocombe deutete auf die Projektion auf dem Tisch. Ein Stück weiter entfernt kamen gewaltige Umrisse in Sicht, Dinge von solcher Dunkelheit und Verderbnis, daß ihre Abbilder selbst hier oben, auf dem glatten weißen Marmortisch, ein Gefühl von nacktem Entsetzen hervorriefen, das die Sinne betäubte. »Schalten Sie das aus!« flehte Omally. »Das ist ja nicht zum Aushalten!« »Eine kleine Sache möchte ich euch vorher noch zeigen«, widersprach der alte Professor und justierte seinen Apparat. Das Bild des TORE & FENSTER CORP.-Gebäudes warf einen tiefen, schwarzen Schatten über die Marmorplatte. Der alte Mann vergrößerte einen Ausschnitt an der Basis des Bauwerks. »Seht genau hin. Könnt ihr das erkennen?« Die beiden Gäste des Professor strengten sich an, bis ihnen die Augen tränten. »Irgend etwas habe ich gesehen«, sagte Jim nach einer Weile. »Aber ich weiß nicht, was das gewesen sein soll.« »Seht noch mal hin.« -252-
»Ja, da war es wieder!« Eine fließende Bewegung, mehr nicht. Eine einzelne Gestalt löste sich aus der Menge, drückte die Hand auf einen Abschnitt der Mauer und wurde augenblicklich in das Gebäude aufgesogen, ohne eine Spur zu hinterlassen. »Ich habe krampfhaft und vergeblich nach einer Möglichkeit gesucht, mir Zutritt zu verschaffen«, erklärte der Professor. »Aber Holmes war es, der die Sache durchdacht und ihre Methode durchscha ut hat.« »Wenn es ein Schloß ist, mach' ich es auf«, sagte der Sohn Irlands. »Diesmal nicht John. Aber hier in unserer Mitte ist jemand, der den Schlüssel in der Hand hält, in eben diesem Augenblick.« »O nein!« Jim schob seine tätowierte Hand hastig in die Hosentasche. »Nicht das! Alles, nur das nicht!« »Du besitzt die Zugangsberechtigung, Jim, genau dort in deiner Handfläche.« »Nein, nein, nein!« Pooley schüttelte heftig den Kopf. »Alles, nur das nicht!« »Meiner Meinung nach ist es unsere einzige Chance. Wenn es uns nicht gelingt, in das TORE & FENSTER CORP.-Gebäude einzudringen und den sprichwörtlichen Sand in das Computergetriebe zu streuen, dann ist alles unwiederbringlich verloren. Wir haben nicht die kleinste Chance, die dunkle Gottheit selbst zu besiegen, doch wenn es uns gelingt, ihren Tempel zum Einsturz zu bringen und ihre Anbeter zu vernichten, dann muß sie sich einmal mehr an jenen Ort ewiger Finsternis zurückziehen, von dem sie gekommen ist.« Professor Slocombe deaktivierte seinen faszinierenden Beobachtungsmechanismus, und im Dachzimmer wurde es dunkel. »O Verdammnis!« stöhnte Jim Pooley »O Elend und -253-
Verdahhhhhh …! Nimm deine Finger da weg, John!« »Jedenfalls sind wir jetzt am Zug.« Professor Slocombes Stimme echote durch die Finsternis. »Und uns bleibt keine Zeit mehr. Jetzt oder nie!« Er öffnete die Tür, und das fahle Licht aus dem Treppenhaus fiel in die seltsame Dachkammer. »Aber wir dürfen uns nicht auf die Straße wagen!« gab Omally zu bedenken. »Ein Schritt vor die Tür dieses Hauses, und gute Nacht!« »Keine Sorge, daran habe ich gedacht.« Der Professor führte die beiden verlorenen Seelen in sein Arbeitszimmer zurück. »Was jetzt kommt, wird dir vielleicht nicht gefallen, John«, sagte er und öffnete die Schublade seines Schreibtischs. »Das sollte kein größeres Problem darstellen, Professor. Bis jetzt hat mir nämlich nichts an dieser ganzen Geschichte gefallen.« »Also schön.« Der alte Gelehrte nahm ein paar Gegenstände aus der Schublade, die verblüffend an Balaklavamützen erinnerten, und legte sie vor sich auf den Tisch. »Superman-Kostüme!« staunte Pooley beeindruckt. »Ich hätte mir denken müssen, daß Sie der Gerechtigkeitsliga von Amerika angehören!« »Schnauze, Jim.« »Schon gut, John.« »So lächerlich dir diese Verkleidung vielleicht im ersten Augenblick erscheinen mag, Jim, sie rettet uns vielleicht das Leben. Wie euch inzwischen zweifellos bekannt ist, kann der Computer der TORE & FENSTER CORP. Blei nicht durchdringen. Diese Mützen hier besitzen eine eingearbeitete Bleifolie, und die Maschine kann unsere Gehirnströme nicht entdecken. Auf diese Weise können wir uns ungehindert bewegen. Hoffentlich.« -254-
»Größe siebeneinhalb!« sagte Jim. »Aber wenn's sein muß, geht auch sieben.« »Guter Mann. Als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme schiebt sich jeder noch ein Stück Folie in die Brusttasche, um den Herzschlag auf die gleiche Art und Weise zu verbergen. Zweifellos werden die Sensoren unsere Körperwärme registrieren, doch das Resultat sollte sie nicht wenig verwirren. ›Unbehebbarer Fehler im Anwendungsprogramm. Abbrechen = Esc, Neustart = Enter‹, hihi.« »Bravo!« Omally zog sich ohne Zögern seine Mütze übers Gesicht. »Du siehst aus wie Richard Löwenherz!« kicherte Jim Pooley. »Ein tapferer Mann«, sagte Professor Slocombe. »Ich kannte ihn persönlich.« Die drei Männer, inzwischen unter ihren haarsträubenden Mützen verborgen, schlüpften durch die Verandafenster des Professors nach draußen in den Garten. Manchmal mußte man eben ganz schön viel in Kauf nehmen, damit das Leben in Brentford ruhig blieb. Hinter der Gartenmauer ragten die titanischen Festwagen in den Himmel. Einer nach dem anderen schlüpften die guten Balaklavarächer in die wogende Menge. Jeder hielt insgeheim den Atem an und sandte Stoßgebete gen Himmel. Professor Slocombe zupfte Omally am Ärmel. »Folgt mir.« Die Menge schob sich weiter. Die Festwagen wirkten aus der Nähe noch gigantischer. Jim blickte sich verstohlen um; er fühlte sich wie in einem Alptraum. Die Männer und Frauen zu beiden Seiten, ein jeder mit den sattsam bekannten winzigen Kopfhörern ausgestattet, wirkten ganz und gar unecht. Und das, so wußte Jim, traf wortwörtlich den Kern der Sache. Aus der Nähe betrachtet, wirkten die Festwagen heruntergekommen und improvisiert; ein Mischmasch aus -255-
Pappmache und Farben, die allem Anschein nach - und ohne Zweifel voller Absicht - ein größeres Ganzes ergeben sollten. Hier war keine Menschenhand am Werk gewesen. Wie alles andere auch, so waren die Festwagen eine krankhafte Parodie, reine Heuchelei, weiter nichts. Das Wagenrad ganz in Jims Nähe eierte unrund über die Straße und grub sich in den Asphalt, doch es war nicht real. Allerdings wirkte die Surrealität hypnotisch, zog das Auge an und ließ es nicht wieder los. »Komm weiter, Jim!« sagte der Professor und zerrte an Pooleys verbliebenem Ärmel. »Sonst verlieren wir uns in der Menge.« Pooley riß sich zusammen. Vor ihnen überragte das düstere TORE & FENSTER CORP.-Gebäude die gesamte Umgebung. Der Himmel war dunkel vor Gewitterwolken, und auf den geheimnisvoll glänzenden Mauern bewegten sich fremdartige Formen und Gestalten. Etwas Schreckliches und Unheimliches ging in Brentford vor. Die unbeschreibliche Prozession verließ den Butts Estate und hielt auf die Moby Dick Terrace zu. Professor Slocombe gab seinen beiden Gefolgsleuten einen Wink, und das mützengetarnte Duo huschte hinter dem alten Mann her. »Beeilung jetzt.« Das TORE & FENSTER CORP.-Gebäude beherrschte die gesamte östliche Skyline. Jim bemerkte mit sinkendem Mut, daß eine ganze Häuserreihe einfach verschwunden war, ausgelöscht von der kalten Konstruktion, die hinauf in den düsteren Himmel ragte. Auf einer Bank am Straßenrand saß ein alter Mann mit seinem jungen Hund. »Guten Tag, die Herrschaften«, begrüßte sie der Alte Pete, als das merkwürdig gekleidete Trio in nächster Nähe vorbeikam. »Schicker Umzug dieses Jahr, meint ihr nicht auch?« »Verdammt schick, ja«, stimmte Pooley zu. »Vielleicht sehen -256-
wir uns nachher im Fliegenden Schwan, wenn alles vorbei ist?« Der Alte Pete räusperte sich mit einem merkwürdig mechanischen Laut bevor er antwortete. »Paßt auf euch auf«, sagte er. Die drei Männer eilten weiter. »Halt, hier warten wir«, sagte Professor Slocombe, als sie am Ende der Straße angekommen waren. »Wir erwarten noch einen vierten Mann.« »Hoffentlich einen Freund?« »Das wäre zur Abwechslung nicht schlecht«, sagte Jim ein wenig schnippischer, als der Ernst der Lage es eigentlich zuließ. »Vielleicht den Organisator des Festivals? Oder den Vorsitzenden des Festwagenkomitees?« Omally nahm wahr, was er als vielleicht eine der letzten Möglichkeiten betrachtete, seinem geschätzten Freund einen Hieb an den Hinterkopf zu versetzen. »Aua! Autsch!« brüllte er kurz darauf und umklammerte mit der linken die schmerzende Faust. Pooley grinste zuckersüß. »Was kostet mich das Copyright für diese wunderbare Mütze?« erkundigte er sich bei Professor Slocombe. »Hört auf damit, ihr beiden. Ah, da kommt er ja.« Über den verlassen daliegenden Bürgersteig näherte sich unter großen Schwierigkeiten eine nur allzu vertraute Gestalt, gekleidet in den grauen Overall eines Eckladenbesitzers und mit einem Klapprandhut auf dem Kopf. Aber was war das, was die Fortbewegung des geklonten Ladenbesitzers zu einer derart schwankenden Erfahrung machte? Konnte es dieses knarrende, quietschende Relikt einer besseren Zeit sein, inzwischen schwarz und rostig und ganz und gar heruntergekommen? Sicherlich haben wir diese schwindsüchtigen Handgriffe schon früher gesehen? Den Federkernsattel und die öltriefende Kette? -257-
