SPRACHE &
Karin Herrmann Sandra Hübenthai (Hg.)
Intertextualität Perspektiven auf ein interdisziplinäres Arbeitsfeld
SHAKER
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Der Begriff der >Intertextualität< bezeichnet die Beziehung eines Texts auf andere Texte. Im Feuilleton wie in der Wissenschaft ist der Terminus weit verbreitet und tangiert eine Vielfalt theoretischer Konzepte. Der Band versammelt Beiträge eines interdisziplinären Dialogs über die Herausforderung, den Intertextualitätsbegriff für konkrete wissenschaftliche Projekte zu operationalisieren. Ziel ist es dabei nicht, weitere Theorieansätze zu entwickeln, sondern die Theorie mit den sich aus der praktischen Arbeit ergebenden"Bedürfnissen zu verbinden. Letztlich geht es darum, den Intertextualitätsbegriff aus der Praxis tür die Praxis zu modifizieren. Dabei bleibt die Operationalisierung des theoretischen Konzepts >Intertextualität< nicht auf den Bereich der Textwissenschaften beschränkt; vielmehr erstreckt sich das Themenspektrum über zahlreiche Disziplinen und nimmt auch die Phänomene Intermedialität und Interikonizität in den Blick.
ISBN 978-3-8322-6694-3
Sprache & Kultur
Karin Herrmann, Sandra Hübenthai (Hg.)
Intertextualität Perspektiven auf ein interdisziplinäres Arbeitsfeld
Shaker Verlag Aachen 2007
KATALOG
I;; --Inhaltsverzeichnis Die Intertextualitätstheorie in der Praxis wissenschaftlichen Arbeitens Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Interdisziplinäre Begegnungen (Karin Herrmann; Sandra Hübenthai) ...................................................... 7
Dialogizität und Intertextualität Tenninologische Fingerübungen im Hinblick auf die Zitatgedichte Ernst Meisters (Karin Herrmann, Literaturwissenschaft) ................................................................ 12
Text und Intertextualität Versuch einer Verhältnisbestimmung auf interdisziplinärer Grundlage (Kristina Dronsch, Exegese des Neuen Testaments) ................................................ 26
Zwischen freier Benutzung, Zitat und Plagiat Urheberrechtliche Grundfragen zur Intertextualität (Achim Förster, Jura) .............................................................................................. 40
Kanonisch-intertextuelle Bibellektüre - my way (Georg Steins, Exegese des Alten Testaments) ......................................................... 55
Wie kommen Schafe und Rinder in den Tempel? Die >Tempelaktion< (Joh 2,13-22) in kanonisch-intertextueller Lektüre (Sandra HübenthaI, Exegese des Neuen Testaments) ............................................... 69
Kinder und Jugendliche zur intertextuellen Lektüre befähigen Copyright Shaker Verlag 2007 . Alle Rechte auch das des auszugsweisen Nachdruckes, der auszugswelsen odervollstä~digen Wiedergabe, der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen und der Übersetzung, vorbehalten. Printed in Germany.
Werkbericht einer Lehr-Lern-Forschungsstudie zum unterrichtlichen Erwerb religiöser Orientierungsrähigkeit (Annegret Reese, Religionspädagogik) .................................................................... 82
Intertextualität und neutestamentliche Textanalyse Entdeckungen in der Passio secundum Johannem J.S. Bachs (Michael Schneider, Exegese des Neuen Testaments) .............................................. 95
ISBN 978-3-8322-6694-3 ISSN 1430-7782 Shaker Verlag GmbH • Postfach 101818 • 52018 Aachen Telefon: 02407/95 96 - 0 • Telefax: 02407/95 96 - 9 Internet: www.shaker.de • E-Mail:
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»In die Musik versetzet« Textexplikation in der Johannes-Passion von Heinrich Schütz als intertextuelle Transferleistung (Andreas Linsenmann, Musikwissenschaft) ............................................................. 110 5
Überlegungen zur Interikonizität Malewitsch, Duchamp, Warhol und die Mona Lisa (Elisabeth-Christine Gamer, Kunstgeschichte) ......................................................... 127
Von der Intertextualität zur Intermedialität Tendenzen der Gegenwartsliteratur am Beispiel von W.G. Sebalds Erzählung Dr. Henry Selwyn (Stefan Wieczorek, Literaturwissenschaft) ........................... ·.·.··· ............................ 149
»In the beginning was the sound« Toni Morrison's Intertextual Bible Reading (Bärbel Höttges, Amerikanistik) ............................................................................... 161
Schwarzer Pudel- Weißes Kätzchen? Intertextuelle Bezüge auf Goethes Faust in Wedekinds Franziska (Katharina Rhode, Germanistik) ............................................................................... 175
Strategien der Textvernetzung Isotopien als Konstituenten intertextueller Relationen (Constanze Spieß, Deskriptive Sprachwissenschaft) .............. ·····.·.··············· ........... 189
Die ökonomische Sprachtextur Effizienter Sprachimperialismus am Beispiel von Interessengruppen (Thomas Dürmeier, Wirtschaftswissenschaften) ...................................................... 211
Zu den Autoren ......................................................................................................... 226
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Die Intertextualitätstheorie in der Praxis wissenschaftlichen Arbeitens. Interdisziplinäre Begegnungen Intertextualität - ein schillernder Begriff. Der Terminus wurde in den späten 60er Jahren von der bulgarischen Semiologin Julia Kristeva als Bezeichnung für die Beziehung eines Textes auf andere Texte geprägt. Im Feuilleton wie in der Wissenschaft ist der Terminus heute nahezu allgegenwärtig, und die Definitionen von Intertextualität sind mittlerweile so zahlreich wie die Forscher, die sich mit ihnen auseinandersetzen und sie - teils im eigenen Fach, teils interdisziplinär - fruchtbar zu machen versuchen. Wer mit dem Intertextualitätsbegriff arbeiten will, ist daher zunächst mit der Aufgabe konfrontiert, die unterschiedlichen Konzepte aufzuarbeiten und eines davon bzw. eine Mischform im Sinne der eigenen Arbeit zu operationalisieren und den Ansprüchen des eigenen Projekts gemäß zu modifizieren. Die Intertextualitätsdebatte bietet einen Ansatzpunkt für den interdisziplinären Diskurs über Konzepte und ihre Umsetzung. Hier lassen sich gemeinsam analoge Probleme lösen, auch wenn einzelne Forschungsvorhaben auf den ersten Blick nur wenig miteinander gemein zu haben scheinen. So können etwa Kunsthistoriker oder Filmwissenschaftler den Philologen bei der Differenzierung unterschiedlicher Textbegriffe wichtige Impulse geben; Juristen vermögen aus den Arbeitsfeldem des Urheber- und Patentrechts heraus Hilfestellung bei der Entwicklung von Unterscheidungskriterien für Grenzfalle des Zitats zu leisten. Ebenso können Literaturwissenschaftler Theologen daran erinnern, dass auch die Exegese der Heiligen Schrift auf der philologisch präzisen Arbeit am Text basiert und der Nachweis intertextueller Bezüge nicht mit der Ähnlichkeit der Botschaft zweier Texte, sondern zuallererst mit Belegen argumentieren sollte, die durch die Analyse der Struktur eines Textes gewonnen werden, und dass das Herstellen von Bezügen mit dem Vorwissen des Rezipienten korrespondiert. Der vorliegende Band versammelt die Beiträge, die während des dreitägigen Forschungssymposiums Intertextualität. Interdisziplinäre Zugänge in Theorie und Praxis im Rahmen der großzügigen Graduiertenförderung des Cusanuswerks im Sommer 2005 in Aachen diskutiert wurden. Dabei tauschten Nachwuchswissenschaftler und Referenten aus so unterschiedlichen Disziplinen wie Literaturwissenschaft und Jura, Wirtschaftswissenschaft und Theologie Erfahrungen und Ideen aus. Zentraler Gedanke dieses Symposiums war der interdisziplinäre Dialog über die Schwierigkeiten, den Intertextualitätsbegriff tUr die eigene Arbeit zu operationalisieren. Ziel des Austauschs war es dabei nicht, weitere Theorieansätze zu entwickeln, sondern die Theorie mit den sich aus der praktischen Arbeit ergebenden Bedürfnissen der einzelnen Disziplinen bzw. Wissenschaftler zu verbinden. Der Schluss lag nahe, dass die Schwierigkeiten, die beispielsweise in den Bereichen Germanistik und Theologie bei der Modifikation im Hinblick auf die praktische Arbeit an konkreten Texten auftauchen, auch in anderen wis'senschaftlichen Disziplinen gegeben seien. Entsprechend fand der Austausch mit Promovierenden und Fachleuten nicht nur aus dem engeren Bereich der Textwissenschaften statt, vielmehr wurde das theoretische Konzept >Intertextualität< aus möglichst vielen unterschiedlichen Perspektiven reflektiert. Letzt-
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lich ging es darum, den Intertextualitätsbegriff aus der Praxis ./Ur die Praxis zu modifizieren. Die Aufsätze in diesem Band gewähren einen Einblick in die Vielfalt der diskutierten Aspekte. Ausgehend von Beiträgen, die eher einführenden Charakter haben, erstreckt sich das Themenspektrum über zahlreiche Disziplinen und nimmt auch die Phänomene Intermedialität und Interikonizität in den Blick. Im Beitrag Dialogizität und Intertextualität führt Karin Herrmann (Aachen) aus literaturwissenschaftlicher Perspektive in die Konzepte Michael Bachtins sowie Julia Kristevas ein und zeigt zugleich die Problematik ihrer Operationalisierbarkeit auf. Im Sinne eines Brückenschlags zwischen Literaturtheorie und literaturwissenschaftlicher Praxis reflektiert der Aufsatz Modifikationsmöglichkeiten des Intertextualitätsbegriffs bei der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit konkreten literarischen Texten. Als >Anwendungsfall< einer solchen Modifikation dienen die Zitatgedichte Ernst Meisters. Kristina Dronschs (Frankfurt am Main) Beitrag Text und Intertextualität erprobt eine interdisziplinäre Herleitung des Begriffs Intertextualität. Als Fundierungssystem wählt Dronsch die Semiotik Piercescher Prägung und gelangt zu einer Konzeption von Intertextualität als relationaler, prozessualer und universaler Erscheinung. Dabei wird der Textbegriff nicht wie bei Kristeva in den Raum der Kultur hinein aufgelöst, sondern bleibt im Anschluss an Petöfi dominant verbal. Wohl nirgendwo sonst sind präzise Definitionen so unabdingbar wie in der Rechtsprechung. Aus der Perspektive des Juristen erläutert daher Achim Förster (Bayreuth) in seinem Beitrag Zwischen freier Benutzung, Zitat und Plagiat. Urheberrechtliehe Grundfragen zur Intertextualität die Prinzipien des deutschen Urheberrechts und macht außerdem transparent, welche Definitionskriterien die Rechtsprechung anwendet, um Grenzfälle des Zitats zu unterscheiden. Trotz der Vielfalt der vertretenen Disziplinen hat sich neben der Literaturwissenschaft die Theologie als ein Schwerpunkt herauskristallisiert, vertreten u.a. durch die Exegese des Alten und Neuen Testaments sowie die Religionspädagogik: Georg Steins (Osnabrück)]beschreibt in seinem Beitrag Kanonisch-intertextuelle Bibellektüre - my way aus biographischer Perspektive den Weg der deutschsprachigen Exegese vom historisch-kritischen zum literaturwissenschaftlichen Auslegungsparadigma. Er beleuchtet dabei die Tendenzen neuerer Auslegungsmethodik in ihren Stärken und Schwächen und erläutert sein eigenes Konzept einer >kanonischintertextuellen< Lektüre, das das zeitliche Nacheinander der historisch-kritischen Textanordnung in ein räumliches Zueinander überführt. Die kanonisch-intertextuelle Lektüre ist ein Konzept, das die Sinnpotentiale von Texten innerhalb des biblischen Kanons im Wechselspiel von Text und Leser erschließt. Sandra HübenthaI (Aachen) spielt in ihrem Beitrag Wie kommen Schafe und Rinder in den Tempel? Die >Tempelaktion< (Joh 2,13-22) in kanonisch-intertextueller Lektüre Impulse, die die Intertextualitätstheorie der Exegese zu geben vermag, exemplarisch durch. Den typischen Ansatzpunkten der historisch-kritischen Exegese wie Historizität und Chronologie werden anhand eines konkreten Beispiels intertextuelle Interpretationsansätze gegenübergestellt, die weitere Bedeutungsschichten des Textes evozieren. Es zeigt sich dabei, dass das begründete Nebeneinanderlegen zweier Texte als intertex-
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tuelles Spiel die Exegese um interessante Sinneffekte bereichern kann, ohne andere Methoden der Auslegung infragezustellen. Der Beitrag Kinder und Jugendliche zur intertextuellen Lektüre befähigen. Werkbericht einer Lehr-Lern-Forschungsstudie zum unterrichtlichen Erwerb religiöser Orientierungsfähigkeit von Annegret Reese (Essen) reflektiert, inwieweit die Einübung intertextueller Kompetenz - d.h. die Fähigkeit, Zusammenhänge zwischen biblischen und außerbiblischen Texten herzustellen - ein Baustein im Religionsunterricht sein könnte. Der Religionsunterricht als Lern- und Ausbildungsort religiöser Orientierungsfähigkeit kann von diesem methodischen Zugang insofern profitieren, als die intertextuelle Kompetenz eine fruchtbare Auseinandersetzung mit der religiösen Tradition, aber auch mit dem Erfahrungshorizont der Schüler ermöglicht. An der Schnittstelle zwischen Theologie und Musikwissenschaft sind zwei weitere Beiträge angesiedelt - beide befassen sich mit der musikalischen Gestaltung der Passionserzählung nach Johannes: . Michael Schneiders (Frankfurt am Main) Aufsatz Intertextualität und neutestamentliche Textanalyse. Entdeckungen in der >Passio secundum Johannem< J. S. Bachs widmet sich der Johannespassion von Johann Sebastian Bach, welche nicht allein auf dem Luthertext der johanneischen Passionserzählung basiert, sondern ergänzt wird durch Einschübe aus dem Alten Testament, Szenen aus den anderen kanonischen Evangelien sowie außerbiblische Texte. Mit Rekurs auf die Semiotik Charles Sanders Peirces untersucht Michael Schneider das Wechselverhältnis zwischen diesen Texten. Andreas Linsenmanns (Mainz) Beitrag »In die Musik versetzet« - Textexplikation in der Johannes-Passion von Heinrich Schütz als intertextuelle Transferleistung befasst sich mit Schütz' Johannes-Passion von 1665 und zeigt, wie sich das subtile Verweissystem des Werkes gerade unter dem Gesichtspunkt der Intertextualitätstheorie plausibel analysieren lässt. Der Verfasser legt dar, wie Schütz systematisch den Notentext aus der literarischen Vorlage ableitet und innerhalb seines Werkes ein Geflecht von Verweisen und Anspielungen installiert und damit sowohl text-textliche als auch binnenmusikalische Intertextualität praktiziert. Am Beispiel der Musik zeigt sich, dass sich das Intertextualitätskonzept nicht nur auf literarische Texte im engeren Sinne, sondern auch auf andere Medien anwenden lässt. Im Zusammenhang von Fotografie und Malerei treten neben den Terminus der Intertextualität die Begriffe der Intermedialität sowie der Interikonizität: Gegenstand von Elisabeth-Christine Gamers (Heidelberg) Untersuchung Überlegungen zur Interikonizität sind die verschiedenen Modi der Bezugnahme auf Vorbilder aus der Kunstgeschichte. Am Beispiel dreier Werke von Malewitsch, Duchamp und Warhol, die jeweils ganz unterschiedlich Leonardos Mona Lisa rezipieren, wird die Frage erörtert, wie derartige Referenzen miteinander verglichen werden können. In diesem Zusammenhang wird die Anwendbarkeit literaturwissenschaftlicher Theoriebildung, namentlich des Konzepts der Intertextualität, untersucht. Auf dieser Basis entwickelt Elisabeth-Christine Gamer ein Konzept der interikonischen Analyse, welches formale Kriterien zur vergleichenden Interpretation ansonsten sehr unterschiedlicher Kunstwerke bietet, die sich in der traditionellen Perspektive der Werkanalyse objektiv nicht vergleichen lassen.
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Stefan Wieczorek (Aachen) setzt sich in seinem Beitrag Von der Intertextualität zur Intermedialität mit dem Phänomen der Intermedialität auseinander. Die Einbeziehung von Bildern in die Literatur zeugt vom erweiterten intertextuellen Spiel durch das Miteinander und Ineinander unterschiedlicher Zeichensysteme. Der Aufsatz beleuchtet die Beziehung zwischen Intermedialität und Intertextualität und erläutert am Beispiel einer Erzählung W. G. Sebalds auch die Funktion intermedialer Referenzen auf Fotografie und Film innerhalb eines literarischen Werkes. Auch die übrigen Beiträge geben Einblick in die vielfältigen Anwendungsfelder des Intertextualitätskonzepts: Bärbel Höttges (Mainz) gewährt in ihrem Beitrag »In the beginning was the sound«. Toni Morrison's Intertextual Bible Reading Einblick in die Anwendung intertextueller Hermeneutik am Beispiel von Morrisons Roman Beloved. Intertextualität ist in diesem Werk weit mehr als ein selbstreferentielles Spiel: Durch intertextuelle Referenzen ergreift Morrison hier >Besitz< von biblischen Traditionen. Diese Aneignung bedeutettrotz partieller Verzerrungen - keine Subversion oder Dekonstruktion der biblischen Texte, vielmehr wird die Wertschätzung des biblischen Textes ausgedrückt, indem er im Roman sowohl eine korrigierende Aktualisierung als auch eine kulturelle ReKontextualisierung erfährt. Katharina Rhode (Berlin) beschäftigt sich im Aufsatz Schwarzer Pudel - Weißes Kätzchen? mit der Frage nach der Bedeutung intertextueller Bezüge fiir das Verständnis eines Textes, indem sie Intertextuelle Bezüge auf Goethes >Faust< in Wedekinds >Franziska<, so der Untertitel, untersucht. Mit Rekurs auf Gerard Genettes Theorie der >Transtextualität< analysiert Katharina Rhode Entsprechungen zwischen der Gestaltung des Faust-Stoffes bei Goethe einerseits und Wedekind andererseits. Das 1912 entstandene Stück Franziska. Ein modernes Mysterium, ein Drama über eine weibliche Faust-Figur, nutzt die Vorlage nicht nur als Folie fiir neue Schwerpunktsetzungen, sondern auch zum Zweck der Rezeptionssteuerung. Constanze Spieß' (Münster) Beitrag Strategien der Textvernetzung. Isotopien als Konstituenten intertextueller Relationen erörtert Bezugspunkte für eine linguistische Rezeption des Intertextualitätsbegriffes und entwickelt Kriterien eines sprachwissenschaftlichen Intertextualitätskonzeptes insbesondere hinsichtlich eines linguistischen Diskursbegriffes im Anschluss an Foucault; damit verbunden sind verschiedene Konsequenzen bezüglich des Textbegriffes und der Sprachauffassung. Vor diesem Hintergrund wird das Isotopiekonzept Greimas' als textlinguistische Beschreibungsmethode auf die Analyse intertextueller tiefensemantischer Relationen angewendet. Anhand eines Textkorpus zum deutschen Bioethikdiskurs um Stammzellenforschung werden mittels der genannten Beschreibungsmethode intertextuelle, den Diskurs konstituierende Strukturen aufgezeigt und die Praktikabilität des Analyseinstrumentariums überprüft. Der Beitrag Die ökonomische Sprachtextur. Effizienter Sprachimperialismus am Beispiel von Interessengruppen von Thomas Dürmeier (Kassel) reflektiert die Konsequenzen der Rezeption fachsprachlicher Termini aus der Ökonomie durch die Alltagssprache und zeigt, wie durch das Einspielen ökonomischer Kontexte in die Kultur Intertextualität mit dem Aspekt von Macht verknüpft wird. Auf der Basis einer theoretischen Verortung dieses >ökonomischen Imperialismus< wird die Veränderung wis-
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senschaftlicher Sprachkomplexität im interdisziplinären Diskurs am Beispiel der Kategorie >politische Macht< verdeutlicht; außerdem werden Rahmenbedingungen für >faire< Intertextualität ohne Machtdominanz skizziert. , Im Band nicht enthalten sind leider die Beiträge von Julia Ricker (Bonn)~ lan Gielkens (Den Haag) und Thomas Hieber (München). Julia Rickers Vortrag widmete sich der Erläuterung einer Miniatur, welche die Translation des Hl. Edmundus zeigt (Libellus Miracula et passio S. Edmundi, ca. 1130). Im Rahmen einer Text-Bild-Analyse wurden am Beispiel der Translationsminiatur die bimediale Relation von Translationstexten und -bild aufgezeigt und insbesondere die spezifischen Qualitäten, Strategien und der jeweilige Eigengehalt beider Medien benannt. Die Überlegungen zur Intermedialität bzw. Interikonizität in Werken des 20. Jahrhunderts, wie sie insbesondere Elisabeth-Christine Gamer und Stefan Wieczorek anstellen, wurden so um ein Beispiel aus der Kunst des Mittelalters ergänzt. Jan Gielkens, Übersetzer der Werke von Günter Grass ins Niederländische, gab Einblick in die Werkstatt des Übersetzers. In seinem Beitrag »Intertextualität hautnah: Mit Günter Grass in Gdansk« berichtete er über den Umgang mit dem Phänomen Intertextualität im Bereich der Übersetzung, insbesondere über die spezifischen Herausforderungen, die die Übertragung intertextueller Sprachspiele impliziert. Mit der Frage nach der >Halbwertszeit< von Übersetzungen kam auch die zeitliche Komponente intertextueller Bezüge in den Blick. Thomas Hieber referierte über Fragen des geistigen Eigentums aus juristischer Sicht. Der Blick auf die einzelnen Disziplinen zeigt, dass bei der Operationalisierung des IntertextualitätsbegritIs eine doppelte Ausrichtung angebracht erscheint: So muss jede Disziplin sich mit den Implementierungsmöglichkeiten im Methodenkanon des eigenen Fachs auseinandersetzen, um eine arbeitsfähige Methode zu entwickeln. Dies bedeutet gleichzeitig, sich dem Austausch mit anderen Loci der Operationalisierung jenseits der eigenen Disziplin zu öffnen. Eine methodologisch reflektierte Verwendung des Intertextualitätsbegriffs profitiert immer auch von dem Potential, das im interdisziplinären Perspektivwechselliegt. '
Aachen, im Oktober 2007
Karin Herrmann und Sandra Hübenthai
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Karin Herrmann
Dialogizität und Intertextualität. Terminologische Fingerübungen im Hinblick auf die Zitatgedichte Ernst Meisters Der Beitrag dokumentiert Überlegungen zur Operationalisierung des Intertextualitätsbegriffs für die literaturwissenschaftliehe Praxis. Unter der Prämisse, daß die Kriterien einer solchen Begriffsmodifikation letztlich vom jeweiligen Erkenntnisinteresse abhängen, scheint es sinnvoll, ein konkretes Forschungsgebiet als >Anwendungsfeld< zu l benennen - hier wurde dafür die Lyrik Ernst Meisters (1911-1979) ausgewählt. Die Erarbeitung eines adäquaten Begriffsinstrumentariums, die im folgenden geleistet werden soll, bleibt daher stets rückbezogen auf das gewählte Exemplum und beansprucht keine allgemeine Gültigkeit. So läßt sich weniger der gewonnene Intertextualitätsbegriff selbst als vielmehr der Prozeß seiner Modifikation bzw. des Abwägens einzelner definitorischer Entscheidungen auf andere Bereiche und Gegenstände übertragen.
Der Lyriker Ernst Meister darf zu den bedeutenden Dichtem des 20. Jahrhunderts gezählt werden; für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen, u.a. dem GeorgBüchner-Preis, ausgezeichnet. Bis zu seinem Tod im Jahr 1979 hat der Dichter mehr als 20 Lyrik-Bände veröffentlicht. 2 Charakteristisch für Meisters Werk ist sein philosophischer Hintergrund. Ernst Meisters poetische Reflexion widmet sich Fragen, die in der geistesgeschichtlichen Tradition '-vor allem mit den Namen Montaigne, Pascal, Kierkegaard und Nietzsehe verknüpft sind. Eine Besonderheit der Dichtung Meisters besteht in der Vielzahl offener und verdeckter, teilweise im Wortlaut abgewandelter literarischer Bezugnahmen. Bekanntere 3 >Zitatgedichte< aus den 50er Jahren sind etwa Apres Apreslude, welches auf den Tqd Gottfried Benns 1956 reagiert,4 des Verfassers des Gedichts Apreslude,5 oder In meDer Aufsatz dokumentiert Vorarbeiten zu meiner Dissertation Ernst Meisters lyrisches Spätwerk, die 2008 im Wallstein Verlag (Göttingen) erscheint. 2 Einen guten Überblick über Meisters Gesamtwerk bieten die beiden folgenden Darstellungen: Laschen, Gregor: Ernst Meister. In: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. 9. Nachlieferung. München 1981. Und: Lohr-Jasperneite, Andreas: Ernst Meister. In: Steinecke, Hartmut (Hg.): Deutsche Dichter des 20. Jahrhunderts. Berlin 1994. S. 532-542. 3 Meister, Ernst: Fermate. Stierstadt i. Ts. 1957. S. 30. 4 Vgl. Amtzen, Helmut: Sprachstufen. Meditation zu Gedichten von Ernst Meister. In: Ders.; Wallmann, JÜfgen P. (Hg.): Ernst Meister. Hommage. Münster 1985. S. 138-151. Hier S. 141. 5 Benn, Gottfried: Apreslude. Wiesbaden 1955. S. 40. 1
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moriam Pascal,6 1956 erschienen. Auch die Titel der. Bände, Zahle~ und Figuren und Die Formel und die Stätte stellen markante Bezüge zu Texten anderer Autoren her: Mit dem Titel des 1958 publizierten Bandes Zahlen und Figuren zitiert Meister Novalis' Gedicht Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren aus dem Roman Heinrich von 01terdingen; 7 dem 1960 erschienenen Band Die Formel und die Stätte ist als Motto ein Zitat aus Rimbauds Illuminations vorangestellt: » .. .ich, gedrängt von dem Verlangen, / die Stätte und die Formel zu finden.«8 Viele derartige Bezugnahmen in Meisters Werk sind bereits untersucht worden, etwa im Tagungsband zum zweiten Ernst-Meister-Kolloquium 1993 in Münster,9 welches dem Thema Ernst Meister und die lyrische Tradition gewidmet war, oder in Ewout van der Knaaps Monographie Das Gespräch der Dichter. 1O Während van der Knaap Ernst Meisters Hölderlin- und Celan-Lektüre, so der Untertitel, in einem groß angelegten Längsschnitt durch das Werk untersucht, bietet der Münsteraner Tagungsband eine Vielzahl von Einzeldarstellungen. Eine Studie, welche Meisters Bezugnahmen im Sinne eines Querschnitts durch das Gesamtwerk in den Blick nimmt steht noch aus. Überdies gilt es, »eine Meister-spezifische Theorie der Intertextuali~ät ins Auge zu fassen«,l1 wie Christian Soboth fordert. Der erste Schritt auf diesem Weg besteht darin, angemessenes Handwerkszeug zu präparieren, d.h. die Terminologie zu klären. Dabei geht es nicht um allgemeine Begriffsklärungen um ihrer selbst willen, sondern um die Suche nach einer Ernst Meisters Lyrik adäquaten Beschreibungssprache. Um das Phänomen des Bezugnehmens begrifflich zu fassen, steht eine Reihe von Termini zur Verfügung, so v.a. die Begriffe der Dialogizität und der Intertextualität. Hinter dem Problem der terminologischen Entscheidung steht die Frage nach der Anwendbarkeit der mit den jeweiligen Begriffen verbundenen Theorien auf die Lyrik Meisters. Wie ich im folgenden zeigen werde, scheinen mir hier sowohl Bachtins Dialogizitätskonzept l2 als auch die Intertextualitätstheorie Kristevas 13 problematisch. Ziel ist es, vorhandene Begriffsdefinitionen so
Meister, Ernst: ...und Ararat. Wiesbaden 1956. S. 18f. Meister, Ernst: Zahlen und Figuren. Wiesbaden 1958. Das zitierte Gedicht findet sich in: Novalis: Schriften Bd. 1: Das dichterische Werk. Hrsg. v. Paul Kluckhohn u. Richard Samuel. 2., nach den Handschriften ergänzte, erw. u. verb. Aufl. Darmstadt 1960. S. 344f. 8 Meister, Ernst: Die Formel und die Stätte. Wiesbaden 1960. S. 5. Meister zitiert hier aus folgender Ausgabe: Rimbaud, Arthur: Sämtliche Gedichte. Französisch, mit dt. Übertragung v. Walther Küchler. Heidelberg 1946. S. 247. 9 Amtzen, Helmut (Hg.): Zweites Ernst Meister Kolloquium 1993. Aachen 1996. 10 Van der Knaap, Ewout: Das Gespräch der Dichter. Ernst Meisters Hölderlin- und CelanLektüre. Frankfurt am Main u.a. 1996 (= Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 57). 11 Soboth, Christian: >Der Meister aber sagt< - Ernst Meister im Gespräch mit Friedrich Nietzsehe. In: Amtzen, Helmut (Hg.): Zweites Ernst Meister Kolloquium 1993. Aachen 1996. S. 87-106. Hier S. 103. 12 Vgl. Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. u. eingeleitet v. Rainer Grübel. Aus dem Russischen v. Rainer Grübel u. Sabine Reese. Frankfurt am Main 1979. 13 Vgl. Kristeva, Julia: Die Revolution der poetischen Sprache. Aus dem Französischen v. Reinhold Wemer. Frankfurt am Main 1978. 6
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zu modifizieren, daß sie als passende Analyse-Kategorien für Meisters Lyrik zur Verfügung stehen.
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Ewout van der Knaaps 1996 erschienene Arbeit 14 faßt die literarischen Bezüge in Meisters Lyrik unter den Begriff der »Dialogizität«. 15 Van der Knaap definiert: »Von Dialogizität ist die Rede, wenn die anvisierte (Gegen-)Rede in einem literarischen Text von deutlichen Anspielungen auf Texte eines anderen begleitet wird.«16 Das Anknüpfen an Texte anderer Autoren faßt van der Knaap jedoch nicht allein als Rekurs eines >Nachgeborenen< auf die Tradition auf, sondern als lebendiges »Gespräch der Dichter«l? - unabhängig davon, ob Meisters Gedichte mit einem Zeitgenossen oder einem bereits verstorbenen Dichter sprechen. Der jeweils zitierte Autor gilt van der Knaap nicht allein als Impulsgeber, sondern gleichzeitig als Adressat des dialogischen Gedichts: »Erst wenn zum Beispiel die Zitathaftigkeit den Dichter-Kollegen als Adressaten des Gedichts verrät, kann der Leser, der zugleich auch Adressat ist, mit Gewißheit eine Form von Dialogizität feststellen.« 18 Indem van der Knaap die Dialogizität der Meisterschen Dichtung - am Beispiel von Ernst Meisters Gespräch mit Hölderlin und Celan - akzentuiert, spricht er der lange gängigen Zuordnung von Ernst Meisters Lyrik zur hermetischen Dichtung ihre Gültigkeit ab; Mit dem Nachweis, daß Meisters Gedichte bis in ihre Tiefenstruktur dialogisch angelegt seien, widerlegt van der Knaap die Auffassung, die Gedichte verschlössen sich in ihrer Rätselhaftigkeit und Lakonie dem Verständnis des Lesers. Es ist das Verdienst van der Knaaps, durch die Revision dieser Etikettierung neue Zugänge zu Meisters Gedichten eröffnet und deren Offenheit zum Dialog mit dem Leser sichtbar gemacht zu haben. Mit dem Stichwort der Dialogizität verbindet sich daher eine wichtige Etappe innerhalb der Meister-ForscQung. Dennoch kann der von van der Knaap in den Diskurs eingebrachte Dialogizitätsbegriff hier nicht kommentarlos übernommen werden. Dies hängt damit zusammen, daß van der Knaap sich bei der Wahl des Dialogizitätsbegriffs als beschreibendem Terminus auf Michail Bachtins Konzept der Dialogizität beruft, anstatt das dialogische Moment der Gedichte allgemein im Sinne einer grundlegenden hermeneutischen Kategorie zu fassen: »Mit der Dialogizitätsthese Michail Michailovic Bachtins, die sich auf den Roman beschränkt, und mit den Modifizierungen, die Renate Lachmann anbrachte, kann Dialogizität der Lyrik analysiert werden.«19 Die Dialogizität der Lyrik, so meine Gegenthese, kann mit der Dialogizitätsthese Michail M. Bachtins eben nicht analysiert werden, da diese sich auf den Roman be14 15 16 17 18 19 14
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Van der Knaap, Ewout: Das Gespräch der Dichter. Frankfurt am Main u.a. 1996. Ebd. S. 30. Ebd. S. 43. So der Titel von van der Knaaps Studie. Ebd. S. 44. Ebd. S. 45.
schränkt. Daß Bachtin die poetischen Gattungen im engeren Sinne ,strikt von der Geltung seines Dialogizitätskonzepts ausnimmt, ist Gegenstand der sorgfältigen ReLektüre Bachtins durch Renate Lachmann,2o die dies zwar kritisiert, jedoch keine >Modifizierungen< vorschlägt, die zur Allgemeingültigkeit der Dialogizitätsthese führten. 21 Schlagen wir nach in Bachtins Werk Die Asthetik des Wortes: 22 Bachtin geht aus von der »immanente[n] Dialogizität des Wortes [... ], die seine gesamte Struktur, seine semantischen und expressiven Schichten durchdringt«.23 Diese »innere Dialogizität kann nun aber nur dort zu einer solchen 'wesentlichen, formbildenden Kraft werden, wo die individuellen Dissonanzen und Widersprüche durch die soziale Redevielfalt befruchtet werden, [... ] wo der Dialog der Stimmen unmittelbar aus dem sozialen Dialog der >Sprachen< entsteht«.24 Diese Äußerungen beziehen sich auf den Roman, um den allein es Bachtin geht; für die Lyrik gilt: »In den im engeren Sinne poetischen Gattungen wird die natürliche Dialogizität des Wortes künstlerisch nic~t genutzt, das Wort ~enügt sich selbst und setzt außerhalb von sich keine fremden Außerungen voraus.« 5 Bachtin fährt fort: »Die Sprache der poetischen Gattung ist die einheitliche und einzige ptolemäische Welt, außerhalb derer es nichts gibt und nicht zu geben braucht. Die Idee der Pluralität sprachlicher Welten [ ... ] ist dem poetischen Stil verschlossen«.26 Bachtin zufolge ist die »Sprache poetischer Gattungen [... ] häufig autoritär, dogmatisch und konservativ«.27 Während die Mehrstimmigkeit des Romans Bachtin als fortschrittlich, geradezu
20 Lachmann, Renate: Dialogizität und poetische Sprache. In: Dies. (Hg.): Dialogizität. München 1982. S. 51-62. 21 Immer wieder betont Lachmann in der Schrift, auf die van der Knaap (vgl. S. 45) sich bezieht: »Die Befunde des Dialogischen haben keinerlei Relevanz rur die poetische Sprache im engeren Sinn, diese steht fiir das monologische Prinzip.« (Lachmann, Renate: Dialogizität und poetische Sprache. In: Dies. (Hg.): Dialogizität. München 1982. S. 51-62. Hier S. 55). »Auch da, wo Bachtin Konzessionen macht, bleibt der Ausschluß der Lyrik radikal.« (S. 57). Zwar stellt Lachmann infrage, ob die poetische Sprache tatsächlich so strikt auszuschließen sei (vgl. S. 55f), und wirft Bachtin vor, auf diese Weise eine Vielzahllyrischer Strömungen zu verkennen (vgl. S. 59), doch mündet ihre Kritik nicht in eine modifizierte Fassung des Dialogizitätsbegriffs. Auf die Monographie, in der Lachmann die Beschränkung von Bachtins Konzept auf den Bereich der Prosa nicht nur kritisiert, sondern am Beispiel eines Korpus von Texten des russischen Akmeismus die Dialogizität auch von Lyrik nachweist, geht van der Knaap nicht ein (vgl. Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Modeme. Frankfurt am Main 1990. S. 171-199 u. S. 354-403).
22 Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt am Main 1979. 23 Bachtin, Michail M.: Das Wort im Roman. In: Ders.: Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt am Main 1979. S. 154-300. Hier S. 172. 24 Ebd. S. 177. 25 Ebd. 26 Ebd. S. 178. 27 Ebd. S. 179. 15
revolutionär gilt, sieht er in der Poesie ein reaktionäres Moment: 28 Es »entsteht, [ ... ] durch die Vernichtung aller Spuren von sozialer Redevielfalt und Sprachvielfalt, im poetischen Werk eine gespannte Einheit der Sprache. [... ] So geht der Dichter vor. Der Romancier [... ] beschreitet einen völlig anderen Weg. Er nimmt die Redevielfalt und die Sprachvielfalt von literarischer und außerliterarischer Sprache in sein Werk auf, ohne sie abzuschwächen, ja, er betreibt sogar ihre Vertiefung«. 29 Um ein adäquates Verständnis von Bachtins Auffassung des Romans zu gewinnen, muß man sich klarmachen, in welche Zeit hinein Bachtin mit seiner Schrift Das Wort im Roman spricht: ins Rußland der 30er Jahre, die Zeit der stalinistischen >Säuberungen<, in der auch der Kulturbereich ideologisch reglementiert und letztlich gleichgeschaltet wurde. Bachtins Studien zur Polyphonie des Romans, die in sein Konzept der Dialogizität münden, dürften vor diesem Hintergrund nicht allein als Beiträge zur Ästhetik, sondern auch als subtile politische Stellungnahme aufzufassen sein. 30 Dadurch, daß die verschiedenen Stimmen im Roman sich gegenseitig relativieren, unterminieren sie »jeglichen offiziellen Monologismus«. 31 Notwendiges Kriterium fiir das Vorliegen von Dialogizität ist nach Bachtin nicht allein die Mehrstimmigkeit an sich, sondern darüber hinaus eine Differenz hinsichtlich 32 der von den unterschiedlichen Sprechern eingenommenen ideologischen Position. Indikator der Dialogizität ist demnach das gleichberechtigte Nebeneinander unvereinbarer Welthaltungen. Die Dialogizität des Romans sieht Bachtin also in einer ganz bestimmten Funktion, welche letztlich durch gesellschaftliche Implikationen bestimmt ist - auch und gerade insofern läßt sich der Bachtinsche Dialogizitätsbegriff nicht auf Meisters Lyrik anwenden. Will man den Dialogizitätsbegriff dennoch so modifizieren, daß er als adäquate Analysekategorie der Meisterschen Lyrik zur Verfügung steht, so bedarf er neben den bereits genannten Aspekten auch dahingehend einer Modifikation, daß die Literarizität der Texte, auf die Meisters Gedichte rekurrieren, betont wird; deJ;lll »die fremden Wörter und die fremden Reden außerhalb seiner selbst,) auf die sich ein Sprachkunstwerk bezieht, sind in Bachtins Sicht nicht dominant literarisch, sondern eben [... ] der allgemeine Diskurs der Zeit, rür den der literarische Diskurs nur einen schmalen Sektor ausmacht.«33 Bachtin »privilegiert gerade nicht [ ... ] die literarischen Texte als Spender fremder Rede«,34 was fiir Meisters Lyrik keinesfalls gilt: Als Prätexte fiir Meisters Zitatgedichte dienen fast ausschließlich Werke aus Literatur und 28 Vgl. Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität. In: Broich, Ulrich; Pfister, Manfred (Hg.): Intertextualität. Fonnen, Funktionen und anglistische Fallstudien. Tübingen 1985. S. 1-30. Hier S. 2. 29 Bachtin, Michail M.: Das Wort im Roman, S. 189. 30 Die meisten von Bachtins Arbeiten wurden daher »erst nach seiner politischen Rehabilitierung in den frühen sechziger Jahren der russischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht«. (pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität, S. 1). 31 Ebd. S. 6. 32 Vgl. Grübel, Rainer: Zur Ästhetik des Wortes bei Michail M. Bachtin. In: Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt am Main 1979. S. 21-78. Hier S. 45. 33 Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität, S. 5. 34 Ebd. S. 7. 16
Philosophie. Nicht übersehen werden sollte ferner, daß Bachtins Dialogizitätsbegriff sich auf die Mehrstimmigkeit innerhalb eines Textes bezieht,35 nicht auf das Gespräch zwischen zwei Texten bzw. Autoren, welches van der Knaap im Blick hat. Auch aus diesem Grund ist es nicht unproblematisch, bei der Beschreibung der Meisterschen Lyrik ausgerechnet auf Bachtin zu rekurrieren. Gleichwohl soll nicht bestritten werden, daß Meisters Gedichte das Gespräch mit anderen Texten und Autoren aufnehmen und insofern dialogisch angelegt sind; der Begriff der Dialogizität ist nicht generell untauglich, Meisters Lyrik adäquat zu charakterisieren. Wichtig ist jedoch mit Blick auf die Begriffsgeschichte und den Ursprung dieses Terminus bei Bachtin, die Dialogizität, die uns in Meisters Gedichten begegnet, deutlich abzugrenzen von der Dialogizität im Roman der Modeme, fiir dessen Polyphonie Bachtin den Terminus geprägt hat. Will man Meisters literarische Bezugnahmen unter dem Stichwort der >Dialogizität< fassen, so kann man dies allenfalls in Abgrenzung, nicht jedoch mit Berufung auf Bachtin tun. Bachtins Dialogizitätsbegriff verdankt sich einem spezifischen historischen Bedürfnis und läßt sich nicht bruchlos über die Zeiten und Gattungen hinweg extrapolieren. Meiner Ansicht nach bietet es sich eher an, den Begriff der Dialogizität im Sinne der philosophischen Hermeneutik als grundsätzliche Offenheit fiir einen Austausch im gemeinsamen Gespräch zu verstehen. Eine so verstandene strukturelle Offenheit akzentuierte statt der Tatsache der Polyphonie eher das Moment des Ansprechens und Gerichtetseins der Meisterschen Lyrik. Dialogizität in diesem Sinn benennt die Diskursivität der Gedichte, ihre Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Positionen anderer Dichter und Denker, ohne daß das Vorliegen weltanschaulicher Differenzen ein notwendiges Kriterium der Dialogizität darstellt. Dialogizität in diesem Verständnis schließt grundsätzliches Einverstandensein mit der Haltung eines Referenztextes, d.h. die Möglichkeit der affirmativen Funktion der Dialogizität, nicht apriori aus. Dennoch: Selbst ein derart modifizierter Dialogizitätsbegriff scheint mir eher geeignet, ein generelles strukturelles Moment der Gedichte zu benennen, nämlich die Haltung des Fragens und Hörens als zentrales Element der Sinnkonstitution im dialogischen Prozeß. Anders als van der Knaap geht es mir jedoch nicht mehr um den Nachweis dieser dialogischen Haltung an sich, anhand dessen van der Knaap die These von Meisters Lyrik als hermetischer Dichtung schlüssig widerlegt; stattdessen ist es mir um die prägnanten Bezugnahmen auf literarische Quellen auf der Ebene der einzelnen Gedichte zu tun. Auf die Differenz hinsichtlich der Frage, ob der Dialogizitätsbegriff auf ein strukturelles Moment oder auf konkrete Einzelfl:ille anzuwenden sei, kommen wir zurück, wenn wir uns nun einem anderen Begriff zuwenden, der sich als Kennzeichnung der Meisterschen Lyrik anzubieten scheint: dem Begriff der Intertextualität. 36 35 Vgl. ebd. S. 4. 36 In der bisherigen Meister-Forschung wird der Begriff der Intertextualität meist ohne explizite Definition verwendet; so sprechen etwa Egyptien oder Soboth von >Intertextualität< bzw. >intertextuellen Bezügen< in Meisters Werk, ohne diese Begriffe zu klären. (Vgl. Egyptien, Jürgen: Titorellis Heidelandschaft als Todeszone. Zu einem intertextuellen Bezug zwischen Ernst Meister und Franz Kaflm. In: Buck, Theo (Hg.): Erstes Ernst Meister Kolloquium 1991. Aachen 1993. S. 137-148. Hier S. 138. Und: Soboth, Christian: 17
»Der Begriff >Intertextualität< wurde Ende der sechziger Jahre von der bulgarischen Semiologin Julia Kristeva in ihrem Aufsatz Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman geprägt. Kristeva entdeckte in den Texten des russischen Literaturtheoretikers Bachtin die Mogllchkeit, Literatur und Gesellschaft zusammen zu denken.«37 In dem erwähnten Aufsatz stellt Kristeva insbesondere die »Dynamisierung des Strukturalismus«38 als Leistung Bachtins heraus. Bachtins Ausgangspunkt sieht Kristeva in der Auffassung, »nach der das >literarische Werk< nicht ein Punkt (nicht ein feststehender Sinn) ist, sondern eine Überlagerung von Text-Ebenen, ein Dialog verschiedener Schreibweisen: der des Schriftstellers, der des Adressaten (oder auch der Person), der des gegenwärtigen oder vorangegangenen Kontextes.«39 Doch während Bachtins Dialogizitätskonze~t sich vor allem auf die Mehrstimmigkeit innerhalb eines einzelnen Textes bezieht, 0 erweitert Kristeva diese Perspektive und nimmt die B~;Z;iehung zwischen verschiedenen Einzeltexten in'den Blick - daher der Begriff >Inter-l'extualität<. Ende der 60er Jahre beginnt Julia Kristeva Bachtins erst wenige Jahre zuvor publizierte Thesen auch in der westlichen Öffentlichkeit bekanntzumachen. 41 Dabei ersetzt sie aus dem genannten Grund »das Konzept der Dialogizität durch das der Intertextualität und radikalisiert zugleich den Textbegriff«. 42 Nicht mehr die Stimmen im Text, sondern die Texte selbst beziehen sich aufeinander. Die von Bachtin initiierte Relativierung einzelner Standpunkte im Text erweitert Kristeva im Sinne eines Kampfes gegen die »Abgeschlossenheit von Texten«.43 »Die von der traditionellen Literaturwissenschaft angenommene Einheit eines Textes wird ebenso wie die Instanzen Autor, Subjekt und Werk zugunsten eines textübergreifenden Zusammenhanges, der als Intertext bezeichnet wird, aufgelöst.«44 Den ideologiekritischen Impuls der Bachtinschen Konzeption baut Kristeva im Sinne einer allgemeinen Kulturkritik aus. Kristeva betrachtet jeden Text »als Mosaik von Zitaten [... ], jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität [welcher den Dialog zwischen den Stimmen bezeichnet] tritt der Begriff der
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>Der Meister aber sagt<. In: Arntzen, Helmut (Hg.): Zweites Ernst Meister Kolloquium 1993. Aachen 1996. S. 87-106). Stiegler, Bemd: Einleitung [zum Abschnitt Intertextualität]. In: Kimmich, Dorothee; Renner, Rolf Günter; Stiegler, Bemd (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart 1996. S. 327-333. Hier S. 327. Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. Übers. v. Michael Korinman u. Heiner Stück. In: Ihwe, Jens (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. 3. Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft 11. Frankfurt am Main 1972. S. 345-375. Hier S. 346. Ebd. Vgl. Pfister, Manfred: Intertextualität. In: Borchmeyer, Dieter; Zmegac, Viktor (Hg.): Modeme Literatur in Grundbegriffen. Frankfurt am Main 1987. S. 197-200. Hier S. 197. Vgl. Link-Heer, Ursula: Julia Kristeva. In: Nida-Rümelin, Julian; Betzler, Monika (Hg.): Ästhetik und Kunstphilosophie. Von der Antike bis zur Gegenwart in Einzeldarstellungen. Stuttgart 1998. S. 469-477. Hier S. 471 u. 475. Stiegler, Bemd: Einleitung, S. 328. Pfister, Manfred: Intertextualität, S. 198. Stiegler, Bemd: Einleitung, S. 327.
Intertextualität«.45 Auf dieser Basis definiert Kristeva: »Wir nennen Intertextualität dieses textuelle Zusammenspiel, das im Inneren eines einzigen Textes abläuft. Für den Sachkenner ist Intertextualität ein Begriff, der anzeigt, wie ein T,ext die Geschichte >liest< und sich in sie hineinstellt.«46 Jeder einzelne Text rekurriert demnach auf unzählige Vorgänger bzw. Ketten von Vorgängertexten und organisiert diese innerhalb des eigenen Horizonts neu. Der einzelne Text steht damit immer schon im Beziehungsgeflecht des »Universum[s] der Texte«,47 gleichgültig ob er explizit auf andere Texte anspielt oder nicht. Intertextualität wird nach Kristevas Konzeption zur ubiquitären Begleiterscheinung von Textualität. 48 »Der literarische Text entsteht gerade durch diese intertextuellen Verbindungen und kann nicht isoliert von ihnen gesehen werden. Zugleich wird auch die Unterscheidung zwischen Autor und Leser zugunsten einer textuellen Produktivität aufgegeben. Jeder Leser nimmt aktiv an der Transformation des Zeichenmaterials teil und stellt in seiner Lektüre Beziehungen zu anderen Texten her. «49 Dabei ist zu beachten, daß Kristeva im Rahmen ihres poststrukturalistisch geprägten Ansatzes den Textbegriffradikal generalisiert; letztlich wird das gesamte kulturelle System als Text aufgefaßt. Dieser entgrenzte Textbegriff umfaßt schließlich auch die Phänomene der >Wirklichkeit<, auf die Texte nach dem konventionellen Verständnis referieren. Bei Kristeva nun referieren Texte immer auf andere Texte, nicht mehr auf eine außertextliche Wirklichkeit. Im >Universum der Texte< muß »jeder textexterne Weltbezug notwendig verschwinde[n]«50 - alles ist Text. Indem Kristevas Intertextualitätsbegriff koextensiv mit dem Begriff von Textualität wird, wird nicht nur der Begriff des Kontexts universalisiert; auch eine prägnante literarische Bezugnahme, etwa ein wörtliches Zitat, läßt sich mit den Mitteln, die Kristevas Modell zur Verfügung stellt, nicht von einer nicht-prägnanten Bezugnahme unterscheiden. Wolfgang Preisendanz bringt die Konsequenzen dieses globalen Theorieentwurfs, aber auch die Konsequenzen der inflationären Verwendung des Dialogizitätsbegriffs auf den Punkt: Er spricht von der »Crux, wie man unter der Voraussetzung einer basalen Dialogizität aller Literatur, aller Prozesse und Ebenen literarischer Kommunikation noch Dialogizität als eine spezifische, typologische oder historisch relevante und signifikante Qualität abheben und auszeichnen kann.«51 Preisendanz beklagt, Bachtins Dialogizitäts- sowie Kristevas Intertextualitätsbegriff »würde[n] da45 Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 348. 46 Kristeva, Julia: Probleme der Textstrukturation. Übers. v. Irmela u. Jochen Rehbein. In: Ihwe, Jens (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Bd. W2. Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft I. Frankfurt am Main 1971. S. 484-507. Hier S. 500. 47 Tegtmeyer, Henning: Der Begriff der Intertextualität und seine Fassungen - Eine Kritik der Intertextualitätskonzepte Julia Kristevas und Susanne Holthuis'. In: Klein, Josef; Fix, Ulla (Hg.): Textbeziehungen. Linguistische und literaturwissenschaftliche Beiträge zur Intertextualität. Tübingen 1997. S. 49-81. Hier S. 50. 48 Vgl. Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität, S. 8. 49 Stiegler, Bemd: Einleitung, S.. 329. 50 Ebd. S. 331. 51 Preisendanz, Wolfgang: Zum Beitrag von R. Lachmann >Dialogizität und poetische Sprache<. In: Lachmann, Renate (Hg.): Dialogizität. München 1982. S. 25-28. Hier S. 25. 19
hingehend universalisiert, daß nunmehr jeglicher Text [... ] den VelWeis auf seinen jetzt - intertextuellen Charakter mit sich führe. [ ... ] Was mich indessen irritiert an der skizzierten Universalisierung der beiden Begriffe, ist der Preis, um den sie gewonnen werden, nämlich die Schwierigkeit wenn nicht Unmöglichkeit, Dialogizität bzw. Intertextualität als spezifische Möglichkeiten literarischer Sinnkonstitution [ ... ] auszuzeichnen«.52 Kristevas Intertextualitätsbegriff scheint insofern als Analysekategorie für prägnante literarische Bezugnahmen wenig geeignet. Bereits frühzeitig wurde auf die Problematik der mangelnden Operationalisierbarkeit für die konkrete literatulWissenschaftliche Arbeit hingewiesen; hinsichtlich der Universalität von Kristevas Theorie bemerkt Manfred Pfister: »ein Konzept, das so universal ist, daß zu ihm keine Alternative und nicht einmal dessen Negation mehr denkbar ist, ist notwendigelWeise von geringem heuristischem Potential für die Analyse und Interpretation.«53 Ähnlich argumentiert Ulrich Broich: »Wenn man den Begriff der Intertextualität in einem so weiten Sinn velWendet, daß jeder Text in all seinen Elementen intertextuell ist, verliert der Begriff seine Trennschärfe und damit seine wissenschaftliche Brauchbarkeit zumindest für die Analyse einzelner Texte.«54 Dennoch soll der Begriff der Intertextualität - ebenso wie der der Dialogizität - als Beschreibungsinstrument für Meisters Lyrik nicht gänzlich velWorfen werden. Vielmehr geht es darum, ihn so zu modifizieren, daß er als brauchbare Analyse-Kategorie für Meisters Lyrik dienen kann. Anders als beim Dialogizitätsbegriff steht im Fall des Intertextualitätsterminus bereits eine den Ansprüchen der literatutwissenschaftlichen Textanalyse angepaßte Modiftkation zur Verfügung. Dem von Kristeva eingeführten >weiten< Begriff steht ein >enger< gefaßter Intertextualitätsbegriff gegenüber: »je nachdem, wieviel man darunter subsumiert, erscheint Intertextualität entweder als eine Eigenschaft von Texten allgemein oder als eine spezifische Eigenschaft bestimmter Texte oder Textklassen.«55 Zum Zweck der Literaturanalyse favorisiert Pfister den engeren Intertextualitätsbegriff: »Für die Textanalyse und -interpretation ist sicher das engere und prägnantere Modell das heuristisch fruchtbarere, weil es sich leichter in operationalisierte Analysekategorien überführen lässt, während das weitere Modell von größerer literaturtheoretischer Tragweite ist.«56 Intertextualität im engeren Sinne wird nicht mehr als ubiquitäres Phänomen aufgefaßt, sondern als prägnante Beziehung zwischen konkreten Texten. »Einer Generalisierung des Textbegriffes [... ] steht eine Rückkehr zu einem eingeschränkten Textbegriff [... ] und einer notwendig ausgewiesenen und somit analysierbaren Intertextualität gegenüber. Ziel ist es, handhabbare Unterscheidungs- und Ordnungskriterien aufzustellen, die eine präzise Beschreibung
52 Ebd. S. 26. 53 Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität, S. 15. 54 Broich, Ulrich: Zur Einzeltextreferenz. In: Broich, Ulrich; Pfister, Manfred (Hg.): Intertextualität. Tübingen 1985. S. 48-52. Hier S. 48.
55 Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität, S. 11. 56 Ebd. S. 25.
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intertextueller Verfahren ermöglichen«.57 Tegtmeyer spricht in diesem Zusammenhang von globalen und lokalen Konzeptionen der Intertextualität. 58 Im Zuge der zu leistenden Modifikation des Intertextualitätsbegriffs im Sinne der Erarbeitung eines brauchbaren Instrumentariums gilt es darüber hinaus, eine weitere Unterscheidung zu beachten: die »grundlegende Opposition von rezeptions ästhetischer und.produktionsästhetischer Intertextualität«.59 Es geht also um die Frage, ob Intertextuahtät als textimmanentes oder rezeptionsabhängiges Phänomen aufzufassen sei: Läßt sich ein intertextueller Bezug philologisch-exegetisch im Text nachweisen, oder stellt der einzelne Leser diesen Bezug erst her? Für die zuletztgenannte Auffassung plädiert beispielsweise Susanne Holthuis, die im Gegensatz zu Kristeva ein engeres Konzept von Intertextualität vertritt. Holthuis nimmt an, »dass intertextuelle Qualitäten zwar vom Text motiviert werden können, aber vollzogen werden sie in der Interaktion zwischen Text und Leser, seinen Kenntnismengen und RezeptionselWartungen. Mit anderen Worten konstituiert sich Intertextualität als Relation zwischen Texten erst im Kontinuum der Rezeption und nicht im [... ] und durch den Text selbst«.60 Über die wohl unumstrittene Ansicht hinaus, daß das Auffinden von intertextuellen Bezügen mit dem VOlWissen des Rezipienten korrespondiert, geht Holthuis davon aus, Intertextualität werde im Akt der Lektüre allererst hergestellt. Intertextualität ist demnach keine im Text festzumachende Bedeutungsdimension, sondern konstituiert sich erst durch die Assoziationen des Rezipienten bei der Lektüre des Textes. Als Garanten für den Textsinn nimmt ein solches rezeptionsorientiertes Modell den Leser an; Autor und Text spielen demgegenüber eine untergeordnete Rolle. Holthuis' Konzept erfüllt damit zwar das Kriterium, konkrete Einzeltexte statt Textualität schlechthin in den Blick zu nehmen; dem Anspruch, Aussagen über prägnante Bezugnahmen treffen zu können wird ihr Modell jedoch nicht gerecht: Die Prägnanz einer literarischen Bezugnahm~ läßt sich nicht mehr intersubjektiv anhand des Kriteriums der Autor- bzw. Textintention festmachen, sondern wird abhängig von subjektiven Lektüre-Assoziationen.
3 Gegenüber der rezeptionsorientierten Auffassung des Intertextualitätskonzepts möchte ich einen stärker philologisch-hermeneutisch akzentuierten Ansatz vertreten: Ich betrachte die Referenz eines einzelnen Textes auf einen oder mehrere konkrete andere Texte als dem jeweiligen Text inhärente Eigenschaft, nicht als Ergebnis eines Rezeptionsprozesses. Nur so scheint es sinnvoll, die >entdeckten< (und eben nicht >hergestellten<) Bezüge auf ihre Funktion hin zu befragen. Auf der Basis der vorgetragenen Erläuterungen und Differenzierungen möchte ich im folgenden die Kriterien zusam57 Stiegler, Bemd: Einleitung, S. 330. :: V gl. Tegtmeyer, Henning: Der Begriff der I~tert~xtualität und seine Fassungen, S. 50. Hoesterey, Ingeborg: Verschlungene SchriftzeIchen. Intertextualität von Literatur und Kunst in der Modeme / Postmoderne. Frankfurt am Main 1988. S. 13. 60 Holthuis, Susanne: Intertextualität. Aspekte einer rezeptions orientierten Konzeption. Tübingen 1993. S. 31. 21
menfassen, denen ein für die Anwendung auf Meisters Lyrik adäquater Intertextualitätsbegriff genügen muß:
Intertextualität bezeichnet die Eigenschaft literarischer Texte, sich auf andere literarische und philosophische Texte zu beziehen. Während sich Bachtins Dialogizitätskonzept ganz wesentlich auch auf außerliterarische Diskurse bezieht, interessieren für die oben skizzierten Zwecke ausschließlich Meisters Bezugnahmen auf die literarische bzw. philosophische Tradition. Insofern ist der Extensionsbereich des hier defmierten Begriffs im Vergleich zu Bachtins Modell deutlich eingeschränkt. Anstelle der im Medium der Polyphonie geübten Ideologiekritik soll die Literarizität eines Bezugstextes akzentuiert werden. Der hier verwendete Intertextualitätsbegriff erstreckt sich potentiell auf alle literarischen Gattungen,61 wobei auch> Texte< aus anderen künstlerischen Kommunikationssystemen als der Literatur prinzipiell einbezogen werden. •
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Doch nicht nur vom Universalitätsanspruch von Kristevas Modell distanziert sich der hier vertretene engere Intertextualitätsbegriff, sondern auch vom Verständnis der literarischen Bezugilahmen im Sinne einer grundsätzlichen strukturellen Offenheit zum Dialog, die Ewout van der Knaap betont. Im Blickpunkt der Untersuchung stehen prägnante Bezugnahmen Meisterscher Gedichte auf konkrete Texte anderer Autoren wobei der Autor eines Prätextes ausdrücklich nicht grundsätzlich auch als Adressa; eines intertextuellen Gedichts gelten muß. 65
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Dem Intertextualitätskonzept liegt ein eingeschränkter Textbegriff zugrunde; eine textexterne Wirklichkeit wird angenommen. Im Gegensatz zu Kristevas Theorie eines universalen Intertexts, welcher nicht nur Texte im konventionellen Sinn, sondern das gesamte kulturelle System einbegreift, liegt dem hier vertretenen Intertextualitätskonzept ein eingeschränkter Textbegriff zugrunde. Dies hat vor allem zwei Gründe: Zum einen verfolgt dieser Beitrag nicht das Ziel, wie Kristeva eine kulturkritische Theorie zu verfassen. Unabhängig von gesellschaftlichen und politischen Implikationen soll Intertextualität als genuin ästhetische Kategorie aufgefaßt werden. Der Begriff dient nicht dem Zweck der Ideologiekritik, sondern als handhabbares Arbeitsinstrument der Gedichtanalyse. Mit dem eingeschränkten Textbegriff geht also eine eingeschränkte Reichweite des Konzepts einher. Zum anderen scheint die Einschränkung des Textbegriffs geboten, weil Meisters Poetologie selbst auf der Annahme eines Wirklichkeitsbezuges der Sprache gründet;66 Meister spricht in diesem Zusammenhang von der »Schwerkraft«67 der Sprache. Entsprechend geht auch das hier vertretene Intertextualitätskonzept davon aus, daß Texte auf eine außersprachliche bzw. textexterne Wirklichkeit referieren.
Der Intertextualitätsbegriff bezieht sich auf prägnante Beziehungen zwischen konkreten Texten. Im Gegensatz zu Kristevas globalem Intertextualitätskonzept liegt dem hier vertretenen Ansatz ein lokales Konzept zugrunde, ganz im Sinne des Vorschlags von Manfred Pfister, der die »Reservierung des Begriffs der Intertextualität für den Bezug eines literarischen Textes auf individuelle Prätexte«62 favorisiert. Intertextualität bezieht sich demnach auf die Beziehungen zwischen bestimmten, d.h. isolierbaren Einzeltexten. 63 Dieser enger gefaßte Begriff kann als brauchbares Instrument für die intendierte Analyse konkreter Einzelgedichte dienen. Während Kristevas Konzept vor allem die Tatsache des Zusammenhangs aller Texte in einem universalen Intertext betont, interessiert in unserem Zusammenhang eher die Frage nach der Qualität einzelner Bezugnahmen. Daß Sprache und mithin Literatur ein Netzphänomen darstellen, soll freilich nicht geleugnet werden. Die konkrete literaturwissenschaftliehe Arbeit hat sich allerdings um die Frage zu kümmern, zu welchen spezifischen Texten sich ein Text >bewußt< in Beziehung setzt - unabhängig davon, daß er mit diesen aufgrund seiner Sprachlichkeit immer schon in Beziehung steht. Daß der konkrete Bezug auf die Tradition auch nach Ernst Meisters Auffassung keinem Text apriori inhärent, sondern erst zu gestalten ist, darüber gibt die folgende Äußerung aus dem Jahr 1965 Auskunft: »Die meisten wollen überholen, aber die wenigsten denken daran, Getanes einzuholen und geziemend zu bedenken. Nur durch Ahnenschaft ist Solidität des Neuen gewährleistet.« 64
• Intertextualität ist kein rein rezeptionsabhängiges Phänomen. Gegenüber der rezeptionsorientierten Auffassung von Intertextualität, die etwa Susanne Holthuis vertritt, tendiert der hier favorisierte Ansatz eindeutig zu einer produktionsästhetischen Auffassung. Als Garant für den Textsinn gilt dem hier zugrundeliegenden Modell nicht der Leser mit seinen letztlich beliebigen intertextuellen Assoziationen, sondern die intersubjektiv rekonstruierbare Autor- bzw. Textintention, welche sich jeweils am Text legitimieren muß. Der Rezipient ist die Instanz, welche die literarischen Bezüge erkennt, nicht aber erschafft. Die Assoziationen des Lesers spielen dabei insofern eine Rolle, als seine Kenntnisse und Leseerfahrungen entscheidend zum Erfolg dieses Erkennens beitragen. Der intertextuelle Gehalt eines Textes dient nicht als Stichwortgeber für beliebige Kontextualisierung, sondern erfüllt
61 Anders als in Bachtins Konzept sollen die poetischen Gattungen im engeren Sinne ausdrücklich in den Geltungsbereich des Begriffs einbezogen werden. 62 Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität, S. 19. 63 Vgl. auch Füger, Wilhelm: Intertextualia Orwelliana. Untersuchungen zur Theorie und Praxis der Markierung von Intertextualität. In: Poetica 21 (1989). S. 179-200. 64 Meister, Ernst: Brief an Wilhelm Lehmann vom 7.1.1965. Erläutert von Andreas LohrJasperneite. In: Text + Kritik 96 (1987). S. 16-18. Hier S. 16.
65 Auch Bezugnahmen Meisters auf eigene frühere Gedichte fallen unter diese Definition; auf diese intratextuellen Beziehungen wäre gesondert einzugehen. 66 Nach Meisters Auffassung ist das »Prinzip Sprache [... ] ohne das Prinzip Wirklichkeit nicht denkbar und umgekehrt. Beide stehen im allernotwendigsten Verhältnis zueinander.« (Aus: Thiekötter, Friedel: Ernst Meister im Gespräch mit Schülern. In: Amtzen, Helmut; Wallmann, Jürgen P. (Hg.): Ernst Meister. Hommage. Münster 1985. S. 82-90. Hier S. 83). 67 Meister, Ernst: Annette von Droste-Hülshoff oder Von der Verantwortung der Dichter. In: Ders.: Prosa 1931 bis 1979. Hrsg. v. Andreas Lohr-Jasperneite. Heidelberg 1989. S. 30-38. Hier S. 32.
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innerhalb der Textökonomie eine bestimmte Funktion. Diese Funktion zu erschließen, ist Teil der interpretatorischen Arbeit, wobei nicht behauptet werden soll, daß intertextuelle Gedichte dadurch auf eine eindeutige >Aussage< festzulegen seien. Ich gehe davon aus, daß die Erschließung der Funktion einer Bezugnahme Auskunft über die >Stoßrichtung< eines Gedichts geben kann; gleichwohl soll die Polyvalenz des Kunstwerks dadurch nicht geleugnet werden, ebensowenig wie die Möglichkeit konkurrierender Interpretationen. Die Erschließung eines Gedichts anhand einer Bezugnahme fiihrt nicht automatisch zum >Besitz< der einzig richtigen Auslegung. Auch im Fall der intertextuellen Lektüre gilt, daß diejenige Interpretation privilegiertist, die argumentativ die größte Plausibilität auf sich vereinen kann. Kriterium dieserPlausibilität ist dabei stets, ob ein Text eine Interpretation >hergibt<, nicht, ob er sie >aufnimmt<. Es geht um Exegese statt Eisegese. •
Intertextualität bezeichnet intendierte Bezugnahmen im Sinne der intentio operis; ihnen kommt innerhalb des Textzusammenhangs eine spezifische Funktion zu. Dieser definitorische Aspekt steht in engem Zusammenhang mit der Frage nach der Bedeutung der Rezeption. Bernd Schulte-Middelich fordert: »Intendierte und funktional wirksame Sinnkomplexion muß sich im Text nachweisen lassen.«68 Es ist demnach nur dann sinnvoll, nach der Funktion einer intertextuellen Bezugnahme zu fragen, wenn nicht die intentio lectoris, sondern die intentio auctoris bzw. die intentio operis 69 die Interpretation bestimmt. 70 Als intertextuelle Bezugnahmen sollen daher ausschließlich prägnante, intersubjektiv nachvollziehbare Verweise eines Textes auf Prätexte gelten. • Markierung ist kein notwendiges Kriterium fiir Intertextualität. In seinem grundlegenden Aufsatz, in welchem Pfister für ein engeres Intertextualitätskonzept plädiert und eine entsprechende Definition erarbeitet, gibt er als zentrale Kriterien an, der Bezug auf einen Prätext müsse bewußt, intendiert und markiert sein. 71 Während ich hinsichtlich der beiden erstgenannten Kriterien mit Pfister übereinstim-, me, teile ich seine Aussage zur Markierung nicht. Zwar sind viele intertextuelle Be-" zugnahmen tatsächlich als solche gekennzeichnet - doch ist die Kennzeichnung auch ein notwendiges Kriterium fiir das Vorliegen von Intertextualität?
Schulte-Middelich, Bernd: Funktionen intertextueller Textkonstitution. In: Broich, Ulrich; Pfister, Manfred (Hg.): Intertextualität. Tübingen 1985. S. 197-242. Hier S. 214. \ 69 Bei der Unterscheidung dieser drei Dimensionen beziehe ich mich auf Umberto Eco: Die Grenzen der Interpretation. Aus dem Italienischen v. Günter Memmert. München 1995.~ S.35ff. 70 Da die Rekonstruktion des Autorwillens - selbst wenn der Autor noch fiir Rückfragen zur Verfiigung steht - letztlich immer hypothetischen Charakter hat, gebe ich der Orientierung an der Verankerung intertextueller Spuren im Text den Vorzug. Nach Abschluß der Bearbeitung ist ein Text autonom, und auch sein Autor kann keine Deutungshoheit über ihn beanspruchen. 71 Vgl. Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität, S. 25. 68
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Um den Leser auf die Spur eines intertextuellen Bezugs zu bringen, ist es gewiß sinnvoll, im Text einen Hinweis zu setzen; bei der intensiven Auseinandersetzung mit Meisters Lyrik läßt sich jedoch erfahren, daß zahlreiche Gedichte zwar massiv intertextuell aufgeladen sind und auch in diesem Sinne funktionieren, daß diese Intertextualität jedoch nicht in allen Fällen markiert ist. 72 Aufgrund dieses Spezifikums von Meisters Lyrik scheint es mir geboten, hinsichtlich der Markiertheit eine weniger strikte Definition zu verwenden. Auch eine Äußerung Meisters über seinen produktiven Umgang mit Hölderlins Werk stützt diese Entscheidung: »Indem ich ihn [Hölderlin] in der Gegenwart häuslich zu machen versuche, erscheint es mir nicht notwendig, seine Ausdrücke ausnahmslos durch Anfiihrungszeichen kenntlich zu machen. Der Kenner Hölderlins sieht außerdem, wo ich ihn variiert habe.«73
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Die hier vorgenommene Modifikation des Intertextualitätsbegriffs ist abgestimmt auf die Spezifika der Meisterschen Lyrik. Eine solche Operationalisierung des terminologischen Instrumentariums richtet sich nach dem jeweiligen Untersuchungsgegenstand bzw. -zweck. Für eine adäquate Begriffsbestimmung sind dabei im wesentlichen die folgenden Entscheidungsdimensionen zu berücksichtigen: Zunächst ist nach dem zugrundeliegenden Textbegriff zu fragen. Wird Textualität grundsätzlich als - intertextuelles - Netzphänomen aufgefaßt, der Begriff der Intertextualität somit synonym mit dem der Textualität schlechthin verwendet, oder wird Intertextualität als spezifische Qualität von Texten begriffen? Entsprechend ist zwischen einem globalen und einem lokalen Intertextualitätskonzept zu unterscheiden. In engem Zusammenhang damit steht die Frage nach dem Extensionsbereich des Dialogizitätsbzw. Intertextualitätskonzepts: Sollen Texte jeglicher Art in die Untersuchung einbezogen werden, oder liegt der Fokus auf literarischen Texten im engeren Sinn, soll möglicherweise nur eine ganz bestimmte Gattung betrachtet werden? Eine weitere Entscheidung betrifft die Differenz zwischen produktions- oder rezeptionsorientierter Perspektive. Je nachdem, ob Intertextualität als textimmanentes oder rezeptionsabhängiges Phänomen aufgefaßt wird, steht die (mutmaßliche) Intention des Autors oder aber des Lesers im Zentrum des Interesses. Damit verbunden ist schließlich die Frage nach dem Stellenwert der Markierung intertextueller Bezugnahmen, d.h. danach, ob die Kennzeichnung eines intertextuellen Rekurses als konstitutives Kriterium für Intertextualität gelten soll.
Daß ein solcher Bezug tatsächlich intendiert ist, läßt sich zwar nicht im strengen Sinne beweisen, die Plausibilität und Wahrscheinlichkeit eines intendierten Bezugs sind argumentativ aber jeweils schlüssig zu begründen. 73 Meister, Ernst: [Ein Drittes]. Notat zu >Sage vom Ganzen den Satz<. In: Text + Kritik 96 (1987). S. 19f. Hier S. 20. 72
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Kristina Dronsch (Exegese des Neuen Testaments)
getinnen und Exegeten niemals aufgegeben worden ist. So bemerkt Wolfgang Stegemann zum Stichwort Intertextualität: . »Nach wie vor ist in der deutschen Exegese im Prinzip verborgen geblieben, daß Beziehungen zwischen Texten nicht nur unter der traditionellen literarkritischen Frage nach den Quellen diskutiert werden müssen. Die Instrumente zur Analyse der Beziehung von Texten auf Texte haben sich verfeinert. Schere und Klebstoff des Quellenkritikers verhalten sich zur Intertextualitätsdebatte wie die alte mechanische Schreibmaschine zum Computer. In der Intertextualitätstheorie geht es nämlich nicht um das bloße Daß einer möglichen Rezeption anderer Texte, sondern vor allem um das Wie. Wie und in welcher Weise ein Autor sich auf andere Texte und Autoren bezieht, sie nicht nur zitiert, sondern auf sie anspielt, ja ohne sie überhaupt zu zitieren auf sie anspielt und mit ihnen spielt und sie gegebenenfalls auch überbieten will usf., dies alles sind Möglichkeiten, die weder rur die Exegese der Synoptiker, noch rur die Beziehung des Johannesevangeliums auf die synoptischen Evangelien, auch nicht für die Beziehung des Neuen auf das Alte Testament, geschweige denn rur andere Themen- und Textbereiche in der deutschen Exegese wirklich aufgegriffen worden wären. Schriftliche Quelle oder mündliche Tradition - das ist unsere deutsche Frage - und das Ende unserer literaturwissenschaftlichen Modelle, jedenfalls fiir die Mehrheit der deutschen Exegetinnen und Exegeten.«2
Text und Intertextualität. Versuch einer Verhältnisbestimmung auf interdisziplinärer Grundlage Im Rahmen der Überschrift Text und Intertextualität scheint der Zusammenhang dieser beiden Größen nicht so selbstevident zu sein wie die Feststellung, nach der Intertextualität allgemein gesprochen ein Begriff dafür sei, dass Texte in anderen Texten wieder auftauchen, vermuten lässt. Einen Beleg dafür stellen die vielfältigen Diskussionen l um ein sogenanntes enges und ein weites Konzept von Intertextualität dar, die sich einem konkurrierenden Verhältnis der Bestimmung von Textualität und Intertextualität verdanken. Deshalb sind die vorausgeschickten Anmerkungen ein Beitrag, die beiden Begriffe überhaupt in ein theoretisches Verhältnis zu setzen. Die folgenden Ausführungen zu Interdisziplinarität, Semiotik und Kulturwissenschaft sind nicht als Umweg, sondern als Hinführung zum Thema zu verstehen und bilden die Grundlage des hier anvisierten Verhältnisses von Text und Intertextualität, welches vom Standpunkt der Bibelwissenschaften aus beleuchtet werden soll.