Die verklemmte Sturmey-Archer-Dreigangschaltung und die Wolframcarbidlampe? Ja, kein Zweifel möglich: Es handelte sich um niemand anderen als den berühmten eisernen Hengst, den Prinzipal allen Pedalistentums, der unter dem Gewicht seines fremden Reiters protestierend ächzte und quietschte: Marchant das Wunderfahrrad. »Mach dich von meinem verdammten Fahrrad runter!« raunzte Omally den Eckladenbesitzerklon an. Norman der Zweite sprang mit einiger Bereitwilligkeit von seinem ausgeborgten Transportmittel. Allerdings nicht aufmerksam genug, um dem heimtückischen Pedal zu entgehen, das geduldig auf die Chance gelauert hatte, seinem Reiter eins auszuwischen. Normans rechter Hosensaum verschwand im Ölbad zwischen Kette und Blatt, und der automatische Ladenhüter legte sich in den Staub. »Bastard!« kreischte der mechanische Mann. »Na warte, das zahle ich dir heim!« »Gut gemacht, Marchant«, sagte John und zog sein Fahrrad hastig außer Reichweite. Das Fahrrad klingelte freudig zur Begrüßung und stieß seinem Herrchen zärtlich die Lenkstange in den Leib. »Ist das nicht ziemlich sentimental?« fragte Jim. »Ein Junge und sein Fahrrad! Wie im Bilderbuch!« »Meinen die Herrschaften, wir könnten uns nun wieder der vor uns liegenden Aufgabe widmen?« erkundigte sich Professor Slocombe. »Diese Mützen gefallen mir«, sagte Norman der Zweite. »Was bedeuten sie? Gerechtigkeitsliga von Amerika oder was?« »Ich glaube, sie sollen ein Running Gag werden«, erwiderte Jim. »Warum mußtest du sein Fahrrad mitbringen? Dieses Ding deprimiert mich!« »Langsam, Jim! Wenn ich schon sterben muß, dann will ich -258-
meinen geliebten Marchant an meiner Seite wissen. Oder zumindest unter meinem Hintern.« »Mein Gott, wie sentimental!« »Es wird Zeit für deinen Zaubertrick, Jim«, sagte Omally. »Professor?« Der alte Gelehrte deutete auf eine schwach erleuchtete Stelle an der nackten Wand. »Direkt vor uns«, sagte er. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist«, beschwerte sich Jim. »Meiner Meinung nach täten wir besser daran, einfach von hier zu verschwinden.« »Los jetzt, Jim! Streck die Hand aus.« Der unglückliche Nachkomme von König Krösus legte seine goldene Hand auf das Paneel. Ein kurzes Zischen, und ein Stück Wand glitt beiseite. Aus dem Innern drang ein unangenehmer Gestank. »Rasch jetzt«, drängte der Professor. »Laß deine Hand auf dem Paneel, bis wir alle drin sind, Jim.« Einen Augenblick später schloß sich das Loch in der Wand hinter den drei Männern, dem automatischen Ladenhüter und einem Fahrrad namens Marchant. »Meine Güte!« entfuhr es Omally. »Ich weiß zwar nicht genau, was ich erwartet habe, aber es war jedenfalls nicht das hier.« Sie standen in einer Halle, die ohne weiteres zu jedem von Tausenden großer Konzerngebäude gepaßt hätte. Die traditionellen Symbole von Erfolg und Wohlstand: marmorne Wände, dicke Teppiche, ein verchromter Empfangsschalter, selbst der Gummibaum in seinem Terrakottakübel - alles war da. Es sah so normal aus, daß es schon wieder Furcht erweckte. Weil nämlich hinter der Fassade, wie alle Welt wußte, eine Macht lauerte, die schlimmer war, als Worte sie hätten beschreiben können. »Gentlemen«, sagte Professor Slocombe, »wir befinden uns -259-
jetzt in der Höhle des Löwen.« Omally faßte sich an den Magen. »Ich glaube, ich muß mir das Frühstück durch den Kopf gehen lassen«, sagte er. »Irgend etwas stimmt nicht. Irgend etwas stimmt ganz und gar nicht.« »Langsam, mein Freund.« Der Professor legte Omally beruhigend die Hand auf den Arm. »Sprich den Rosenkranz, das hilft immer.« Omally flüsterte die magischen Worte der uralten Gebete, und ihre Macht entfaltete sich fast im gleichen Augenblick. Das Gefühl von Übelkeit und Klaustrophobie verschwand von seinen Schultern - und legte sich auf die von Jim Pooley. »Wurp!« machte Jim. Und da er ein Mann weniger Worte und noch geringerer religiöser Überzeugungen war, übergab er sich in den Kübel des Gummibaums. »Das wird den Gärtner sicher freuen«, kicherte John Omally. »Tut mir leid«, meinte Jim und fuhr sich mit dem Ärmel über die in kalten Schweiß gebadete Stirn. »Entzugserscheinungen vermutlich. Sieht ganz danach aus, als brauchte ich dringend mein Pint.« »Wir beide, schätze ich. Wo entlang, Professor?« Der alte Mann strich sich über das Kinn. »Am Empfangsschalter sitzt niemand. Sollen wir den Aufzug nehmen?« Norman der Zweite schüttelte den Kopf. »Ich würde dringend empfehlen, auf das Treppenhaus auszuweichen. Eine Treppe ins Nichts ist überhaupt keiner Treppe auf jeden Fall vorzuziehen, wie ich immer sage. Soll ich vielleicht dein Fahrrad tragen, John, oder möchtest du es lieber an den Gummibaum ketten?« »Ich trage meinen Marchant selbst, gib dir keine Mühe.« Pooley schielte nach oben, auf eine Decke, die sich weit entfernt über ihm befand. »Sieht aus, als wäre es ein ganz -260-
schönes Stück«, stellte er fest »Vielleicht sollte ich lieber hierbleiben oder in den Kelle r gehen, um die Sicherungen herauszudrehen? Ich habe das untrügliche Gefühl, daß ich heute genug geklettert bin.« »Weiter. Wir gehen alle nach oben.« Vielleicht gibt es beim Treppensteigen ja einen Trick. Manche behaupten mit fester Überzeugung, daß es darauf ankommt mit den Ballen aufzutreten anstatt mit der ganzen Sohle. Andere bevorzugen flaches Atmen oder lenken sich damit ab, daß sie an andere Dinge denken. Dritte haben vorgeschlagen, rückwärts zu gehen, um den Körper in der Illusion zu wiegen, daß er eigentlich hinuntersteige. Die nächsten fünfzehn Minuten sahen, wie hier fairerweise betont werden soll, noch ein paar Methoden mehr, die vom Genialen bis hin zum geradewegs Schwachsinnigen reichten. Und allesamt vollkommen versagten. »Ich bin erledigt.« Pooley sank in die Knie und umklammerte seine Brust. »Schwester, die Sauerstoffmaske!« Omally schleppte sich noch ein oder zwei Stufen weiter und brach schließlich unter seinem getreuen Marchant zusammen. »Der arme Jim braucht ein Atemgerät«, sagte er. »Seine Beine haben jegliche Unbeschwertheit verloren.« »Aber dir fehlt nichts?« erkundigte sich Norman der Zweite. »Absolut gar nichts.« Omally atmete auf dem letzten Loch, und der Schweiß rann ihm brennend in die Augen. »Ich mache mir lediglich die ernstesten Sorgen um meinen guten Freund Jim.« Professor Slocombe spähte vom darüberliegenden Treppenabsatz auf die klägliche Truppe hinab. Falls seine Glieder jene Qualen ertrugen, die man normalerweise von einem Gentleman seines fortgeschrittenen Alters erwartete, dann ließ er sich jedenfalls nicht das geringste anmerken. In seinen Augen brannte das Feuer der Entschlossenheit. »Kommt endlich«, -261-
drängte er. »Wir sind fast da!« »Fast da?« stöhnte Jim. »Nicht nur, daß ich Gevatter Tod die Sense schärfen höre, ich sehe bereits die Funken!« »Du hast noch genug Luft, Jim. John, hilf ihm auf die Beine.« »Los jetzt, Jim!« Omally schulterte sein Fahrrad und half seinem schlaffen Freund hoch. »Wenn wir das hier überleben, kannst du mir einen Drink kaufen.« »Wenn wir das hier überleben, kaufe ich dir ein ganzes Pub.« »Also los, weiter geht's.« Zwei weitere Treppenabsätze blieben unter ihnen zurück, und John und Jim gelangten nach und nach zu der Überzeugung, daß irgendein bösartiger Architekt die Stufen immer tiefer gemacht hatte, je höher sie kamen. »Halt.« »Mit dem allergrößten Vergnügen, Professor.« Der alte Gelehrte starrte auf eine Rauchglastür. »Ja«, flüsterte er. »Wir werden hier bleiben.« Norman der Zweite fuhr mit den Fingern über die Türfassung und nickte schließlich: »Scheint sicher zu sein«, sagte er. »Dann wollen wir doch mal sehen.« Professor Slocombe gab Jim einen Wink. »Mach bitte auf.« Pooley schüttelte kläglich den Kopf, doch dann folgte er der Bitte des Professors. Die Tür öffnete sich. Dahinter erstreckte sich ein langer, spärlich erleuchteter Korridor. Omally fächelte sich Luft vor die Nase. »Es stinkt wie in einem Leichenhaus«, stellte er fest. Der Professor hielt sich ein großes Gingan-Taschentuch vor die Nase. »Würdest du bitte vorausgehen, Norman?« Der Roboter betrat den Korridor. »Ich kann die Vibrationen spüren«, berichtete er. »Aber es ist noch ein Stück. Wenn ich doch nur ein Terminal hätte.« -262-
»Standalone, LAN oder Internet?« erkundigte sich Omally sarkastisch. 10 »Superbreites WP mit Tabellenkalkulation vielleicht?« sagte Jim. »Mache ich euch vielleicht vorsätzlich Angst?« fragte Norman der Zweite. »Könntest du bitte deine Hand auf dieses Paneel hier legen?« »Die Sicherheitsvorkehrungen stinken zehn Meilen gegen den Wind.« Pooley legte die Hand auf das Paneel. Geräuschlos glitt ein glänzend schwarzes Stück Wand beiseite. »Ah«, sagte Norman. »Reinste Magie.« Der Raum war nicht mehr als eine Zelle, und keine Menschenseele hielt sich darin auf. Eine verborgene Lichtquelle beleuchtete ein Computerterminal, das in der Mitte des Zimmers stand. »Und da fragen mich die Leute doch tatsächlich immer wieder, warum ich niemals einer geregelten Arbeit nachgegangen bin!« sagte Omally und stellte sein Fahrrad ab. »Stellt euch nur einen Ort wie diesen vor, und das jeden lieben langen Tag von morgens acht bis abends fünf.« Der Roboter näherte sich der Konsole und knackte mit den Fingern. »So«, sagte er. »Ein kleines Problem wäre da noch zu lösen. Wir besitzen keinen Zugangskode.« Der Professor reichte ihm ein gefaltetes Blatt Pergament »Versuch das hier.« Der Automat überflog das Pergament und starrte den alten Mann an. »Frag lieber nicht«, sagte Omally. »Also schön.« Mit wirbelnden Fingern tippte der zweite Norman den Zugangskode ein. Der Bildschirm wurde hell, und die Worte: ›BITTE ANFRAGE EINGEBEN‹ standen darauf zu -263-
lesen. Normans Hände schwebten wartend über der Konsole. »Frag nach einem Zugang zum Hauptrechner«, sagte der Professor. Norman tippte die Frage ein. ›ZUGANG VERWEIGERT. ERBETENE INFORMATION VERTRAULICH‹, stand auf dem Schirm. Der alte Professor strich sich über das Kinn. »Dann bitte um einen Datenbericht.« Norman tat, wie ihm geheißen. Leuchtende Zahlenkolonnen huschten über den Schirm. Reihe um Reihe, Zahl um Zahl marschierten wie Regimenter über den Monitor. »Magie!« krähte Norman der Zweite. »Sieht aus wie Trigonometrie«, sagte Jim angewidert. »Ich konnte Trigonometrie noch nie ausstehen. Werken und Freistunden, aber definitiv keine Trigonometrie.« »Die Musik der Sphären«, sagte Norman der Zweite. Professor Slocombes Augen klebten gebannt auf dem Bildschirm. Lautlos bewegte er den Mund, während sein Kopf von einer Seite zur anderen wackelte. Als die Zahlenkolonnen schließlich geendet hatten, wippte der alte Mann auf den Zehenspitzen. »Und?« erkundigte sich Omally. »Können Sie etwas damit anfangen?« »Numerologie, John. Wie ich euch beiden immer zu erklären versucht habe. Alles, ganz gleich, um was es sich handelt kann in seine grundlegenden Elemente zerlegt und letzten Endes mit Hilfe einer Gleichung formuliert werden: dem numerischen Äquivalent. Alles Leben, jede einzelne Zelle, jede Mikrobe, jedes Netzwerk aneinandergeketteter Moleküle. Das ist der tiefere Sinn hinter allem. Versteht ihr denn nicht?« Der alte Gelehrte wollte Omally näher zum Schirm zerren, doch hastig entwand sich John dem Griff des Professors. -264-
»Ich will nichts damit zu tun haben!« sagte er. »Das ist nicht richtig! Das ist Sünde! Obszön!« »Nein, John, versteh doch!« Der Professor beugte sich zu dem Schirm hinunter und schob Normans Ladenhüter ungeduldig beiseite. Pooley trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Können wir nicht bald weiter? Ich friere mich hier drin noch zu Tode.« Und tatsächlich, es war mit einem Mal unglaublich kalt geworden. Der Atem der drei Männer kondensierte vor ihren Gesichtern. Oder zumindest der Atem zweier Männer. Omally packte Pooley entsetzt am Arm. Ihm wurde plötzlich bewußt, daß der Professor nicht mehr länger seine Mütze trug und sie eigentlich von Anfang an nicht aufgehabt hatte. »O Gott, Jim!« flüsterte John. »Das ist kein gutes Zeichen!« Der Professor versteifte sich. Langsam drehte er den Kopf um hundertachtzig Grad und starrte die beiden mit furchteinflößenden Blicken an. »Lernt, ihr letzten der Menschen«, sagte er und räusperte sich mit einem merkwürdig mechanischen Laut, den John und Jim zu fürchten gelernt hatten. »Das ist eure einzige Hoffnung. Kniet nieder vor eurem neuen Herrn.« »O nein!« Omally stolperte rückwärts und zerrte sein Kruzifix hervor. »Zurück!« rief er und hielt es in einer heftig zitternden Faust vor sich ausgestreckt. »Zurück, Höllenbrut!« Der Körper des Professors drehte sich nun ebenfalls um hundertachtzig Grad. Seine Augen besaßen mit einem Mal keine Pupillen mehr, sondern schienen aus zwei winzigen Computerbildschirmen zu bestehen, die in hypnotischer Folge blinzelten. »Beugt euch vor der Macht!« donnerte er. »Ihr kennt die Zahl des Tiers, denn sie ist die Zahl eines Menschen.« »Beim heiligen Kreuz!« Das Ding in der Gestalt des alten Professors schob eine Hand -265-
in die Hosentasche und zog einen kleinen, schwarzen Apparat hervor, aus dem zwei schlanke Stäbe ragten. »Los, lauf um dein Leben!« gellte Pooley, als der Klon den Knopf berührte und die Elektroden funkensprühend Nemesis verkündeten. Omally drückte sich flach gegen die Wand, als das Ding ihn anspringen wollte. Eine gewaltige Explosion ließ die Welt erzittern. Glassplitter und Fetzen brennender elektronischer Platinen flogen in alle Richtungen davon, prasselten gegen die Wände und regneten auf die beiden geduckten Männer hinab. Der gesamte Raum war mit einem Mal in Rauch und Flammen gehüllt. Der professorale Doppelgänger stand wie angewurzelt an seinem Platz, das synthetische Haar in hellen Flammen, die Garderobe in Fetzen. Normans Ladenhüter zog die schwelende Faust aus dem zertrümmerten Computerterminal. Er sprang vor, packte den falschen Professor an der Kehle und zerrte ihn rückwärts mit sich. »Los, raus hier!« brüllte er. »Rennt um euer Leben, Jungs!« Pooley und Omally drängten zur Tür und in den Korridor hinaus. John sprang in Marchants Sattel, Pooley setzte sich auf die Lenkstange, und mit übergroßer Hast suchten die drei ihr Heil in der Flucht. Allerdings in die falscheste aller Richtungen. Omallys Füße strampelten wild, und Marchant, der die Dringlichkeit der Situation augenblicklich erfaßt hatte, machte keinen Versuch, seinen zusätzlichen Reiter abzuwerfen. Unter dramatischem Klingeln schoß der treue Drahtesel den Korridor entlang. Vor ihm tauchten grau uniformierte Gestalten mit Feuerlöschausrüstung auf. Pooley trat aus dem Weg, was er konnte, während Marchant weiterraste. Und während er sich und John auf diese Weise einen Weg zwischen mehreren ziemlich nachlässigen Versionen von sich selbst hindurch bahnte, kam ihm plötzlich ein Gedanke. -266-
Der gewaltigen Maschine schien es trotz all ihrer dunklen Magie an Vorstellungskraft und Phantasie zu fehlen. Es war offensichtlich. Sie wiederholte immer die gleichen Prozesse, wenn sie um eine Lösung verlegen war. »Weißt du, was die Worte des falschen Professors bedeuten?« brüllte Omally ihm plötzlich ins Ohr. Pooley schüttelte den entsetzten Kopf, während er wild nach einem weiteren Roboterdoppelgänger von sich selbst austrat. »Es bedeutet, daß ich der letzte Katholik auf der ganzen Welt bin!« »Dann ist ja wenigstens ein Gutes bei der Geschichte herausgekommen.« Da Omallys Hände durch das Steuern Marchants an den Lenkergriffen unabkömmlich waren, beugte er sich bloß vor und biß Pooley ins Ohr. »Jim«, brüllte er, »Jim, ich bin der letzte Katholik auf der Welt! Und das bedeutet, ich … ich … ich bin jetzt der Papst! Jim, ich bin der Papst!«
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Kapitel 31 Ein gutes Stück unterhalb des radelnden Pontifex Maximus durchbrach ein barbarischer Schrei die Stille. »Scheeeeeiiiiissssseeee!« Neville der Teilzeitbarmann war endlich an einer Wand angekommen. Und zu guter Letzt hatte er auch einen Schalter gefunden. Und der resultierende Anblick sandte Schauer an seinen Nackenwirbeln hinauf, die sich zwischen angespannten Muskelfasern verloren. Neville fuhr mit der Hand über die Barriere, die sein Fortkommen behinderte; sie war hart und kalt wie Glas. Wahrscheinlich eine Außenwand, oder? Der Teilzeitbarmann legte das Auge an die pechschwarze Glasfläche und versuchte hindurchzuspähen. Auf der anderen Seite waren undeutliche Bewegungen zu erkennen. Menschen auf der Straße? Neville wich ein paar Schritte zurück, um die Wand mit der Schulter zu rammen, und bei Gott, er hätte sie durchbrochen, wäre nicht ein ganz und gar unerwarteter Gedanke in seinem Kopf aufgetaucht. Er wußte nicht genau, in welchem Stockwerk oder was auch immer er sich befand! Und wenn er seine Spur zurückverfolgte, so verlief sie genauso willkürlich wie die balzender Tauberiche auf dem Dach. Möglicherweise ging es hinter der Barriere ganz schön tief hinunter. Neville drückte das Ohr an die Wand aus schwarzem Glas. Er konnte nicht einen einzigen verdammten Ton hören. Vielleicht sollte er ein paar Löcher schlagen, um hindurchzusehen? Keine schlechte Idee. Der Barmann holte mit geballter Faust aus und schwang sie mit mehr als zweifacher Schallgeschwindigkeit gegen die Wand. Es gab zwei knallende und ein krachendes Geräusch unmittelbar hintereinander. Die geballte Faust ging sauber durch die Wand und erzeugte ein Loch von der Größe eines Mülleimerdeckels. -268-
»Gog und Magog!« Neville wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Ein eisiger Hurrikan aus stinkender Luft zerrte an ihm und befreite ihn von den letzten Fetzen seines Krankenkleids. Nur die Unterhose blieb ihm noch. Neville hielt tapfer durch, während er einen mächtigen Unterarm über das Gesicht gelegt hatte, um seine empfindlichen Nüstern vor dem heimtückischen Angriff übelriechender Luft zu schützen, den er ahnungslos ausgelöst hatte. »Gütige Mutter Gottes!« Tränen schossen ihm in die Augen, doch er zwang sich, zu dem Loch in der Wand zu treten. Mit der freien Hand vergrößerte er den Durchbruch, und Trümmer flogen taumelnd durch den Sturm davon. Als die Öffnung groß genug war, zwängte er sich hindurch in das gar nicht so große Dahinter. Unvermittelt verebbte der Sturm, und Neville fand sich in absoluter Stille und Finsternis wieder. Es war sehr kalt, bitterkalt sozusagen. »Brrr«, machte Neville der gigantische Teilzeitbarmann. »Was für ein Scheißwetter!« Für den Kenner griechischer Mythologie wäre das, was als nächstes geschah, von ganz außerordentlichem Interesse gewesen. Doch für einen gewöhnlichen Brentforder Teilzeitbarmann, noch dazu im gegenwärtigen Bekleidungszustand, war das plötzliche Auftauchen von Zerberus, dem vielköpfigen hündischen Wächter der Unterwelt, alles andere als ein Trost. »Wuff! Wuff! Wuff!« und »Knurr!« machte Zerberus im Plural. »Braver Hund!« machte Neville und bedeckte schützend seine empfindlichen Teile. »Guter Hund.« Die Kreatur schnappte nach dem Teilzeitbarmann, ganz geifernde Mäuler und flammende Augen. -269-
Neville sprang zur Seite und duckte sich, als der Höllenhund ihm an die Kehle wollte. »Aus!« sagte er, und: »Sitz!« Das Ding landete auf allen vieren und drehte sich zu einem zweiten Angriff um. Pfoten scharrten über den Boden, der Skorpionschwanz zuckte unruhig, und einer Vielzahl von Schlünden entrang sich ein tiefes Grollen. Holmes' Groller von Baskerville hätte neben der Bestie wie ein Schoßhund ausgesehen. »Grrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr!« machte Zerberus und duckte sich zum Sprung. »Grrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrrr!« machte Neville, der inzwischen zu der Einsicht gelangt war, daß es keinen Unterschied machte, ob er seine Wut an einem vielköpfigen Hund oder an was auch immer ausließ. »Komm, hol dir deine Packung!« Und mit einem gewaltigen Satz war der Köter über ihm. Köpfe zuckten und schnappten. Neville erwischte das Biest auf Brusthöhe und schickte es mit fliegenden Fäusten zu Boden, doch es war augenblicklich wieder auf den Beinen und griff erneut an. Diesmal packte der Teilzeitbarmann den Höllenhund an einer seiner Kehlen und drückte zu, bis seine Daumen sich trafen. Der Hund jaulte vor Schmerz, als Neville ihn vo n den Pfoten riß und machtvoll zu Boden schleuderte. Der Hund kugelte durch den Dreck, doch dann rappelte er sich wieder auf. Mit einem schlaff herabhängenden Kopf griff er erneut an. Eine Vielzahl bösartiger Mäuler schnappte, und Schwefeldämpfe entwichen doppelt so vielen Nüstern. Wieder und wieder prallten die beiden aufeinander wie Titanen aus der griechischen Sage, verwoben in einem ewigen Konflikt. Die einem Alptraum entsprungene Bestie und der beinahe splitternackte Teilzeitbarmann. Schreie und Bellen hallten durch das Nichts, brachen sich immer und immer wieder und untermalten die furchterregende Szene mit ihrem eigenen zusätzlichen Horror. -270-