Intertextualität - Versuch einer Bestimmung im Rahmen der Bibelwissenschaften Wenn sich eine am Paradigma Intertextualität orientierte Bibelwissenschaft (gleiches gilt aber auch für andere Wissenschaftsbereiche!) solide begründen will, stellt sich ihr zunächst die Aufgabe, ihren Gegenstandsbereich theoretisch so zu bestimmen, dass er einer Analyse zugänglich ist. Einigkeit herrscht bislang allenfalls darüber, dass im Bereich der Bibelwissenschaften nach neuen Möglichkeiten gesucht wird, die Analyse von Texten mit weitreichenden intertextuellen Fragestellungen zu verknüpfen. Allerdings scheiden sich die Geister spätestens bei den Fragen, wie eine zukünftige Intertextualitätstheorie für die Bibelwissenschaften aussehen könnte und in welchem Verhältnis sie zum klassischen historisch-kritischen Ansatz der Bibelwissenschaften steht. Kritiker stellen die These auf, dass das Paradigma der traditionellen Bibelwissenschaft - also der historisch-kritische Ansatz - besonders unter den deutschen Exe1
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Vgl. zu den beiden Konzepten mit Hinweisen auf weitere Literatur zu dieser Unterscheidung: Linke, Angelika; Nussbaumer, Markus: Intertextualität. Linguistische Bemerkungen zu einem literaturwissenschaftlichen Konzept. In: Antos, Gerd; Tietz, Heike (Hg.): Die Zukunft der Textlinguistik. Traditionen, Transformationen, Trends. Tübingen 1997. S. 109-126; Tegtmeier, Henning: Der Begriff der Intertextualität und seine Fassungen - Eine Kritik der Intertextualitätskonzepte Julia Kristevas und Susanne Holthuis. In: Klein, Josef; Fix, Ulla (Hg.): Textbeziehungen. Linguistische und literaturwissenschaftliche Beiträge zur Intertextualität. Tübingen 1997. S. 49-81. Hier S. 50f. sowie Herwig, Henriette: Literaturwissenschaftliche Intertextualitätsforschung im Spannungsfeld konkurrierender Intertextualitätsbegriffe. In: Zeitschrift rur Semiotik 24/2-3 (2002). S. 163-176.
Ich möchte dieses Zitat von Stegemann aufnehmen und in zwei Richtungen modifizieren: Das Phänomen Intertextualität ist ohne ein ihm zugrundeliegendes texttheoretisches Konzept nicht geeignet, neue methodisierbare Einsichten in die Beschaffenheit -'von (biblischen) Texten zu leisten, andererseits ist aber auch das Verhältnis von Intertextualität zu einem geschichtlichen Paradigma gerade beim Umgang mit antiken Texten ein dringlich zu klärendes. Aus diesem Grund scheint es mir sinnvoll diese Fragen aufzunehmen, aber in modifizierter Weise, indem ich versuche, eine Intertextualitätstheorie interdisziplinär zu verorten, aber diese Interdisziplinarität nicht an einem historischen oder literaturwissenschaftlichen Paradigma festmache. Den Ausgangspunkt folgender Überlegungen bildet deshalb die Prämisse, dass eine Intertextualitätstheorie allein schon deshalb interdisziplinärer Zusammenarbeit bedarf, weil das Phänomen Intertextualität die Grenzen etablierter Fächer überschreitet und weil ihr Entstehen sich dein Interesse an disziplinenübergreifenden Fragestellungen verdankt. So bei der expliziten Einführung des Terminus >Intertextualität< im Jahre 1967 durch Julia Kristeva: »jeder Text baut sich als ein Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität 3 tritt der Begriff der Intertextualität«. Intertextualität wird hier zu einer allgemeinen Eigenschaft von Texten - und damit zu einem Phänomen aller mit Texten beschäftigten Wissenschaftsbereiche. Zweitens birgt das Intertextualitätskonzept von Kristeva auch eine textextrinsische Perspektive, die gerade nicht die geschichtlichen und kultu-
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Stegemann, Wolfgang: Amerika, du hast es besser. In: Anselm, Reiner; Schleissing, Stephan; Tanner, Klaus (Hg.): Die Kunst des Auslegens. Zur Hermeneutik des Christentums in der Kultur der Gegenwart. Frankfurt 1999. S. 99-114. Hier S. 104f. Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Hrsg. u. komm. v. Dorothee Krumm. Stuttgart 1996. S. 334-348. Hier S.337. 27
rellen Beziehungen des zu analysierenden Textes ausblendet, sondern »Text als >Gesellschaft< oder >historio-kulturelles< Paradigma einfUhrt, der sich weder als Aktualisierung des verbalen Zeichensystems noch als verbales Zeichensystem selbst definiert, sondern als >transsemiotisches Universum< bzw. als Konglomerat aller Sinnsysteme und kulturellen Codes gedacht wird, sowohl in seiner synchronen wie auch in seiner diachronen Vernetzung«. 4 So sehr ich diese textextrinsische Perspektive von Kristeva fiir unaufgebbar halte, so wenig teile ich ihre Gleichsetzung von Kultur = Text, die, wie Tegtmeier festhält, »Textualität und Kultur koextensiv«5 werden lässt, aber gerade nicht mehr ihre Unterscheidbarkeit explizit werden lässt: Wenn eine Kultur gleichzusetzen ist mit ihren Manifestationen, hat es keinen Sinn mehr, sie überhaupt beobachten zu wollen, und mehr noch: Es wird verunmöglicht, die Objekte - also die Manifestationen der Kultur - zu unterscheiden.
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Intertextualität in einem interdisziplinären Paradigma
Meines Erachtens kann die von Stegemann fiir den Bereich der neutestamentlichen Wissenschaft - aber durchaus verallgemeinerbar - formulierte Abgrenzung zwischen Literaturwissenschaft und einem geschichtlichen Ansatz nur durch eine interdisziplinäre Neuorientierung überwunden werden, um dem Phänomen Intertextualität gerecht zu werden. Dab.ei gehe ich von zwei grundsätzlichen Einsichten zur Interdisziplinarität aus: Erstens geht es weder um eine bloße Funktionalisierung verschiedener Disziplinen noch um eine bloße Addition fachlicher Einsichten. Wenn Interdisziplinarität echte »Transdisziplinarität«6 sein soll, dann bedarf es einer intertheoretischen Diskussion auf dem gemeinsamen Feld eines abgegrenzten Objektbereiches. Zweitens beruhen meine AusfUhrungen auf der Überzeugung, dass literaturwissenschaftliche Theorien und Modelle nur dann einen gehaltvollen Beitrag zu den Bibelwissenschaften leisten können, wenn sie die ihnen eigenen Kompetenzen im Umgang mit Texten in ein solches Projekt einbringen können. D.h.: keinen alten Wein in neue Schläuche, aber auch: keine theoretische Naivität beim Umgang mit dem Phänomen der Intertextualität. Die Einlösung dieser Transdiziplinarität sehe ich in einem semiotischen Paradigma 7 gegeben, das sich der Zeichenkonzeption von Charles Sanders Peirce verdankt. Das
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Holthuis, Susanne: Intertextualität. Aspekte einer rezeptions orientierten Konzeption. Tübingen 1993 (= Stauffenburg Colloquium 28). S. 14. Tegtmeier, Henning: Der Begriff der Intertextualität und seine Fassungen - Eine Kritik der Intertextualitätskonzepte Julia Kristevas und Susanne Holthuis. In: Klein, Josef; Fix, Ulla (Hg.): Textbeziehungen. Linguistische und literaturwissenschaftliche Beiträge zur Intertextualität. Tübingen 1997. S. 49-81. Hier S. 50. Mittelstraß, Jürgen: »Die Stunde der Interdisziplinarität?«. In: Kocka, Jürgen (Hg.): Interdisziplinarität. Praxis - Herausforderung - Ideologie. Frankfurt am Main 1987. S. 152-158. Hier S. 156. Zu diesem semiotischen Paradigma im Rahmen einer neutestamentlichen Wissenschaft vgl: Alkier, Stefan: Neutestamentliche Wissenschaft - Ein semiotisches Konzept. In:
Feld, in dem es um Zeichen geht, ist das Feld der Semiotik. Die Semiotik ist eine Grundlagenwissenschatl:, die sich aber von anderen Grundlagenwissenschaften - wie etwa der Formalen Logik oder Mathematik - dadurch unterscheidet, dass sie nicht wie diese ein Folgerungssystem, sondern ein Repräsentationsschema auf der Basis des Begriffs des Zeichens darstellt. Mit Bense kann die Semiotik als»Tieferlegung der Fundamente«8 bezeichnet werden. Insofern sie eben eine solche Tieferlegung zulässt, stellt die Semiotik ein »Fundierungssystem«9 dar. Als solch ein Fundierungssystem ist die Semiotik geeignet, echte Transdisziplinarität zu garantieren, die es erlaubt, die jeweiligen Kompetenzen der verschiedenen mit Texten beschäftigten Wissenschaften zu berücksichtigen. Im Folgenden werde ich in aller Kürze die Semiotikkonzeption von Charles Sanders Peirce darstellen, die ich als Grundlage verwenden möchte. Anders)ls der de Saussureschen Semiotik liegt der Peirceschen Semiotik ein erkenntnistheoretischer Zeichenbegriff zugrunde, der sprachliche und nichtsprachliche Zeichen gleichberechtigt behandelt; dies zeichnet diesen Zeichenbegriff als interdisziplinäre Grundlegung aus. Bei aller Vielfalt und schierer Unübersichtlichkeit des CEuvres von Peirce lassen sich jedoch zentrale Grundgedanken ausmachen, so etwa die Zeichendefinition. Während in traditionellen Zeichendefinitionen das Zeichen eine Sache darstellt, indem etwas fiir etwas anderes steht (aliquid stat pro aliquo) und das Wesen eine, Darstellung somit im Darstellen liegt, generiert Peirce einen wesentlich erweiterten Zeichenbegriff: »EiIl\Zeichen [... ] ist alles, was in einer solchen Beziehung zu einem zweiten steht, das sein Objekt genannt wird, daß es fähig ist, ein Drittes, das sein Interpretant genannt wird, dahingehend zu bestimmen, in derselben triadischen Relation zu jener Relation auf das Objekt zu stehen, in der es selber steht. Dies bedeutet, daß der Interpretant selbst ein Zeichen ist, das ein Zeichen desselben Objekts bestimmt und so fort ohne Ende«. 10
Für Peirce ist das Zeichen: a) immer dreistellig (triadisch): Zeichen - Objekt - Interpretant b) relational und funktional (es bestimmt etwas/es bezieht sich auf etwas) c) prozessual (ad infinitum/ohne Ende) d) universal (alles kann ein Zeichen sein).
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Strecker, Christian (Hg.): Kontexte der Schrift. Bd. 11: Kultur, Politik, Religion, SpracheText. Stuttgart 2005. S. 343-360. Bense, Max: Repräsentation und Fundierung der Realitäten. Fazit semiotischer Perspektiven. Baden-Baden 1986. S. 64ff. Ebd. S. 50. Peirce, Charles Sanders: Phänomen und Logik der Zeichen. Hrsg. u. übers. v. Helmut Pape. Frankfurt a.M. 1983. S. 64. Vgl. auch die Zeichendefinition in Peirce, Charles Sanders: Semiotische Schriften Bd. I. Hrsg. v. Christian J.W. Koesel u. Helmut Pape. Frankfurt 2000. S. 375: »Zeichen: Alles, was etwas anderes (seine Interpretanten) bestimmt, sich auf ein Objekt zu beziehen, auf das es sich selbst (als sein Objekt) auf die gleiche Weise bezieht, wodurch der Interpretant seinerseits zu einem Zeichen wird und weiter ad infmi-
turn.« 29
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Diese von Peirce herausgestellte triadische Zeichenrelation wird von Morris zur Basis der Semiotik gemacht. Nach seiner Definition besteht das Zeichen aus drei irreduziblen konstitutiven Elementen, nämlich aus dem Zeichenträger, dem Designat-Denotat und dem Interpretanten. 11 Aus dieser triadischen Relation können wiederum nach Morris drei zweistellige Relationen abgeleitet werden: Die Relation der Zeichenträger zu anderen Zeichenträgern wird als die syntagmatische Dimension bezeichnet. Die Beziehung der Zeichenträger zu den Denotat-Designata wird als semantische Dimension bezeichnet und die Relation der Zeichenträger zu dem Interpretanten wird als die pragmatische Dimension bezeichnet. Unterteilt wird die Semiotik im Gefolge von Morris in die Teildisziplinen Syntagmatik, Semantik und Pragmatik. 12 In einem semiotischen Paradigma sehe ich eine Möglichkeit, alle Fragen der mit Texten beschäftigten Wissenschaften interdisziplinär zu formulieren und auszuarbeiten. Texte sind nach diesem semiotischen Verständnis relationale Zeichen(komplexe), die eine syntagmatische, eine semantische und eine pragmatische Dimension besitzen. Erst alle drei Dimensionen konstituieren ein Zeichen, damit stellen diese drei Dimensionen einen irreduziblen Aspekt jedes semiotischen Textverständnisses dar. Wenn also Texte sich aus Zeichen(komplexen) zusammensetzen, dann ist die Intertextualität, die verschiedene Beziehungen zwischen Texten postuliert, als eine »durchaus semiotische Erscheinung aufzufassen«.13 Intertextualität ist also':"" nach der obigen Zeichenkonzeption von Peirce - eine sich einer dreistelligen Zeichenkonzeption verdankende, relationale, prozessuale und grundsätzlich universale semiotische Erscheinung. Aber und das ist wichtig gegenüber strukturalistischen oder referenztheoretischen Verkürzungen festzuhalten - Intertextualität als semiotische Erscheinung ist nur darstellbar, sofern diese Dreidimensionalität der Semiotik - also die syntagmatische, die semantische und die pragmatische Dimension - berücksichtigt wird. Nachdem die Semiotik als interdisziplinäre Fundierungskategorie der mit Texten beschäftigten Wissenschaften herausgearbeitet wurde und insofern Intertextualität als eine semiotische Erscheinung begriffen werden konnte, soll im Folgenden diese sehr formale Sichtweise um eine kulturwissenschaftliche Perspektive bereichert werden, die sich dezidiert von Kristevas Kultur-als-Text-Auffassung unterscheidet. Diese kulturwissenschaftliche Perspektive überführt die Funktionsweisen sprachlicher und nichtsprachlicher Zeichensysteme in einen Raum, der die Erforschung kultureller Voraussetzungen der Zeichenkomplexe ermöglicht. Die Darstellung der Kultur als Zeichensystem halte ich mit Posner rur angemessen, da so die sozialen, materialen und mentalen Aspekte der Kultur in einem Modell bedacht werden können, die sonst in getrennte Gegenstandsbereiche der Sozialwissenschaften, Geisteswissenschaften und
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Vgl. Morris, Charles W.: Grundlagen der Zeichentheorie. München 1972. S. 17-88. Der Rückgriff auf die Grundlegungen der semiotischen Terminologie von Morris drängt sich auf, weil seine terminologischen Bestimmungen auf die modeme Linguistik eine entscheidende Wirkung ausgeübt haben und die Aufteilung gewisser Teilwissenschaften (vor allem Syntax, Semantik und Pragmatik) mitgeprägt haben. Die Semiotik umfasst nach Morris das Gesamtgebiet der Sprachwissenschaft. Orosz, Magdolna: Intertextualität in der Textanalyse. Wien 1997. S. 17.
Normwissenschaften aufgeteilt werden. 14 Einer der Vorzüge dieser semiotischen Analyse der sozialen, materialen und mentalen KultUr ist, dass sie diese Gegenstandsbereiche in einen theoretisch fundierten, systematischen Zusammenhang stellt: »Wenn eine Gesellschaft als Menge von Zeichenbenutzern, eine Zivilisation als Menge von TeXten und eine Mentalität als Menge von Kodes definiert werden kann, so sind diese drei Bereiche notwendig miteinander verbunden, denn Zeichenbenutzer sind auf Kodes angewiesen, wenn sie Texte verstehen wollen. Die Semiotik kann -somit die Einheit der kulturwissenschaftlichen Untersuchungs gegenstände nachw:i~n«. 15
Da die Disziplinen- sich-bisher vornehmlich mit je nur einem einzelnen Aspekt der Kultur beschäftigten, ist ein Konzept gefordert, dem es gelingt, alle drei Dimensionen - die soziale, materiale und mentale - in einem einzigen Theorierahmen zu integrieren. Hierfür liefert die Semiotik eine geeignete Ausgangsbasis, denn »Kulturen sind Zeichensysteme«.16 Die Auffassung von Kulturen als Zeichensystemen bewahrt davor, die Gesellschaft einer Kultur mit ihren kulturellen Manifestationen gleichzusetzen (wie Texten, Riten etc.); stattdessen wird im Rahmen von Zeichenprozessen Kultur beobachtbar. Kultur stellt einen kollektiven Mechanismus der Informationsspeicherung dar. Diese Informationsspeicherung geschieht nun aber nicht zentral, sondern ist sowohl durch die Institutionen einer Gesellschaft, durch die Artefakte und Texte der Zivilisation als auch durch die Mentefakte der Kodes gewährleistet. D.h. die kollektive Informationsspeicherung beruht auf der Herstellung von Artefakten und Texten sowie deren Rezeption mit Hilfe von kulturellen Kodes. Deshalb muss eine kulturwissenschaftliche Semiotik als interdisziplinäre Grundlage sich besonders an der Arbeit mit Texten be14 Bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Phänomen >Kultur< sieht Roland Posner drei relativ unverbundene Wissenschafts traditionen, die sich jeweils mit einem besonderen Aspekt von Kultur beschäftigen. So konzentrieren sich die Sozialwissenschaften vor allem auf die soziale Seite der Kultur - die Gesellschaft -, auf ihre Institutionen, Formen und Rituale. Die Geisteswissenschaften vor allem auf die materiale Seite der Kultur - die Zivilisation -, wobei sich beispielsweise die Kunstgeschichte mit Bildern, die Literaturwissenschaft mit literarischen Texten, die Architektur mit Gebäuden beschäftigt. In jedem Fall stehen sogenannte Artefakte mit ihren Herstellungs- und Verwendungsweisen im Zentrum des wissenschaftlichen Interesses. Die dritte Wissenschafts tradition, die sich mit einem Aspekt von Kultur befasst, wird von Posner Normwissenschaft genannt. Sie untersucht die mentale Seite der Kultur, genannt Mentalität. Zur Mentalität gehören die in einer Kultur entwickelten Ideen und Werte sowie die Konventionen ihrer Darstellung und Verwendung. Als prototypische Normwissenschaft nennt Posner die Linguistik, daneben gelten auch die Logik, die Ästhetik, Mathematik und Informatik als Beispiele fiir Normwissenschaften. Vgl. Posner, Roland: Kultur als Zeichensystem. Zur semiotischen Explikation kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe. In: Assmann, Aleida; Harth, Dietrich (Hg.): Kultur als Lebenswelt und als Monument. Frankfurt 1991. S. 37-74. Hier S. 38. 15 Ebd. S. 53. 16 Ebd. S. 39. Diese Formulierung weist eine große Ähnlichkeit zur Konzeption Umberto Ecos auf, der darauf hinweist, dass Kulturen sich als Zeichensysteme besser verstehen lassen. Vgl. Eco, Umberto: Einführung in die Semiotik. 9., unveränd. Aufl. München 2002. S. 36. 31
währen: Texte verkörpern einen zentralen Aspekt der materialen Kultur bzw. der medialen Ausdrucksformen, durch die eine Kultur beobachtbar wird. Da Texte zu den grundlegenden Trägern eines kollektiven Gedächtnisses zählen, verweist der Begriff des kollektiven Gedächtnisses auf den gesellschaftlichen Rahmen von Kultur, also auf die sozialen Kulturträger bzw. Institutionen, die die Voraussetzungen für die kulturelle Überlieferung schaffen. Durch die Selektion und Speicherung von Texten sowie durch die Kommunikation über die Texte wird mittels Aneignung und Tradierung das kollektive Wissen sichergestellt. Jan Assmann bezeichnet das kulturelle Gedächtnis, das im Gegensatz zum kommunikativen Gedächtnis durch seine Alltagsferne und einen übergreifenden Zeithorizont gekennzeichnet ist, »als Sammelbegriff für alles Wissen, das im spezifischen Interaktionsrahmen einer Gesellschaft Handeln und Erleben steuert und von Generation zu Generation zur wiederholten Einübung und Einweisung ansteht«.17 In diesem Sinne verstehe ich Intertextualität als ein Phänomen (unter möglichen anderen), das dazu dient, dieses Wissen zu transformieren für den je spezifischen Interaktionsrahmen einer Kultur. Intertextualität wird im Zusammenhang mit der Rede vom kollektiven Gedächtnis zu einem partiellen Kulturmechanismus, welcher sich manifestiert in den Transformationsprozessen der medialen Ausdrucksformen (= Texten) einer Kultur.
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Text und Intertextualität
Aufgrund der obigen Ausführungen legt sich sowohl von der semiotischen Grundlegung im Gefolge von Peirce, die davon ausgeht, dass alles ein Zeichen ist, sowie von der kulturwissenschaftlichen Bestimmung im Gefolge von Posner für den verwendeten Textbegriff als materialen Aspekt von Kultur die Folgerung nahe, dass hier auf jede wertbestimmte Eingrenzung des Textbegriffs verzichtet werden muss. Stattdessen soll ein weiter Textbegriff zugrunde gelegt werden, wie ihn der Ungar Janos S. Petöfi formuliert hat: Er betrachtet Texte als einen Zeichenkomplex mit einem dominant verbalen Charakter. Im Zusammenhang mit diesem Textverständnis bestimmt er Textualität wie folgt: »Für uns ist Textualität keine inhärente Eigenschaft verbaler Objekte. Ein Produzent oder ein Rezipient betrachtet ein verbales Objekt als Text, wenn er glaubt, daß dieses verbale Objekt ein zusammenhängendes und vollständiges Ganzes ist, das einer tatsächlichen oder angenommenen kommunikativen Intention in einer tatsächlichen oder angenommenen Kommunikationssituation entspricht«. 18 Die Bestimmung der Eigenschaft der Textualität ist also keine dem Text inhärente Eigenschaft, sondern wird dem Text erst durch die Instanz eines Rezipienten bzw. eines 17 Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Assmann, Jan; Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis. Frankfurt am Main 1988. S. 9-19. Hier S. 9. 18 Petöfi, Janos S.; Olivi, Terry: Explikative Interpretation. Interpretatives Wissen. In: Dies. (Hg.): Von der verbalen Konstitution zur symbolischen Bedeutung - From Verbal Constitution to Symbolic Meaning. Hamburg 1988 (= Papiere zur Textlinguistik 62). S. 184-195. Hier S. 184. 32
Produzenten zugesprochen. Reformuliert aus der Sicht der Zeichenkonzeption: Ein Text ist ein komplexes,Z~hen, das einer gegebenen Textualitätserwartung entspricht. Dies impliziert jedoch_ nicht, -dass die Zuschreibung und Bestimmung von Textualität der totalen Subjektivität ilnneiriifällt, sondern sie ist soziokulturell vermittelt. Dies können auch rein formale Bedingungen sein, aber zugleich kann die Bestimmung, >was ein Text ist<, von Kultur zu Kultur variieren. Grundsätzlich wird damit der >Text< zu einer vom RezipientenlProduzenten zu definierenden Zeichenmenge, die allerdings erst dann sinnvoll zugeschrieben werden kann, wenn mindestens zwei Interpreten in einer gegebenen Kommunikationssituation einem gegebenen Objekt Textualität zusprechen. Diese Defmition überträgt Holthuis auf den Begriff Intertextualität: »Demzufolge muß auch Intertextualität verstanden werden als eine Texten nicht inhärente Eigenschaft, auch hier muß davon ausgegangen werden, daß intertextuelle Qualitäten zwar vom Text motiviert werden können, aber vollzogen werden in der Interaktion zwischen Text und Leser, seinen Kenntnismengen und Rezeptionserwartungen. Mit anderen Worten konstituiert sich Intertextualität als Relation zwischen Texten erst im Kontinuum der Rezeption und nicht, wie von ausschließlich textimmanent verfahrenden Konzeptionen angenommen, im und durch den Text selbst«. 19 Der aufinerksame Leser wird registrieren, dass hier nur noch von Rezeption die Rede ist, nicht mehr von Produktion. Dies lässt sich aufgrund obiger kulturwissenschaftlicher Darlegung allerdings rechtfertigen, denn die entsubjektivierte Form des kollektiven Gedächtnisses ist wesentlich ein Rezeptionsmechanismus. Zudem scheint es mir gewinnbringend, dass die formale semiotische Bestimmung der Intertextualität, nach der Intertextualität grundsätzlich eine universale semiotische Erscheinung ist, hier nachweislich eingeschränkt wird auf die Rezeptionsprozesse, die aber immer noch prozessual sind, also nicht zeitlich determinierbar. Aufgrund dieser Entscheidungen gelangt Holthuis dann zu ihrer Definition von Intertextualität »als Phänomen der TEXTVERARBEITUNG, abhängig von a) der (gegebenen oder angenommenen) >intertextuellen Disposition< des Textes zum einen und b) Aspekten einer >intertex,tuell gelenkten Textverarbeitung< zum anderen.«20 Im Rahmen dieser rezeptionsonentierten Bestimmung von Intertextualität erhält der Begriff der >intertextuellen Disposition< eine grundlegende Bedeutung: »Der Terminus >intertextuelle Disposition< soll kennzeichnen, daß im Text bestimmte Intertextualitätssignale vorliegen, die den Rezipienten, soweit er diese als solche erkennt, dazu veranlassen können, nach Relationen zu anderen Texten zu suchen«.21 Deutlich dürfte aus den Ausführungen geworden sein, dass ohne eine Texttheorie, die definiert, was ein Text ist, keine explizite Intertextualitätstheorie formuliert werden kann. Das Phänomen der Intertextualität wird erst dann in einem theoretischen Modus zugänglich, wenn es seiner theoretischen Naivität entkleidet ist. Positiv formuliert: Über Intertextualität lässt sich theoretisch erst reden, wenn die vorausgesetzte Texttheorie offen dargelegt wird. Jede Verhältnisbestimmung von Text und Intertextualität 19 Holthuis, Susanne: Intertextualität. Aspekte einer rezeptions orientierten Konzeption. Tübingen 1993 (= Stauffenburg Colloquium 28). S. 31. 20 Ebd. S. 32. 21 Ebd. S. 33. 33
bedarf deshalb immer einer expliziten Texttheorie. Ohne diese theoretische Explizierung wird die Verhältnisbestimmung dieser beiden Größen nicht gelingen und der Terminus >Intertextualität< immer ein schwammiger und diffuser Begriff in den mit Texten befassten Wissenschaften sein. Im Folgenden soll kurz dargelegt werden, warum diese texttheoretische Bestimmung der Intertextualität im Gefolge von Petöfi und Holthuis im Rahmen einer kulturwissenschaftlichen Semiotik (auf formaler Ebene) einen Gewinn darstellt. 1. Dieser Textbegriff ist losgelöst von der unmittelbaren Sprechsituation,'diese Loslösung ist gerade im heutigen Umgang mit antiken Texten unausweichlich, in der es keine Kopräsenz von Sprecher/Autor und HörerlLeser gibt. Zugleich geht diese Textbestimmung aber gerade nicht auf Kosten der Einbeziehung der kommunikativen Funktionen der Sprache, wie Linke und Nussbaumer im Zusammenhang mit diversen Intertextualitätsdefinitionen befürchten. 22 Diese kommunikative Funktion wird über den Begriff der Kommunikationssituation gesichert. Für die Intertextualitätstheorie heißt das: Sie ist auf keinen Fall zu beschränken auf vom Autor intendierte Intertextualitätssignale, sondern mittels der Rede von der >intertextuellen Disposition< lässt sich jenseits einer> Urheberschaft< die Rede von der Intertextualität in einer zeit- und raumdifferenten Kommunikationssituation aufrechterhalten. 2. Während der Text zwar im Sinne eines standby-Modus grundsätzlich objektivierbare Intertextualitätssignale aufweist, zeigt sich erst in der Rezeption, die immer abhängig von kulturellen Vorgaben ist, ob nach Relationen zu anderen Texten gesucht wird. 3. Zugleich fuhrt das Textverständnis von Petöfi über das philologische Textverständnis hinaus, nach dem eine sprachliche Äußerung in dem Moment zum Text wird, wo sie Objekt philologischer Arbeit wird. Nach dieser philologischen Textauffassung hat der Text im Primärhorizont sprachlicher Kommunikation zunächst einmal keinerlei natürliche Evidenz, sondern erst im Rahmen der Edition oder beispielsweise der Kommentierung. Von Texten spricht man erst im Sekundärhorizont einer philologischen Auslegungskultur. Hier wird das Wort Text zu einem Adelstitel der Tradition: Dieser Titel wird nur demjenigen Schriftwerk verliehen, das im Überlieferungsprozess zum Gegenstand textpflegerischer Behandlung geworden ist. Aus der philologischen Texttradition greift das Textverständnis von Petöfi den Gedanken auf, dass Text nicht jedes gegebene dominant verbale Objekt ist, sondern nur dasjenige, das man in einer Kommunikationssituation als solches bestimmt. Aber Petöfi koppelt den Textbegriff gerade an die Kommunikation. Während die Philologie mit ihrem Textverständnis dazu tendiert, als» Wächter der Überlieferung«23 zu dienen und durch ihre gezielte Text-
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Vgl. Linke, Angelika; Nussbaumer, Markus: Intertextualität. Linguistische Bemerkungen zu einem literaturwissenschaftlichen Konzept. In: Antos, Gerd; Tietz, Heike (Hg.): Die Zukunft der Textlinguistik. Traditionen, Transfonnationen, Trends. Tübingen 1997. S. 109-126. Hier S. 122. Assmann, Aleida; Assmann, Jan: Kanon und Zensur. In: Dies. (Hg.): Kanon und Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation 11. München 1987. S. 7-27. Hier S. 11.
pflege au~h ~ls »I~fo~atioh~filtt1~<~ m fungieren, wirbt die offene Bestimmung der KommumkattonssItuatton dafiir, Kultur als kollektives Gedächtnis nicht nur im Sinne eines Selektionsapparates zu verstehen, sondern dominant verbale Objekte auch dann als Texte ~~se~en, wenn dies gerad~ den I?stitutionen. entgegensteht. Anders gesagt: Da Textuahtat keme den verbalen Objekten mhärente EIgenschaft ist, ist der materiale Aspekt der Kultur, zu dem die Texte zählen, ein offener Raum. Das hat auch Konsequenzen für die Intertextualität: Mit diesem Textverständnis kann Intertextualität keineswegs nur eine rein literarische ästhetische Funktion sein, sondern wenn Intertextualität als ein Phänomen der Textverarbeitung zu verstehen ist hat sie sich auch für die Organisations formen und Institutionen zu interessieren, die' kulturell die jeweilige Rezeption determinieren. 4. Das Wort Text - von dem lateinischen Wort textus abstammend - scheint in an~ere? antiken Sprachen wie Griechisch, Hebräisch und beispielsweise Ägyptisch kein AqUlvalent zu haben. Hier wäre jede Intertextualitätstheorie sofort zum Scheitern verurteilt, ~enn sie nicht Texte als dominant verbale Zeichenkomplexe versteht, aber die Z~schrelbung von Textualität nicht als inhärente Eigenschaft des Textes auffasst. DamIt können auch Texte aus Kulturen, die keinen Begriff fur Text haben, klar als Texte bestimmt werden, bei gleichzeitiger Wahrung der kulturellen Differenz. Im bisherigen Verlauf dieses Aufsatzes wurde Intertextualität im Wesentlichen formal bestimmt und interdisziplinär in einer kulturwissenschaftlich orientierten Semiotik verortet. Sie wurde als eine semiotische Erscheinung begriffen, die darstellbar wird in der Dreidimensionalität von Syntagmatik, Semantik und Pragmatik. Als eine semiotische <:T~~ß.e wurde unter Einbezi~hung einer kulturwissenschaftlichen Perspektive Intertextuahtat 1m Zusa~enhang ~ll1t der Rede vom kollektiven Gedächtnis als ein partieller Kulturmecham~mus bestImmt, welcher sich manifestiert in den Transformationsprozessen der medIalen Ausdrucksformen (= Texte) einer Kultur. Um diese Transformationsprozesse beobachtbar zu machen, habe ich diese formale Bestimmung der Inter:textu~lität weiter ausdifferenziert, indem ich auf der Grundlage von Petöfis Textbegnff mIt den Worten von Holthuis Intertextualität als ein Phänomen der Textverarbeitung bestimmt habe. Dabei wurde eine Frage bisher nicht berührt: Warum überhaupt Intertextualität?
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Zeichen - Kultur - Text - Intertextualität und die Frage nach Bedeutung
Die Frage, die bei der Bestimmung des Verhältnisses von Text und Intertextualität bisher nicht beantwortet wurde, ist die folgende: Warum ist Intertextualität ein über Kulture? un~ Z~iten hinweg zu beobachtendes Phänomen? Der Beantwortung dieser Frage smd dIe Uberlegungen des letzten Abschnittes geschuldet. Kurz: Ich verstehe das Ph~nomen der Intertextualität als ein Phänomen, das der Generierung von Bedeutung dIent. Intertextualität ist nicht zu verstehen ohne die Berücksichtigung der Kate24
Posner, Roland: Kultur als Zeichensystem. Zur semiotischen Explikation kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe. In: Assmann, Aleida; Harth, Dietrich (Hg.): Kultur als Lebenswelt und als Monument. Frankfurt 1991. S. 37-74. Hier S. 55. 35
" gorie der Bedeutung. Deshalb muss als erstes geklärt werden, was überhaupt in einem kulturwissenschaftlichen semiotischen Paradigma >Bedeutung< ist. Die Frage nach der Bedeutung darf als eine markante und folgenreiche Innovation des 20. Jahrhunderts angesehen werden, die sich manifestiert in der Verlagerung des bis dahin vorherrschenden Interesses an erkenntnistheoretischen Fragen hin zu Bedeutungsfragen. 25 In den Mittelpunkt gerückt sind damit die bedeutun~sgenerierenden Funktionsweisen sprachlicher und nichtsprachlicher Zeichensysteme, 6 wobei gerade die Erforschung kultureller Voraussetzungen sich als äußerst gewinnbringend erwies. In den obigen Ausführungen haben wir Kultur als Zeichensystem bestimmt. Im Rahmen von Kultur kommt damit den bedeutungsgenerierenden Funktionsweisen dieses Zeichensystems eine herausragende Rolle zu, so dass die Kategorie der Bedeutung zu einer Fundierungskategorie avanciert. Bedeutung als Fundierungskategorie heißt zwar, 27 dass Bedeutung zu einer Grundkategorie im apriorischen Sinne wird. Kultur ist als Kultur nicht denkbar ohne die Kategorie der Bedeutung, so dass gesagt werden kann, dass Bedeutung jeder kulturellen Ausprägung vorgegeben ist, aber vorgegeben nur als Kategorie, nicht als bestimmter Inhalt. Dieses angesprochene Apriori der Bedeutung ist somit nicht zu verstehen, als ob eine bestimmte (und damit statische) Bedeutung in einer Kultur vorgegeben sei, die sich dann in verschiedenen Zeichensystemen artikuliert, sondern der Akt der Bedeutungskonstitution ist zu verstehen als die Transformation eines Zeichens in einen anderen Zeichenzusammenhang. In diesen entstandenen Zeichenzusammenhängen konstituiert sich Bedeutung nicht als zeittranszendente Vorgegebenheit, sondern als im Rahmen kultureller Aktivitäten konstituierte, die somit die 28 Zeichensysteme als historisch bedingte ausweist. Was also in biblischen Texten 25 Vgl. zu dieser These Amarsons, Johann P.: Praxis und Interpretation. Sozialpsychologische Studien. Frankfurt am Main 1988. S. 204f. Vgl. auch Hacking, lan: Die Bedeutung der Sprache fUr die Philosophie. KönigsteiniTs. 1984. S. 5lf., der darauf hinweist, dass die Frage der Bedeutung keineswegs als ein rein philosophisches oder linguistisches Problem angesehen werden darf: »Wir vergessen leicht, daß zur Zeit Freges Bedeutungen das theoretische Denken beherrschten. Damals verfUgte fast jede Disziplin über eine Untersuchung, die auf Bedeutungen basierte, oder sogar über eine Theorie der Bedeutungen. [... ] Max Weber, der große Begründer der modemen Soziologie, beginnt seine Analyse mit einer Unterscheidung zwischen objektiven und subjektiven Bedeutungen einer Handlung. Freuds Psychoanalyse ist nichts anderes als eine Theorie der Bedeutung. Und so fort«. " 26 Der Begriff des >Zeichensystems< soll an dieser Stelle darauf hinweisen, dass der Akt der Bedeutungskonstitution sich nicht auf das Seiende bezieht. Das bloß Seiende hat keine Bedeutung, sondern nur Zeichen haben Bedeutung. Nur das Zeichen mit seiner Fähigkeit, auf etwas hinzuweisen, was es selbst nicht ist, kann eine Bedeutung haben. 27 Vertreten wird hier ein dynamisches Kulturverständnis, demzufolge >Bedeutung< durch kulturelle Aktivität stets neu konfiguriert wird, sodass es zu einer wechselseitigen oder dialektischen Korrelation von System und Prozess kommt. 28 In diesem Sinn lassen sich auch die Erwägungen von Jan Assmann integrieren, der im Kulturbegriff drei Themenkomplexe verbunden sieht: den Komplex der Erinnerung, den Komplex der Identität und den Komplex der kulturellen Kontinuität: »Jede Kultur bildet etwas aus, das man ihre konnektive Struktur nennen könnte. Sie wirkt verknüpfend und verbindend, und zwar in zwei Dimensionen: der Sozialdimension und der Zeitdimension«. (Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. 2. Aufl. München 1999. S. 16). 36
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überliefert ist, sind nicht die Bedeutungen, sondern Zeichen bzw. Zeichenzusammenhänge, in denen sich kulturell konstituierte Bedeutung (verstanden als Kategorie) materialisiert hat. Um· diesen Zeichen eine Bedeutung attribuieren zu können, muss wiederum im Akt der Bedeutungskonstitution eine Transformation in andere Zeichen(zusammenhänge) stattfinden. Da diese Transformationen im Rahmen· der Geschichte der Kultur stattfinden, wird die Generierung unter dieser Berücksichtigung zu einem per definitionem unendlichen Prozess der Konstitution von Bedeutung, allerdings nicht verstanden als eine Reihe immer anderer Artikulationen einer doch immer gleich bleibenden Bedeutung. Fazit: »[K]ulturelle Prozesse lassen sich nicht anders denn als Prozesse der Konstitution von Bedeutung, die als ProzeS8e der Transformation von Zeichenzusammenhängen in andere Zeichenzusammenhänge vollzogen werden, adäquat bestimmen und beschreiben«.29 Dies heißt für eine Intertextualitätstheorie, dass Intertextualität als partieller Kulturmechanismus genau diese Transformationsprozesse von einem Zeichenzusammenhang in einen anderen vollzieht, um Bedeutung zu generieren. Formal können diese Transformationsprozesse folgendermaßen bestimmt werden: 30 Ein Text als ein Zeichenzusammenhang nimmt Bezug auf einen anderen Text als Zeichenzusammenhang. Ein Text als ein Zeichenzusammenhang nimmt Bezug auf mehrere Texte als Zeichenzusammenhang. Mehrere Texte als ein Zeichenzusammenhang nehmen Bezug auf einen Text als Zeichenzusammenhang. Mehrere Texte als ein Zeichenzusammenhang nehmen Bezug auf mehrere Texte als Zeichenzusammenhang. Dabei ist immer davon auszugehen, dass die Konstitution von Bedeutung als Transformation eines textuellen Zeichens/Zeichenzusammenhangs in einen anderen Zeichenzusammenhang im Rahmen einer Intertextualitätstheorie als ein Phänomen der Textverarbeitung zu verstehen ist, wobei sich der textuelle Zeichenzusammenhang durch eine intertextuelle Disposition auszeichnen muss, damit die Transformationsprozesse, die einen neuen Zeichenzusammenhang generieren, in den Akten der Rezeption zugänglich werden. Unter Rückgriff auf Holthuis' Überlegungen kann deshalb gesagt werden, dass aufgrund der intertextuellen Disposition die Bedeutungskonstitution motiviert wird, die dann im Rezeptionskontinuum als solche identifiziert wird. 31 Die Aufgabe einer so verstandenen Intertextualitätstheorie, der es um die Bestimmung der Kategorie Bedeutung geht, sehe ich in zwei wesentlichen Aspekten: a) Die Intertextualitätstheorie hat sich die Beschreibung und Interpretation der verschiedenen Transformationsprozesse, in denen ein Zeichenzusammenhang in einen anderen transformiert wird, zur Aufgabe zu machen. b) Die Intertextualitätstheorie hat sich die Be29 Fischer-Lichte, Erika: Bedeutung. Probleme einer semiotischen Hermeneutik und Ästhetik. München 1979. S. 13. 30 Diese formale Einteilung entnehme ich Orosz, Magdolna: Intertextualität in der Textanalyse. Wien 1997. S. 28. 31 Vgl. Holthuis, Susanne: Intertextualität. Aspekte einer rezeptionsorientierten Konzeption. Tübingen 1993 (= Stauffenburg Colloquium 28). S. 249. 37
schreibung und Interpretation der verschiedenen Zeichenzusammenhänge, die Ausgangspunkt bzw. Resultat derartiger Transformationsprozesse sind, zur Aufgabe zu machen. Mit dieser Bestimmung grenze ich mich zugleich vom Entwurf Renate Lach32 manns ab. Lachmann unterscheidet zwischen drei verschiedenen, sich teilweise überschneidenden intertextuellen und somit mnemonischen Verfahren: Partizipation, Tropik und Transformation. Transformation ist bei ihr das intertextuelle Verfahren des Umschreibens gegenüber dem Weiter- bzw. dem Widerschreiben. Demgegenüber vergrundsätzliche ich den Prozess der Transformation, der fUr Generierung von Bedeutung als grundlegend zu bestimmen ist. Während bei Lachmann die einzelnen intertextuellen Verfahren allein schon durch ihre postulierte Unterscheidbarkeit eine gewisse Wertung erhalten, scheint mir die alleinige Rede von Transformationsprozessen neutral genug, um das Phänomen der Intertextualität in kulturellen Bezügen ausweisbar zu machen. Die Frage bleibt allerdings, ob diese Transformationsprozesse nach bestimmten Verfahren gebildet werden. Ich bin mir nicht sicher, ob solch ein formales universales Verfahren zu postulieren ist, möchte aber jemanden nennen, der überzeugt ist, diese Transformationsprozesse näher bestimmen zu können. Nelson Goodman spricht zwar nicht von Transformationsprozessen, sondern von Weisen der Welterzeugung, worunter er jene formalen Prozesse versteht, »die beim Aufbau einer Welt aus einer anderen Welt im Spiel sind«.33 Als Weisen der Welterzeugung bzw. als Transformationsprozesse bestimmt er: Komposition und Dekomposition, Gewichtung, Ordnen, Tilgung und Ergänzung sowie Deformation. Mit diesen Weisen der Welterzeugung wäre es möglich, das intertextuelle Verfahren, dem Transformationsprozesse von Zeichenzusammenhängen zugrunde liegen, noch weiter fiir die intertextuelle Arbeit zu systematisieren. Was diese formale Bestimmung der Transformationsprozesse leistet, muss sich in der konkreten Anwendung erst noch zeigen. Für anregend halte ich diesen Versuch auf jeden Fall. Wichtig ist mir abschließend noch einmal hervorzuheben, dass die Kategorie der Bedeutung im Rahmen dieser Transformationsprozesse nur darstellbar ist mittels des semiotisch-textuellen Bezugrahmens, in dem - und einzig in dem - Bedeutung zu einem Begriff aus dem Bereich der Objektsprache wird, mit der Konsequenz, dass die Semiotik nicht die Theorie der Bedeutung ist, vielmehr ist der Ausdruck >Bedeutung< mit Hilfe der Semiotik zu erklären. Angewandt auf eine Intertextualitätstheorie heißt das, dass die bedeutungsgenerierenden Funktionsweisen der intertextuellen Prozesse nur darstellbar sind mit Hilfe der kategorialen dreidimensionalen Semiotik nach Peirce und Morris. Bedeutung ist nur in der Dreidimensionalität der sich einander bedingenden und beeinflussenden semiotischen Dimensionen - der syntagmatischen, der semantischen und pragmatischen - darstellbar. Hieraus ergibt sich fiir eine Intertextualitätstheorie, die Intertextualität als ein Phänomen der Textverarbeitung versteht und bei der es zentral um die Generierung von Bedeutung geht, dass die Kategorie der Bedeutung als eine semiotische Kategorie aufzufassen ist. Infolgedessen müssen die sie konstituierenden Regeln aus allen drei semiotischen Dimensionen sein:
aus der syntagmatischen, der semantischen und der pragmatischen. Wenn also Intertextualität eine semiotische Erscheinung ist und auch Bedeutung nur darstellbar ist mittels der Semiotik; dann ist nun der Punkt erreicht, um zu den Ausgangsüberlegungen zurückzukehren. Nicht nur hinsichtlich des Dass der Intertextualität, sondern auch hinsichtlich des Warum der Intertextualität bietet das semiotische Paradigma eine interdisziplinäre Ausgangsbasis zur Beantwortung der im Rahmen einer Intertextualitätstheorie relevanten Fragen. In der hier vorgeschlagenen Bestimmung der Intertextualität dürfte deutlich geworden sein, dass dieses Phänomen keineswegs nur für eine gewisse >scientific community< von Relevanz ist, aber dass dieser in der hier vorgeschlagenen semiotischen Bestimmung von Intertextualität eine spezifische Rolle zukommt. Denn sie ist nicht einfach Beobachterin intertextueller Verfahren, sondern sie wird zu einer >Mitspielerin< bedeutungsgenerierender Prozesse. Dadurch ist sie nicht nur verantwortlich für die Ergebnisse, die sie formuliert, sondern auch fiir die Fragen, die sie stellt.
32 V gl. Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Modeme. Frankfurt am Main 1990. S. 65-87.
33 Goodman, Nelson: Weisen derWelterzeugung. Frankfurt am Main 1984. S. 19. 38
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Achim Förster (Jura)
Zwischen freier Benutzung, Zitat und Plagiat. Urheberrechtliche Grundfragen zur Intertextualität
Intertextuelle Relation als urheberrechtsrelevanter Vorgang Urheber genießen im deutschen Recht einen weitreichenden gesetzlichen Schutz für ihre kreative Tätigkeit. Alle Werke der Literatur, Wissenschaft und Kunst, di1e als »persönliche geistige Schöpfungen« gelten, fallen unter d~s l!rheberrechtsge.s~tz ~d vermitteln ihrem Schöpfer eine weitgehende und ausschheßhche Rechtspostt1on. Dte Schwelle vom nicht geschützten - »gemeinfreien« - zum urheberrechtlich geschützten Werk wird von der Rechtsprechung dabei denkbar niedrig gezogen und gilt in den meisten Fällen bereits dann als überschritten, wenn der Schöpfer einen beliebigen geistigen Inhalt individuell in einer wahrnehmbaren Form ausdrückt: Auf ein.e Regis~e rung oder sonstige Formalien kommt es dabei genauso wemg an WIe auf eme besondere »Gestaltungshöhe« in Form von künstlerischer oder ästhetischer Qualität, so dass auch die so genannte »kleine Münze«, also ein Werk mit geringer oder manchmal 2 kaum noch wahrnehmbarer Individualität, rechtlichen Schutz genießt. Als Folge dieser niedrigen Schutzschwelle findet das Urheberrechtsgesetz umfassende Anwendung auf das kreative Wirken und erfasst weitgehend alle individuellen Schöpfungen. Vom Urheberrechts schutz ausgeklammert werden allerdings die in das Werk integrierten gemeinfreien Elemente. Gedanken, Lehren und Theorien sind und bleiben ?a~it .urheberrechtlich nicht monopolisierbares Gemeingut und dürfen auch ohne Emwllhgun~ des Schöpfers zum Gegenstand freier geistiger Auseinandersetzung gemacht werden; gleiches gilt für die bei der Werkschöpfung eingesetzte Methodik sowie rur Stil, Ma4 nier und Konzept des SChöpfers. Soweit an einem Werk ein Urheberrecht besteht, schützt dieses zum einen den Schöpfer in seinen geistig-persönlichen Beziehungen zum Werk, gewährt ihm zu~ 1
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Vgl. § 2 I, nUrhG; diese und weitere relevante Vorschriften des Urheberrechtsgesetzes . sind im Anhang zu diesem Beitrag auszugsweise abgedruckt. Vgl. Bundesgerichtshof, Urteil vom 29.09.1980 (Az.: I ZR 17/78). In: Gewerbhcher Rechtsschutz und Urheberrecht 1981. S. 267 ff. - Dirlada; auführlich zum Schutz der »kleinen Münze« sowie zu den Ausnahmen siehe Loewenheim, Ulrich: Kommentierung zu § 2 UrhG. In: Schricker, Gerhard (Hg.): Urheberrechtsgesetz. 3. Aufl. München 2006 § 2 Rz.38. Vgl. Bullinger, Winfried: Kommentierung zu § 2 UrhG. In: Wandtke, ~-Axel; BuUinger, Winfried (Hg.): Praxiskommentar zum Urheberrecht. 2. Aufl. München 2006. § 2 Rz.39. Vgl. Bundesgerichtshof, Urteil vom 08.06.1989 (Az.: I ZR 135/87). In: BGHZ - Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Zivilsachen, Band 107. S. 384 ff.; Rehbinder, Manfred: Urheberrecht. 14. Aufl. München 2006. Rz. 149.
anderen dessen weitgehend exklusive wirtschaftliche VerwertungS und verleiht ihm zu / diesem Zweck zwei Kategorien ausschließlicher Rechte: Urheberpersönlichkeitsrechte, etwa auf Anerkennung der Urheberschaft, 6 sowie Verwertungsrechte, etwa das Vervielfaltigungs- oder Verbreitungsrecht. 7 Werden diese exklusiven Positionen widerrechtlich verletzt, so steht dem Urheber oder demjenigen, dem der Urheber ein Nutzungsrecht an seinen Werken eingeräumt hat, ein Anspruch auf Beseitigung der Beeinträchtigung, Unterlassung drohender weiterer Verletzungen und - bei vorsätzlichem oder fahrlässigem Handeln - auf Schadenersatz zu. 8 Konsequenz dieser starken Stellung des Urhebers ist die weitgehende Verrechtlichung intertextueller Bezugnahme. Insbesondere die wörtliche, aber auch die verändernde oder kontextuelle Übernahme fremder Werke oder Werkteile stellt nach dem oben Gesag~n eine potentielle Verletzung der ausschließlichen Rechte des Urhebers dar. Gleichwohl steht das Urheberrecht derartigen Relationen keinesfalls feindlich gegenüber. In dem Bewusstsein, dass der Rückgriff auf bestehende Werke einen wichtigen, teilweise sogar wesentlichen Teil des Schöpfungsvorgangs ausmachen kann und das Urheberrecht geistiges Schaffen nicht unnötig erschweren sol1/ hat der Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zur Einbeziehung fremder Werke vorgesehen. Diese sollen im Folgenden erläutert, illustriert und abgegrenzt werden, wobei sich als Systematisierung und vorgreifende Begriffsklärung eine Einteilung in drei Gruppen anbietet: Deren erste Variante umfasst die direkte, unbearbeitete und als solche gekennzeichnete Übernahme fremder Textstellen, mithin das klassische Zitat; in der zweiten Fallgruppe werden alle Umgestaltungen zusammengefasst, bei denen das vorbenutzte Werk zwar erkennbar, nicht aber wörtlich übernommen wird; als dritte Gruppe bleibt schließlich das Plagiat, also die Anmaßung eigener Urheberschaft an einem fremden Werk.
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Die Zitierfreiheit (§ 51 UrhG) als Urheberrechts schranke
Die als solche gekennzeichnete direkte und unbearbeitete Übernahme fremder Texte stellt immer eine Vervielfaltigung, meist eine Verbreitung und häufig - etwa im Fall des Vortrags - eine öffentliche Wiedergabe des Bezugswerkes dar und greift damit in das Urheberrecht des Erstautors, genauer gesagt in dessen Verwertungsrechte, ein. Unzulässig werden diese Eingriffe jedoch erst dann, wenn sie widerrechtlich geschehen, wenn sie also - anders gewendet - nicht von einer der so genannten Urheberrechtsschranken gedeckt sind. Das Urheberrechtsgesetz sieht in seinen §§ 44a ff. eine Vielzahl derartiger Schranken vor, darunter auch den auf Zitate zugeschnittenen § 51 UrhG. 10 Zwischen wissenschaftlichem Großzitat (§ 51 Nr. 1 UrhG), Kleinzitat (§ 51 Nr. 2 UrhG) und Musikzitat (§ 51 Nr.3 UrhG) unterscheidend, ermöglicht das Gesetz S Siehe § 11 UrhG; abgedruckt im Anhang. Siehe § 13 UrhG; abgedruckt im Anhang. Siehe §§ 15 I und 23 UrhG; abgedruckt im Anhang. S Siehe § 97 I UrhG; abgedruckt im Anhang. 9 Vgl. zu dieser gesetzgeberischen Intention Bundestags-Drucksache IV1270. S. 31; Brauns, Christian: Die Entlehnungsfreiheit im Urheberrechtsgesetz. Baden-Baden 2001. S. 9. 10 Abgedruckt im Anhang. 41
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dabei Übernahmen fremder Werke bzw. Werkteile zur Unterstützung eigener Aussagen des Zweitautors und zur geistigen Auseinandersetzung mit den Gedanken oder ästhetischen Aussagen des Bezugswerkes (sog. »Belegfunktion« des Zitats). 11 Allen Zitatformen gemeinsam ist zunächst das Erfordernis der Selbständigkeit des zitierenden Werkes. Um in den Genuss der Zitierfreiheit zu kommen, muss der Beitrag des Bezug nehmenden Autors selbst die Grenze der Schutzfahigkeit überschreiten und zudem ein vom Bezugstext unabhängiges Werk darstellen. 12 In Anbetracht der bereits beschriebenen denkbar niedrigen Schwelle zum Urheberrechtsschutz kommt dabei insbesondere der zweiten Voraussetzung praktische Bedeutung zu. Der Begriff der Unabhängigkeit ist dabei nicht kontextuell, sondern urheberrechtlich in dem Sinne zu verstehen, dass das zitierende Werk maßgeblich auf einer eigenen kreativen Leistung des zitierenden Autors beruht und auch dann noch als eigenständige Schö~fung bestehen bliebe, wenn die übernommenen Textstellen hinweggedacht würden. 3 Erschöpft sich etwa der Beitrag des Zweitautors in einer Zusammenstellung fremder Aussagen als »Handbuch moderner Zitate«,14 oder wirkt das zitierende Werk im Verhältnis zu den Zitaten lediglich als Nebensache,15 so fehlt es an der Unabhängigkeit des Zweitwerkes und die Bezugnahme ist folglich nicht mehr von der Zitierfreiheit gedeckt. Des weiteren werden durch den Begriff der »Unabhängigkeit« jene Werke von der Zitierfreiheit ausgeschlossen, die eine Veränderung des Ausgangswerkes beinhalten. 16 Auf diese Weise wird zugleich das Zitat von der Umgestaltung abgegrenzt. J
Eine weitere gemeinsame Voraussetzung aller Zitatkategorien besteht darin, dass eine unzumutbare Beeinträchtigung der Interessen des Erstautors zu vermeiden ist. 17 Unzulässig ist dabei insbesondere die so genannte »Substitutionskonkurrenz«, bei der durch das Zitat bereits so viel vom Inhalt des Bezugswerkes mitgeteilt' wird, dass die
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Vgl. ausfiihrlieh zum Zitatzweck Dreier, Thomas: Kommentierung zu § 51 UrhG. In: Ders.; Schulze, Gemot: Urheberrechtsgesetz. 2. Aufl. München 2006. § 51 Rz. 3 f. Vgl. Götting, Horst-Peter: Einzelfälle der Urheberrechts schranken. In: Loewenheim, UIrich (Hg.): Handbuch des Urheberrechts. München 2003. § 31 Rz. 132 f. Vgl. Schricker, Gerhard: Kommentierung zu § 51 UrhG. In: Ders. (Hg.): Urheberrecht. Kommentar. 2. Aufl. München 1999. § 51 Rz. 22; UImer, Eugen: Urheber- und Verlagsrecht. 3. Aufl. Berlin/Heidelberg/New York 1980. S. 312; Brauns, Christian: Die Entlehnungsfreiheit im Urheberrechtsgesetz. Baden-Baden 2001. S. 35. Vgl. Bundesgerichtshof, Urteil vom 22.09.1972 (Az.: I ZR 6/71). In: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 1973. S. 216 ff. - Handbuch moderner Zitate. Vgl. Bundesgerichtshof, Urteil vom 30.06.1994 (Az.: I ZR 32/92). In: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 1994. S. 800 (802) - Museumskatalog. Dreier, Thomas: Kommentierung zu § 51 UrhG. In: Ders.; Schulze, Gemot: Urheberrechtsgesetz. 2. Aufl. München 2006. § 51 Rz. 7; Götting, Horst-Peter: Einzelfälle der Urheberrechtsschranken. In: Loewenheim, Ulrich (Hg.): Handbuch des Urheberrechts. München 2003. § 31 Rz. 133. Diese Voraussetzung findet zwar im Gesetzestext keine Stütze, ist heute aber als >>ungeschriebenes Korrektiv« (Schricker, Gerhard: Kommentierung zu § 51 UrhG. In: Ders. [Hg.]: Urheberrecht. 3. Aufl. München 2006. § 51 Rz.24) weitgehend anerkannt; siehe auch Götting, Horst-Peter: Einzelfälle der Urheberrechts schranken. In: Loewenheim, Ulrich (Hg.): Handbuch des Urheberrechts. München 2003. § 31 Rz. 135.
Lektüre des zitierenden Werkes den Rückgriff auf das Grundwerk für den verständi. gen Leser überflüssig macht. 18 Die weiteren Erfordernisse zulässiger Zitierung regelt das Urheberrechtsgesetz getrennt nach den einzeln~n Zitatkategorien. Für die Übernahme ganzer Werke als wissenschaftliches Großzi(q.J (§ 51 Nr. 1 UrhG) ist danach erforderlich, dass »einzelne Werke nach dem Erscheinen in ein selbständiges wissenschaftliches Werk« zum Zwecke der »Erläuterung des Inhalts« aufgenommen werden. Die Pflicht des Zweitautors, das Erscheinen des Bezugswerkes 19 abzuwarten, begründet sich mit der Überlegung, dass dem Schöpfer des Grundwerkes die Entscheidung überlassen bleiben soll, ob und wann sein Werk mit allen damit verbundenen tatsächlichen und rechtlichen Konsequenzen an die Öffentlichkeit gelangt. 20 Über das Kriterium der Wissenschaftlichkeit gibt das Urheberrechtsgesetz selbst zwar keine Auskunft, Rechtsprechung und -wissenschaft sind sich aber einig, dieses Kriterium nicht institutionell als klassische (Hochschul-) Forschung, sondern funktionell als methodisch-systematisches Erkennt21 nisstreben zu verstehen. Erfasst werden neben den ausschließlich an Fachkreise gerichteten Publikationen daher auch populärwissenschaftliche Werke, nicht jedoch 22 Belletristik oder politische Darstellungen. § 51 Nr. 1 UrhG engt schließlich den mit dem wissenschaftlichen Großzitat verfolgten Zweck auf die »Erläuterung des Inhalts«, und zwar des zitierenden Werkes, ein. 23 Kann eine Entlehnung als wissenschaftliches Großzitat eingeordnet werden, so ist die Übernahme kompletter »einzelner Werke«24 zulässig. Typische Fälle für derartige Bezugnahmen sind etwa einzelne Gedichte in einer Literaturgeschichte, Abbildungen
18 Vgl. Bundesgerichtshof, Urteil vom 23.05.1985 (Az.: I ZR 28/83). In: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 1986. S. 59 ff. - Geistchristenturn; Götting, Horst-Peter: Einzelfälle der Urheberrechtsschranken. In: Loewenheim, Ulrich (Hg.): Handbuch des Urheberrechts. München 2003. § 31 Rz. 135. 19 Ein Werk ist gern. 6 11 UrhG erschienen, »wenn mit Zustimmung des Berechtigten Vervielfältigungsstücke des Werkes nach ihrer Herstellung in genügender Anzahl der Öffentlichkeit angeboten oder in Verkehr gebracht worden sind.« 20 Vgl. Brauns, Christian: Die Entlehnungsfreiheit im Urheberrechtsgesetz. Baden-Baden 2001. S. 55; siehe dazu - in anderem Kontext - auch Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 07.07.1971 (Az.: 1 BvR 765/66). In: Amtliche Sammlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Band 31. S. 229 ff. (insb. S. 242). 21 Vgl. Dreier, Thomas: Kommentierung zu § 51. In: Ders.; Schulze, Gemot: Urheberrechtsgesetz. 2. Aufl. München 2006. § 51 Rz. 8; Götting, Horst-Peter: Einzelfalle der Urheberrechtsschranken. In: Loewenheim, Ulrich (Hg.): Handbuch des Urheberrechts. München 2003. § 31 Rz. 139. 22 Vgl. Dreier, Thomas: Kommentierung zu § 51 UrhG. In: Ders.; Schulze, Gemot: Urheberrechtsgesetz. 2. Aufl. München 2006. § 51 Rz. 8; Brauns, Christian: Die Entlehnungsfreiheit im Urheberrechtsgesetz. Baden-Baden 2001. S. 42. 23 VgL Schricker, Gerhard: Kommentierung zu § 51 UrhG. In: Ders. (Hg.): Urheberrecht. Kommentar. 3. Aufl. München 2006. § 51 Rz. 39. 24 Zu der umstrittenen, in diesem Beitrag aber ausgesparten Frage, wie die Beschränkung der Zitierfreiheit auf »einzelne Werke« zu verstehen ist, vgl. Schricker, Gerhard: Kommentierung zu § 51 UrhG. In: Ders. (Hg.): Urheberrecht. 3. Aufl. München 2006. § 51 Rz. 34 ff. 43
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einzelner Werke in einer Kunstgeschichte oder der Abdruck von historischen (aber noch urheberrechtlich geschützten) Texten in geschichtlichen Werken. 25 Das Kleinzitat nach § 51 Nr. 2 UrhG stellt zwar weniger strenge Erfordernisse an die Entlehnung, erlaubt aber im Gegensatz zum wissenschaftlichen Großzitat im Regetfall nicht die Übernahme gesamter Werke. Die gelockerten Entlehnungsvoraussetzungen zeigen sich dabei bereits in den Anforderungen an das Erstwerk, welches nicht 26 erschienen, sondern nur »veröffentlicht« sein muss. Darüber hinaus geht der nach § 51 Nr. 2 UrhG zulässige Zitatzweck insoweit über den des Großzitats hinaus, als nicht nur die inhaltliche Erläuterung des Bezugswerkes zum Gegenstand der Entlehnung gemacht werden darf, sondern auch weitergehende Übernahmen, etwa zur Verdeutlichung einer Stimmung, als künstlerisches Stilmittel oder zur Ehrerbietung 27 (Hommage), als zulässig angesehen werden. Die in § 51 Nr.2 UrhG vorgesehene ausdrückliche Einschränkung auf »Sprachwerke« als zitierende Werke hat im Laufe der Zeit mehrere Relativierungen erfahren und praktisch stark an Bedeutung verloren. Nachdem die Rechtsprechung die Urheberrechts schranke für Kleinzitate im Wege der Analogie auch für Filmwerke anwendbar erklärt hat,28 wird in der juristischen Literatur eine Ausdehnung auch auf andere, wenn nicht sogar alle Werkarten für zulässig gehalten. 29 Häufiger Problempunkt im Zusammenhang mit dem Kleinzitat nach § 51 Nr. 2 UrhG ist die Frage nach dessen zulässigem Umfang. Der vom Urheberrechtsgesetz gewählte Begriff »Stellen eines Werkes« ist eher vage und lässt viel Spielraum zur Interpretation. Die Rechtsprechung nimmt hierbei eine umfassende Abwägung der Interessen des Erst- und Zweitau tors vor und betrachtet zum einen die absolute Länge des Zitats, zum anderen dessen Umfang in Relation zum Bezugswerk. 30 Als grobe und auf den ersten Blick einleuchtende Faustformel kann dabei gelten, dass aus längeren
25 Vgl. Rehbinder, Manfred: Urheberrecht. 14. Aufl. München 2006. Rz.489; Dreier, Thomas: Kommentierung zu § 51 UrhG. In: Ders.; Schulze, Gemot: Urheberrechtsgesetz. 2. Aufl. München 2006. § 51 Rz. 13. 26 Gern. 6 I UrhG ist ein Werk veröffentlicht, wenn es »mit Zustimmung des Berechtigten der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist.« 27 Vgl. Dreier, Thomas: Kommentierung zu § 51 UrhG. In: Ders.; Schulze, Gemot: Urheberrechtsgesetz. 2. Aufl. München 2006. § 51 Rz. 15; zur Zulässigkeit künstlerischer Zitate vgl. Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 29.06.2000 (Az.: 1 BvR 825/98). In: Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht 2000. S. 867 ff. und hierzu Becker, Bernhard von: Zitat und Kunstfreiheit. Das »Brecht Zitate«-Urteil des Bundesverfassungsgerichts. In: Zeitschrift fii.r Urheber- und Medienrecht 2000. S. 864 ff. 28 Vgl. Bundesgerichtshof, Urteil vom 02.12.1986 (Az.: I ZR 189/84). In: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 1987. S. 362 ff. - Filmzitate. 29 Ausführlich Brauns, Christian: Die Entlehnungsfreiheit im Urheberrechtsgesetz. BadenBaden 2001. S. 99 ff.; für eine Anwendung auf alle Werkkategorien Dreier, Thomas: Kommentierung zu § 51 UrhG. In: Ders.; Schulze, Gemot: Urheberrechtsgesetz. 2. Aufl. München 2006. § 51 Rz. 23. Rehbinder, Manfred: Urheberrecht. 14. Aufl. München 2006. Rz.491. 30 Vgl. Dreier, Thomas: Kommentierung zu § 51 UrhG. In: Ders.; Schulze, Gemot: Urheberrechtsgesetz. 2. Aufl. München 2006. § 51 Rz. 14. 44
Werken umfangreicher zitiert werden darf als aus kürzeren. 3l Diese arithmetische Grundregel wurde allerdil1gs vom Bundesgerichtshof in 'der bekannten Entscheidung zum Verkehrskinderlied relativiert. 32 Das Gericht sah es in diesem viel beachteten Urteil als zulässig an, die erste Strophe eines insgesamt nur dreistrophigen Liedes und damit ein Drittel des Bezugswerkes als Kleinzitat zu verwenden. Maßgeblicher Gesichtspunkt für die Entscheidung des Bundesgerichtshofs war dabei der Gedanke, dass nicht zuletzt aufgrund des geringen Gesamtumfangs des Liedes die Übernahme der Strophe aus Sicht des Zweitautors notwendig war und die Interessen des Erstautors zudem nicht unzumutbar beeinträchtigt wurden. 33 In der Folge wurde - insbesondere bei der Bezugnahme auf Bildwerke - von der Rechtsprechung im Ausnahmefall sogar die Zitierung ganzer Werke als Kleinzitat zugelassen. 34 Der in § 51 Nr.2 UrhG verwendete Begriff »Stellen eines Werkes« darf demnach nicht statisch verstanden werden, sondern bedarf einer Anpassung an die Umstände des jeweiligen Einzelfalles. Der Vollständigkeit halber sei noch auf das in § 51 Nr. 3 UrhG geregelte Musikzitat hingewiesen. Danach ist es zulässig, einzelne Stellen eines Musikwerkes - also etwa Motive, Themen oder Melodien - in einem zweiten Musikwerk anzuführen. Dieses muss jedoch - wie bei den anderen Zitatkategorien - ein selbständiges sein, womit Variationen und ähnliche Bearbeitungen nicht durch die Zitierfreiheit gedeckt sind und § 51 Nr. 3 UrhG damit stark an praktischer Bedeutung verliert. 35 Nach geltender Rechtslage (Juli 2007) handelt es sich bei den in § 51 UrhG aufgeführten Zitatkategorien noch um eine abschließende Aufzählung. § 51 UrhG wird allerdings im Zuge der Urheberrechtsreform (sog. »zweiter Korb«) neu gefasst. 36 Die
31 Vgl. Götting, Horst-Peter: Einzelfalle der Urheberrechtsschranken. In: Loewenheim, UIrich (Hg.): Handbuch des Urheberrechts. München 2003. § 31 Rz. 147. 32 Vgl. Bundesgerichtshof, Urteil vom 17.10.1958 (Az.: I ZR 180/57). In: BGHZ - Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen, Band 28. S. 241 ff.; die Entscheidung bezieht sich auf den damaligen § 19 I Nr. 1 LitUrhG, die Rechtslage hat sich in diesem Punkt jedoch seitdem nicht geändert. 33 Vgl. Bundesgerichtshof, a.a.O. S. 242 ff.; derart umfassende Kleinzitate werden auch als »großes Kleinzitat« bezeichnet; siehe dazu Dreier, Thomas: Kommentierung zu § 51 UrhG. In: Ders.; Schulze, Gemot: Urheberrechtsgesetz. 2. Aufl. München 2006. § 51 Rz. 24 und ausführlich Brauns, Christian: Die Entlehnungsfreiheit im Urheberrechtsgesetz. Baden-Baden 2001. S. 138 ff. 34 Dies gilt insbesondere dann, wenn das verwendete Bild Gegenstand geistiger und/oder politischer Auseinandersetzung ist. Siehe etwa Hanseatisches Oberlandesgericht, Urteil vom 27.07.1989 (Az.: 3 U 29/89). In: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 1990. S. 36 f.; Hanseatisches Oberlandesgericht, Urteil vom 25.02.1993 (Az.: 3 U 183/92). In: 35 Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 1993, S. 666ff. - Altersfoto. Vgl. Rehbinder, Manfred: Urheberrecht. 14. Aufl. München 2006. Rz. 493; Lüft, Stefan: ~ommentierung zu § 51 UrhG. In: Wandtke, Artur-Axel; Bullinger, Winfried (Hg.): Praxlskommentar zum Urheberrecht. 2. Aufl. München 2006. § 51 Rz. 18; zu dem in § 24 11 36 UrhG enthaltenen sog. »starren Melodieschutz« siehe unten sub 3. Abdruck der Vorschrift nach der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zum Entwurf eines zweiten Gesetzes zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft (Bundestagsdrucksache 16/5939; vom Bundestag verabschiedet am 5. Juli 2007) im Anhang. 45
Zitatkategorien bleiben nach der geplanten Änderung zwar erhalten, werden aber in ihrer Bedeutung zu bloßen Beispielen herabgestuft. Es ist zu erwarten, dass die eben beschriebene Rechtslage durch die Reform in ihren Grundzügen unverändert bleibt, dass die Gerichte aber zugleich etwas mehr Spielraum bei der Anwendung und Auslegung der Zitierfreiheit haben werden.
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Zulässigkeitsvarianten verändernder Übernahme
Während alle Formen der Zitate jeweils die unveränderte und erkennbare Übernahme fremder Werkteile beinhalten, können entlehnendes Werk und entlehnte Werksubstanz auch miteinander verschmelzen. Derartige Umgestaltungen sind regelmäßig mit einer Veränderung des Ausgangswerkes verbunden und stellen damit - sofern sie veröffentlicht werden - einen potentiellen Eingriff in das Bearbeitungsrecht des Erstautors 37 dar. Eine Rechtfertigung der Bearbeitung durch die Schrankenregelungen des Urheberrechtsgesetzes kommt dabei regelmäßig nicht in Betracht, da die §§ 44a ff. UrhG meist nur spezifische Eingriffe, in erster Linie Vervielfältigung oder Verbreitung, nicht aber Umgestaltungen, gestatten. Dennoch lässt das Urhebergesetz die Übernahme fremder Werkteile im Rahmen von Umgestaltungen in zwei Konstellationen zu. Die erste, naheliegende, und zu Recht 38 als selbstverständlich bezeichnete Variante besteht ganz einfach in der Entnahme ungeschützter Elemente des Bezugswerkes. Möglich wird dies durch den bereits beschriebenen eingeschränkten Umfang des Urheberrechts, das sich nur auf den individuellen Ausdruck des Schöpfers, nicht aber auf die darunter liegenden gemeinfreien Werkteile wie etwa Stimmung, Stil, Manier, Idee, Konzept oder wissenschaftliche Theorie bezieht. Übernimmt der Zweitautor derartige Elemente, so liegt noch kein Eingriff in das Urheberrecht des Erstautors vor und einer Rechtfertigung durch eine 39 Urheberrechtsschranke (wie etwa im Rahmen der Zitierfreiheit) bedarf es nicht. Exemplarisch rur ein entsprechendes Szenario steht die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Staatsexamensarbeit. 40 Dort hatte ein Lehramtsstudent eine Untersuchung zu Bau und Gewebe einiger Calamiten aus dem Namur C Westfalens angefertigt, in der sowohl die Entdeckung einer neuen Calamitenvarietät als auch einer neuen Spezies enthalten war. Als dieselben Forschungsergebnisse wenig später in älnl37 Vgl. § 23 UrhG (abgedruckt im Anhang); aus dem Erfordernis der Veröffentlichung ergibt sich im Umkehrschluss, dass die Herstellung der Bearbeitung und deren persönliche Nutzung (zu Ausnahmen siehe § 23 S. 2 UrhG) keinen Eingriff in das Urheberrecht des Erstautors darstellt; siehe Rehbinder, Manfred: Urheberrecht. 14. Aufl. München 2006. Rz.368. 38 Vgl. Rehbinder, Manfred: Urheberrecht. 14. Aufl. München 2006. Rz. 376. 39 Vgl. Bullinger, Winfried: Kommentierung zu § 24 UrhG. In: Wandtke, Artur-Axel; Bullinger, Winfried (Hg.): Praxiskommentar zum Urheberrecht. 2. Aufl. München 2006. § 24 Rz. 3; Dreyer, Gunda. Kommentierung zu § 24 UrhG. In: Dies.; Kotthoff, Jost; Meckel, Astrid: Heidelberger Kommentar zum Urheberrecht. Heidelberg 2004. § 24 Rz. 3. 40 Vgl. Bundesgerichtshof, Urteil vom 21.11.1980 (Az.: I ZR 106/78). In: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 1981. S. 352 ff. - Staatsexamensarbeit. 46
licher Form publiziert wurden, wehrte sich der Student gegen die Zweitveröffentlichung und berief sich dabei auf sein Urheberrecht an der Examens~rbeit. Der Bundesgerichtshof folgte der Argumentation des klagenden Studenten nicht sah stattdessen die Übernahme der Forschungsergebnisse als zulässig an und plädierte unmissverständlich rur eine »sorgfältige Trennung von [nicht geschütztem] wissenschaftlichem Ergebnis und Lehre einerseits und [geschützter] Darstellung und Gestaltung der Lehre im Schriftwerk andererseits.«41 Die zweite Möglichkeit zulässiger Umgestaltungen stellen die Fälle sog. »freier Be42 nutzung« nach § 24 I UrhG dar, bei denen - anders als in der eben geschilderten Variante - auch die Entlehnung urheberrechtlich geschützter Elemente zulässig ist. Wie häufiger im Urheberrecht schweigt sich das Gesetz allerdings zu den konkreten Voraussetzungen der Norm aus und lässt offen, was nun genau die freie von der unfreien Benutzung unterscheidet. Inhaltlich geht es hier darum, dass die Übernahme fremder Elemente als zulässig angesehen wird, solange das Bezugswerk lediglich als Anregung/Inspiration bei der Schöpfung des Zweitwerkes dient. 43 Diese Relation zwischen Erst- und Zweitwerk hat Eugen Ulmer mit der griffigen und von der Rechtsprechung übernommenen Formel umschrieben, die entlehnten schutzfähigen Züg~ des älteren Werkes müssten angesichts der Eigenart des neuen Werkes »verblassen«.44 So einprägsam diese Differenzierung in der Theorie scheint, so schwierig ist sie häufig in der Praxis umzusetzen. Es existiert eine kaum mehr überschaubare Vielzahl von Gerichtsentscheidungen und Abhandlungen zur Abgrenzung Bearbeitung/freie Benutzung, die im Rahmen dieses Beitrages allenfalls in groben Leitlinien wiedergegeben werden kann. Als eine der' bekannteren Faustformeln soll dabei zunächst erwähnt werden, dass die Übertragung von literarischen Werken, Werken der Tonkunst und der bildenden Künste in eine andere dieser Werkkategorien im Regelfall aufgrund der Verschiedenheit der Werkkategorien das Ausgangswerk »verblassen« lässt und daher eine zulässige freie Benutzung darstellt. 45 Modest Mussorgskys Klavierzyklus Bilder einer Ausstellung (1874) als musikalische Interpretation der Gemälde und Zeichnungen Viktor Hartmanns wäre nach geltendem deutschen Urheberrecht demnach zweifellos eine freie Benutzung und keine unfreie Bearbeitung. 46 Umgekehrt 41 Ebd. 42 Abgedruckt im Anhang. 43 Vgl. Bullinger, Winfried: Kommentierung zu § 24 UrhG. In: Wandtke, Artur-Axel; Bullinger, Winfried (Hg.): Praxiskommentar zum Urheberrecht. 2. Aufl. München 2006. § 24 Rz. 1; Rehbinder, Manfred: Urheberrecht. 14. Aufl. München 2006. Rz. 377. 44 Ulmer, Eugen: Urheber- und Verlagsrecht. 3. Aufl. Berlin/Heidelberg/New York 1980. S.275; zur Verwendung dieser Formel in der Rechtsprechung siehe Bundesgerichtshof, Urteil vom 11.03.1993 (Az.: I ZR 164/91). In: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 1994. S. 191 ff. - Asterix Persiflagen; Bundesgerichtshof, Urteil vom 29.04.1999 (Az.: I ZR 65/96). In: Zeitschrift rur Urheber- und Medienrecht 1999. S. 647 ff. - Laras Tochter. 45 Vgl. Rehbinder, Manfred: Urheberrecht. 14. Aufl. München 2006. Rz.380· Bullinger Winfried: Kommentierung zu § 24 UrhG. In: Wandtke, Artur-Axel; Bulling~r, Winfried (Hg.): Praxiskommentar zum Urheberrecht. 2. Aufl. München 2006. § 24 Rz. 6. 46 Zu diesem Beispiel vgl. Schulze, Gemot: Kommentierung zu § 24 UrhG. In: Dreier, Thomas; Schulze, Gemot: Urheberrechtsgesetz. 2. Aufl. München 2006. § 24 Rz. 19. 47
stellen Übernahmen innerhalb derselben Werkkategorie regelmäßig eher unfreie Bearbeitungen denn freie Benutzungen dar. Für Mussorgskys Bilder einer Ausstellung bedeutet dies, dass die bekannte Orchesterfassung durch Maurice Ravel (1922) eine Urheberrechtsverletzung an Mussorgskys Werk (nicht aber an Hartmanns Gemälden) bedeuten würde. 47 Ebenfalls eine unfreie Bearbeitung und keine freie Benutzung stellt regelmäßig die Verfilmung eines Romans dar. 48 Problematisch wird es jedoch in jenen Grenzfällen, die nicht die Übernahme des konkreten Handlungsgefiiges des Erstwerkes, sondern nur dessen Fabel betreffen. 49 Eine entsprechende Problematik lag etwa dem Oberlan50 desgericht München in seiner Entscheidung zum Doppelten Lottchen vor, in der die Erben Erich Kästners sich gegen den Vertrieb des US-Spielfilmes It takes two (Eins und Eins macht vier) in Deutschland wehrten. Der Film handelt von zwei neunjährigen Mädchen (Amanda und Alyssa), die sich äußerlich wie Zwillinge gleichen. Beide Charaktere leben nur mit einem Elternteil (Alyssa) bzw. mit einer Betreuerin (Amanda) zusammen, treffen sich zufällig, vereinbaren einen Rollentausch und bringen schließlich ihre jeweiligen Bezugspersonen zusammen. Obwohl der Film - etwa durch die zeitliche Verlagerung der Handlung in die neunziger Jahre oder mehrere, den USamerikanischen Mediengewohnheiten entsprechenden Klaumauk- und Slapstickszenen - durchaus eigenschöpferische Elemente enthielt, drängten sich Parallelen zu Erich Kästners Das doppelte Lottchen auf. In seiner Entscheidung wandte das Oberlandesgericht die bereits beschriebene Formel an, stellte sich die Frage, ob die in Kästners Werk enthaltene Kernfabel gegenüber der Eigenart des neu geschaffenen Werkes »verblasst«, und verneinte dies schließlich. Nach Ansicht des Gerichts seien die Handlungszüge aus Kästners Werk im Film zwar »ins Extreme gesteigert«, dies ändere aber nichts daran, dass sich die maßgeblichen, hochgradig individuellen Handlungszüge des Doppelten Lottchens in der Verfilmung konkret wiederfinden ließen. 51 Der tUr eine freie Benutzung nach § 24 I UrhG erforderliche Abstand zwischen Bezugs- und Zweitwerk wurde damit aus Sicht des Gerichts nicht erreicht. Eine Sondervorschrift tUr die freie Benutzung in Musikwerken stellt schließlich der in § 24 11 UrhG geregelte so genannte starre Melodieschutz dar, nach dem die Melodie eines Musikwerkes - auch im Rahmen einer ansonsten freien Benutzung - nicht einem 47
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Die Zulässigkeit der Orchesterfassung würde zudem am sog. »starren Melodieschutz« nach § 24 11 UrhG scheitern; siehe dazu unten sub 3. Loewenheim, Ulrich: Schutzumfang. In: Ders. (Hg.): Handbuch des Urheberrechts. München 2003. § 8 Rz.25; siehe auch Bundesgerichtshof, Urteil vom 18.06.1957 (Az.: I ZR 39/56). In: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 1957. S. 614 ff. (415) - Ferien vom Ich. Anders als die dem Werk zugrunde liegende Idee beruht die Fabel eines Werkes häufig auf dem Einfallsreichtum und der Kreativität des Autors und ist damit grundsätzlich urheberrechtsfähig; siehe Ulmer, Eugen: Urheber- und Verlagsrecht. 3. Aufl. BerlinlHeidelberg/New York 1980. S. 276. Vgl. Oberlandesgericht München, Urteil vom 17.12.1998 (Az.: 29 U 3350/98). In: Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht 1999. S. 149 ff. - Das doppelte Lottchen; zu dieser Entscheidung siehe auch: Becker, Bernhard von: Poesie, Plagiat, Poe. In: Schertz, Christian (Hg.): Festschrift für Paul W. Hertin. München 2000. S. 3 ff. (19 f.). Vgl. ebd.
z",:eiten Werk ~r~elmbar. zugrunde gelegt werden darf. Coverversionen, Musikparodien oder Vanatlonen smd danach grundsätzlich nicht zulässig. Gerechtfertigt wird diese sehr strenge Vorschrift mit der tragenden Bedeutung von Melodien in Werken der U-Musik und einem erhöhten Schutzbedürfnis prägender Melodien vor Ausbeutung durch Zweitwerke. 52 Anspielungen in Musikwerken auf fremde Melodien sind danach ausschließlich im Rahmen des Musikzitats nach § 51 Nr. 3 UrhG möglich.
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Plagiarismus als »geistiger Diebstahl«
Während es bislang in den als Zitat oder Umgestaltung beschriebenen Szenarien letztlich immer um die Frage ging, ob und inwieweit der Zweitautor substantiell auf das Bezugswerk zurückgreifen darf, verschiebt sich dieser Blickwinkel im Hinblick auf die Fälle des Plagiats von der Werksubstanz auf die Person des Erstautors. Das Urheberrechtsgesetz selbst verwendet zwar den Begriff des Plagiats 53 nicht, Rechtsprec~ung und Literatur verstehen darunter jedoch gemeinhin die auch als »geistigen DIebstahl« bezeichneten Fälle der bewussten Anmaßung eigener Urheberschaft an ei54 nem fremden Werk. In diesen Konstellationen liegt in aller Regel sowohl ein Eingriff in das Urheberpersönlichkeitsrecht (§ 13 UrhG - Anerkennung der 55 Urheberschaft ) als auch in die Verwertungsrechte (z.B. das Vervielfältigungsrecht, § 16 UrhG) vor. Maßgeblich kommt es beim Plagiat also darauf an, dass der plagiierende Autor den Eindruck erweckt, die in seinem Werk enthaltenen Komponenten stammten auss.chließlich ~on ihm. J?er Verzicht auf eine Quellenangabe beim Zitat 56 begründet folghch dann emen Plagiatsvorwurf, wenn suggeriert wird, die zitierte Passage stamme vom Zitierenden. 57 Die Hinweispflicht auf benutzte Quellen hat jedoch auch Grenzen. Werden nicht geschützte Werkteile übernommen oder handelt es sich um den Fall einer freien Benutzung, bei der das Bezugswerk lediglich Anregung/Inspiration für die
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Vgl. Rehbinder, Manfred: Urheberrecht. 14. Aufl. München 2006. Rz. 388; der starre Melodieschutz sieht sich andererseits - insbesondere für den Bereich der E-Musik - immer wieder Kritik ausgesetzt; vgl. etwa Ulmer, Eugen: Urheber- und Verlagsrecht. 3. Aufl. BerlinlHeidelberg/New York 1980. S.278; Ahlberg, Hartwig: Kommentierung zu § 24 UrhG. In: Möhring, Philip; Nicolini, Käthe; Ahlberg, Hartwig (Hg.): Urheberrechtsgesetz. 2. Aufl. München 2000. § 24 Rz. 38. Der Begriff Plagiat stammt von dem römischen Dichter Martial, der seine Gedichte mit Sklaven verglich und geistigen Diebstahl daher dem Menschenraub (plagiarius = Menschenräuber) gleichsetzte; siehe Loewenheim, Ulrich: Schutzumfang. In: Ders. (Hg.): Handbuch des Urheberrechts. München 2003. § 8 Rz. 24. Vgl. Rehbinder, Manfred: Urheberrecht. 14. Aufl. München 2006, Rz.385; Bullinger, Winfried: Kommentierung zu § 13 UrhG. In: Wandtke, Artur-Axel; Bullinger, Winfried (Hg.): Praxiskommentar zum Urheberrecht. 2. Aufl. München 2006. § 13 Rz. 2. Abgedruckt im Anhang. Zu dieser Pflicht siehe § 63 I UrhG. Vgl. Loewenheim, Ulrich: Schutzumfang. In: Ders. (Hg.): Handbuch des Urheberrechts. München 2003. § 8 Rz. 24. 49
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Schöpfung des Zweitwerkes war, und lässt letzteres angesichts seiner Eigenart die entlehnten OriginalsteIlen »verblassen«, so besteht fUr den Zweitautor keine rechtliche Pflicht, auf die Entlehnung hinzuweisen. Die sub 3. dargestellten Zulässigkeitsvarianten verändernder Übernahme sind im Rechtssinne folglich auch dann keine Plagiate, wenn sie nicht als Entlehnungen gekennzeichnet sind. 58 Insbesondere ist damit der im Alltagsverständnis häufig als Plagiat empfundene »Ideenklau« kein Plagiat im Rechtssinne. Vom Plagiat abzugrenzen ist die Fälschung, bei der ein Werk bewusst einem anderen (meist bekannten) Schöpfer zugeschrieben wird. Eine Fälschung ist damit der umgekehrte Fall eines Plagiats, bei der nicht ein fremdes Werk als ein eigenes, sondern ein eigenes Werk als ein fremdes ausgegeben wird. Da durch die Fälschung an sich allerdings in vielen Fällen nicht in das Urheberrecht des Schöpfers eingegriffen wird, 59 eröffnet diese auch streng genommen keine urheberrechtlichen Probleme. Der Schöpfer bzw. dessen Erben können sich gegen den Namensmissbrauch und dessen schädliche Auswirkungen jedoch außerhalb des Urheberrechtsgesetzes mit dem so genannten droit de non-paternite wehren, das entweder im Namensrecht (§ 12 BGB) oder im all60 gemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 I LV.m. 1 I GG) verortet wird.
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auf fremde Werke als relevanten Teil des Schöpfungsvorganges an und fUhrt zu einem Ausgleich der Interessen des Erst- und Zweitautors.
Zusammenfassung
Die starke Stellung des Urhebers im deutschen Recht fUhrt zu einer weitgehenden Verrechtlichung intertextueller Bezugnahme. Dennoch dient das Urheberrechtsge setz nicht ausschließlich dem Schutz des Urhebers, sondern erlaubt in bestimmten Situationen auch die Übernahme fremder Werke oder Werkteile. So kann intertextuelle Relation sowohl von der Zitierfreiheit (§ 51 UrhG) gedeckt sein als auch eine freie Benutzung nach § 24 11 UrhG darstellen. Ebenfalls zulässig ist die Übernahme urheberrechtlich nicht geschützter Elemente, wie etwa Stil, Manier, Idee oder wissenschaftliche Theorie. Um dem Vorwurf des Plagiarismus zu entgehen, darf der Zweitautor - insbesondere in den durch die Zitierfreiheit geregelten Fällen - jedoch nicht den Eindruck erwecken, die in seinem Werk enthaltenen Komponenten stammten ausschließlich von ihm. Das deutsche Urheberrecht erkennt damit den Rückgriff
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Vgl. Loewenheim, Ulrich: Schutzumfang. In: Ders. (Hg.): Handbuch des Urheberrechts. München 2003. § 8 Rz. 24; Rehbinder, Manfred: Urheberrecht. 14. Aufl. München 2006. Rz.385. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn durch die Fälschung ein angeblich neues (bzw. bislang unbekanntes) Werk des gefälschten Schöpfers hergestellt wird. Sofern die Fälschung dagegen ein bereits existierendes Werk repliziert oder (unfrei) bearbeitet, liegt gleichzeitig eine urheberrechtsrelevante Vervielfältigung oder Umgestaltung vor. Siehe Rehbinder, Manfred: Urheberrecht. 14. Aufl. München 2006. Rz. 402; die Aufuahme des droit de non-paternite in das Urheberrechtsgesetz wurde zwar immer wieder gefordert (etwa durch Nordeman, Wilhelm: Vorschlag für ein Urhebervertragsgesetz. In: Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht 1991. S. 5 ff.), diesen Anregungen ist der Gesetzgeber jedoch bislang nicht nachgekommen. 51
Anhang: Auszug aus dem Gesetz über Urheberrecht und verwandte Schutzrechte (UrhG)61
§ 2 Geschützte Werke (1) Zu den geschützten Werken der Literatur, Wissenschaft und Kunst gehören insbesondere: 1. Sprachwerke, wie Schriftwerke, Reden und Computerprogramme; 2. Werke der Musik; 3 .... (2) Werke im Sinne dieses Gesetzes sind nur persönliche geistige Schöpfungen.
§ 11 Allgemeines Das Urheberrecht schützt den Urheber in seinen geistigen und persönlichen Beziehungen zum Werk und in der Nutzung des Werkes. Es dient zugleich der Sicherung einer angemessenen Vergütung für die Nutzung des Werkes. § 13 Anerkennung der Urheberschaft Der Urheber hat das Recht auf Anerkennung seiner Urheberschaft am Werk. Er kann bestimmen, ob das Werk mit einer Urheberbezeichnung zu versehen und welche Bezeichnung zu verwenden ist.
nen und Entwürfen eines Werkes der bildenden Künste, um den Nachbau eines Werkes der Baukunst oder um die Bearbeitung oder Umgestaltung eines Datenbankwerkes, so bedarf bereits das Herstellen der Bearbeitung oder Umgestaltung der Einwilligung des Urhebers.
§ 24 Freie Benutzung (1) Ein selbständiges Werk, das in freier Benutzung des Werkes eines anderen geschaffen worden ist, darf ohne Zustimmung des Urhebers des benutzten Werkes veröffentlicht und verwertet werden. (2) Absatz 1 gilt nicht für die Benutzung eines Werkes der Musik, durch welche eine Melodie erkennbar dem Werk entnommen und einem neuen Werk zugrunde gelegt wird.
§ 51 Zitate Zulässig ist die Vervielfältigung, Verbreitung und öffentliche Wiedergabe, wenn in einem durch den Zweck gebotenen Umfang
1. einzelne Werke nach dem Erscheinen in ein selbständiges wissenschaftliches Werk zur Erläuterung des Inhalts aufgenommen werden, 2. Stellen eines Werkes nach der Veröffentlichung in einem selbständigen Sprachwerk ' angeführt werden, 3. einzelne Stellen eines erschienenen Werkes der Musik in einem selbständigen Werk der Musik angeführt werden.
§ 15 Allgemeines [Verwertungsrechte]
(1) Der Urheber hat das ausschließliche Recht, sein Werk in körperlicher Form zu
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verwerten; das Recht umfaßt insbesondere
Zulässig ist die Vervielfältigung, Verbreitung und öffentliche Wiedergabe eines veröffentlichten Werkes zum Zweck des Zitats, sofern die Nutzung in ihrem Umfang durch den besonderen Zweck gerechtfertigt ist. Zulässig ist dies insbesondere, wenn
1. das Vervielfältigungsrecht (§ 16), 2. das Verbreitungsrecht (§ 17), 3. das Ausstellungsrecht (§ 18). (2) Der Urheber hat ferner das ausschließliche Recht, sein Werk in unkörperlicher Form öffentlich wiederzugeben (Recht der öffentlichen Wiedergabe). Das Recht der öffentlichen Wiedergabe umfasst insbesondere 1. das Vortrags-, Aufführungs- und Vorführungsrecht (§ 19),
2.... (3) ... § 23 Bearbeitungen und Umgestaltungen Bearbeitungen oder andere Umgestaltungen des Werkes dürfen nur mit Einwilligung des Urhebers des bearbeiteten oder umgestalteten Werkes veröffentlicht oder verwertet werden. Handelt es sich um eine Verfilmung des Werkes, um die Ausführung von Plä-
1. einzelne Werke nach der Veröffentlichung in ein selbständiges wissenschaftliches Werk zur Erläuterung des Inhalts aufgenommen werden, 2. Stellen eines Werkes nach der Veröffentlichung in einem selbständigen Sprachwerk angeführt werden, 3. einzelne Stellen eines erschienenen Werkes der Musik in einem selbständigen Werk der Musik angeführt werden.
§ 97 Anspruch auf Unterlassung und Schadenersatz (1) Wer das Urheberrecht oder ein anderes nach diesem Gesetz geschütztes Recht widerrechtlich verletzt, kann vom Verletzten auf Beseitigung der Beeinträchtigung, bei Wiederholungsgefahr auf Unterlassung und, wenn dem Verletzer Vorsatz oder Fahrlässigkeit zur Last fällt, auch auf Schadenersatz in Anspruch genommen werden. An 62
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Das Urheberrechtsgesetz ist im Voll text verfügbar unter http://www.gesetze-iminternet.de/urhg/index.html.
Nach der Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zum Entwurf eines zweiten Gesetzes zur Regelung des Urheberrechts in der Informationsgesellschaft (Bundestagsdrucksache 16/5939; vom Bundestag verabschiedet am 5. Juli 2007). 53
Stelle des Schadenersatzes kann der Verletzte die Herausgabe des Gewinns, den der Verletzer durch die Verletzung des Rechts erzielt hat, und Rechnungslegung über diesen Gewinn verlangen. (2) Urheber, Verfasser wissenschaftlicher Ausgaben (§ 70), Lichtbildner (§ 72) und ausübende Künstler (§ 73) können, wenn dem Verletzer Vorsatz oder Fahrlässigkeit zur Last fällt, auch wegen des Schadens, der nicht Vermögens schaden ist, eine Entschädigung in Geld verlangen, wenn und soweit es der Billigkeit entspricht. (3) Ansprüche aus anderen gesetzlichen Vorschriften bleiben unberührt.
Georg Steins (Exegese des Alten Testaments)
Kanonisch-intertextuelle Bibellektüre - my way
Vorbemerkung Der nachfolgende Text geht auf einen Beitrag während des Forschungskolloquiums Intertextualität. Interdisziplinäre Zugänge in Theorie und Praxis zurück; ich habe die Form des Statements bewusst beibehalten, wohl wissend, dass manches überaus pointiert und etwas holzschnittartig und daher möglicherweise auch einseitig erscheinen mag. Mein Hauptziel war es, den durchweg jüngeren Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Kolloquiums den Kontext und die Chancen der Rezeption des Intertextualitätsparadigmas in der Bibelexegese am Beispiel meines eigenen wissenschaftlichen Werdegangs aufzuzeigen. Außerdem konnte ich auf diese Weise demonstrieren, wie unterschiedlich sich die Lektüre der gleichen theoretischen Grundlagenwerke in verschiedenen Erfahrungszusammenhängen auswirken kann. Die sehr lebhafte und intensive Diskussion im Anschluss an den Vortrag hat die Berechtigung dieses in gewisser Weise heiklen Unternehmens unterstrichen.
Emsige Modernisierung - die Situation in der Bibelexegese um 1980 Ich habe im Wintersemester 1978/79 das Studium der Katholischen Theologie an der Universität Münster begonnen. Die Katholisch-theologische Fakultät in Münster war mit ungefähr 3.000 Studierenden die größte und sicher auch die lebendigste Einrichtung dieser Art in Deutschland. Das Zweite Vatikanische Konzil und die Würzburger Synode waren ständig präsent - nicht zuletzt durch die Lehrer, die im Kontext dieser epochalen Ereignisse mitgewirkt oder ihre eigene theologische Prägung erfahren hatten. Später sagte mir einmal jemand über das Klima im >Fachbereich<, wie wir das Gebäude der theologischen Fakultät nannten: »Ein Gang über den Flur ersetzte die Lektüre mehrerer Aufsätze!« Das traf die Situation; an keinem anderen Ort habe ichje wieder ein~ solche Atmosphäre des Aufbruchs und des Ringens um die Zukunft von Theologie (und Kirche!) und einen so intensiven fachlichen Austausch erlebt. Die universitäre Bibelauslegung der späten 70er Jahre, in die ich in Münster sehr schnell durch einen hervorragend organisierten Studienbetrieb hineingewachsen bin, lässt sich folgendermaßen kennzeichnen: Es gab (immer noch) das Gefühl eines enormen Nachholbedarfs gegenüber der protestantischen Exegese, die seit 200 Jahren den Maßstab für eine wissenschaftliche Bibelauslegung gesetzt hatte. Seit der Enzyklika Pius XII. Divino affiante spiritu von 1943 und der Offenbarungskonstitution Dei Verbum des Konzils waren die katholischen Exegeten endlich in ihrer >historisch-
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kritischen< Arbeit freL l Eine bestimmte konfessionelle Prägung der Exegese war nicht mehr erkennbar; sie wurde sogar dezidiert als unwissenschaftlich abgelegt. Im letzten Drittel oder Viertel des 20. Jahrhunderts hatte auch eine >Methodisierung< der >historisch-kritischen Exegese< eingesetzt. Das von Wolfgang Richter 1971 formulierte Programm der Exegese als Literaturwissenschaft machte Schule; seine Abfolge der Methodenschritte prägte die überaus erfolgreichen Studienbücher von Georg Fohrer und von Odil H. Steck, trotz des etwas anderen Literaturbegriffs. 2 Mit dem Programmwort der Exegese als Literaturwissenschaft setzte sich Richter klar von einer Bibellektüre ab, die auf die Bibel im Kontext systematisch-theologischer Fragen zurückgreift und nicht selten in ihr vor allem eine Fundgrube für Belegstellen (sog. dicta probantia) sieht, und ebenso von Ansätzen einer geistlichen Schriftlektüre (wie sie etwa im Kontext der großen spirituellen Traditionen der Kirche entwickelt wurden). Fragt man nach einer inhaltlichen Füllung des literaturwissenschaftlichen Programms, so lässt das stark auf Textdeskription ausgerichtete Konzept, das die Form gegenüber dem Gehalt favorisiert, Einflüsse neopositivistischer Wissenschaftstheorie und eine Orientierung an eiI!em szientistischen Wissenschaftsideal erkennen. Dieser Ansatz wird - theoretisch unvermittelt - mit dem produktionsorientierten Paradigma der >historisch-kritischen Exegese< des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verbunden. Die literaturwissenschaftlichen Aufbrüche der 60er Jahre (mit ihrem Vorlauf in Amerika) und die damals aktuelle Debatte in der philosophischen Hermeneutik finden in Richters Grundlagenwerk keinen Widerhall: Weder wird die gerade aufkommende Rezeptionsgeschichte und -ästhetik berücksichtigt noch die zum Teil sehr hitzig geführte Debatte um die Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, der in der systematischen Theologie auch auf katholischer Seite stark beachtet wurde. 3 Der Entwurf einer alttestamentlichen Literaturtheorie und Methodologie, so der Untertitel des genannten Werkes von W. Richter, steht noch ganz im Bann der >werkimmanenten Interpretation< der 50er Jahre, der in etwa der >literary criticism< im anglo-amerikanischen Raum entspricht. Im Rückblick muss man also eine hektische Betriebsamkeit (es gab viel aufzuholen!), aber auch ein folgenreiches Theoriedefizit feststellen. In ihrer Methodologie präsentiert sich die Bibelwissenschaft in dieser Zeit unter dem internationalen literaturwissenschaftlichen und philosophischen Niveau. Neben dem Interesse an Textdeskription dominiert in ihr die Frage nach den Textentstehungsprozessen; oft werden in abenteuerlicher Geschwindigkeit auf dem Wege der >Literarkritik< an einem kleinen Textausschnitt Entstehungsgeschichten von mehreren Jahrhunderten >rekonstruiert<. Die von Wolfgang Richter als rein immanente Analyse reformulierte Literar1
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Die entscheidenden Passagen der Texte sind leicht zugänglich in: Denzinger, Heinrich; Hünennann, Peter: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Freiburg 2005. Vgl. Richter, Wolfgang: Exegese als Literaturwissenschaft. Entwurf einer alttestamentlichen Literaturtheorie und Methodologie. Göttingen 1971; in vielen Auflagen erschienen: Fohrer, Georg u.a.: Exegese des Alten Testaments. 5. Aufl. Heidelberg 1989; Steck, Odil Hannes: Exegese des Alten Testaments. Leitfaden der Methodik. 14. Aufl. NeukirchenVluyn 1999. - Zur frühen Kritik an Richters Programm vgl. die Rezension von Norbert Lohfink. In: Biblische Zeitschrift 17 (1973). S. 286-296. Vgl. die Überblicke zur Rezeptionsästhetik, zum reader response criticism und zu Hans Robert JauB, Wolfgang Iser und Hans-Georg Gadamer in: Nünning, Ansgar: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. 3. Aufl. Stuttgart 2004.
kritik, die den Eintrag von Vorwissen des Exegeten aus anderen Bereichen ausschließen will, öffnete solchen bisweilen recht abenteuerlichen Hypothesenbildungen Tür und Tor. Vormoderrie Formen der Textexegese, etwa die patristische Bibelauslegung, gelten als unzulässige Textvereinnahmung ohne wissenschaftlichen Anspruch; die Theorie des vierfachen Schriftsinnes etwa >überlebt< nur noch als Fußnote der Exegesegeschichte. Das Gleiche gilt für die jüdische Exegese, die nicht als ernstzunehmende Gesprächspartnerin berücksichtigt wird. Sehr verkürzt und pointiert gesagt: Alles basiert auf einem methodol9gischen Kurzschluss: Der Literalsinn wird mit dem sensus historicus ipentifiziert, der wiederum mit dem Ursprungs sinn im Sinne der allein maßgeblichen Autorintention gleichgesetzt wird; aber dieser Konstruktionsfehler sollte erst in den späteren Umbrüchen deutlich werden. In der persönlichen Rückschau kann ich bei mir eine gewisse Ambivalenz feststellen: Auf der einen Seite war ich (wohl nicht zuletzt aufgrund meiner intensiven philologischen Schulung auf einem humanistischen Gymnasium) überaus fasziniert von dieser Exegese, und zwar wegen ihrer Lernbarkeit und der handwerklichen Perfektion und wegen der Ergebnisse, die ein fast romantisches Gefühl der Begegnung mit dem Ursprünglichen vermittelten. Andererseits beschlich mich und viele Mitstudierende in unseren Gesprächen, in denen es, angeregt durch die quirlige Münsteraner Atmosphäre, nicht selten um exegetische Methodenfragen ging, doch ein gewisses Unbehagen. Dieses Gefühl hatte viele Ursachen; eine war die von uns immer wieder gespürte mangelnde theologische Integration der exegetischen Erkenntnisse. Der in diesen Jahren von Seiten der Exegese häufig zu hörende Vorwurf der fehlenden Rezeption ihrer Ergebnisse ging doch auf eine sehr einseitige Lagebeurteilung zurück. Wo hat sich denn der Mainstream der Exegese etwa um eine Aufnahme des Hermeneutikdiskurses der systematischen Theologie bemüht? In der katholischen Exegese gab es zwar eine elaborierte Methodenreflexion, aber keine in gleicher Intensität betriebene Bemühung um eine theologische Methodologie. Ein Indiz für die defizitäre Situation war für mich, dass die in den späten 70er Jahren gelernte Methodik etwa ein Jahrzehnt später nur noch schwer an die neuen Generationen der Studierenden zu vermitteln war. Sie konnten zwar im Proseminar auf den >Methodenkanon< historisch-kritischer Exegese verpflichtet werden, aber echte Begeisterung, wie sie uns noch im Studium gefesselt hatte, war nicht mehr zu spüren. Im Nachhinein führe ich das nicht zuletzt auf die mangelnde theologische Durchdringung der exegetischen Methodik zurück. Das Problem ist kein lokales etwa der Münsteraner Fakultät und ihrer besonderen exegetischen Ausrichtung; hier wurde der Technizismus nie zu weit getrieben, blieb das theologische Interesse immer im Blick. Aber fur das Grundproblem der Exegese gab es in diesen Jahren nach dem Konzil keine Lösung. Sehr gut lässt sich die Problematik in dem berühmten Exegeseparagraphen der Offenbarungskonstitution Dei Verbum Nr. 12 beobachten: Abschnitt 2 bis 4 betonen mit Nachdruck die Zulässigkeit und Notwendigkeit der Rekonstruktion von Autorintentionen, wenn sie fordern, es sei >sorgfältig zu erforschen, was die Hagiographen als Kinder ihrer Zeit mit den Mitteln ihrer Zeit< sagen wollten. In Abschnitt 5 heißt es dann aber: »Da die Heilige Schrift mit dem Geist gelesen und ausgelegt werden muss, in dem sie geschrieben wurde, erfordert die rechte Ermittlung des Sinnes der heiligen Texte, daß man mit nicht geringer Sorgfalt auf den Inhalt und die Einheit der ganzen Schrift achtet, unter Berücksichtigung der lebendigen Überlieferung der Gesamtkirche und der Analogie des Glaubens.« >Einheit und Ganzheit der Schrift<, >Überlieferung der Kirche< und >Analogie 57
des Glaubens<, das sind Kategorien, die in der Exegese nicht vorkamen, ja methodisch dezidiert ausgeklammert waren. Es gibt demnach keine explizite Vermittlung zwischen der Rekonstruktion der Autorintention, also dem vermeintlichen >Kerngeschäft< wissenschaftlicher Exegese, und der >kirchlichen< Auslegung. 4 Mit den Bemerkungen zur >historisch-kritischen Bibelwissenschaft< habe ich die exegetische Landschaft in meiner Studienzeit keineswegs vollständig beschrieben. Es gab daneben eine intensive Diskussion und Rezeption der sogenannten >alternativen Ansätze< zur >historisch-kritischen Methode<, vor allem die Ansätze aus der Befreiungstheologie (ich erinnere mich an ein gutes Seminar mit Severino Croatto aus Argentinien), die aufkommende feministische Bibelauslegung und die sehr hitzi~ geführten Debatte um die psychoanalytische Interpretation von Eugen Drewermann. Die alternativen Ansätze faszinierten uns, weil sie sich gegen eine Reduktion der Bibel auf eine Sammlung historischer Dokumente wandten und die emotionalen Potentiale und ihre das Handeln orientierenden Impulse hervorhoben. Sie machten die unauthebbare Kontextualität allen Verstehens bewusst, was durch das Objektivitätsideal der etablierten Bibelwissenschaft manchmal verschleiert wurde, und brachten die Vorstellung eines für alle Zeiten normativen >Ursprungssinnes< als Arbeitsfeld der Exegese ins Wanken. Aus der Rückschau möchte ich sagen: In den alternativen Ansätzen konnte die alte ebenso jüdische wie christliche Einsicht sich erneut Gehör verschaffen, dass Sinn mehr ist als >ursprüngliche Textintention<. Das Totenglöcklein für die >historisch-kritische Exegese< ist schon vor langer Zeit geläutet worden, auch wenn man das universitär nicht so recht vernommen hat, da diese Methodik zu fest etabliert war: Walter Wink veröffentlichte 1973 in den USA einen 50seitigen flammenden Essay, der 1976 auf Deutsch erschien: »Alles, was bisher über den Bankrott der kritischen Bibelwissenschaft gesagt ist, läßt sich nun so zusammenfassen: Sie hat sich im faustischen Moment entfremdeter Distanz >festgefahren<. Folge dieser Trennung war der Objektivismus, die Subjekt-Objekt-Spaltung. Die Wiederherstellung der Synthese und eines echten Dialogs zwischen Interpret und Text hängt von der praktischen Lösung des Subjekt-Objekt-Problems ab.«6 Es gab Ende der 70er Jahre zwar bereits in Philosophie, (Wissens-)Soziologie und Literaturtheorie entsprechende Ansätze, die Winks Forderung berücksichtigten, diese waren aber in der Universitäts exegese noch nicht rezipiert; sie stand ganz unter der Dominanz der klassischen rein produktions- und autororientierten Methodik. 7 Der unterschwellige Eindruck, dass >hier etwas nicht stimmte<, verfestigte sich zunehmend. Einerseits lief die Exegese gut, ja auf Hochtouren, aber immer deutlicher Vgl. zu diesem in Dei Verbum nicht aufgelösten Problem: Lohfink, Norbert: Der weiße Fleck in Dei Verbum Artikel 12. In: Ders.: Studien zur biblischen Theologie Stuttgart 1993. (= Stuttgarter Biblische Aufsatzbände Altes Testament 16). S. 78-96. 5 Für eine erste Orientierung über diese Ansätze vgl. die aktuellen theologischen Lexika. 6 Wink, Walter: Bibelauslegung als Interaktion. Über die Grenzen historisch-kritischer Methode. Stuttgart 1976. S. 50. 7 Vgl. nur das Unverständnis vieler Exegeten in der Debatte um den (in sich gewiss nicht unproblematischen) Ansatz einer psychoanalytischen Bibelauslegung von Eugen·Drewermann, auf dessen spirituelles und theologisches Anliegen etwa von Josef Sudbrack und Gotthard Fuchs immer hingewiesen wurde.
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artikulierten sich ein erhöhter theoretischer Sel~staufklärungs- und ein theologischer Integrationsbedarf. Dieser persönliche Eindruck·wird von außen bestätigt durch den in jenen Jahren zu beobachtenden Relevanzverlust der Bibelwissenschaften innerhalb der Theologie; Exegese wird zwar fasziniert betrachtet, steht aber innerhalb der Theologie immer isolierter da. Eine Folge war die zunehmende Pluralisierung der Zugänge. Ich stellte in den ersten Jahren nach dem Studium, also in der zweiten Hälfte der 80er Jahre eine wachsende Verunsicherung in der Fundierung der eigenen Bibelexegese fest; das Gelernte trug nicht mehr, und es war kaum noch in der Lehre zu vermitteln, weil es die theologischen und spirituellen Interessen der Studierenden nicht schon im Ansatz aufnahm.
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Post-Modeme Irritationen -persönliche Neuorientierungen
Anfang der 90er Jahre war der (sich schon seit längerem anbahnende) Zusammenbruch der noch im Studium gelernten >Großhypothesen< zur Entstehung des Pentateuch und zur Möglichkeit der Rekonstruktion einer vorexilischen Gerichtsprophetie unübersehbar. Das hatte Folgen für die methodische Orientierung. Die Leistungsfähigkeit des klassischen methodischen Instrumentariums in der Rekonstruktion der Textentstehung und der zugrunde liegenden (religions-)geschichtlichen Prozesse wurde fragwürdiger. In der Beschäftigung mit den Chronikbüchern, meinem Dissertationsthema, wurde das Ungenügen der üblichen Methodik für mich sehr deutlich spürbar. Das Instrumentarium ist vor allem entstehungsgeschichtlich ausgerichtet; es bietet keinen Anhalt, die kanonische Einbettung von Texten in den Blick zu nehmen. Dies ist jedoch keine Frage allein des Handwerklichen, der Methodik, sondern berührt das vorausgesetzte Text- und Lektürekonzept, das in der klassischen Methodenlehre nicht genügend reflektiert wird. Für die Untersuchung der Chronikbücher fehlten mir angemessene text- und literaturwissenschaftliche Kategorien. Neue Impulse bekam ich aus der älteren exegetischen Diskussion um Midrasch als Form der Textentwicklung und aus den neueren Studien zur >innerbiblical exegesis<, die Michael Fishbane 1985 mit seinem inzwischen zum Standardwerk avancierten Buch angestoßen hatte. 8 In diesem Kontext stieß ich dann auch auf das Stichwort Intertextualität, das zunächst ein vager Begriff blieb, dessen postmodernen Kontext ich nicht wahrnahm. Dieses Konzept erschien mir von Anfang an sehr hilfreich, da ich es bei den Chronikbüchern mit einem Werk zu tun hatte, das unter dem dominierenden Blickwinkel der Textgenese nicht befriedigend zu entschlüsseln ist, sondern das die bleibende Beziehung zu anderen biblischen Texten voraussetzt. Bei meinen Studien zum Intertextualitätskonzept fand ich dann in einem Aufsatz des Romanisten Karlheinz Stierle die wichtige Metapher des >Einspielens von Texten
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Vgl. Bloch, Renee: Art. Midrash. In: Dictionnaire de la Bible Suppl. 15 (1957). Sp. 12631281; Fishbane, Michael: Biblical Interpretation in Ancient Israel. Oxford 1980; Steins, Georg: Die Chronik als kanonisches Abschlussphänomen. Studien zur Entstehung und Theologie von 1/2 Chronik. Weinheim 1995. (= Bonner Biblische Beiträge 93). 59
in Texte< zur Beschreibung des Vorgangs der intertextuellen Lektüre. 9 Damit war das gewohnte Textkonzept der Immanenz und Präsenz des Sinnes endgültig aufgebrochen. Hier kündigt sich ein Blickwechsel an, der stärker von den Rezeptionsvoraussetzungen her an Texte herangeht und die Vorstellung des geschlossenen Textes endgültig auflöst. Nach dem Wechsel an die Universität Osnabrück im Frühjahr 1990 wurde ich auf die Nordamerikanische Kanondiskussion seit den 70er Jahren aufmerksam. Die Münsteraner Fakultät war stärker auf das katholische Südamerika und den Kontext der Befreiungstheologie ausgerichtet, der die katholische Theologie des ausgehenden 20. Jahrhunderts wichtige Impulse verdankt und die ihrerseits aus Münster viele Impulse bezog. In Osnabrück lernte ich nun die bibelhermeneutische Debatte der Ostküste kennen. Diese in den späten 70er Jahren einsetzende Kanondiskussion hatte die gewohnten Bahnen der Allgemeinen Einleitungswissenschaft und der Prolegomena zur Dogmatik verlassen. Sie wurde bibelhermeneutisch relevant in ihren bei den Varianten, dem von James A. Sanders konzipierten >canonical criticism<, der jedoch noch stark dem produktions ästhetischen Paradigma verhaftet war, und dem von Brevard S. Childs entworfenen >canonical approach<, der seinen Ansatz als >a new vision of the text< verstand. 10 Die nähere Beschäftigung mit dem Ansatz von Childs 11 war in vielerlei Hinsicht anregend, aber auch ernüchternd; hier begegnete mir ein elaboriertes Kanonkonzept, bei dem jedoch auf Schritt und Tritt eine geradezu >barthianisch< anmutende Aversion gegen >profane< Wissenschaft spürbar war, und das an der in dieser Zeit literaturtheoretisch so lebendigen Yale University! Die Folgen wurden mir sehr schnell klar: Childs' Konzept war nicht explizit mit den literaturtheoretischen Innovationen des letzten Drittels des 20. Jahrhunderts vermittelt, obwohl die Konvergenzen und auch die terminologischen Affinitäten unübersehbar waren, zum Beispiel in der Beschreibung der Rolle der >communities of faith and practice< als >interpretive communities< 12. Die zweite und für meine Suche nach einer angemessenen Methodik ebenso gravierende Folge war der Totalausfall einer nachvollziehbaren und lehrbaren Operationalisierung. Das heißt, einer bisweilen eindrucksvollen hermeneutischen Reflexion standen unter dem Programm des >canonical approach< auf der Ebene der Textarbeit unklare, beliebig erscheinende Verfahrensweisen und nicht selten die bloße Repetition bekannter Positionen der Auslegungen von Augustinus, Luther und Calvin gegenüber. Sollte das dte
einzige Möglichkeit, das Resultat einer vielversprechenden mew vision of the text< ~~
Durch die Lektüre der umfangreichen Studien von Childs war ich jedoch vor allem aufmerksam geworden auf die Kanonblindheit oder sogar -vergessenheit der etablierten Exegese. 13 Kanon war nicht nur zu denken als äußere juridische Bestimmung des Textes, sondern als Eigenschaft des biblischen Textes und als hermeneutisches Basiskonzept: Der Kanon entsteht nicht eher zufällig oder allein von äußeren Interessen gesteuert zu einem sehr späten Zeitpunkt der Kirchengeschichte, sondern die biblischen Texte entstehen als Kanon, d.h. als religiöse Basisliteratur einer Glaubensgemeinschaft. Kanon ist folglich ebenso prozesshaft wie resultativ zu denken. Zeitlich parallel dazu gab es in Deutschland Ansätze, das Spezifikum der biblischen Literatur mit dem Terminus der >Fortschreibung< zu fassen, reflektiert bei Jörg Jeremias und Odil Hannes Steck, aber bei diesen immer noch ganz dem produktionsästhetischen Paradigma 14 verhaftet. Hier war Childs sehr viel weiter gegangen. >Kanon< ist eine treffendere Interpretation dieses Phänomens, weil es das Movens dieses Prozesses integriert. Die Texte werden fortgeschrieben, weil ihnen von den Rezipierenden eine >Offenbarungsqualität< zuerkannt wird, sie werden Teil einer Glaubens-Tradition. 15 In der vorliegenden Gestalt des Kanons ist so etwas wie eine umfassende Sicht der Gotteserfahrungen Israels und der Kirche erreicht, die in ihrer hoch differenzierten und divergenten Ganzheit und Einheit über die (in Grenzen möglicherweise) rekonstruierbaren Vorstufen hinausgeht. Damit lag etwa Mitte der 90er Jahre gewissermaßen alles Wichtige auf dem Tisch, vor allem ein sehr umfassend verstandener Kanonbegriff, dessen Sinnspitze in der Verbindung von Textkorpus und Glaubensgemeinschaft besteht. Das implizierte zum einen ein Textkonzept, das den Kanon als komplexen Text in seiner Vielstimmigkeit und seinen intertextuellen Verstrebungen und Potentialen wahrnimmt; zum anderen die Lektüregemeinschaft, der sich der/jeder Bibelkanon verdankt und die ihn auch gewissermaßen in jeder Lektüre neu erstehen lässt - allesamt basale Markierungen eines 13
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Vgl. Stierle, Karlheinz: Werk und Intertextualität. In: Schmid, W; Stempel, W.-D. (Hg.): Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität. Wien 1983. S. 7-26. Vgl. Dohmen, Christoph; Oeming, Manfred: Biblischer Kanon warum und wozu? Eine Kanontheologie. Quaestiones disputatae 137. Freiburg 1992; die beste Einführung in den )canonical approach< ist: Childs, Brevard S.: The New Testament as Canon. An Introduction. Valley Forge 1994. S. 3-53; vgl. a.a.O. S. XXV: »In the end, I would rather speak of a new vision of the text rather than in terms of method.« Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit Childs und dem Vorschlag zur Operationalisierung einer kanonischen Lektüre Steins, Georg: Die »Bindung Isaaks« im Kanon (Gen 22). Grundlagen und Programm einer kanonisch-intertextuellen Lektüre. Freiburg 1999. (= Herders Biblische Studien 20). Vgl. Fish, Stanley: Is There a Text in this Class? The Authority of Interpretive Communities. Cambridge 1980.
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Dazu grundlegend: Seckler, Max: Über die Problematik des biblischen Kanons und die Bedeutung seiner Wiederentdeckung. Tübinger Theologische Quartalschrift 180 (2000). S.30-53. Dazu Steins a.a.O. S. 17-19. Dass auch eine ganz traditionell ansetzende Exegese sich von innen heraus, also aus der unablässigen Reflexion auf ihren Gegenstand dieser Position von Childs annähern kann, zeigt jetzt sehr schön die als Resümee einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit den Prophetenbüchern angelegte Abschiedsvorlesung von Jeremias, Jörg: Das Wesen der alttestamentlichen Prophetie. In: Theologische Literaturzeitung 131 (2006). Sp. 3-14; er widerlegt damit implizit solche Stimmen, die die Einführung des Reflexionsbegriffs )Kanon< (darum handelt es sich; dieser Kanonbegriff braucht genauso wenig historisch nachgewiesen zu werden wie etwa der Begriff )Redaktionsgeschichte<) als Verrat am Wissenschaftsanspruch der Exegese meinen deuten zu müssen, wie Frankemölle, Hubert: )Biblische< Theologie. Semantisch-historische Anmerkungen und Thesen. In: Theologie und Glaube 92 (2002). S 157-176; Frankemölles Versuch, die Zunft der Exegetinnen und Exegeten des Neuen Testaments auf eine literaturtheoretisch und bibelhermeneutisch längst überholte Position festzulegen, ist nach eigenem Bekunden gescheitert - zum Glück fiir die Bibelwissenschaft (und für den Autor)! 61
>kanonischen< Textbegriffs. Die geschichtliche Orientierung der klassischen Exegese war damit keineswegs preisgegeben, im Gegenteil: Beide, Text wie Lesegemeinschaft, sind natürlich geschichtlich bestimmt. Die historische Analyse wird also nicht ausgeklammert, aber neu ausgerichtet; es geht nicht mehr darum, einen Punkt hinter dem 16 Text >anzuzielen<, um dort der Wahrheit des Textes ansichtig zu werden. Mit dem Konzept Kanon verbindet sich eine Aufwertung des Textes in seiner spezifischen Gestalt, die er in der Bibel gefunden hat. Zu der angesprochenen Verlagerung gehört auch die Wende von der Fokussierung auf die distanzierte Rekonstruktion der Textproduktion hin zur Lektüre als einer je und je neuen Begegnung von Text und Rezipierenden. Die Vor-Geschichte des Textes ist nur noch von nachrangigem Interesse, weil sie kein Weg zur Bedeutung des Textes ist, sondern lediglich Antworten auf die Frage nach der Herkunft des Textes bereithält. Was mir an diesem Punkt fehlte, war eine theoretische Fundierung und Durchdringung des Ganzen, die eine bei Childs vermisste Operationalisierung des kanonischen Zugangs erlaubte. Dazu müsste man, so meine Intuition, beim Intertextualitätskonzept ansetzen, denn in ihm wird das meue< Textverständnis reflektiert. Die Position von Julia Kristeva, die diesen Begriff geprägt hat, war jedoch zu abstrakt, zu weit von der Praxis der Lektüre entfernt. Durch Kristeva stieß ich jedoch auf Michail M. Bachthin, die große Figur im Hintergrund vieler postmoderner Theoriedebatten. 17 Hier fand ich produktive Metaphern, und zwar im Umfeld seiner Überlegungen zum >dialogischen Wort<, etwa seine Beobachtung, dass jedes Wort eine Äußerung zu einer schon vielfach besprochenen Sache ist. Texte sind also immer als Elemente von Dialogkonstellationen . zu betrachten. Das bricht die intentio recta der Suche nach dem einen verbindlichen Sinn auf. Mir ging es dabei nicht um eine Bachthininterpretation, die hat ja bekanntlich ganz eigene Schwierigkeiten, wenn man nur an die verwickelte Autorschaft mancher Texte denkt; ich habe bei Bachthin vielmehr Anregungen gefunden, die meinen Blick auf Texte verändern und im Sinne der Wahrnehmung des Intertextualitätspotentials weiten. Der Beschäftigung mit Bachthin verdanke ich zwei grundlegende Einsichten im Hinblick auf ein Lektürekonzept für den Bibelkanon: Erstens konnte ich den Bibelkanon jetzt als geronnenen Dialog begreifen und beschreiben. Die klassische Methodik stört sich gehörig an der Polyphonie der Texte. Sie sucht einen Ausweg, indem sie die damit verbundene Herausforderung an die Lektüre >entspannt< durch eine Übertragung des Nebeneinanders der heterogenen Texte und Themen in ein zeitliches Nacheinander. Mir erscheint das äußerst problematisch, da der Bibelkanon dadurch radikal verändert und unter der Hand durch eine selbst geschaffene Entität, eine hypothetische Literaturgeschichte, ersetzt wird. Kanon, das heißt doch die Vergleichzeitigung des Ungleichzeitigen und die Einheit des Widersprüchlichen. Zweitens verlieren die Texte prinzipiell ihren >Blockcharakter<, ihre Abgeschlossenheit, und zwar nicht erst dort, wo sie explizit aufeinander Bezug nehmen (etwa in Zitaten oder durch die Verwendung gleicher Termini) und sich so fiireinander >öffuen<, sondern bereits durch die Juxta-Position. Erst im Zuge der Beschäftigung mit Bachthin, der in der deutschsprachigen Exegese keinerlei Aufmerksamkeit gefunden
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hatte, stieß ich auf einige vorsichtige Rezeptionen im amerikanischen Raum. 18 Bachthins Literaturtheorie li~ß sich hervorragend mit den Überlegungen von Childs und vor allem mit den Intuitiop.en seines Schülers Gerald T. Sheppard verbinden; eine Brücke bildeten fiir mich die identischen Leitmetaphern wie Arena und Feld. 19 Damit war ich beim nächsten Schritt in der Entwicklung eines Operationalisienmgskonzeptes. Vor der Formulierung einer Methodik musste ich über geeignete, die Lektüre steuernde Metaphern nachdenken. Hier kamen mir meine Münsteraner Studien bei Hans Blumenberg zu Hilfe, die mich schon früh für die unhintergehbare Rolle von Metaphern im Erkenntnisprozess sensibilisiert hatten. Die >historisch-kritische< Methodik verwendet vor allem zeitlich bestimmte Bilder aus der Archäologie und der Natur, wenn sie von >Schichten<, >Wachstum<, >Zusatz<, >Bearbeitung< u. ä. spricht. Ein dem Kanon und seiner Lektüre angemessenes Konzept müsste m. E. anders ansetzen; es hätte Raummetaphern zu bevorzugen, da es - sehr formal beschrieben - um ein Hin und Her im Raum des Textes geht. Daher verzichte ich auf missverständliche Termini aus der Intertextualitätsforschung wie >Prä-Text< oder >Folge-Text< und verwende im Anschluss an Gerard Genette und Renate Lachmann20 eine räumliche Terminologie: Der Hyper-Text ist der auszulegende und der Hypo-Text der jeweils eingespielte Text. Die Nähe zur Sprache des Internet war damals nicht in meinem Blickfeld, wäre aber ein Anlass zum Weiterdenken. Einer Anregung von C. Grivel folgend, begriff ich Lektüre als fortwährendes Kontextualisieren, genauer: als einen Aufbau von Text-Text-Relationen. 21 Aber damit stand ich sogleich vor einem ernsthaften Problem: War jetzt nicht das Ende eines wissenschaftlich verantwortbaren Auslegungskonzeptes erreicht? Diese Art der Lektüre bedeutet doch notwendigerweise den Eintritt in die völlige Subjektivität, da jede/r Lesende auf seine individuelle Art kontextualisiert. Einen Ausweg bot mir das Konzept des Mode111esers von Umberto Eco. 22 Im Anschluss daran arbeitete ich mit der Fiktion des >kanon-informierten Mode111esers<, d.h. die wissenschaftliche Auslegung wird zu einer Art offener Musterlektüre, besser: einer Darlegung der Lektüremöglichkeiten. Sie fiihrt Konstellationen, d.s. Text-Text-Relationen, vor, die sich bei der Beschäftigung mit dem Kanon ergeben, und diskutiert deren Potentiale für den Sinnaufbau. Das unterscheidet sich wesentlich von herkömmlicher Exegese, die doch immer auf Sinnfestlegung aus ist und damit Anspruch auf Verbindlichkeit erhebt. Ich klammere diesen Anspruch aus der Exegese aus, im Interesse der Sinnpotentiale des Textes und zur Erhaltung des wissenschaftlichen Anspruchs. Verbindlichkeit herzustellen ist die Auf18
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S. auch unten zum Stichwort >Anamnese<. Zu den Positionen (und zur Literatur) von Kristeva und Bachthin vgl. die entsprechenden Artikel im O.g. Lexikon von A. Nünning und meine Studie Die »Bindung Isaaks«.
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Newsom, C.A.: Bakhtin, the Bibel, and Dialogical Truth. In: Journal ofReligion 76 (1996). S. 290-306; Reed, W.: Dialogues ofthe Word. The Bible as Literature According to Bakhtin. New York 1993. Vgl. dazu und zum Folgenden: Steins, Georg: Kanonisch lesen. In: Blum, Erhard; Utzschneider, Helmut (Hg.): Lesarten der Bibel. Untersuchungen zur einer Theorie der Exegese des Alten Testaments. Stuttgart 2006. S. 45-64. Vgl. Genette, Gerard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt 1993; Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Modeme. Frankfurt 1990. Vgl. Grivel, Charles: Serien textueller Perzeption. Eine Skizze. In. Schmid, W.; Stempel, W.-D. (Hg.): Dialog der Texte. S. 53-83. Vgl. Eco, Umberto: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. 2. Aufl. München 1994. 63
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gabe einer Glaubensgemeinschaft, also einer speziellen >interpretive community<, mit den entsprechenden Funktionen und Institutionen und ihren geregelten Verfahren der unumgänglichen Vereindeutigung.23 Für mich besteht die Aufgabe wissenschaftlicher Bibelexegese darin, die fremden Texte lesbar zu halten, auch wenn die Kulturen schon untergegangen und die Sprachen >tot< sind, wie wir treffend sagen (das sollte übrigens auch den Autoren zugestanden werden, denn keine Exegese weckt Tote auf), Sinnpotentiale zu pflegen und Sinnmöglichkeiten zu zeigen. Das ist keine Zurückstufung.der Exegese, sondern eine überaus anspruchsvolle Aufgabe. Natürlich ist dabei die Historie immer im Spiel, wie sollte es anders sein, wenn wir der Fremdheit des Textes ins Auge schauen wollen. Nach Eco gehört zu jeder Äußerung eine ganze Welt, eine Enzyklopädie 24 ; sie ist nicht allein sinnentscheidend, aber sie muss gepflegt, oft in Teilen erst rekonstruiert werden, sonst haben wir prähistorische Großplastiken aus Granit vor uns, mit denen keiner mehr etwas anzufangen weiß, weil die Bezugssysteme nicht einmal mehr in den Umrissen bekannt sind. Dieses Konzept habe ich nicht theoretisch entwickelt, sondern in der Beschäftigung mit dem provozierendsten Text der ganzen Bibel, der Erzählung von der Opferung/Bindung des Isaak ausformuliert. Ich gebe diesem Text inzwischen die Überschrift Das Opfer Israels, aber das ist das Ergebnis einer fünfzehnjährigen Beschäftigung mit diesem Text. Zur Zeit arbeite ich an einem Buch zur Schrift des Propheten Amos. Auch hier versuche ich, den Text nicht in den Bahnen der klassischen Exegese gleich durch die Brille seiner Entstehung zu lesen, sondern konsequent als Teil des verlässlichsten Kontextes, den wir haben, das ist der Bibelkanon in seiner überlieferten Gestalt (in diesem Fall natürlich die Hebräische Bibel). Für mich ist der Bibelkanon der primäre Kontext der Lektüre biblischer Texte. Das Attribut primär bezieht sich hier natürlich nicht auf die Textentstehung, sondern aufunsere gegenwärtige Lektüre. Es wird deutlich, dass sich dieses Konzept von der üblichen >historisch-kritischen Exegese< absetzt; für mich ist sie in zweifacher Hinsicht problematisch: Erstens verlässt sie zu schnell die vorliegenden, empirisch überprüfbaren Zusammenhänge und postuliert >bessere< Kontexte im Rahmen einer - dann fast ausschließlich aus den Bibeltexten - rekonstruierten Religions- und Literaturgeschichte. Zweitens löst sie zu leicht Zusammenhänge auf und interpretiert selbst da, wo es keine interpretierbaren Ganzheiten mehr gibt, Z.B. ein vereinzeltes Prophetenwort von zwei Zeilen Umfang}5 Es liegt mir fern, im Rahmen meines Ansatzes eine lange Traditions- und Literaturgeschichte der Bibel zu leugnen, wohl aber bestreite ich entschieden die Möglichkeit einer vollständigen Rekonstruierbarkeit älterer Textstufen oder gar der Etappen einer 23 Vgl. Steins, Georg: Der Bibelkanon als Text und Denkmal. Zu einigen methodologischen Problemen kanonischer Schriftauslegung. In: Auwers, Jean-Marie; De Jonge, Henk Jan (Hg.): The Biblical Canons. Leuven 2003. S. 177-198. 24 Vgl. Eco, Umberto: Zwischen Autor und Text. Interpretation und Überinterpretation. München 1992. 25 Vgl. dazu etwa die Diskussion um Amos 9,7, das in der traditionellen Prophetenforschung als besonders markiges und authentisches Prophetenwort gilt; der Kontext (vor allem die letzte Hälfte von Amos 9) gilt aber als jung, ist zeitlich weit von Amos entfernt. Voraus geht eine semantisch äußerst brüchige und kaum verständliche Vision. Das Wort in Amos 9,7 ist also bei dieser Rekonstruktion ziemlich isoliert. Wie soll da eine Interpretation möglich sein? Die Lage ändert sich, wenn ich Am 9,7 konsequent als Teil von Amos 9 lese. 64
mündlichen Überliefenmg. Die· Hürde des Endtextes ist nicht so Jeicht zu überspringen; nach der Auflösung der vorhandenen (kanoriischen) Kontexte haben wir allzu oft keine interpretierbareri Ganzheiten mehr vor uns. 26
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Zur Methodik einer kanonisch-intertextuellen Bibellektüre
Nachdem ich im Vorangehenden meinen persönlichen Erkenntnisweg umrisshaft beschrieben habe, wechsele ich für diesen letzten Teil das Genus, da es jetzt um die Darstellung eines Methodenprogramms 27 geht. Es wäre ein Fehlschluss, aus der Erkenntnis, dass es (noch) kein etabliertes und weithin akzeptiertes Methodenprogramm einer kanonischen oder - wie ich es nenne >kanonisch-intertextuellen< Bibellektüre gibt, die Folgerung zu ziehen, dieser Art der Lektüre fehle es an Methode überhaupt und sie sei deshalb wissenschaftlich defizitär oder sogar unmöglich. Es sollte nicht vergessen werden, dass die Ausformulierung elaborierter Methodenlehren zur >historisch-kritischen Exegese< erst nach mehr als 150 Jahren, und zwar auffalligerweise in der Phase ihrer nachlassenden Bedeutung, erfolgt ist. Zur Frage der Erkenntnissicherheit ist festzuhalten, dass Spekulationen über Textund Traditionsabhängigkeiten und der Entwurf hypothetischer Textgenesen zwar im exegetischen Betrieb gängig sind; es dürfte aber einsichtig sein, dass Ähnlichkeitsbeziehungen, auf die eine kanonische Lektüre rekurriert, leichter zu demonstrieren und zu diskutieren sind als die viel stärkeren Annahmen über Abhängigkeiten der unterschiedlichsten Art. Ein den voranstehenden Überlegungen entsprechendes Operationalisierungskonzept muss drei Bedingungen erfüllen: Es muss erstens der Lektüre als dem Ereignis der Begegnung von Text und Rezipierenden entsprechen, das heißt es legt den Text nicht auf eine Bedeutung fest, sondern entspricht der Offenheit des Lektüreprozesses dadurch, dass es Rezeptionsmöglichkeiten vorstellt und exemplarisch Sinnfindungen durchspielt. Das Konzept muss zweitens die Lektüresteuerung durch den Kanon der Bibel so aufnehmen, dass der Kanon als Basis, Raum und Horizont der Rezeption des auszulegenden Textes zur Geltung kommt. Drittens muss das Konzept den spezifischen Möglichkeiten des Sinnaufbaus im Kanon entsprechen, wie sie unter dem Stichwort Intertextualität reflektiert wird. Die Elementargröße einer kanonischen Lektüre ist nicht der Einzeltext im Sinne einer Perikope, sondern das B!!ch. Bücher sind unstrittig abgegrenzte Ganzheiten, die durch einen Titel oder eine Ubetschrift markiert sind. Sie sind - nach oben hin - zu Kanonteilen (vgl. etwa die Dreiteilung des hebräischen Bibelkanons in Tora, Propheten und Schriften) zusammengefügt und erlauben - nach unten hin - eine Einteilung in größere Sinneinheiten (vgl. etwa die Einteilungen der Prophetenbücher oder die fünf 26 In Bezug auf einen klassischen Fall der neutestamentlichen Wissenschaft gesprochen: Ist die Logienquelle Q wirklich verlässlich interpretierbar oder haben wir es nicht vielfach nur noch mit Fragmenten zu tun? Q ist doch keineswegs das fiinfte Evangelium. 27 Vgl. zum Folgenden vor allem meinen O.g. Beitrag »Kanonisch lesen«; ferner: Ballhorn, Egbert; Steins, Georg (Hg.): Der Bibelkanon in der Bibelauslegung. Methodenreflexionen und Beispielexegesen. Stuttgart 2007. 65
Bücher im Psalter u.a.m.). Dennoch ist der Untersuchungsgegenstand in der exegetischen Praxis normalerweise ein leichter überschaubarer Buchausschnitt, eine Perikope. In einer kanonischen Lektüre werden Texte in Bezug auf andere Texte gelesen. Der Aufbau von Text-Text-Relationen wird durch unterschiedliche Faktoren gesteuert, die zu erfassen und zu beschreiben sind. Ein erstes Bündel von lektüre steuernden Faktoren sind Ähnlichkeiten, die aufgebaut werden über - Stichwortbezüge/Relationen zu Schlüsseltexten _ SignalmetaphemlTypologien/Paradigmen (z.B. Sintflut; Exodus) _ Signalwörter (z.B. Bundesfomel >Ich - euer Gott; ihr - mein Volk< oder ihre Elemente). Der Hypertext wird durch die Beobachtung von Ähnlichkeiten aufgebrochen und gleichsam angereichert mit Hypotexten, die in den Sinnaufbau hineinspielen. Die darüber aufgebauten Relationen sind zu beschreiben und auf ihren Beitrag zur Sinnkomplexion zu befragen. Ein zweites Bündel von Lektüresteuerungen hängt an den Positionierungen des Hypertextes im Kanon. Dabei sind die verschiedenen Konstitutionsebenen des Kanons zu unterscheiden: Buch, BuchgruppelKanonteil, Gesamtkanon. Literarisch besonders ausgezeichnet ist die Buchebene; die niederen und die höheren Ebenen treten nicht in dieser Deutlichkeit hervor und sind in der Wissenschaft strittig. Der Gesamtkanon ist allerdings wieder ähnlich klar umschrieben wie das Buch, so dass sich eine beachtenswerte Relation von Buch und Kanon ergibt. Die zunftübliche Ausrichtung auf Perikopen (d.h. Ausschnitte) erscheint daher methodologisch problematisch, wenn auch pragmatisch unumgänglich. Das Buch baut für den Hypertext einen klar abgrenzbaren Horizont auf, es schiebt sich als Hypotext in die Wahrnehmung des Hypertextes, so dass sich vor diesem Horizont etwas über das Sinngefälle des Textes erkennen lässt. Darüber hinaus ist der differenzierte Aufbau des Kanons zu berücksichtigen, das Gesamtgefälle (bis hin zur zwei-einen Bibel aus Altem und Neuem Testament), das schon bei den Relationen zwischen Schlüsseltexten beachtet worden ist. Daraus ergibt sich nun eine doppelte Aufgabe für die Exegese: Sie hat zum einen die Kanonstrukturen, -funktionen und -tendenzen zu erfassen und zu beschreiben; das wäre eine Erweiterung der klassischen >Allgemeinen Einleitung<, auf die bei der Lektüre des Hypertextes zurückgegriffen werden kann. Sie hat zum zweiten in der Arbeit am Hypertext dessen Sinnmöglichkeiten im kanonischen Kontext - zu ermitteln - zu beschreiben - zu integrieren (in kanonübergreifende Sinnlinien) - kritisch auf andere/frühere Interpretationen zu beziehen. Eine kanonische Lektüre setzt folglich einen >doppelten Blick< und ein >stets neues Hören< voraus: die Arbeit am Einzeltext geschieht im Resonanzraum des Kanons; hier findet ein ständiges - tendenziell unabschließbares - >Hin und Her< statt. Entsprechend der Vielzahl möglicher Text-Text-Relationen vollzieht sich die Auslegung in immer neuen Anläufen, um das Feld, in dem der Hypertext situiert ist, durch eine Vielzahl von Punkten zu markieren. Der experimentelle Charakter des Unternehmens durch66
kreuzt die Vorstellung der puren Faktizität eines textlichen Gegenübers und steigert das Bewusstsein ftir die Besonderheit und den Siimreichtum des Textes. Die enge Bindung an den kanonischen Kontext belässt einen Text erst einmal in seinem - für heutige Lesende - primären kanonischen Kontext und bewahrt die Lektüre davor, zu schnell >zu viel< zu wissen. So widersteht sie der Versuchung, den kaum gekannten Text sogleich in rekonstruierte Kontexte (z.B. ein Redaktionsmodell, eine historische Situation oder die Religionsgeschichte eines fremden Kulturraumes) hineinzustellen. Kanonische Lektüre ist geprägt von dem Ethos, bei der Sache zu bleiben, die gerade nicht jenseits des Kanons zugänglich ist. Das gilt theologisch, wenn das Wort Gottes im Wort der Schrift zu finden sein soll; und es gilt historisch, weil der Bibeltext aufgrund der insgesamt doch sehr spärlichen Quellenlage nicht so einfach in einen archäologisch-kulturgeschichtlichen Kontext zurückübersetzt werden kann. Eine kanonische Lektüre kann auch als massive Verlangsamung des Leseprozesses durch fortwährendes Kontextualisieren und Intertextualisieren beschrieben werden. Wie jede Lektüre ist auch eine kanonische stets vorläufig und überholbar, ohne dadurch entwertet zu werden. Die Einsicht in die Vorläufigkeit der Ergebnisse und die Möglichkeit der Revision gehören zum Anspruch von Wissenschaftlichkeit; in Bezug auf die Bibel ist dies in eminenter Weise zudem von ihrem uneinholbaren Thema her gefordert (vgl. Markus 12,24). Gegen den bisweilen sehr schnell aufkommenden Verdacht eines naiven Biblizismus ist daran zu erinnern, dass diese Lektüre nicht vor-, sondern nachkritisch ist und auf unverzichtbaren Voraussetzungen beruht, weil sie sowohl eine literaturwissenschaftliche wie eine historische Schulung verlangt.
Ausblick(e) und Aufgaben Ich sehe eine Reihe von Forschungsaufgaben. Zunächst einmal steht die Ausarbeitung der Methodik an, so dass sie leicht lehrbar und lernbar wird. Dann verdient die Frage der Einheit des Kanons stärkere Beachtung; dabei geht es nicht um Nivellierung der Vielstimmigkeit, aber m.B. gibt es in dieser Vielstimmigkeit eine einheitliche >Botschaftd Der Kanon baut durch seine Architektur (>von der Schöpfung zur Neuschöpfung<) und durch die über ihn verteilten Doxologien einen hermeneutischen Großhorizont auf. Thema ist die Durchsetzung des Königtums Gottes. 28 Für die Integration der beiden Teile der zwei-einen christlichen Bibel und die Frage der Kontinuität von Altem und Neuem Testament ist das enorm wichtig. Eine dritte Aufgabe sehe ich in der Reflexion über den >formalen Sinn< des Kanons; hier arbeite ich mit dem Begriff der >Anamnese<: Vergangenheit ist im Kanon >aufgehoben<, denn es geht nicht eigentlich um das Vergangene, sondern um die Möglichkeit der Begegnung mit dem guten Anfang, die Sprengung der Zeit, die Umkehrung der Bewegung zum Tod (oder
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V gl. Steins, Georg: Die Bibel als »Ein Buch« lesen? Eine innerbiblische Lektüreanleitung. In: Rotze, Gerhard; Spiegel, Egon (Hg.): Verantwortete Exegese. FS F.G. Untergaßmair. Berlin 2006. (= Vechtaer Theologische Beiträge 13). S. 69-78; ders.: Die Einheit der Heiligen Schrift - ein »aufgegebenes« Thema der Bibelexegese. Religionsunterricht an höheren Schulen 48 (2005). S. 140-150.
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wie immer man es nennen will).29 Im Eintauchen der Lesenden in dieses Reich der Texte, im Aktivieren der Intertextualität geschieht bereits Verwandlung: Es baut sich eine eigene Sicht der Wirklichkeit auf, wenn lesend und hörend die Welt aus der Vergangenheit und Zukunft Gottes entziffert wird. Schließlich stellt sich die Aufgabe, über die >Buchlichkeit< der Schrift nachzudenken; Hermann Tim hat dafiir das schöne Wort von der >Libralität< geprägt. 30 Einer der Großen der modemen katholischen Exegese, Alfons Deissler, schreibt im Vorwort zur Neuausgabe seines Klassikers Die Grundbotschaft des Alten Testaments: »Die Kanon-Werdung der biblischen Bücher bedeutet nicht anderes, als daß die Hl. Schrift des Gottesvolkes zu einem eigenen Heilswerk Gottes für sein Volk geworden ist. Sie schwebt nicht einfach als begleitende Kommentierung über den göttlichen Heilstaten - wiewohl sie auch diese Funktion ausübt -, sondern wächst zu einer >Wort-Welt< heran, in welcher die Menschen heimisch und zu dem werden, was man >gläubig< nennt.«3! Dann stellt sich die Aufgabe, den literaturtheoretischen Diskurs mit der neuen Historik zu verbinden; viele Schnittstellen sind bereits benannt, Z.B. in der tropologischen Ver32 fassung von Geschichte oder der Diskurstheorie. Der Bibelkanon und seine big story bieten nicht nur Geschichtsschreibung, sondern stellen literarisch-metaphorische Muster bereit, die Geschichtsschreibung erst ermöglichen. Die Reflexion auf die Lektüre des Bibelkanons bleibt eine ständige Aufgabe.
Sandra Hübenthai (Exegese des Neuen Testaments)
Wie kommen Schafe und Rinder in den Tempel? Die >Tempelaktion< (Joh 2,13-22) in kanonisch-intertextueller Lektüre
Vielen Exegeten mag >Intertextualität< eher zufällig begegnet sein: Auf der Suche nach Begriffen, mit denen sich das Phänomen >Altes Testament im Neuen Testament< adäquat b~schreiben lässt, stolpert man gewissermaßen über das Wort und stellt nach kurzem Einlesen fest, auf einen Begriff gestoßen zu sein, der das Auftauchen von Texten in Texten benennt, ohne dabei Kategorien wie >Verwendung< oder dem Schema >Verheißung/Erfüllung< verhaftet zU sein. Doch hier beginnen die Probleme: Intertextualität ist in ihrer Anwendung einer >intertextuellen Lektüre
Intertextualität und Exegese
29 Vgl. Steins, Georg: »Wort des lebendigen Gottes« - neue Brücken zwischen Bibelauslegung und Liturgie. In: Theologie der Gegenwart 48 (2005). S. 242-253. 30 Vgl.: Steins, Georg: Das Lesewesen Mensch und das Buch der Bücher. Zur aktuellen bibelwissenschaftlichen Grundlagendiskussion. Stimmen der Zeit 221 (2003). S. 689-699. 31 Deissler, Alfons: Die Grundbotschaft des Alten Testaments. Ein theologischer Durchblick. Freiburg 1995. S. 8. 32 Vgl. die Übersicht in: Göertz, Hans-Jürgen: Unsichere Geschichte. Zur Theorie historischer Referentialität. Ditzingen 2001. 68
Als die Intertextualität ihren Weg in die Exegese fand, wurde relativ schnell der Vorwurf laut, hier werde >alter Wein in neuen Schläuchen< angeboten, denn schließlich waren Quellen-, Traditions- und Abhängigkeitsforschung schon immer ein Teilgebiet der historischen Kritik. Was sollte das Neues sein? In der Tat ist an dem Vorwurf etwas dran, betrachtet man die Flut von Beiträgen, die mit dem Etikett >intertextuell< werben, diesem Anspruch jedoch nicht gerecht werden. Oft genug kommt eine Studie 1 Um Klarheit in der Argumentation zu erhalten, wird in diesen Ausfiihrungen folgendermaßen unterschieden: >Intertextualität< bezeichnet den Begriff, >intertextuelle Lektüre< seine methodische Umsetzung. 2 Schmitz, Thomas A.: Modeme Literaturtheorie und antike Texte. Eine Einfiihrung. Darmstadt 2002. S. 91. 69
daher, die nach Abhängigkeiten, Einfluss und Vorbildern fragt und damit verrät, dass sie Intertextualität methodisch nicht adaptiert hat. 3 Thomas R. Hatina formulierte schon vor geraumer Zeit, dass Intertextualität nicht nur ein Begriff sei, sondern eine Methode, die in einem bestimmten Kontext und zu einem konkreten Zeitpunkt entstanden ist. 4 Er weist darauf hin, dass jeder, der mit dem Begriff arbeitet, sich darüber klar sein müsse, dass dieser einen ideologischen Kontext hat, einen bestimmten Textbegriff voraussetzt und dass es einen Unterschied zwischen Intertextualität und literarischem Einfluss gibt. Betrachtet man die bisherige exegetische Diskussion zur Intertextualität, so ist angefangen von einer systematischen Reflexion des Begriffs bis zu Kriterien für seine Operationalisierbarkeit noch einiges an Arbeit zu leisten. Allem voran steht das Anliegen, textorientierte Zugänge vom Generalverdacht der Unwissenschaftlichkeit zu befreien, mit dem ihnen gerade von Seiten der historisch-kritischen Exegese noch häufig begegnet wird. Dabei wird gerne ignoriert, dass auch ein textorientierter Zugang, der zunächst - und das heißt nicht: ausschließlich - synchron arbeitet, darum weiß, dass der vorliegende Text in einer historisch-konkreten Situation entstanden ist, und dieses Wissen nicht einfach unreflektiert beiseite schiebt. Dabei müsste gar nicht diskutiert werden, als hätte die eine Auslegungsrichtung vor, der anderen das Feld streitig zu machen. Im Gegenteil, wenn Intertextualität nach Sinneffekten fragt, die sich durch das Zusammenlesen von Texten ergeben, unterscheidet sich das deutlich von historisch-kritischen Fragenstellungen. Wird. auf der einen Seite eher nach der Form eines literarischen Bezugs und seiner Veränderung gegenüber dem Prätext 5 gefragt, so beschäftigt sich die andere Seite mehr mit der Frage nach der Wirkung dieses Bezugs. Historisch-kritische und intertextuelle Herangehensweisen stehen sich nicht gegenseitig im Weg, denn intertextuelle Lektüre erforscht die Beziehungen zwischen zwei (oder mehreren) Texten, historisch-kritische Lektüre als extratextuelle Herangehensweise fragt nach ihrer Entstehung. Die eine Herangehensweise arbeitet im Text bzw. zwischen Texten, die andere um den Text herum. Beide Zugänge sind wichtig, um zu einem ausgewogenen Verständnis zu kommen, und sollten einander sinnvoll zugeordnet sein. Das ist genau der Punkt, an dem ein textorientiertes Konzept wie die intertextuelle Lektüre ansetzt: Der Text selbst rückt (wieder) ins Zentrum und seiner Auslegung wird eine hermeneutische Reflexion über den Textbegriff vorgeschaltet. Das Axiom >Keine 3
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Thomas Schmitz verdeutlicht rur den Bereich der antiken Philologie, was auch fiir die Bibelwissenschaft gesagt werden kann: »Hinter dem Begriff verbirgt sich gelegentlich nicht mehr als eine modisch aufgemotzte Version von Untersuchungen, die schon seit Jahrhunderten gefiihrt werden: Welche früheren Werke zitiert ein Autor, wie verarbeitet er seine Vorbildtexte, wie signalisiert er Anspielungen und Parodien? Tatsächlich haben wir es manchmal mit Etikettenschwindel zu tun, insbesondere dort, wo im Vordergrund des Interesses nicht mehr der Text, sondern der Autor steht, also wenn etwa Kategorien wie )Einfluss< oder )Quellen< ins Spiel kommen.« Schmitz, Thomas A.: Modeme Literaturtheorie und antike Texte. Eine Einfiihrung. Darmstadt 2002. S. 9. Vgl. Hatina, Thomas R.: Intertextuality and Historical Criticism in New Testament Studies: Is there a Realtionship? In Biblical Interpretation 7 (1999). S. 18-43. Hier S. 29. Wobei der Begriff )Prätext< bereits ein bestimmtes literarisches Abhängigkeits- und Einflussverhältnis nahe legt, was bei Altes TestamentlNeues Testament-Relationen noch verständlich, bei Neues Testament/Neues Testament oder Altes Testament/Altes TestamentRelationenjedoch bereits höchst problematisch ist.