»Das werde ich nicht tun, John! Das ist mein letztes Wort in dieser Angelegenheit!« Jim Pooley klammerte sich an seinen unsicheren Sitz auf Marchants Lenker, während Papst John der Soundsovielte freihändig einen verlassen daliegenden Gang hinunterradelte. »Ich bin kein Katholik, und ich weigere mich auf das Entschiedenste, deinen blöden Ring zu küssen. Das Ding stammt aus einem dämlichen Kaugummiautomaten!« »Laß dich um Himmels willen bekehren, Jim! Komm zurück in den Schoß von Mutter Kirche, bevor es zu spät ist für deine Seele!« »Laß mich absteigen. Ich brauche einen Drink.« »Drink?« Omally trat in die Bremsen, und Pooley segelte über den Lenker. »Habe ich dich ›Drink‹ sagen hören, mein Sohn?« Pooley starrte seinen Freund bitter vom Boden her an. »Päpste trinken nicht«, sagte er. »Das ist mal sicher und außerdem wohlbekannt.« »Eine neue Päpstliche Bulle«, entgegnete seine Heiligkeit. »Also schön, meinetwegen. Aber ich werde auf gar keinen Fall deinen Ring küssen. Das ist eindeutig unanständig.« Pooley zog den Taschenwärmer hervor, und die beiden Freunde trotteten nebeneinander her und teilten sich den Inhalt. »Es wird immer kälter!« beobachtete Pooley und rieb sich fröstelnd über die Hemdsärmel. »Außerdem wird der Gestank immer übler.« »Was hast du denn erwartet?« Omally gab ihm den Flachmann zurück »Rosenblätter auf dem Weg?« »Bist du sicher, daß wir in die richtige Richtung gehen?« »Der Weg führt nach unten, oder? Würde der Papst dich auf einen falschen Weg führen?« »Hör zu, John, ich bin nicht sicher, was diese PapstGeschichte angeht. Ich dachte immer, ihr Burschen müßtet -271-
gewählt werden. In einer Konklave, mit weißem Rauch aus dem Schornstein und so.« »Als letzter lebender Katholik ist meine Stimme die einzige, die zählt. Bitte versuch nicht, in religiösen Angelegenheiten mit mir zu diskutieren, Jim. Wenn du zur katholischen Kirche übertrittst, mache ich dich zu meinem Kardinal.« »Danke, aber das ist nicht nötig. Mein Gott, wie das hier unten stinkt! Könntest du nicht eine Päpstliche Bulle oder so was dagegen anordnen?« Omally blieb wie angewurzelt stehen, und der Ungläubige folgte seinem Beispiel. »Was ist los?« »Würdest du einen Blick auf das da werfen?« sagte ihre Heiligkeit und deutete auf das da. Ein Stück voraus ragte eine mächtige Tür auf. Sie paßte nicht im geringsten zu dem, was sie bisher gesehen hatten. Bisher waren sie auf ihrer wilden Flucht nach unten nur durch kahle, modernistische Korridore mit mehr oder weniger verborgenen Türen gekommen. Diese hier jedoch war wie eine dunkle Hymne an das Böse umrahmt von einem mächtigen, reliefverzierten Portikus. Omally parkte seinen Drahtesel, und auf Zehenspitzen schlichen die beiden Männer näher heran. Das Ding war gewaltig, eine Arbeit von titanenhafter Pracht mit erlesenen Schnitzereien, die tief in das dunkle, saubere und ganz offensichtlich uralte Holz geschnitzt waren. »Leck mich doch am Arsch«, sagte John Vincent Omally, was für einen Papst ganz schön daneben war. »Sieh dir diese heilige Schau an!« »Unheilig paßt wohl besser, John. Das ist geschmacklos und widerlich!« »Ja, tatsächlich. Du hast recht. Und dort.« Pooleys Blick folgte Omallys Finger. »Dazu muß man ja ein -272-
Schlangenmensch sein!« »Hier ist eine Inschrift, John. Du kannst doch Latein, was bedeutet das?« Omally beugte sich vor und studierte die Lettern. »Aha«, sagte er nach einer ganzen Weile mit einer Stimme, die vor Herpes triefte. »Das also.« »Ist es der Ausgang?« Omally drehte sich zu dem grinsenden Idioten um. »Gib mir den Flachmann, du Dummkopf.« »Nichts da, du Papst. Hättest dir ja deinen eigenen mitbringen können.« »Gib mir augenblicklich die Flasche!« »Na gut. Aber nur ein kleiner Schluck ja? Ich will nicht daß dein Urteilsvermögen leidet.« Pooley erlitt einen Schluckauf. Omally trank einen mächtigen Schluck. »Es ist dort drin«, sagte er, nachdem er sein Kinn abgewischt und Pooley die Flasche zurückgegeben hatte. »Was ist da drin?« Jim schüttelt e die Flasche an seinem Ohr und bedachte den selbsternannten Papst mit einem mißbilligenden Blick. »Es, du verdammter Idiot!« »Dann ab zur nächsten Ecke und auf dein Fahrrad! Wir wollen doch keine Dummheiten begehen, nicht wahr?« Omally nickte düster. »Uns bleibt gar nichts anderes übrig. Los, leg dein tätowiertes Patschhändchen auf die Tür!« »Mir fallen aus dem Stand eine Million Gründe dagegen ein.« »Mir auch, Jim. Wir tun es für den Professor, was meinst du?« »Also schön, für den Professor.« Jim legte die Hand auf die Tür, und sie öffnete sich nach innen. Omally schulterte sein Fahrrad, und die beiden Männer traten -273-
vorsichtig durch die Öffnung. »Ach du heilige Scheiße!« entfuhr es Jim. »Ja, da hast du wohl recht.« Sie standen im Vestibül von etwas, das aussah wie eine gewaltige Kathedrale. Eine Kathedrale, die nach ihrer Größe zu urteilen nicht für Menschen, sondern für Riesen geschaffen war. Die beiden Freunde bemühten sich zu verarbeiten, was ihre Augen sahen, doch es war zu groß. Der Maßstab des Gebildes verursachte Schwindel in den Köpfen. Die Temperaturen waren um wenigstens weitere fünf Grad zurückgegangen, doch der Gestank lag noch immer schwer und drückend wie eine faulende Leiche in der Luft. »Die Höhle des Löwen«, ächzte Pooley. »Laß uns verschwinden! Es ist zu kalt, zu unheimlich, und es stinkt wie die Pest! Ich ertrage das nicht.« »Nein, Jim. Sieh mal dort!« Sie starrten voller Staunen auf das, was sich ihren Augen darbot. Auf dem weiten, schwarz glänzenden Boden vor den beiden erstreckte sich Re ihe um Reihe flackernder Computerterminals. Jedes dieser Terminals war besetzt und jede der Gestalten davor zollte einem dunklen Meister ihre Ehrerbietung. Und dort stand er, der Supercomputer, turmhoch und gigantisch. Millionen über Millionen von Mikroschaltkreisen, pechschwarze Kästen, die in einer unregelmäßigen, endlosen Wand aufeinandergestapelt waren. Auf schwindelerregenden Laufstegen und Galerien und Treppen bewegten sich winzige Gestalten und kümmerten sich um die Bedürfnisse des Monstrums. Fütterten es, stopften es mit Daten voll, stillten seinen unersättlichen Appetit. ICH BIN DAS TOR, ICH BIN DAS FENSTER. Die Lateinische Formel, Worte, zu ihren Grundsilben reduziert ihrer Bedeutungen beraubt nur noch der schwarze Staub ihrer Skelette. -274-
Omally sank in die Knie. »Ich sehe es«, flüsterte er heiser, und die Augen drohten ihm aus den Höhlen zu quellen. »Und jetzt verstehe ich es auch.« »Wie schön für dich, John. Komm, wir müssen von hier verschwinden, bevor irgend jemand uns entdeckt!« Pooley rieb sich zitternd die Ärmel und fächelte sich Luft vor die gerümpfte Nase. »Nein, nein! Verstehst du denn nicht was diese Maschine macht? Warum sie hier steht?« »Nö. Genausowenig wie den Grund, warum ich noch länger bleiben sollte.« »Der Professor hat es gesagt.« Omally legte die Hand an die Schläfe. »Numerologie! Alle Macht liegt in den Zahlen selbst. Verstehst du nicht? Dieses ganze Irrenhaus hier ist ein Produkt der Mathematik! Die Menschheit hat die Mathematik weder erfunden noch entdeckt! Nein, die Wissenschaft von den Zahlen wurde den Menschen geschenkt, damit sie Mißbrauch damit treiben und sich selbst vernichten. 40 Damit sie irgendwann etwas wie das hier schaffen konnten!« Omally breitete die Arme zu einer Geste aus, die die Welt umschloß, in der sie jetzt lebten. »Verstehst du denn nicht?« Jim schüttelte den Kopf. »Nö. Aber ich hab' den Papst noch nie verstanden.« Omallys Stimme überschlug sich fast, als die Erleuchtung ihn traf wie ein Blitzschlag. »Die Maschine hat die Kunst vervollkommnet. Sie hat die Wissenschaft gemeistert, und sie ist jetzt imstande, alles und jedes in sein mathematisches Äquivalent zu zerlegen. Und sobald sie im Besitz der Formel ist, kann sie alles und jedes nachbauen und neu erschaffen. Eine ganz neue Welt errichtet auf der Asche der alten, die alles umschließt.« »Aber sie macht nichts weiter, als immer und immer wieder den gleichen alten Mist auszuspucken!« -275-
Omally stand wieder auf und drehte sich zu Jim um. »Ja, du verdammter Dummkopf, weil es eine Zahl gibt, die sie nicht finden kann! Sie fand die Zahl eines Menschen, doch es fehlt noch eine! Eine Gleichung, die sie niemals lösen kann!« »Na schön, erzähl weiter, wenn es dir Freude macht.« »Die Seele! Das ist es, was der alte Mann uns sagen wollte! Verstehst du denn nicht, Jim?« »Nö«, erwiderte Pooley. »Ich sehe dieses Ding dort«, er deutete über Omallys Schulter, »aber ich kann es nicht glauben.« Omally wandte sich in die angegebene Richtung und erblickte eine einzelne, hagere Gestalt, die in den zerfetzten Überresten eines altmodische n Tweedanzugs steckte und sich den beiden Freunden zielstrebig näherte. »Den Heiligen sei Dank!« »Holmes!« ächzte Pooley. »Aber wie …? Nein, das ist unmöglich!« »Ein guter Mann läßt sich eben nicht unterkriegen«, sagte Omally. Der berühmte Meisterdetektiv legte einen Finger an die Lippen und winkte mit der anderen Hand. »Kommen Sie!« flüsterte er drängend. Jim legte Omally die Hand auf den Arm. »Was ist, wenn er anfängt, sich so merkwürdig zu räuspern?« Omally zuckte hilflos die Schultern. »Komm schon, Jim«, sagte er und schob Marchant zu dem geduckt wartenden Detektiv. Holmes zog die beiden in Deckung. Im schwachen Dämmerlicht wirkte sein Gesicht mitgenommen und erschöpft, doch in den Augen brannte wilde Entschlossenheit. »Also sind nur wir drei übrig.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, und Omally nickte zögernd. »Und Sie wissen, was zu tun -276-