Intertextualität ohne Textualität< gebietet der Bibelwissenschaft zunächst, ihr eigenes Arbeitsgebiet zu definieren und zu klären, was sie unter einem Text versteht. Für die Exegeten ist dies eine unerwartete Herausforderung, denn bis in die jüngste Zeit hinein wurde >Text< in der Exegese als ein gesetzter Block verstanden, dem ein 'von einem Autor oder Redaktor eingepflanzter Sinn innewohnt, welchen der Leser zu entdecken und zu explizieren hat. In der historischen Kritik ist der Autor Garant des Sinns, es wird produktionsorientiert gedacht. Der Rezipient hat die Aufgabe, die Intention des Autors, wie sie sich im Text ausdrückt, aufzuspüren und zu verstehen. Die Konzilskonstitution Lumen Gentium 14-16 vermag diesen Verstehensprozess zu illustrieren: Sie beschreibt eine Hinordnung der anderen Konfessionen und Religionen auf die Katholische Kirche im Bild konzentrischer Kreise. Die einzelnen Gruppen sind demnach näher oder weiter von der Mitte - der katholischen Kirche, in der die Kirche Christi subsistiert - entfernt. Auf den Verstehensprozess von Texten übertragen heißt das, dass der Leser mit seinem Textverständnis näher oder weniger nahe an dem vom Autor intendierten Sinn >dran< ist. Entsprechend ergibt sich wie auf einer Zielscheibe auch eine Wertigkeit der Interpretationen: Gemessen am Fixpunkt der Autorintention können sie mehr oder weniger zutreffend sein. Doch zeigen sich hier auch schon ganz klar die Grenzen des Modells: Wer wird für sich behaupten können, mit der Interpretation >ins Schwarze< getroffen zu haben, wenn die Mitte der Zielscheibe gar nicht zu orten ist, da es nicht möglich ist, den oder die Autoren - seien sie empirisch oder implizit - nach ihrer Intention zu befragen. Die Mitte der Zielscheibe bleibt notwendig ein Konstrukt, und damit ebenso die Frage, welche Auslegung ihr am nächsten kommt. Freilich ein Konstrukt, über das sich intensiv forschen und streiten lässt, wie die Exegese hinlänglich bewiesen hat. Die Frage nach dem Textkonzept, das der eigenen Forschung zugrunde gelegt wird, ist in exegetischen Kreisen nach wie vor heikel, und wer implizit von der oben skizzierten Vorstellung ausgeht, ist nicht eben begeistert, wenn sich sein Vorwurf, die rezeptionsästhetische Lektüre sei beliebig, letztendlich als Bumerang erweist. Die Vorstellung vom Text als abgeschlossenem Block - gerne auch >Textblock< genanntmit ihm innewohnendem und so dem Rezipienten vorgegebenem Sinn, der durch die Lektüre extrahiert wird, 6 ist längst überholt. Im Poststrukturalismus und Dekonstruktivismus, die sozusagen die Großeltern der Intertextualität sind, ist der Text nicht mehr länger nur etwas Schriftliches, schon gar nichts Abgeschlossenes. Ein Text ist immer ein Prozess, sei es ein produktiver oder ein subversiver. 7 Um der Gefahr der beliebigen Auslegung zu entgehen, kam und kommt die Exegese nicht umhin, ein diskursfähiges Textkonzept vorzulegen. Wilhelm Egger legte in sei6
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Vgl. die These von Hartmut Gese »Ein Text ist so zu verstehen, wie er verstanden werden will«, zitiert bei Frankemölle, Hubert: Das Neue Testament als Kommentar. Möglichkeiten und Grenzen einer hermeneutischen These aus der Sicht eines Neutestamentlers. In: Hossfeld, Frank-Lothar (Hg.): Wieviel Systematik erlaubt die Schrift? Auf der Suche nach einer gesamtbiblischen Theologie. Freiburg 2001 (= Quaestiones Disputatae 185). S. 200-278. Hier S. 258. Frankemölle resümiert zutreffend: »Bei diesem Modell ist der Text das Subjekt, sein Sinn scheinbar objektiv vorgegeben, den der Leser nur aus dem Text zu extrahieren hat und dies auch kann, da er sich ihm gemäß dieser Vorstellung im Leser einfach abbildet« (ebd.). Vgl. Hatina, Thomas R.: Intertextuality and Historical Criticism in New Testament Studies: Is there a Relationship? In: Biblical Interpretation 7 (1999). S. 18-43. 71
ner Methodenlehre zum Neuen Testament 1986 als einer der Ersten ein Methodenbuch zum Neuen Testament vor, das die Frage nach dem Textbegriffund nach literarischen Herangehensweisen vor die historisch-kritischen stellte. Es ist der SCfu-'itt in die richtige Richtung: Wer an Texten arbeitet, muss zunächst schlüssig darlegen, was ein Text ist. Wenngleich im Bereich der Texttheorie in der Exegese in den letzten Dekaden viel geschehen ist, bleibt diese Frage problematisch, wie ein Blick in die einschlägige Literatur ernüchternd belegt: Auch in den neueren Methodenbüchern finden sich viele hilfreiche Anweisungen zur methodischen Arbeit am konkreten Text, aber kaum Definitionen desselben. 8 Noch immer ist der literarische Textzugang dem historischkritischen nachgeordnet. Für eine in der Exegese verwendbare Texttheorie sei hier in Anlehnung an die Überlegungen Wilhelm Eggers und die Ausfiihrungen Umberto Ecos ein lokales Textkonzept9 vorgeschlagen, das Text als sprachliches Zeichensystem versteht, dessen Textualität durch Kohärenz und Kohäsion 10 bestimmt ist. Die Deutungshoheit verschiebt sich dabei leicht in Richtung Rezipient, denn es wird davon ausgegangen, dass jeder Text sowohl geschlossen als auch offen ist und die Sinngabe produktions- wie rezeptions orientierte Aspekte hat. 11 Der Text wird folglich nach Abschluss der Bearbeitung durch den Autor autonom. Der Autor wird zum Leser und besitzt als Rezipient nicht mehr die Deutungshoheit über den Text. Lesen als Aktualisierung des Textes wird zu einem Weg der Rekonstruktion des Kommunikationsgeschehens, das der Text an sich ist. Durch die Lektüre, d. h. indem der Rezipient sich den Text zu Eigen macht, wird dieses Kommunikationsgeschehen wieder eingeholt, der Text erweist seine Dialogizität. Jeder Text, der von der Autorenseite her (ab-)geschlossen ist, muss von der Leserseite aktualisiert und seine offenen Stellen gerullt werden, um verstanden zu werden. 12 Dabei gibt es kein >richtig< und >falsch< in einem absoluten Sinn. Ähnlich V gl. hierzu Söding, Thomas; Münch, Christian: Kleine Methodenlehre zum Neuen Testament. Freiburg 2005. Ferner Berger, Klaus: Exegese des Neuen Testaments. Neue Wege vom Text zur Auslegung. 3. Auflage Heidelberg 1991; Schnelle, Udo: Einführung in die neutestamentliche Exegese. 5. Auflage Göttingen 2000 oder Zimmermann, Heinrich: Neutestamentliche Methodenlehre. Darstellung einer historisch-kritischen Methode. 7. Auflage Stuttgart 1982. 9 Im Gegensatz zu einem globalen Textkonzept. Während ein globaler Textbegriff beliebige Zeichen- und Regelkomplexe annimmt, also auch Film, Kunst und Musik, geht ein lokales Textverständnis von einem Text als einer Einheit von sprachlichen Zeichen aus. Ein globaler Intertextualitätsbegriff bezeichnet als Intertextualität entsprechend alle Bezüge zwischen Texten im >Universum der Texte<, ein lokaler Intertextualitätsbegriff definiert Intertextualität als intersubjektiv identifizierbare Beziehungen zwischen Texten. V gl. Tegtmeyer, Henning: Der Begriff der Intertextualität und seine Fassungen - Eine Kritik der Intertextualitätskonzepte Julia Kristevas und Susanne Holthuis'. In: Klein, Josef; Fix, Ulla (Hg.): Textbeziehungen. Linguistische und literaturwissenschaftliehe Beiträge zur Intertextualität. Tübingen 1997. S. 49-81. Hier S. 50f. 10 Zur Frage von Kohärenz und Kohäsion als Textkriterium vgl. Becker, Eve-Marie: Was ist >Kohärenz Ein Beitrag zur Präzisierung eines exegetischen Leitkriteriums: Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft 94 (2003). S. 97-121. 11 Zu geschlossenen und offenen Texten vgl. Eco, Umberto: Lector in fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten München 1987. S. 69-72. 12 Hier steht das Textmodell Ecos im Hintergrund, wie er es in der Studie Lector in Fabula vorgelegt hat. Zur Anwendung von Ecos Modell im theologischen Bereich vgl. Alkier, Ste-
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verhält es sich auch mit intertextuellen Bezügen: Durch Markierung kann die Produktionsseite in unterschiedlicher Deutlichkeit auf die Sinngabe Einfluss nehmen, das Erkennen und Interpretieren dieser Bezüge bleibt dennoch Aufgabe des Rezipienten. Weder der Autor noch der Rezipient hat also die alleinige Deutungshoheit über den Text, vielmehr ist davon auszugehen, dass die Sinngabe im Kommunikationsakt zwischen Text und Rezipient stattfindet. Mit Eco-ins Wort gebracht, »präsentiert sich eine Literatur, die mit Zitaten spielt, gewöhnlich als eine Herausforderung des Lesers durch einen Text, der gewissermaßen dazu auffordert, sein dialogisches Geheimnis zu entdecken«.13 So formulieren auch George Aichele und Gary Philipps rur den exegetischen Bereich: »Meaning does not lie >inside< texts, but rather in the space >between< texts.«14 Entsprechend erscheint mir für die biblische Exegese ein Konzept von Intertextualität geeignet, das intersubjektiv identifizierbare Beziehungen von Texten untersucht, gelegentlich aber auch außertextliche Zeichenkomplexe einbeziehen kann. Der Rezipient und seine Interpretationsarbeit spielen dabei eine entscheidende Rolle. 15 Doch damit nicht genug. Die Kanonisierung der biblischen Schriften zeigt, dass biblische Texte nicht ohne den Rezipienten oder eine Rezeptionsgemeinschaft überleben können. Das betrifft auch das Neue Testament, denn hier werden Texte erst durch die Rezeption der Glaubensgemeinschaft zur Heiligen Schrift. Es deutet sich an, dass die >biblische< Intertextualität ein Sonderfall ist, und das aus zwei Gründen: Zum einen geht es hier um normative, heilige Texte, zum anderen ist der primäre Kontext der Einzelbücher - anders als in der Literaturwissenschaft oder gar bei intermedialen Studien - der Kanon der Heiligen Schrift. In der >biblischen< Intertextualitätsforschung ist der wichtigste Bezugsrahmen der Kanon, Bezüge außerhalb des Kanons werden wenn überhaupt - meist nur mit abgestufter Wertigkeit untersucht. Es wird deutlich, dass zwischen einer intertextuellen Lektüre der Bibel mit einem anderen literarischen Werk wie etwa einem Renaissanceroman und der intertextuellen Lektüre innerhalb des biblischen Kanons methodische wie hermeneutische Differenzen bestehen. Während erstere problemlos mit einem weiten Intertextualitätskonzept jenseits der fiir den Bereich der Bibelwissenschaft verabredeten Regeln durchfiihrbar ist, bleibt letzt~re an ihren Kanon - und damit ihre Interpretationsgemeinschaft - gebunden. So scheint es mir um der wissenschaftlichen Transparenz geboten, begrifflich klar zu unterscheiden zwischen >intertextueller Lektüre< mit unterschiedlichen Intertextualitätskonzepten und
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fan: Intertextualität - Annäherungen an ein texttheoretisches Paradigma In: Sänger, Dieter (Hg.): Heiligkeit und Herrschaft. Intertextuelle Studien zu Heiligkeitsvorstellungen und zu Psalm 110. Neukirchen/Vluyn 2003 (= Bonner Theologische Studien 55). S. 1-26. Hier S.2lf. Eco, Umberto: Intertextuelle Ironie und mehrdimensionale Lektüre. In: Ders: Die Bücher und das Paradies. München 2003. S. 212-237. Hier S. 227f. Aichele, George; Phillips, Gary A: Exegesis, Eisegesis, Intergesis. In: Dies.: Intertextuality and the Bible. Nashville 1995 (= Semeia 69170). S. 7-18. Hier S. 14. So fragt Gerda Haßler zu Recht: »Geht es wirklich immer nur um die Rekonstruktion der Absicht des Autors, oder können Texte als Intertexte auch ganz anders wirken als vom Autor beabsichtigt? Ist dieses Wirken dann nicht für die Geschichtsschreibung ebenso relevant wie die auf die Rekonstruktion des ursprünglichen Sinns gerichtete Arbeit?« Haßler Gerda: Texte im Text: Überlegungen zu einem textlinguistischen Problem. In: Dies. (Hg.); Texte im Text. Untersuchungen zur Intertextualität und ihren sprachlichen Formen. Münster 1997 (= Studium Sprachwissenschaft Beiheft 29). S. 25. 73
aus dem Tempel hinaus, dazu die Schafe und Rinder; das Geld der Wechsler schüttete er aus, und ihre Tische stieß er um. ·16ZU den Taubenhändlern sagte er: Schafft das hier weg, macht das Haus meines Vaters nicht zu einer Markthalle! 17Seine JUnger erinnerten sich an das Wort der Schrift: Der Eifer fiir dein Haus wird mich verzehren. 18Da stellten ihn die Juden zur Rede: Welches Zeichen lässt du uns sehen als Beweis, dass du dies tun darfst? 19Jesus antwortete ihnen: Reißt diesen Tempel nieder, in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten. 2°Da sagten die Juden: Sechsundvierzig Jahre wurde an diesem Tempel gebaut, und du willst ihn in drei Tagen wieder aufrichten? 21Er aber meinte den Tempel seines Leibes. 22Als er von den Toten auferstanden war, erinnerten sich seine Jünger, dass er dies gesagt hatte, und sie glaubten der Schrift und dem Wort, das Jesus gesprochen hatte.
einem unbegrenzten Textpool und >kanonisch-intertextueller Lektüre< mit einem Kanon und in Relation zu einer konkreten Interpretationsgemeinschaft. Der oben verwendete Begriff >biblisch< statt >kanonisch< scheint mir dabei weniger geeignet, da er den Blick darauf verstellt, dass unterschiedliche Interpretationsgemeinschaften der Bibel unterschiedliche Kanones haben können. Fassen wir zusammen: unter einer kanonisch-intertextuellen Lektüre wird hier eine rezeptions orientierte Reflexion von Text-Text-Relationen mit besonderem Blick .auf die Frage, welche Sinneffekte und Bedeutungserweiterungen sich durch das begründete Zusammenlesen von Texten ergeben, verstanden.
Die >Tempelaktion< als Beispiel einer kanonisch-intertextuellen Lektüre Um zu zeigen, wie ein intertextueller Ansatz die Auslegung eines Textes befruchten kann soll ein kurzer Einblick in die Praxis intertextueller Lektüre folgen. Als Beispiel dient hier die Auslegung der Tempelaktion Jesu in der Version des Johannesevangeliums (Joh 2,13-22). Besondere Aufmerksamkeit wird den Großopfertieren, Schafen und Rindern, gewidmet, die in der johanneischen Textfassung der Tempelaktion Jesu im Unterschied zur synoptischen begegnen. Mir geht es dabei nicht darum, eine vollständige Analyse und Interpretation der Tempelaktion vorzunehmen; stattdessen möchte ich beispielhaft andeuten, mit welchen unterschiedlichen Frageperspektiven der historisch-kritische und der intertextuelle Zugang arbeiten. Die Schwierigkeiten, die sich auftun, wenn die historisch-kritische Exegese nach dem historisch rekonstruierbaren ursprünglichen Sinn fragt, sind an diesem Beispiel gut darstellbar. Zu den typischen Fragen, die die historische Kritik an diesen Text stellt, gehören die nach der Chronologie der Ereignisse und die nach den Ab~eichun gen von der synoptischen Version, die zu Recht als die ursprüngliche gilt. Diese Fragen sind legitim, doch sind sie weder die einzigen noch die ersten, die an einen Text zu stellen sind. Neben der Auseinandersetzung mit dem Textbegriff, der diesen Zugang und seine spezifischen Fragen generiert, ist es vor allem wichtig, der Lektüre des Textes wieder zu ihrem Recht zu verhelfen. Nicht umsonst stöhnen Studierende über den langen Arm der Einleitung in die Exegese, der eine kreative Auslegung oft genug re' guliert. 16 Betrachten wir zuerst den Text Joh 2,13-22: \3Das Paschafest der Juden war nahe, und Jesus zog nach Jerusalem hinauf. 141m Tempel fand er die Verkäufer von Rindern, Schafen und Tauben und die Geldwechsler, die dort saßen. 15Er machte eine Geißel aus Stricken und trieb sie alle 16
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Um nicht missverstanden zu werden: Mein Vorschlag für eine umfassende Auslegung wäre eine Lektüre, die intra-, inter- und extratextuelle Perspektiven - in dieser logischen Reihenfolge - in den Blick nimmt. Nachdem der Text selbst zu Wort gekommen ist, können seine Beziehung zu anderen Texten in einem kanonischen Ganzen und seine Verortung in einem historisch konkreten Entstehungskontext untersucht werden. Die Einleitungsfragen gelten dabei als Teil der extratextuellen Lektüre und Anwälte der gewählten Enzyklopädie, mit der der Text aktualisiert werden soll. Sie haben damit die Stellung eines Korrektivs, aber keine konstitutive Funktion. Man könnte hier gewissermaßen von einem >Vetorecht< sprechen.
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Ein erster Blick zeigt, dass der Text nach dem einleitenden Satz in Vers 13 zwei gut erkennbare und voneinander abgrenzbare Teile hat: die Tempelaktion an sich (VV.1417) und die Reaktion der Juden (VV.18.22). Bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass die beiden Teile in etwa parallel aufgebaut sind und jeweils mit einer Aussage über die Jünger schließen (VV.17.22). Die weiteren Ausführungen beziehen sich vor allem auf den zweiten Teil, Joh 2,14-17. Die intertextuelle Disposition, der nachgegangen werden soll, findet sich in V.17 und ist deutlich als Schriftwort markiert. Es ist wichtig, sich klar zu machen, dass es sich hierbei um einen Verweis handelt, der nicht auf der Handlungs-, sondern auf der Kommentarebene liegt. Was hier über die Jünger gesagt wird, ist nur ihnen und dem Rezipienten bekannt, nicht aber den übrigen Figuren. Für die Handlung an sich ist dieses Wissen dementsprechend nicht notwendig, es muss seinen Anknüpfungspunkt also auf einer anderen Ebene haben. Betrachten wir die Szene genauer; in den Versen 14-17 schildert das Johannesevangelium, was geschieht: Jesus sieht die Händler im Tempel (V.l4), er vertreibt sie mit einer Peitsche (V.l5) und fordert sie auf, den Tempel von Verkaufs gütern frei zu halten (V.16). Die aus den synoptischen Evangelien bekannte Grundstruktur der Erzählung ist hier beibehalten. Neu ist jedoch, dass Jesus seine Aktion nicht durch ein Schriftwort begründet, wenngleich er in etwa dasselbe zum Ausdruck bringt wie die Einspielung von Jes 56,7/Jer 7,11 in der synoptischen Fassung. Ein Schriftwort steht im folgenden Vers 17, der eine nachösterliche Interpretationshilfe liefert, die verstehbar macht, was geschehen musste und warum. V.17 berichtet, dass die Jünger sich an ein Schriftwort erinnern: Der Eifer filr dein Haus wird mich verzehren. Es handelt sich um eine leicht abgewandelte Form von Ps 69,IOa: Denn der Eifer fiir dein Haus hat mich verzehrt. Dies zur ersten Orientierung über den Text. Wenden wir uns nun seiner Auslegung zu. Holzschnittartig lässt sich sagen, dass die Diskussion in der historisch-kritischen Auslegungstradition hauptsächlich von einer Frage bestimmt ist, der alle anderen Fragen untergeordnet werden. Es ist die Frage nach der Historizität des von allen Evangelien unterschiedlich überlieferten Ereignisses. Die Frage nach der Historizität und die Rekonstruktionsversuche, wie sie sich auch in der Literatur der jüngsten Zeit noch finden,17 sind gewissermaßen zur methodisch-hermeneutischen Gretchenfrage geworden, 17
So beispielsweise Casey, Maurice: Culture and Historicity: The Cleansing of the Temple: Catholic Biblical Quarterly 59 (1997). S. 328-359, der eine prämarkinische aramäische Quelle annimmt, die er durch Rückübersetzung zu rekonstruieren sucht. Durch das Lokalisieren des Ereignisses in seinem originären kulturellen Kontext versucht er, die Historizität des Ereignisses zu verteidigen. 75
an der alle weiteren Divergenzen hinsichtlich der Aktion Jesu im Tempel hängen, sei es das vieldiskutierte Problem, ob nun die synoptische Tradition oder das Johannesevangelium die ursprüngliche Chronologie der Ereignisse bietet, oder die Frage, welche Rolle die Tempelaktion im Prozess Jesu gespielt hat. 18 Noch immer in der Diskussion ist die Verschiebung der Tempelaktion im Johannesevangelium vom Ende an den Anfang des öffentlichen Wirkens Jesu. Mittlerweile setzt sich die Sichtweise durch, dass die Evangelisten alle von derselben Aktion und nicht von zwei voneinander unabhängigen Ereignissen im Tempel berichten. Ebenfalls konsensfahig ist die Annahme, dass die Tempelaktion Jesu historisch an das Ende seines Wirkens gehört und in ihr der Auslöser fiir seine Festnahme zu suchen ist. Zur Frage, warum die Aktion im Johannesevangelium nach vorne verlegt wurde, gibt es unterschiedliche Ansätze. Überzeugend ist die Vermutung, dass die historische Anordnung der Ereignisse der Christologie des Johannesevangeliums untergeordnet ist. Gerade weil die Tempelreinigung der Auslöser rur den Kreuzestod Jesu war und »das Kreuz von Beginn an die Dramaturgie des 4. Evangeliums inhaltlich und kompositionell bestimmt«,19 wie Udo Schnelle formuliert, gehört sie auch in der Erzähllogik des Textes an den Anfang. Unbenommen ist davon der weitgehende Konsens, dass die Tempelaktion wahrscheinlich eine wichtige Rolle im Prozess Jesu gespielt hat. 20 Die Interpretation der Tempelaktion ist also sehr stark davon abhängig, ob sie als objektive Schilderung eines historischen Ereignisses verstanden wird oder die Leserlenkung des Textes - des Mikrotextes )Tempelaktion< wie des Makrotextes )Johannesevangelium< - als Verstehenszugang jenseits der Frage der historischen Ereignisse gilt. Im ersten Fall lautet die Fragerichtung eher: Wie hat Jesus seine Tempelaktion verstanden? Oder: Was wollte Jesus mit seiner Aktion erreichen? Im zweiten Fall wird mehr überlegt: Welche Stellung hat die Tempelaktion im Gesamtkontext des Makrotexts? Warum wird die Aktion so geschildert, wie sie geschildert wird, und was sagt sie über die Charakteristik der Erzählfigur Jesus aus, die mit diesem Text transportiert werden soll? Folgende Perspektiven lassen sich unterscheiden: Einerseits der historisierende Zugang mit Fragen nach dem historischen Ablauf der Ereignisse, der richtigen Chronologie (Mk vs. Joh), dem historischen Setting, möglichen Motiven fitr die Tempelaktion aus dem soziokulturellen Umfeld und Fragen nach der Intention Jesu (Kultkritik, ökonomische Kritik). Andererseits der textorientierte Zugang mit Fragen nach der Bedeutung des Ereignisses und seiner Stellung im jeweiligen Makrotext (narratives Konzept), nach dem Tempelverständnis und der Beziehung Messias - Tempel nach
18 So findet sich das Wort zum Niederreißen und Aufbauen des Tempels, das in der synoptischen Tradition beim Verhör Jesu vor dem Hohen Rat als falsche Zeugenaussage begegnet (Mt 25,59-611Mk 14,55-59) im Johannesevangelium bereits zu Beginn als Aussage Jesu. 19 Schnelle, Udo: Das Evangelium nach Johannes. Leipzig 2000 (= Theologischer Handkommentar zum Neuen Testament 4). S. 64. 20 Den Ausblick auf die Passion in Joh 2 hält auch M. A Matson fest: »The Temple Incident in FG marks the beginning of Jesus' public messianic ministry, as wen as the beginning of opposition by >the Jews< , a fundamental Johannine theme. FG's Temple Incident also anticipates the Passion, thus providing an initial frame with which to interpret the entire Gospel story.« Matson, Mark A: The Temple Incident. An Integral Element in the Fourth Gospel's Narrative. In: Fortna, Robert T.; Thatcher, Tom (Hg.): Jesus in Johannine Tradition. Louisville 2001. S. 145-153. Hier S. 145. 76
Auferstehung und Tempelzerstörung (messianisches Konzept) und nach dem Verständnis und der Bedeutung Jesu (christologisches Konzept). J?ie Interpr~tation~er Tempelaktion ist stark vom jeweils vorliegenden Text ~ synoptIsche oder Johanneische Fassung - abhängig. So wenig, wie die historische Darstellung des Ereignisses rekonstruiert werden kann, so wenig lässt sich über die Intention Jesu und die allgemeine Bedeutung der Tempelaktion sagen. Die divergierenden Diskussionsbeiträge haben das in der Vergangenheit deutlich gezeigt. Eine beeindruckende Bandbreite von Vorschlägen reicht von ökonomiekritischen über kultkritische Ansätze bis zum Verständnis als Voraussage der Tempelzerstörung und der Darstellung des heilsgeschichtlichen Endes des Tempelkultes. Ausgangspunkt dieser Interpretationen ist üblicherweise nach einer Rekonstruktion der Ereignisse die Frage nach der ~ntention des historischen Jesus. Ob diese aus den Evangelien zu extrahieren ist, bleibt Jedoch mehr als fraglich, denn in den Erzählungen der vier Evangelien sind unterschiedliche Verständnisweisen der Tempelaktion verschriftlicht. Wenn man sie nebeneinander legt, hat man es entsprechend mit vier unterschiedlich geformten Aktionen zu tun, die unterschiedliche Botschaften haben. 21 Im Zusammenhang mit der Frage nach der ursprünglichen Chronologie und dem historischen Aussehen des Ereignisses wurden vor allem die Unterschiede zwischen den Evangelien betrachtet. Außer der unterschiedlichen Platzierung der Erzählung im Makrotext finden sich in der johanneischen Version der Tempelreinigung im Vergleich mit den synoptischen weitere Unterschiede, die bis zur Annahme und Rekonstruktion einer eigenen aramäischen Quelle fiihrten. Augenfallig ist die Erwähnung von Großopfertieren, der Umgang mit den Händlern, das Tempelwort Jesu und die fehlenden bzw. abweichenden und an anderer Stelle eingefügten Verweise auf die Schrift. Ähnlich wie bei den. Synoptikern wird die Aktion Jesu bei Johannes häufig als Zeichenhandlung gegen dIe Profitsucht gedeutet, die aus dem Heiligtum einen profanen Marktplatz ge~acht hat. Besonders deutlich wird das an den Rindern, die das Johannesevangelium 1m Tempel verortet, die aber üblicherweise vor den Stadttoren lagerten. Jesus geht nach diesem Text wesentlich radikaler vor, als es bei den Synoptikern der Fall ist: Nur im Johannesevangelium ist davon die Rede, dass Jesus mit einer Peitsche aus Stricken auf die Händler losgeht und, nachdem er das Geld der Geldwechsler ausgeschüttet hat, den Taubenhändlern befiehlt, alles wegzutragen. Bleiben wir der Einfachheit halber bei der Erwähnung der Großtiere. Wo kommen sie her? Es wurde bereits gesagt, dass sie üblicherweise nicht im Tempel, sondern von den Stadttoren lagen. Insofern findet 21 Die unterschiedlichen Interpretationen der Tempelaktion Jesu durch die einzelnen Evangelien sind selbst bei einer klassischen Interpretation deutlich wahrzunehmen. Thomas Söding hat die Tempelaktion Jesu zunächst überlieferungskritisch untersucht, bevor er historische Rückfragen stellt, und bietet vier unterschiedliche Ansätze zum Verständnis der Erzählung an. Als Ergebnis von Södings vierfacher Betrachtung lässt sich - unter Auslassung einiger Zwischenschritte - festhalten, dass die Tempelaktion als ein Aufruf zur Umkehr im Zuge der endzeitlichen Sammlung des Gottesvolkes verstanden werden kann. Der Tempel wird dabei durch Wort und Tat Jesu radikal in Frage gestellt. Die Verschriftlichung in den Evangelien ist dabei als >machösterliche Transfonnation genuin jesuanischer Tradition« (S. 63) erkennbar, wobei die ekklesiologischen und christologischen Interpretationen den ursprünglichen Charakter als Ruf zu Umkehr und Glauben überlagern. VgI. Söding, Thomas: Die Tempelaktion Jesu. In: Trierer Theologische Zeitschrift 101 (1992). S.36-64.
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sich bei den Synoptikern wahrscheinlich die )historischere< Variante. Doch die Frage bleibt: Warum erwähnt das Johannesevangelium neben den anderen Tieren auch die Rinder im Tempel? Wer mit Historizität argumentiert, muss auch historisch arbeiten. Tatsächlich gab es einige Versuche, das )Rinderproblem< historisch zu lösen. Ein Ansatz sei hier in aller Kürze referiert, auch um sich die historisierende und jenseits von Textkonzeptionen operierende Zugangsweise dieser Auslegungstradition zu vergegenwärtigen. Es handelt sich dabei um eine These von Victor Eppstein, die er 1964 in der Zeitschrift jUr die Neutestamentliche Wissenschaft publiziert hat. 22 Eppstein untersucht die Tempelaktion Jesu vor dem Hintergrund der jüdischen Quellen und kommt zu folgendem interessanten Ansatz: Vierzig Jahre vor der Tempelzerstörung, also im Jahr 30 n. Chr., zu der Zeit, als Joseph Ha-Kayyaph (Kaijaphas) Hoherpriester war, wurde das Sanhedrin, die oberste jüdische Richtinstanz, vom Tempel vertrieben und fand ihren Platz auf dem Ölberg, bei den Märkten der Benhayyot, der Söhne von Hanan. Im Hintergrund standen Differenzen zwischen Sadduzäern und Pharisäern, auf die hier nicht weiter eingegangen werden muss. Kaijaphas könnte nun, weil er über den Unterschlupf des Sanhedrins bei den Benhayyot erbost war, zu einer Maßnahme gegriffen haben, die gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlug. Eppstein glaubt, beweisen zu können, dass es vor 30 n. Chr. keinen Handel im Tempel gegeben hat, sondern nur den Geldwechsel vor Pessach, um den Wallfahrern die Entrichtung der Tempelsteuer zu ermöglichen. Der Verkauf der Opfertiere sei auf dem Tempelberg, also auch auf den Märkten der Benhayyot, abgewickelt worden. Um die Benhayyot als Gastgeber des Sanhedrins zu demütigen und die Schwierigkeiten mit den Sakramentalien auf dem Weg zum Tempel zu lösen - Eppstein denkt hier etwa an entlaufene und verwechselte Opfertiere - könnte der Hohepriester selbst den Markt im Tempel installiert haben. Jesus hätte dann im Tempel nicht nur die Tische der Geldwechsler, die ihm von früheren Pessach-Wallfahrten vertraut waren, gesehen, sondern auch den neuen Markt des Kaijaphas. Die Tempelaktion Jesu wäre dann eine Aktion ganz im Sinne der Pharisäer gewesen und die Zurückhaltung der Tempelwache ein Zeichen für ihre Loyalität dem Sanhedrin gegenüber. Die umgestoßenen Tische der Geldwechsler sind dabei ein Lapsus der Evangelisten, denn diese hätte Jesus natürlich nicht angerührt. In jedem Fall hätte sich die Aktion Jesu gegen den durch den Hohenpriester eben gerade etablierten Opfertiermarkt im Tempel gerichtet. Eppsteins Ansatz, der nicht akzeptiert wurde, weil er so spekulativ ist und die offenen Stellen der Argumentation nicht mit Fakten belegen kann, war zumindest ein Versuch, die Frage nach den Rindern im Tempel zu lösen. Meist wird in der Kritik an Eppsteins Überlegungen nur darauf abgestellt, dass diese Beschreibung historisch nicht verifizierbar sei,23 und die Tiere werden weiterhin als eine unerklärbare stilisti22 Vgl. Eppstein, Victor: The Historicy of the Gospel Account of the Cleansing of the Temple. In: Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft 55 (1964). S. 42-58. 23 Zur Diskussion von Eppstein und ähnlichen Ansätzen vgl. Evans, Craig A.: Jesus' Action in the Temple: Cleansing or Portent of Destruction? In: Catholic Biblical Quarterly 51 (1989). S. 237-270. Neuerdings scheint Eppsteins Vorstoß jedoch eine Renaissance zu erleben: Thyen nimmt seinen Vorschlag wieder recht wohlwollend auf, ohne auf die Problematik des Ansatzes einzugehen. Vgl. Thyen, Hartwig: Das Johannesevangelium. Stuttgart 2005 (=Handbuch zum Neuen Testament 6). S. 17lf. 78
sehe Eigenheit des johanneischen Berichts verstanden. Diese Kritik muss unbefriedigend bleiben, weil sie - genau wie die These selbst - den zentralen Gegenstand der Untersuchung ausblendet: den Text. Das Auftauchen der Großopfertiere wird zwar als stilistische Eigenheit bezeichnet, eine Untersuchung des Textes auf diese Eigenheit und ihre mögliche Bedeutung unterbleibt jedoch. Wenn man davon ausgeht, dass die !extgemäßheit einer Interpretation das entscheidende Kriterium für ihre Richtigkeit 1st, muss der Versuch, das Auftauchen der Großopfertiere im Tempel historisch durch eine extratextuelle These zu lösen, als gescheitert erklärt werden. Versuchen wir es auf einem anderen Weg und nehmen das Problem auf der Text~bene in d~n Blick. Vielleicht gelingt der Zugang eher über die intertextuelle DispositIon und dIe Deutung des Psalmverses 69,10 bietet eine Möglichkeit, die Denkmuster wieder etwas zu lockern. Es fällt ins Auge, dass das im Johannesevangelium wiedergegebene Psalmwort gegenüber seinem Prätext im Tempus abgewandelt ist. Statt der Eifer jUr dein Haus hat mich verzehrt heißt es nun der Eifer jUr dein Haus wird mich verzehren. Rudolf Schnackenburg, der exemplarisch für die klassische Auslegungstradition genannt werden kann, notiert hierzu: »Die Jünger erfassen nach dem Evangelisten die drohenden Folgen für Jesus: Sein Eifer für Gottes Haus >bringt ihn noch ums Leben<, denn so wird man dieses Schriftzitat (Ps 68,10 LXX) verstehen müssen, weil auch in diesem Psalm mehr als ein innerlich verzehrender Eifer geschildert wird: Der Eiferer erleidet Schmach und findet viele Verhöhner und Hasser. Der Psalm ist in der Urkirche messianisch verstanden worden. Die Erinnerung der Jünger soll zwar (anders als in V.22) in die damalige Situation gehören, aber den Leser auch schon auf die bald erwachende Todfeindschaft der >Juden< aufmerksam machen (Vgl. 5,16.18). Deswegen hat der Evan§elist das KatEcpaYEv IlE des ursprünglichen Textes in das Futur umgewandelt.«2 Der Bezug auf Psalm 69 erlaubt es also, das Ereignis im Tempel unter die Perspektive des Kreuzes zu stellen. So ist es auch in den neuesten Kommentaren zu finden: »Die futurische Fassung scheint [... ] dadurch motiviert zu sein, dass hier zugleich auch ein Ausblick auf die Passion erfolgt - wie auch Ps 69, in dem der unschuldig verfolgte Gerechte seine Hoffnung auf Gott setzt, im Ganzen Passionsklang hat.«25 Interessant ist, dass zwar vermerkt wird, dass hier ein Bezug zur Passion hergestellt wird, aber nicht wie. Es ist m.B. wichtig, festzuhalten, dass hier anhand eines markierten intertextuellen Verweises jenseits der Handlungsebene auf der Basis der Schrift eine bestimmte Rezeptionshaltung propagiert wird. Psalm 69 wird in Joh 2 zwar als Bezugstext eingespielt, doch eine intensive Lektüre des Textes findet nicht statt. Aus der Literatur ist bekannt, dass die Psalmen 22 und 69 den Urchristen ein Modell waren, um die Passion zu deuten und sich selbst mit ihren Leidenserfahrungen in diese Tradition einzuschreiben. Die Aufforderung, hier genauer hinzuschauen, ist kaum zu übersehen, bleibt aber Aufgabe des Lesers, der angeregt wird, beide Texte nebeneinander zu legen und die sich dadurch ergebenden Bedeutungseffekte wirken zu lassen. Der Rezipient ist angehalten, den von Tobias Nicklas in anderem Kontext geforderten »)intertextuellen 24
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Schnackenburg, Rudolf: Das Johannesevangelium. Bd. I: 1-4. Freiburg 1979 (= Herders Theologischer Kommentar zum Neuen Testament 4). S. 362. Wengst, Klaus: Das Johannesevangelium. Bd. I: 1-10. Stuttgart 2000 (= Theologischer Kommentar zum Neuen Testament 4). S. 111. 79
Spaziergang< in Ps 68 (69) zu unternehmen«.26 Zumindest zu einem kurzen Spaziergang dieser Art sollten wir nun aufbrechen, denn die Bezüge des Johannesevangeliums auf Psalm 69 sind äußerst spannend und ein gutes Beispiel für intertextuelle Blicke. Außer in Joh 2,17 begegnet Ps 69 noch an zwei weiteren Stellen im Johannesev~n gelium. Beide Stellen finden sich im zweiten Teil des Evangeliums im mehr oder mlllder unmittelbaren Passionskontext. Die Erwähnung findet sich in den Abschiedsreden im Zusammenhang mit der Erklärung, warum die Jünger einst gehasst würden: Schon Jesus, der sie erwählt hat, wurde gehasst. So heißt es in Joh 15,25: Aber das Wort sollte sich erfiillen, das in ihrem Gesetz steht: Ohne Grund haben sie mich gehasst. Hier wird Ps 69,5 27 - interessanterweise als >Gesetz< - zitiert: Zahlreicher als die Haare auf meinem Kopf sind die, die mich grundlos hassen. Zahlreich sind meine Verderber, meine verlogenen Feinde. Was ich nicht geraubt habe, soll ich erstatten. Jesus wird als leidender Gerechter gezeichnet, den die Welt ohne Grund hasst und verfolgt. 28 Die Verurteilung eines Unschuldigen ist in Joh 19,6 wieder aufgenommen: Pilatus sagte zu ihnen: Nehmt ihr ihn, und kreuzigt ihn! Denn ich finde keinen Grund, ihn zu verurteilen. Ein weiteres und insgesamt drittes Mal begegnet der Psalm im Johannesevangelium in der Passion. Unmittelbar vor dem Kreuzestod Jesu heißt es in Joh 19,28-29: Danach, als Jesus wusste, dass nun alles vollbracht war, sagte er, damit sich die Schrift erfiillte: Mich dürstet. Ein Gefäß mit Essig stand da. Sie steckten einen Schwamm mit Essig auf einen Ysopzweig und hielten ihn an seinen Mund. Hier wird deutlich erkennbar auf Ps 69,22 29 angespielt: Sie gaben mir Gift zu essen, fiir den Durst reichten sie mir Essig. Der Leidensweg des unschuldig verurteilten Gerechten ist an sein Ende gekommen. Bei genauerem Hinsehen wird in Joh 2,17 bereits das Passionsg~schehen andeutend vorweggenommen und dem intertextuellen Leser wird auch ein Grund für das Passionsgeschehen mitgeliefert: Wer sich nicht mit dem ersten Stichos des zitierten Psalmverses begnügt, sondern den Psalm weiterliest, findet in 69,100: und die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen. Und nicht nur das: Neben einer möglichen Erklärung der Passion wird in Ps 69,23 Der Opfertisch werdefiir sie zur Falle, das Opfermahl zum Fangnetz und 69,3lf Ich will den Namen Gottes rühmen im Lied, in meinem Danklied ihn preisen. Das gefällt dem Herrn mehr als ein Opferstier, mehr als Rinder mit Hörnern und Klauen auch ein Grund für die Tempelreinigung geliefert: Nicht die Tiere und das Markttreiben sind das eigentliche Problem, sondern der Opferkult in seiner aktuellen Ausformung ist der Stein des Anstoßes. Die Austreibung der Opfertiere erhält vor dem Hintergrund dieser Verse einen tieferen Sinn und es wird dadurch auch verständlich, warum im Johannes26 Tobias Nicklas spielt in seinem Beitrag Die johanneische >Tempelreinigung< ./Ur die Leser der Synoptiker die Lektüre von Joh 2,12-20 für zwei Mode111eser durch. Der erste Modellleser liest dabei das Johannesevangelium vor dem Hintergrund der Kenntnis des Alten Testaments, der zweite Modellleser kennt darüber hinaus auch die synoptischen Evangelien. Für beide Leser gilt es, bei Joh 2,17 innezuhalten und »sich zu erinnern, was geschrieben steht« (S. 9). In diesem Zusammenhang fordert Nicklas den erwähnten intertextuellen Spaziergang ein. Nicklas, Tobias: Die johanneische »Tempelreinigung« (Joh 2,12-22) für die Leser der Synoptiker. In: Theologie und Philosophie 80 (2005). S. 1-16. 27 Neben Ps 35,19. 28 Diese Situation werden später auch die Christen auf sich anwenden können, wenn sie sich von einer feindlichen Welt umgeben sehen, in der zahllose Verfolger sie bedrängen. 29 Neben Ps 22,16. 80
evangelium nicht nur von Tauben, sondern auch von großen Opfertieren die Rede ist. Letztlich geht es bei der Tempelaktion Jesu - und das wird durch-die intertextuelle Lektüre mit Ps 69 deutlich - nicht um den vielleicht von Sach 14,21 her begründbaren >Tempel ohne Händler<,30 sondern um eine andere Konzeption der Gottesverehrung und des Gottesdienstes: Nicht der Tempel aus Stein ist der Ort der Anbetung, nicht der Opferkult ist der wahre Gottesdienst, sondern Demut und Niedrigkeit - eine Konzeption, die sich im Johannesevangelium an vielen Stellen findet. 31 Umgekehrt ergeben sich ebenso interessante Sinneffekte: Wer den Psalm vor dem Hintergrund neutestamentlicher Texte liest, findet weitere Aussagen, die sich auf Jesus, die Passion und die Frage von stellvertretendem Leiden hin interpretieren lassen. So konnten sich die frühen Christen im schmerzhaften Prozess der Trennung von Kirche und Synagoge etwa mit Ps 69,7-9 identifizieren: Wer auf dich hofft, Herr, du Herr der Heere, soll durch mich nicht scheitern; wer dich sucht, Gott Israels, gerate durch mich nicht in Schande. Denn deinetwegen erleide ich Schmach, und Schande bedeckt mein Gesicht. Entfremdet bin ich den eigenen Brüdern, den Söhnen meiner Mutter wurde ich fremd. Auch antithetisch lässt sich intertextuell lesen. So erscheinen Lk 23,34 Jesus aber betete: Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun und Apg 7,60 Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an fast wie eine Korrektur von Ps 69,28f: Rechne ihnen Schuld über Schuld an, damit sie nicht teilhaben an deiner Gerechtigkeit. Sie seien aus dem Buch des Lebens getilgt und nicht bei den Gerechten verzeichnet. Mit Sicherheit ließen sich noch weitere intertextuelle Bezüge des Psalms zu neutestamentlichen und alttestamentlichen Texten finden. So könnte man beispielsweise Ps 69,16 Lass nicht zu, dass die Flut mich überschwemmt, die Tiefe mich verschlingt, der Brunnenschacht über mir seinen Rachen schließt auf dem Hintergrund der Josephsgeschichte und der Exodustradition neu verstehen. Doch für einen ersten Einblick mögen diese Hinweise genügen. Es ist beeindruckend, welche Sinneffekte allein durch das begründete Nebeneinanderlegen von zwei Texten entstehen, ohne dabei die intratextuelle Interpretation infrage zu stellen. Im Gegenteil, die kanonisch-intertextuelle Lektüre ist durchaus bereichernd. Insofern erweist sich Intertextualität - bildlich gesprochen der >neue Wein im neuen Schlauch< - als äußerst bekömmlich für die Auslegung der Heiligen Schrift.
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Zur möglichen Verbindung von Sach 14,21 und der Tempelaktion Jesu s. a. Hübenthai, Sandra: Transformation und Aktualisierung. Zur Rezeption von Sach 9-14 im Neuen Testament. Stuttgart 2006 (= Stuttgarter Biblische Beiträge 57). Kap. 8 Der Tempel ohne Händler. Als ein Beispiel kann Joh 4,19-23 gelten. Auch hier wird deutlich, dass Gebet und Gottesdienst nicht an einen bestimmten Ort oder Ritus, sondern an die innere Einstellung, die Umwandlung des Betenden durch die von Christus eröffnete Wahrheit und die Geburt von oben aus Wasser und Geist (vgl. Joh 3,1-13) gebunden sind. 81
Annegret Reese (Religionspädagogik)
Kinder und Jugendliche zur intertextuellen Lektüre befähigen. Werkbericht einer Lehr-Lem-Forschungsstudie zum unterrichtlichen Erwerb religiöser Orientierungsfähigkeit
Wozu sollen Kinder und Jugendliche angesichts zunehmender religiöser Pluralität im Religionsunterricht befähigt werden? Die religiöse Gegenwartssituation ist gekennzeichnet durch die Abnahme religiöser Grundkenntnisse und Grunderfahrungen aufgrund fortschreitender religiöser Desozialisationsprozesse und zugleich durch wachsende religiöse Pluralität und steigende Komplexität religiöser Fragen und globaler religiöser Konflikte. Wer religiöse Lernprozesse im Religionsunterricht gestalten will, muss also zweierlei im Blick haben: sowohl die veränderten religiösen Lernvoraussetzungen heutiger Schülerinnen und Schüler als auch die zunehmende, verwirrende Vielfalt an religiösen Ausdrucksformen und Religionen innerhalb der Gesellschaft. Ein Grundkonflikt bildet sich in allen Lebensbereichen: Einerseits wächst das Bedürfnis nach Orientierung, Sicherheit und Zugehörigkeit, andererseits besteht auch eine gesellschaftlich gestattete Beliebigkeit und Unverbindlichkeit gegenüber weltanschaulichen und religiösen Optionen. Auf diesem gesellschaftlichen Hintergrund wird in der öffentlichen Debatte um die Effizienz des Bildungserwerbs an der öffentlichen Schule auch der Religionsunterricht als ordentliches Unterrichtsfach nach seinem spezifischen Bildungsertrag befragt: Welche Lernziele werden im Religionsunterricht verfolgt? Welche Lernfortschritte werden erzielt? Wie ist ein Lemzuwachs in religiösen >Dingen< zu messen? In der mit dem Akronym PISA bezeichneten Studie zur Erfassung basaler Kompetenzen der nachwachsenden Generation heißt es, Religion repräsentiere einen eigenständigen Zugang zur Wirklichkeit und eine spezifische Domäne menschlichen Wissens: »Um Orientierungswissen zu vermitteln, geht es um verschiedene Modi der Welterfahrung, kognitiver, moralisch-evaluativer, ästhetisch-expressiver und religiös-konstitutiver Rationalität«.l Der Religionsunterricht ist somit der Ort, an dem mittels einer religiöskonstitutiven Rationalität Orientierungswissen in religiöser Hinsicht ausgebildet werden soll. Um den spezifischen Gehalt und die konkrete Gestalt religiöser Lernprozesse geht es in der religionspädagogischen Debatte: Was genau sollen Kinder lernen, denen religiöse Fragen zwar nicht fremd sind, von denen aber immer mehr - neben der absichtslosen Begegnung von Religion in den Medien - das erste Mal im Religionsunterricht mit religiöser Tradition in Kontakt kommen? Wozu sollen heutige Jugendliche befähigt werden? Wie können wir heute jungen Menschen Religion als eine verantwortete
Antwort auf ihre Lebensfragen anbieten? Welche religiösen Kompetenzen sind angesichts der religiösen Gegenwartssituation dringlich? Die kirchlichen Richtlinien zu Bildungsstandards für den katholischen Religionsunterricht in den Jahrgangsstufen 5-10 vom September 2004 unterscheiden sieben Kompetenzbereiche: Kinder und Jugendliche sollen lernen, (1) religiöse Phänomene wahrzunehmen, (2) religiöse Sprache zu verstehen und zu verwenden, (3) religiöse Zeugnisse zu verstehen, (4) religiöses Wissen darzustellen, (5) in religiösen Fragen begründet zu urteilen, (6) sich über religiöse Fragen und Überzeugungen zu verständigen und (7) aus religiösen Motivationen zu handeln. 2 Alle diese Kompetenzen, so heißt es hier und auch erneut in den im April 2006 erschienenen kirchlichen Richtlinien zu Bildungsstandards fiir den katholischen Religionsunterricht in der Grundschule, »dienen gemeinsam dem Erwerb persönlicher religiöser Orientierungsfähigkeit.«3 Eine eigene, selbst verantwortete religiöse Orientierungsfähigkeit auszubilden, ist die zentrale Aufgabe heutigen Religionsunterrichts fiir alle, auch fiir nicht-christliche Schülerinnen und Schüler.
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Um heutiger religiöser Pluralität gerecht zu werden, ist zu bedenken, dass es bei der Ausbildung religiöser Orientierungsfähigkeit im Religionsunterricht der öffentlichen Schule nicht mehr exklusiv um den christlichen Glauben geht. Seit dem Synodenbeschluss zum Religionsunterricht in den 1970er Jahren, der die Konsequenzen einer zunehmenden Säkularisierung fiir die Schulsituation bereits bemerkenswert realistisch bedenkt, zielt religiöses Lernen an der öffentlichen Schule nicht mehr auf die Vermittlung eines bestimmten Glaubens, sondern auf die Orientierung in allen religiösen Aspekten und in verschiedensten Formen lebensweltlich erfahrbarer Religion. »Kompetenzen bezeichnen [ ... ] die Fähigkeiten und die ihnen zugrunde liegenden Wissensbestände, die fiir ein verantwortliches Denken und Verhalten im Hinblick auf den christlichen Glauben, die eigene Religiosität und andere Religionen notwendig sind.«4 Empirische Studien 5 zeigen, dass die von Lehrerinnen und Lehrern verfolgten Intentionen darin übereinstimmen, dass sie im Religionsunterricht eine produktive Begegnung zwischen den Erfahrungen der Schüler/innen und der christlichen Glaubensüberlieferung ermöglichen wollen. Dieses Korrelationsprinzip bestimmt bis 4eute die gängigen Vorstellungen vom Religionsunterricht. Nocke hat bereits 1980 prägnant herausgestellt, was er unter Korrelation versteht: »Eine kritische, produktive
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PISA-Konsortium (Hg.): PISA 2000. Basiskompetenzen von Schülerinnen und Schülern im internationalen Vergleich. Opladen 2001. S. 21.
Religiöse Orientierungsfähigkeit als dringliche religiöse Kompetenz in einer Schule fiir alle
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Vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.): Kirchliche Richtlinien zu Bildungsstandards rur den katholischen Religionsunterricht in den Jahrgangsstufen 5-10. Bonn 2004. S. l3ff. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.): Kirchliche Richtlinien zu Bildungsstandards rur den katholischen Religionsunterricht in der Grundschule. Bonn 2006. S. 17. Ebd. S. l3. Vgl. zuletzt: Tzscheetzsch, Werner; Feige, Andreas: Christlicher Religionsunterricht im religionsneutralen Staat? Stuttgart 2005. S. 23f. 83
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Wechselbeziehung zwischen Glaubensüberlieferung und neuer Erfahrung.«6 Diese differenzierte Spezifizierung der Korrelation macht deutlich, welches Potential in beiden miteinander in Beziehung zu setzenden Größen steckt: Kritisch ist die Beziehung, weil sich in der Konfrontation beider Faktoren Erfahrungen verändern und die Überlieferung in einem neuen Licht erscheinen können. Produktiv ist die Begegnung, weil damit zu rechnen ist, dass die Glaubensüberlieferung neue Lebenserfahrungen provoziert. Und umgekehrt: Unter dem Druck neuer Erfahrungen kann die Glaubensgeschichte weitergeschrieben bzw. können vergessene Glaubenswahrheiten wieder entdeckt werden. Wechselseitig ist das Verhältnis, weil beide Größen gleichberechtigt, d.h. auf gleicher Höhe miteinander kommunizieren: Überlieferung wird aus der Erfahrung und Erfahrung aus der Überlieferung gedeutet. Diese kritisch produktive Wechselbeziehung gilt auch für die Entwicklung religiöser Orientierungsfahigkeit. Die Generierungsorte religiöser Orientierungsfahigkeit als einer grundlegenden religiösen Kompetenz sind also einerseits die kritische Auseinandersetzung mit einer substantiellen religiösen Tradition und andererseits die heutige Erfahrung religiöser Unmittelbarkeit. Kabisch hat bereits 1920 gefordert: Religiöse Lernprozesse sollen »objektive Religion vermitteln, um subjektive zu erzeugen.« 7 Englert führt 2005 diesen Gedanken fort: Religionsunterricht »muss sich - erstens - zum Ziel setzen, mit einer substanziellen religiösen Tradition wie der jüdisch-christlichen Überlieferung so bekannt zu machen, dass dem Eigen-Sinn dieser Tradition gebührend Rechnung getragen wird (Dimension der objektiven Religion); und er muss - zweitens - das Ziel setzen, die durch diese Überlieferung uns Heutigen zugespielten >Tradita<, z.B. biblische Texte, theologische Deutungsmuster, spirituelle Ausdrucksformen, künstlerische Adaptionen usw., Kindern und Jugendlichen für deren Auseinandersetzung mit religiösen Fragen so verfügbar zu machen, dass sie zu eigener religiöser Orientierungs- und Ausdrucksfähigkeit fmden (Dimension der >subjektiven Religion<).«8 Bei beiden Größen, den Subjekten wie der religiösen Tradition, ist die je spezifische Eigenart zu berücksichtigen. Bei der religiösen Orientierungsfahigkeit handelt es sich um eine komplexe religiöse Kompetenz, die aus zwei komplementären Komponenten besteht: die Verfügung über >konfiguriertes( religiöses Wissen (Konfiguration) und die Fähigkeit zur individuellen Aneignung religiöser Tradition (Individualisierung). 9 Diese beiden KompQnenten können nur analytisch auseinander dividiert werden. Sie sind in Lernprozessen aufeinander bezogen. Wagenschein hat dies sehr treffend ausgedrückt, indem er deutlich machte, dass die Frage, ob von der Sache oder vom Kind auszugehen sei, vor eine Nocke, Franz-Josef: Korrelation. Stichwort zur Orientierung. In: Katechetische Blätter 105 (1980).8:130-131. Hier S.130f. 7 Kabiseh, Richard: Wie lehren wir Religion? Versuch einer Methodik des evangelischen Religionsunterrichts für alle Schulen auf psychologischer Grundlage. 5. Aufl. Göttingen 1920. S. 102. 8 Englert, Rudolf: Wie lehren wir Religion - unter den Bedingungen des Zerfalls ihrer vertrauten Gestalt? In: Katechetische Blätter 130 (2005). S. 366-375. Hier S. 373. 9 Vgl. dazu auch: Englert, Rudolf: Religion reflektieren - nötiger denn je. >Religion inszenieren< und >Religion reflektieren< - Eine Alternative? In: Kirche und Schule 138 (2006) 33. Jg. S. 9-14. 6
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falsche Alternative stelle. Es gelte das Prinzip: »Mit dem Kind von der Sach d' für das Kind die Sache iSt.«lO . e aus, le J
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Wie können Schülerinnen und Schüler religiöse Orientierungsfähigkeit entwickeln? Eine Lehr-Lern-Forschungsstudie
Im Ra~en einer .empirischen Lehr-Lern-F~rschungsstudie unserer Essener Projektgruppe. wollen WIr der Frage nachgehen, WIe das Zusammenspiel dieser beiden Größen ZWIschen Ko~figuratio.n .~nd In?ivi?ualisierung derzeit gestaltet ist bzw. optimal zu ~estalten ~ seI, um relIgIOse Onenberungsfahigkeit auszubilden. Wir beobachten ~ezlel~ versc~ledene Unterrichtsreihen in vierten und zehnten Klassen, führen Einzelm~ervlews mIt ausge~ählten Schüler/innen und Lehrer/innen und werten die von den Kmdern selbst erarbeltet.en Unterrichtsprodukte (Bilder, Texte, Lerntagebücher, Collagen u.v.m.) aus. Nach emem ersten Feldkontakt zeigte sich bereits: Die Schülerinnen und Schüler gehen gern in den Religionsunterricht, sie sind an den dort behandelten Themen i~teressiert und schä~zen die Möglichkeit offenen, auch persönlichen Austauschs. SIe b.ea~tworteten dI~ Fra~e, ob der Religionsunterricht ihnen persönlich wertvoll und für ~hr Leben gewInnbnngend sei, durchweg positiv. Fragen nach religiösen Grundkenntmssen, z.B. was genau Christen an Ostern feiern bzw. welche christliche Glaubenslehre mit ?em kirch!ich~n Fest verbunden ist, konnten jedoch nur wenige (~~ch von den Zehntkläs~~em) ~mre~chend gut beantworten. Eine »Ordnung der religIOsen Vorstellungswelt« gar 1st bel den meisten nur sehr schwach zu erkennen. In dies~r empirischen Studie wollen wir in weiteren Feldkontakten und in selbst ausgearbeIteten, durchgeführten, dokumentierten und evaluierten Unterrichtsarrangements präzis~ Aufschlüsse darüber erhalten, wie Religionsunterricht gestaltet werden kann, um em solches systematisiertes Traditionswissen aufzubauen. Uns ist dabei b~wusst: ?ie C!en~~erung konfi~rierten Wissens ist nur dann nachhaltig, wenn es zu emer aktIVen mdlvlduellen Anelgnung religiöser Traditionsbestände durch die Sc~üleri~en und Schüler kommt. Leitfragen bei der Unterrichtsbeobachtung sind beispIelsweIse: (1) Welche Momente unterrichtlicher Arbeit erweisen sich für den Aufbau rel~giöser Orientierungsfahigkeit als relevant? (2) Worin bestehen neuralgische Punkte beIm Aufbau vernetzten religiösen Wissens bzw. bei der kritischen Aneignung religiöser Deutungsmuster? Blicken ~ir zunä~hst zurück:. Früher zielten religionsdidaktische Konzepte vorwiegend auf dIe VermIttlung konSIstent geordneter religiöser Wissensbestände, z.B. in
:~ Wage~schein, Martin: Kinder auf dem Weg zu Physik. WeinheimlBasell990. S. 11.
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Vgl. die vorausgehe.nden empiri~chen Studien: Englert, Rudolf; Porzelt, Burkard; Reese, Annegret;. Stams, Ehsa: Innenanslc~ten des Refer:ndariats. Wie erleben angehende Religionslehrerltnnen an Grundschulen ihren Vorbereitungsdienst? Eine empirische Untersuchung zur Entwicklung (religions)pädagogischer Handlungskompetenz. Münster 2006' Englert, Rudolf; G~th, ~alf (Hg.): »Kinder zum Nachdenken bringen«. Eine empirisch~ Untersuchung zu SituatIon und Profil katholischen Religionsunterrichts an Grundschulen. Stuttgart 1999. Wilhelm, Theodor: Theorie der Schule. Stuttgart 1967. S. 334. 85
Form des Katechismusunterrichts. Die religiösen Wissensbestände und ihre dargebotene Struktur waren vorgegeben und standen nicht zur Diskussion. Es ging >lediglich< darum, die zentralen Glaubenswahrheiten kennen zu lernen und einzelne Glaubenstraktate auswendig zu lernen. In den letzten Jahrzehnten hat durch die Rezeption reformpädagogischer und lernpsychologischer Ansätze eine Umakzentuierung stattgefunden. Die Eigenständigkeit und Würde der einzelnen Subjekte in Lernprozessen wurde betont. Die Subjektorientierung in der Religionspädagogik »richtet sich gegen Strukturen, Vorgaben, Verbindlichkeiten, die die Interpretations- und Aktionsräume der Subjekte ungebührlich einzuschränken drohten.« 13 Heute stehen die aktive und selbstbestimmte Aneignung von religiösen Themen und der autonome, selbstbewusste Umgang mit religiöser Tradition im Zentrum. Religionsunterricht ist dadurch lebendiger und, wie auch die Ergebnisse unseres ersten Feldkontaktes zeigen, vor allem unter den Schülerinnen und Schülern wieder beliebt geworden. 14 Aber: Angesichts abnehmender lebensweltlicher Vertrautheit mit religiöser Tradition und fehlender religiöser Grundkenntnisse wird diese Schwerpunktsetzung aus unserer Sicht problematisch. Denn heutigen Schülerinnen und Schülern fehlen kontextuelle Zusammenhänge der religiösen Themenbereiche. Sie können das ihnen dargebotene einzelne Traditionselement, z.B. einen Psalmvers oder ein kirchliches Fest, nicht mehr in den Gesamtzusammenhang religiöser Tradition einordnen. Ohne Kenntnis des religiösen >Sprachspiels<, ohne Kenntnis der Konfiguration, zu der das einzelne Traditionselement gehört, kann dieses Einzelne nur schwer verstanden werden. Es bleibt bezugs- und damit für den einzeh1.~n häufig bedeutungslos. Da die lebenswe1tlich verorteten Tradierungsvoraussetzungen sich immer mehr auflösen, ist ein neues Nachdenken über Tradition, über ihren Charakter und ihren Stellenwert in religiösen Lernprozessen dringlich geworden. »Etwas fiir die Authentizität und Würde der Tradition zu tun, müsste vor allem heißen, sich um Formen des Verstehens zu bemühen, die einigermaßen sicherstellen, dass wir in der Begegnung mit der Tradition nicht immer nur dem begegnen, was wir aus unserer Erfahrung schon zu wissen glauben.«Is Eine aus unserer Sicht zentrale Kompetenz zum Verständnis religiöser Tradition ist die Fähigkeit zur intertextuellen Arbeit. Bleibt es ausschließlich bei einer Begegnung mit einzelnen Traditionselementen, z.B. einer einzelnen biblischen Geschichte, so ist der Aussagegehalt dieser Geschichte, die ja gerade erst in ihrer Bezogenheit und ihren Anspielungen auf andere Texte zu ihrem Reichtum gelangt, nur sehr beschränkt. Wer also nur eine biblische Geschichte kennt, kennt auch diese nicht wirklich, da er die Anspielungen und Zitationen anderer Texte nicht bemerkt oder sie nicht versteht und damit nicht entschlüsseln kann. Der volle Gehalt eines Textes erschließt sich nur im Gefiige eines viel umfassenderen Text- und Diskursuniversums. Hier kann der Intertextualitätsbegriff unserer Ansicht nach neue Inspirationen fiir die Debatte um die Gestalt religiöser Lernprozesse geben. 13
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Englert, Rudolf: Rote Fäden verfolgen. Nachhaltigkeit im Religionsunterricht. In: Prisma RU. Impulse für den Religionsunterricht (im Druck). Vgl. Bucher, Anton: Religionsunterricht: Besser als sein Ruf? Empirische Einblicke in ein umstrittenes Fach. Innsbruck 1996. Englert, Rudolf: Rote Fäden verfolgen. Nachhaltigkeit im Religionsunterricht. In: Prisma RU. Impulse für den Religionsunterricht (im Druck).
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Zur Rezeption des Begriffs der Intertextualität
>Inte~extualität< ist zu einem in vielen Wissenschaften, wie auch in diesem Sammelband ~nterdisz~plinä~er Beiträge zu erkennen, Schlag- und Schlüsselwort geworden, so auch m der BIbelWIssenschaft. Als Religionspädagogin mit Interesse an der Struktur und dem Aufbau religiöser Tradition greife ich zuallererst auf die Verwendung dieses Begriffes in der Bibelwissenschaft zurück. D?s Prinzip der intertextuellen Arbeit versteht sich hier nicht nur als Suche nach lite~a?schen Abhängigkeiten zwischen biblischen Texten, wie bereits bei der historischkritIschen Me.thode geschehen. Dahinter verbirgt sich vielmehr ein grundsätzlich neues Text- und WI~klichkeitsverständnis. Texte werden als offene Verweisstrukturen verstanden, d.h. emzelne Elemente, Sätze, Wörter, Zitate sind aus der Transformation and~rer . Texte ~ntst?nden bzw. verweisen auf andere Textuniversen. Blbelwlssenschafthch Ist fiir das Intertextualitätsverständnis ein vorher festgesetzter Kan~n ~ndlegend, d.h. das Textuniversum, in dem Bezüge gesetzt und gesucht werde?, Ist m~ht off~~ und beliebig. Daher ist die Frage nach dem Kanon und seiner Einheit neu vlrul,:nt. .Trotz der Begrenzung des Verweishorizontes durch die Festlegung des Kanons sm~ die zu prüfenden Lesarten vielfältig und auf die Zukunft hin offen. Inte~extuelle Bibel-Lektüre versucht, immer wieder neue Lesarten der Texte zu prüfen, mdem neue ~ext-Text-~.ezüge ins Spiel gebracht werden. Im gegenseitigen Befragen, Inte~retIeren, Ir~ltleren ~erschiedener Texte werden vielfältige und ungewohnte ~innko?stell~tI~nen freigesetzt, die auf ihre jeweilige Stärke untersucht werden. Damit ge~lm~.t die Je ~k~elle ~ektüre eine zentrale Bedeutung innerhalb intertextueller Arbeit. Sinn konstItuiert Sich somit immer wieder neu in der aktuellen Begegnung zwischen Text und Leserin bzw. Leser. Steins !asst das .Konz~pt der k~n~nisch-intertextuellen Bibellektüre prägnant zusammen, mdem er m dreifacher Hmslcht zentrale Konsequenzen dieser neuen unge' wohnten Sicht der Bibelauslegung herausstellt: 17
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Die Rol~e des Lesers und der Leserin erhält eine zentrale Bedeutung fiir die SlnnmterpretatIon, denn nur im schöpferischen Akt zwischen Leser und Text in der ' Lektüre, entsteht im Moment des Lesens und Verstehens Sinn. (2) Die Text-Text-Beziehung ist wesentlich für das Entstehen von Bedeutungen. Der Autor und das Werk treten als Sinngenerierungsinstanzen zurück. (3) Für d~e intertextuelle Arbeit ist eine Begrenzung der Schriften notwendig, innerhalb derer SICh wechselseitige Bezüge zeigen. Daher wächst die Relevanz des Kanons ftir die biblische Exegese. Der in ~er biblis~hen Theologie an Aktualität gewinnende Intertextualitätsbegriff kann als em gemäßigter Intertextualitätsbegriff verstanden werden, der einen bibli-
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Vgl. St~i~s, Georg:. Die Einheit der Schrift - ein »aufgegebenes« Thema der Bibelexegese. In: Reh~lOnsuntemch~ an ~öheren Schulen 48 (2005). S. 140-150. ~gl. Stems,. Geo~g: DIe >Bmdung Isaaks< im Kanon (Gen 22). Grundlagen und Programm emer kanomsch-mtertextuellen Lektüre. Freiburg u.a. 1999. S. 99. 87
schen Text nicht als geschlossene und sinnzentrierte Einheit betrachtet, sondern diesen Text im Kontext anderer kanonischer Schriften in den Blick nimmt bzw. aus deren Blick liest. In diesen Ansätzen geht es wesentlich auch darum, die augenfällige Heterogenität der biblisch-christlichen Tradition wahrzunehmen und gleichzeitig auf der Einheit derselben zu insistieren bzw. auf der Notwendigkeit eines eindeutigen Verweishorizontes als grundlegender Voraussetzung der Bibellektüre. Dieses Konzept kanonisch-intertextueller Bibel-Lektüre hilft, die besondere Eigenart biblischreligiöser Tradition, die »Bibel als Lebensbuch einer Glaubensgemeinschaft«,18 wahrzunehmen und aufzugreifen, deren Sinngehalt sich letztendlich erst in der Text-LeserBegegnung je neu zeigt. Für die Reflexion biblischer Lernprozesse ergeben sich daraus· wichtige Konsequenzen: (1) Erst wer den »Kanon als Voraussetzung und Moment der Rezeption des auszulegenden Textes«19 begrenzt und sich an diesem Textuniversum orientiert, in dem inhaltliche Bezüge gesetzt sind, kann den komplexen Sinngehalt einzelner Texte mit ihren Verweisstrukturen erkennen und verstehen. (2) Erst wer den Kanon kennt, versteht und in diesem Textuniversum orientierungsfähig ist, kann einzelne religiöse Geschichten in ihrem vielschichtigen Sinngehalt erfassen. (3) Erst wer sich immer wieder neu dem Text in einer offenen Begegnung aussetzt und einer gründlichen intertextuellen Arbeit widmet, kann weitere Sinngehalte und neue Lesarten erkennen, die über eine erste und vorschnelle Bibellektüre hinausweisen.
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Ist die anspruchsvolle intertextuelle Arbeit mit religiöser Tradition im Religionsunterricht der öffentlichen Schule möglich?
Angesichts dieser anspruchsvollen Konsequenzen einer kanonisch-intertextuellen Lektüre biblischer Texte stellt sich die Frage, inwiefern eine solche im heutigen Religionsunterricht mit einer weitgehend säkularisierten Schülerschaft überhaupt realisierbar ist. Steins weist darauf hin, dass es sich bei der ernsthaften Auseinandersetzu~g mit den alttestamentlichen Schriften um eine »Gratwanderung zwischen der Gefahr der Überforderung der Subjekte und des Reduktionismus in der Sache«20 handelt. Die religionspädagogische Rezeption des Intertextualitätsbegriffs zeigt auf jeden ~all, dass die ausschließliche Konzentration auf die individuelle, aktive Aneignung einzelner, individuell ausgewählter Traditionselemente der Gesamtgestalt und der Gesamtaussage biblischer Texte nicht gerecht werden kann. Die Eigenart religiöser Tradition erh.ält erst in der komplexen Bezogenheit inhaltlicher Aussagen ihre Geltung. Erneut Wird hier unterstrichen, dass es zum Aufbau religiöser Orientierungsfähigkeit neben der Fähigkeit zur aktiven Aneignung religiöser Tradition immer dringlicher wird, auch über konfiguriertes Wissen zu verfügen. Die Gesamtgestalt, der spezifische Charakter 18 19 20
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Steins, Georg: Das Alte Testament und die Elementarisierung. In: Keryks 1 (2003). S. 81102. Hier S. 84. Steins, Georg: Die >Bindung Isaaks< im Kanon, S. 99. Steins, Georg: Das Alte Testament und die Elementarisierung, S. 82.
und die komplexen Bezüge innerhalb religiöser Tradition sind Verstehensvorausset_ zungen für die fruchtbare Begegnung mit einzelnen Glaubenselementen. Berücksichtigt werden muss dabei zusätzlich, dass religiöse Lernprozesse sich nicht nur auf biblische Tradition beziehen. Religiöse Tradition umfasst neben den biblischen Texten weitere vielfältige textliche und nicht-textliche religiöse Traditionen Z.B. auch die religiösen Praxisfonnen. Um religiöse Tradition in ihrer Vielgestaltigk~it wahrzunehmen, ist es wichtig, sich über ihre Struktur klar zu werden. Nach Englert 21 stellt religiöse Tradition in dreifacher Hinsicht eine Konfiguration dar:
(1) in pragmatischer Hinsicht: Eine Tradition ist ein mit anderen geteilter Anwendungszusammenhang, in dem sich ihre Relevanz und ihre Evidenz zeigen und bewähren. Aus Sicht theologischer Henneneutik lässt sich der Sinn christlichen Glaubens n~cht wirklich versteh.en, wenn man ~ich darauf beschränkt, ihn zu verstehen (und mcht auch versucht, Ihm l~bensprakt1sch zu entsprechen). Sinn-Verstehen und die Teilhabe an einer Lebenspraxis gehören demnach zusammen.
(2) in syntaktischer Hinsicht: Eine religiöse Tradition stellt keinen Katalog an ewigen Wahrheiten dar, sondern besteht aus kontextuell entstandenen Texten die vielstimmige und variantenreiche Glaubenserfahrungen enthalten. Im Zusa~enspiel g~ben diese T~xte ein Instrumentarium an die Hand, das einer kontextuell geerdeten SInnfindung dIent. So gesehen bietet religiöse Tradition eine Grammatik zur Generierung immer wieder neuer Lesarten von Welt. Aber auch aus dieser Sicht weist sie einen systemischen Charakter auf, ist sie eine Art geordneten Regelwerks, enthält sie eine spezifische Ausprägung von Rationalität. (3) in semantischer Hinsicht: Eine religiöse Tradition ist auch ein spannungsreicher Bedeutungszusammenhang, ein intertextuelles Gewebe. Gerade für die biblischen Schriften gilt: »Jeder Text kann als eine Transfonnation schon vorhandener Texte aufgefasst werden.«22 Vor allem die letzte Komponente, der semantische Bedeutungszusammenhang religiöser Tradition, zeigt den Gewinn der Rezeption des Intertextualitätsbegriffs. Beachtet werden muss aber auch hier, dass nicht nur intertextuelle Bezüge der Schrift, sondern ebenso semantische Bezüge zwischen biblischem Text und religiösem Brauch oder zwischen religiöser Praxisfonn und sakralen Bauten relevant werden.
21
22
I Vg. Englert, Rudolf: Neues aus Altem verstehen. Zum Vorschlag einer abduktiven Weiterentw~cklung der Korrelationsdidaktik. In: Ziebertz, H.-G.; Heil, St.; Prokopf, A. (Hg.): Abdukhve Korrelation. Münster 2003. S. 67-78. Hier S. 74f. Oeming, Manfred: Biblische Hermeneutik. Darmstadt 1998. S. 70.
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Wie können die Verfügung über konfiguriertes Wissen und die intertextuelle Lektüre gefördert werden?
Als eine der beiden Größen im Korrelationsgeschehen soll religiöse Tradition die religionsunterrichtliche Auseinandersetzung immer :wieder neu i~ .Gang bringen ~d vorantreiben. Daher ist es wichtig, die einer bestImmten TradItIOn zugrunde hegende >Konfiguration< den Schülerinnen und Schülern durchsichtig zu m~ch~n. I?ie vora~s gehend dargestellten drei Dimensionen der Tradition stellen bereIt~ JeweIls ~r sIch eine spezifische Art von Struktur dar. Um den Aufbau vernetzten WIssens zu fordern, müssen somit alle drei Dimensionen in religiösen Lernprozessen Beachtung erhalten: Die Schüler/innen sollen eine religiöse Tradition als Praxis stiftenden Zusammenhang verstehen lernen. Sie sollen unterschiedliche Formen gelebter Religi?n als Elemente eines umfassenderen Wirkungs- und Praxis zusammenhanges begreIfen lernen (pragmatische Dimension). Die Schüler/innen sollen die Auseinandersetzung mit einer religiösen Tradition als Einübung in einen spezifischen Weltzugang verstehen lernen. Sie sollen durc~ die ve~ schiedenen religiösen Äußerungsformen (Ge?et, Ri~al, theolo~ische Reflexlo~,. ~eh giös motiviertes Handeln usw.) hindurch dIe speZIfische >LeIstung< des rehglosen Weltzugangs erfassen lernen (syntaktische Dimension). Die Schüler/innen sollen eine religiöse Tradition als Bedeutung stiftenden Zusammenhang verstehen lernen. Sie sollen einzelne Elemente einer religiösen Tradition al.s Bestandteile eines umfassenderen Bedeutungszusammenhangs >lesen< lernen (semantische Dimension). 23 Die Ausbildung religiöser Orientierungsfähigkeit basiert neben der Fähigkeit zur Individualisierung religiöser Tradition ganz wesentlich auf der Kompetenz, über vernetztes religiöses Wissen zu verfügen, über die Fähigkeit, auch zwischen den verschiedenen Dimensionen Zusammenhänge zu sehen und Verbindungen herzustellen. Zum Verständnis des einzelnen Traditionselements muss das Ganze, müssen die vielfältigen Verweisungszusammenhänge wahr- und ernst genommen werden. H~er erhalten Lehrpersonen eine zentrale Aufgabe: Sie sollten religiöse Lernprozesse 1m Laufe der Schuljahre so aufeinander abstimmen, dass Rückbe~.ge un~ ~üp~~~ punkte an vorausgehende Themen und Texte, z.B. ~urch exphzIte Le~.tmo.ttve rehgtoser Tradition :für die Schülerlnnen und Schüler sIchtbar und verstandhch werden. Leitmotive kÖnnten beispielsweise Grundmotive biblischen Glaubens sein, wie etwa das Schöpfungsmotiv (= Gott hat die Welt durch seinen Willen geschaffen), das Agapemotiv (= Die Liebe begründet eine positive Beziehung zu Gott und den Menschen), das Umkehrmotiv (= Der Mensch hat die Möglichkeit zu radikaler Veränderung) oder das Hoffnungsmotiv (= Die Geschichte durchzieht eine schon anfanghaft begonnene Erwartung einer neuen Welt).24 Die Schülerinnen und Schüler sollten au~erdem dazu befähigt werden, selbst Zusammenhänge zu erfassen, und zwar sowohl mterte~tuelle Bezüge innerhalb der Texte religiöser Tradition als auch Zusammenhänge ZWIschen 23 Vgl. Englert, Rudolf: Religion reflektieren - nötiger denn je, S. 12. . 24 Gerd Theißen unterscheidet weitere 14 Grundmotive biblischen Glaubens: Thelßen, Gerd: Zur Bibel motivieren. Aufgaben, Inhalte und Methoden einer offenen Bibeldidaktik. Gütersloh2003. S.131-173.
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25 gelehrter und gelebter Religion. Mit Schülerlnnen und Schülern eine intertextuelle Lektüre religiöser Tradition, die über die biblischen Texte hinausgeht, einzuüben, könnte dann heißen:, Ereignisse der Kirchengeschichte als Interpretationen von Texten zu >entziffern<, Oster-Bräuche als >Kommentare< zum Auferstehungsglauben zu >lesen< oder Kathedralen als in Stein gehauene >Glaubenskatechismen< zu entschlüsseln. 26 Kinder zur intertextuellen Arbeit zu befähigen, bedeutet damit auch, innerhalb der Vielfalt und Heterogenität religiöser Tradition >rote Fäden< zu erkennen, d.h. neben der vielfältigen Differenz auch die Kohärenz religiöser Tradition deutlicher zu ma27 chen. Die Kohärenz der Tradition ist einerseits durch den gemeinsamen Diskurszusammenhang, der über den schriftlichen Kanon hinausgeht, gegeben. Und andererseits, hier kann auf den Intertextualitätsdiskurs verwiesen werden, wird die Kohärenz durch den Leser bzw. die Leserin in der aktiven, gründlichen Textbegegnung geschaffen. Der Leser hat k<;mstitutiven Anteil an der Produktion von Text-Bedeutungen. Ziel religiöser Lernprozesse mit religiöser Tradition ist es daher, gerade angesichts religiöser Pluralität, zu einer eigenen in sich konsistenten Lesart religiöser Tradition zu kommen, auch und trotz des Bewusstseins, dass diese Lesart nicht überdauernd und endgültig ist, sondern flexibel und auf die Zukunft offen, in der sie der Bewährung ausgesetzt ist.
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Fruchtbare Dilemmata beim Aufbau religiöser Orientierungsfähigkeit angesichts der religiösen Gegenwartssituation
Abschließend möchte ich kurz an die zu Beginn des Artikels herausgestellten gesellschaftlichen Wandlungsprozesse erinnern und diese nun in den Zusammenhang des religionspädagogisch dringlichen Ziels stellen, religiöse Orientierungsfähigkeit auszubilden und Kinder und Jugendliche zur intertextuellen Arbeit zu befähigen. Die Bedingungsfaktoren sowohl für die Aneignungs- als auch für die Konfigurationsperspektive haben sich grundlegend verändert: (1) Dilemma bezüglich der Individualisierung religiöser Tradition Um sich selbstbestimmt religiöse Tradition anzueignen, fehlen a) Kenntnisse des religiösen Sprachspiels und b) lebensweltliche Vertrautheit und Erfahrungen gelebter religiöser Tradition. Beide Defizite, der Verlust gelebten Glaubens und der Verlust substantieller religiöser Gelehrsamkeit erschweren eine mündige, reflexive Auseinandersetzung mit religiöser Tradition. Doch religiöse Desozialisation kann auch positive 25 Vgl. Feige, Andreas. u.a.: >Religion< bei ReligionslehrerInnen. Religionspädagogische Zielvorstellungen und religiöses Selbstverständnis in empirisch-soziologischen Zugängen. Münster 2000. S. 33ff. 26 Vgl. Englert, Rudolf: Auf einmal gar nicht mehr von gestern. Überlegungen zum religionspädagogischen Gebrauch von Tradition. In: Bahr, Matthias; Kropac, Ulrich; Schambeck, Mirjam (Hg.): Subjektwerdung und religiöses Lernen. Für eine Religionspädagogik, die den Menschen ernst nimmt. München 2005. S. 64-88. Hier S. 84f. 27 Vgl. hierzu die sehr interessanten einzelnen Beiträge auch von Bibelwissenschaftlern im Themenheft der Katechetischen Blätter zu »Rote Fäden in der Bibel«: Katechetische Blätter 131 (2006). 91
Konsequenzen haben: Kinder lauschen mit Spa~ung ihnen. bisher fremden bib~ischen Geschichten, Kinder erforschen mit abenteuerhcher Lust bIsher unbekannte Ktrchenräume, feiern mit aufrichtiger Aufinerksamkeit religiöse Fest. Erstbegegnung mit religiöser Tradition kann als enorme Chance verstanden werden. Beide Defizite fUhren dazu, dass ein neues Interesse, eine Unbefangenheit und Offenheit gegenüber religiöser Tradition entstehen kann. (2) Dilemma bezüglich der Konfiguration religiöser Tradition Um Kindern heute eine Konfiguration religiöser Tradition anzubieten, fehlen wenn man nicht hinter die Erkenntnisse der Postmoderne zurücktreten will - privilegierte Auslegungsperspektiven und eindeutige Lesarten. Die Bibel ist eine Sammlung heterogener literarischer Zeugnisse. Biblische Tradition ist vielstimmig und variantenreich. Besonders lebendige Tradition existiert meist in einer Vielzahl von Lesarten. Es ist eine dringliche Aufgabe der Religionslehrerinnen und Religionslehrer, Strukturierungsangebote innerhalb der religiösen Tradition anzubieten. Heutige Religionslehrer/innen müssen selbst über Orientierungskompetenzen verfügen, über kognitive Landkarten zu religiösen Fragestellungen. Mit dem Bezug auf den begrenzten Diskurszusammenhang religiöser Tradition kanh eine klare, geordnete Struktur zu einem religiösen Thema oder einer religiösen Fragestellung als Orientierung dargeboten werden. Dies hat vor allem Büttner exemplarisch beim Dilemma von menschlicher Autonomie und göttlichem Schicksal vorgeführt. 28 Diese Struktur von Lesarten ist zwar begrenzt, aber dennoch vielfältig und heterogen. Kohärenz entsteht erst dort, wo der Leser bzw. die Leserin im intensiven und authentischen Begegnungsprozess mit der Tradition zu einer eigenen Interpretation und Sinn-Bedeutung kommt. Der Leser, die Leserin ist fiir den je neu zu interpretierenden Aussagegehalt der Tradition maßgeblich. Anders gesagt: Tradition verlangt geradezu nach aktualisierender Interpretation und situationsangemessener Applikation, was ausschließlich vom konkreten Subjekt selbst geleistet werden kann. Die Irritation, die durch in der Postmoderne erst bewusst wahrgenommene Vielgestaltigkeit und Heterogenität religiöser Tradition entsteht, birgt in sich ein neues Interesse am Subjekt, eine neue Wertschätzung des Lesers bzw. der einzelnen Person als gegenwärtiger und bedeutsamer Auslegungsinstanz. Man erkennt: Individualisierungsperspektive und Konfigurationsperspektive können sich in wechselseitiger Bezogenheit auch in ihren Irritationen befruchten. Die unterrichtliche Entwicklung religiöser Orientierungsfähigkeit hat beide Perspektiven zu berücksichtigen.
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Grenzen religiösen Lernens im Religionsunterricht und offene Fragen
noch einmal auf die Grenzen religiösen Lernens an der Schule aufinerksam machen. Aufgabe des Religionsunterrichts kann es nicht sein, fehlende religiöse Sozialisation in Familie und Gemeinde zu kompensieren. Dies stellt eine Überforderung dar. Im begrenzten, wöchentlich zweistündigen Religionsunterricht können Kinder nicht vollständig die fehlenden Rezeptionsvoraussetzungen zum Verständnis religiöser Tradition erwerben, die z.B'. fiir eine ernsthafte intertextuelle Arbeit nötig sind. Es ist aber hilfreich und wichtig, darauf aufinerksam zu machen, wie anspruchsvoll und voraussetzungsreich eine kritische Auseinandersetzung mit religiöser Tradition ist. Religionsunterricht ist kein >Laberfach<, in dem man über alles und jedes reden kann und in dem jede Wortmeldung gleich richtig und wichtig ist. Im Religionsunterricht gilt es, komplexe religiöse Kompetenzen zu erwerben, die auf ein weit reichendes religiöses Wissen abzielen. Erst so kann eine mündige, subjektive Aneignung oder Ablehnung religiöser Tradition ermöglicht werden. Die Aneignung überlieferter religiöser Tradition steht im Interesse der freien und "mündigen Gestaltung des eigenen Lebens und/oder Glaubens. Weitere Fragen im Zusammenhang des Nachdenkens über die unterrichtliche Entwicklung religiöser Orientierungsfähigkeit, die aufgrund der Kürze dieses Artikels nicht mehr bearbeitet werden können, sehe ich als dringlich an: (l) Mit fortschreitender Zeit ist deutlicher wahrzunehmen, dass auch heutige Religionslehrerinnen und Religionslehrer von religiöser Desozialisation betroffen sind. Wie können diese, die selbst um religiöses Orientierungswissen ringen, Kindern die dringlichen religiösen Strukturierungshilfen anbieten? (2) Wenn es bei der intertextuellen Arbeit nicht nur darum geht, Kindern vorgefertigte Bezüge zwischen biblischen Texten zu präsentieren, sondern sie wirklich zu eigenständiger intertextueller Arbeit zu befähigen, dann ist es wichtig, ihnen im Verlauf der Schuljahre einen konsistenten Überblick über die Tradition zu geben. Eine intertextuelle Lektüre drängt darauf, weniger Einzelverse zu bearbeiten, sondern vielmehr größere Textzusammenhänge in den Blick zu nehmen und einfUhrendes Überblickswissen zu vermitteln. Das Nachdenken über dringliche Ziele zum Aufbau religiöser Orientierungsfähigkeit ist daher stärker darauf zu konzentrieren, wie genau im Religionsunterricht im Laufe der Jahre langfristig verfügbare Strukturen religiösen Vers tehens ausgebildet werden können. (3) Weil christliche Tradition nicht nur aus Texten, sondern auch aus Manifestationen und Praxisformen besteht, ist zu bedenken, welche Konsequenzen dies fiir die Gestalt von Lernprozessen hat. Religion zu lernen und zu verstehen, heißt eben auch, Religion zu erleben und Religion Bewährungssituationen auszusetzen. 29 Kann überhaupt, und wenn ja, wie kann dieser Zusammenhang zwischen gelehrter und gelebter Religion innerhalb des schulischen Religionsunterrichts eingeholt werden?
Die vorausgehenden Ausführungen verdeutlichen, wie hoch der Anspruch religiösen Lernens im Religionsunterricht geworden ist, wenn sowohl die Eigenart religiöser Tradition als auch die heutigen Schülerinnen und Schüler mit ihren jeweiligen Verstehensvoraussetzungen wahr- und ernstgenommen werden. Daher will ich zum Schluss 28
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Vgl. Büttner, Georg: Landkarten des Denkens. Argumentationsstrukturen beim Nachdenken über das Verhältnis zwischen göttlicher Fügung und menschlicher Autonomie. In: Zeitschrift tUr Didaktik der Philosophie und Ethik 25 (2005). S. 74-81.
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Überlegungen zu perfonnativen Fonnen des Religionsunterrichts finden sich bei Mendl, Hans: Religion inszenieren. Eine Gratwanderung. In: Kirche und Schule 139 (2006) 33. Jg. S.3-8. 93
(4) Der Gegenstandsbereich im Religionsunterricht kann nach dem Synodenbeschluss der 1970er Jahre »die ganze Tagesordnung der Welt«30 umfassen. Die Welt ist enger zusammengerückt und damit größer geworden. Auch die religiöse Alltagsw~lt heutiger Kinder ist vielfältiger als noch vor Jahrzehnten. Sie ist religiös plural. W~e weit ist der Gegenstandsbereich religiöser Tradition zu fassen? Umfasst er auc~ ~Ie Tradition anderer Religionen? Wie weit ist der >Kanon< religiös relevanter TradItIon zu fassen? Welche Religionen sind neben der christlichen Religion zu berücksichtigen? Kann intertextuelle Arbeit auch als interreligiöse Arbeit konzipiert werden? Ein ungelöstes Problem und eine bleibende Herausforderung religiöser Pluralität ist die Frage, wie interreligiöse Begegnung und interreligiöses Lernen realisiert werden können wenn das traditionelle Kanonwissen über die christliche Tradition bereits verloren geg~gen ist und Kenntnisse über andere Religionen sehr dürftig ausgebildet sind.
Michael Schneider (Exegese des Neuen Testaments)
Intertextualität und neutestamentliche Textanalyse. Entdeckungen in der Passio secundum Johannem J.S. Bachs l
Intertextualität und Textanalyse Weniger Theoriediskussion, mehr Textanalyse - diese Prämisse für den vorliegenden Sammelband bietet für eine Auseinandersetzung mit dem Thema Intertextualität im Rahmen theologischer Exegese eine nicht einfache Aufgabe, stellt das Konzept mit all seinen Facetten doch zunächst einmal ganz grundsätzliche Anfragen an alle, die sich mit der Auslegung von Texten befassen - und somit auch an die neutestamentliche Wissenschaft: Welcher Textbegriffliegt der jeweiligen Textanalyse zugrunde? Welche Referenztexte kommen für intertextuelle Lektüren in Frage? Wie lassen sich weitere Modelle von Intertextualität mit engeren, textanalytischen Ansätzen ins Gespräch bringen? Kurz: Es stellt sich ganz prinzipiell die Frage, was impliziert ist, wenn von Intertextualität gesprochen wird. Neben diesen allgemeinen Fragen wirft das Paradigma Intertextualität im Rahmen theologischer Exegese wiederum eine Reihe ganz spezifischer Probleme auf: Welche Rolle kommt bestimmten Intertexten wie dem biblischen Kanon zu? Wie verhalten sich eher traditionelle exegetische Methoden zu Intertextualität? Wie lässt sich theologisch verantwortlich mit der Pluralität möglicher intertextueller Lektüren umgehen? Diesen Fragen möchte der vorliegende Artikel zunächst in der gebotenen Kürze durch wenige Bemerkungen zur Forschungsgeschichte 2 Rechnung tragen, da sich hier grundlegende Fragestellungen, Perspektiven und Chancen intertextueller Analyse zeigen. In einem weiteren Schritt folgen dann einige Ausführungen zu Ausschnitten aus der Bachschen Johannespassion. Diese verstehen sich im Großen und Ganzen als exegetische Anmerkungen zu einem Grenzbereich zwi-
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Der Religionsunterricht in der Schule. In: Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Beschlüsse, Offizielle Gesamtausgabe I. Freiburg u.a. 1976. S. 123-152. Hier S. 134.
Stark überarbeitete Druckfassung eines Vortrages zur Einführung in die Bachsehe Johannespassion am 18. März 2005 für die Evangelische Kantorei an St. Michael Schlüchtem. Für eine Einführung in die exegetische Intertextualitätsdebatte sei verwiesen auf die beiden grundlegenden Werke: Hays, Richard B.: Echoes of Scripture in the Letters of Paul. New Haven 1989 sowie Draisma, Sipke (Hg.): Intertextuality in Biblical Writings. Essays in Honour ofBas van Iersel. Kampen 1989. Vgl. zum grundlegenden Charakter dieser Schriften auch den Beitrag von Steve Moyise: Intertextuality and Biblical Studies: A Review. In: Verbum et Ecclesia 23 (2002). S. 418-431. Grundfragen zur Exegese und Intertextualität thematisieren außerdem: Schneider, Michael: Texte - Intertexte - Schrift. Perspektiven intertextueller Bibellektüre. In: Strecker, Christian (Hg.): Kontexte der Schrift 11. Kultur, Politik, Religion, Sprache. Stuttgart 2005. S. 361-376 und ders.; Huizenga, Leroy A: Das Matthäusevangelium in intertextueller Perspektive. In: Zeitschrift für Neues Testament 16 (2005). S. 20-29. Einen Eindruck über die vielfältigen Ansätze exegetischer Intertextualitätsforschung und ein ausführliches Literaturverzeichnis liefert der Sammelband von AIkier, Stefan; Hays, Richard B. (Hg.): Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre. Tübingen u.a. 2005. 95
schen Musikwissenschaft, Literaturwissenschaft und Theologie. Ziel ist es, über diesen vermeintlichen Umweg über einen Oratorientext aus dem 18. Jahrhundert grundlegende Perspektiven des Paradigmas Intertextualität für die Exegese aufzuzeigen.
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»Die Intertextualitätsforschung divergiert in der Folgezeit daher in zwei Richtungen: Während das eine Lager - im Gefolge Krlstevas - am Postulat des sich selbst reproduzierenden >offenen Textes< festhält, versucht das andere Lager - eher dem Strukturalismus denn dem Poststrukturalismus verpflichtet - Intertextualität nicht als allgemeine, sondern als spezifische Eigenschaft von Texten festzulegen und im Text als spezifische Strategie zu verorten.«6
Intertextualität - Problemfelder und Perspektiven
Schon mit seiner Definition bei Julia Kristeva 3 stellt sich die Frage nach den verschiedenen Dimensionen und Aspekten, die durch den Intertextualitätsbegriff impliziert werden. Mit der Kristevaschen Defmition bzw. Begriffsbildung sind eher texttheoretische Implikationen als methodisch-analytische Aussagen verbunden; der Terminus Intertextualität steht bei ihr zunächst für eine generelle Eigenschaft von Texten. Produktion und Rezeption von Texten sind demnach ausschließlich im Gegenüber und in Beziehung zu anderen Texten vorstellbar - Intertextualität erscheint als ein konstitutiver Aspekt von Textualität schlechthin. Dieser weite Ansatz bei Kristeva ist sehr stark als Gegenmodell zum (französischen) Strukturalismus ihrer Zeit zu sehen: Texte sind gerade nicht als autonome Objekte zu betrachten, die unabhängig von anderen Faktoren (eben auch anderen Texten) quasi mit naturwissenschaftlicher Methodenschärfe untersucht werden können. Bei Kristeva ist das Konzept noch im Rahmen poststrukturalistischer bzw. semiotischer Theoriebildung zu verorten, schon bald aber verselbstständigt sich der Begriff - eine Entwickung, die zu einer terminologischen Änderung durch Kristeva selbst führte: »Der Terminus Intertextualität bezeichnet eine solche Transposition eines Zeichensystems (oder mehrere) in ein anderes. Doch wurde der Terminus häufig in dem banalen Sinne von Quellenkritik verstanden, weswegen wir ihm den der Transposition vorziehen.«4 Jedoch lassen sich gerade aus der Debatte um den Entwurf Kristevas zwei grundlegende Gedanken festhalten, die weiterhin auch für die Exegese besonders erwähnenswert sind:
Doch schon im Rahmen eines deutlich eingeschränkten Intertextualitätbegriffes entstand in der Literaturwissenschaft eine schier unüberschaubare Fülle an Definitionen Differenzierungen und Kategorisierungen von Intertextualität. Als Beispiel sei an die~ ser Stelle nur der Entwurf Gerard Genettes genannt, der zur Analyse aller expliziten oder impliziten Textbezüge den Oberbegriff»Transtextualität« verwendet. 7 Unabhängig davon, ob die verschiedenen Ausdifferenzierungen des Konzeptes sich als Kritik 8 oder Weiterführung des Kristevaschen Ansatzes verstehen, ist es zur Einordnung der unterschiedlichsten theoretischen Entwürfe gewinnbringend, sich zunächst einmal sehr grundsätzlich zu vergewissern, welche Dimensionen bzw. Aspekte der Intertextualitätsbegriff impliziert. Mit diesem Ziel erarbeitet Renate Lachmann drei prinzipiell differierende Aspekte, die alle (freilich in unterschiedlichen Zusammenhängen unterschiedlich stark) im Paradigma Intertextualität angelegt sind: »Läßt sich >Intertextualität< als eine Kategorie etablieren, die eine generelle Dimension von Texten, ihre Implikativität, benennt? Oder ist der Begriff eingeschränkt zu gebrauchen im Sinne einer reinen Beschreibungskategorie für Texte, deren Struktur durch die Interferenz von Texten oder Textsegmenten organisiert ist? Oder hat der Begriff zur Hauptsache ein literaturkritisches Potential, indem er bestehende Konzepte zur Literatur (Einmaligkeit, Abgeschlossenheit, strukturale Totalität, Systemhaftigkeit) in Frage stellt?«9 Nach dieser Darstellung ergibt sich also zuerst die allgemeine texttheoretische EbeneIntertextualität hängt untrennbar mit Textualität zusammen. 10 Sodann lässt sich eine
»A) Kristeva nimmt j~den Text in den Blick - Intertextualität ist ein Phänomen, das sich in jedem Text beobachten lässt und nicht nur an ausgewählten Stellen einzelner Texte, die über besondere Markierungen, beispielsweise über Zitate, andere Texte aufgreifen. B) Wenn die Defmition von Intertextualität mit Bezug auf jeden Text spricht, dann impliziert das eine bestimmte Vorstellung von Text und Textualität. Es gilt, (neu) darüber nachzudenken, was als Text bezeichnet werden kann und wodurch diese Zu schreibung festgelegt wird.«5 Die Intertextualitätsdebatte wurde in der Folge auch außerhalb poststrukturalistischer Theorien intensiv weitergeführt und emanzipierte sich dabei von ihrem ursprünglichen Kontext.
»Jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität und die poetische Sprache lässt sich zumindest als eine doppelte lesen.« (Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Kimmich, Dorothee u.a. (Hg.): Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart. Stuttgart 2003. S. 334-348. Hier S.337.) 4 Kristeva, Julia: Die Revolution der poetischen Sprache. Frankfurt 1978. S. 69. 5 Schneider: Texte - Intertexte - Schrift, S. 364. 3
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Holthuis, Susanne: Intertextualität. Aspekte einer rezeptions orientierten Konzeption. Tübingen 1993. S. 16. Er unterscheidet dann zwischen fUnf Typen der Transtextualität. »Intertextualität« verwendet Genette in eingeschränkterem Sinne als Kristeva zur Bezeichnung der Kopräsenz mehrerer Texte, wobei i.d.R. ein Text in einem anderen präsent ist; als Beispiel wären Zitat, Anspielung oder Plagiat zu nennen. »Paratextualität« nennt Genette den Bezug zwischen dem Text und seinen rahmenden Elementen wie Titel, Nachworte, Einleitungen oder Fußnoten etc. Die Beziehung zwischen einem Text und einem Metatext, wie man sie z.B. in Kommentaren findet, wird als »Metatextualität« bezeichnet, während »Architextualität« die Beziehung Text - Textsorte beschreibt. Schließlich nennt Genette »Hypertextualität« die Beziehung zwischen einem Hypertext und einem Hypotext. (Genette, Gerard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt 1993. Bes. S. 10-15.) Mehrheitlich wird an Kristevas Konzept bemängelt, dass der Ansatz nicht methodisierbar und somit wissenschaftlich schlicht unbrauchbar sei. Lachmann, Renate: Ebenen des Intertextualitätsbegriffs. In: Stierle, K.-H.; Warning, R. (Hg.): Das Gespräch. München 1984. S. 133-138. Hier S. 134. So hebt auch Susanne Holthuis bezüglich einer Defmition von Intertextualität hervor, dass diese »abhängig ist von der zugrunde gelegten Texttheorie und ihren theoretischmethodologischen Implikationen und von der daraus resultierenden Bestimmung des TextBegriffs selbst. Die Definition von Intertextualität steht und fällt daher mit den ihr unmittelbar 97
textdeskriptive bzw. textanalytische Ebene nennen. In der Folge Kristevas wurden in diesem Bereich - gerade in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft - die meisten Arbeiten vorgelegt. Die verschiedenen Ansätze versuchen Ld.R. aus produktions- und rezeptions orientierter Perspektive konkret nachweisbare intertextuelle Bezüge zwischen wenigstens zwei vorliegenden Texten genauer zu beschreiben und die sich daraus ergebenden Bedeutungseffekte zu charakterisieren. Schließlich ist die literaturbzw. kulturkritische Ebene anzufiihren, die bei Kristeva im Vordergrund steht; bei ihr werden die Grenzen zwischen Text und Kultur bzw. Gesellschaft unscharf - Literaturkritik und Gesellschaftskritik werden schließlich synonym gebraucht:
»Die >Dezentrierung< des Subjekts, die Entgrenzung des Textbegriffs und Texts [... ] läßt das Bild eines >Universums der Texte< entstehen, in dem die einzelnen subjektlosen Texte in einem regressus ad infinitum nur immer wieder auf andere und prinzipiell auf alle anderen verweisen, da alle nur Teil eines >texte general< sind, der mit der Wirklichkeit und Geschichte, die immer schon >vertextete< sind, zusammenfällt. Dies ist eine Grundvorstellung des Poststrukturalismus und des Dekonstruktionismus, und diese schwindelnde Perspektive markiert auch den theoriegeschichtlichen Ort, dem Kristevas Konzept der Intertextualität entstammt und dem es seine Konjunktur zunächst verdankte. Hier blieb es auch nicht ein der Literaturwissenschaft vorbehaltenes, analytisches Konzept, sondern wurde zum Programm einer neuen, radikal intertextuellen Schreibpraxis. «11 Intertextualität ist sinnvoll nur im Zusammenspiel aller drei Dimensionen zu diskutieren. Es gilt, diese Multiperspektivität zu bedenken, auch wenn die überwiegende Mehrheit der Ansätze mittlerweile zu dem Schluss kommt, dass »Intertextualität nicht als universelles Prinzip ästhetischer Literatur bzw. Rezeption erscheint, sondern als eine MÖylichkeit, eine AI~ernative, ein Verfahren des Bedeutungsaufbaus l.i~~ra~scher Werke.« 2 -Ich breche dte Ausführungen zu Grundfragen der Intertextualttat hter ab; trotz der Fülle weiterer Fragestellungen sind grundlegend doch wesentliche Punkte genannt, die es erlauben, nun einige Probleme der Intertextualitätsrezeption in der Exegese darzustellen.
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Intertextualität und theologische Exegese
Setzt man sich intensiver mit dem Thema Intertextualität im Rahmen theologischer Exegese auseinander, so stößt man auf erstaunliche Gegensätze: Einerseits kann man den Gebrauch des Begriffes mittlerweile durchaus als inflationär bezeichnen. Schaut man sich aber an, welche Implikationen mit seiner Nennung verbunden werden, so zuzuordnenden Kriterien von Text und Textualität, Entscheidungen auf dieser Ebene determinieren alle folgenden Konzeptionen zu intertextuellen Relationen in Texten.« (Holthuis: Intertextualität, S. 29.) 11 Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität. In: Broich, Ulrich; Pfister, Manfred: Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985 (= Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 35). S. 1-30. Hier S. 9f. 12 Preisendanz, Wolfgang: Zum Beitrag von R. Lachmann, Dialogizität und poetische Sprache. In: Lachmann, Renate (Hg.): Dialogizität, Theorie und Geschichte der Literatur und Schönen Künste. München 1982. S. 25-28. Hier S. 26f. 98
stößt man im exegetischen Bereich oftmals auf ausschließlich quellenkritische Unters~chung~n zu innerbiblischen Bezügen. Sicherlich decken diese Betrachtungen auch emen Tell des ..SP.ektru~s a?, das mi~ dem Begriff Intertextualität im Blick ist, schöpfen dessen MoghchkeIten Jedoch mcht aus, sondern bleiben oftmals bei bekannten Form~n der Analyse, geschmückt mit neuen Terminologien. Zum anderen verzichten einige-Studien, die das Beziehungsgefiige zwischen biblischem Text und anderen Texten ~ters~chen, völli~ auf den Begriff der Inte~extu~lität, sei es aus Ablehnung gegenuber emer potenttellen >postmodernen SptelereI< - ein Urteil, das die weit verzweigte Diskussion in den Literaturwissenschaften oft kaum zur Kenntnis nimmt _ sei. es mit der Begründung, dass strukturalistische Ansätze, in deren Opposition de; Kristevasche Intertextualitätsbegriff entsteht, nie einen sehr starken Einfluss auf die (deutschspr?chige) ~xege.se ha~en. Unabhängig von dieser unterschiedlichen Rezeption unterbletbt oft eme Dtskusston der zugrunde gelegten Theoriemodelle 13 die nicht nur immer wieder neu die Frage der Anschlussfähigkeit der Exegese an ~ndere Wissenschaften zu stellen vermag, sondern darüber hinaus die Grundlagen, Möglichkeiten u~d ~renze~ exegetischer Erke~tnisfähigkeit reflektieren kann. Zudem stellt gerade dte Vtelfalt mtertextueller Theonekonzeptionen die Frage nach der Vereinbarkeit multiperspektivischer Ansätze im Rahmen eines texttheoretischen Exegese-Modells. Ohne e~n solches i~tegr~tives Mo.del~ wird aus ein~m Pluralism~s d~r methodischen Zugänge em bloßes mcht naher quahfiztertes Nebenemander. Nur m emem übergreifenden texttheoretischen Modell kann etwa das Verhältnis von Intertextualität zum historisch14 kritischen Methodenkanon der Exegese näher beschrieben werden und kann weiterh~n. bedacht werden,. dass Intertextualität im Rahmen neutestamentlicher Exegese prinztptell alle Textbeztehungen neutestamentlicher Texte zu anderen Texten umfasst seien es biblisch-kanonische, zeitgenössische oder spätere Texte. Wie diese verschie~ denen Aspekte zusammen zu denken sind, versucht ein zeichentheoretisches Modell zu klären, das im Folgenden kurz skizziert werden soll.
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Die Vielsch~chtig~eit.des ~egriffs, der in der weiten Defmition Kristevas angelegt ist und der durch dIe dreI DImenSIOnen Lachmanns ausdifferenziert wird, wird im exegetischen Ko?text allzu se!ten diskutiert. Zu den wenigen Arbeiten, die sich ausfiihrlicher mit allgemeIn hermeneuttschen, aber auch theologischen Implikationen verschiedener Intertextualitätskonzepte auseinandersetzen, zählen die intertextuellen Arbeiten Stefan Alkiers und George Aicheles. Vgl. grundsätzlich die Beiträge dieser beiden Autoren im Sammelband Alkier, Stefan; Hays, Richard B. (Hg.): Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektüre. Tübingen u.a. 2005. Vgl. dazu die durchaus unterschiedlichen Positionen von Annette Merz: Die fiktive Selbstauslegung des Paulus. Intertextuelle Studien zur Intention und Rezeption der Pastoralbriefe. Göttingen u.a. 2004 sowie den Sammelband Draisma, Sipke (Hg.): Intertextuality in Biblical Writings. Essays in Honour ofBas van Iersel. Kampen 1989. 99
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Zeichen, Text und Intertext
Zur theoretischen Fundierung der verschiedenen Intertextualitätstheorien und exegetischer Arbeit insgesamt sollen nun Grundzüge 15 der Semiotik Charles Sanders Peirces bzw. einige Konstitutiva des zugrunde liegenden Zeiche~begriffs u~d se~ner Weite~ entwicklungen kurz dargestellt werden. Gegenüber klassIschen zw.eIstelhgen ~efim tionen entwickelt Peirce einen dreistelligen ZeichenbegrifJ, den er WIe folgt defimert: »Ein Zeichen [... ] ist alles, was in einer solchen Beziehung zu einem zweiten steht das sein Objekt genannt wird, daß es fähig ist, ein Drittes, das sein Interpretant ~enannt wird, dahingehend zu bestimmen, in derselben triadisc~en Relation zu jener Relation auf das Objekt zu stehen, in der es selber steht. Dies ~edeutet, daß der Interpretant selbst ein Zeichen ist, das ein Zeichen desselben Objekts bestimmt und so fort ohne Ende«.i6 Ein Zeichen kann also bei Peirce sprachlichen und nichtsprachlichen Charakter haben 17 und ist nur im dreifachen Bezug Zeichen - Interpretant - Objekt denkbar. Im Rahmen einer solchen kategorialen Semiotik übernimmt Charles William Morris das Peircesche Modell in etwas veränderter Terminologie (Zeichenträger, Designat-Denotat, 8 Interpretant/ und zeigt auf der Basis dieser Zeichentriade wiederum drei zweistellige Relationen auf: Relation Zeichenträger - (andere) Zeichenträger: syntagmatische Dimension
»Die intertextuelle Forschung befasst sich mit den Sinneffekten, die aus der Bezugnahme des jeweiligen Textes zu anderen Texten entstehen. Von Intertextualität sollte man nur sprechen, wenn das Interesse an der Erforschung von Sinneffekten besteht, die durch die Beziehung mindestens zweier Texte entstehen und zwar von Sinneffekten, die keiner der beiden Texte für sich allein gesehen eröffuet.«20 Weiterhin befasst sich die extratextuelle Forschung mit Sinneffekten, »die aus der Bedes Text:s auf an~er~ außertextliche Zeichen entstehen.«21 Weiter ausgefUhrt findet man ~men semIOtIschen Entwurf zur intertextuellen Textanalyse bei M~gdo~a Orosz. SIe versteht Int~rtextualität primär als Mittel zur BedeutungskonstitutIO~2emes Tex~es ~nd unterscheIdet daher Analysekriterien v.a. auf semantischer Eb~ne. D~~h dIe Embettung .des Intertextualitätskonzeptes in dieses Gesamtkonzept emer sem~otIschen. Exegese Wird Int~~extualität einerseits in den weiten Rahmen gestellt, der 1ll der Kristevaschen DefimtIon angelegt ist. Andererseits lassen sich in diese Matrix die verschiedenen Intertextualitätsansätze einschreiben - Intertextualität wird 23 zum qualifizierten Sammelbegriff. Dieses weite Konzept von Intertextualität bedeutet letztlich aber auch, dass »die vermeintlich rekonstruierte Intention des Autors und dessen int~ndie~e Au~ahme von Praetexten [ ... ] nicht mehr als Garant für die richtige InterpretatIOn emes BIbeltexts gelten [kann]. An diese Stelle tritt prinzipiell die Vorstellung von mehreren möglichen Interpretationen, wobei die Frage nach vertretbaren und an§emessenen Deutungen auch und vor allem zu einer ethischen Entscheidung wird.«2
~gnahme
Relation Zeichenträger - Denotat-Designatum: semantische Dimension Relation Zeichenträger - Interpretant: pragmatische Dimension. Neben dieser Unterscheidung zwischen Syntagmatik, Semantik und Pragmatik lassen sich außerdem für Untersuchungen biblischer Texte im Anschluss an Stefan Alkier intra-, inter- und extratextuelle Ebenen eines Textes methodisch unterscheiden: »Auf der Basis der kategorialen Semiotik werden also für die Bibelwissenschaften drei Arbeitsbereiche unterschieden: die intratextuelle, die intertextuelle und die extratextuelle Forschung.«19 Davon methodisch differenzieren lassen sich intertextuelle Studien: 15 V gl. grundlegend Alkier, Stefan; Zangenberg, Jürgen: Zeichen aus Text und Stein. ~in semiotisches Konzept zur Verhältnisbestimmung von Archäologie und Exegese. In: Dies. (Hg.): Zeichen aus Text und Stein. Studien. auf dem yveg zu eine~ ~rchäologie ~es ~euen Testaments. Tübingen 2003. S. 21-62 SOWie den Beitrag von Kristina Dronsch m diesem Band. 16 Peirce, Charles Sanders: Phänomen und Logik der Zeichen. Hrsg. u. übers. v. Helmut Pape. Frankfurt a.M. 1983. S. 64. 17 Dass der Prozess der Zeichenhervorbringung, der Semiose prinzipiell als nicht abschließbar vorgestellt wird, zeigt eine alternative Definition besonders deutlich: »Zeichen: Alles, was etwas anderes (seine Interpretanten) bestimmt, sich auf ein Objekt zu beziehen, auf das es sich selbst (als sein Objekt) auf die gleiche Weise bezieht, wodurch der Interpre.ta~t seinerseits zu einem Zeichen wird und weiter ad infinitum.« (peirce, Charles S.: SemlOtische Schriften I. Hg. v. Ch. lW. Koesel und H. Pape. Fra~rt ~~OO. ~. 375). . 18 Vgl. Morris, Charles William: Grundlagen der Zeichentheone. Asthetik und Zeichentheorie. München 1972. S. 22f. 19 Alkier, Stefan: Die Bibel im Dialog der Schriften und das Problem der Verstockung in Mk 4. Intertextualität im Rahmen einer kategorialen Semiotik biblischer Texte. In: Ders.; Hays, Richard B.: Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte intertextueller Bibellektü-
re. Tübingen u.a. 2005 (= Neutestamentliche Entwürfe zur Theologie 10). S. 1-22. Hier S. 8. Vgl. zur Grundlegung einer Intertextualitätstheorie im Rahmen eines semiotischen Modells Orosz, Magdolna: Intertextualität in der Textanalyse. Wien 1997. Niermann Anabel: Da~ ästhe~.sche .Spiel von Te~t, Leser und Autor. Frankfurt 2005. V.a. S. 18-59 un'd Hagen, AnJa: Gedachtmsort Romantik. Intertextuelle Verfahren in der Prosa der 80er und 90 Jahre Bielefeld 2003. S. 44-65. . 20 Alkier, Stefan: Die Bibel im Dialog der Schriften und das Problem der Verstockung in Mk 4, S. 8. 21 Ebd. 22 Vgl. Orosz, Magdolna: Intertextualität in der Textanalyse, S. 25f. 23 Vgl. hierzu Schneider, Michael; Huizenga, Leroy A: Das Matthäusevangelium in intertextueller Perspektive. 24 Schneider, Michael; Huizenga, Leroy A: Das Matthäusevangelium in intertextueller Perspektive, S. 21f.: »An dieser Stelle wird nochmals deutlich, welche Bedeutung der Semiotik Charles Sanders Peirces im Rahmen dieses Entwurfes von Intertextualität zukommt: Die Unterscheidung zwischen unmittelbarem und dynamischem Objekt bzw. zwischen unmittelbarem, dynamischem und finalem Interpretanten impliziert die Möglichkeit bzw. sogar die Notwendigkeit verschiedener intertextueller Bezüge und daraus resultierender Textinterpretationen [... ]. Eine angemessene Darstellung eines Objektes in seiner Gesamtheit ist nur über den Weg vielfältiger Interpretationen denkbar und möglich.«
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Das Bachsche Oratorium als intertextue11e Lektüre der johanneischen Passion
Textfassungen und Gesamtkomposition Am 7. April 1724 wurde die Johannespassion Johann Sebastian Bachs in der Karfreitagsvesper der Leipziger Nikolaikirche als erste von Bachs Leipziger Passionsmusiken uraufgeführt,25 bevor bereits ein Jahr später - am 30. März 1725 in der Thomaskirche 26 _ in veränderter Form eine Wiederauffuhrung stattfand. Neben weiteren Änderungen fallen in dieser Version v.a. die Ersetzungen am Anfang und Schluss auf: Der Eingangschor »Herr, unser Herrscher« wurde durch die Choralbearbeitung »0 Mensch, bewein dein Sünde groß« ersetzt und der Schlusschoral »Ach Herr, lass' dein lieb Engelein« durch eine Bearbeitung des Agnus Dei in deutscher Sprache. Bei der dritten Aufführung (vermutlich am 11. April 1732) wurden diese Änderungen wieder zurückgenommen und außerdem die Einschübe aus dem Matthäusevangelium entfernt (Mt 26,75 - Nr. 12c / Mt 27,5lf. - Nr. 33) - eine Änderung, die wegen des Gesamtduktus noch weitere Umarbeitungen notwendig machte. Für seine letzte Wiederauffuhrung am 4. April 1749 fugte Bach die matthäischen Einschübe wieder hinzu. Die Texte aller Fassungen speisen sich im Wesentlichen aus drei Quellen, von denen zuerst der Text der Passion nach Johannes, also Joh 18-19, in der zeitgenössischen Fassung der Lutherübersetzung zu nennen ist; weiterhin finden sich zwei Einschübe aus dem Matthäusevangelium. 27 Im Einzelnen handelt es sich um den Einschub in Satz 12c, wo im Anschluss an das Krähen des Hahns (Joh 18,27) eine gekürzte Version von Mt2926,75 eingefugt wird. 28 Den zweiten Einschub findet man in Satz 33, der Joh 19,30 vertont: »Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben bis unten aus. Und die Erde erbebte und die Felsen zerrissen und die Gräber täten sich auf, und
Während bereits seit 1717 Passionsauffiihrungen in der Leipziger N eukirche stattfanden, wurden sie in den beiden Hauptkirchen Thomas und Nikolai erst 1721 durch Bachs Vorgänger Johann Kuhnau eingefiihrt. Der liturgische Ort der Bachschen Passionen war der Vespergottesdienst des Karfreitags, sie waren dort seit 1724 im jährlichen Wechsel der beiden Hauptkirchen zu hören. Vgl. Dürr, Alfred: Der Passionsbericht des Johannes in Bachs Deutung - aus der Sicht des Musikwissenschaftlers. In: Prinz, Ulrich (Hg.): Johann Sebastian Bach. Johannespassion BWV 245. Kassel u.a. 1993 (= Schriftenreihe der internationalen Bachakademie Stuttgart Band 5). S. 166-185. Hier S. 166 und Petzoldt, Martin: Bachs Passionen als Musik im Gottesdienst. In: Prinz, Ulrich (Hg.): Johann Sebastian Bach. Johannespassion BWV 245. Kassel u.a. 1993 (= Schriftenreihe der internationalen Bachakademie Stuttgart Band 5). S. 44-61. Hier S. 45 u. 52. 26 Ersetzt wurde die Arie »Ach, mein Sinn« (Nr. 13) durch die Arie »Zerschmettert mich, ihr Felsen und ihr Hügel«, das Arioso »Betrachte, meine See1« (Nr. 19) sowie die Arie »Erwäge, wie sein blutgefärbter Rücken« (Nr. 20) durch die Arie »Ach windet euch nicht so, geplagte Seelen«. Außerdem wurde im Anschluss an den Choral »Wer hat dich so geschlagen« (Nr. 11) die Arie »Himmel reiße, Welt erbebe« eingefiigt. 27 Diese Einfügungen folgen wohl liturgisch gebräuchlichen Formen des Karfreitagsgottesdienstes. Zum liturgischen Ort der Bachschen Passionen vgl. Petzoldt, Martin: Bachs Passionen als Musik im Gottesdienst. In: Prinz, Ulrich (Hg.): Johann Sebastian Bach. Kassel u.a. 1993. S. 44-61. 28 »Da dachte Petrus an die Worte Jesu und ging hinaus und weinte bitterlich.« 29 »Es ist vollbracht!, und neigte das Haupt und verschied.«
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stunden auf viele Leiber der Heiligen.« (Mt 27,51f.).30 Schließlich enthält das 0 t . · fi· . h· ra onum P assagen, dIe aus reler DIC tung und Kirchenliedstrophen bestehen. 31 Bei der Betrachtung der verschiedenen Versionen der Bachschen Johannespassion fällt auf d · . h ' ass d er E va~ge1Ientext weitge end unberührt bleibt und ihm jeweils unterschiedliche Texte ~ ~elte gestellt werden, d~e jeweils unterschiedliche intertextuelle Interpretationen mO~Ivieren. Der Frage nach dIesen Bedeutungsverschiebungen, die sich durch die ve schledenen Einschübe in den johanneischen Text bzw. die unterschiedlichen Textfa:sungen ergeben, soll nun anhand einiger Beispielen nachgegangen werden.
Die Überschrift ~)Herr, ~ser Herrs~her, de~sen Joh~els~hen Pa.~sIo~sbencht,
Ruhm in allen Landen herrlich ist.« - Nicht mit dem sondern mit einem Psalm 8,2.10 aufgreifenden Vers begInnt dIe ursprunghche Fassqng der Passio secundum Johannem Johann Sebastian B.achs. Schon mit diesen einleitenden Versen wird klar, dass der Text, der dieser PasSlO secundum Johannem zugrunde liegt, über einen bestimmten neutestamentlichen Erz~hlzusammenhang hinausweist, Leser und Hörer zum vergleichenden Weiterlesen zur mtertextuellen Lektüre einlädt. Sogar dann, wenn man noch einen Schritt zu .. k~ und ersten Verse, sondern die Überschrift Passio secundum Johann:;m, dIe Bach uber sem Werk ~etzt, ~etrachtet, lassen sich interessante Beobachtungen machen. ~as B~sondere. an dIeser Uberschrift erschließt sich analog zu den sekundär hin~~efugten Uberschriften der neutestamentlichen Evangelien; diese haben bekanntlich I~ Ihrer. urs~~glichen Fassung nicht die heutigen Überschriften, sondern charakteris~ere~ SIch m ~.hren ers.ten Versen jeweils selbst und geben den Lesern somit sehr deuthch eme Lektüreanweisung an die Hand: »BLßAo<; YEveaEüJ<;'Illaou XpLatou« - »Buch von der Geschichte/vom Ursprung Jesu Christ« (Matthäus), »:Apx~ tou EuaYYEALou'Illaou XpLatOu« - »Anfang der Frohen Botschaft von Jesus Christus« (Markus), »'ElT~LÖ~lTEP. lTOUOL ETIEXELPllaav« - »Viele haben bereits versucht«; das Lukaseva~gehum WIrd so zur wohlgeordneten erneuten Darstellung der Geschichten die bereIts andere erzählt haben. ' Bei J?hannes fehlt eine verglei~hbare Sel~stbeschreibung bzw. Lektüreanweisung; am BegInn steht der Prolog, der dIe InkarnatIOn des göttlichen A.6yo<; zum Thema hat. Der Leserschaft bleibt lediglich die in Handschriften vielfältig belegte Überschrift:
g~ht
~icht d~e
30 Beide Szenen finden sich ~ Johannesevangelium nicht, die Einfiigung wird i.d.R. mit der Aff~ktenlehre der ~arockzeIt erklärt: »Ursache fiir die beiden Einfiigungen ist offenbar die AbSIcht, Aff~kte. WIe >R~ue< und >Klage< der musikalischen Komposition [ ... ] nutzbar zu mache~, wofür SIch [ ... ].Innerhalb des Johannesberichts kaum Gelegenheit bot.« (Dürr AI~ed:. DIe Johannes-PasslOn von Johann Sebastian Bach. Entstehung, Überlieferung, Werkemfiihrung. Kassel 1988. S. 53). 31 ~era?e diese ~bschnitte waren Gegenstand verschiedener textkritischer Untersuchungen, dIe SIch v.a. ~It der Frage der Autorschaft beschäftigen - bis hin zur Position, dass Bach selbst als Schopfer des Textes anzusehen sei. Dabei wurde diese Diskussion zugunsten der ~rage, welche Texte Bach ~n welcher Stelle seines Werkes einbaut, wie er diese musika~Isch ~msetzt und welche SInneffekte er damit im Rahmen der gesamten Johannespassion mtendiert, oftmals überbetont. 103
KAT A 1QANNHN - »gemäß/nach Johannes«. Diese - für sich betrachtet unvollständige - Überschrift geht von den Sammlungs einheiten Tetraevangelium, Praxapostolos (Apostelgeschichte und Katholische Briefe) und Corpus Paulinum aus und ordnet über diese drei Makroeinheiten die Einzelschriften in den Gesamtzusammenhang des neutestamentlichen Kanons ein: 32 Bereits früh existierten Zusammenstellungen solcher Sammlungseinheiten der vier Evangelien,33 wobei die Einzelschriften lediglich mit dem Hinweis KUtoc (nach/gemäß) Matthäus/Markus/Lukas/Johannes versehen sind. Bereits die Rezeption der ersten Jahrhunderte geht damit von der Einheit des EUUYEALOV 'l"oou XPLOtOU, dem Evangelium Jesu Christi, aus - einer Einheit, die jedoch nur in verschiedenen sprachlichen Ausprägungen, Perspektiven bzw. Einzelschriften auszudrücken ist. Die gemeinsame Überschrift rur alle vier Schriften lautet daher EUUYYEALOV, während KATA IQANNHN lediglich für eine bestimmte Perspektive steht. Anders formuliert: Neben der frühen Gattungsbezeichnung für einzelne Schriften wird EUUYYEALOV auch als Titel über dem Tetraevangelium verwendet. Analog zum einen viergestaltigen Evangelium Jesu Christi impliziert die Bezeichnung Passio secundum Johannem auch die Vorstellung einer Passion Jesu Christi in verschiedenen perspektivischen Darstellungen. So begegnet auch in der Überschrift zum Bachsehen Oratorium die Vorstellung der einen, jedoch vielfältig darstellbaren Passion Jesu, in diesem Fall in der Version nach Johannes. Die verschiedenen zeitgenössischen Evangelienharmonien zeugen vom Versuch, dieser Vielfalt - gerade auch für den liturgischen Gebrauch - mit Zusammenfassungen verschiedener Evangelienberichte zu begegnen. Bachs Oratorium greift gerade nicht auf die rur den Karfreitalsgottesdienst gebräuchliche »Historia vom Leiden Christi« Johannes Bugenhagens3 zurück, sondern bedient sich des Textes· eines Evangelisten. Wiederum zeigt sich ein Vorgehen Bachs, das dieser gängigen liturgischen Praxis entgegensteht: Die eingeschränkte Perspektive der johanneischen Passionserzählung wird durch weitere biblische und nicht-biblische Texte intertextuell ergänzt, erweitert und kommentiert.
Die rahmenden Stücke des Oratoriums Herr, unser Herrscher, dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist! Zeige uns durch deine Passion, dass du, der wahre Gottessohn, zu aller Zeit, auch in der größten Niedrigkeit, verherrlicht worden bist. (Chorus - Nr.l). Bach orientiert sich zwar einerseits sehr eng am johanneischen Passionsbericht (ab Joh 18-19), verzichtet damit aber andererseits auf den Bezug zum Gesamtrahmen des Jo32 Vgl. hierzu v.a. Niebuhr, Karl-Wilhelm: Exegese im kanonischen Zusammenhang. Überlegungen zur theologischen Relevanz der Gestalt des neutestamentlichen Kanons. In: Auwers, Jean-Marie; de Jonge, Henk Jan: The Biblical Canons. Leuven 2003. S. 557-584; außerdem Trobisch, David: Die Endredaktion des Neuen Testaments. Eine Untersuchung zur Entstehung der christlichen Bibel. Göttingen 1996 sowie Hengel, Martin: Die Evangelienüberschriften. Heidelberg 1984 (= Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, 1984/3). S. 8-13 und Petersen, Sil~e: Die Evangelien-überschriften und die Entstehung des neutestamentlichen Kanons. In: ZeItschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft 97 (2006). S. 250-274. 33 Vgl. Niebuhr, Karl-Wilhelm: Exegese im kanonischen Zusammenhang. 34 Vgl. Petzold: Bachs Passionen, insbesondere der Ausschnitt aus dem Text Bugenhagens (61). 104
hannesevangeliums .. Von allen Einschüben, die in diesen Text eingerugt werden, kommt daher den. Stücken am Anfang und Ende des gesamten Oratoriums die besond~re Rolle zu, der Passionserzählung einen Rahmen zu geben. 35 Die ersten Worte des Emgangschores »Herr, unser Herrscher, dessen Ruhm in allen Landen herrlich ist«36 lassen alle folgenden Texte in einem anderen Licht erscheinen. Das Libretto weist dabei zwei wesentliche Schwerpunkte auf: Mit einer Anspielung auf Psalm 8 wird der Protagonist des Oratoriums eingefiihrt; in nur zwei Sätzen gelingt es so, Grundgedanken des Gesamtwerkes vorwegzunehmen: Jesus Christus selbst wird mit dem alttestamentlichen Gottesprädikat »Herr, unser Herrscher«37 bezeichnet, er ist der »wahre Gottessohn«, der »in der größten Niedrigkeit verherrlicht« wurde, dessen »Ruhm in allen Landen herrlich ist«. Der Text betont die universelle Machtfiille (»Herrscher in allen Landen und zu allen Zeiten«) und erwähnt bereits zu Beginn das Paradox der Verherrlichung in Niedrigkeit. Zusätzlich beschränkt sich die Einleitung des Oratoriu~s nicht auf ei~e. reine Beschreibung in der 3. Person, sondern beginnt gleich mit e~nem Beke~tllls m der 1. Person Plural (»unser Herrscher«) und bietet außerdem eme pragmatIsche Komponente: Das Publikum soll durch Hören und Lesen die Göttlichkeit und Herrlichkeit des Gekreuzigten erkennen. Mehr noch - um diese Erkenntnis wird der mit »Herr« Bezeichnete selbst gebeten. Damit wird klar, dass hier nicht nur über ein Geschehen berichtet wird, sondern dem Protagonisten des Geschehens eine.überzei~liche .Bedeutun~ - auch rur die konkrete Situation der Aufruhrung - zugesc~eben WIrd. Eme auffällIge Parallele besteht dabei zum Prolog des Johannesevangehums, dessen Text im Oratorium nicht verwendet wird. Jesus Christus wird zunäc~st nicht namentlich erwähnt - es wird vorausgesetzt, dass die Hauptperson bekannt 1st bzw. erst später explizit genannt wird. Zwei Elemente seien bezüglich der musi~alischen Umsetzung noch erwähne s Der formale Aufbau in der da capo-Form des Emgangssatzes (A - B - A) zeichnet bildlich-musikalisch den Gesamtaufriss des Johannesevangeliums nach. Das Wort, das am Anfang bei Gott war, wird Fleisch wird gekreuzigt und. verherrlicht und ist wieder bei Gott. Zudem wird die Verbindun~ zwischen Verherrhchung und Todeskampf auch musikalisch ausgedrückt. Die Koloratur auf das Wort »Herrscher«, die ab Takt 21 im Alt und Sopran einsetzt und von unterschiedlichen Stimmen fortgeruhrt wird oder in den Figuren des »herrlich« erscheint findet ihre Korrespondenz in der Arie »Es ist vollbracht« (Nr. 30). Dort erscheint si~ i~ Takt 30f in Verb~ndun? m~~ dem Wort »K~mpf«. Todeskampf und Herrlichkeit gehoren zusammen. VIele Emdrücke aus dem Emgangschor finden sich in den zwei Stücken am Schluss des Oratoriums wieder, die weniger kommentieren als vielmehr Konsequenzen für die Hörer reflektieren: »Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine, die ich nun weiter nicht beweine ruht wohl und bringt auch mich zur Ruh! Das Grab, so euch bestimmet ist und f;rner keine Not umschließt, macht den Himmel auf und schließt die Hölle zu.« (Chorus - Nr. 39) 35 Auf.Besonderheiten des Eingangschores wurde auch von theologischer Seite bereits hingeWIesen: vgl. z.B. Petzold, Bachs Passionen und die dort genannte weiterführende Literatur. 36 Dieser Chor unterscheidet sichv.a. deutlich vom Eingangschor anderer Versionen der Jo37 hannespassion wie etwa »0 Mensch, bewein dein Sünde groß«. Vgl. Psalm 8,1. 38 Übergangen werden dabei u.a. die fiir Bach wesentliche Bedeutung verschiedener Tonarten (hier: g-moll) oder die in den Holzbläsern immer wieder verwendeten Kreuzfiguren. 105
»Ach Herr lass dein lieb Engelein am letzten End die Seele mein in Abrahams Schoß tra~en, den Leib in seim Schlafkämmerlein gar sanft ohn .einge Qual ~d Pein ruhn bis am jüngsten Tage! Alsdann vom T?d e~ecke mich,. dass merne Augen sehen dich in aller Freud, 0 Gottes Sohn, ~ern H~dand u?d .mern Genadenthron! Herr Jesu Christ, erhöre mich, ich will dICh preIsen eWlghch!« (Choral Nr.40).
Der Text des Schlusschors nimmt zunächst Stellung zum Passi~nsges.chehen ~»Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine«), bringt diesen W~nsch aber .zugle.lch mIt d~m elge~en Schicksal der Hörenden in Verbindung (»die Ich nun weIter ~lcht beweme / b~m~t auch mich zur Ruh«). Schließlich kommt bereits der Passion - nIcht dem Oster~relgntS _ die Bedeutung zu, den »Himmel aufzuschließen« und die »Höl~~ zu ~erschh~ßen«. Wie der Eingangschor vorausblickend, so betont der Schlusscho~ ruck~hckend dte B~ deutung des Passionsgeschehens für die individuelle und kollektI~e. EXl~tenz der Zuhorerschaft. Mehr noch als im Chor »Herr, unser Herrscher« dOmInIert m der DaC~p~ bzw. Rondo-Form des Schlusschors im %-Takt (A - B - A - B'- A) die Zahl 3, dle.m der Bachschen Musiksprache auf die Trinität verweist. Dies wird n~ch verstärkt,. mdem sich genau neunmal das Motiv der Einleitungstakte in c-Moll wleder~~lt. Welter~ hin ist die textliche und musikalische Darstellung der »Grabesruhe« erwahnenswert. Das Grab Jesu stellt keinen Endpunkt dar, sondern »macht mir den Himmel auf und schließt die Hölle zu«. Die ewige Ruhe bei Gott wird zudem musikalisch durch das häufig und in verschiedenen Stimmen über fünf Viertelnoten erklingen.de Wort »WOhl«39 dargestellt. Der unmittelbar anschließende Schlusschoral Nr. 40 bIttet konsequenterweise darum, in dieses ewige (Geborgen-)Sein in Gott aufge~o~en zu ~er den - eine Bitte, der sogleich die Zielbestimmung folgt: ~)Ich WIll dIC~ preIsen ewiglich.« Mit dem Preisen des Herren in allen Lande~ zu BegInn des Oratonums korrespondiert das ewigliche Preisen am Ende der PasslO secun~um Johannem. Deswegen sollte auch nicht von einer möglichen Vertauschung ZWIschen Schlusscho~ ~d Schlusschoral aus rein musikalisch-formalen Gründen ausgegangen wer~en, WIe .ste manche Ausleger annehmen;40 der Text weist in der vorliegenden Form VIelmehr eme logische Abfolge auf. Das Anerkennen des herrlichen Herrschers und d~s dara~s resu~ tierende Preisen zeitlich und ewiglich rahmt die gesamte Johannesp~sslon. Em ~etat1 zum Schlusschoral sollte noch erwähnt werden: Die auf den KompOnIsten verweIsende Tonfolge B-A-C-H fmdet man hier versteckt in der Bass~ng d~r Takt~ 24-:'25, ~nd zwar in umgekehrter Reihenfolge: H-C-A-B zum Text »erhö~e mtch«. DIes ~asst SIch als Bekenntnis und Gebet des Komponisten am Ende der PaSSIon verstehen, sl~h durc~ diese »umkehren« zu lassen. Den Henn als unseren Herrscher anerkenne~, Ihm mtt Freuden nachfolgen, ihn zeitlich und ewiglich preisen, sic.h i~ weites~en SInne »umkehren lassen«, wäre dann das Anliegen, um dessen Verwrrkhchung dIe Johannespassion insgesamt und besonders an ihrem Ende bittet.
Bekenntnis und Nachfolge in der Passio secundum Johannem Bereits die bisherigen Ausführungen zu den rahmenden Stücken lasse~ erke~en, da.ss im Oratorium Bachs der Bibeltext auf eine besondere Art kommentIert WIrd. Es 1St So bspw. in Takt 20 (Sopran), Takt 21 (Alt) oder Takt 40 (al~e Stimmen außer Bass~: . 40 Vgl. Dürr, Alfred: Die Johannes-Passion von Johann Sebastlan Bach. Entstehung, Uberheferung, Werkeinführung. Kassel 1988.
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gerade nicht so, dass zeitgenössische, durchaus gebräuchliche Evangelienharmonien vertont werden oder eine Auswahl aus den vier Evangelien getroffen wird. Das Libretto ist im wörtlichen Sinne als »intertextuell« zu bezeichnen - eine Gesamtinterpretation des Textes ist gerade zwischen den verschiedenen Textbestandteilen (johanneische Passionserzählung, Arien, Chöre und Choräle) zu suchen. Durch das Nebeneinander der verschiedenen Textkorpora in der Passio secundum Johannem entstehen mehrere Bedeutungsebenen, die sich gegenseitig interpretieren bzw. ergänzen und im Einzelfall oftmals nicht mehr genau voneinander zu trennen sind. Ein Beispiel dafür bietet die Arie »Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten«, die an ungewöhnlicher Stelle, nach nur wenigen Versen des Evangelientextes und kurz nach einer weiteren Arie 41 steht: »Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten und lasse dich nicht, mein Leben, mein Licht. Befördre den Lauf und höre nicht auf, selbst an mir zu ziehen, zu schieben, zu bitten.« (Arie Nr. 9). Der Text greift das Motiv der Nachfolge Simon Petri - der Jesus verleugnen wird aus Joh 18,15 auf. Wenn Ausleger der Bachschen Johannespassion hier von einem »relativ belanglosen Ereignis«,42 dem eine Aufwertung widerfahrt, sprechen bzw. im freudigen Affekt der Arie ein beträchtliches Maß an Distanz vom Passionsbericht 43 sehen, zeugt das von einem Missverständnis sowohl der johanneischen Textvorlage als auch der Textkomposition im Ganzen. Der Text fügt sich einerseits sinnvoll als - freilich später gebrochenes - Bekenntnis des Petrus in die Passionserzählung ein und lässt sich gleichzeitig als Kommentar der Rezipienten der Passio secundum Johannem verstehen: Sie können in der Gesamtkomposition Jesus Christus als »Herr, unser Herrscher« (Eingangschor) erkennen und daraus das Bekenntnis zur individuellen Nachfolge ableiten - »Ich folge dir gleichfalls mit freudigen Schritten«. Der freudige Affekt des Stückes ist im Duktus des gesamten Werks gerade nicht als Widerspruch zu sehen, sondern folgt der Grundstimmung, die bereits im Eingangschor angelegt ist. Die neue Textzusammenstellung bzw. das Einfügen dieser Arie dient - in der Terminologie M. Orosz' - sowohl der Bestätigung als auch der Abweichung vom Johannestext. Bestätigt werden die besonderen Eigenschaften Jesu Christi (»Leben« und »Licht«), die Grund zur freudigen Nachfolge bieten. Gerade die Zusage zur Nachfolge steht aber dem Verhalten der Personen in Joh 18 und 19 diametral entgegen. Auf der pragmatischen Ebene fordern Texte wie diese Arie gerade dazu auf, sich nicht so zu verhalten, wie der Bibeltext von den engsten Vertrauten Jesu berichtet. 44 Eine ähnliche Perspektive macht der Choral »Ach, großer König« stark: 41 »Von den Stricken meiner Sünden« (Nr. 7). 42 Dürr, Alfred: Die Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach. Entstehung, Überlieferung, Werkeinführung. Kassel 1988. S. 68. ' 43 Vgl. ebd. 44 Analog stellt sich die Frage nach der Rolle »der Juden« in Bibel und Oratorium. Nicht nur im exegetischen, sondern auch im musikwissenschaftlichen Bereich gibt es zu dieser wichtigen Frage umfangreiche Publikationslisten. Dass sich Parallelen zwischen der Rolle der Juden in der Johannespassion und dem Chor der antiken Tragödie aufzeigen lassen, stellt Winfried Verburg in seiner Monographie Passion als Tragödie? ausführlich dar (Winfried Verburg: Passion als Tragödie? Die literarische Gattung der antiken Tragödie als Gestaltungsprinzip der Johannespassion. Stuttgart 1999). Vgl. zum Thema u.a. Frankemölle, Hu107
»Ach großer König, groß zu allen Zeiten, wie kann ich gnugsam diese Treu ausbreiten? Keins Menschen Herze mag indes ausdenken, was dir zu schenken. Ich kanns mit meinen Sinnen nicht erreichen, womit doch dein Erbarmen zu vergleichen. Wie kann ich denn deine Liebestaten im Werk erstatten?« (Arie Nr. 17). Auch diese Arie - eingefügt inmitten der Gerichtsszene zwischen Pontius Pilatus und Jesus - ersetzt nicht einfach einen Teil des Evangelientextes, sondern interpretiert ihn und stellt einige Aspekte besonders pointiert dar. Deutlich wird hier noch einmal 'das Gegenüber von diesseitigen Reichen und Jesu Reich hervorgehoben, das »nicht von dieser Welt« (Joh 18,36) ist, ein Reich, das jenseits der menschlichen Erkenntnisfähigkeit liegt. Eine interessante intertextuelle Parallele ergibt sich an dieser Stelle innerhalb des Bachschen <Euvres: Die Arie »Großer Herr, 0 starker König« aus seinem Weihnachts oratorium weist nicht nur zu Beginn textlich interessante Parallelen auf. Auch die Nichtigkeit der weltlichen Herrlichkeit gegenüber dem »Reich nicht von dieser Welt« wird deutlich; diese Arie fährt fort mit dem Text »Liebster Heiland, 0 wie wenig, achtest du der Erden Pracht«. In den großen Oratorien Bachs zeigt sich das Gegenüber der Reiche, das in Joh 18 im Mittelpunkt der Szene zwischen Jesus und Pilatus steht, zu Beginn des irdischen Lebens Jesu (Weihnachten) genauso wie an seinem Ende (Passion). Die Bachsche Johannespassion wird so zum Paradebeispiel intertextueller Bibellektüre: Gerade durch das Nebeneinander ganz unterschiedlicher Texte ergeben sich neue Perspektiven für die Lektüre, die keiner der Texte alleine bietet.
i~ter:. und e~tratextueller Bezüge eines biblischen Textes ergeben sich Perspektiven dI~ . uber dIe bloße Inte~ation intertextueller Fragestellungen in ein historisch~ knttsches MethodenrepertOIre deutlich hinausweisen. Intertextualität ist m E' R h .. 1m a·h men neut est amentIIC er Exegese nur sinnvoll als qualifizierter Sammelb 'ff . h f' egrl zu verd d . 't wen en, er SIC au eme begründete Texttheorie stützt und somit in der L · dl' h B" . " age 18, ganz untersch Ie IC e ezuge emes (bIblIschen) Texts zu untersuchen und glei hz 't' d V h"lt . . h . c el Ig as .er a ms ZWISC ~~ v~rschledene~ Frageperspektiven neu zu bestimmen. Das Paradl~~a Intertextuah~t bIetet dann dIe Möglichkeit, unterschiedlichste Forschungen zur Blbhschen TheologIe, zur Religionsgeschichte des frühen Chrl'stentums . . SOWIe zur T d" ra Itt?nS-, Wlrkungs- u~d .Rezepti~nsgeschichte unter einem neuen und weiten textthe~rettsch~n Konzept mltet~ander ms Gespräch zu bringen. Damit wäre - bei aller Welter~ntw~~klung - auch ~m ~esentlicher Grundzug der Kristevaschen Begriffsbildung emgelost, der durch dIe VIelfalt möglicher und im Laufe der Jahrhundert I' . rt B'b I' . e rea 1sIe er I e mterpretattonen bestätigt wird: Kein Text lässt sich ohne Bezug f d · d ' au an ere Texte anaIYSleren un keme Interpretation kann für sich alleinige Gültigkeit b chen. eanspru-
Intertextualität und Exegese - Impulse für Theorie und Praxis
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Die wenigen Skizzen zur Bachschen Johannespassion zeigen anhand eines Untersuchungsgegenstandes, der gewöhnlich nicht im Zentrum neutestamentlicher Forschung steht, in welchen Kontexten intertextuelle Lektüren im Rahmen der Exegese fruchtbar sein können und welche Fragenkomplexe mit dem Terminus Intertextualität angesprochen werden. Es geht um Sinneffekte, die durch das Nebeneinander verschiedener Texte entstehen, in den Einzeltexten alleine aber nicht angelegt sind. Ein kurzer Blick auf die Ursprünge des Begriffs Intertextualität genügt, um festzustellen, dass dieser dazu nötigt, grundlegende hermeneutische und methodologische Fragen zu klären ,Intertextualität ist »keine Methode, sondern eine Theorie bzw. eine Gruppe von Theorien«.45 Die Verkürzung von Intertextualität zur Methode zur Erforschung innerbiblischer Bezüge bringt weder einen Erkenntnisgewinn für die Exegese, noch wird sie dem Paradigma Intertextualität gerecht. Durch die Unterscheidung zwischen intra-, bert: Antijudaismus im Matthäusevangelium (und in der Matthäuspassion von J.S. Bach). In: Passion gedeutet. Vorträge des Europäischen Musikfestes Stuttgart 2000. Kassel u.a. 2000 (= Schriftenreihe der Internationalen Bachakademie Stuttgart 12). S. 58-81; Hoffmann-Axthelm, Dagmar: Bach und die Perfidia Judaica. In: Basler Jahrbuch für Historische Musikpraxis 13 (1989). S. 31-54; Schmidt, Johann: »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder«. Antijüdische Motive in der Matthäuspassion von lS. Bach? In: Kirche und IsraelI (1988). S. 153-162. 45 Moyise, Steve: Intertextualität und Historische Zugänge zum Schriftgebrauch im Neuen Testament. In: Alkier, Stefan; Hays, Richard B. (Hg.): Die Bibel im Dialog der Schriften. Tübingen u.a. 2005. S. 23-34. Hier S. 23.
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Andreas Linsenmann (Musikwissenschaft)
»In die Musik versetzet« Textexplikation in der Johannes-Passion von Heinrich Schütz als intertextuelle Transferleistung »Tout texte est absorption et transfonnation d'un autre texte«/ fomulierte Julia Kristeva als zentrales Postulat der Intertextualitäts-Theorie. Die Einsicht in die unhintergehbare Wechselbezüglichkeit eines jeden Textes hat seither in vielen Disziplinen anregend gewirkt. Zu den Fächern, die das Konzept Intertextualität bislang nur in Ansätzen für sich nutzbar zu machen verstanden, gehört die Musikwissenschaft - jedenfalls die deutschsprachige Musikwissenschaft, und dies im Gegensatz zu disziplinär vernetzter arbeitenden Musikologen etwa im angelsächsischen Raum. Dabei sind musikalische Werke nicht minder relationale Zeichengebilde als klassisch literarische Texte. Auch lassen sich in der Musik seit Jahrhunderten gebräuchliche Techniken des Rekurrierens und Variierens, etwa Tropierung und Parodie, als explizit intertextuelle Phänomene begreifen. Und nicht zuletzt hat das musikhistorisch zentrale Thema der Inbezugsetzung von Wort und Ton eine eminent intertextuelle Dimension. Hier soll nun der Versuch unternommen werden, intertextuelle Ansätze für die Analyse einer Komposition fruchtbar zu machen, bei der die Relation von Text und Musik den Wesenskern des Werks ausmacht, ja bei der auf dem Titelblatt der Anspruch erhoben wird, hier sei ein Bericht »in die Musik versetzet«2 worden, und dies im erweiterten Sinne einer Übertragungsleistung, eines »Übersetzens<<:3 die Historia des Leidens und Sterbens unsers Herrn und Heylandes Jesu Christi nach dem Evangelisten St. Johannem - die so genannte Johannes-Passion (SWV 481) von Heinrich Schütz aus dem Jahr 1665. Schütz wird seit langem für die besondere Sprach- und Textbezogenheit seiner Kompositionen gerühmt. So ist er etwa für Hans Joachim Moser »von allen Meistem der protestantischen Kirchenmusik der wortnahste, wortgewaltigste Prediger in Tönen.«4 Nicht weniger bewundernd hat Hans Heinrich Eggebrecht ihn als Musicus poe5 ticus, als dichterischen Musiker, bezeichnet. Eggebrecht wandelt dabei die 6 Bezeichnung einer Kompositionslehre, der Musica poetica, ab, die sich wiederum an 1
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Kristeva, Julia: Semiotike. Recherches pour une semanalyse. Paris 1969. S. 144. Vgl. Frontispiz der Partiturhandschrift H, 2, 15 der Musikbibliothek der Stadt Leipzig. Schütz führt diese Intention auch in der Vorrede zur zeitlich und stilistisch der JohannesPassion unmittelbar vorausgehenden Weihnachts-Historie (SWV 435/435a) von 1664 aus. Moser, Hans Joachim: Heinrich Schütz. Sein Leben und Werk. 2. Aufl. Kassel 1954.
s.xm.