ist?« »Nein.« »Dann werde ich es Ihnen verraten. Schnell, uns bleibt nicht mehr viel Zeit. Wir müssen dieses Ding vergiften. Wir werden es mit dem Tod füttern.« Die kalte Entschlossenheit in den Worten des berühmten Meisterdetektivs und die Autorität, mit der er sprach, schlossen jeden Gedanken an Widerspruch aus. »Vergiften?« fragte Jim. »Aber wie?« Holmes zog einen Stapel Blätter hervor, und selbst im Dämmerlicht erkannten sie die charakteristische gotische Schreibschrift Professor Slocombes. »Wir füttern sie mit dem Tod. Der Professor hat die allerletzte Gleichung formuliert. Er wußte, daß er vielleicht nicht überleben würde, also vertraute er mir eine Kopie an. Wir müssen zu Ende führen, was er angefangen hat.« »Hört, hört!« »Computer sind das Produkt kranker Gehirne. Sie reagieren nur auf exakte Befehle. Füttert man sie mit Unsinn, reagieren sie erst gar nicht. Füttert man sie jedoch mit korrekt kodierten Instruktionen, verhalten sie sich ganz genau nach Wunsch. Der Professor hat ein finales Programm entwickelt. Es wird der Maschine befehlen, all ihre Funktionen umzukehren, was letzten Endes zu ihrer eigenen Zerstörung führt. Das Programm wird jeden eingebauten Sicherheitsmechanismus außer Kraft setzen. Ich brauche allerdings Zugang zu einem ihrer Terminals.« »Und wie, Bitteschön, wollen Sie das anstellen?« erkundigte sich Jim, nachdem er verstohlen den letzten Tropfen aus seinem Flachmann gelehrt hatte. »Sieht ganz danach aus, als wären im Augenblick sämtliche Terminals besetzt.« Sherlock Holmes zog seine Pistole. »Das hier ist eine vierundvierziger Magnum, die größte und schwerste Feuerwaffe -277-
der …« »Jaja. Das wissen wir inzwischen. Meinen Sie nicht, damit könnten Sie zuviel Aufmerksamkeit erregen?« »Genau mein Gedanke. Das ist auch der Grund, aus dem ich mich gefragt habe, ob ich Sie beide nicht dazu bewegen kann, so etwas wie ein Ablenkungsmanöver zu starten?« »Ach ja?« erkundigte sich Papst John. »Sie meinen, wir sollen uns mit den dämonischen Horden herumschlagen, während Sie Zahlen in ein Computerterminal eingeben?« Holmes nickte grimmig. »Etwas in der Art. Ich benötige mindestens sechs Minuten. Ich weiß, daß ich Sie um sehr viel bitte.« »Sie bitten um alles, sozusagen.« Holmes wußte keine Antwort. Papst John starrte dem Ungläubigen Pooley fragend in die Augen. Der Ungläubige zuckte die Schultern. »Was zur Hölle soll's?« fragte er. »Ja, was eigentlich?« Omally stieg auf den geduldig wartenden Marchant. »Auf meiner Lenkstange ist noch ein Platz frei.« Jim grinste breit und riß sich die bleierne Balaklavamütze vom Kopf. »Dann brauchen wir die ja wohl nicht mehr, was?« »Nein«, stimmte John zu und folgte Jims Beispiel. »Ich denke nicht41 .« Er hob die Hand zu einem letzten Gruß und setzte den Fuß auf Marchants Pedal. »Nieder mit den Rebellen!« »Gott sei mit uns!« rief Pooley, und gemeinsam mit Marchant dem Wunderfahrrad radelten die beiden ihrem Schicksal entgegen. Eine merkwürdige Vibration durchlief das mächtige Gebilde -278-
des Hauptcomputers. Die Gestalten auf den Gerüsten erstarrten zu Salzsäulen. Winzige Lichter blitzten auf, flackerten und bildeten in immer schnellerer Reihenfolge Sequenzen, Kolonnen, Sternformen und Pyramiden. Ein dumpfes Brummen stieg die Tonleiter hinauf und gipfelte in einem sirenenlauten Crescendo, als die Verteidigungssysteme der Maschine plötzlich die beiden Eindringlinge in ihr Allerheiligstes entdeckten. Eine Welle verwirrter Bewegung breitete sich von der Basis des mächtigen Computers her aus, als die Roboter vor den Terminals das entsetzliche Geschehen aufnahmen. Sie drehten die Köpfe zu dem gewaltigen Mainframe hin und öffneten die Münder zu einem eigenartigen mechanischen Räuspern, das zu einem atavistischen Heulen ausuferte. »Was meinst du, John? Werden sie sich jetzt auf uns stürzen?« Pooley schlug die Hände über die Ohren, und Omally zog den Kopf tief zwischen die Schultern, während er Marchant zwischen dem Ozean aus Terminals und ihren kreischenden, heulenden Operatoren hindurchsteuerte. Die Roboter sprangen auf die Beine und streckten die Arme nach ihrem Meister aus, während sie die Köpfe nach hinten warfen und unablässig die Münder öffneten und schlossen. Dann sprangen sie von ihren Plätzen, um die Eindringlinge zu verfolgen. Im hinteren Teil der gewaltigen Kathedrale schlüpfte eine hagere Gestalt in einem zerrissenen Tweedanzug unauffällig in einen freigewordenen Sitz und streckte die schlanken Finger. »Weg da, aus dem Weg!« Pooley wuchtete seinen Nagelstiefel in Richtung einer kreischenden Gestalt, die plötzlich vor ihnen aufragte, und versetzte ihr einen wuchtigen Tritt vor die Brust. Sie wurde zurückgeschleudert und landete auf einem der freien Terminals. Dieses riß aus seiner Verankerung und polterte in einem Wirrwarr aus funkensprühenden Drähten und Bauteilen -279-
mitsamt dem Roboter zu Boden. »Gut gemacht, Jim.« »Hart Backbord, John!« Omally legte Marchant in eine hastige Linkskurve, und mit kreischenden Rädern entkamen sie einem Gewimmel ausgestreckter Klauenhände, das urplötzlich vor ihnen aufgetaucht war. Sie radelten eine weitere Reihe verlassener Terminals entlang. Die Roboter kamen geschlossen hinter ihnen her. Ihre Gesichter waren verzerrt vor Haß und der Begierde, die letzten ihrer verschworenen Feinde zu erledigen. Kleine schwarze Apparate wurden aus Taschen gezogen und eingeschaltet, und zwischen Elektrodenpaaren sprühten bösartig blaue Funken. Die Jagd war in vollem Gange, und es war eine ungleiche Jagd: Hunderte der Bastarde gegen John und Jim. Die Gestalten auf den hohen Laufstegen rannten fieberhaft hin und her. Sie arbeiteten mit übermenschlicher Konzentration und Energie, während sie ihren dunklen Herrn versorgten und seine Schaltkreise hüteten. Ringsum strömten Lichter über das schwarze Antlitz nach unten, wo sie in Pentagramme und keilschriftartige Zeichen übergingen, um schließlich eine dreifache Sechs von sicher hundert Fuß Höhe zu bilden. Die Sechs verwandelte sich, noch während John und Jim hinsahen, in einen gehörnten Ziegenkopf, dessen Augen Ringe von rotem Laserfeuer umgaben. Holmes arbeitete unterdessen emsig an seinem Terminal, doch immer wieder zitterten seine Finger so stark, daß er sich vertippte. Einmal mußte er sogar eine ganze Zeile löschen, und unter bitteren Flüchen begann er von vorn. »Verdammter Bastard!« Eine Klauenhand hatte Pooleys rechten Hemdsärmel abgerissen. »Jetzt hab' ich nur noch den nackten Arm. Laß uns von hier verschwinden, John, und zwar -280-
schleunigst!« »Verpaß dem Kerl eins!« Ein schäumender Psychopath von Roboter war unvermittelt in ihren Weg gesprungen, und Pooley schwang ein weiteres Mal den schweren Stiefel. Die gesamte Halle hatte sich inzwischen in ein Irrenhaus aus Konfusion verwandelt. Die Roboter kämpften miteinander, weil jeder derjenige sein wollte, der Pooley und Omally als erster das Lebenslicht ausblies. Das radelnde Duo eierte weiter. Omally hatte sein gelbes Trikot an: Die Tour de Brentford war in vollem Gange. »Los, Bewegung, euer Päpstlichkeit! Sie kommen immer näher!« John legte sich in eine weitere scharfe Kurve, doch die Straßensperren waren errichtet. Er schlitterte auf dem glatten Boden weg, und beinahe wäre Pooley von der Lenkstange gefallen. Der Millionär äußerte zahlreiche Worte verständlicher Erregtheit und deutete drängend in Richtung Ausgang. Die Androiden drohten sie einzukreisen, ihre schwarzen Elektroschocker spuckten Funken. Der Kreis schloß sich enger und enger, und jeder Fluchtweg wurde versperrt, sobald sie in ihn eingebogen waren. Omally trat mit aller Kraft in die kreischenden Bremsen, und Pooley segelte doch noch zu Boden. »Wenn du fliegen kannst«, sagte Omally zu seinem Fahrrad, »dann wäre jetzt der geeignete Zeitpunkt, mich zu beeindrucken.« Traurigerweise zeigte das mitleiderregende Transportmittel jedoch nicht die geringste Neigung zu einer plötzlichen Levitation. »Also gut«, sagte John, »vielleicht ist das ja ein wenig zuviel verlangt von einem gewöhnlichen Fahrrad.« Pooley kam schwankend auf die Beine. Sie waren von allen Seiten eingeschlossen, ein undurchdringlicher Kreis verzerrter Gesichter, und kein einziges davon sah aus, als würde es sich -281-
den geringsten Dreck um kampflose Kapitulation scheren. »Leb wohl, John«, sagte Jim. »Ich hatte nie einen besseren Freund als dich.« »Leb wohl, Jim.« Omally drückte seinem lebenslangen Begleiter ein letztes Mal die Hand. Eine Träne stand in einem klaren blauen Auge. »Wenigstens gehen wir kämpfend unter.« »Allerwenigstens, ja.« Pooley hob die Fäuste. »Achtung!« brüllte er. »Dieser Mann hier kann Dimac, die tödlichste martialische Kunst, die … hmmm, uns beiden hier bekannt ist.« Die Menge wogte auf, als würden alle Roboter zugleich die schweflige Luft einatmen, und fiel über John und Jim her. Erbarmungslose Klauenhände schossen vor, mit nichts als Mord und Zerstörung im Sinn. Omally schlug nach Leibeskräften um sich, doch aus allen Richtungen prasselten Hiebe auf ihn ein und zwangen ihn in die Knie. Pooley brachte eine letzte Geste der Verachtung zustande42 , bevor sie ihn zu Boden rissen. Der geifernde, zitternde Mob schob sich unablässig vor, und bei all dem Kreische n und Schieben und Stoßen sah es ganz danach aus, als könne höchstens ein Wunder das dynamische Duo retten. Und dann ging ein gewaltiges Beben durch den Boden der unheiligen Kathedrale. Der Lynchmob zog sich in plötzlichem Entsetzen zurück, als die schwarze Marmorfläche unter ihnen erzitterte und sprang, als würde eine Titanenfaust darauf einschlagen. Pooley und Omally kauerten sowieso schon am Boden. Mit einem Mal entstand ein breiter Riß, und zu beiden Seiten fielen Androiden um. Marmorsplitter schossen funkensprühend durch die Gegend wie eine vulkanische Eruption. Eine gewaltige Faust schoß aus der Tiefe hoch. Eine zweite folgte, und während der Robotermob ringsum in einem sich weitenden Kreis schreiend und wild gestikulierend zurückwich, schoben sich ein Kopf und ein paar Schultern hinterher und richteten sich titanisch und edel inmitten der -282-