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Vgl. Eggebrecht, Hans Heinrich: Musicus poeticus. 2. Aufl. Wilhelmshaven 1984. Geprägt wurde dieser Terminus vor allem durch den Musiktheoretiker Joachim Burmeister, der 1606 in Rostock eine Schrift namens Musica poetica herausgab und damit wiederum auf die Poetik des Aristoteles rückverwies. Erstmals findet sich der Begriff wohl in der Musica des Nicolaus Listenius von 1537.
die k~assische Poetik ~d ~etorik anlehnte. Musik, seit jeher der Sprache eng vers~hwlstert, sollte,.ganz Im Smne von Humanismus und Renaissance, später auch inspinert. v~m ~al?gle-Denken des Barock, anschaulich und eindrucksvoll sein, sie sollte - mtt~m wIe em Redner - belem:en (docere), bewegen (movere) und ergötzen (delec~~r~. hAls .)E~find~gsquelle< ~Ierfür wurde den Komponisten ein Fundus musikal~C -r etonsc er Flgur~n an .dle Hand gegeben - Tonfügungen, die als Schmuck ~Ienen, aber auch den Smn-, Btld- und Affektgehalt eines zu vertonenden Textes deuthch machen sollten. 8 . ~~n hat diese ~~ rednerische Klarheit, Sinnerhellung und damit zugleich um PlaSttZlt?t und Intenslvleru~g des A?sdruc~s ~ngende, wortnahe Kompositionsweise, in der SIC~ gerad: d~r U,US1CUS poetlcus Hemnch Schütz auszeichnete, als Explicatio textu bezelc~et. WIe dIeses Ausdeuten und Vergegenwärtigen, dieses Explizieren eines Textes bel .Schütz konkret geschieht, soll hier anhand der Johannes-Passion untersucht werden. ~Ieses Werk sche~nt für eine Analyse aufgrund seiner Gattung, des Typus der responso~talen ChoralpassIOn, besonders geeignet. In dieser Fonn sollte, ganz der refonnatonschen Maßgabe des sola scriptura verpflichtet, der biblische Bericht unverstellt zur Gel~g kommen. Er erklingt daher choraliter, völlig ohne Instrum~ntalbegle.ltu~g. Den realen Relationen entsprechend werden die Narratio des Evangehsten s~wle dIe Wo~e e~nze~er Personen durch Solisten, die Äußerungen der Vo~ksmenge,. dl~ Tu~bae, vlerst~~~g ~on einem Chor eingebracht. Vorrangig bleibt gleIchwohl. dl~ lIturgIsche FunktIOn, dIe auch im psalmodierenden, auf der Rezitation d~s gregonall1sc~en Choralgesangs fußenden Grundduktus zum Ausdruck kommt: ll DIe altpr?testanttsc~e Choralpa~~ion ist ihrem Wesen nach primär gottesdienstlich gebunden, Ist ~vangel~en-Lesung. Resultat der Reduktion ist jedoch, dass dieser Typus den Tex.t, wIe Martm Gregor-Dellin es fonnuliert, in »geradezu bestürzender Unmittelbark~lt«13 an den Hörer heranträgt. Schütz hat diese Möglichkeit altersweise aber auch mIt Verve ausgeschöpft. Seine Passionen wurden Abschluss und Höhepunk't d er Gattung. 14 Wie g:schi.eht di~s nun in der Johannes-Passion? Welche wortausdeutenden Mittel se.tzt Schutz em? WIe gestaltet er die Rezitation, wie die Chöre? Wie charakterisiert er wIe vergegenwärtigt er Situationen? Wie verleiht er dem Bericht Anschaulichkeit und
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Vgl. Eg~ebrecht, Hans Heinrich: Musik im Abendland. Prozesse und Stationen vom Mittelalter bIS zur Gegenwart. 3. Aufl. München 2000. S. 367. V~l. Krones, Hartmut: Musik und Rhetorik. In: Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachted. Band 6. Kassel 1997. Sp. 819ff. Vgl. Eggebr~cht: Musicus poeticus, S. 20. Vgl. Gudewlll, Kurt: Schütz, Heinrich. In: Musik in Geschichte und Gegenwart Band 12 Kassel 1965. Sp. 220. . . Vg!. Gerber, Rudolf: Die Passionen von Heinrich Schütz. In: Blankenburg Walter (H ). HeInrich Schütz in se~er Zeit. Darmstadt 1985. S. 72. , g.. Vgl. Brodde, Dtto: HeInrich Schütz. Weg und Werk. Kassel 1972. S. 250. Gregor-Dellin, Martin: Heinrich Schütz. Sein Leben. Sein Werk. Seine Zeit. 2. Aufl München 1984. S. 354. . Vgl. Brodde: Heinrich Schütz, S. 268. 111
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Ausdruckskraft?15 Wie vollzieht sich also Schützsche Textexplikation, diese spezifisch intertextuelle Bezugnahme des musikalischen auf den biblischen Text?
Figur als definierte Zeichenstruktur Der zentrale Begriff rur den Interpretationsansatz ist der der F.igur. ?ie Figur bild~t gewissermaßen das zentrale intertextuell vermittelnde ScharnIer zwIschen den Z~l chensystemen des literarischen und des musikalischen Textes. Deshalb soll der Begnff hier zunächst operationalisiert werden. Für Eggebrecht ist die Figur neben dem Nachvollzug sinnvollen Sprechens das zweite »Prinzip des Textausdrucks in Schütz.ens .Musik«.16 Eggebrecht bezieht sich damit zunächst auf die Lehn~ von ~en mus~kahsch rhetorischen Figuren. Die Figur wurde hierbei als Gestalt begnffen, dIe abweIcht vom Gewöhnlichen und Einfachen. In der Rhetorik gehörte ihr Anbringen zur Elocutio, dem sprachlichen Einkleiden der Gedanken - dem die Inventio, das Finden, und die Dis:positio das Gliedern und Ordnen der Einfiille, vorausgegangen waren und dem , 17 D' Funk sich die Pronunciatio, der wirkungsvolle Vortrag der Rede, anschloss. leses tionsprinzip wurde in der Figurenlehre auf die Musik übertragen. F.iguren galten als Freiheiten (Licentiae) gegenüber dem Regulären. Als solche traten SIe textausd~utend und textintensivierend dem Regelsystem des Stylus antiquus, dem kontrapunktIschen Satz in der Tradition Palestrinas, zur Seite. Sie waren im Schaffensprozess eine Quelle der Erfindung (Fons inventionis), wirkten als Ornament, das einem Werk Vielfaltigk~it und Abwechslung (Variatio) verlieh und dem Hörer den Sinn der Aussage nahe bnngen und verdeutlichen sollte (Sensum exprimere, Textum explicare).18 Dabei ist die Figur in der Musik natürlich ein primär musikalisches Phänomen. Beschaffenheit und Wirkung sind zunächst rein musikalischer Natur. Sie schmückt und bereichert die Musik, sie ergötzt den Hörer und veranlasst ihn zur Aufmerksamkeit. Aber das Wortfigura meint auch >Abbild<. In der christlich-mittelalterlichen Ars ,!,u~i ca galt die klingende Musik als Abbild göttlicher Ordnungs- und Schöpferkraft, m ihr 19 glaubte man Gott als Factor mundi zu schauen. Der Musicus poeticus nun erf~det und verwendet Figuren insbesondere pro ratione textu, also u~ de~ Te~tgehalt smnund affektgemäß abzubilden20 - sei es durch partielle äußere Ahnhchkelt des Darg~ stellten mit der musikalischen Gestalt, sei es durch Analogien zwischen äußeren ~d inneren geistigen Gegebenheiten, wenn etwa >Hohes< in Form hoher Töne mit ethIsch 21 >Hohe~<, >Gutem< gleichgesetzt wird, oder durch allgemeine affektive Affizierung.
15 Vgl. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 367. 16 Eggebrecht: Musicus poeticus, S. 126. . . . . 17 Vgl. Unger, Hans Heinrich: Die Beziehungen ZWIschen MUSIk und Rhetorik 1m 16.-18. Jahrhundert. Würzburg 1941. S. 3ff. 18 Vgl. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 372. 19 Vgl. ebd. S. 400. 20 Vgl. ebd. S. 372. 21 Vgl. Krones: Musik und Rhetorik, Sp. 827. 112
Die Schriften zur Musica poetica fassen einen Teil der Tonfügungen, die als Figuren intendiert und deutbar sind - insgesamt etwa einhundert - lehrbuchartig zusammen. Hilfsweise können sie gruppiert werden in: 1. bildhafte (Hypotyposis-Klasse), 2. Nachdruck gebende (Emphasis-Klasse), 3. allegorische, Symbolik vermittelnde intervallisch-melodische, 4. ähnliche Aufgaben besitzende, harmonisch-akkordische sowie 5. Pausen beziehungsweise Stille als Symbol einsetzende Figuren. 22 Es gibt aber auch textintendierte Formungen und Analogiebildungen, die den Rahmen streng figürlicher Erklärbarkeit überschreiten. So formuliert Eggebrecht streitbar: »Würde man die Figuren nur soweit erkennen und gelten lassen, wie die Figurenlehre reicht, würde man die schöpferische Leistung des Komponisten auf die Ebene des Lehrbuchs herab setzen.«23 Vielmehr könne rur den Musicus poeticus »alles Figur werden, sofern es Gestalt ist«,24 also einer tiefgreifenden textlichen Bedeutungsvermittlung dient. Doch wie sind diese Strukturen anzusprechen? Sie sollen hier in einem übergreifenden Sinne als musikalische Zeichenstrukturen definiert werden. Dabei wird davon ausgegangen, dass diese pro ratione textu gedachten Tonrugungen elementaren Gestaltungsprinzipien unterliegen. Diese sollen angesprochen werden als: 25 a) dem affektiven Prinzip folgend: Dieser Terminus kennzeichnet Tonrugungen, die durch besonders eingehende, die Emotion ansprechende Strukturierungen vor allem der Gestaltung menschlicher Gefühlsregungen und Gemütszustände sowie emotionaler Gesten dienen - dies jedoch nicht beschränkt auf solche Affekte, wie sie in der Affektenlehre des Barock namentlich benannt und gelehrt wurden. b) dem ikonischen Prinzip folgend: Dieser Begriff bezeichnet melodische Einheiten die einen hohen Ähnlichkeitsgrad zwischen Zeichen und Bezeichnetem aufweisen ~ eine primär allegorisch-illustrative und vordergründig nachahmende Zeichensetzung, die häufig unter dem Terminus >Tonmalerei< subsumiert wird. c) dem symbolischen Prinzip folgend: Dieser Terminus bezeichnet Tonrugungen, die weniger einen primär visuellen Ähnlichkeitsgrad aufweisen. Als >symbolisch< werden >stellvertretende< Veranschaulichungen mit überwiegend musikalischen Mitteln aufgefasst. Diese erschließen sich indes nur in Kenntnis der Regelsysteme. Schließlich sei auf die Prämisse Eggebrechts verwiesen, wonach die Schützsche Musik sich durch zwei Prinzipien kennzeichnet: Figur und Betonung. 26 Eggebrecht geht noch weiter, indem er nicht nur die ganze Musik Schützens »voller figürlicher Darstellung«27 sieht, sondern postuliert, bei Schütz schließe die Betonung die Bedeutung auf. 28 Betonungsrelationen müssen also als Element gezielter Textexplikation aufgefasst werden - und sollen daher ebenfalls in die Analyse einbezogen werden. 29 22 23 24 25 26 27 28 29
Vgl. ebd. Sp. 828. Eggebrecht: Musicus poeticus, S. 97. Ebd. Vgl. Markowsky, Jens: Struktur, Funktion und Bedeutung musikalischer Zeichen in der Matthäus-Passion, SWV 479, von Heinrich Schütz. Bad Köstritz 1995. S. 30f. Vgl. Eggebrecht: Musicus poeticus, S. 126. Ebd. S. 98. Vgl. ebd. S. 120. Der Analyse liegen insbesondere die Musica poetica Joachim Bunneisters (1606) sowie der Tractatus compositionis augmentatis und AusjUhrlicher Bericht vom Gebrauche der 113
2
Analyse der musikalischen Faktur
Im Johannes-Evangelium schließt der Passionsbericht, im Gegensatz zu den Synoptikern, Abendmahl und Ölberg-Szene nicht mit ein. Hier beginnt das erste Passionskapitel (Joh 18,1) unmittelbar mit der Verhaftung Jesu, und hier setzt auch die Narratio des Evangelisten ein. Sie endet mit dem Bericht vom Tod am Kreuz (Joh 19,30). Schütz hält sich textlich genau an die Bibel-Vorlage in Luthers Übersetzung. Traditionsgemäß fiigt er eine Ankündigung und einen Beschluss hinzu. Veränderungen gegenüber dem Wortlaut bestehen ansonsten ausschließlich aus Textwiederholungen in den Chören, den Turbae, die meist einem emphatischen Ausdruck dienen. Der johanneische Bericht umfasst 50 Textpassagen, die der Evangelist vorträgt. Diese können sich allerdings von der kurzen, doppelpunktartigen Ankündigung einer Person oder Gruppe bis zur ausgedehnten Schilderung erstrecken. Zwölfmal spricht Jesus, vierzehnmal ergreift Pilatus das Wort, ferner gibt es fiinf Zwischenrufe weiterer Handelnder sowie Äußerungen von Gruppen, die Schütz in den 16 Chören umsetzt. Das Werk lässt sich detailliert auf explizierende Bezugnahmen der Musik auf den Bibeltext untersuchen. Der gegebene Rahmen erfordert jedoch die Beschränkung auf einige aussagekräftige Beispiele. Im ersten Beispieeo berichtet der Evangelist von der Konfrontation der Soldaten mit Jesus. Sie sind gekommen, um ihn zu verhaften. Paradoxerweise geht Jesus auf sie zu, fragt »Wen suchet ihr?«, und gibt sich auf die Entgegnung »Jesum von Nazareth« als eben dieser zu erkennen: »Ich bins.« Der Evangelist schildert nun die erschreckte Reaktion der Häscher. Zunächst zeigt die Passage ein Rekurrieren innerhalb des Notentextes, denn das Zitat des Jesus-Wortes »Ich bins«, referiert vom Evangelisten, ist, wenngleich aufgrund der differierenden Stimmlagen31 transponiert, im Melodieverlauf identisch mit der Äußerung Jesu. Durch eine doppelpunktartig retardierend wirkende Längung des Wortes »sprach«32 wird das Zitat zudem hörbar als solches markiert. Zum zweiten zeigt die anschließende Beschreibung des Geschehens exemplarisch, wie Formungen auf den Textgehalt hin aussehen können: Der mit dem Wort »wei-
Con- und Dissonantien des Schütz-Schülers Christoph Bemhard (um 1663) zugrunde - ergänzt durch Johann Gottfried Walters Musicalisches Lexicon (1732). 30 Die Notenbeispiele entstammen der Bärenreiter-Ausgabe 960 (Kassel 1969), die aufBand 2 der Neuen Ausgabe sämtlicher Werke, herausgegeben von der Internationalen Heinrich Schütz-Gesellschaft, beruht. Die Jesus-Passagen sind mit Bass-Schlüssel, alle anderen mit Violin-Schlüssel vorgezeichnet. 31 Die Partie des Jesus wird, alten Konventionen folgend, von einem Bass gesungen, die des Evangelisten und des PHatus von Tenören. Rudolf Gerber sieht hierin ein psychologisches Phänomen: Die hohe Tonlage werde als >belebter<, die tiefere als >ruhiger, gemessener< empfunden. (Vgl. Gerber, Rudolf: Das Passionsrezitativ bei Heinrich Schütz und seine stilgeschichtlichen Grundlagen. Gütersloh 1929/ Hildesheim 1973 (Reprint). S. 22). 32 Unterstreichungen machen die Silben kenntlich, auf die sich Feststellungen beziehen.
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33 Das befand bereits einer der ersten Schütz-Forscher, Friedrich Spitta. (Vgl. Spitta, Fried-
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rich: Die Passionen nach den vier Evangelien von Heinrich Schütz. Ein Beitrag zur Feier des 300-jährigen Schütz-Jubiläums. Leipzig 1886. S. 19). Als Tirata werden rasch emporsteigende Melodielinien bezeichnet. (Vgl. Bartei, Dietrich: Handbuch der musikalischen Figurenlehre. Laaber 1985. S. 271). 115
erste tonhöhenmäßig überragt. Damit einher geht der Steigerungscharakter einer AuxeBeide Segmente beinhalten zudem den Gestus der stilisierten Frageform, der Interrogatio. Der adversative Gehalt des »wider« wird durch eine dem Melodiefluss »zuwider« laufende Biegung abwärts illustriert, was ikonisch-symbolisch wirkt. Der diatonische Lauf »wider diesen Menschen« ist eine Tirata und verstärkt den Affektgehalt der Gesamtpassage. Durch Spitzentöne auf je beiden Silben werden die zentralen Worte »Klage« und »Menschen« diastematisch - also im melodischen Kontext - exponiert. Pitatus
SiS. 35
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>musikalisches Nichts< - womit sich hier ein evident intertextueller Sinneffekt eröffnet. Stark symbolisch-ikonische Prägung weist auch die Form auf, in der Schütz das yYort. »~berantwor:et« »in die Musik versetzet«. Lange Überbindungen wirken als slnnfalhge IllustratIOn: Das Wort erstreckt sich jeweils über vier Takte, wobei diese S!ncopatio 40. dur~h Punktierungen noch pointiert hörbar gemacht wird. Auch tonräumhch findet em »Uberantworten« statt: Das Wort durchschreitet den Tonraum von bis zu einer Oktave, am Schluss im Bass sogar den einer Duodezime. Es vollzieht sich ~lso im N.otenbild e.in regelrechtes »Durchreichen«. Das rein diatonische Abstiegsmotlv entsprIcht zugleICh konsequent der Negatives anzeigenden Figur einer Catabasis. Dasselbe Prinzip fand sich bereits eingangs bei »Übeltäter«: Durch Niederdrücken des Melodieverlaufs wird das Angesprochene affektiv-symbolisch als »geringverächtlich«41 gekennzeichnet.
Die Juden antworten nicht konkret. Statt ihre Anschuldigung vorzubringen, ereifern sie sich: »Wäre dieser nicht ein Übeltäter, wir hätten dir ihn nicht überantwortet«. In diesem Chorsatz, der hier als fünftes Beispiel dient, nutzt Schütz - wie in fast allen Chören der Johannes-Passion - das Mittel der Fuge. Der Fuge wächst dabei jedoch über 36 die satztechnische hinaus auch eine Ausdrucks-Funktion ZU: Hartrnut Krones deutet sie aus der Warte der musikalischen Rhetorik unter anderem als Ausdruck der Empfindungen einer Volksrnasse. 37 Sie illustriert und symbolisiert die Einmütigkeit der Versammelten. Das weitgehend mimetisch-identische >Nachsingen< bringt gleichsam eine gruppendynamische Entwicklung zum Ausdruck: Einer geht voran, die anderen folgen. Im hier abgebildeten Schlussteil ist das Satzbild bereits kontrapunktisch hoch verdichtet. Gleichwohl wird ersichtlich, wie auf der Ebene der Figuren Wiederholungen dominieren, die sich durchweg auf die mit repetitiven Achteln gesetzte Passage »wir hätten dir ihn nicht« beziehen. In jeder Stimme vollzieht sich jedes erneute Singen auf einer höheren Tonstufe. Es handelt sich folglich um Auxesis-Relationen, geschieht die Steigerung streng stufenweise auch um eine Gradatio oder eine Repetitio per gradus. 38 Auffällig sind ferner die Pausenfiguren. Nach fast jedem Erklingen des meist durch Quart- oder Quintsprünge exponierten »nicht« folgt eine Achtelpause. Dies macht, oft verstärkt durch die Position im Taktschema, einen abschneidenden, atemhaschenden Eindruck, der die Gestik des Ereiferns verstärkt. Als Figur entsprechen die Pausen einer Tmesis, einem ausdrucksintensivierenden Zerschneiden des Melodieverlaufs. 39 Sie wirken affektiv, aber auch symbolisch: Dem Wort »nicht« folgt in Form der Pause ein 35
36
37 38
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Eine Wiederholung auf höherer Tonstufe. Butmeister spricht von einem »Wachstum der Hatmonia« (zit. nach Bartel: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, S. 111). Die fast synonyme Bezeichung Climax soll hier nicht verwendet werden. Vgl. Brodde: Heinrich Schütz, S. 265. Vgl. Krones: Musik und Rhetorik, Sp. 819. Vgl. Bartel: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, S. 89. Vgl. auch Eggebrecht: Musicus poeticus, S. 90. Die Figur der Tmesis bezeichnet einen Schnitt, ein Einschneiden. (Vgl. Bartel: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, S. 274). Deutbar wäre die Stelle auch als Abruptio, die Bernhard als das »Zerreissen in der Mitte eines Contextus« definiert. (Zit. nach Bartel: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, S. 76).
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Bsp. 5: Chor 5: Wäre dieser nicht ein Übeltäter... (Takt 12-18).
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Burmeister versteht ~ie Syncopatio sowohl als Dissonanz wie auch als Taktverschiebung. Walther gebraucht SIe synonym zur Ligatura: »Wenn die Noten wider den Tact tractieret we~~en«: (Zit. nach Bartel: Handbu~h der musikalischen Figurenlehre, S. 266). Diese DefimtIon hegt auch zugrunde, wenn hIer von Syncopatio die Rede ist. So charakterisiert Walther die Catabasis. (Zit. nach Bartel: Handbuch der musikalischen Figurenlehre, S. 115).
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Das sechste Beispiel steht am Beginn des 19. Kapitels. Pilatus reagiert auf die beharrlichen Forderungen der Volksmenge und lässt Jesus geißeln. Der Bericht über die Peinigungen weist eine Reihe von Hypotyposis-Formungen auf. Bereits Spitta liest Wendungen dieser Passage als tonmalerisch: »Es soll ganz offenbar das Flechten des Kranzes abgebildet werden, man sieht alsdann wie derselbe Jesu hoch auf sein Haupt gelegt und wie darauf um seine Schultern das Gewand gelegt wird.«42 Ikonisch sind also die nachzeichnende Silbendehnung auf »flochten«, der Quartschritt aufwärts. bei »und setzten sie«, die beiden Melismen in hoher Lage zu den Worten »auf sein Haupt«, in eleganter Symmetrie hierzu derselbe Quartschritt c - g, nunmehr abwärts, bei der TextsteIle »und legten«, sowie Auf- und Abwärtsgänge bei »und legten ihm ein Purpurkleid an«.43 Diese Beispiele wirken ikonisch-affektiv. Daneben berühren die Hochsetzungen mit Akzentmelisma auf »Krone« und »Haupt« mithin auch die symbolische Ebene. Insgesamt eine für bildhafte Zeichensetzung exemplarische Passage.
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Bsp. 6: Evangelist: Und die Kriegesknechte ... Das siebte Beispiel tangiert vor allem die symbolische Sphäre. Es verweist dabei auch auf die Typik der Darstellung Christi im Johannes-Evangelium insgesamt. Dieser erscheint, gleich in welcher Situation, als eine schon gottgewordene Gestalt, die dem ihr noch bevorstehenden Schicksal mit unerschütterlicher Gelassenheit entgegensieht. 44 So auch, als selbst nach der Geißelung Hohepriester und Volk insistieren, J esus müsse gekreuzigt werden, da er sich zu Gottes Sohn erklärt habe. Daraufhin fragt Pilatus ihn nach seiner Herkunft: »Von wannen bist du?« Der Angesprochene jedoch reagiert mit Schweigen. Im Bericht des Evangelisten wird dies durch eine niedergehende Descensus-Linie auf »gab ihm keine Antwort« symbolisch-affektiv illustriert. Die Stimme geht auf einen Ruhepunkt zu. Implizit könnte man sogar eine AposiopesisPause intendiert sehen, und ein kundiger Interpret der Evangelisten-Partie wird an dieser Stelle gewiss Jesu Schweigen mit wenigen Sekunden der Stille effektvoll vergegenwärtigen. Die Sperrigkeit des Verhaltens findet überdies affektiven Widerhall im Quintfall auf »aber«.
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44
Spitta: Die Passionen nach den vier Evangelien von Heinrich Schütz, S. 19. Auch Gerber erkennt hier, obwohl das melodische Profil auch über erweiterte gregorianische Formen herleitbar ist, als primäre Intention die »Verdeutlichung besonderer Vorstellungsinhalte«. (Gerber: Das Passionsrezitativ bei Heinrich Schütz und seine stilgeschichtlichen Grundlagen, S. 126). Vgl. Sasse, Markus: Der Menschensohn im Evangelium nach Johannes. Tübingen 2000. S.I72.
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Bsp. 7: Evangelist: Aber Jesus gab ihm keine Antwort. Das achte Beispiel demonstriert nochmals die brisante Interaktion des Präfekten und der Volksmenge sowie der Hohenpriester. Es entsteht der Eindruck, Pilatus wolle Jesus nun doch freilassen. Kurz bevor das Urteil gefällt wird, steigert der JohannesBericht damit erneut die Spannung und verschärft den Gegensatz zwischen dem Verhalten des Pilatus und der Unnachgiebigkeit der Juden. Sie setzen den Römer mit einem politischen Argument unter Druck: Wenn er Jesus freilasse, sei er kein Freund des Kaisers mehr. Der Statthalter soll in Verdacht gezogen werden, den »Judenkönig« begünstigt und die Autorität des Kaisers in Frage gestellt zu haben. 45 Schütz greift den Vorwurf gleiCh zu Beginn des elften Chorsatzes der PassionsHistorie bildkräftig auf. Der Vorgang des »lässest du diesen los« wird wiederholt durch abspringende Quinten illustriert. Der große Tonschritt, der durch zuvor gegenläufige Terzen, die das Demonstrativpronomen »diesen« akzentuieren, fast abrupt wirkt, macht das Loslassen in musikalischer Dimension plastisch. Erneut wird auch die Fugato-Technik abgewandelt. Wechselnde Gruppierungen lassen dem Satz regelrecht szenische Qualitäten zuwachsen. Die stetig changierende Interaktion vermittelt neue Höreindrücke und wirkt realistisch. So wird die erste Satzhälfte, »lässest du diesen los, so bist du des Kaisers Freund nicht«, zunächst nur vom synchronisierten Alt und Bass sowie dem nach zwei Zählzeiten folgenden Tenor vorgetragen. Der Sopran setzt just in dem Moment ein, in dem sich die anderen Stimmen symbolträchtig einig sind: »so bist du des Kaisers Freund nicht«. Ihre Einmütigkeit wird nicht nur durch eine homophon aus dem polyphonen Satzgeflecht heraustretende Passage, ein Noema, veranschaulicht, ihr Harmonieren gipfelt sogar in einem einzigen Ton. Der Gesetzesverweis »denn wer sich zum Könige machet« wird wie auch die zweite Satzhälfte »der ist wider den Kaiser« in stets anderen Staffelungen präsentiert. Die Situation wird durch diese Kunstgriffe, durch das wechselnde Zueinandertreten und Einander-Beipflichten der Redenden, variantenreich vergegenwärtigt.
45
Er würde sich dadurch des crimen laesae maiestas schuldig machen, also die Souveränität des Kaisers antasten. Die Konsequenzen, die drohen, beschreibt u.a. Tacitus in den Historien, I 77, 3. 119
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Bsp. 8: Chor 11: Lässest du diesen los ... (Takt 18-26). Charakterisierende Elemente lassen sich vor allem in der Melodik der zweiten Hälfte, »denn wer sich zum Könige machet«, finden. Das Sich-Berufen auf das Gesetz wird durch Repetitionen, Sekundintervalle und daktylisches Metrum dargestellt. Der Gestus engstirnigen Zitierens, Belehrens und Beharrens ist bestechend eingefangen. Textveranschaulichend sind dagegen die diatonischen Abwärts-Gänge auf die Passage »so bist du des Kaisers Freund nicht«. Die Descensus-Linie drückt affektiv-symbolisch Negatives aus, Pilatus sinkt hörbar in der Gunst des Kaisers. Markant textillustrierend ist die klangliche Umsetzung des Wortes »wider«. Konsequent wird es von Schütz in schlagender Bildlichkeit mit einer - meist nach großräumiger Abwärtsbewegung aufwärts springenden Oktave unterlegt. Dieser Kunstgriff exponiert nicht nur das Wort im melodischen Kontext, es veranschaulicht den Wortsinn schon dadurch, dass die zweite Silbe extrem herausgehoben wird - in schroffem Gegensatz zur eigentlichen Betonungsrelation: Explicatio textu par excellence. Aus der Perspektive figürlicher Erklärbarkeit ist zudem bemerkenswert, wie gegensätzlich die Satzteile »denn wer sich zum Könige machet« und »der ist wider den Kaiser« gestaltet sind. Prägen die erste Passage stets kleine Notenwerte und kleine Intervalle, so dominieren in der zweiten hierzu relativ größere Notenwerte, größere Tonschritte und markante Überbindungen, Ligaturen. Man kann dies als melodisches Antitheton verstehen, das mit dem antithetischen Textgehalt korrespondieren würde.
120
Das neunte und vorletzte Beispiel schildert unmittelbar die Kreuzigung. Den Bericht vom grausamen Akt unterlegt Schütz mit dnem sieben Töne umfassenden Melisma auf der ersten Silbe des »kreuzigten«, dem ausgedehntesten Melisma der gesamten Rezitation. Die ohnehin betonte Silbe wird diastematisch hervorgehoben, was dem Vortrag zusätzliche Dramatik verleiht. Zumindest in dieser Passage scheinen auch zahlensymbolische Deutungsansätze legitim. So verweist Brodde auf die Siebentönigkeit des Melismas. Die Zahl Sieben sei von Alters her Symbol der Ganzheit, des Gültigen und Abgeschlossenen. Die implizite Botschaft lautet für Brodde: »Es ist vollbracht« - das Geschehen am Kreuz als Schlüssel zum Heilsversprechen des Neuen Testaments. 46 Als zahlensemantische Chiffre lässt sich auch der Quintsprung e - h auf das »allda« deuten. Die Zahl Fünf steht christussymbolisch für die fünf Wunden und die fünf Punkte des Kreuzes. 47 An dieser Stelle scheint es naheliegend, im Fünftonintervall eine intertextuelle Anspielung auf diese Symbolebenen zu sehen. Ferner durchschreitet die Melodie viermal den im phrygischen Modus, der Tonart der Johannes-Passion, besonders markanten, »schmerzhaften« Halbtonschritt h - c - vielleicht ein affektiver Verweis auf die Brutalität des Geschehens. Die gesamte Aufwärtsbewegung kann und hier wird ein sich nur intertextuell erschließender Sinneffekt wirklich augenfällig - in ihrer Gestik überdies als ikonische wie symbolische lllustration der Aufrichtung des Kreuzes gedeutet werden. Die zentrale Passage eröffuet also vielfache Deutungsmö glichkeiten. 48
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htu.. ,. -alg"tm fit....- I~~I Bsp. 9: Evangelist: Allda kreuzigten sie ihn, ...
Das zehnte und letzte Beispiel greift den narrativen Schlusspunkt der Passion auf. Dem Evangelisten bleibt die traurige Pflicht, mit den Worten »und neiget das Haupt und verschied« das physische Erlöschen Jesu zu vermelden. Diese letzte Passage des Erzählers zeigt noch einmal eine hohe Dichte an ikonischen, symbolischen und affektiven Formungen. Die Wichtigkeit des Gesagten kündigt sich eingangs affektiv an, im spannungsvoll eine Terz zum d emporsteigenden Portamentomelisma auf das »und«. Der Terzfall auf der ersten Silbe des »neiget« hat evident hypotypotisches Gepräge. Der Vorgang des» Verscheidens« wird durch die sich niederneigende melodische Biegung verbildlicht. Diese Bewegungstendenz setzt sich jedoch nicht fort. Im Gegenteil schreitet die Melodie - nun nicht durch Melismen, sondern durch doppelte Notenwerte unterstrichen - auf »das Haupt« wieder diatonisch empor. Auch das Haupt des Sterbenden ist noch immer, wie etwa der Titel »König«, ehrerbietend ikonisch-symbolisch im Notenbild >oben( angesiedelt. Auch Friedrich Spitta sieht hierin Ikonik: »Ein wenig hebt sich das Haupt des Verscheidenden, um dann langsam immer tiefer auf die Brust
46
47 48
Vgl. Brodde: Heinrich Schütz, S. 265. Vgl. Cooper, Jean C.: Lexikon alter Symbole. Leipzig 1986. S. 222. Spirta erkennt in dieser Passage vor allem emotionale Teilnahme des Evangelisten. Das Melisma klingt ihm »wehmütig« und »tiefschmerzlich«. (Spitta: Die Passionen nach den vier Evangelien von Heinrich Schütz, S. 20). 121
herabzusinken.«49 Das analog zum Beginn der Phrase, jedoch intervallisch kleinräumiger, mit zwei auf- und absteigenden Tondehnungen gesetzte »und verschied« illustriert das abschließende Niedersinken des Hauptes. Im leicht stockenden rhythmischen Duktus der letzten Melismen könnte man das Pochen - und schließlich das Verstummen - des Herzens versinnbildlicht sehen. Auch das kontinuierliche Absinken der gesamten Phrase, gewissermaßen das Ersterben der Melodielinie, korrespondiert atmosphärisch auf das Engste mit dem Gesagten. Das überaus stimmige Bild wird durch die Fermate auf dem Schlusston abgerundet. Dieses musikalische Ruhezeichen kann hier wohl mit einiger Berechtigung als Metapher des Todes aufgefasst werden.
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Bsp. 10: Evangelist: Und neiget das Haupt und verschied. Otto Brodde sieht im letzten Satz durch Schütz zudem »die andere Seite«50 des Johannes-Berichts angedeutet. Auch er konstatiert, dass die Worte »und neigte das Haupt« durch die Tonfolge nicht, wie zu erwarten, konsequent das Neigen bildlich nachvollziehen. Vielmehr werde das Haupt »gehoben«. Exegetisch könne dies, so Brodde, auch als Indiz der Gewissheit der neutestamentlichen Heilsbotschaft gelesen werden im Sinne von »Der Sieg ist gewonnen«.
3
Charakteristika der Textexplikation
Ein schmales Korpus an Beispielen kann nur Anhaltspunkte geben, welche Interpretationsmöglichkeiten sich durch die skizzierte hermeneutische Durchdringung der Bezugnahmen des musikalischen auf den biblischen Text eröffnen. Im gesamten Werk findet sich kaum eine Passage, deren Faktur - über die syntaktischen Funktionsgefüge von gregorianischem Choral und Kadenz hinaus - nicht im Sinne Eggebrechts auch als >auf den Text hin< konzipiert verstanden werden kann. Es eröffnet sich dabei eine Typik der Textexplikation, die, über die Beispiele hinaus, hier thesenhaft umrissen werden soll. In den Einzelgesängen ist zunächst evident, dass sichtbare Geschehnisse, etwa das Binden der Hände, das Trinken des Kelchs oder das Losen der Kriegsknechte, ikonisch aufgegriffen werden. Vorgänge finden, mehr oder weniger ausgeprägt, in den Noten visuelle Andeutung und damit auch klanglichen Ausdruck. Dies gilt auch fdr Bewegungen, etwa das Gehen oder Sich-Setzen, sowie für räumliche Zuordnungen, beispielsweise das Hinaufreichen des Essigschwamms. Vor allem gilt es für reale Gegenstände, etwa die Dornenkrone. Konkretes erfährt also - stilisierte - Konkretion. Vollzieht sich wenig Handlung im szenischen Sinn, werden Schriftverweise angeführt, spricht der Bericht abstrakte, allegorische oder metaphysische Inhalte an, finden 49 Ebd. S. 21. 50 Brodde: Heinrich Schütz, S. 265. 122
sich hingegen vermehrt symbolische Strukturen - vor allem in den Jesus-Worten, aber auch wenn Verrat und Treuebruch durch Judas und Petrus thematisiert werden. 51 Die Grenzen sind allerdings fließend. Vor allem wirkt in beide Bedeutungsebenen meist auch das affektive Gestaltungsprinzip mit hinein. Dieses verleiht primär psychologischen Konstellationen und seelischen Befindlichkeiten Ausdruck - dem Rechtfertigungsdruck, der auf Petrus lastet, ebenso wie der zornigen Anmaßung des Jesus ohrfeigenden Kriegsknechts oder der fast herrischen Selbstgewissheit des Pilatus. Darüber hinaus werden zahllose Nuancen des Evangelien-Berichts, je nach Spannungsgehalt und Relevanz, in subtiler Abschattierung affektiv intensiviert. Dies manifestiert sich besonders in den zahlreichen Tirata- Läufen, die vor allem während des Prozesses die Brisanz von Situationen vergegenwärtigen. Dies zeigt sich aber gleichfalls in der, wie Gerber es nennt, »fortgesetzten Tendenz zur Höhe«,52 wenn hohe oder sogar konsequent steigende Rezitationstöne eine Aura der Bedeutsamkeit erzeugen. Die Rezitation gewinnt im Ineinanderwirken von ikonischen, symbolischen und vor allem affektiven Strukturen eine spezifische Sinnfülle und expressive Reichhaltigkeit, ein stets sinn- und sprachbezogenes - lebendiges, plastisches und ausdrucks gesättigtes Gepräge. Der Evangelist trägt den weitaus größten Teil des Textes vor. Teilweise erstattet er relativ distanziert und neutral Bericht. Räumliche Zäsuren, der Eintritt des historischen Perfekts und Perspektivwechsel werden von ihm dezent aber deutlich angezeigt. In seiner Narratio ist überdies die gesamte Bandbreite der konstatierten textverdeutlichenden Formungen präsent. Der Rapport wird dadurch bildkräftig, atmosphärisch dicht und affektstark. Der Evangelist, wie Schütz ihn zeichnet, ist dabei kein völlig außenstehender, sondern auch ein teilnehmender Erzähler. Seine Hinführungen antizipieren den Spannungstonus der anschließenden Äußerungen. Dies zeigt sich besonders in den Turba-Doppelpunkten. Aber auch die Reden der Personen kündigt er nicht nur an. Oft kommentiert er sie subtil durch kleine Wendungen, Melismen und Wechselnoten. 53 Vor allem zu Jesus tritt er in eine Art affektive, mitfühlende Korrespondenz. 54 Der Jesus der Johannes-Passion erscheint, ganz wie das Evangelium ihn zeichnet, in erhabener Größe und königlicher, zuweilen fast wehmütiger Würde. Die Gelassenheit, mit der er die Verhaftung hinnimmt, die zuweilen gebieterische Bestimmtheit, in der er sich im Prozess zu den Vorwürfen äußert, und die Erhabenheit, in der er Folter und Kreuzigung erduldet, finden musikalisch adäquaten Ausdruck. 55 Zentrales Gestal-
51 Gerber spricht insgesamt von einer »philosophisch-reflektierenden Grundstimmung« in der Johannes-Passion. (Gerber: Das Passionsrezitativ bei Heinrich Schütz und seine stilgeschichtlichen Grundlagen, S. 204). 52 Ebd. S. 150. 53 Auch Heinemann kommt zu dieser Einschätzung. (Vgl. Heinemann, Michael: Heinrich Schütz. Reinbek 1994. S. 113). 54 So sieht es durchweg auch Spitta. Das Einführen besonders der Jesu-Passagen zeige das Mitempfinden des Evangelisten. (Vgl. Spitta: Die Passionen nach den vier Evangelien von Heinrich Schütz, S. 20). 55 Vgl. Gerber: Das Passionsrezitativ bei Heinrich Schütz und seine stilgeschichtlichen Grundlagen, S. 192ff.
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tungsmerkmal der Jesus-Reden sind von oben angesetzte, machtvoll wirkende Dreiklangsbrechungen und ein melodischer Gestus gravitätischer Gemessenheit. Der Pilatus der Johannes-Passion ist eine musikalisch gleichfalls prägnante Erscheinung. Der Präfekt wird als Person charakterisiert, die ganz von ihrem Amt durchdrungen ist. Seine Fragen und Äußerungen gegenüber Jesus werden von Schütz als selbstbewusst und skeptisch, jedoch nicht feindselig gezeichnet. Seine Reden zum olk hinge~en ha?en einen zuweilen fast herrischen Zug. 56 Das musikalische Signum 1st erneut dIe Dreiklangsbrechung. Im Vergleich zu Jesus, der von einer Bassstimme gesungen wird, wirkt die Dreiklangsschichtung bei Pilatus, einem Tenor, impulsiver, spannungsgeladener und affektstärker.
'!
Die. Chöre - von Eingang und Beschluss einmal abgesehen, die ankündigende und reflektterende Funktion haben - vergegenwärtigen zunächst die Befindlichkeiten und Bestrebun~en der Hohenpriester, der Volksmenge und der Kriegsknechte. EinprägsaI?e Melo~leverläufe charakterisieren die Redenden. Sie enthüllen Pedanterie, Manipuherbarkelt und Brutalität. Zudem illustrieren sie Textinhalte wie das Pochen auf den Buchs~aben des Gesetzes, das Überantworten oder die vorgebliche Loyalität zum Kais~r. DIese E~ene wird jedoch überformt durch die differenziert gehandhabte Satztechmk. Durch SIe verleiht Schütz den teils nur wenige Sekunden dauernden chorischen Einwürfen die Qualität dramatischer Situationsschilderungen. 57 Pri~äres satztechnisches und zugleich Ausdrucks-Mittel ist die Fuge. In ihrer vorantreibenden Dynamik, dem Fliehen und Nacheilen der Stimmen,58 verleiht sie dem ~mpfinden und ?ebaren einer Gruppe oder Volksrnasse Ausdruck. 59 Spannungsträchttg~~ Ge~enpol 1St der homophone Gleichklang. Er suggeriert Einmütigkeit. Schütz vamert dIese Mittel überaus subtil. Er setzt die Stimmen in stets neuen Konstellationen zueinander in Bezug, belebt dadurch die Sätze und schafft ein Moment kraftvoller Realistik. Im Zus~mmenspiel von Durchimitation und Bündelung, von Fugentektonik und Homophome, vergegenwärtigen die Turbae die Gemengelage aus Eifer und Planung. Jeder Chor wird gleichsam zur Motette in Kleinstform. 60
Die Turbae sind allerdings nicht nur, wie Kurt Gudewill konstatiert »dramatische Situationsbilder von äußerster Knappheit und stärkster Realistik«. 61 Ihr~ Wirkung beruht neben dem explicare textum wesentlich auf dem sensum exprimere, das Schütz in den Chören noch subtiler handhabt als in der Rezitation. Gerade die modulatio vocum die Kunst der Klangregie, Stimmgruppierung und Chorspaltung, weist in den Turba~ auf Ebenen über das bloße Nachzeichnen hinaus. Hier zielt das »in die Musik Versetz~n« auf.~as Tran~parent- und Erlebbar-Machen tieferer Zusammenhänge. So etwa in emem frühen subttlen Anklingen der Kreuzthematik in Chören, in denen die Forderung nach Jesu Tod noch gar nicht ausgesprochen wird oder in einer entlarvenden motivischen Gleichsetzung der Priester mit den Krieg~knechten. Das Aufzeigen und 56 57 58 59 60
So auch Gerber. (Vgl. ebd. S. 200).
Eg~ebr~cht ~eht. so ,,:eit, dem musikalisch performativen Akt mitunter die Qualität einer
»Sltuatlonswrrkhchkelt« zuzusprechen. (Eggebrecht: Musicus poeticus, S. 46). Vgl. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 376. Vgl. Krones: Musik und Rhetorik' Sp . 819 . Vgl. Brodde: Heinrich Schütz, S. 261. 61 Gudewill, Kurt: Geleitwort Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Band 2. Kassel 1957. O.S. 124
Ausloten dieser Tiefendimension spielt wesentlich mit hinein, wenn Gerber bilanziert, gerade in der Johannes-Passion sei die Illustration und Ausdeutung des Textes durch Schütz von »höchster Genialität«. 62
»Prediger in Tönen«
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Der liturgische Brauch verlangte von Schütz, die Evangelienberichte vom Leiden und Sterben Christi in Form der althergebrachten Choralpassion zu vertonen. 63 Er tat der Konvention formal genüge, brach jedoch mit dem alten, relativ eintönigen psalmodierenden Duktus - dem »gemeinen krauthackerischen Schlag«,64 wie Hermann Finck den »choraliter redenden styli«65 schon 1556 genannt hatte. Stattdessen öffuete er die Rezitation für die neuen, sprachnahen und affektbezogenen Ausdruckspotenziale des monodischen Stils, der Musica poetica und der Figurenlehre. Ihm gelang eine nuancierte Transformation des Sprachmelos, 66 darüber hinaus jedoch in einer differenzierten Transferleistung eine sinnverdeutlichende und sinnerhellende Explikation des Bibeltextes. In der unbedingten Sprach- und Wortgezeugtheit war Schütz der einzige Komponist, der sich uneingeschränkt als »Übersetzer«67 der Passionserzählungen in die Musik bezeichnen konnte. Sein Übersetzen, sein in vieler Hinsicht intertextuell zu nennendes Inbezugsetzen des musikalischen Textes zum biblischen, erschöpft sich indes nicht im rein narrativen Moment. Zum einen schließt es ein starkes Element der Realistik und der Vergegenwärtigung ein. Seine Passionen sind unter anderem »dramatische Verlebendigung«68 des biblischen Geschehens. Das Übersetzen geschieht freilich in einer »zutiefst evangelischen Reduktion«,69 wie Kurt von Fischer der These von der »Dramatisierung des Passionsstils« 70 entgegenhält. Es ist eben kein concitato, kein erregt-affektuoser Stil, in dem Schütz die Leidensgeschichte erzählt. Vielmehr steht er in den Chören nach wie vor auf dem Boden der altniederländischen Vokalpo-
62 Gerber: Das Passionsrezitativ bei Heinrich Schütz und seine stilgeschichtlichen Grundlagen, S. 129. 63 Der Brauch an der Dresdener Schlosskirche, für die Schütz die Passionen komponierte. 64 Finck, Hermann: Practica musica. Wittenberg 1556. Zit. nach Moser: Heinrich Schütz, S.563.
65 Ebd. 66 »Diese Musik redet Deutsch«, stellt Thrasybulos Georgiades fest. (Georgiades, Thrasybulos: Musik und Sprache. Das Werden der abendländischen Musik dargestellt an der Vertonung der Messe. 2. Aufl. Berlin 1984. S. 60). 67 Von Fischer, Kurt: Passion. In: Musik in Geschichte und Gegenwart. Sachteil. Band 7. Kassel 1997. Sp. 1472. 68 Gregor-Dellin: Heinrich Schütz, S. 352. 69 Von Fischer, Kurt: Die Passionshistorien von Heinrich Schütz und ihre geschichtlichen Grundlagen. In: Musik und Gottesdienst. Zeitschrift für evangelische Kirchenmusik (1966). S. 48-59.
70 Ebd. 125
lyphonie, vielmehr sind die Elemente der venezianischen Madrigalkultur und des monodischen Stils zu knapper figurenhafter Wortgestaltung und Wortprägung verdichtet. Das Übersetzen hat fiir Schütz aber auch - dies als zweites wesentliches und nicht weniger >evangelisches< Element als das der formalen Beschränkung - eine eminent exegetische Dimension. 71 Indem er nicht nur die Primärebene des Wortes aufgreift, sondern auch in die Sphären von Psychologie, Ethik und Menschlichkeit, in die »Seelendramen«72, wie Martin Gregor-Dellin es nennt, hineinleuchtet, wirken das textum explicare und das sensum exprimere zusammen. Eine die Perspektive der Intertextualität konsequent einbeziehende Hermeneutik kann aufzeigen, wie diese Durchdringung geschieht und welche Sinneffekte sich dadurch eröffnen. Ein poststrukturalistisches Konzept des 20. Jahrhunderts kann also pragmatisch operationalisiert - mit einem spezifischen Erkenntnisgewinn auf das Werk eines Komponisten des 17. Jahrhunderts angewandt werden. Denn nicht zuletzt aus der subtilen Wechselbezüglichkeit von biblischem Text und Notentext, aus dieser, um mit Kristeva zu sprechen, >absorption et transformation<, gewinnt die geistliche Musik von Heinrich Schütz jene exegetische, wortauslegende Kraft und Unmittelbarkeit, die ihn auch heute noch als »Prediger in Tönen« 73 erscheinen lässt.
Elisabeth-Christine Gamer (Kunstgeschichte)
Überlegungen zur Interikonizität. Malewitsch, Duchamp, Warhol und die Mona Lisa 1
Seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts ist Leonardo da Vincis Portrait der Lisa deI Giocondo - gemeinhin Mona Lisa oder Gioconda genannt - zu einem der berühmtesten und beliebtesten Werke in der Weltgeschichte der Kunst geworden. Dieser Umstand findet seinen Ausdruck in der bildenden Kunst und der Kunstgeschichte ebenso wie in verschiedenen Wissenschaften und nicht zuletzt auch der Populärkultur. 2 Im 20. Jahrhundert brachte das künstlerische Interesse an der Gioconda eine fast unüberschaubare Menge von Werken hervor, die nur zu oft von minderem artistischen Anspruch zeugen. Dass dies nicht notwendigerweise der Fall sein muss, beweisen Kasimir Malewitschs Partielle Sonnenfinsternis. Komposition mit Mona Lisa (1914) sowie zwei wesentlich berühmtere Kunstwerke, Marcel Duchamps L.Ho.o.Q. (1919) und Andy Warhols Thirty Are Better Than One (1963).
Malewitsch Komposition mit Mona Lisa zeichnet sich durch einen überaus komplexen Bildaufbau aus: Im Zentrum der Bildfläche befindet sich eine Komposition von farb-flächenbezogenen Formen - verschiedenfarbigen Rechtecken und Dreiecken - und graphischlinearen Formen. Im linken unteren Bereich ist eine auf Kopf und Brustbereich reduzierte Reproduktion der Mona Lisa von geringer Qualität aufcollagiert, die zudem recht stark beschädigt ist: Der linke obere Bereich der Abbildung ist bis zur Stirn der Portraitierten weggerissen. Zuvor jedoch wurden Gesicht und Brust der Mona Lisa mit einem großen und einem kleineren Kreuz in roter Farbe energisch durchgestrichen. Die linke Seite der Leinwand zeigt einige gemalte bzw. aus Zeitungen ausgeschnittene und aufcollagierte Schriftzüge, von denen fiir unsere Zwecke zunächst die beiden Worte links oben von Interesse sind: »IJaCTHIJHOe 3aTMeHie«. 3
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Der vorliegende Beitrag basiert auf Teilen meiner Magisterarbeit »Zur Rezeption der Gio-
conda Leonardo da Vincis im 20. Jahrhundert am Beispiel von Kasimir Malewitsch, Mar-
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71 72
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Vgl. Eggebrecht: Musicus poeticus, S. 21. Gregor-Dellin: Heinrich Schütz, S. 354. Eggebrecht: Musik im Abendland, S. 403.
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cel Duchamp und Andy Warhol« (Universität Heidelberg 2005). Dem Thema Interikonizität ist auch meine im Entstehen begriffene Dissertation (bei Prof. Zuschlag, Universität Landau) gewidmet. Vgl. hierzu etwa Salzmann, Siegfried; Heynen, Julian (Hg.): Mona Lisa im 20. Jahrhundert. Ausstellungskatalog Wilhelm-Lehmbruck-Museum, Duisburg, 24.9.-3.12.1978. Duisburg 1978. Sassoon, Donald: Mona Lisa. The History of the World's Most Famous Painting. London 2001. Zu übersetzen als »Partielle Sonnenfmsternis«. 127
Stilistisch betrachtet, vereint Komposition mit Mona Lisa Elemente und Charakteristika vorausgehender und nachfolgender Schaffensperioden und Stilrichtungen des Künstlers auf einer einzigen Leinwand. Wenden wir uns zunächst den vorausgehenden zu: Es finden sich Elemente, die an den Kubismus erinnern, und solche, die mit dem Kubofuturismus in Verbindung gebracht werden können. 4 Speziell eine Nähe zu alogischen Werken ist erkennbar, wenngleich sich der Alogismus hier von innerbildlichen 5 Aspekten auf eher konzeptionelle bzw. kunsttheoretische verschiebt. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang der Bezug zum Gemälde Ein Engländer in Moskau (1914). Die Worte »l{aCTHllHOe 3aTMeHie« treten, wenngleich in unterschiedlicher Form, in beiden Werken auf. In Ein Engländer in Moskau ist der Schriftzug durch Größe, Farbe und Form ins Bild eingebettet. Dieser Effekt wird durch eine ungrammatische Trennung - Malewitsch hält sich nicht an die Silbengrenzen - verstärkt. In Komposition mit Mona Lisa dagegen bleiben die Wörter grammatisch und syntaktisch verbunden und sind ihren Drucktypen recht ähnlich. Während in Ein Engländer in Moskau der Text dem Primat des Bildlichen untergeordnet ist und so die Phänomene >Text< und >Bild< harmonisiert werden, stehen sie in Komposition mit Mona Lisa unverbunden nebeneinander. Neben diesen Rückverweisen deutet Komposition mit Mona Lisa bereits recht deutlich auf die Kunst des Suprematismus voraus. 6 Wenn Jean-Claude Marcade das plötz-
4 Zu den kubistischen Elementen in Komposition mit Mona Lisa vgl. Nakov, Andn5i: La fureur iconoc1aste. In: Malevitch, Kazimir: Ecrits. Pn5sentes par Andrei Nakov. Nouvelle edition revue et augmentee. Paris 1986. S. 41-77. Hier S. 64 u. 76, Anm. 41. Simmen, Jeannot: Kasimir Malewitsch. Das schwarze Quadrat. Vom Anti-Bild zur Ikone der Modeme. Frankfurt a. M. 1998. S. 57. Zum Begriff des Kubofuturismus vgl. etwa Capa6bHHoB, ,[(MHIpHH:: »Ky6oqlYrypH3M«: TepMHH H peanbHocTb. In: ßCKYCCTBo3HaHHe 1 (1999). S. 222-229. Hier besonders S. 227-229. Malewitsch selbst nennt an Prinzipien kubofuturistischer Kunst die »sculpture reelle«, womit er die Collage meint, sowie die künstlerische Verwendung des Wortes. Malevitch, Kazimir Severinovitch: De Cezanne au suprematisme. Tous les traites parus de 1915 a 1922. Traduits par Jean-Claude et Valentine Marcade avec la collaboration de Veronique Schiltz. Preface et presentation de JeanClaude Marcade. Ecrits I. Lausanne 1974. S. 42. Zum Alogismus: Fauchereau bezeichnet ihn als »une phase specifique du cubo-futurisme russe« (Fauchereau, Serge: Kazimir MaIevitch. Paris 1991. S. 31). Vgl. hierzu auch Capa6bHHoB: Ky601pyrypH3M, S. 229. Es ist charakteristisch für die »alogische[] Kompositionsstrategie, unterschiedliche und scheinbar miteinander unvereinbare Bildmotive zu kombinieren« (Basner, Elena R; Petrowa, Ewgenija N. (Hg.): Kasimir Malewitsch 18781935. Meisterwerke aus dem Russischen Staatsmuseum st. Petersburg. Ausstellungskatalog Bawag Fondation Wien, 23.3.-14.5.1994. Wien 1994. S. 74). Rainer Crone stellt dar, inwiefern Komposition mit Mona Lisa als alogisches Kunstwerk zu verstehen ist: Zum einen werde die gegenständliche Kunst mit der ungegenständlichen konfrontiert und zum anderen Bild mit Text. Vgl. Crone, Rainer: Zum Suprematismus - Kazimir Malevic, Velimir Chlebnikov und Nicolai Lobacevskij. In: Wallraf-Richartz-Jahrbuch XL (1978). S. 129-162. Hier S. 160. Z.R auf Schwarzes Quadrat (1915) und Suprematistische Komposition. Weiß auf Weiß (1918). Auch deutet sich ein Zusammenhang mit Suprematismus (mit blauem Dreieck und schwarzem Rechteck) aus dem Jahre 1915 an. 128
liche Erscheinen des Suprematismus betont und von einem »saut dans le sans-objet« 7 spricht, möchte man ihm daher nicht uneingeschränkt zustimmen. Malewitsch macht das Bildnis der Gioconda zur Zielscheibe eines manifestartigen ikonoklastischen Protests und formuliert zugleich sein eigenes künstlerisches Programm. Die futuristischappellative Rhetorik des Künstlers findet dabei ihre Entsprechung in der energischen Zerstörung der Mona Lisa. 8 Bruno Duborgel spricht in diesem Zusammenhang von einem »iconoc1asme iconophile«9, der eine (überkommene) Kunstauffassung zerstöre, um eine neue und, in Hinblick auf die Malerei selbst, reinere Auffassung zu befördern. lO Malewitsch reduziert die Reproduktion des Gemäldes drastisch auf einen schmalen Streifen, der nur noch Gesicht und Dekollete der Gioconda zeigt. In der Abfolge von drei ikonoklastischen Gesten drückt er seine Ablehnung der Akademie und ihrer traditionalistischen Kunstauffassung aus. Zunächst streicht er Gesicht und Dekollete mit zwei energischen Kreuzen durch. Danach zerreißt er das Papier. 11 Schließlich überklebt er die Brust mit einem Streifen aus einer Zeitung. 12 Zusätzlich verdrängt Malewitsch die Mona Lisa physisch »von dem ihr gebührenden zentralen Platz«,13 indem er sie wie ein Anhängsel in den Winkel zwischen den suprematistischen Formen einklebt. Die Mona Lisa wird zur Marginalie degradiert; stattdessen rückt die suprematistische Formenwelt ins Zentrum der Komposition: Malewitsch verschiebt den Schwerpunkt von der gegenständlichen zur ungegenständlichen Kunst. Die Haltung des Künstlers ist aggressiv und zerstörerisch - Andrei Nakov bezeichnet dies als »fureur iconoc1aste«14
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Marcade, Jean-Claude: Nouveaux aspects de la recherche maIevitchienne. In: MaIevitch, Kazimir Severinovitch: Les arts de la representation. Izologia. Quatorze artic1es traduits de l'Ukrainien et annotes par Jean-Claude et Valentine Marcade suivi de Jean-Claude Marcade Nouveaux aspects de la recherche Ma!evitchienne. Ecrits IH. Lausanne 1994. S. 160-181. Hier S. 174. Für einen Eindruck von Malewitschs Rhetorik vgl. seine kunsttheoretische Schrift Du cubisme au suprematisme en art, au nouveau realisme de la peinture en tant que creation absolue (1915). In: MaIevitch: Ecrits I, S. 33-43. Duborgel, Bruno: Malevitch. La question de l'icone. Saint-Etienne 1997 (= Centre Interdisciplinaire d'Etudes et de Recherches sur l'Expression Contemporaine, Travaux XC). S. 39. Zum Suprematismus vgl. Malewitsch, Kasimir: Die gegenstandslose Welt. München 1927 (= Bauhausbücher 11). Marcade, Jean-Claude: Qu'est-ce que c'est le Suprematisme? In: MaIevitch, Kazimir Severinovitch: La lumiere et la couleur. Textes de 1918 a 1926. Traduits du russe par Jean-Claude Marcade et Sylviane Siger. PrMace par Jean-Claude Marcade. Ecrits IV. Lausanne 1993. S. 7-36. Gerade diese Dreizahl macht es wahrscheinlich, dass die Reproduktion von Malewitsch bewusst zerrissen wurde. Dies als Argument gegen den Hinweis bei Fauchereau, die Reproduktion der Mona Lisa im Bild sei möglicherweise nicht immer zerrissen gewesen. Vgl. Fauchereau: MaIevitch, S. 116. Duborgel spricht von einer vierfachen Geste, zählt dabei jedoch jede der beiden Durchstreichungen einzeln. Vgl. Duborgel: Malevitch, S. 39. Schmidt, Ulrike Kristin: Kunstzitat und Provokation im 20. Jahrhundert. Weimar 2000. S.47. Siehe Anm. 4. 129
-, zugleich weist sie aber auch eine »dimension d'humour et de derision«15 auf: Diese zeigt sich beispielsweise in der Kombination der Mona Lisa mit der Aufschrift »nepe,naeTCH KBapTHpa«.16 Schließlich noch ein Wort zu Malewitschs antiakademischer Haltung: Er bezeichnet die Akademie polemisch als »trou d'eau des detritus«l? oder auch als »une cave moisie dans laquelle se flagelle l'art« 18. Die Akademie sei eine' Folterkammer, deren Werkzeug der Idealismus sei, »une exigence du gout esthetique.«19 Ohne die gegenständliche Kunst der Vergangenheit als solche abzulehnen oder zu verachten, kritisiert er die konservative akademische Praxis, im künstlerischen Unterricht die Ideale der älteren Kunst zu perpetuieren. Dieser zurückgewandte Blick habe mit dem modemen Leben nichts gemein. 20 Er verwendet die Reproduktion der Gioconda als Repräsentantin der vom akademischen und bourgeoisen Kunstgeschmack so verehrten künstlerischen Prinzipien der Renaissance und konfrontiert diese mit seinen eigenen avantgardistischen Kunstvorstellungen. 21
2
Duchamp
Marcel Duchamps verbessertes Ready-made (Ready-made rectifie)22 L.H O. 0. Q. wird nicht zu Unrecht als »Ikone des Dadaismus«23 bezeichnet. Der Künstler verwendet eine qualitativ minderwertige Reproduktion der Gioconda in Postkartengröße. Er verändert Leonardos Komposition, indem er der Portraitierten mit einigen Bleistiftstrichen ein spitzes Kinnbärtchen und einen gezwirbelten Schnurrbart ins Gesicht setzt. Auf dem rechten unteren Rand der Reproduktion bringt er seine Signatur mit Jahreszahl an und nutzt die linke Seite entsprechend fiir die Angabe des Entstehungsortes: »Paris«. An den unteren Rand des Druckes klebt Duchamp einen weißen Streifen -
15 Duborgel: Malevitch, S. 39. 16 Vgl. ebd. Die Worte sind zu übersetzen als »Die Wohnung wird übergeben«. Wer hier auszieht, ist natürlich die Gioconda selbst. 17 Ma16vitch: Ecrits I, S. 49. 18 Ebd., S. 58. 19 Ebd., S. 52 u. 69. 20 Vgl. Schmidt: Kunstzitat und Provokation, S. 49 u. 52. 21 Vgl. Belting, Hans: Das unsichtbare Meisterwerk. Die modemen Mythen der Kunst. München 1998. S. 322 u. 346. Lüthy, Michael: Andy Warhol. Thirty Are Better Than One. Frankfurt a. M./Leipzig 1995. S. 33-34. 22 Eine umfassende Darstellung des Duchampschen Ready-made fmdet sich bei Daniels, Dieter: Duchamp und die anderen. Der Modellfall einer künstlerischen Wirkungsgeschichte in der Modeme. Köln 1992. Hier besonders Teil A, Kapitel IH. Das >Ready-made rectifie< stellt eine Sonderform dar: »A readymade produced by >correcting< or in other ways introducing slight adjustments and/or alterations to a given object in order to complete it«. Naumann, Francis M.: Marcel Duchamp. The Art ofMaking Art in the Age ofMechanical Reproduction. New York 1999. S. 299. 23 Daniels: Duchamp, S. 188. 130
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wahrscheinlich um eine ursprüngliche Beschriftung zu verbergen. 24 Darauf notiert er den neuen Titel mittig in plakativen Großbuchstaben. Durch seine Signatur auf der Mona Lisa sowie durch die Angabe von Datum, Entstehungsort und Titel erklärt Duchamp die meisterliche Arbeit Leonardos zu seiner eigenen Leistung. Damit reduziert er dessen Werk auf eine Vorarbeit, die erst durch seine eigene Bearbeitung zu einem vollwertigen Kunstwerk wird. 25 Wenden wir uns zunächst der rätselhaft abgekürzten Bildunterschrift zu. In einer Vortragsnotiz gibt Duchamp an, dass die Buchstaben »wie Initialen auf französisch [I] ausgesprochen, [... ] einen riskanten Witz über die Gioconda [ergeben].«26 Auch im Gespräch mit Pierre Cabanne deutet er an, dass die Abkürzung phonetisch zu lesen sei - und zwar auf Französisch oder in einer anderen Sprache. 27 In seinem Nachlass schließlich fmdet sich eine explizite Auflösung der kryptischen Buchstabenfolge: »LHOOQ-Elle [I] a chaud au cul comme - des ciseaux ouverts«.28 Tatsächlich kommt man zu diesem Ergebnis, wenn man die einzelnen Buchstaben französisch und mit entsprechender Liaison ausspricht. Das Resultat [EI] [afl [0] [0] [ky] ist homophon zu »Elle a chaud au cul«, einer Obszönität von der Bedeutung »Ihr ist heiß am Hintern« oder, wenn man einen vulgäreren Ausdruck fiir den Körperteil verwenden möchte, der dem französischen Begriff näher kommt, »am Arsch«.29 »Elle a chaud au cul« ist eine ordinäre Bemerkung über das Bild, die über die Halbfigurdarstellung der (bärtigen) Mona Lisa hinausgeht. Immerhin werden hier Aussagen über das Gesäß der Portraitierten gemacht, das auf der Tafel naturgemäß nicht zu sehen ist. Sichtbar ist hingegen die gezeichnete Gesichtsbehaarung, die einerseits als probates Mittel der Verspottung eine dadaistische Geste darstellt, andererseits und damit zusammenhängend das Geschlecht der/des Dargestellten zweifelhaft erscheinen lässt. Die Bärte ergänzen insofern den Titel, als dieser auf den Anus als homosexuelle erogene Zone hinweist und dabei gleichzeitig im »L« das weibliche Pronomen bewahrt. Duchamp scheint sich in einen Diskurs einzureihen, der das Portrait der Lisa deI Giocondo seit Sigmund Freuds Aufsatz Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci mit Leonardos angeblicher
24 Vgl. Naumann, Francis M.: Marcel Duchamp's L.H.O.O.Q. The Making of an Original Replica. In: Naumann, Francis M.; Moeller, Achim: Marcel Duchamp. The Art of Making Art in the Age of Mechanical Reproduction. Ausstellungskatalog Achim Moeller Fine Art, New York, 2.10.1999-15.1.2000. New York 1999. S. 10-15. Hier S. 10. 25 Vgl. Zuschlag, Christoph: Vom Kunstzitat zur Metakunst. Kunst über Kunst im 20. Jahrhundert. In: Mai, Ekkehard; Wettengi, Kurt (Hg.): Wettstreit der Künste. Malerei und Skulptur von Dürer bis Daumier. Ausstellungskatalog Haus der Kunst, München, 1.2.5.5.2002 und Wallraf-Richartz-Museum, Köln, 25.5.-25.8.2002. Wolfratshausen 2002. S. 171-189. Hier S. 173. Lüthy: Warhol, S. 34-36. 26 Stauffer, Serge (Hg.): Marcel Duchamp. Die Schriften. Zu Lebzeiten veröffentlichte Texte. Zürich 1994. S. 246. 27 Vgl. Cabanne, Pierre: Gespräche mit Marcel Duchamp. [Köln 1972] (= Spiegelschrift 10). S.93.
28 Stauffer: Duchamp Schriften, S. 192. 29 Da die französische Aussprache der Abkürzung rur die Interpretation am fruchtbarsten ist und zudem am plausibelsten erscheint, soll hier auf eine Darstellung anderer Möglichkeiten verzichtet werden.
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Homosexualität in Verbindung bringt. 30 Man kann jedoch nicht einfach annehmen, Duchamps Werk sei das Ergebnis seiner Lektüre Freuds, zumal dieser die Weiblichkeit der Portraitierten nicht in Frage stellt. Es lässt sich nicht zweifelsfrei nachweisen, dass der Künstler den Aufsatz im Jahre 1919 bereits rezipiert hatte. Dass dies später der Fall war, beweisen Duchamps Ausfiihrungen im Gespräch mit Herbert Crehan. 31 Interessant ist die Andeutung, seine Entdeckung der männlichen Züge der Mona Lisa sei gewissermaßen nur ein Sekundäreffekt der dadaistischen Handlung gewesen. Zunächst habe er den Bart angebracht und dann entdeckt, wie maskulin das Frauenbildnis plötzlich wirkte. 32 Dies impliziert jedoch noch mehr, denn »[d]as Kuriose an diesem Schnurrbart und dem Ziegenbärtchen ist, daß die Mona Lisa, wenn man sie anschaut, zu einem Mann wird. Es ist nicht eine als Mann verkleidete Frau; es ist ein wirklicher Mann, und das war meine Entdeckung, ohne das damals zu bemerken.«33 Duchamp gibt zwar vor, die wahre - männliche - Identität der Mona Lisa zu enttarnen, hebt jedoch bildimmanent die Ambivalenz zwischen weiblichen und männlichen Merkmalen nicht auf: Dem Betrachter zeigt sich eine androgyne Gestalt mit Brüsten und gepflegtem Barthaar in femininer Kleidung. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die durch den Titel vermittelte obszöne Bemerkung mit homoerotischer Konnotation in enge Wechselwirkung mit dem Bild bzw. den Berichtigungen tritt, die Duchamp an der Mona Lisa vorgenommen hat. Für den ambivalenten Charakter des Werkes ist dies von entscheidender Bedeutung. Der Titel verliert somit den lediglich beschreibenden Charakter und wird zum wesentlichen Bestandteil des Kunstwerkes. Francis Naumann spricht von einem »verbal-visual pun«.34 Bei allen Parallelen zu Freud geht Duchamp über diesen weit hinaus, indem er die Gioconda, diesen »Fetisch einer bürgerlichen Kunstauffassung«35 durch eine »Kombination von Ready-made und ikonoklastischem Dadaismus«36 verunglimpft. Tatsächlich erwies sich das Jahr 1919 insofern als günstiger Zeitpunkt für eine solche künstlerische Provokation, als damals der 400. Todestag Leonardos begangen wurde.
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matischen Titel Thirty Are Better Than One. 37 Es handelt sich um eine Leinwand, die Warhol mittels des von ihm bevorzugten Siebdruckverfahrens mit dreißig SchwarzWeiß-Abbildungen der Mona Lisa versieht. Er wählt hierfiir eine Anordnung in einem Raster von fünf Reihen zuje sechs Bildern. Wenngleich die Abmessungen von Thirty Are Better Than One beträchtlich sind - 279,4 x 240 cm -, besitzen die einzelnen Abbildungen nur etwa drei Viertel der Größe des Originals. 38 Thirty Are Better Than One präsentiert die Gioconda in charakteristischer Weise: Warhol nimmt keine Änderungen an der Vorlage vor, doch druckt er die Mona Lisa in dreißigfacher Ausführung, und zwar in einer Weise, die den Unterschied zwischen Reproduktion und Original deutlich hervortreten lässt. 39 Die Qualität der einzelnen Bilder gewährleistet gerade noch eine Erkennbarkeit der Vorlage. 40 Man könnte jedoch auch von einer Verfremdung der Gioconda sprechen. 41 Im (Euvre Warhols nimmt Thirty Are Better Than One insofern eine Sonderstellung ein, als das Werk zu einer Gruppe gehört, deren Sujet ein Gegenstand der Kunstgeschichte ist. Es handelt sich dabei um die erste und für eine relativ lange Zeit einzige Rezeption eines älteren Kunstwerkes in Warhols Schaffen, bevor er sich diesem Thema in seinem Spätwerk vermehrt widmet. 42 Thirty Are Better Than One ist gewissermaßen der Präzedenzfall für Warhols Kunstrezeption. Aspekte der Gioconda, die fiir Malewitsch und Duchamp von Bedeutung waren, spielen hier jedoch nur eine untergeordnete Rolle. Warhol interessiert sich vielmehr fiir den im Jahre 1963 in besonderer Weise aktuellen >Star< Mona Lisa: Als Leihgabe des französischen Präsidenten Charles de Gaulle an das amerikanische Präsidentenehepaar Jacqueline und John F. Kennedy wurde die Gioconda von Januar bis März zunächst in der National Gallery in Washington (0. C.) und dann im Metropolitan Museum in New York ausgestellt. In diesem politischen Kontext wurden sowohl der Transport nach Washington als auch die Eröffnungsveranstaltung und die Präsentation des Werkes zur wohldurchdachten
Warhol 37
Zu Beginn des Jahres 1963 befasst sich Andy Warhol mehrfach mit der Gioconda. Seine bedeutendste und interessanteste Arbeit in dieser Beziehung trägt den pro gram-
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Vgl. Freud, Sigmund: Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci (1910). In: Freud, Sigmund: Studienausgabe. Band X. Bildende Kunst und Literatur. Frankfurt a. M. 2000. S. 87-159. Hier S. 139-141 u. 155. Vgl. Stauffer, Serge (Hg.): Marcel Duchamp. Interviews und Statements. Stuttgart 1991. S.127-129. So Duchamp in einem Artikel von Calvin Tomkins. Vgl. ebd., S. 184. Ebd., S. 128. Naumann: L.H.O.O.Q., S. 10. Lüthy: Warhol, S. 30. Stauffer: Duchamp Schriften, S. 246.
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Die anderen Werke der Serie sind Mona Lisa, Four Mona Lisas, Mona Lisa's Hands, Colored Mona Lisa sowie zwei Drucke mit dem Titel Double Mona Lisa. Ca. 56 x 40 cm im Vergleich zu 77 x 53 cm des Originals. Beschreibungen des Werkes als »a sheet of postage stamps« (so Bourdon, David: Warhol. New York 1989. S. 162) sind also irreführend. Vgl. Lüthy: Warhol, S. 25-27. Scorzin, Pamela C.: »Warhol after Leonardo«. Der amerikanische Pop Art-Künstler in der Rolle als Rezipient und Reproduzent von Kunstgeschichte. In: Achademia Leonardi Vinci X (1997). S. 183-189. Hier S. 187a. Vgl. ebd., S. 187b. Vgl. Lüthy: Warhol, S. 73-74. Vgl. etwa Schellmann, Jörg (Hg.): Andy Warhol. Art from Art: Unique screenprints, drawings, and collages 1963-86. Ausstellungskatalog Exhibition Hall Edition Schellmann, Köln, 29.4.-30.9.1994. München 1994. In den Jahren 1978 und 1979 griffWarhol in zwei großen Serien von Siebdrucken, den Reversals und der Retrospective Series, nochmals auf die Gioconda zurück. (Eine vollständige Auflistung der entsprechenden Werke muss bis zur Veröffentlichung der übrigen Bände des Catalogue Raisonne durch Georg Frei und Neil Printz ein Desiderat bleiben.) 133
Inszenierung. Dabei wurde ein Aufwand von bisher ungekanntem Ausmaß betrieben. 43 Für die landesweite Begeisterung, die im Zusammenhang mit dem Aufenthalt der Mona Lisa in den USA aufkam, spielte die politische Komponente jedoch keine Rolle. V~elme?r scheint hier ein starkes »Kultbedürfuis«44 die treibende Kraft gewesen zu sem. DIes hatte selbstredend entsprechende Auswirkungen auf die Souvenirindustrie und auf die Herstellung von Reproduktionen aller Art. 45 Warhol wählt als Ausgangspunkt den spezifischen Anlass des >Staatsbesuchs< der
Mon~ Li~a. 46 Er interessiert sich jedoch für den Kult und nicht etwa für die politischen ImphkatlOnen. Sein Hauptanliegen ist in diesem Zusammenhang der Markenwert bzw. der Wert der Gioconda nach den Prinzipien der Warenwirtschaft: Dort sind 30 besser als (nur) eine. Dabei leugnet er die Originalität, die bekanntermaßen die >Aura< eines Kunstwerkes. ausmacht. 47 Hans Belting erkennt in diesem Zusammenhang einen immanenten WIderspruch: Die Mona Lisa sei in ihrer Funktion als Publikumsmagnet als Ware zu betrachten, was ihrer Eigenschaft als Original jedoch entgegengesetzt sei. arhol habe diesen Konflikt durch einen Kunstgriff gelöst, indem er die Mona Lisa mIt de~ St~kult in Zusammenhang gebracht und damit den Aspekt der medialen VerbreItun~ ms Zentrum des Interesses gerückt habe: »Der Filmstar, den jedermann und doch memand persönlich (im Original) kennt, existiert nur in den Medien, weil er außerhalb der Medien eine Privatperson wäre.«48 Warhol reagiert auf die Berühmtheit der Mona Lisa - das Meisterwerk Leonardos interessiert ihn wenig -, indem er sie unter seine Portraits von Filmstars wie Marilyn Monroe, Marlon Brando und Elizabeth Taylor, Musikstars wie Elvis Presley und Stars wie Jacqueline Kennedy einreiht. 49
Schließlich noch eine Anmerkung zum Titel: Die Formulierun§ »Thirty Are Better Than One«, ob sie von nun von Warhol selbst stammt oder nicht,5 kann als Kombination von Bildbeschreibung, Darstellung des Bildprogramms und ironischem Kommentar zur Berühmtheit der Mona Lisa verstanden werden. Sie ist insofern eine Beschreibung, als der Künstler Auskunft darüber erteilt, wie viele Abbildungen der Mona Lisa sich auf der Leinwand befinden. Zudem kann der Titel als Hinweis auf Reproduktion und Serialität in der Darstellung verstanden werden, indem Quantität (»thirty«) zum Merkmal der Qualität (»betten<) erklärt wird. 51 Die ironische Komponente ist mehrschichtig: Warhol bezieht sich auf die Berühmtheit mit all ihren Implikationen, insbesondere aber die medial vermittelte Berühmtheit - nur auf diese Weise kann man dreißig Mona Lisas auf einmal begegnen. »[E]s bleibt unentscheidbar, wofiir hier eigentlich >Thirty< beziehungsweise >One< stehen: fiir Originale, für Reproduktionen, fiir die Mona Lisa selbst?«52
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43 Vgl. etwa Zöllner, Frank: John F. Kennedy and Leonardo's Mona Lisa: Art as the Continuation of Politics. In: Kersten, Wolfgang (Hg.): Radical Art History. Internationale 44 Anthologie. Subject: O. K. Werckmeister. Zürich 1997. S. 466-479. Belting: Meisterwerk, S. 330. 45 Vgl. etwa Lüthy: Warhol, S. 24. 46 Der Catalogue Raisonne gibt einen Entstehungszeitraum des Werkes von Januar bis Februar 1963 an. Vgl. Frei, Georg; Printz, Neil (Hg.): Warhol. Paintings and Sculpture 19611963. The Andy Warhol Catalogue Raisonne. Vol. 1. LondonlNew York 2002. S. 293 u 300. . 47 D'ffi . 1 erenzlerte Analysen von Thirty Are Better Than One zitieren oft Walter Benjamins Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Zweite Fassung). In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. VII, I. Hrsg. v. RolfTiedemann und Hermann S~hweppenhäuser et al. Frankfurt a. M. 1989. S. 350-384. Unter Kunsthistorikern, die sich mIt.dem ~O. J~hrhundert befassen, erfreut sich der Text trotz seines Alters ungebrochener BelIebtheIt. WIe Naumann andeutet, lässt die historisch-kritische Objektivität dabei oft genug zu wünschen übrig. Vgl. Naumann: Duchamp, S. 24, Anm. 6. Eine differenzierte Diskll:ssion ?es Benj~m~schen Textes kann und soll hier nicht geleistet werden. Angemerkt seI nur emes: BenJamms zentrale These - nämlich, dass die Konsequenz der mechanischen Reproduzierbarkeit für das Kunstwerk im Auraverlust bestehe (vgl. Benjamin: Kunstwerk, S. 353) - ist nicht ohne Probleme auf Warhols Werk anwendbar. Vgl. Lüthy: Warhol, S.57-65. 48 Belting: Meisterwerk, S. 330-331. 49 ~~l. Lüthy: ~arhol, S. 14 u. 43. Es zeigt sich jedoch, dass zwei verschiedene AusgangspoSItionen vorlIegen: Auf der einen Seite hat man es mit Abbildern von lebenden oder bereits 134
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Interikonizität: literaturwissenschaftliche Methoden und kunsthistorische Fragestellungen
Christoph Zuschlag charakterisiert Komposition mit Mona Lisa und L.H. 0. 0. Q. unter Zuhilfenahme literaturwissenschaftlicher Terminologie als Paraphrasen der Gioconda. 53 Seine kunsthistorische Definition der Paraphrase unterscheidet sich jedoch deutlich von der literaturwissenschaftlichen, da sie eine Überformung des ursprünglichen Bildes einschließt,54 während aus literaturwissenschaftlicher Sicht eine Umdeutung bzw. Überformung gerade ausgeschlossen wird. 55
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gestorbenen Personen zu tun, die deren Image transportieren. Auf der anderen Seite steht ein Abbild von einem Gemälde. Der Umstand, dass dieses Bild das Abbild einer Frau ist, dringt dabei nicht mehr zum Bewusstsein der Betrachter vor. Allenfalls der kunsthistorisch Gebildete kann die Mona Lisa als das ansehen, was sie ist: das Portrait einer Frau, die sich Lisa deI Giocondo nannte. Die Person, die hinter dem Gemälde steht, ist für die Masse des Publikums längst in Vergessenheit geraten. Das Bild hat sich gleichsam verselbständigt. Der Titel ist auf ein Schildchen zurückzuführen, das von der zweiten Besitzerin des Werkes, Ileana Sonnabend, auf der Rückseite der Leinwand angebracht wurde. Vgl. Frei; Printz: Catalogue Raisonne, S. 293d. Zur Reproduktion vgl. ebd., S. 293c. Lüthy: Warhol, S. 67. Vgl. Zuschlag: Kunst über Kunst, S. 173. »Eine Paraphrase überformt das Vorbild mit einer eigenen Bildidee, sie wandelt die Vorlage ab, verändert und verfremdet sie, liefert eine neue Sichtweise und Interpretation.« Ebd., S.I72. Georg Michel und Axel Spree erläutern die Paraphrase (Periphrase) im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft als »jedwede Art von >Umschreibung«< und als »reine Wiedergabe des Dargestellten mit anderen Worten, aber unter möglichst weitgehender Wahrung des semantischen Gehalts.« Michel, Georg: >Periphrase<. In: Weimar, Klaus; Fricke, Harald; Müller, Jan-Dirk et al. (Hg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft 135
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Diese Divergenzen verweisen auf ein methodisches Problem bei der Übertragung literaturwissenschaftlicher Begriffe auf kunsthistorische Fragestellungen: Wenngleich die Phänomene >Text< und >Bild< grundsätzlich verschieden sind, hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass literaturwissenschaftliche und linguistische Termini in der Analyse von Kunstwerken als nützliches Instrumentarium fungieren können. Die Verwendung der Terminologie lässt sich dadurch rechtfertigen, dass der Vergleich von Texten (im Sinne von geschriebenen oder gesprochenen Äußerungen) und Bildern schon allein deshalb legitim ist, weil man auch Bilder semiotisch gesehen als Texte auffassen kann. 56 Dennoch sollen hier nicht aus semiotischer Perspektive die Unterschiede zwischen Bildern und sprachlichen Texten nivelliert werden. Man muss sich stets vor Augen halten, dass Begriffe aus der Literaturwissenschaft und Linguistik nicht vorbehaltlos und unreflektiert übernommen werden können. Texte zeichnen sich - ganz allgemein gesprochen - durch »Diskursivität« und das »zeitliche Nacheinander« der Rezeption aus. 57 Im Gegensatz dazu seien Bilder, so Ulla Fix, in ihrer »Ganzheit« auf einen »simultanen Akt des Sehens« hin ausgelegt. 58 Dies ist eine stark vereinfachende Sichtweise, die durchaus kritisch gesehen werden muss. Hier sei nur Folgendes angemerkt: Fix unterstellt dem Bild eine »simultane[], integrale[] Präsentation von Bedeutung«.59 Dabei übersieht sie allerdings, dass die im Bild präsentierte Bedeutung vom Betrachter oftmals erst in einem Akt der Interpretation erschlossen bzw. ausgeschöpft werden muss, der sich seinerseits in einem zeitlichen Nacheinander vollzieht. Malewitsch paraphrasiert die Mona Lisa Leonardos insofern, als er einen Ausschnitt des Gemäldes in Druckform übernimmt und ihn in seine eigene Komposition einklebt. So wird sie zum »Bestandteil«60 seines Kunstwerkes. Indem er die Mona Lisa zum Teil seines Manifestes der ungegenständlichen Kunst macht, überformt er die Bedeutung des Originals auf das Empfindlichste. Duchamp hingegen wählt eine vollständige Reproduktion der Mona Lisa als »Grundlage«61, auf der er seine ikonoklastische Geste anbringt. Sein Ikonoklasmus stützt sich auf den außerkünstlerischen, insbesondere erotischen Kontext der Mona Lisa. Es handelt sich dabei weniger um ein aktives Zerstö-
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(RDL). Berlin/New York 1997-2003. Bd. 111. S. 49b-5Ia. Hier S. 49b. Spree, Axel: >Interpretation<. In: RDL. Bd. 11. S. 168b-I72b. Hier S. 169a. Vgl. Fix, Ulla; Wellmann, Hans: Sprachtexte - Bildtexte. Bemerkungen zum Symposion »Bild im Text - Text und Bild« vom 6.-8. April 2000 in Leipzig. In: Dies. (Hg.): Bild im Text - Text und Bild. Heidelberg 2000. S. XI-XVII. Hier S. XVII, Anm. 1. Ebd., S. XII. Unter Diskursivität versteht man dabei die Eigenschaft, Gedanken in ihrer Abfolge und Argumentation darstellen zu können (ebd.). Dies hängt mit der grammatischen Konstitution, Linearität, und anderen spezifischen Eigenschaften des Textes zusammen. Vgl. auch Bußmann, Hadumod: Lexikon der Sprachwissenschaft. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage. Stuttgart 1990. S. 189a: >Diskurs< (1). Fix; Wellmann: Sprachtexte - Bildtexte, S. XII. Ebd., S. XI. Zuschlag: Kunst über Kunst, S. 173. Ebd.
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ren als UJ,n ein Verspotten des Originals. Man könnte hier vorläufig von einer parodistischen Paraphrase sprechen. 62 In Bezug auf ihren· bilderstürmerischen Charakter sind die bei den Werke durchaus vergleichbar, nicht jedoch in Hinblick auf die Qualität ihrer jeweiligen Bezugnahme. Auf den ersten Blick scheint es plausibel, eine Provokation des Publikums anzunehmen. 63 Während Malewitsch dies sicher intendiert - ein Manifest benötigt ein Publikum -, ist es fraglich, inwiefern dies auf Duchamp zutrifft. Er selbst stellte das Werk lange Zeit nicht aus, und selbst als es an die Öffentlichkeit kam, handelte es sich nicht um Duchamps L.H.o.o.Q., sondern um eine (nicht ganz vollständige) Nachbildung durch Francis Picabia. 64 Thirty Are Better Than One schließlich kann als Sonderform der Paraphrase gewertet werden, als Meta-Paraphrase, »ein Bild über die Bilder eines Bildes«. 65 Die Untersuchung der drei Kunstwerke hinsichtlich ihrer Qualität als Paraphrasen führt bereits zu einigen interessanten Ergebnissen. Doch bliebe zu überprüfen, inwieweit die Art und Weise der Bezugnahme detaillierter klassifiziert werden kann, so wie es Zuschlag mit seinen Unterbegriffen versucht. 66 Allerdings ist zu bedenken, dass die Bedeutungen und Geltungsbereiche der aus der Literaturwissenschaft entlehnten Be67 griffe für die Kunst schwerlich genau abzugrenzen sind. Daher und aufgrund der oben beschriebenen Analogien zwischen Bild und Text empfiehlt es sich, die Anwendbarkeit einer globaleren Theorie von Textbeziehungen (Intertextualität) auf 68 Bildbeziehungen (Interikonizität ) zu untersuchen. Dabei soll das radikale Lager poststrukturalistischer Intertextualitätstheorie (Julia Kristeva, Roland Barthes u.a.) außer
62 Theodor Verweyen und Gunther Witting definieren die Parodie im RDL als »Verfahren distanzierender Imitation von Merkmalen eines Einzelwerkes, einer Werkgruppe oder ihres Stils. [... K]onstitutive Merkmale der Ausdrucksebene eines Einzeltextes, mehrerer Texte oder charakteristische Merkmale eines Stils [werden] übernommen [... ], um die jeweils gewählte(n) Vorlage(n) durch Komisierungs-Strategien wie Untererfüllung und/oder Übererfüllung herabzusetzen.« Verweyen, Theodor; Witting, Gunther: >Parodie<. In: RDL. Bd. 111. S. 23b-27a. Hier S. 23b-24a. 63 Vgl. Zuschlag: Kunst über Kunst, S. 173. 64 Vgl. Daniels: Duchamp, S. 186. 65 Lüthy: Warhol, S. 109. Zur Meta-Paraphrase vgl. ebd., S. 41-42. 66 Zur genaueren Klassifikation von >Zitat< und >Paraphrase< nennt er die Begriffe >Variation<, >Version<, >Parodie<, >Travestie<, >Persiflage<, >Pastiche<, >Allusion< und >Hommage<. Vgl. Zuschlag: Kunst über Kunst, S. 172. 67 Vgl. Rosen, Valeska von: >Interpikturalität<. In: Pfisterer, Ulrich (Hg.): Metzler Lexikon Kunstwissenschaft. Ideen, Methoden, Begriffe. Stuttgart/Weimar 2003. S. 161-164. Hier S. 162a. Sie unterscheidet nicht durchgängig zwischen dem Intertextualitätsdiskurs auf der einen Seite und den Schlüssen, die sie daraus für die Interpikturalität zieht, auf der anderen. Hieraus ergeben sich terminologische Probleme. 68 Unter diesem Gesichtspunkt führt Zuschlag den Begriff in die Debatte ein, gibt einen Überblick über seine vorherige (teils abweichende) Verwendung in der deutschen Forschungsdiskussion und zeigt theoretische Grundlinien auf. Vgl. Zuschlag, Christoph: Auf dem Weg zu einer Theorie der Interikonizität. In: Horstkotte, Silke; Leonhard, Karin (Hg.): Lesen ist wie Sehen. Intermediale Zitate in Bild und Text. KölnlWeimar 2006. S. 89-99. Als Synonyme nennt er auch Interpikturalität und Interpiktoralität.
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Acht gelassen werden, da die Universalität ihrer Ansätze die Anwendbarkeit auf Literatur bzw. Kunstwerke allzu sehr einschränkt. 69 Wo die ganze Welt Text ist, wird der Einzeltext letztlich unkenntlich. Unter den praktikableren, da wesentlich am Einzeltext und seiner Beziehung zu anderen Texten interessierten Intertextualitätskonzeptionen aus der Literaturwissenschaft (Heinrich Plett, Susanne Holthuis, Jörg Helbig, Ulrich BroichlManfred Pfister u.a.) 70 sei hier das von Broich, Pfister und Suerbaum entwikkelte in den Vordergrund gestellt. 71
zudem auf eine intratextuelle Referenz hin, einen Verweis »auf andere, eigenständige Texte des gleichen Autors«.78 Die Systemreferenz bewegt sich auf einem abstrakteren Niveau, da sie sich in Bezügen nicht auf konkrete Einzeltexte, sondern auf Textsysteme konstituiert. Ein solches Textsystem kann auf der universalsten Ebene das System der Textualität selbst sein (auf das sich letztlich jeder Text beziehen muss), 79 in eingeschränkteren Bereichen spezielle Systeme, z.B. einzelne >klassische< Mythen oder Diskurse der Zeit. Einzeltexte sind in dieser Hinsicht nicht von einem prägnanten Einzeltext als >Urtext< abhängig, sondern stellen Aktualisierungen der virtuellen Textsysteme dar. Dabei sind folgende Arten der Bezugnahme zu unterscheiden: formale, bei denen sprachlich-strukturelle Spezifika der Textsysteme aktualisiert werden, wobei das Thema ein gänzlich anderes sein kann; thematische, bei denen gerade das Thema etwa des Diskurses unter Veränderung der formalen Spezifika übernommen wird. 80 Eine Sonderform der Systemreferenz stellt die Gattungsreferenz dar, da es prinzipiell keinen Text gibt, der sich nicht in der einen oder anderen Weise auf Gattungskonventionen (als Normsysteme) stützt. 81 Daher ist es sinnvoll, die Gattungsreferenz als gesonderten Typ von Bezüglichkeit anzusehen und die Bezeichnung >Systemreferenz< nur auf die oben genannten Beziehungen zu Mythen, Diskursen u.ä. einzuschränken. Hermeneutisch sind Gattungsreferenzen meist nur dann fruchtbar, wenn sie nicht dazu dienen, die Konventionen einfach fortzuschreiben, sondern sie zu thematisieren, zu kritisieren oder gar zu durchbrechen. 82 Nachdem nun eine literaturwissenschaftliche Intertextualitätskonzeption in groben Zügen dargestellt ist,83 bleibt zu untersuchen, inwieweit die genannten Klassifikationen auf Bilder übertragen und ftir eine Theorie der Interikonizität fruchtbar gemacht werden können. Oben sprachen wir bereits von dominanten intertextuellen Bezügen, die weniger dominanten gegenüberstehen. Analog dazu ist als dominanter interikonischer Bezug in den drei genannten Kunstwerken von Malewitsch, Duchamp und Warhol der Rückgriff auf die Mona Lisa auszumachen. Dabei treten in ihnen aber auch weniger dominante interikonische Bezüge zu anderen Vor-Bildern auf. 84 Gleichzeitig sind die dominanten interikonischen Bezüge in den drei Bildern offenkundig als Einzelbildreferenzen zu werten, da ein Bezug zu einem konkreten Bild hergestellt wird. In diesem Sinne kann der von Zuschlag als Paraphrase bezeichnete Zusammenhang in interikonischer Hinsicht als dominante Einzelbildreferenz aufgefasst werden. Nun stellt sich die
Ein Text verweist nicht immer auf (nur) einen anderen Text. 72 In der Regel gibt es einen dominanten Bezug, der vom Autor intendiert und explizit markiert ist. 73 Daneben gibt es eine Reihe weniger dominanter Bezüge, deren Grad an Intendiertheit und Explizitheit tendenziell abnimmt. Insofern kann Pfister von einem ZitatKernbereich und einer Peripherie der Intertextualität sprechen. 74 Innerhalb dieses Rahmens unterscheiden Broich, Pfister und Suerbaum drei Bezugsfelder der Intertextualität: Einzeltextreferenz, Systemreferenz und Gattungsreferenz. 75 Die Einzeltextreferenz beschreibt die Bezugnahme eines Textes auf einen anderen Text (prätext).76 Die meisten terminologisch fassbaren Bezüge sind Einzeltextreferenzen. 77 Broich weist 69 Zur Kritik an den Poststrukturalisten vg1. Pfister, Manfred: Konzepte der Intertextualität. In: Broich, Ulrich; Pfister, Manfred (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985 (= Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 35). S. 1-30. Hier S. 5-11. Fix, Ulla: Aspekte der Intertextualität In: Brinker, Klaus et. a1. (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik: ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschu,ng. BerlinlNew York 2000 (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 16, 1: Textlinguistik). S. 449-457. 70 Vg1. Plett, Heinrich F.: Intertextuality. BerlinlNew York 1991 (= Research in Text Theory 15). Holthuis, Susanne: Intertextualität. Aspekte einer rezeptions orientierten Konzeption. Tübingen 1993 (= Stauffenburg Colloquium 28). He1big, Jörg: Intertextualität und Markierung. Untersuchungen zur Systematik und Funktion der Signalisierung von Intertextualität. Heidelberg 1996 (= Beiträge zur neueren Literaturgeschichte, Folge 3, 141). Broich; Pfister: Intertextualität. 71 Vgl. Broich, Ulrich: Zur Einzeltextreferenz. In: Ebd., S. 48-52. Pfister, Manfred: Zur Systemreferenz. In: Ebd., S. 52-58. Suerbaum, Ulrich: Intertextualität und Gattung. In: Ebd., S.58-77. 72 Vgl. Broich: Einzeltextreferenz, S. 50. 73 Zur Dominanz vgl. ebd.; zur Intendiertheit und Markiertheit vgl. Pfister: Konzepte, S. 27. BroichlPfisterlSuerbaums Ansatz liegt eine Produktionsorientiertheit zugrunde. Diese lässt sich jedoch leicht in die hier favorisierte Rezeptionsorientiertheit überfuhren: Es ist nämlich der Rezipient, der die Markierung eines Bezuges identifizieren und seine Intendiertheit unterstellen muss. So kann auch von Rosen bei BroichlPfister eine Rezeptionsorientierung ausmachen. Vg1. Rosen: Interpikturalität, S. 163a. 74 Vgl. Pfister: Konzepte, S. 27. 75 Suerbaum verwendet nicht explizit den Begriff >Gattungsreferenz<. Er spricht vielmehr von »Intertextualität und Gattung«. Vg1. Anm. 71. 76 Vg1. Broich: Einzeltextreferenz, S. 49. 77 Vg1. ebd. Broich nennt hier u.a. >Zitat<, >Motto<, >Cento<, >Übersetzung<, >Bearbeitung<, >Paraphrase<. In der Einschätzung von Zitat und Paraphrase stimmt er also mit Zuschlag überein, wenngleich dieser sie, wie oben angedeutet, als Oberbegriffe verstanden wissen
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Ebd., S. 50. Vgl. Pfister: Systemreferenz, S. 53. Vgl. ebd., S. 54-57. Insofern sind, analog zur Systemreferenz, auch bei der Gattungsreferenz tendenziell formale von tendenziell inhaltlichen Bezügen zu unterscheiden. 82 Vgl. ebd., S. 56. 83 Weitere Details des Intertextualitätskonzeptes, wie Arten und Grade der Markiertheit, die Verflechtung mit Rezipientenerwartungen, Textkonstitution u.a. sollen in diesem Rahmen nicht erörtert werden. Vg1. hierzu Helbig: Intertextualität und Markierung, sowie Broich, Ulrich: Formen der Markierung von Intertextualität. In: Broich; Pfister: Intertextualität, S. 31-47. Der Frage, ob und inwieweit diese Aspekte in eine Interikonizitätstheorie überführt werden können, muss in größerem Rahmen nachgegangen werden. 84 >Vor-Bild< dient hier als Analogon zum Begriff >Prätext<.
will.
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Frage, inwiefern auch die anderen Kategorien (Systemreferenz und Gattungsreferenz) auf die Interikonizität zu übertragen sind. Eine interikonische Systemreferenz wäre zu verstehen als der Bezug eines Bildes auf ein Bildsystem, konkret einen spezifisch bildlich verfassten oder mit Bildern operierenden Diskurs. Eine solche interikonische Systemreferenz lässt sich relativ dominant in Thirty Are Better Than One nachweisen. Warhol ordnet das Werk durch intraikonische Verweise (im Sinne von Verweisen auf andere eigene Bilder)85 formaler und insbesondere thematischer Natur in seine Galerie der Stars ein. Die formalen Bezüge, etwa Siebdruckverfahren und die Verwendung fotografischer Druckvorlagen, sowie die Wahl eines bestimmten Bildausschnitts und seine Vergrößerung etc. verbinden einen Großteil von Warhols Werken miteinander. Der intraikonische Bezug speziell auf die Starportraits wird von thematischen Charakteristika getragen: Es ist die Mona Lisa als Star, die dargestellt wird. Der Bezug auf den Diskurs um den Starkult ist eine genuine Systemreferenz, da dieser Diskurs überwiegend auf bildlicher Ebene geführt wird. Der Starruhm selbst hängt wesentlich von der bildlichen Präsenz der Starfiguren in Film, Fernsehen, Presse etc. ab. Insofern kann der Starkult als BildsystemlDiskurs gelten, zu dem die Starportraits und mithin auch Thirty Are Better Than One in Systemreferenz stehen. Vergleichbares lässt sich auch bei Malewitsch und Duchamp feststellen, etwa wenn sich Komposition mit Mona Lisa mit seinen alogischen Bildelementen nicht nur intraikonisch auf einzelne andere Werke Malewitschs bezieht, sondern durch sie auch eine Systemreferenz auf den Diskurs >Avantgarde< entstehen lässt. Auch bei Duchamp sind dominante intraikonische Bezüge erkennbar. Während bei Warhol spätere Bearbeitungen der Mona Lisa auf die Mona Lisa-Serie von 1963 insgesamt verweisen und damit auch auf Thirty Are Better Than One, finden sich bei Duchamp intraikonische Einzelbildreferenzen späterer Versionen der L.H 0. 0. Q. auf das >Original< von 1919. 86 Bei Warhol fmdet ein Bezug auf eine Gruppe von Werken statt, bei Duchamp auf ein Einzelbild. Bei Duchamp fällt es schwer, eine starke Systemreferenz namhaft zu machen: Im Vergleich zu anderen Werken, wie Z.B. Fountain (1917), wird bei L.H 0. 0. Q. der Diskurs >Ready-made< nicht so sehr in den Vordergrund gerückt. 87 Im angemalten Schnurr- und Kinnbart kann man allenfalls eine Systemreferenz auf den Dadaismus erkennen, in dem diese respektlose Geste recht populär war. 88 Wie im Abschnitt zu L.H 0. O. Q. gezeigt wurde, bestehen auch starke Bezüge zu einem allgemeinen Mona Lisa-Diskurs, der die bürgerliche Bewunderung für das Gemälde ebenso umfasst wie das Interesse Freuds an Leonardos Gemälde. Dieser Diskurs ist jedoch nicht so sehr 85 Gemeinhin werden solche Phänomene als >Selbstzitate< bezeichnet. 86 Es sind dies L.H 0. o.Q. (1930, Replik), die Replikate in Duchamps »Koffermuseum« La Bofte-en-Valise. De ou par Marcel Duchamp/Rrose 8elavy (Serien A-G, 1941-1968), Schnurrbart und Bart der L.H 0. o.Q. (1941), L 'envers de la peinture (ca. 1955), L.H 0. 0. Q. (1958), Mona Lisa (1960), L.Ho.o.Q. (1964), rasee L.H 0. o.Q. (1965) und Mona Lisa auf deutscher Briefmarke (ca. 1967). 87 Immerhin bezieht sich Duchamp auch in keinem anderen Ready-made so offensichtlich auf ein anderes Kunstwerk wie in L.H 0. 0. Q. 88 Es sei auf eine Reihe von Werken Jean Arps verwiesen, der den Schnurrbart als künstlerisches Element schätzte. Vgl. etwa seine Lithographie Schnurr-Hut (1918). Dazu Spector, Jack 1.: Duchamp's Androgynous Leonardo: »Queue« and »Cui« in L.H 0. o.Q. In: Source 11, 1 (1991). S. 31-35. Hier S. 33b. 140
bildlich als vielmehr mündlich und schriftlich verfasst. Man kann hier von einer intermedialen Systemreferenz sprechen. Bevor wir uns den Gattungsreferenzen zuwenden, sei noch ein Spezialfall der Referenz bei Malewitsch und Duchamp angedeutet. Es handelt sich um intraikonische Bezüge, die durch >Textzitat< oder sprachliche Bezugnahme auf ein Bildelement entstehen. Bei Malewitsch wird durch die Wörter »lJaCTHlJHOe 3aTMeHie« ein Bezug zwischen Komposition mit Mona Lisa und Ein Engländer in Moskau hergestellt. Wenngleich in Ein Engländer in Moskau die Schriftzeichen eher als Bildelemente gesehen werden können als in Komposition mit Mona Lisa, ist der Bezug dennoch vollständig formal-thematisch: Die Schriftzeichen sind dieselben, ebenso die Bedeutung der Wörter. Da hier ein intraikonischer Bezug über Schriftzeichen und damit über Text hergestellt wird, liegt der Sonderfall einer Einzelbildreferenz mittels eines anderen Mediums vor. Bei Duchamp findet sich zum einen ein intraikonischer Bezug zwischen 89 Bildelementen desselben Bildes: Löst man die Abkürzungsreihe der Bildunterschrift wie oben beschrieben auf, so verweist das »L« (»elle«) auf die im Bild dargestellte 9o Person der Mona Lisa. Zum anderen ist dieser Bezug aber wesentlich mittels textueller und semantischer Mittel herzustellen: Man muss wissen, dass »elle« das französische weibliche Personalpronomen ist, um den Bezug herstellen zu können. Zum dritten ist die Mona Lisa durch den Bart >vermännlicht<: Der Zusammenhang zwischen »elle« und der (vermännlichten) Mona Lisa ist damit wieder unklar. 91 Dieses Wiederaufheben des Bezugs im Spannungsfeld von Text und Bild hat einen komischparodistischen Effekt. Wie für Texte gilt auch für Kunstwerke, dass sie nicht ohne (mindestens) eine Gattungsreferenz bestehen können. Gattungsreferenzen sind, wie bereits gezeigt, meist da von Interesse, wo Gattungsaspekte berührt, in Frage gestellt oder durchbrochen werden. Dies ist bei Malewitsch ebenso der Fall wie bei Duchamp und Warhol. In jedem der drei Kunstwerke liegt eine Mischung der Gattungen vor. Komposition mit Mona Lisa verlässt als Collage das Bildsystem Malerei. Warhol arbeitet mit der Technik des Siebdrucks auf Leinwand an der Schnittstelle zwischen den Bildsystemen Druckgraphik und Malerei. Duchamp verwendet in L.H 0. 0. Q. zwar das künstlerische Ausdrucksmittel der Graphik, doch kann das Werk kaum als reine Graphik bezeichnet werden. Anders als bei den beiden anderen Künstlern tritt das Bildsystem der Malerei nur in Gestalt der Reproduktion in Erscheinung, auf der Duchamp arbeitet.
89 Hier wird vom bisherigen Gebrauch des Begriffs >Intraikonizität<, die aufBroichs Konzept von Intratextualität beruht, abgewichen. Er sei an dieser Stelle eher in Anlehnung an Holthuis verstanden, die Verweise innerhalb ein und desselben Textes als intratextuell auffasst. Dazu und zu Problemen der Abgrenzung vgl. Holthuis: Intertextualität, S. 44-45. Eine genaue Ausdifferenzierung ist nur im Rahmen einer umfangreicheren terminologischen Untersuchung möglich. 90 »L.H.O.O.Q.« wird hier natürlich als Titel mit kommentierender Funktion aufgefasst. 91 Noch komplizierter gestalten sich die Bezüge in rasee L.Ho.O.Q. Erst durch den Text des Titels wird ein Zusammenhang mit L.Ho.o.Q. (1919) hergestellt. Dieser dominante intraikonische Bezug tritt dann an die Stelle eines exklusiven dominanten interikonischen Bezugs der (abgesehen vom Titel unveränderten) Reproduktion zum Original Leonardos. 141
Durch die Mischung der Gattungen gerät die Frage des Bildsystems in den V ordergrund. In diesem Zusamme~ang gewinnt der. o~en ~rwähnte d.omin~nte Bezug der drei Werke auf die Mona Llsa Leonardo da VmcIs eme neue DImensIOn: Es besteht ein Bezug auf die Mona Lisa in ihrer Eigenschaft als Gemälde. Malewitsch, Duchamp und Warhol kommen mit ihrer Mischung verschiedener Bildsysteme zu einer kritischen Bewertung des Bildsystems Malerei. Dies geschieht mit unterschiedlichen Graden an Intensität: Bei Komposition mit Mona Lisa ist der Anteil von genuiner Mal~rei am Werk sehr hoch. Warhol dagegen zieht es vor, seine Leinwände zu bedrucken und nicht zu bemalen. Das Bildsystem Malerei erscheint hier also in transzendierter Form. Bei Duchamp tritt es, wie bereits gesehen, materialiter gar nicht mehr auf, sondern nur noch im Zusammenhang mit der Einzelbildreferenz. Bei aller Unterschiedlichkeit, die die Gattungsreferenzen bei Malewitsch, Duchamp und Warhol aufweisen, wirken sie als Kommentar zum Bildsystem Malerei, in dem Leonardos Werk verfasst ist. Insofern kann man von >Kunst über Kunst< sprechen. Auf der Grundlage dieser Beobachtungen können weitere Überlegungen angestellt werden. Ein interessanter Punkt wäre die Untersuchung der dominanten interikonischen Bezüge im Hinblick auf die Behandlung des Vorbildes: Ein eher ironischdestruktiver Bezug würde ein Werk als Parodie qualifizieren, ein nicht ironischer und zumindest teilweise affirmativer Bezug als Kontrafaktur. 92 Nach dieser vorläufigen Qualifikation könnten alle drei hier behandelten Kunstwerke in unterschiedlichem Maße als Parodien bezeichnet werden. 93 - Bei diesem Ausblick möchte ich es hier belassen.
ben und dabei eine bloße Umetikettierung vorzunehmen. 94 Gerade dort, wo Bild und Text divergieren, werden Neukonzeptionen erforderlich: Nicht zuletzt liegt darin auch der Reiz eines solchen Unterfangens.
Im vorliegenden Beitrag wurden einige Grundzüge der Interikonizität aufgezeigt und am Beispiel dreier Kunstwerke illustriert. Es zeigte sich, dass eine derartige interikonische Analyse eine zweckmäßige Ergänzung zur klassischen kunsthistorischen Werkanalyse darstellt. Eine Synthese aus Werkanalyse und interikonischer Analyse wäre in größerem Umfange zu leisten, als es hier möglich ist. Bereits auf den ersten Blick ist deutlich geworden, dass sich Malewitsch, Duchamp und Warhol auf Leonardos Gioconda beziehen. All diese Werke entstammen jedoch unterschiedlichen künstlerischen Bewegungen und grundverschiedenen soziokulturellen Zusammenhängen und so stellt sich die Frage, wie man sie einander objektiv gegenüberstellen kann, ohne den sprichwörtlichen Fehler zu machen, >Äpfel mit Birnen zu vergleichen<. Das methodische Instrumentarium aus dem Bereich der Interikonizität bietet hierfiir formale Kriterien und ermöglicht den Zugang zu einer Metaebene, auf der eine qualifizierte vergleichende Interpretation möglich ist. Es wird in Zukunft notwendig sein, das System weiter auszuarbeiten. Ziel soll dabei nicht etwa sein, lediglich textbasierte Theorien für die Analyse von Kunst umzuschrei94
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Zur Kontrafaktur vgl. Verweyen, Theodor; Witting, Gunther: >Kontrafaktur<. In: RDL. Bd. 11. S. 337a-340. Hier S. 337a. Die klare Abgrenzung von Parodie und Kontrafaktur ist allerdings problematisch. Vgl. ebd., S. 338a u. 339a. Zu Thirty Are Better Than One als Parodie vgl. Belting: Meisterwerk, S. 332. Bowlt betrachtet Komposition mit Mona Lisa als Parodie. Vgl. Bowlt, John E.: H2S04: Dada in Russia. In: Foster, Stephen C. (Hg.): Dada/Dimensions. Ann Arbor (Michigan) 1985. S. 221-248. Hier S. 232.
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Zuschlag weist darauf hin, dass eine Theorie der Interikonizität die medialen Besonderheiten von Text und Bild sowie ihre unterschiedlichen Qualitäten berücksichtigen muss. V gl. Zuschlag: Interikonizität, S. 98. Die Kritik Julia Gelshorns, die sich unmittelbar auf seinen Text bezieht, trifft insofern ins Leere, als sie Zuschlag unterstellt diesen Umstand nicht zu beachten, und seinen Ansatz zur Interikonizität zur gleichen Kategorie rechnet wie Valeska von Rosens Interpikturalität. Es sei von Rosens Ansinnen »eine Theorie der >Interpikturalität< [ ... ] durch reine Übertragung der literaturwissenschaftlichen Begriffe erreichen zu wollen«. Gelshorn, Julia: Inhalt auf Reisen. Zur Lesbarkeit bildlicher Referenzen bei Rosemarie Trockel und Martin Kippenberger. In: Horstkotte; Leonhard: Lesen ist wie Sehen, S. 133-153. Hier S. 151 u. Anm. 55. Zu von Rosen siehe auch oben, Anm. 67. 143
Abbildung 1: Kasimir Malewitsch Partielle Sonnenfinsternis. Komposition mit Mona Lisa (1914) Abbildung 2: Kasimir Malewitsch Ein Engländer in Moskau (1914)
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Abbildung 4: Andy Warhol Thirty Are Bettel' Than One (1963) Abbildung 3: Marcel Duchamp L.H.o.o.Q. (1919)
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Abbildungsnachweis
Kasimir Malewitsch Partielle Sonnenfinsternis. Komposition mit Mona Lisa (1914) Öl, Graphit, Collage auf Leinwand 62 x 49,5 cm Staatliches Russisches Museum, st. Petersburg Fauchereau, Serge: Kazimir Malevitch. Paris 1991. S.117.
Kasimir Malewitsch Ein Engländer in Moskau (1914) Öl auf Leinwand 88 x 57 cm Stedelijk Museum, Amsterdam Fauchereau, Serge: Kazimir Malevitch. Paris 1991. S.119.
MarceiI>uchamp L.Ho.o.Q. (1919) Rectified Readymade: Farblithographie; Schnurrbart, Kinnbart und Titel sind in Graphit hinzugefiigt 19,7 x 12,4 cm Privatsammlung, Paris Szeemann, Harald (Hg.): MarcelI>uchamp. Ausstellungskatalog Museum Jean Tinguely, Basel, 20.3.-30.6.2002. Ostfildern-Ruit 2002. S.101.
AndyWarhol Thirty Are Better Than One (1963) Siebdruckfarbe auf Leinen 279,4 x 240 cm The Brant Foundation, Greenwich (Connecticut) Bastian, Heiner (Hg.): Andy Warhol. Retrospektive. Ausstellungskatalog Neue Nationalgalerie, Berlin, 2.10.2001-6.1.2002 und Tate Modem, London, 4.2.31.3.2002. Köln 2001. S.151.
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Stefan Wieczorek (Literaturwissenschaft)
Von der Intertextualität zur Intennedialität. Tendenzen der Gegenwartsliteratur am Beispiel von W.G. Sebalds Erzählung Dr. Henry Selwyn
Einfiihrung: Literatur und Fotografie Während die Medienbeziehung von Literatur und Fotografie im 19. Jahrhundert und bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts weitgehend von I>istanz geprägt wurde, einhergehend mit der Verweigerung des Kunststatus fiir die Fotografie, l hat die Gegenwartsliteratur die Fotografie als Eine andere Art zu erzählen 2 entdeckt. In Büchern von Autoren wie W.G. Sebald, Günter Herburger, Monika Maron, Wilhelm Genazino oder Marlene Streeruwitz sind Fotografien mehr als Illustrationen, sie erweitern traditionelle Erzählmöglichkeiten und werden Anlass zur Reflexion medialer Prämissen. 3 Von der Intertextualität wird so der Schritt zur Intermedialität vollzogen. In diesem Essay soll am Beispiel von W.G. Sebalds Erzählung Dr. Henry Selwyn aus Die Ausgewanderten (1992) aufgezeigt werden, welche Konsequenzen sich fiir Lektüre und InteTretation aus den Verflechtungen von Intertextualität und Intermedialität ergeben. Begrifflich werden im Folgenden zwei Aspekte heuristisch unterschieden, die häufig synonym gebraucht werden: Zum einen die Intermedialität, bei der die Einbindung der Materialität des fotografischen Mediums vorausgesetzt werden soll, zum anderen die Text-Foto-Beziehung, fiir die schon eine Paraphrasierung oder Anspielung auf das visuelle Medium ausreichend ist. I>ie Ablehnung des neuen Mediums Fotografie im 19. Jahrhundert durch die Literatur beruhte nicht ausschließlich auf ästhetischen Urteilen, auch wenn mit solchen vordergründig die I>ebatte gefiihrt wurde. Vielmehr brachte die Fotografie die Grenzziehungen der etablierten Künste ins Wanken, forderte sie zu Positionierung und Legitimierung auf. Auf diesem Hintergrund sind die ersten Sätze des Romans Pfisters Mühle von Wilhelm Raabe aus dem Jahr 1884 zu verstehen: I
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Einen fundierten Überblick bietet Koppen, Erwin: Literatur und Photographie. Stuttgart 1987. So der Titel eines Foto-Text-Bandes von Berger, John; Mohr, Jean: Eine andere Art zu erzählen. Frankfurt am Main 2000. Wobei anzumerken ist, dass diese Reflexion bei manchen Autoren, wie W.G. Sebald, prägend für das Werk ist, bei anderen der genannten Autoren konzentriert sie sich auf bestimmte Projekte. Teile des Vortrages wurden zuvor in einem W.G. Sebald-Sonderband der niederländischen Zeitschrift Armada publiziert: Wieczorek, Stefan: De tot springens toe vastgehouden aanblik. Verstrengelingen van intennedialiteit en intertekstualiteit aan de hand van W.G. Sebalds verhaal »Dr. Henry Selwyn«. In: Annada. Tijdschrift voor wereldliteratuur 11 (2005) 11. Jg. S. 10-20. 149
»Ach, noch einmal ein frischer Atemzug im letzten Viertel dieses neunzehnten Jahrhunderts! Noch einmal sattelt mir den Hippogryphen; - ach, wenn sie gewußt hätten, die Leute von damals, wenn sie geahnt hätten, die Leute vor hundert Jahren, wo ihre Nachkommen das >alte romantische Land< zu suchen haben WÜfden!«5 Der Erzähler wünscht sich in den Sattel des Hippogryphen, jenes geflügelten Kunstgeschöpfs aus Pferdeleib und Greifenkopf, verwandt mit dem Pegasus, und Symbol der künstlerischen Phantasie. Diese Eröffnung des Romans, betitelt mit Erstes Blatt und Von alten und neuen Wundern, stellt eine fruchtbare Stelle für literaturwissenschaftliehe Intertextualitätsforschung dar: Könnte man bereits den Verweis >ach, wenn sie geahnt hätten, die Leute vor hundert Jahren< als einen Hinweis auf einen Prätext nehmen, so sind die folgenden Zitatzeichen deutliche Marker. Später wird der Prätext als Christoph Martin Wielands Versepos Oberon identifiziert. Der Kontext des Zitats ist folgender: »Noch einmahl sattelt mir den Hippogryfen, ihr Musen / Zum Ritt ins alte romantische Land!« (1. Gesang).6 Bei Wieland hat diese Bitte an die Musen noch Erfolg, die Handlung des Oberon führt ins märchenhafte Bagdad, bietet Ritterabenteuer und den Beistand des Feenkönigs. Wielands Text erschien zuerst 1780, die Anspielung des Erzählers >die Leute vor hundert Jahren< ist also als Datierung zu verstehen. Aus welcher historischen Differenz der Erzähler in Pfisters Mühle schreibt, wird in den anschließenden Zeilen deutlich, wenn er die Frage nach dem Ort des alten romantischen Landes beantwortet: »Wahrlich nicht mehr in Bagdad. Nicht mehr am Hofe des Sultans von Babyion. Wer dort nicht selber gewesen ist, der kennt das doch viel zu genau aus Photographien, Holzschnitten nach Photographien, Konsularberichten, aus den Telegrammen der Kölnischen Zeitung, um es dort noch zu suchen. Wir verlegen keine Wundergeschichten mehr in den Orient. Wir haben unsern Hippogryphen um die ganze Erde gejagt und sind auf ihm zum Ausgangspunkte zurückgekommen. Enttäuscht sind wir abgestiegen, und die Verständigen ziehen ihr buglahmes, keuchendes Tier in den Stall«.7 Die Intertextualität dient in diesem Beispiel der Reflexion der eigen Erzählposition sowie der verbliebenen Aufgaben und Möglichkeiten von Literatur. Diese steht in der Medienkonkurrenz, die wiederum die Möglichkeiten der dichterischen Phantasie, ihre Gestaltungsfreiräume offensichtlich nicht erweitert, sondern beschneidet. Differenziert man etwas genauer, dann tritt die Literatur einerseits in Konkurrenz mit neuen Textsorten beziehungsweise deren Zirkulation und andererseits mit einem neuen visuellen Medium, das um 1840 seinen Siegeszug angetreten hat, der Fotografie. Wilhelm Raabe zieht aus der Medienkonkurrenz die Konsequenz, das >alte romantische Land< nicht mehr in der Ferne, im Exotischen zu suchen, sondern in den Nischen der sich
5 Raabe, Wilhelm: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Karl Hoppe. Bd. 16.2. Bearb. v. Hans Oppermann. Göttingen 1961. S. 7. 6 Wieland, Christoph Martin: Sämmtliche Werke. Band 7. Reprint Band 22. Hrsg. von der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Hamburg 1984. S. 3. [Reprint der Ausgabe von 1796]. 7 Raabe, Wilhelm: Sämtliche Werke. Hrsg. v. Karl Hoppe. Bd. 16.2. Bearb. v. Hans Oppermann. Göttingen 1961. S. 7. 150
industrialisierenden Gesellschaft. g Raabes Erzähler werden zu Chronisten und Geschichtsschreibern von abseitigen Orten und Lebensläufen, die von der Fotografie nicht wahrgenommen werden. Noch einmal hundert Jahre später hat sich das Verhältnis von Literatur und Fotografie radikal gewandelt. Gerade Literatur, die sich als eine Form der Geschichtsschreibung versteht, als Arbeit am kulturellen Gedächtnis, kommt am Medium Fotografie nicht vorbei; denn nicht primär räumliche Entfernungen überwindet diese im heutigen Verständnis, sondern zeitliche. Das fotografische Medium spielt bei der Erinnerungskonstruktion eine wesentliche Rolle: »Erinnern bedeutet immer weniger, sich auf eine Geschichte zu besinnen, und immer mehr, ein Bild aufrufen zu können.«9 In ihrer fotohistorischen Untersuchung Das Leiden anderer betrachten, aus der dieses Zitat stammt, charakterisiert die amerikanische Schriftstellerin und Essayistin Susan Sontag ihren Kollegen W.G. Sebald knapp als einen Autor, der tief verwurzelt im Zeremoniell des 19. Jahrhunderts und der frühen Moderne sei. Gleichzeitig nimmt sie aber einen Aspekt in seinem Werk wahr, der zu dieser ersten Einordnung überhaupt nicht zu passen scheint, nämlich die ostentative Einbeziehung von Fotografien in den literarischen Text. Beides diene dem gleichen Zweck, denn »Sebald war nicht bloß ein Elegiker, er war ein militanter Elegiker. Indem er sich erinnerte, wollte er auch den Leser dahin bringen, sich zu erinnern.«10 Damit sind Eckpunkte von Sebalds Prosa markiert, die vor allem zu deren Faszination beitragen - narratives Traditionsbewusstsein und zugleich intermediale Verfahren, die einen Gedächtnisraum entstehen lassen, in dem das 20. Jahrhundert als Epoche der Katastrophen und zerstörten Lebensläufe gegenwärtig wird. Zu einem möglichen theoretischen Hintergrund von Sebalds Verwendungsweisen von Fotografien ist mittlerweile einiges geschrieben worden. Quasi der gesamte kanonische Bestand der fototheoretischen Literatur von Kracauer über Benjamin bis Barthes ließ sich fruchtbar machen. Es ist der elegische Charakter der Fotografie, der bei Sebald aktualisiert wird als The Return 01 the Dead, wie eine einschlägige Untersuchung von Stefanie Harris zum theoretischen Kontext der Ausgewanderten folgert. ll Wie Susanne Schedei gezeigt hat, entsteht der Gedächtnisraum bei Sebald nicht nur durch Intermedialität und Text-Foto-Beziehungen, sondern auch durch Intertextualiät; so ist Geschichte »stets in Zitaten, Paraphrasen, Abbildungen anwesend, womit Sebald
Aber auch hier bricht die Industrialisierung mit ihren Begleiterscheinungen hinein, was dazu fUhrt, dass Raabes Romane die Konsequenzen von Urbanisierung und entfesseltem Kapitalismus fiir das kleinstädtische Milieu zeigen; so gilt Pfisters Mühle als einer der ersten deutschsprachigen Romane, die ökologische Folgen der Industrialisierung thematisieren. Sontag, Susan: Das Leiden anderer betrachten. Aus dem Englischen v. Reinhard Kaiser. München 2003. S. 104. 10 Ebd. 11 Vgl. Harris, Stefanie: The Return ofthe Dead: Memory and Photography in W.G. Sebald's Die Ausgewanderten. In: The German Quarterly 4 (2001) 74. Jg. S. 379-391. g
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»Die entscheidende Differenz zwischen der schriftstellerischen Methode und der ebenso erfahrungsgierigen wie erfahrungsscheuen Technik des Photographierens ?esteht allerdings darin, daß das Beschreiben das Eingedenken, das Fotografieren Jedoch das Vergessen befördert. Photographien sind die Mementos einer im Zerstörungsprozeß und im Verschwinden begriffenen Welt, gemalte und geschriebene Bilder hingegen haben ein Leben in die Zukunft hinein und verstehen sich als Dokumente eines Bewußtseins, dem etwas an der Fortführung des Lebens gelegen ist.«17
einen starken Akzent auf den Aspekt der Medialität und Überlieferung von Geschichte setzt.«12
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W.G. Sebald und Susan Sontag
Als renommierte Rezensentin hat Susan Sontag Anteil an Sebalds großem Erfolg im englischsprachigen Raum. In einer Würdigung im Times Literary Supplement spart sie nicht mit Bewunderung: »Gibt es das noch - große Literatur? [ ... ] Zu den wenigen Antworten, die englischsprachigen Lesern zugänglich sind, gehört das Werk W.G. Sebalds.«13 In Das Leiden anderer betrachten geht sie auf Sebalds Werk ein, um eine ihrer zentralen Thesen zur Rezeptionsweise von Fotografien zu veranschaulichen und zu belegen. 14 Diese lautet, dass Menschen sich nicht nur mit Hilfe von Fotos erinnern, sondern dass die Fotos sogar alle anderen Erinnerungen zu verdrängen drohen. Literatur, die Erinnerung thematisiert, kommt daher nicht an der Auseinandersetzung mit dem Medium Fotografie vorbei. Diese Schlussfolgerung steht am Ende eines Dialogs der Publikationen der beiden unlängst verstorbenen Autoren. Pointiert könnte man sogar formulieren, dass Sontag die Intermedialität in Sebalds Werk als Beleg für eine Reflexion zum Zusammenhang von Fotografie und Erinnerung ins Spiel bringt, die sie vor etwa 25 Jahren selbst mit initiiert hat: Gemeint ist Sontags Essaysammlung Über Fotografie. Diese Beiträge zur Funktion von Fotografien erschienen zuerst in The New York Review of Books und erregten großes Aufsehen. Provokativ und argumentativ risikofreudig diskutierte Sontag den Zusammenhang von Ethik und Fotografie. Ausgehend von einer Kritik des Mediums entwickelt sie eine Kritik der kapitalistischen Gesellschaft, die ihres Erachtens auf Bilder als Schauspiel für die Massen angewiesen ist. Kern der Fotokritik Sontags war der Vorwurf, Fotos würden nicht mehr zu Aktion und Reflexion aufrufen, sondern vielmehr zur Beibehaltung des Status quo beitragen, Fotografieren sei »seinem Wesen nach ein Akt der Nicht-Einmischung.«15 Fotografien machen aus den Betrachtern Nostalgiker, Sammler einer untergegangenen Welt, die zwar süchtig nach Bildern sind, gleichzeitig aber Erfahrungen auf Distanz halten. Sebald hat sich offensichtlich Aspekte dieses Gedankengangs zu eigen gemacht. Bereits 1984 kommt er in einer Arbeit zu Adalbert Stifter und Peter Handke auf den »Stellenwert photo graphischer Abbilder in unserem Weltverständnis«16 und die Überlegungen von Susan Sontag zu sprechen. Er wiederholt einige ihrer Argumente, bringt sie aber in Opposition zur Wirkungsweise von Literatur und vortechnischen Bildern: 12 Schedel, Susanne: »Wer weiß, wie es vor Zeiten wirklich gewesen ist?« Textbeziehungen als Mittel der Geschichtsdarstellung bei W.G. Sebald. Würzburg 2004. S. 11. 13 Sontag, Susan: Ein trauernder Geist. In: Akzente 1 (2003). S. 88-95. Hier S. 88. [Erstveröffentlichung: Times Literary Supplement February 25,2000]. 14 Vgl. Sontag, Susan: Das Leiden anderer betrachten. Aus dem Englischen v. Reinhard Kaiser. München 2003. S. 104. 15 Sontag, Susan: Über Fotografie. Aus dem Amerikanischen v. Mark W. Rien u. Gertrud Baruch. Frankfurt am Main 1980. S. 17. 16 Sebald, W.G.: Die Beschreibung des Unglücks. Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke. SalzburglWien 1985. S. 178. 152
Dies könnte auf den ersten Blick als eine Absage an die Fotografie missverstanden werden. Tatsächlich umreißt diese Textstelle jedoch das Spannungspotential von Sebalds Werk: Seine Erzähler sind gebannt und berührt von einer im >Zerstörungsprozeß und im Verschwinden begriffenen Welt<, gehören ihr aber nur partiell, als Reisende oder wie in Dr. Henry Selwyn als zeitweilige Untermieter - an. Damit können sie in der durch Fotografien repräsentierten (vergangenen) Welt nicht aufgehen, sondern müssen und können an Konzepten arbeiten, die eine >Fortführung des Lebens< ermöglichen - ganz im Gegenteil zu den Protagonisten der Ausgewanderten, die im Bilderuniversum gefangen bleiben, von eigener Hand sterben wie Dr. Selwyn oder sich in die Irrenanstalt zurückziehen. Die Frage im Folgenden lautet, wie das Zusammenspiel von Text-Foto-Beziehungen, Intermedialität und intertextuellen Verfahren in einer konkreten Erzählung, Dr. Henry Selwyn, inszeniert wird.
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Fotografie im Dienst traditionellen Erzählens
In Die Ausgewanderten wurden, so der Untertitel, Vier lange Erzählungen aufgenom18 men. Lang sind diese Erzählungen nicht immer von der Erzählzeit her, wohl aber von der erzählten Zeit. In jeder der Erzählungen ~ntwickelt sich aus Alltagsgeschehen eine Recherche, die von der Gegenwart in die Vergangenheit, genauer in die Katastrophengeschichte des 20. Jahrhunderts führt. Der inhaltliche Verlauf der Erzählung Dr. Henry Selwyn lässt sich rasch zusammenfassen: Auf Wohnungs suche landet der Erzähler im ostenglischen Hingham, wo er fündig wird. Die Erzählung ist nach dem Namen des Vermieters betitelt, einem pensionierten Arzt, in dessen Haus der Erzähler mit seiner Frau einen Seitenflügel bezieht. Allerdings fallen schon bei der ersten Begegnung einige Merkwürdigkeiten von Haus und Hau.sherr ins Auge. Mehr und mehr gewinnt die Lebensgeschichte von Dr. Henry Selwyn 1m Verlauf der Erzählung an Kontur; vor allem ein gemeinsamer Dia-Abend bringt Aufklärung. Wie sich zeigt, hieß Selwyn ehemals Hersch Seweryn und emigrierte als Kind eines Linsenschleifers um die Jahrhundertwende aus Litauen. Selwyn hat nicht nur seinen Namen geändert, sondern auch die eigene Herkunft verschwiegen. Er glaubt sogar, dass die späte Offenbarung seiner Herkunft zum Bruch zwischen ihm und seiner Frau geführt hat; mittlerweile kann das Heimweh nicht mehr unterdrückt 17 Ebd. 18 Im Folgenden wird im Text zitiert nach Sebald, W.G.: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen. Frankfurt am Main 1994. 153
werden. Schließlich erschießt sich Henry Selwyn. Quasi in einem Epilog berichtet der Erzähler über einen Zeitungsartikel, auf den er Jahre später stieß. Der Zeitungsbericht verweist auf eine einschneidende Jugenderinnerung von Selwyn, die zuvor eine wichtige Rolle bei dessen Charakterisierung und bei der Beschreibung seiner Lebenstragik spielte. Selwyns Jugendfreund, der Bergführer Johannes Naegeli, der während des Ersten Weltkrieges auf dem Oberaargletscher verunglückte und seitdem vermisst wurde, wird nach sieben Jahrzehnten vom Gletscher wieder freigegeben. Die Gattungsbezeichnung >Erzählung< einerseits und die Titel der einzelnen Prosatexte Dr. Henry Selwyn, Ambras Adelwarth, Palll Bereyter und Max Aurach andererseits, die eher an ein Dossier erinnern, weisen auf das grundsätzliche Spannungsverhältnis zwischen Fiktionalisierung und EntfiktionaliserunglFaktizität in Die Ausgewanderten hin. Realismuseffekte werden eingesetzt, die beinahe den fiktionalen Charakter des Textes selbst in Frage stellen. So setzt Dr. Hemy Selwyn mit einer präzisen Datierung ein: »Ende September 1970, kurz vor Antritt meiner Stellung in der ostenglischen Stadt Norwich, fuhr ich mit Clara auf Wohnungs suche nach Hingharn hinaus« (S. 7). Diese Exaktheit wird bei der Recherche beibehalten, genau - und den Konzepten des literarischen Realismus getreu detailreich - wird auf den folgenden Seiten das Anwesen in Hingharn beschrieben. Der Erzähler bewegt sich ebenfalls auf der Grenze von Fiktion und Faktizität, die Lebensdaten, die der Leser erfahrt, stimmen mit denjenigen der Biografie des Autors überein. Die Fotografien auf den ersten Seiten lassen sich problemlos in die Kategorie der Realismuseffekte einordnen: Sie beglaubigen das Erzählte. Heißt es im Text »Der Haselgang endete bei einem Tennisplatz, an dem eine geweißelte Ziegelmauer entlanglief« (S. 13), so zeigt das beigeordnete Foto anscheinend eben diesen Tennisplatz mitsamt Mauer.
Abb.: »Der Haselgang endete bei einem Tennisplatz, an dem eine geweißelte Ziegelmauer entlanglief«. (Die Ausgewanderten, S. 12). Fotografien können auch andere konventionelle Stilmittel ersetzen. So ist das erste Foto des Rasenfriedhofs (S. 7) nicht nur eine Beglaubigung der entsprechenden Textstelle, sondern wirkt auch als Antizipation auf den Tod Dr. Selwyns. Ähnliches gilt für die Aufnahme des Gletschers (S. 25), die auf den Plot der Erzählung verweist. Als erste Erzählung des Bandes erfüllt Dr. Henry Selwyn noch am ehesten Erwartungen an die Gattung. Bei den anderen Erzählungen scheint der Stoff kaum beherrschbar, rebelliert das Erzählte gegen die tradierte Form. Der Plot in Dr. Henry Selwyn, das heißt die scheinbare Bestätigung der Erzählung durch den Zeitungsausschnitt, ist so nur durch die Fotografie möglich: Die dokumentarische Wiedergabe der Zeitungsseite mit dem Artikel zur Entdeckung der Leiche des Bergführers Johannes Naegeli gewährleistet die 154
Zustimmung des Lesers zum Plot: »So also kehren sie wieder, die Toten.« (S. 36). In allen diesen Beispielen werden Fotografien (noch) im Rahmen traditionellen Erzählens eingesetzt.
Abb.: »So also kehren sie wieder, die Toten. Manchmal nach mehr als sieben Jahrzehnten kommen sie heraus aus dem Eis und liegen am Rand der Moräne, ein Häufchen geschliffener Knochen und ein Paar genagelter Schuhe.« (Die Ausgewanderten, S. 37).
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Fotografie versus traditionelles Erzählen
Mit traditionellen erzähltechnischen Mitteln lässt sich hingegen die Funktion der Aufnahmen während des Dia-Vortrages nicht mehr erklären. Der Abend in Dr. Selwyns Haus nimmt im Fortgang der Erzählung eine Schlüsselposition ein, nicht nur, weil von Dr. Selwyns Jugend und seiner Freundschaft mit dem mittlerweile verschollenen Bergführer Johannes Naegeli berichtet wird. Es werden Aufnahmen eines Kreta-Urlaubs gezeigt. Doch nun dient das Foto nicht mehr nur zur Beglaubigung, sondern durch das Bild wird an einer anderen Geschichte weitergesponnen: »Eine der Aufnahmen glich bis in Einzelheiten einem in den Bergen oberhalb von Gstaad gemachten Foto von Nabokov, das ich ein paar Tage zuvor aus einer Schweizer Zeitschrift ausgeschnitten hatte.« (S. 26). Nicht mehr der Entfiktionalisierung dient das Medium, sondern der Fiktionalisierung, dem assoziativen Spiel der Phantasie. Bilder erinnern an Bilder, vergegenwärtigen so die Assoziationen, die mit der Abbildung verbunden sind, und heben das Nacheinander der Zeit auf. Denn: Vladimir Nabokov gehört ab diesem Zeitpunkt zur Personnage der Erzählungen; als Schmetterlingsfanger taucht er in den anderen Texten wieder auf. Wenn Dr. Selwyn mit Nabokov verwechselt werden kann, vermischen sich auch die Lebensläufe, wird unklar, ob die abgebildete Fotografie nun das Dia von Dr. Selwyn zeigt oder die Aufnahme Nabokovs. Oliver Still hat herausgearbeitet, wie Sebald die Nabokov-Begegnungen in Die Ausgewanderten sorgfaltig mit dessen Autobiographie abgeglichen hat. (Still identifiziert die Aufnahme in Dr. Hemy
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Selwyn als Nabokov).19 Hier begegnen sich zwei Ausgewanderte, vermittelt nur über das Bildgedächtnis des Erzählers. In gewisser Weise entspricht auch Dr. Henry Selwyns merkwürdige Beschäftigung mit der Flora bei der ersten Begegnung - »I was counting the blades of grass [ ... ] !t's a sort of pas time of mine. Rather irritating« (S. 11) - Nabokovs Hinterherjagen der Schmetterlings-Fauna. Auch der Erzähler hat sich durch die Bemerkung zum Nabokov-Foto als Sammler kenntlich gemacht, allerdings nicht von Grashalmen oder Schmetterlingen, sondern von Fotografien. Abb.: »Eine der Aufnahmen glich bis in Einzelheiten einem in den Bergen oberhalb von Gstaad gemachten Foto von Nabokov«. (Die Ausgewanderten, S. 27). Zum gleichen Ziel, der Generierung eines Subtextes, der in unterschiedlichem Maße vom Leser aktualisiert werden kann, setzt Sebald Intertextualität ein. Auffallend an diesem Umgang ist, dass Intertextualität meist nicht durch Marker - wie Zitatzeichen, Anspielungen etc. signalisiert wird, sondern stillschweigend eingearbeitet wird. Ein prägnantes Beispiel hierfür ist das Motto der Erzählung: »Zerstöret das Letzte / die Erinnerung nicht« (S. 5). Wegen des Sprachduktus liegt der Verdacht nahe, dass dieses Motto einem anderen Text entlehnt wurde. So werden vielfach Prätexte evoziert. In diesem Fall gibt eine fiühere Publikation der Erzählung Aufschluss, auf die Sven Meyer hinweist,20 wo es noch heißt: »Verzehret das Letzte / Selbst die Erinnerung nicht?« Dabei handelt es sich um eine Stelle aus Hölderlins Elegie. 21 In der endgültigen Druckfassung bei Sebald ist dieses Zitat dann überarbeitet, schon kein Zitat mehr, allenfalls eine Anspielung. Der Text selbst wird zum Gedächtnis, indem er Prätexte evoziert, je nach Wissen des Lesers unterschiedliche Gedächtnisräume öffnet.
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Der Riss in den Bildern - Kaspar Hauser
schiedlichen Gründen von Fotografien als »Mementos einer im Zerstörungsprozeß und im Verschwinden begriffenen Welt« - wie es in Sebalds Kommentar zu Handke/Sontag hieß - gebannt sind. Sie betrachten ein Bild, das keinerlei Stellungnahme mehr fordert: »Auch vor diesem Bild saßen wir lange und schweigend, so lang sogar, daß zuletzt das Glas in dem Rähmchen zersprang und ein dunkler Riß über die Leinwand lief. Der so lange, bis zum Zerspringen festgehaltene Anblick der Hochebene von Lasithi hat sich mir damals tief eingeprägt« (S. 28t). Hier verschwindet die Welt tatsächlich. Bereits im Elementargedicht Nach der Natur wurde solch ein Riss emphatisch beschworen: »So wird wenn der Sehnerv / zerreißt im stillen Luftraum / es weiß wie der Schnee / auf den Alpen.«22 Um vollends zu ver~ deutlichen, dass es bei diesem Riss in Dr. Hemy Selwyn nicht etwa nur um ein narratives Mittel der Intensivierung der Darstellung geht, wird er nochmals thematisiert. Der Erzähler vergisst die Landschaftsaufnahme für Jahre, bis sie im Kino beim Traumgespräch zwischen Kaspar Hauser und seinem Lehrer Daumer plötzlich wieder aus dem (Bild-)Gedächtnis auftaucht. In diesem Gespräch unterscheidet Kaspar zum ersten Mal »zwischen Traum und Wirklichkeit, indem er seine Erzählung einleitet mit den Worten: Ja, es hat mich geträumt. Mich hat vom Kaukasus geträumt.« (S. 29). Danach zeige die Kamera eine Hochebene, die, so der Erzähler, jedoch eher an Indien erinnere als an den Kaukasus, allerdings die Assoziationskette zum Dia-Abend wieder herstellt: »Follies, die in dem pulsierend das Bild überblendenden Licht mich stets von neuem erinnern an die Segel der Windpumpen von Lasithi, die ich in Wirklichkeit noch gar nicht gesehen habe.« (S. 29). Ähnlich wie im Fall des Hölderlin-Zitats verwischt Sebald hier den Prätext. Weder erfindet der Erzähler diese Filmsequenz, noch kommt ihm hier irgendeine beliebige Verfilmung des Kaspar-Hauser-Stoffes in den Sinn, sondern eine Szene aus Wemer Herzogs Kaspar Hauser. Jeder fir sich und Gott gegen alle (1974). In Herzogs Regie steht Kaspars wirklichkeits hinterfragende, fast subversive Auffassungsgabe im Mittelpunkt. An ihm, der Normen und Wahmehmungskonventionen mit fast kindlichem Gemüt in Frage stellt, hat sich die Gesellschaft zu bewähren - und sie scheitert.
Der eigentliche Höhepunkt der Dia-Show steht aber noch aus. Zwischen den Betrachtern herrscht ein eigentümlicher Einklang, sie versenken sich in eine Landschaftsaufnahme. Längst ist deutlich, dass es hier nicht um eine obligatorische Vorführung von Urlaubsbildern geht, sondern dass hier Menschen zusammensitzen, die aus unter19 Vgl. Still, Oliver: »Aus dem Jäger ist ein Schmetterling geworden«. Textbeziehungen zwischen Werken von W.G. Sebald, Franz Kafka und Vladimir Nabokov. In: Poetica 3-4 (1997) 29. Jg. S. 596-623. 20 Vgl. Meyer, Sven: Fragmente zu Mementos. Imaginierte Konjekturen bei W.G. Sebald. In: Text und Kritik 158 (2003). S. 75-81. Hier S. 77. 21 »Danken möcht' ich, aber wofür? verzehret das Lezte / Selbst die Erinnerung nicht? nimmt von der Lippe denn nicht / Bessere Rede mir der Schmerz, und lähmet ein Fluch nicht / Mir das Sehnen und wirft, wo ich beginne, mich weg?« (Hölderlin, Friedrich: Sämtliche Werke. Bd. 2.1. Text. Hrsg. v. Friedrich Beissner. Stuttgart 1951. S. 72). 156
Abb. Gespräch zwischen Kaspar Hauser (Bruno S.) und Prof. Daumer (Walter Ladengast) und Traumsequenz ©Wemer Herzog Film aus >Kaspar Hauser< 1974).
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Sebald, W.G.: Nach der Natur. Ein Elementar-Gedicht. Photo graphien v Thomas Becker. Nördlingen 1988. S. 33. 157
Der Film thematisiert gleich im Vorspann den eigenen politischen Anspruch, indem er der Filmkritikerin Lotte Eisner gewidmet ist, mit dem besonderen Hinweis auf ihr erzwungenes Exil im Nationalsozialismus. Wie Kaspar kann Dr. Selwyn nicht über seine Herkunft sprechen, wie er endet er durch Gewalt. Vordergründig ist das Assoziationsmoment in der Erzählung die Landschaft, hintergründig die Frage nach dem Wirklichkeitsbegriff. Kaspar erkennt in der Szene, dass er von einem Traum spricht, nicht von einem Wachzustand. Aber dieses Wirklichkeitsbewusstsein wird gleich wieder unterminiert, wenn er sagt »Ja, es hat mich geträumt«. Die Traumsequenzen, wie auch die angesprochene Hochebene, werden im Film durch flackernde, an eine altertümliche Projektion erinnernde Sequenzen gekennzeichnet, schließlich schmilzt das Bild zusammen. Diese Sequenzen brechen in den Film ein, wie die Fotografien und insbesondere die Dia-Episode in den Text. 23 Hier thematisiert der Text seine eigene Verfasstheit, wird die Text-Bild-Beziehung zum metanarrativen und metafiktionalen Moment. Was bisher als Beglaubigung betrachtet wurde, steht plötzlich auf unsicherem Boden. Allerdings ist der fließende Übergang nicht mehr Traum und Wirklichkeit wie bei Kaspar, sondern Wirklichkeit und Medialität. Der Text wird inszeniert unter vollendetem Einsatz von fotobasierten Realismuseffekten, um auf seinem Höhepunkt all diese zu destruieren und auf die mediale Konstruktion von dem, was wir als Realität akzeptieren, hinzuweisen.
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~er >Falun-Effekt< der Fotografie
Zuletzt muss die Rede noch auf den Prätext der Erzählung Dr. Henry Selwyn kommen. Es ist Johan Peter Hebels Kalendergeschichte Unverhofftes Wiedersehen aus dem Schatzkästlein des rheinischen Hausfreunds. Sebald hat den prägenden Lektüren der Kalendergeschichten von Hebel einen Essay gewidmet. 24 Betrachtet man die Relation von Dr. Henry Selwyn zum Prätext auf dem Hintergrund des hier ausgebreiteten Materials, wird noch einmal deutlich, dass in der Textinterpretation Intertextualität und Text-Foto-Beziehung nicht voneinander zu trennen sind, sondern von ihrer Reziprozität ausgegangen werden muss. Hebels Kalendergeschichte berichtet vom tragischen Unglück eines Bergmanns, das ihn von seiner jungen Braut trennt und im Berg begräbt. Die Weltgeschichte nimmt davon unbeeindruckt ihren Lauf, wie ausfiihrlieh aufgelistet wird. Jahrzehnte später
23 Der Regisseur Werner Herzog kommentiert diese Filmsequenz ebenfalls als Montage von eigentlich fremdem Material in seine eigene filmische Erzählung. Bei der Traumsequenz handle es sich um 8mm-Material seines Bruders Lucki Stipetic, das dieser für unbrauchbar erklärte, woraufhin Herzog es von einer Leinwand ab filmte, ohne den Projektor und die 35mm-Kamera zu synchronisieren, so dass das Bild wackelt und in sich zusammenzubrechen scheint. Vgl. Audiokommentar: »Jeder für sich und Gott gegen alle. Kaspar Hauser«. Regie: WernerHerzog, 1974, Arthaus. 24 Sebald, W.G.: Es steht ein Komet am Himmel. Kalenderbeitrag zu Ehren des rheinischen Hausfreunds. In: Ders.: Logis in einem Landhaus. Über Gottfried Keller, Johan Peter Hebel, Robert Walser und andere. München/Wien 1998. S. 9-41. 158
wird aber im Schacht der konservierte Leichnam eines Jünglings ausgegraben. Nun folgt die eigentliche Sensation der Geschichte, denn ans Tageslicht kommt der »Leichnam eines Jünglings [... ], der ganz mit Eisenvitriol durchdrungen, sonst aber unverwest und unverändert war; also daß man seine Gesichtszüge und sein Alter noch völlig erkennen konnte, als wenn er erst vor einer Stunde gestorben, oder ein wenig eingeschlafen wäre, an der Arbeit.«25 Niemand hat den Mann je zuvor gesehen, bis schließlich die ehemals junge Braut, nun alt und gebuckelt, hinzukommt und ihn erkennt. Sie kann nun Abschied nehmen und lässt ihn begraben, in der Erwartung ihres eigenen Todes. Die Parallelen zur Erzählung aus den Ausgewanderten liegen auf der Hand: Dr. Selwyn erzählt dem Erzähler eine ebensolche Geschichte vom Verlust des geliebten Menschen im Berg (wenn auch nicht im Bergwerk); der Bergführer Johannes Naegeli wird quasi zum Geliebten, denn »er habe sich nie in seinem Leben, weder zuvor noch später, derart wohl gefühlt wie damals in der Gesellschaft dieses Mannes.« (S. 24). Daher löst Selwyns Trennung von der Verlobten auch nicht den gleichen Schmerz aus. Beide Texte handeln von der Wiederkehr des tot Geglaubten, davon, dass die Geschichte vor dieser Wiederkehr noch kein Ende gefunden hat. Der Erzähler fasst dies beinahe in eine Erzählpoetologie: »Doch haben, wie mir in zunehmendem Maße auffällt, gewisse Dinge so eine Art, wiederzukehren, unverhofft und unvermutet, oft nach einer sehr langen Abwesenheit.« (S. 36). In Sebalds Erzählung findet jedoch eine wichtige Verschiebung statt, denn Dr. Selwyn bleibt ohne Trost. Die Wiederkehr des Geliebten in Hebels Kalendergeschichte wird durch eine besondere Konservierung ermöglicht, der Leichnam war »ganz mit Eisenvitriol durchdrungen, sonst aber unverwest und unverändert« etc. Der Bräutigam ist »noch in seiner jugendlichen Schöne«.26 Vom Bergführer bei Sebald findet man hingegen nur noch »ein Häufchen geschliffner Knochen und ein Paar genagelter Schuhe.« (S. 37). Zwar bleibt der ungeheuerliche Zufall, dass die Leichname freigegeben werden, es fehlt aber die Faszination, der Vergangenheit selbst ins Gesicht zu blicken. Sebald braucht dafür nicht mehr die wahrhaft wunderbare Begebenheit in den Bergwerken von Falun. Nicht mehr Eisenvitriol konserviert den Körper, sondern Silbersalze. Die Attribute des wieder ans Licht gebrachten Bräutigams werden auf das Medium Fotografie übertragen: »Seltsamerweise wirkten sowohl Edward als auch Dr. Selwyn auf den Bildern, die sie uns vorführten, geradezu jugendlich, obwohl sie zum Zeitpunkt der Reise, die, von damals aus gesehen, genau zehn Jahre zurücklag, schon hoch in den Sechzigern gewesen waren. Ich spürte, daß sie beide ihrer Rückkehr aus der Vergangenheit nicht ohne eine gewisse Rührung beiwohnten.« (S. 27t). Der Falun-Effekt ist zum Regelfall geworden, bewirkt durch die Fotografie. Sie schafft der Vergangenheit eine Anwesenheit und konfrontiert den Betrachter mit ihr - eine Konfrontation, die zum Erzählen führt, andere Bilder und Texte evoziert. Die Ernüchterung aus Wilhelm Raabes Pfisters Mühle in Hinblick auf die Prämissen von Literatur angesichts des Mediums Fotografie, ist der Beobachtung gewichen, dass die Fotografie selbst zum Hippogryphen geworden ist, der die dichterische Phantasie beflügelt. Wie 25 Hebel, Johann Peter: Gesammelte Werke. Hrsg. v. Rolf Max Kully. Gütersloh 1966. S.236. 26 Ebd. S. 237. 159
der Durchgang durch die Erzählung gezeigt hat, dient die Materialität der Fotografie im Text zum einen der Entfiktionalisierung, indem sie als Realismuseffekt und Beglaubigung eingesetzt wird. Größer ist die erzählerische Innovation, die von der Reflexion der Fotografie als Erinnerungsmedium im Text (kombiniert mit intertextuellen Verfahren) ausgeht, da sie aufzeigt, wie Fotografien zunächst nicht an Ereignisse erinnern, sondern an andere Bilderfahrungen. 27 Rückblickend räumt Sontag im Hinblick auf ihre Essaysammlung Über Fotografie eine konservative Kritik am Medium Fotografie ein, rechtfertigt aber ihren Beweggrund: die Verteidigung der Wirklichkeit gegen Theorien, in denen Wirklichkeit nur noch als mediale Repräsentation, als Simulation existiert - explizit nennt sie hier als Abstoßungspunkt Jean Baudrillard. Das Leiden anderer betrachten schließt eine solche Perspektive aus, lässt sie ange28 sichts von Krieg und Verwüstung als zynisch erscheinen. Auch Sebalds Erzählungen beharren auf der Aussagekraft und der Erzählnotwendigkeit individueller Lebensläufe - zeigen aber auf, dass der entstehende Gedächtnisraum zugleich ein Assoziationsraum ist.