angerichteten Zerstörung auf. »Aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaarrrrrrgh!« Neville hatte ein großes Stück Decke eingeschlagen und kletterte hastig durch die entstandene Öffnung. Er blutete und war verschrammt und hatte Bißwunden an Armen und Beinen, doch auf seinem Gesicht stand ein Ausdruck wahrhaft edler Gesinnung. Er war in der Tat ein Titan, ein Gott der alten Erde. Ja, damals waren tatsächlich Riesen über die Erde gewandelt, genau wie in späteren Jahrtausenden auch noch. Neville richtete sich zu seiner ganzen beeindruckenden Größe auf, ein Herkules in beschmutzten Unterhosen. »Also gut!« brüllte er. »Wer ist der nächste?« »Wir nicht!« riefen Pooley und Omally unisono. »Hallo, Jungs!« sagte der mächtige Teilzeitbarmann, als er das sich am Boden windende Duo erkannte. Er spannte eine Auswahl an Brustmuskeln. »Scheint, als wärt ihr zahlenmäßig unterlegen?« »Ein wenig Hilfe könnte nicht schaden.« Neville straffte Schultern, wie sie vorher nur von dem unglaublichen Hulk jemals gestrafft worden waren, und auch die waren nicht ganz so breit gewesen. »Die Ruhe hat ihm offensichtlich gut getan«, sagte John. »Er sieht richtig erholt aus.« Ein Brüllen grüner Flammen, und Zerberus der Höllenhund sprang aus der Unterwelt, um den Teilzeitbarmann herauszufordern. Seine drei Köpfe, von denen einer schlaff und zerfetzt herunterbaumelte, zuckten unruhig, die Fänge schnappten, Speichel troff von den Lefzen. Die Luft war schon vorher zum Schneiden dick gewesen, und jetzt gesellte sich noch der Gestank von Schwefel hinzu. Der Skorpionschwanz peitschte den Boden. »Komm schon, Hündchen!« rief der Teilzeitbargigant. »Zeit -283-
für einen Trip zum Tierarzt!« Die Kreatur setzte zum Sprung an und war mit eine m gewaltigen Satz über die beiden professionellen menschlichen Duckmäuser hinweg. Neville packte den Köter an einer seiner drei Kehlen, und die beiden fielen in die Menge. »Auf die Beine, Jim!« rief Omally. »Ich sehe einen schmalen Lichtstrahl am Horizont!« Leise und auf spitzen Sohlen gaben Papst John und sein ungläubiges Gefolge das sprichwörtliche Fersengeld. Neville schleuderte die Bestie herum, und eine ganze Reihe von Robotern ging zu Boden. Andere streckten die Hände nach ihm aus, doch der Titan wischte sie beinahe lässig zur Seite. Hoch oben pulsierte und blitzte der große Hauptcomputer, und die sich bewegenden Lichterreihen formten obszöne Bilder. Pooley und Oma lly zogen sich in Richtung des dunklen Monsters zurück, denn der Haupteingang war gründlich versperrt. Der einzige freie Weg schien der nach oben zu sein. Neville hämmerte die Faust in ein Plastikgesicht und verursachte eine Kaskade synthetischen Blutes. Einmal mehr fiel der Höllenhund über ihn her, und Neville riß ihm einen Unterkiefer heraus. Er kam allmählich in Fahrt. Pooley und Omally erreichten den ersten Treppenabsatz. »Nicht schon wieder Treppen!« ächzte Jim. »Zieh die Platinen raus!« gellte Omally. »Zieh alle Stecker raus! Wir zerlegen das Ding in seine Einzelteile!« Er rannte die Treppe zum ersten Laufsteg hinauf und fand sich vor einer langen Reihe gesockelter Platinen wieder. Omally streckte die Hand aus, riß einen Einschub heraus und schleuderte ihn zu Boden. Pooley folgte seinem Beispiel. Im Gewühl unten am Boden wandten sich Gesichter nach den beiden Saboteuren um, und eine Gruppe von Androiden löste sich aus der Masse. Pooley rannte über den Laufsteg und riß willkürlich Einschübe heraus. Omally folgte ihm und seinem -284-
Beispiel. Sie gelangten zur nächsthöheren Galerie. Vor ihnen stand ein Roboter und versperrte den Weg. »Du duckst dich, ich schlage zu!« Omally schob Jim weiter. Der Roboter schlug nach dem verhinderten Millionär, doch Jim duckte sich unter dem Schwinger hindurch und warf sich gegen die Knie der Maschine. Omally landete über seinen Kompagnon hinweg einen vernichtenden Hieb. Das Ding stolperte rückwärts von der Galerie und krachte in das Chaos, das inzwischen unten am Boden herrschte. Neville stand in der Mitte des Gewühls und nahm es mit allen auf, die sich auf ihn warfen. Zerberus schnappte mit seinem letzten heilen Kopf nach Nevilles Knöcheln. Ein kreisförmiger Wall zerfetzter Androidenkörper umgab die Kämpfenden. John und Jim hatten in der Zwischenzeit die dritte Galerie erreicht. Hinter ihnen lag eine Spur der Verwüstung. »Reiß sie in Stücke, Jimmyboy!« »Ich geb' mir Mühe, John! Ich geb' mir die größte Mühe!« Jim rannte weiter, riß Einschübe heraus. Omally folgte ihm auf dem Fuß und erledigte den Rest. Platinen segelten wie Herbstblätter im Wind auf den gewalttätigen Mob tief unten. Eine weitere Treppe, die vierte Galerie. Tief unten schien das Licht auf den Inbegriff des Durcheinanders. Eine gewaltige Schlacht tobte auf dem schwarzen Boden der unheiligen Kathedrale. Neville ragte mehr als schulterhoch aus dem Kreis seiner Angreifer. Blaue Funken stoben aus kleinen schwarzen Apparaten, als die Roboter sich mühten, ihre tödlichen Waffen in das nackte Fleisch des titanischen Teilzeitbarmanns zu stoßen, doch Neville riß ihnen die Arme aus den Silikongelenken und schleuderte sie in hohem Bogen davon. Zerberus hatte seinen letzten Beller hinter sich, doch aus dem tiefen Spalt im Boden strömte weiterer Horror, der aussah, als wäre er direkt der Hölle entsprungen. -285-
Widerhaken und Stacheln, die um sich schlugen und wirbelten, Fellknäuel und riesige Insekten mit Kinderköpfen. Dunkelheit breitete sich aus, fast so, als wäre sie ein fühlbares Ding. Der Nebel der ewigen Nacht. »Verfolger hinter uns!« rief Pooley. »Los, Beeilung, John.« Omally trat einem Roboter den Stiefel ins Gesicht, als dieser auf der Treppe auftauchte. »Los, weiter, Jimmy! Die Treppe hinauf.« Die beiden Männer kämpften sich durch eine surreale Welt der Dämmerung. Tief unten vermischten sich Nevilles laute Schlachtrufe mit dem dumpfen Poltern fallender, zerrissener Androidenkörper und dem unheiligen Kreischen monströser Obszönitäten, die unablässig aus dem Höllenloch strömten. Die Alarmsirene des Hauptcomputers war längst verstummt und lautem Ächzen und Seufzen aus den Schaltkreisen gewichen, von denen nur wenige annähernd menschlich klangen. Plötzlich schloß sich eine Hand um Pooleys Knöchel und riß ihn zu Boden. Omally spürte die Not seines Freundes mehr, als daß er sie sah. Er wirbelte herum, und indem er den Einschub, den er soeben herausgerissen hatte, wie eine Axt schwang, durchtrennte er die klammernde Androidenhand glatt am Gelenk. Die Hand ließ nicht locker, doch Pooley rappelte sich auf und stolperte weiter. Sie waren inzwischen hoch über dem Boden der Kathedrale angekommen. Die Luft war dünn und stank nach Schwefel. John umklammerte seinen Brustkorb und rang nach Atem. Pooley stützte sich schwer auf die Schulter seines Freundes und hustete und spuckte. »Langsam gehen uns die Treppen aus«, krächzte er. Über ihnen war nun nichts mehr außer Dunkelheit. Sie standen darin, wurden von ihr umfangen, atmeten sie. Die Geräusche des Kampfes echoten nur schwach nach oben, doch längst war nichts mehr davon zu sehen. »Du kannst nicht -286-
zufällig Tageslicht über uns entdecken, alter Freund?« fragte Jim. »Mir geht allmählich die Luft aus.« »Ich sehe nichts außer Schlamassel. Los, wir müssen weiter!« Eine Hand packte John am Hosensaum. Er starrte entsetzt an sich hinunter und sah - sich selbst. Der Doppelgänger grinste ihn schief von unten herauf an. Ohne nachzudenken riß Omally einen weiteren Einschub aus dem gewaltigen Computer und stieß ihn in das geifernde Maul, das nach seinem Bein schnappte. Funken stoben, und das Ding stürzte in die Dunkelheit. Pooley klammerte sich an das Geländer einer weiteren Treppe. Er hatte sich vollkommen verausgabt. »Was muß ich noch mal tun, damit du mich zum Kardinal ernennst?« ächzte er. Der Papst eilte hinter ihm her. »Gesegnet seist du, mein Sohn. Päpste und Kardinale zuerst. Los, weiter.« Die beiden Männer rannten blind durch die Finsternis; es gab nichts mehr zu tun, außer zu klettern. Die Metallgeländer waren wie Eis, und ihre Hände waren längst roh von der klebenden Kälte, die an ihrer Haut riß. Noch immer kamen unermüdlich Angreifer in einem nicht enden wollenden Strom hinter ihnen her. Sie riefen mit Stimmen, die John und Jim als ihre eigenen erkannten, sie höhnten und drohten und brüllten den beiden explizite Details des Schicksals hinterher, das sie ihnen zugedacht hatten. »Ich bin am Ende!« sagte Jim. »Ich kann nicht mehr. Laß mich hier zurück, ich will sterben.« Omally tastete mit tauben, blutenden Fingern um sich. »Na gut, ich bleibe bei dir«, ächzte er. »Es gibt keine Treppen mehr.« Die beiden Männer standen mit dem Rücken zu dem eisigen Metall des gewaltigen Computergehäuses. Sie waren allein und in der Falle. Unter ihnen stürmte der Mob heran. Roboter schwärmten über Treppen und Galerien und Laufstege. Der letzte Fluchtweg war endgültig versperrt. -287-
»Ich will nicht hier sterben!« sagte Jim jämmerlich. »Ich sollte gar nicht hier sein. Das alles ist nicht wahr. Es ist nicht richtig.« Omally preßte sich an die kalte, unnachgiebige Wand. Keiner von ihnen hätte hier sein sollen. Sie waren allein, zwei Männer am Geländer, wie in längst vergangenen Zeiten auf der Brücke über den alten Grand Unio n Kanal, die in das ölige Wasser starrten und ihre Spiegelbilder sahen. Ihre Spiegelbilder und die Reflexionen der Sterne. Sterne hatten den betrunkenen Männern stets viel zu erzählen, obgleich ihr kluger Rat niemals den kalten, verkaterten Morgen des nächsten Tages überdauerte. Doch die Wahrheit, die lag wie stets in den Sternen. Die Wahrheit lag in den Sternen, und sie lag in den Niederungen zwischen Trunkenheit und Vergessen und lauerte dort, wo kein nüchterner Mann sie jemals finden würde. Nur die Betrunkenen erfahren die Realität, und auch das nur in den allerkürzesten, vergänglichen Augenblicken vor der endgültigen Bewußtlosigkeit. Weit entfernt von jedem klaren Gedanken schaffen sie sich ihre eigenen Gesetze und schmieden Zukünfte, die bei Tageslicht undenkbar erscheinen. Ah, die Wahrheit! John und Jim hatten sie bei so mancher Gelegenheit gespürt. »Ich kann Licht sehen«, rief Omally. Jim verrenkte sich den Hals. Über sich erblickte er den Strahl einer Taschenlampe. »Los, ein wenig Beeilung, Jungs!« rief eine Stimme. »Ihr seid zu spät, wie immer.« »Norman!« rief Jim und schielte in den Lichtkegel. »Bist du das?« »Warum? Hattet ihr jemand anderen erwartet?« Norman streckte einen Arm zu ihnen hinunter. »Ein Loch in der Zeit, wißt ihr? Los, Beeilung, verdammt!« -288-
»Wie recht du hast.« Omally stützte seinen Freund, der Normans Hand nahm und sich durch ein Loch in der Decke zwängte. Der kreischende Mob war dem Sohn Irlands dicht auf den Fersen. Er streckte die Arme zu Jim hinauf, und Pooley beugte sich hinunter und mühte sich, den Freund zu packen. Ihre Finger berührten sich, doch dann ein Schrei des Entsetzens: Omally war abgerutscht. Das Gekreische des Lynchmobs drang zu ihnen hinauf, durchsetzt von Omallys Flüchen, während er die ersten anstürmenden Verfolger zu Boden schickte. Erneut streckte er sich, erneut berührten sich die Finger der beiden Freunde - und endlich, im allerletzten Augenblick43 , zerrte Jim John durch die Öffnung in Sicherheit. »Das war verdammt knapp!« sagte John und klopfte sich die Hosen ab. »Im allerletzten Augenblick, sozusagen.« »Wann sonst? Wir sind hier schließlich in einem Abenteuerroman. Und wohin jetzt?« Normans unwahrscheinliche Maschine stand ganz in der Nähe. Ein eisiger Wind fegte heulend und fauchend über das Dach. »Hier entlang!« rief der Eckladenbesitzer. Mit Tränen in den Augen (wegen der beißenden Kälte) folgten die beiden Norman. Pooley hatte schützend einen Arm vor das Gesicht gelegt und kam nur mühsam voran. Der Sturm drohte ihn von den Füßen zu reißen. Der Himmel war schwarz und sternenlos. Das Panorama des Dachs war ein extremes Nichts, das sich in alle Richtungen erstreckte und an den vertikalen Barrieren endete, die das Brentforder Dreieck umgaben. In den undurchdringlichen Barrieren oder dahinter waren leuchtende, fremdartige Bilder zu sehen wie auf gigantischen Leinwänden. Doch das Panorama, leer wie es war, schrumpfte zusammen, noch während die Männer hinsahen. -289-
Die Straßen, tief unten undeutlich sichtbar, verschwanden im Nichts. Das Bauwerk unter ihnen schüttelte sich und hob sich wie ein Lift in seinem Schacht. Die fernen Ränder entfernten sich weiter. Es duplizierte sich selbst! Die Zeit war abgelaufen. Holmes' Versuch war fehlgeschlagen, das Programm des Professors hatte versagt. »Das Millenium!« kreischte Norman und zwängte sich in seinen alten Morris-Minor-Sitz. »Beeilt euch!« Pooley klammerte sich an das umlaufende Geländer der merkwürdigen Zeitmaschine. Die Doppelgänger hatten das Loch im Dach erreicht und strömten nun ins Freie. Eine kreischende Menge rannte durch den einstürzenden Himmel auf die drei Männer zu. »Soll das vielleicht ein Hubschrauber sein?« erkundigte sich Pooley. »Dieses Ding fliegt nie im Leben!« »Jetzt hast du wohl die letzte Tasse im Schrank verloren.« »Alles an Bord«, meldete Omally. Norman drehte den Zündschlüssel um und legte den Rückwärtsgang ein. Dann waren die satanischen Horden heran.
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Kapitel 32 Neville der Teilzeitbarmann schob die beiden schaumgekrönten Pints Large über den polierten Tresen und machte zwei Striche auf Pooleys Deckel. Die nächste Runde würde zweifelsohne auf Omally gehen, wie die Erfahrung ihn gelehrt hatte. Neville musterte die beiden Gestalten, die vor dem Tresen auf den Hockern Platz genommen hatten. Die plötzliche Veränderung war dramatisch. Als wären sie buchstäblich über Nacht um wenigstens zwanzig Jahre gealtert. Und der Zustand, in dem sie sich offensichtlich befanden. Ihre Kleider hingen in Fetzen an ihren Leibern. Allem Anschein nach hatten sie eine Arbeit im Baugewerbe angetreten und einen schweren Morgen hinter sich. Die beiden Männer starrten über Nevilles knochige rechte Schulter, als wäre er überhaupt nicht da. Ihre Augen hingen wie magisch angezogen auf dem Brauereikalender, der unaufdringlich zwischen den Ansichtskarten aus Spanien hing. Nichts daran war außergewöhnlich. Ein ganz normaler Wandkalender mit dem Wappen der Brauerei über einer Spirale mit zwölf buntbebilderten Monatsblättern und einem roten Schieber: 6. Juni 1969. Was war Besonderes daran? Als hätten sie in diesem Augenblick das fragende Starren des hageren Brentforder Teilzeitbarmanns bemerkt, zogen sich die beiden Freunde mit ihren Pints zu einem Nebentisch zurück. Omally starrte in sein Bier. »Und was sollen wir deiner Meinung nach jetzt unternehmen?« fragte er. Pooley saugte Schaum von der Oberlippe und gab schmatzende Geräusche von sich. Das Bier schmeckte wirklich besser damals. Pooley tippte sich an die Nase. »Ich habe einen Plan«, sagte er. -291-
»Ach ja?« Omallys Stimme mangelte es an der rechten Begeisterung. »Ja. Verstehst du denn nicht? Wir haben eine zweite Chance erhalten, das alles zu verhindern. In eben diesem Augenblick schmökert der Professor in seinen Folianten, und Holmes liegt schlafend in seinem Mausoleum unter der Erde. Und Norman unterhält sich zweifellos mit Leonardo da Vinci. Oder hat sich schon mit ihm unterhalten. Wenn du weißt, was ich meine.« »Und was hast du vor?« »Als erstes werde ich noch ein paar Pints trinken. Was ist los mit dir, John? Du hast dein Glas noch nicht angerührt!« »Ich bin nicht durstig. Verstehst du denn nicht, Jim? Unsere Lage ist schlimmer als jemals zuvor! Wir wissen, was die Zukunft bringen wird, aber wir können absolut überhaupt nichts unternehmen, um es aufzuhalten! Wir wissen, daß es sich nicht aufhalten läßt!« »Ach ja?« entgegnete Jim Pooley. Er steckte die Hand in die Hosentasche und förderte einen kleinen, zugeschnürten Lederbeutel zutage. »Du wußtest nichts von denen hier, was?« fragte er und wog den Beutel in der Hand. »Pooleys As im Ärmel.« Omally streckte fordernd die Hand nach dem Beutel aus, doch Pooley zog diesen hastig weg. »Nicht anfassen!« sagte er. »Sie gehören alle mir. Aber du darfst einen Blick hineinwerfen.« Er löste die Schnur und hielt den Beutel verlockend auf. Omally schielte hinein. »Diamanten!« ächzte er. »Ein Schatz in Diamanten!« »Mindestens, würde ich sagen. Ich wollte mir eigentlich Manschettenknöpfe daraus anfertigen lassen, aber in all der Aufregung hab' ich das ganz vergessen. Zweifellos sind die -292-
Diamanten künstlich, aber in dieser Zeit hier weiß das kein Schwein.« »Und was hast du mit ihnen vor?« »Ich werde Philanthrop«, antwortete Jim. »Ich werde eine Kirche errichten.« »Eine Kirche?« »Eine Kathedrale, um genau zu sein. Und weißt du auch, wo ich sie errichten werde?« Omally nickte langsam. »Auf dem Trümmergrundstück.« »Ganz genau. Auf geheiligtem Boden wird niemand ein satanisches Gebäude errichten. Was hältst du von dieser Idee? Brillant, eh?« Omally lehnte sich zurück und nickte. »Brillant, in der Tat. Fast hättest du es geschafft.« »Fast? Was heißt hier fast?« »Fast heißt eben nur fast, Jimmyboy.« Omallys Blicke trafen die von Pooley. Er schob die Hand in die Tasche, wo ein kleiner schwarzer Apparat mit zwei kurzen, bösartigen Elektroden wartete, und räusperte sich mit einem merkwürdig mechanischen Laut. »Aber wir haben andere Pläne mit deinen Diamanten.« Pooleys Mund öffnete sich in unverhohlenem Entsetzen. Er drückte die Diamanten an sich und stieß den Tisch auf das Roboterdouble seines besten Freundes, während er aufsprang und zur Tür rannte. Vorbei an der Theke, dic ht auf den Fersen: einen rasenden Iren mit einem schwarzen Transistorradio in der ausgestreckten Hand. »Ihr habt beide Lokalverbot!« schnarrte Neville den beiden hinterher, nachdem er die Sprache wiedergefunden hatte. Die wilde Jagd ging die Ealing Road hinunter, und fast wären die beiden mit zwei jungen Burschen zusammengestoßen, die in -293-
Richtung des Fliegenden Schwans unterwegs waren und eine Rennzeitung studierten. Pooley starrte dem rasch in der Ferne enteilenden Duo ungläubig hinterher. »Hast du vielleicht gesehen, was ich gerade gesehen habe?« erkundigte er sich und rieb sich die Augen. John Vincent Omally schüttelte verneinend den Kopf. »Nein«, antwortete er. »Ich bin sicher, daß ich nichts gesehen habe. Was hältst du von Lucky Number für das Drei-Uhr-FünfzehnRennen?« »Was denn, du meinst diesen Gaul aus dem neuen Rennstall der TORE & FENSTER CORP.? Darauf würde ich nicht einen Penny setzen!« ENDE des dritten Teils der berühmten BRENTFORDTRILOGIE in ca. fünf Teilen.
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Der BASTEI-LÜBBE-VERLAG hat wieder einmal keine Kosten und Mühen gescheut und ist der Frage nachgegangen:
GIBT ES BRENTFORD WIRKLICH? Wo suchen? Nach mehreren ganztägigen Konferenzen kam man zu dem Schluß, daß der Ort, sollte er denn existieren, sich irgendwo JENSEITS VON EALING befinden müßte. Unnötig zu erwähnen, daß dieser wertvolle Hinweis vom tüchtigen Lektor stammte - der daraufhin auch gleich mit der Aufgabe betraut wurde, eine mehrköpfige Suchexpedition zu organisieren. Nach mehreren ganztägigen Konferenzen brach er schließlich alleine nach London auf, mit einem großzügigen Spesengeld für einen halben Tag. Damit kam er zwar nicht nach Brentford, aber immerhin gelangte er nach Ealing und konnte bei seiner Rückkehr eine Auswahl exquisiter Fotokunstarbeiten abliefern (siehe unten), die zumindest beweisen, daß es Brentford tatsächlich gibt (sofern die Ealinger sich keinen Spaß daraus machen, falsche Straßenschilder aufzustellen oder Buslinien falsch zu benennen). Das nächste Mal schafft es der tüchtige Lektor vielleicht bis nach Brentford selbst. Wer weiß? Es bleibt spannend …
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Anmerkungen: 1 1 Stein wiegt 6,35 kg. Die Frage lautet: Wieviel Steine wiegen 69.85 kg? 2 Liebe Leserinnen, lieber Leser, bitte bedenken Sie, daß dies ein Engländer sagt und tatsächlich nur das Gemüse damit gemeint ist. (Anm. d. Red.) 3 Das sagt ein Ire, und bei denen weiß man ja nie so genau. (Anm. d. Red.) 4 Auf unserem Titelbild noch in blechernem Rohzustand abgebildet, weil Arndt Drechsler, unser Zeichner, bereits in diesem Frühstadium mit der Kreation des Covers beginnen mußte und Norman ihm nur ein Foto des ›Rohlings‹ schicken konnte. (Anm. d. Red.) 5 Nicht Guildo Horn 6 Honi soît, qui mal y pense 7 Das mag wundersam klingen, ist aber durchaus kein Dreckfehler. 8 Achtung: Jetzt wird's spannend. Nicht mehr auf das Titelbild dieses hervorragenden Romans blicken!! (Tip des Lektors) 9 Wie nennt man eine Straße, die von Bäumen gesäumt wird? Herr Merz, Herr Merz …! (Anm. des Lektors) 10 Hier verwechselt der gute Omally einiges. E. A. Poe tauchte im letzten Abenteuer der Brentforder auf, in dem genialen ›Die Akte Brentford‹, erschienen als Band 24247 im Bastei-Lübbe-Verlag, dem wundersamsten Verlag, der jemals existierte (vgl. Bd. 24210: ›Die größte Show jenseits der Welt‹ ). (Anm. d. Red.) 11 Richtig. John Buchan taucht hier ebensowenig auf wie E. A. Poe. Omally wird nüchterner. 12 Neville, nicht der Axminsterteppich. 13 Welches Lied pfeift Norman? Senden Sie uns Ihre Antwort ein - wir sind gespannt auf Ihre Phantasie. Die schönsten -296-
Lösungen (oder alle) werden wir in einem der nächsten Bände von Robert Rankin veröffentlichen. 14 Wilkie Collins? Kommt hier auch nicht vor (ebensowenig wie E. A. Poe und John Buchan). 15 Hmmm. Wenn ich mir's recht überlege, sollte man für die deutsche Übersetzung aus dem Iren vielleicht einen Saarländer machen. Quasi um dem Leser die Stellung und besondere Geschlossenheit dieser Volksgruppe zu verdeutlichen. Sozusagen. Oder nicht? Herr Bauer?16 16 Nur zu, Herr Merz, nur zu! 17 Genau sechs sechssechs. Sozusagen. 18 Es wird wohl für alle Zeit im Dunkel der Geschichte verborgen bleiben, wie V. Hugo Rune dieses Kunststück vollbracht hat. Zur Person Hugo Rune vergleichen Sie bitte die Bastei-Lübbewundersamster-Verlagderjemals existierte-Bände: 24201, 24204, 24210 und 24216 sowie den vierten Band (in Vorbereitung) der vorliegenden Brentford-Trilogie. (Zum Auflisten der Titel bin ich im Augenblick zu faul. Es handelt sich um den berühmten Hugo-Rune-Zyklus, Sie wissen schon …) 19 Dem Briten sein Gazza ist dem Deutschen sein Effe. 20 oder jedem Saarländer, den Helden von Deutschlands Südwesten (Anm. d. Lektors). 21 From Genesis to Revelation, Decca Records SKL 4990 (1968). Kennt wahrscheinlich kein Schwein. Die erste Platte (damals noch in Schellack) der inzwischen berühmten Band (mit Peter Gabriel, Anthony Philips, Anthony Banks, Michael Rutherford und John Silver … von wegen Phil Collins!) war nicht besonders gut. Da wundert man sich, daß die Jungs überhaupt einen Vertrag bekommen haben. Kam auch erst raus, als sie im Underground (so nannte sich damals die Szene) schon bekannt waren. Vielleicht deshalb. Hugo Runes Lieblingsband. Danke sehr. -297-
22 Ja, ja, der gute alte Asimov! 23 Das Saarland? 24 Definitiv nicht das Saarland! 25 Hoppla, jetzt ist es doch tatsächlich passiert. ›Der Sohn Irlands‹ muß es selbstve rständlich heißen. Entschuldigung. (Anm. d. Übersetzers) 26 Sie erinnern sich? Diesmal als wunderschönes Partizip. Der Mann wird unsterblich! 27 Fünf, falls Saarländer (Anm. d. Lektors). (Die ursprüngliche Anmerkung des Übersetzers wurde geändert.) 28 Schon wieder! Natürlich muß es ›Irland‹ heißen. 'tschuldigung. (Anm. d. Übersetzers) 29 Der Kopf, nicht der Deckel. 30 Da haben wir's! Der Übersetzer ist wieder an allem schuld! Wie ich das hasse! Sicher handelt es sich um eine Verfälschung seitens irgendeines biblischen Lektors. Kein Wunder, daß sich niemand in der Bibel zurechtfindet … (Anm. d. Übersetzers) 31 Vgl. den vorhergehenden Band: ›Die Akte Brentford‹ Bastei-Lübbe-Verlag (Sie wissen schon: d. w. V. d. j. e.) Bd. 24247, ins Deutsche ›transferiert‹ von Herrn A. Merz. 32 Die Gruppe? Die Sicherung? Die Dunkelheit? …. Herr Merz, Herr Merz! (Im übrigen können Sie, liebe Leser, es sich aussuchen. Ein Lektor kann auch mal großzügig sein.) (Anm. d. Lektors). 33 Außerdem erscheint die Erwähnung eines Sicherheitsgurtes an dieser Stelle als politisch korrekt und geboten. 34 Gibts jetzt auch im Bastei-Lübbe-Verlag (d. w. V. d. j. e.) 35 Eine Tautologie? Geschickt kaschiert? Herr Merz, Herr Merz, ich muß doch staunen. (Anm. d. Lektors) 36 Richtig so, Herr Merz. Man soll die Hoffnung nie -298-
aufgeben. (Anm. des Lektors) 37 Die sind den Saarländern doch gar nicht so unähnlich. (Anm. des Lektors) 38 Vergleichen Sie unbedingt: ›Der Antipapst‹, BasteiLübbeetc. Bd. 24246. 39 Vergleichen Sie noch unbedingter: ›Die Akte Brentford‹, Blablabla. Band 24247. 40 Wir haben's schon immer geahnt (A. Merz und St. Bauer in ungewohnter Eintracht). 41 Mit diesen Worten hätte ein französischer Philosoph namens Descartes aufgehört zu existieren. Nur so ein Gedanke. 42 Genau. Den Effenberg. 43 Wann sonst? Wir sind hier schließlich in einem Abenteuerroman. 44 In Ihrem Geiste sollten Sie jetzt Fanfarenstöße hören. 45 Nein, nein, das ist kein Hinweis auf die Lösung unseres Rätsels aus dem vorhergehenden Band: ›Jenseits von Ealing‹, erschienen als Band Nr. 24255 im Bastei- Lübbe-Verlag, dem wundersamsten Verlag, der jemals existierte (was übrigens eine Anspielung auf den Band 24216 ›Der wundersamste Mann, der jemals existierte‹ ist. Warum Bastei-Lübbe so wundersam ist, erfahren Sie dagegen in dem Roman: ›Die größte Show jenseits der Welt‹, Bd. 24210. Solche Anmerkungen pflegt der tüchtige Lektor gerne mit einem Hinweis auf die übrigen Romane von Robert Rankin aufzublähen, also Bd. 24201: ›Das Buch der allerletzten Wahrheiten‹, Bd. 24204: ›Jäger des verlorenen Parkplatzes‹, Bd. 24225: ›Der Garten unirdischer Gelüste‹ und Bd. 24246: ›Der Antipapst‹, verbunden mit einem dringenden Appell an die Leser, diese Bücher (wenn schon nicht zu lesen, dann doch) zu kaufen, damit er, der Lektor, endlich eine Gehaltserhöhung bekommt (Anm. d. Lektors) 46 Zu Noahs Arche in Brentford vergleiche den Band: ›Die -299-
Akte Brentford‹, Bastei- Lübbe bla bla bla, Bd. 24247
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