Bärbel Höttges (Amerikanistik)
»In the beginning was the sound«. Toni Morrison's Intertextual Bible Reading
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The Nobel Ptize-winning author Toni Morrison 1 once said, »[t]he Bible wasn't part of my reading, it was part of my life.«2 Her novels seem to confirm this statement because Morrison constantly refers to the Bible, incorporates biblical images, or lets her characters reenact biblical stories. These biblical allusions are not particularly surprising considering the fact that numerous authors of the late twentieth century incorporate intertextual references into their works, and many of them allude to and play with the Bible in their fiction. After all, »intertextuality has become the very trademark of postmodernism«, 3 as Manfred Pfister puts it, and the Bible naturally plays a prominent role in this intertextual endeavor. The intertextual references in Morrison's novels, however, are not part of some kind of self-referential play, which parodies and deconstructs the biblical text in a postmodern sense. Rather, Morrison uses intertextual structures to appropriate 4 the Bible and to adapt the biblical message to an African-American context.
»a mosaic of quotations« Some Theoretical Considerations In academic circles, the term intertextuality calls up a number of often conflicting references. For the last few decades, the term has been extremely popular - bordering on being trendy - and it has consequently been used in a variety of ways and by scholars from different fields. 5 As William Irwin remarks, »[t]he term intertextuality [... ] has come to have almost as many meanings as users, from those faithful to 1
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Susanne Schedei schlägt zur Klassifikation der Intennedialitätsverfahren eine Modifikation des Stufenmodells zur Intertextualität nach Jörg Helbig vor; jenes wurde in diesem interpretativen Durchgang nicht adaptiert, da der Grad der Explizitheit, mit dem der Text auf die Fotografie verweist, in keinem kausalen Verhältnis zur narrativen Funktion der Intermedialität oder Text-Bild-Beziehung steht. Vgl. Schedel, Susanne: »Wer weiß, wie es vor Zeiten wirklich gewesen ist?« Textbeziehungen als Mittel der Geschichtsdarstellung bei W.G. Sebald. Würzburg 2004. S. 66-80. Vgl. Sontag, Susan: Das Leiden anderer betrachten. Aus dem Englischen v. Reinhard Kaiser. München 2003. S. 126-131.
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Born in Ohio in 1931, the African-American writer Toni Morrison published her first novel in 1970 and quickly gathered national and international farne. She has published eight novels to date and was awarded the Nobel Prize in Literature in 1993. Her most successful novel Beloved, which will be discussed in the following analysis, was published in 1987. Ruas, Charles: Toni Morrison. In: Taylor-Guthrie, Danille (ed.): Conversations with Toni Morrison. Jackson 1994. P. 97. Pfister, Manfred: How Postmodern Is Intertextuality? In: Plett, Heinrich F. (ed.): Intertextuality. Berlin 1991. P. 209. I am using the tenn appropriation in relation to Toni Morrison's writing not only because it adequately describes Morrison's practice of adapting white Christianity to an AfricanAmerican context but also because it constitutes a counterclaim to the white American appropriation of African-American culture. For further infonnation on the various definitions of the tenn, cf. Hebel, Udo: Intertextuality, Allusion, and Quotation. An International Bibliography of Critical Studies. New York 1989. 161
Kristeva's original vision to those who simply use it as a stylish way of talking ab out allusion and influence.«6 Before applying the term to Toni Morrison's writing, it is thus necessary to talk ab out the term intertextuality as such and to define it in relation to Morrison' s novels. As indicated in the above quote, the term intertextuality was coined by Julia Kristeva in 1966. She based her ideas on the theories of the Russian critic and philosopher Mikhail Bakhtin and his concept of dialogism. As Kristeva explains: »Bakhtin was one ofthe first to replace the static hewing out oftexts with a model where literary structure does not simply exist but is generated in relation to another structure. What allows a dynamic dimension to structuralism is his conception of the >literary word< as an intersection 0/ textual sur/aces rather than a point (a fixed meaning), as a dialogue among several writings: that ofthe writer, the addressee (or the character) and the contemporary or earlier cultural context.«7 Accordingly, Kristeva referred to texts in terms of two different axes: a horizontal axis, which connects author and reader, and a vertical axis, which connects the text to 8 other texts. The realization that no text is produced independentIy of other texts and that the meaning of a text develops and changes in relation to those texts (and not in relation to the author's intention) led Kristeva to the conclusion that »any text is constructed as a mosaic of quotations; any text is the absorption and transformation of another. The notion of intertextuality replaces that of intersubjectivity, and poetic language is read as at least double.«9 Kristeva, however, is not necessarily talking about literary - or even written - texts here. Rather, her textual system encompasses social and cultural phenomena as weH. As Irwin remarks conceming Kristeva's theory: »Society and history are not elements external to textuality, to be brought to bear in interpretation. Rather, society and history are themselves texts, and so are already and unavoidably inside the textual system. [... ] There is no separation of the social text and the literary text, but rather the two must be woven together to produce the tapestry.«10 As a result, »everything - or, at least, every cultural formation - counts as a text within this general semiotics of culture.«11 If everything, however, is text, and if »any text is constructed as a mosaic of quotations«,12 as Kristeva claims, this means that all texts are - that everything is, in fact - intertextual. In a literary analysis, this rather broad sense of intertextuality can be problematic. First of all, texts lose their inherent meaning - the traditional focal point of literary analysis - as meaning is no longer something a text >possesses( due to authorial 6 Irwin, William: Against Intertextuality. In: Philosophy and Literature 28/2 (2004). P. 227228. 7 Kristeva, Julia: Word, Dialogue and Novel. In: Moi, Tori! (ed.): The Kristeva Reader. New York 1986. P. 35-36. 8 Cf. Kristeva: Word, p. 36-37. 9 Kristeva: Word, p. 37. 10 Irwin: Intertextuality, p. 229. 11 Pfister: Postmodern, p. 212. 12 Kristeva: Word, p. 37. 162
int~ntion. Rath~r, meaning develops through. intertextual relations according to Kristeva. Thus, 1t can never be fixed and depends on the respective reader - once the author is dead, to boriow Roland Barthes' idea, the reader is in charge of the text and its meaning. 13 In addition, since everything is both text and intertextual, Kristeva' s theory appears to apply to everyone and everything; it consequently seems to be far too .broad and arbitrary to use it as an effective tool in a literary analysis. As William Irwm remarks: »[L]et us see what the practice of intertextual reading/interpreting amounts to. The central element of intertextual interpretation is to note and make connections between and among texts. Every text is potentially the intertext of every other text, and so reading becomes an infinite process. [... ] What we are left with then are rather banal and idiosyncratic interpretations. [... ] Intertextual specuiation~ quickly degenerate into the deja Zu, Eseudointellectual cocktail talk of the type >This reminds me ofthat and so on.<<< 4 '
This criticism, however, does not really apply to Kristeva's theory, since Kristeva was ~ot prima~ly interested in literature when she developed her theory. Rather, she was
mterested m culture and, more importantly, in social conditions and power relations. As Irwin himself admits, the »intertextuality of Kristeva and Barthes is unapologetically political in its motivations and implications, seeking to redistribute power. The method of reading that intertextuality provides is meant as a model for polit~cal and social action and change.«15 Accordingly, Kristeva's theory has to be mod1~ed and reduced to certain aspects if it is used in a literary analysis. Stefan Alkier explams: »Die intertextuelle Forschung befasst sich mit den Sinneffekten, die aus der Bezugnahme des jeweiligen Textes zu anderen Texten entstehen. Von Interte~tualität sollte man nur sprechen, wenn das Interesse an der Erforschung von SInneffekten besteht, die durch die Beziehung mindestens zweier Texte entstehen und zwar von Sinneffekten, die keiner der beiden Texte für sich allein gesehen eröffnet.«16 In this defini~ion, Alkier takes over some important characteristics of Kristeva' s theory (such as the Idea that a text develops meaning through intertextual relations) but at the In his essay The Death 0/ the Author, Roland Barthes claims that a text does not consist of a line of words »releasing a single >theological< meaning (the >message< of the AuthorGod) but a multi-dimensi~nal space in which a variety of writings, none of them original, blend and dash. The text IS a ttssue of quotations drawn from the innumerable centers of culture.« (Barthes, Roland: The Death of the Author. In: Heath, Stephen (ed.): Image Music, Text. Translation Stephen Heath. New York 1977. P. 146). Based on this ide~ ~arthes dedares the death of the author and the birth of the reader, because in this view it IS the reader who provides a text with meaning and not the text's author (or its »scripto~« as Barthes terms it). ' 14 Irwin: Intertextuality, p. 235-236. 15 Irwin: Intertextuality, p. 233. 16 Alkier, Stefan: Die Bibel im Dialog der Schriften und das Problem der Verstockung in Mk 4. Intertextualität .im Rahmen einer kategorialen Semiotik biblischer Texte. In: Alkier, ~tefan; Hays, Richard B. (eds.): Die Bibel im Dialog der Schriften. Konzepte mtertextueller Bibellektüre. Tübingen 2005. P. 8. 13
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same time, he discards some of its aspects by focusing on texts in the conventional rather than Kristeva's sense of the word. In addition, critics such as Alkier do not categorically reject the idea öf an inherent or intentional meaning, but they acknowledge nevertheless that (additional) meaning(s) can evolve through intertextual relations. Authorial intention is thus still possible - but not necessarily required. In order to work with the term intertextuality in a literary analysis, however, it is not enough to define the term as such, but it is also necessary to find and define clear subcategories, since the term intertextuality is too broad to use it as a precise analytical too1. In Morrison's novels - and in most works of ethnic fiction in general - four different types of intertextual references can be distinguished: 17
1. Direct Quotes: These references consist of complete parts of the quoted text, which the quoting text incorporates without any changes or modifications. 18 The references can be marked as quotes (quotation marks, source references) but they can also be incorporated into the quoting text without any formal indicators. 2. Oblique Quotes: These references are direct quotes in which certain portions ofthe quote are modified but which can nevertheless be recognized as quotes. 3. Similarities: a) Textual Similarities: The quoted text is evoked through the combination of certain terms or phrases and/or through distinctive syntactic structures. b) Plot Similarities: The quoted text is alluded to through similarities between the plot lines ofthe two texts. c) Imagery Similarities: The quoted text is evoked through certain images, which are associated with the quoted text and copied by the quoting text, even though there are no textual indicators to connect the two texts. 19 4. Symbolic Intercultural References: These references consist of symbols or images that evoke and connect two or more cultural backgrounds. Conventional intertextual 17
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Gerard Genette also distinguishes several intertextual subtypes and introduces the term transtextuality as a generic term (cf. Genette, Gerard: Palimpsests. Literature in the Second Degree. Translation Channa Newrnan and Claude Doubinsky. Lincoln 1997.) In his categorization, however, Genette concentrates on possible relationships between two texts (such as plagiarism, commentary, or parody), so his categorization cannot be used to formally distinguish different kinds of intertextual allusions within a given text. The quoting text alludes to or incorporates other texts through intertextual references; the quoted text, in contrast, is the text alluded to by the quoting text. Since imagery similarities will not be part of my later analysis, the following example may illustrate the category instead: In Morrison's novel Song 0/ SoZomon, the novel's protagonist Milkman desperately cradles his dying aunt' s head in his lap after she was hit by abullet that was actually meant for Milkman. The two characters physically mirror a pieta with reversed positions in this scene, a connection that makes sense since Milkman's aunt is paralleled with Christ several times in the novel and finally even dies in Milkman's stead. In this scene, however, Morrison evokes the biblical context without any textual indicators simply by copying the biblical image. Similar pieta constellations can also be found in Morrison's novels SuZa (Eva and Plum) and Paradise (Consolata and Mother; DeaconIPiedade and Consolata).
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references (1-3) can of course also aHude to texts, which are connected to certain c~ltures (e.g., references to myths or other culturally connoted narratives), but they stlll allude to other texts. In contrast to that, symbolic intercultural references consist of culturally charged symbols, which refer to two or more cultural backgrounds and thus become interculturallinks. As a conventional quote, which is part ofboth quoting text and quoted text, the symbol is then part of two different cultural systems at the same time. As the chart shows, t?e ~ifferent types increasingly leave the textual plane (that is they lose touch to textual mdlcators such as words, phrases or syntactic relations) and enter the plane of a text's imagery and symbolism. This makes the categories further down the scale hard to grasp, and they tend to be open to discussion. At the same time, ?owever, this move away ftom the exclusively textual plane makes it possible to mclude references, which are often not recognized as intertextual allusions at all, into the concept of intertextuality and to analyze their function. The last of the above categories (symbolic intercultural references), however, does not only move away ftom the textual plane but also from literature as such, because those references en~er the wider realm of culture. This move is important in two ways. On the one hand, It leads back to Kristeva's original concept of intertextuality as a cultural phenomenon, but at the same time makes the connection between text and culture a literary category so that it can be used in a literary analysis in a productive ~nd clearl~ defined way. On the other hand, this move toward culture is extremely Important In order to be able to grasp the significance of intertextuality in ethnic fiction in particular. In the U.S.-American context, ethnic fiction is by definition transcul~ral in nature, since it combines an author's ethnic cultural background with the dommant cultural and literary tradition. Symbolic intercultural references are a key device in order to convey this transcultural status to the reader and to comment on it without explicitly referring to it. In the case of ethnic authors such as Toni Morrison, a thorough intertextual analysis must consequently consider both intertextual and intercultural references: While the analysis of conventional intertextual structures such as quotes and similarities reveals the relationship between the different texts, the· analysis of symbolic intercultural references reveals the relationship between the different. cultural worlds, which meet and come together in the intertextual play.
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»I AM BELOVED and she is mine.« Biblical Intertextuality in Toni Morrison' s Beloved
Judging from the number of critics dealing with intertextual relations in Toni Morrison's fiction, intertextuality is an important phenomenon in her work. Especially her tendency to engage in an intertextual conversation with the Bible has been ~nalyzed repeatedly. Even though critics agree that biblical intertextuality is an Important phenomenon in Morrison's fiction, they rarely agree when it comes to its
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significance. Some critics, for example, try to expose the Christian ?asis ofMorrison's work through the analysis of intertextual structures. Mary MIller Hubbard, for instance, compares Morrison's novels to a Christian redemptive cycle. »Through presenting evidence of intertextuality between the Bible and Morrison's novels«, Hubbard tries to show »that Morrison's characters are [... ] searching for redemption«20 and concludes: »In order to see c1early the threads of biblieal redemption holding Morrison's novels together, one should read the books from a Christian world view. [...] Toni Morrison's novels do not necessarily subvert Christianity - as many traditional Morrison critics have asserted - but instead utilize its liberating message to >look up, and lift your heads; for redemption draweth nigh< (Luke 21:28).«21 In contrast to this view, critics such as Deborah Guth claim that Morrison uses biblical intertextuality to subvert Christianity and that she tries to reveal its inadequacy for the African-American experience. After a thorough analysis of biblical allusions and the motif of resurrection in Beloved, Guth concludes: »While in its original [biblical] form the inearnation ofthe divine in the world of the man symbolized by the figure of Jesus signifies a rapprochement between the two worlds, here the ho stile dialogic interaetion between them leads to a total polarization that exposes the terrible inadequaey of the Christological model to eontain or c1arify the teleology of black historie reality. [ ... ] [The characters' stories] address the Christological model and aceuse the distanee that separates the ineffable divine model from the world oftime and personal experience.«22 ather critics see the Bible superseded by a stronger African belief system in Morrison' s fiction and interpret the intertextual references as a battle for dominance between two spiritual systems. Examining biblical names in Song 0/ Solomon, for example, Gay Wilentz concludes: »In the weaving ofthis tale, Morrison can be seen as an Afrocentric tale teller who overturns Western Biblical and cultural notions by revealing the legends and folkways ofher community.«23 Similarly, Amy Brown considers biblical intertextuality in Morrison's Song 0/ Solomon (and in women's writing in general) a battle for authority, even though she does not view this battle as a predominantly spiritual one but rather as a battle between male and female voices. After analyzing the paralleis and differences between the biblical Song of Solomon and Morrison's literary equivalent, Brown concludes: ' »[T]he engagement of biblical texts creates a context through which the woman writer's authority is articulated. In other words, the central subject of feminist biblical revision is not the Bible. Rather, it is the problems and possibilities of
20 Hubbard, Mary Miller: »Redemption Draweth Nigh«. Biblical Intertextuality in the Novels ofToni Morrison. Dissertation, University of Arkansas 2000. P. 3. 21 Hubbard: Redemption, p. 3-4. 22 Guth, Deborah: »Wonder what God had in mind«. Beloved's Dialogue with Christianity. In: The Journal ofNarrative Technique 24/2 (1994). P. 90. 23 Wilentz, Gay: Civilizations Undemeath. African Heritage as Cultural Discourse in Toni Morrison's Song 0/ Solomon. In: Middleton, David L. (ed.): Toni Morrison's Fiction. Contemporary Criticism. New York 1997. P. 110. 166
women's authority in a culture shaped by the maseuline hegemony that the Bible has eome to represent.«24 . For Toni Morrison, however, her dialogue with the Bible does not seem to be a battleground, and she does not appear to be interested in either unconditionally confirming or completely rejecting a Christian worldview either. Rather, she uses intertextual relations to comment on the role of the Bible in African-American life and to adapt it to that community's needs, as the following statement conceming her novel Song o/Solomon suggests: »1 used the biblical names to show the impact of the Bible on the lives of black people, their awe of and respeet for it eoupled with their ability to distort it for their own purposes. I also used some pre-Christian names to give the sense of a mixture of eosmologies.«25 This »ability to distort« is extremely important, because in contrast to postmodern deconstruction, distortion does not destroy but preserves through modification something new develops while the original model is maintained at the same time. In addition, Morrison's characters distort the Bible »for their own purposes«, as Morrison puts it, which means that they adapt the biblical message to their particular situation and their specific needs. This process of adaptation is essential in Morrison's world because without it, the Christian message does not apply to the characters' lives and becomes useless. 26 In her Pulitzer Prize-winning novel Beloved, Morrison uses intertextual relations to express both the necessity to adapt the biblical message and the results of successful adaptation. Various allusions to the biblical Song of Solomon, for example, reveal the inadequacy of the biblical model as long as it is not adjusted to the situation of Morrison's African-American community. The biblical book deals with a Shulamite maiden and her beloved and is composed of love poems the two lovers altemately sing to each other. Both Jewish and Christian interpreters have read the book as an allegorical dialogue (between God and Israel and between Jesus and the Christian church, respectively), while the most widely accepted current interpretation regards the biblical song as a collection of individual love lyrics. Whether interpreted allegorically or not, however, it is clear that the biblical book deals with love, and the word beloved (used as a noun rather than an adjective most of the time) figures predominantely in the biblical song and connects it to Morrison's novel ofthe same tide.
24 Brown, Amy Benson: Rewriting the Word. Ameriean Women Writers and the Bible. Westport 1999. P. 163. 25 LeClair, Thomas: »The Language Must Not Sweat«. A Conversation with Toni Morrison. In: The New Republie 184 (1981). P. 28. 26 As the Bible was one ofthe most important tools in the justifieation of slavery in the U.S., the modifieation and reinterpretation of the biblieal message is not only a literary deviee in Morrison's fietion but also appears to be a historieal neeessity for the Afriean-American community. In this respect, Morrison's idea of distortion can also be read as a countermovement against racist white Bible interpretations. (For further information on the role of the Bible in U.S.-American slavery, cf. Prentiss, Craig R. (ed.): Religion and the Creation ofRace and Ethnicity. An Introduction. New York 2003.) 167
Superficially, Morrison's Beloved seems to have little in common with the biblical book, as the novel does not deal with two happy lovers but teIls the story of an African-American mother, who kills her infant daughter in order to protect her ftom a life in slavery; the dead child returns to life as a ghost and almost kills her mother with her obsessive love in return. Morrison establishes a connection between the biblical book and her own novel nevertheless by quoting the biblical song obliquely several times. In Song of Solomon 6:3, for example, the singer says: »I am my beloved's and my beloved is mine.«27 In direct contrast to that, Morrison's character Beloved, the ghostly reincarnation of the murdered child, repeatedly refers to her mother Sethe by saying, »I AM BELOVED and she is mine.«28 As Peggy Ochoa points out, »[w]hereas the feeling of being beloved is mutual in the Biblical account, Beloved's love for her mother is jealously one-sided.«29 Beloved's love consequently means possession rather than connection, and indeed, Sethe can never give enough and almost dies due to the relationship: While Beloved gains weight and grows bigger and bigger, her mother grows weaker every day, as she does everything tp please her reborn daughter. In contrast to the biblical song, the oblique quote in Beloved thus refers to a twisted kind oflove -love that kills out oflove so to say. This impression of twisted, destructive love is further underscored through textual similarities between Morrison' s novel and the biblical book. As Patricia Hunt points out, Denver's »BELOVED is my si ster. I swallowed her blood right along with my mother's milk«30 echoes the biblical »my sister, [... ] I have drunk my wine with my milk [... ] 0 beloved.«31 Again, Morrison turns the biblical model around, this time ftom a pleasant sensual experience in the Bible to an image of death and violence in Beloved - an image that haunts Beloved's sister Denver all her life and isolates her ftom her peers. Through both the oblique quote and textual similarities, the positive biblical model is thus turned into a negative experience in Morrison' s novel, and quoted and quoting text conflict and starkly contrast with each other. This conflict is important, on the one hand since it underlines the nature of Beloved's feelings for her mother and characterizes Sethe and Beloved's relationship. On the other hand, the novel examines the phenomenon of love as such through the contrast between quoted and quoting text: In the Bible, love is godly and connected to heavenly bliss; slavery, however, has turned this godly love - and motherly love at that - into something violent and deadly. This development accuses the system of slavery, of course, but it also comments on the biblical song, because it shows that love depends on outer circumstances, and the
27 Tbis and all further references to the Bible are to the King James Version. 28 Morrison, Toni: Beloved. 1987. London 1997. P. 210, 214. 29 Ochoa, Peggy: Morrison's Beloved. Allegorically Othering »White« Christianity. In: MELUS. The Journal of the Society for the Study of the Multi-Ethnic Literature of the United States 24/2 (1999). P. 117. 30 Morrison: Beloved, p. 205. 31 Song of Solomon 5:1; cf. Hunt, Patricia Anne: The Texture ofTransformation. Theology, History, and Politics in the Novels of Toni Morrison. Dissertation, The City University of New York 1994. P. 28. 168
godly union is impossible once humans interfere; in a world that tolerates slavery, God, it seems, has left, and only Beloved's uncanny echo ofthe biblical text remains. Through the intertextual play, Morrison consequently provides both texts with a new level of meaning - she enrlches her own story when she characterizes Beloved's relationship to her family through its contrast with the biblical account, but she also comments on the Bible and its inadequacy if applied to the situation of slaves. This does not mean, however, that Morrison is rejecting the Bible as such in her novels; she rather demonstrates that the book in its original form misses the characters' situation and thus needs to be modified - they need to »distort it for their own purposes«, as Morrison herself puts it. This process of distortion - and the enormous empowerment it can imply - is also expressed through intertextual relations in Beloved and becomes especially evident in the women's song at the end ofthe novel. When the community of African-American women arrives at Sethe's house to free her ftom her ghostly daughter, one of them suddenly starts to holler: »Instantly the kneelers and the standers joined her. They stopped praying and took a step back to the beginning. In the beginning there were no words. In the beginning was the sound, and they all knew what that sound sounded like. [... ] For Sethe it was as though the Clearing had come to her with all its heat and simmering leaves, where the voices of women searched for the right combination, the key, the code, the sound that broke the back of words. Building voice upon ~yoice until they found it, and when they did it was a wave of sound wide enough tosound deep water and knock the pods off chestnut trees. It broke over Sethe and she trembled like the baptized in its wash.«32 The reader does not need to be too familiar with the Bible to realize that Morrison obliquely quotes John 1:1 here: »In the beginning was the Word, and the Word was with God, and the Word was GOd.«33 At first, Morrison's oblique quote seems to contradict the biblical model- after all Morrison corrects the biblical verse by replacing word with sound. A eloser look at the novel reveals, however, that Morrison does not really contradict John but rather extends and complements the biblical message, because the sentence »[i]n the beginning was the sound« ineludes all sounds and not only those uttered by godly or human tongues as »[i]n the beginning was the Word« implies. With their sound, their communal song, the women go back to a time be/ore the word, and only this preverbal utterance can reach the ghost, while spoken words cannot, as Sethe and Denver's earlier attempt to communicate with the then still invisible baby ghost showed: 34
32 Morrison: Beloved, p. 259-61. 33 Cf. Henderson, Mae G.: Toni Morrison's Beloved. Re-Membering the Body as Historical Text. In: Spillers, Hortense J. (ed.): Comparative American Identities. Race, Sex and Nationality in the Modern Text. New York 1991. P. 81. See also Krumholz, Linda: The Ghosts of Slavery. Historical Recovery in Toni Morrison's Beloved. In: African American Review 26/3 (1992). P. 403. 34 At tbis point ofthe story, the ghost ofthe dead girl is invisible and haunts Sethe's house in a rather traditional manner; eighteen years after the murder, however, Paul D, a former 169
»Sethe and Denver decided to end the persecution by calling forth the ghost that tried them so. Perhaps a conversation, they thought, an exchange of views or something would help. So they held hands and said, >Come on. Come on. You mayas well just come on. < The sideboard took a step forward but nothing else did.«35 The above quote shows rather elearly that words cannot reach the ghost. In their song, however, the women instinctively fmd the only way to address Beloved. In this respect, the sound rather than the word is indeed a new beginning: It drives away Beloved and thereby saves her mother, it ends Sethe's isolation from the community after almost twenty years, and it redeems both Sethe and the community around her, as both are able to leave the past behind after the song. In spite of the revision of the biblical passage, the Christian model is thus not superseded by Morrison's oblique quote, but it is rather extended in an AfricanAmerican sense. This extension is still part of a deeply religious and Christian experience, as the image of baptism indicates - the central symbol of the Christian community - which follows the women's song. In Beloved, the sound that precedes the biblical word consequently still has a religious function. As the exorcism at the end of the novel in general, however, the sound that leads to Beloved's departure is syncretistic: 36 It is Christian and biblical (»in the beginning was ... «), but at the same time it is pre-Christian and perhaps a form of African conjure (» ... the sound«); it is a communal song rather than a solitary word, sound rather than language - but just as the biblical model, it signals the presence of a metaphysical sphere and facilitates atonement and redemption. As a result, the oblique quote does not imply departure from Christianity or religion as such but rather religious appropriation and the development of a modified and updated version of Christianity, which fits the needs of Morrison's fictional community. One could argue that the above example does not necessarily prove Morrison' s general endorsement of religious appropriation in Beloved. A eloser look at the novel reveals, however, that Morrison expresses the need and the power of appropriation not only through single instances of intertextual allusions, but she weaves it deeply into her story through the novel's symbolism as well. Accordingly, Morrison also uses the novel's most central symbol- that ofthe ghost - to demonstrate how the combination and appropriation of all available religious sources can be used to one's advantage arid lead to empowerment and strength. As both the most central and the most enigmatic character of Morrison's novel, the ghostly Beloved has been interpreted in all kinds of ways. One of the most popular readings is that of Beloved as a Christ figure, a reading which does not really come as fellow slave of Sethe, moves into the house and violently exorcizes the ghost. The dead girl returns as a mysterious young woman after that and drives away Paul D in return. 35 Morrison: Beloved, p. 4. 36 Morrison describes the women's attempt to exorcize the ghost as a mixture of Christian and African traditions: »Some brought what they could and what they believed would work. StufIed in apron pockets, strung around their necks, lying in the space between their breasts. Others brought Christian faith - as shield and sword. Most brought a little of both.« (Morrison: Beloved, p. 257). 170
a surprise. After all, Sethe's baby girl dies for the sins of others, and only through her death can her family be saved from slavery. In addition, the murdered baby is miraculously raised from the dead, and Morrison herself ties Beloved to a Christian background when she speaks of »the miraculous resurrection of Beloved.«37 Furthermore, Denver's repeated remark that she swallowed Beloved's blood along with her mother's milk is reminiscent of the notion of Communion and the 38 Eucharist. As the critic Deborah Guth points out, however, Beloved's return to life is no .reason to rejoice, since even though Beloved is paralleled with Christ to a certain degree, Morrison' s novel »subverts the [biblical] model both thematically and structurally at every turn. [... ] [I]n the Christian model, Jesus' resurrection follows and reverses the efIects ofthe Fall. But here the resurrection of Beloved both precedes and causes the fall into a hell of destructive love and unity that denies the very model it invokes.«39 It is true, of course, that Beloved is no benevolent spirit, and Deborah Guth is right to point out that even though Beloved is frequently connected to Christian imagery, her resurrection is destructive and almost deathly for Sethe. It becomes evident that Morrison does not subvert the Christian message but rather appropriates it, however, once Beloved's function as a symbolic intercultural reference is considered. A eloser look at Beloved reveals, for example, that she is not only reminiscent of Christ in many ways but also of an (African) ghost. This remark seems to be rather obvious, as Beloved spends the first eighteen years after the murder as an invisible baby ghost and haunts the place ofher death. Up to Paul D's exorcism, this ghost is rather traditional and haunts its horne like many other ghosts of the Western literary tradition - she knocks over things, for example, leaves hand prints, and bathes the house in a dangerous red light. 40
Once Beloved returns as a young woman, however, she seems to leave her ghostly nature behind; everyone can see and touch her, she eats the food Sethe prepares, and she even becomes pregnant. These attributes are associated with the African rather than the Western ghost tradition. 41 In the African view, the worlds ofthe living and the dead intermingle, and it is often difficult to tell the two realms apart; accordingly, one's dead relatives - the living dead as John Mbiti calls them - remain an integral part of their families ' lives and, at least in a symbolical way, can still share daily 42 activities suchas meals. In this respect, both Beloved's return and her rather thisworldly nature are not altogether unusual, especially since the dead can also return physically in the black Caribbean zombie tradition.
37 Morrison: Beloved, p. 105; italics mine. 38 Cf. Guth: Wonder, p. 91. 39 Guth: Wonder, p. 88. 40 Cf. Schmudde, Carol: The Haunting of 124. African American Review 26/3 (1992). P. 409. 41
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Cf. Sobat, Gail Sidonie: If the Ghost Be There, Then Am I Crazy? An Examination of Ghosts in Virginia Hamilton's Sweet Whispers, Brother Rush and Toni Morrison's Beloved. In: Children's Literature Association Quarterly 20/4 (1995-1996). P. 169. Cf. Mbiti, John S.: African Religions and Philosophy. London 1969. P. 75, 83. 171
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In addition to these African characteristics, Beloved is also essentially AfricanAmerican, as she seems to embody the experience of slavery as such - she talks about the Middle Passage and about the experiences of a slave, even though the two-year old girl, who was killed all those years ago, never personally witnessed those things. In this respect, Beloved is the ghost of all those who were forcibly taken from Africa and endured the hell of the transatlantic passage; she is the ghost of those who suffered and died in American slavery - she is the ghost of »Sixty Million / and more«, as the epigraph of the novel puts it, and represents the past and the trauma of slavery, which still haunts the survivors. 43 In the character of Beloved, several cultural backgrounds are united as a resuIt: She is both an African ghost and a Christ figure, and she is the epitome of AfricanAmerican suffering. Beloved consequently serves as a symbolic intercultural reference, as the lines of different cultural traditions intersect in her and the symbol of the ghost. In this intercultural reference, however, the different lines do not conflict with and invalidate each other, as Deborah Guth assumes; rather, they once again express the necessity to adapt the biblical model and to extend it so that it fits the specific needs of Morrison' s fictional community. That the Christi an story is indeed extended in an African-American sense and not subverted becomes evident at the end of the novel when the community approaches Sethe to exorcize the ghost. Almost twenty years earlier, when the slave catcher approached Sethe's pI ace, the black community failed to warn her, as no one feIt responsible for Sethe - a lack of action which indirect1y led to the baby girl' s death, as Sethe was surprised by the slave catcher and had no time to escape with her children. Now, when Beloved is elose to killing her mother, however, the community finally acts and returns to Sethe' s side - and this time, the action seems to lead to redemption as the religious imagery ofthe community's return implies: »So thirty women made up that company and walked slowly, slowly toward 124. It was three in the afternoon on a Friday so wet and hot Cincinnati's stench had traveled to the country. [...] For Sethe it was as though the Clearing had come to her [... ] and she trembled like the baptized in its [the sound's] wash.«44
It does not seem to be a coincidence that thirty women (an amplified trinity)45 arrive on a Friday at three 0 'clock (the exact time of Christ's ,death on Good Friday) and gathe~ t~ pray around. Sethe and to baptize her with their song. 46 Rather, the ~ombmatton of Good Fnday and the image of baptism fits the situation, because both Images imply Christ's sacrifice and Christian redemption - and redemption seems to be the most appropriate term for what is happening during the women' s song in a twofold way. On the one hand, Sethe is redeemed, as she is freed of both her spirit daughter and her past, which has haunted her for almost twenty years. On the other hand, the community is redeemed, as the people around Sethe recognize and acknowle~ge their part.in the baby ~irl's death for the first time, and they finally make up for thelr .lack of actIOn by returnmg to Sethe's side after rejecting her for all those years. In thls re.spect, Bel~ved:s resurrection does lead to salvation and redemption, even though thls redemptton IS not achieved by Beloved herself but through the community's response. - Beloved's return as such is destructive, but it is nevertheless an essential step along the way towards healing, since only through her return and her final departure, both Sethe and the community get the chance to deal with the past and to leave it behind in the end. 47
1f these implications are taken into account, it becomes clear that Morrison does not subvert .the biblical ~~del through the symbol of the ghost but rather adapts and appr?pnates t~e ~hnsttan message. Accordingly, Beloved's story does not simply duphcate the hlbhcal account of passion, death, and resurrection hut plays with these elements and reinterprets them according to African-American experiences. - In the ch~racter ?f Beloved, A~i~an and Western cultural backgrounds come together, and whtle she IS resurrected, It IS the community's re action to her return that surmounts the sins of the past. Through this playful reinterpretation, Morrison retains the Christian component of redemption hut at the same time, she stresses the role of the community in the process. The reading of the ghost as a symholic intercultural reference thus shows that Toni Morrison uses intertextual relations not only to establish a dialogue hetween her novel 45 Cf. Taylor-Guthrie, Danille: Who Are the Beloved? Old and New Testaments Old and New C~mmunities ?f~aith. In: Religion and Literature 27/1 (1995). P. 128. ' Accordmg to the blbhcal account, Jesus' death occurred at the ninth hour which is three o'c1ock in the afternoon (cf. Mark 15:34, Matthew 27:46). As this is the ~nly instance in the novel where Morrison specifies the day of the week and offers a precise time - even though tbis knowledge is not necessary in order to understand the scene - one can conc1ude that Morrison consciously uses the association of Good Friday to tie Beloved to the background of Christ's passion once more. 47 Both ?arties also ge~ a c~ance to ~ght past wr~ngs in a way: While the women are singing, Sethe s landlord amves macart m order to pIck up Denver, who decided to work for hirn as a housemaid. When Sethe sees the white man approach, she mistakenly sees her former maste~ again and fears that he wants t~ tak~ her daughter once more. Rather than attacking her chtldren, however, Sethe grabs an Ice pIck and sets out to attack the white man instead. The community around Sethe does not silently watch the crime this time but intervenes and prevents the death of an innocent man. In tbis respect, both Sethe and the community act in an opposite way when things start to repeat themselves, and they do not commit their respective sins all over again. 46
43 For further information on the reading of Beloved as the ghost of slavery, see Broad, Robert L.: Giving Blood to the Scraps. Haints, History, and Hosea in Beloved. In: African American Review 28/2 (1994). The reading ofBe1oved as the ghost of slavery is especially interesting if connected to that of Beloved as a zombie figure. As Carolyn Cooper points out, zombies are interpreted as the epitome of slavery in the black Caribbean tradition: Like slaves, they are dehumanized bodies without minds, who are forced to do someone else's bidding. (Cf. Cooper, Carolyn: »Sometbing Ancestral Recaptured«. Spirit Possession as Trope in Selected Feminist Fictions of the African Diaspora. In: Nasta, Susheila (ed.): Motherlands. Black Women's Writing from Africa, the Caribbean and South Asia. New Brunswick 1992.) In tbis respect, the interpretation of Beloved as a zombie seems eerily appropriate. 44 Morrison: Beloved, p. 257-61.
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Katharina Rhode (Germanistik)
and the Bible but also to express the intercultural status ofher fictional community. In contrast to many other ethnic authors, this intercultural position is no disadvantage for Morrison - on the contrary, it is a chance if the positive aspects of both cultures are kept and combined. In symbolic intercultural references such as the ghost, Toni Morrison consequently acknowledges the strength of both the Christian faith and the power of black folk traditions, and she demonstrates the liberating force of this combination in her intertextual play. Intertextual references accordingly fulfill several functions in Toni Morrison's fiction. On the one hand, Morrison uses intertextual allusions to the Bible in order to show both the need to appropriate the white model and the power that results from successful appropriation. On the other hand, Morrison also uses intertextual relations to comment on the situation of her fictional African-American community and its intercultural status; through this extension, intertextual relations also express the cultural wealth that is connected to the African-American situation in Morrison's view. Both of these functions do certainly not deconstruct or subvert the biblical model; on the contrary, they both express and confirm the significance of Christianity in African-American life, as the biblical message as such is never questioned and central Christian values are restored in the end. Through the intertextual play, however, Toni Morrison offers her own ethnic reading of the biblical text nevertheless; this reading does not always match with conventional white interpretations, and, as Morrison herself admits, distorts the biblical message now and then since it incorporates various nonwestern sources and reinterprets the white model. For Morrison's community, however, this distortion seems to be more than appropriate: It is empowering, liberating, and provides healing to the community of believers - and in this, it is more Christian than many conventional Bible readings ever can be.
Schwarzer Pudel - Weißes Kätzchen? Intertextuelle Bezüge auf Goethes Faust in Wedekinds Franziska
»[E]in~n solchen Rie~en-Blu~fwi~ dies >.Mysterium< hat die [ ... ] literarische Welt [ ... ] noch mcht gesehen!« Hedwig Pnngshelm empfand Wedekinds Drama eines »weiblichen Faust«2 als »aufgeblasenen Unfug und die Bezüge zu Goethes >Faust< als Zumutung und Anmaßung.«3 Welchen Stellenwert haben diese Bezüge aber für das Verständnis des Dramas? Mit welcher Herangehensweise lassen sich diese Bezüge erkennen, aufs~hlüsseln und für die Deutung nutzen? Der Fragestellung des ForschungssymposlUms Intertextualität folgend, soll in diesem Aufsatz versucht werden a~hand einer intertextue11en Herangehensweise den Bedeutungshorizont von Wede~ kmds Drama Franziska. Ein modernes Mysterium infiinfAkten 4 zu erweitern. Sowohl Wedekind selbst als auch die Literaturkritik und die Literaturwissenschaft haben vielfach die intertextuellen Bezüge von Wedekinds Franziska zum FaustMythos betont. Dies beginnt mit der Entstehungsgeschichte des Dramas. 5 Es ist anzunehmen, .dass Wede~ind den Bezug zu Goethes Faust zunächst explizit machte, um das PublIkum für sem Stück zu interessieren. Schließlich war und ist der Faust eines der meistgespielten Stücke auf den deutschsprachigen Bühnen. Daher konnte Wedekind erwarten, mit der Thematik eines weiblichen Faust das Publikum anzulocken. Schon mehrfach wurde Wedekinds Montagetechnik untersucht. 6 Sein »dramatisches Verfahren basiert auf der Atomisierung des Stofflichen zum Material«. 7 Dieses MateHedwig Pringsheim an Maximilian Harden über die Uraufführung von Franziska am 30.11.1912 in München. Zitiert nach Martin, Ariane: Spiel mit Konventionen: Goethes »Faust« und Franziska Gräfin zu Reventlow in Frank Wedekinds >modernem Mysterium< »Franziska«. In: Dreiseitel, Sigrid; Vin90n Hartmut (Hg.): Kontinuität - Diskontinuität. Diskurse ~ Frank Wedekinds literarischer Produktion (1903-1918). Würzburg 2001. S. 75-96. Hier S. 78. Kutscher, Artur: Frank Wedekind. Sein Leben und seine Werke. Bd. 3. München 1931. S.114. Martin: Spiel mit Konventionen, S. 78. Ic~ be~iehe mi.ch auf d~.e 1912 erschi~ne?e Erstausgabe. Sp~tere Überarbeitungen brachten teIlweise deutlIche Veranderungen, die hIer nur am Rande eme Rolle spielen werden. s We~ekind entwarf in den 1890er Jahren ein Drama über eine weibliche Faust-Figur. 1911 schrieb er Franziska. Ein modernes Mysterium infiinfAkten, das 1912 erschien. Im selben Jahr fand die Uraufführung in München statt. Weiteres zur Entstehungsgeschichte bei Kutscher: Frank Wedekind, Bd. 3, S. 113-135. 6 Vgl. u.a. A~stermühl, Elke; Vin90n, Hartmut: Frank Wedekinds Dramen. In: Piechotta, Hans-Joachlm; Wuthenow, Ralph-Reiner (Hg.): Die literarische Modeme in Europa. Bd. 2. Opladen 1994. S. 304-321. Vgl. auch Pankau, Johannes G.: Scham und Macht. Zu Frank Wedekinds Dramen »Simson« und »Schloß Wetterstein«. In: Florack, Ruth (Hg.): Frank Wedekind. Text + Kritik 131/132 (1996). S. 129-146. Austermühl; Vin90n: Frank Wedekinds Dramen, S. 308. 1
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rial wird von Wedekind »ausgewertet ~... ], geordnet, um entlegene und disparate ~a terialien miteinander zu kombinieren.« Die verwendeten Stoffe bestehen u.a. aus hterarischen Vorlagen, zeitgenössischen Diskursen und tagesaktuellen Ereignissen. Deshalb und aufgrund der Entstehungsgeschichte und der von Wedekind gegebenen Hinweise auf Goethe und besonders auf den F aust9 erscheint mir Franziska als besonders geeignet, eine intertextuell orientierte Interpretation vorzunehmen. lO Seit Julia Kristeva ihre Theorie der Intertextualität aus Bachtins Konzept der Dialogizität II entwickelte, wurde ihre Theorie mehrfach aufgegriffen und weiterentwikkelt. So entwarf Gerard Genette Anfang der Achtziger Jahre eine Theorie, die er »Transtextualität«12 nannte. Er unterschied darin fünf verschiedene Typen der Transtextualität. Diese Typen können in einem Text parallel vorkommen, sie können sich aber auch überschneiden und ergänzen. Den von Kristeva geprägten Begriff Intertextualität verwendet er rur eine Untergruppe der Transtextualität. 13 Unter Intertextualität versteht er die »effektive Präsenz eines Textes in einem anderen Text«.14 Formen dieser Intertextualität sind z.B. Zitate oder Anspielungen. Hypertextualität bezeichnet jede Beziehung eines Textes B (= Hypertext) zu einem Text A (= Hypotext). Genette unterscheidet zwei Formen der Hypertextualität: die Transformation, zu der beispielsweise eine einfache Verlagerung der Handlung eines Hypotextes in eine andere Zeit oder/und einen anderen Ort gehört, und die Nachahmung, die komplexer aber auch indirekter ist, da sie den Hypotext stärker verändert. Dabei werden die Qualität und die Struktur eines Hypotextes übernommen, aber im Zusammenhang mit einer anderen Aussage oder Handlung verarbeitet. Beispiele hierrur sind eine Parodie oder Travestie, ein Pa~tiche oder eine Adaption. Als Paratextualität wird all das bezeichnet, was den Text einrahmt und begleitet. Paratexte sind also Titel, Vorworte, Motti u.a., die einen Bezug des Hypertextes zu einem Hypotext deutlich machen. IS
8 Ebd. S. 309. 9 Wedekind schwächte in seinen Überarbeitungen den Faust-Bezug ab: Die 1913 erschienene 4.15. Auflage enthielt neben inhaltlichen Änderungen eine Anmerkung zum ll. , , Akt, mit der er die Aufmerksamkeit auf die Ehe-Thematik und auf die Frauenfrage lenkte. Diese Fassung liegt den Gesammelten Werken zugrunde. 1914 erschien die 6.17. Auflage unter dem Titel Franziska. Ein modernes Mysterium in 9 Bildern. Bühnenausgabe in gebundener Rede, in der er neben der Umarbeitung in Jamben auch größere inhaltliche Änderungen vorgenommen hat. 10 Kristeva, Julia: Wort, Dialog und Roman bei Bachtin. In: Ihwe, Jens (Hg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Bd. 3. Übers. v. Michel Korinmann u. Heiner Stück. Frankfurt a.M. 1972. S. 345-375. 11 Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. v. Rainer Grübel. Übers. v. Rainer Grübel u. Sabine Reese. Frankfurt a. M. 1979. 12 Genette, Gerard: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe. Übers. v. Wolfram Bayer u. Dieter Hornig. Frankfurt a. M. 1993. S. 9. Die französische Originalausgabe erschien unter dem Titel: Palimpsestes. La litterature au second degre. Paris 1982. 13 V gl. Genette: Palimpseste, S. lOf. 14 Ebd. S. 10. 15 Die weiteren Typen spielen für diesen Aufsatz eine weniger wichtige Rolle: Unter Metatextualität versteht Genette einen Kommentar zu einem anderen Text. Dabei setzt sich der Hypertext mit dem Hypotext auseinander, ohne ihn direkt zu erwähnen oder zu 176
Zunächst soll ein kurzer Blick darauf geworfen werden, wie die bisherige Sekundärliteratur zu Franziska mit den Bezügen zum Faust-Mythos umgegangen ist. Die meisten Interpretationeri betonen diesen Zusammenhang. Die Entsprechungen und Anspielungen erscheinen dabei als »unübersehbar«.16 In der Literaturkritik und der Sekundärliteratur wird dieser Bezug aus verschiedenen Paratexten abgeleitet. Dazu gehören u.a. das Motto aus Goethes Venetianischen Epigrammen,17 das Wedekind allen Fassungen seines Dramas voranstellt. In einer Lesung im November 1911 gab Wedekind selbst einen Hinweis auf sein Drama eines weiblichen Faust. 18 Obwohl dieser Zusammenhang in der Sekundärliteratur oft betont wurde, wird er erst von Sabine Doering und Elke Austermühl ausruhrlieh untersucht. Doering geht dabei intertextuell vor und bezieht sich ebenfalls auf Genettes Theorie. 19 Austermühl stellt die Frage, ob und wie sich diese Bezüge rur das Verständnis von Franziska nutzen lassen. Dabei nennt sie drei Möglichkeiten, wie die Faust-Bezüge eingeordnet werden können: als vordergründige Beigabe, als Faust-Parodie oder als »anmaßendes epigonales Produkt eines kreativ ausgelaugten wilhelministischen Literaten«. 20 Um die intertextuellen Bezüge nach Genette zu klassifizieren, möchte ich einzelne Szenen, in denen eine Parallele zum Faust-Mythos angenommen wird, untersuchen. In der Sekundärliteratur herrscht weitgehend Einigkeit darüber, welche Szenen als Entsprechungen aus Goethes Faust 1 und II bzw. dem Faust-Mythos in Franziska wiederzuerkennen sind. In der Regel sind das die Szenen: »Teufelspakt - Auerbachs KellerBegegnung mit Margarete - Aufenthalt am Kaiserhof - Verbindung mit Helena - verklärendes Finale«.21 Dabei ist Franziska bis zum III. Akt parallel zum Faust 1 angelegt und die letzten beiden Akte parallel zum Faust 11. Hans-Jochen Irmer erwähnt eine weitere Entsprechung: »Das siebente Bild >Nacht. Sternenhimmel< entspricht der Szene >Zimmer, ehemals Faustens«<.22 Dabei handelt es sich um die jeweilige Rückkehr der Protagonisten zum Ausgangsschauplatz. In Faust 11 kehrt Faust nach der Flucht aus der »Kaiserlichen Pfalz« in sein »Studierzimmer« zurück, in Franziska beendet im 7. Bild die Rückkehr zum elterlichen Schloss die Flucht vom »herzoglichen Residenzschloß«. Irmer verweist zwar auf diese Parallele, er untersucht sie aber nicht.
zitieren. Als Architextualität bezeichnet er die Zugehörigkeit eines Textes zu bestimmten Gattungen oder Textsorten. Vgl. Genette: Palimpseste, S. 13f. 16 Austermühl, Elke: Frank Wedekinds »Franziska« - ein weiblicher Faust? In: Dazwischen. Zum transistorischen Denken in Literatur- und Kulturwissenschaft. FS Johannes Anderegg 17 zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Andreas Härter et al. Göttingen 2003. S. 79-100. Hier S. 82. Goethe, Johann Wolfgang von: Werke. Weimarer Ausgabe Bd. 1. Hrsg. i. A. der Großherzogin Sophie von Sachsen. Weimar 1887ff. S. 317. Diese Ausgabe wird im Folgenden mit der Sigle WA angegeben. 18 Vgl. Hardekopf, Ferdinand: Wedekinds Maske. In: Schaubühne 7/2 (1911). S. 440-441. Hier S. 440. 19 Vgl. Doering, Sabine: Die Schwestern des Doktor Faust. Eine Geschichte der weiblichen Faustgestalten. Göttingen 2001. S. 23. 20 Austermüh1: »Franziska«, S. 80. ~~ Doering: Die Schwestern des Dr. ~aust, S. 267. Irmer, Hans-Jochen: Der TheaterdIchter Frank Wedekind. Werk und Wirkung. Berlin (Ost) 1975. S. 213. 177
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Ich konzentriere mich hier auf vier der genannten Szenen: Den »Teufelspakt«, »Auerbachs Keller und Hexenküche«, die »Begegnung mit Margarete« und »Studierzimmer. Nachts«. Mithilfe von Genettes Theorie sollen Bezüge zum Faust herausgearbeitet werden und es soll versucht werden, diese für die Deutung greifbar zu machen. Dabei soll v.a. der Frage nach der Bedeutung dieser Zusammenhänge für das Verständnis von Franziska nachgegangen werden.
Der Pakt mit dem Teufel Nach wenigen einleitenden Szenen, die die folgende Handlung motivieren, beginnen beide Dramen mit einem Pakt der Protagonisten mit dem Teufel. Faust wird als ein erkenntnishungriger alter Gelehrter dargestellt. Er hat alle Wissenschaften erforscht und weiß nun, dass ihm die höchste Erkenntnis dennoch versagt geblieben ist. Mephisto, der zuerst als schwarzer Pudel auftritt, bietet ihm einen Pakt an, mit der Bedingung, Faust einen Augenblick zu verschaffen, von dem sich Faust wünsche, er möge nie verstreichen. Gelingt dies, endet der Pakt und Mephisto bekommt Fausts Seele. Die achtzehnjährige Franziska strebt nach Freiheit und wehrt sich gegen den typischen gesellschaftlichen Lebensweg einer bürgerlichen Frau, zu der eine frühe Eheschließung und Familiengründung gehört. Franziska geht mit dem »modemen Mephisto«23 Veit Kunz, der sich als »Sternenlenker«24 bezeichnet, einen auf zwei Jahre begrenzten Pakt ein, der ihr das Leben als Mann ermöglicht, sodass sie die von ihr erstrebte »Genußfähigkeit«25 erfahren kann. Nach Ablauf dieser Zeit soll sie Veits »Weib, [ ... ] Leibeigene, [ ... ] Sklavin«26 werden. Veit bekäme dann also Franziskas Körper. Faust wird erst in einem Monolog, dann im Gespräch mit seinem Famulus Wagner als ein reifer Gelehrter dargestellt, der schon lange auf dem Höhepunkt seiner gesellschaftlichen Karriere angekommen ist und sein permanentes Streben nach noch mehr Wissen als einen Fluch empfindet. Franziska beginnt mit einem Dialog zwischen der Protagonistin und ihrer Mutter, aus dem Franziskas Unzufriedenheit mit dem typisch weiblichen Lebensweg hervorgeht, den sie als bürgerliche Tochter einschlagen soll. Franziska strebt nach Wissen und Erkenntnis in Form von gesellschaftlicher »Bewegungsfreiheit«27 und Unabhängigkeit. Sie steht am Anfang ihres gesellschaftlichen Lebens und versucht, ihre eigenen Vorstellungen umzusetzen. Sie sieht ihre Weiblichkeit als einen Nachteil und verhält sich wie eine »modeme Geschäftsfrau«. 28 Sie hat sich ihrer »Unschuld«29 entledigt, um ihren Wert auf dem Heiratsmarkt zu mindern und eine Ehe leichter verhindern zu können. Veit Kunz geht es in seinem Pakt mit 23 24 25 26 27 28 29
Doering: Die Schwestern des Dr. Faust, S. 258. Wedekind: Franziska, S. 31. Ebd. S. 32. Ebd. S. 36. Ebd. S. 32. Doering: Die Schwestern des Dr. Faust, S. 274. Wedekind: Franziska, S. 15.
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Franziska v.a. um ihren Körper. Er studiert an ihren »Bewegunf-en die Linien [i]hres Körpers«.30 Er prüft ihren Körperbau (»ebenmäßig gewachsen«3 ) und schließt daraus, dass er sie zur Sängerih ausbilden könne, obwohl sie von sich selbst behauptet, »nicht die allergeringste künstlerische Veranlagung«32 zu haben. Aufgrund ihrer gesellschaftlichen Rolle ist Franziskas erstes Anliegen, die von ihr empfundenen Nachteile des weiblichen Körpers zu reduzieren. 33 Beide Pakte sind grundverschieden angelegt: Der modeme Pakt ist zeitlich begrenzt, der Pakt bei Goethe soll durch seine Erfüllung beendet werden. An Stelle von Faus~s ~treben nach geist~fer Erfii~lung .setzt W~deki~d Franziskas Wunsch nach »FreIheIt - Lebensgenuß«. Wedekmd mIsst also m semem Drama dem Körper der Protagonistin einen bedeutend höheren Stellenwert bei als ihrem Geist. Franziskas Körperbau ist für Veit nicht nur Anlass, ihr den Pakt anzubieten, er möchte auch von Franziska und ihrem Körper profitieren. Eigentlicher Gegenstand des Pakts ist Franziskas Körper. Sowohl Veit als auch Franziska haben bei Vertragsabschluss Hintergedanken: Franziska lässt explizit offen, ob sie nach Ablauf der zwei Jahre Veits »Sklavin«35 werden wird. Veit geht davon aus, dass das »Naturgesetz«36 nichts anderes als einen erfolgreichen Pakt in seinem Sinne zulässt. Darüber hinaus macht er Franziska schon vor Ablauf des Pakts zu seiner Geliebten und profitiert von ihren Einnahmen als Sänger. Durch Franziskas Verhältnis mit Veit kehrt sich der Sinn des anfangs geschlossenen Pakts um: Sie ist zwei Jahre lang Veits Sklavin, also seine Geliebte, und sie sorgt als Sänger auch für sein finanzielles Auskommen. Erst nach Ablauf der zwei Jahre erlangt sie wieder ihre Freiheit als Frau. 37 Für Veit ist Franziskas Verwandlung in einen Mann nur dann interessant, wenn sie auch körperlich umkehrbar bleibt. Nur so kann sie nach Ablauf des Pakts seine »Leibeigene«38 werden. Franziska wird nur scheinbar in einen Mann verwandelt. Ihre gesellschaftliche Verwandlung zum Mann ermöglicht ihr Selbstständigkeit und Welterfahrung und daraus folgend später auch ein eigenständiges und unabhängiges Leben als Mutter-ohne Vater oder Ehemann. 39 ,I 30 31 32 33
34 35 36 37
38 39
) Ebd. S. 30. Ebd. Ebd. Diese Betonung des weiblichen Körpers findet sich häufig bei Wedekind, z.B. in den LuluDramen und dem Roman-Fragment Mine-Haha. Hier wäre es interessant, den intratextuellen Bezügen auch in den verschiedenen Überarbeitungen desselben Dramas nachzugehen. Wedekind: Franziska, S. 31. Ebd. S. 36. Ebd. Vgl. Irmer, Hans-Jochen: Anarchismus und Psychoanalyse im Spätwerk Frank Wedekinds. In: Anarchismus und Psychoanalyse zu Beginn des 20. Jahrhunderts Bd. 11: Der Kreis um Erich Mühsam und atto Gross. Erich-Mühsam-Tagung in Malente. Lübeck 2000 (= Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft 19). S. 135-153. Hier S. 136. Wedekind: Franziska, S. 36. Franziska ist fmanziell unabhängig. Ihr Gönner Hohenkenmath finanziert eine Geburtsversicherung, die sie vor den finanziellen Folgen einer unehelichen Schwangerschaft schützen soll, und vererbt ihr schließlich sein Vermögen. 179
Wedekind verdreht den Hypotext Faust in zweifacher Hinsicht: Statt der Seele wird Franziskas Körper zum Gegenstand des ~akts. ~uß~rdem g~bt Franziska nicht nach Ende des Pakts sondern vor dessen Ende Ihre FreIheIt auf. DIe Struktur des Hypotextes, der Teufels~akt, bleibt erhalten, wird aber mit einem anderen Inhalt gefüllt. Daher ist nach Genettes Theorie diese Veränderung eine Nachahmung des Hypotextes. Nach Austermühl geht Franziska in einem Moment der Verwi~ng auf Ve~ts Angebot ein. Nach ihrer Nacht mit ihrem ersten ~ieb~aber Dr. H~fnuller su~ht SIe nach einem »Anhaltspunkt«,4o den ihr Veit Kunz mIt semem Pakt blet~t. Doermg dag~gen sieht Franziska als Geschäftsfrau die nicht nur eine GeburtsversIcherung abschlIeßt, .. h ~e. 41 sondern mit der gleichen kühlen ,Berechnung auch ihre Unsc~ul? verl'Ie~en moc Mir erscheint die Deutung Franziskas als Geschäftsfrau schlusSlg, ~a SIch F:anzlska die Bedingungen des Pakts offen hält. Allerdings lässt sich nachvollzI~hen, WIeso Austermühl eine Situation der »Desorientiertheit«42 beobachtet: »Diese Uberrumpelung! [ ... ] Ich finde nirgends einen Anhalt~punkt. [ ... ] wenn m~in Blut ~higer fli~ßt. [ ... ] Vielleicht bringt das Erleichterung.«4 Und auch Faust w:eIß, bevor Ihn .Mephlsto zum Pakt überredet nur noch einen Ausweg, um sich aus semem Erkenntmsdrang zu befreien: den Seibstmord. Diese Form der Entsprechung sehe ich als eine Anspielung, die Genettes Typ der Intertextualität zugeordnet ist. Austermühl sieht in Franziskas Pakt mit dem Teufel eine »mehrfache Verkehrung des Teufelsbund-Motivs«.44 So sucht Franziska nach Beistand, als sie verwirrt und desorientiert ist und nicht nach dem Teufel. Sie verkauft Veit ihren Körper, nicht aber ihren Geist. D:r Pakt wird nicht mit Blut besieg~lt, sondern mit Veits Prü~~ ihrer Atmung: »Dann erlauben Sie mir, daß ich Ihnen dIe Hand auf den Bauch lege.« Nicht nur die grobe Struktur dieser Szenen ist ähnlich. Auch Detai\s a,us Goe.thes Faust finden ihre Entsprechung in Franziska. Mephisto fordert Fau~t a,uf, Ihn dreImal hereinzubitten weil er nur dann wirklich eintreten könne. Auch VeIt bIttet per Klopfzeichen am F:nster dreimal um Einlass. Diese detaillierte Übernahme kleiner ~leme~ te des Hypotextes in den Hypertext betrachte ich als Anspielung und o~dne SIe damIt der Intertextualität im Sinne Genettes zu. Wedekinds Teufelspakt-Szene 1St also hyp.ertextuell da sie die Struktur von Goethes Teufelspakt-Szene übernimmt, Wedekmd aber de~ Inhalt anders gestaltet. Wedekind ändert das geistige Streben Fausts zusätzlich zu seiner Verlagerung auf einen weiblichen Faust durch die starke B~tonu~g des Körperlichen. Er vertauscht damit Geist und Körper. Daher handelt es SIch hIer ~ Hypertextualität in Form einer Nachahmung. Für diese Szene spielt die Frage nach der Kenntnis des ~ypotexte~ fü~ das .erste Verständnis von Franziska eine untergeordnete Rolle. Franzlskas MotIvatIon, dIesen Pakt einzugehen, ließe sich auch ohne Kenntnis von Goet~es l!'aust. oder des Fa,ustMythos nachvollziehen. Da die Bezüge aber sehr offenSIchtlIch smd, sollte dI~se Kenntnis in die Deutung der Teufelspakt-Szene eingebunden werden. Nur so WIrd
Wedekinds Vertauschung von GeisJ und Körper deutlich. Folglich erweitert das Erkennen der Bezüge zum Hypotext die Interpretationsmöglichkeiten des Dramas.
Auerbachs Keller / Hexenküche - Weinstube Clara Wie die Teufelspakt-Szenen weisen auch »Auerbachs Keller« und die »Weinstube Clara« deutliche Parallelen auf. Auch hier hat Wedekind einige inhaltliche Veränderungen vorgenommen, die die »Weinstube Clara« zu einer Nachahmung von »Auerbachs Keller« machen. Irmer sieht darin auch eine Parallele zur »Hexenküche« und 46 damit zur Verjüngung Fausts. »Auerbachs Keller« macht den Eindruck einer derben und einfachen Weinstube. Die Gespräche der Gäste, die wahrscheinlich zumindest teilweise Studenten sein sollen,47 kreisen um die beiden Fremden und um den besten Wein, den sie sich vorstellen können. Im Zentrum des Interesses steht der Alkohol, die niedrigste Stufe des Genusses. Mephisto verführt sie erst zu diesem Genuss und treibt dann mit ihnen Schabernack. Er zaubert für die Zechgenossen unterschiedliche Weine in den Tisch und verzaubert sie schließlich selbst. Faust ist als sein nahezu stummer Begleiter den Gästen unbekannt, und es entwickelt sich auch keinerlei Kontakt zu ihnen. Mephisto zieht durch seine Reden, sein Hinken und seine Zaubertricks die Aufmerksamkeit auf sich. Beide verschwinden wieder, bevor die genarrten Gäste handgreiflich werden. Sie bleiben zwar Gesprächsstoff, haben aber keine weiteren Spuren hinterlassen. Die Gäste der »Weinstube Clara« sind Künstler und Prostituierte, die Diskussionen um Politik, Zensur und Schriftstellerei führen. Sie sind fein gekleidet, und aus dem Hintergrund ist Operettenmusik zu hören. 48 Auch Franz(iska) bleibt eher im Hintergrund der Szene, hat aber dennoch Kontakt zu anderen Gästen. 49 Sie bändelt mit der Prostituierten Mausi an. Der Schriftsteller Laurus Bein liebt Mausi und erschießt sie aus Eifersucht. Franziska spielt daher eine aktivere Rolle als Faust, der nur eine beobachtende Position einnimmt und nur zwei Sätze spricht. Auch ist Franziska an Mausis Tod mitschuldig und greift daher - passiv - in das Geschehen ein. Nachdem der erste Versuch, Faust zu verführen, fehlgeschlagen ist, wird Faust in der »Hexenküche« durch Mephistos Helferin verjüngt und erkennt fortan »Helenen in jedem Weibe«.50 Seine Verwandlung ist eine körperliche Verwandlung, er wird äußerlich jünger, es wirken tatsächliche - teuflische - Kräfte. Wedekind hingegen verzichtet auf einen >teuflischen< Eingriff in das Geschehen. Obwohl er Körperlichkeit betont, greift er Goethes Umgang mit den teuflischen Mächten, die eine körperliche Verwandlung ermöglichen, nur abgewandelt auf. Franziska ist jung, gehört aber dem >falschen< Geschlecht an. Sie nimmt schon nach Abschluss des Pakts und vor der Szene in der
40 Wedekind: Franziska, S. 28. 41 Vgl. ebd. S. 15fund Doering: Die Schwestern des Dr. Faust, S. 258. 42 Austennühl: »Franziska«, S. 84.
46 Vgl. Inner: Der Theaterdichter Frank Wedekind, S. 210. 47 Vgl. Schöne, Albrecht: Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Kommentar. Frankfurter
Wedekind: Franziska, S. 28. 44 Austennühl: »Franziska«, S. 84. 45 Wedekind: Franziska, S. 32.
48 Vgl. Wedekind: Franziska. Regiehinweise zum 2. Bild, S. 38. 49 Vgl. Doering: Die Schwestern des Dr. Faust, S. 260. 50 Goethe: W A 1.14. S. 127, V. 2603.
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Ausgabe Bd. 7/2. Frankfurt a. M. 1994. S. 276.
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Weinstube die Rolle eines Mannes ein. Wedekind hat damit die Verwandlungs szene des Faust vorgezogen und zwischen den Szenen stattfinden lassen. Damit wird die Faust-Gestalt verwandelt, bevor sie die einzelnen Stationen mit der Mephisto-Gestalt durchläuft. Franziskas Verwandlung fmdet nur äußerlich statt, sie nimmt lediglich einen Rollentausch vor: Sie lebt als Frau in der Rolle eines Mannes und muss später, als sie verheiratet ist, diesen Schwindel ihrer Ehefrau gegenüber aufrechterhalten. Am Ende des Dramas macht sie diesen Tausch wieder rückgängig. Beide Szenen sind auch in ihrer formalen Struktur ähnlich angelegt, da sie durch satirische Lieder unterbrochen werden: Mephisto singt ein Lied auf den König und seinen Floh, das im Metrum an den König von Thule erinnert. 51 Veit singt Auf eigenen Füßen - Donnerwetter. 52 Aber auch Laurus Bein singt und bringt dadurch Wedekinds Alltag mit in die Szene: Er singt die Schriflstellerhymne, in der es um die Zensur geht. 53 Zweifellos spielt Wedekind hier auf seine fortwährenden Schwierigkeiten mit der Münchner Zensurbehörde an. 54 Ein weiteres Detail fällt in dieser Szene auf: Mephisto erregt mit seinem Hinken die Aufmerksamkeit der anderen Gäste. Bei Wedekind hat sich diesbezüglich eine Verlagerung ergeben: Nicht die Mephisto-Gestalt, sondern Laurus Bein wird als der Hinkende besungen. Auch das teuflische Verhalten, das Mephisto zeigt, verlagert Wedekind auf eine andere Figur: Wieder ist es Laurus Bein; er erschießt Mausi. Wedekind spaltet also die Mephisto-Figur auf. Entsprechend ist Veit keine reine Mephisto-Gestalt. Wie Austermühl nachweist, ist Veit in seinem »Schöpfungswillen«,55 mit dem er eine »neue sittliche Weltordnung«56 und ein neues Bild der Frau schaffen möchte, auch faustisch. 57 Trotz der strukturellen Ähnlichkeiten weichen die Weinstuben-Szenen inhaltlich voneinander ab. Beide Szenen haben eine ähnliche Umgebung, sind aber Z.B. gesellschaftlich anders lokalisiert. Daher lässt sich Wedekinds Szene in der »Weinstube Clara« ebenfalls als eine Nachahmung einordnen. Weiterhin werden typische Merkmale bei Goethe auf andere Figuren bei Wedekind verlagert. So bleibt die Struktur erhalten, die Figuren werden aber anders ausgefüllt. Wieder ahmt Wedekind Figuren aus dem Faust nach und verändert sie dabei. Anders ist der Szenentausch, der sich durch Verschiebung und die nur indirekte Darstellung ergibt, einzuordnen. Hier handelt es sich meiner Ansicht nach um eine einfache Transformation.
51 Gretchen singt den König von Thule, als sie den Schmuck findet, den Mephisto beschaffte 52 53 54
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und Faust in ihren Nachtschrank legte. Wedekind: Franziska, S. 47. Im Metrum und auch im Refrain greift Wedekind hier C. M. v. Webers Wir winden dir den Jungfernkranz aus seinem Freischütz auf. Auf diese Behörde wird auch in späteren Szenen verwiesen, vgl. llI.6. Vgl. zur Zensurgeschichte bei Wedekind: Meyer, Michael: Theaterzensur in München 1900-1918. Geschichte und Entwicklung der polizeilichen Zensur und des Theaterzensurbeirates unter besonderer Berücksichtigung Frank Wedekinds. München 1982. Austermühl: »Franziska«, S. 87. Wedekind: Franziska, S. 89. V gl. Austermühl: »Franziska«, S. 87.
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Begegnung mit Margarete - Franziskas Ehe mit Sophie Statt der »Gretchentragödie«58 zeigt Wedekind im 11. Akt die »Tragikomödie einer kinderlosen Ehe«.59 Wedekind übernimmt für diese »Sophiegroteske«60 nur die wesentlichen Elemente der Gretchen-Szenen, die den größten Teil des Faust I ausmachen, und adaptiert damit v.a. die Figuren-Konstellation. Die einzelnen Elemente überträgt er, teilweise verdreht, teilweise direkt oder mit anderen ergänzt, auf die grundsätzlich andere Ausgangssituation. Obwohl Franziskas Verwandlung zum Mann keine körperliche Verwandlung war, ist sie als Franz mit der Bürgerlichen Sophie verheiratet. Franz(iska) lässt Sophie glauben, sie habe eine Geliebte, um diesen Schwindel ihrer Ehefrau gegenüber aufrecht zu erhalten. Sophie nimmt daher an, sie werde Franz(iskas) Vorstellungen einer Ehefrau nicht gerecht. Mit der so provozierten Eifersucht gelingt es Franz(iska), ihr tatsächliches Geschlecht zu verheimlichen. Doering betont Franz(iskas) »)männliche< Perspektive gegenüber körperlichen Bedürfnissen«,61 die in Franz(iskas) Dialog mit Sophie deutlich wird,62 und sieht darin eine Betonung der Geschlechtsunterschiede in »karikierender Überspitzung«.63 Austermühl erkennt im Rollenspiel Franziskas und Sophies ein »prägnantes Abbild der modemen Gesellschaftshierarchie«. 64 Goethes Faust wird tatsächlich verjüngt und lebt mit dem Wissen eines alten, erfahrenen Mannes in einem jüngeren Körper weiter. Körperliche Umstände erschweren es aber Franz(iska), die männliche Rolle zu verinnerlichen: Sie begehrt ihre Ehefrau nicht, und sie ist von Veit, dessen Geliebte sie seit einem Jahr ist, schwanger. Für Franziska ist diese Schwangerschaft, genau wie für Gretchen, ein »Verhängnis«.65 Veit dagegen sieht ihre Schwangerschaft als eine neue Herausforderung, die es zu meistem gilt: »Das legt uns beiden ganz neue Unmöglichkeiten in den Weg, die wir siegreich zu überwinden haben. [ ... ] Was wird uns das wieder an Geisteselastizität einbringen!«66 Auch Doering wertet Franz(iskas) Möglichkeiten zu Genuss und Welterfahrunf' die ihre Rolle als Ehemann mit sich bringt, als »Stimulans für ihre eigene Aktivität«. 7 Die rein äußerliche Verwandlung Franziskas in einen Mann ermöglicht es Wedekind, in der Figur Franziska zugleich mehrere Positionen einer Frau anzulegen: Franziska tritt als Mann auf, ist Ehemann und zugleich Geliebte und werdende Mutter. Wedekinds weiblicher Faust nimmt also nach ihrer Verwandlung neue gesellschaftliche Rollen ein. Anhand dieser verschiedenen Rollen erkennt Doering Wedekinds Versuch, in der Figur Franziska »unterschiedliche Vorstellungen von 58 59 60 61 62 63 64 65
Irmer: Anarchismus und Psychoanalyse, S. 136. Irmer: Der Theaterdichter Frank Wedekind, S. 210. Irmer: Anarchismus und Psychoanalyse, S. 136. Doering: Die Schwestern des Dr. Faust, S. 269. Vgl. Wedekind: Franziska, S. 53-60. Doering: Die Schwestern des Dr. Faust, S. 269. Austermühl: »Franziska«, S. 85. Wedekind, Frank: Gesammelte Werke Bd. 6. München 1914. S. 150. Diese Formulierung taucht allerdings erst in der 4.15. Auflage auf. 66 Wedekind: Franziska, S. 73. 67 Doering: Die Schwestern des Dr. Faust, S. 270. 183
Weiblichkeit in Szene zu setzen«.68 Statt inhaltlicher Wahrscheinlichkeiten im psychologischen Sinne setzt Wedekind das Spiel mit verschiedenen Rollen bzw. Rollenbildern. Auslöser des Tragischen in den Gretchen-Szenen ist Gretchens uneheliche Schwangerschaft. Wedekind greift das Thema Schwangerschaft zwar auf, stellt es aber in einen anderen Zusammenhang und verdreht es dabei: Sophie, die Partnerin der FaustGestalt, ist unglücklich, weil sie nicht schwanger ist. Weiter transfonniert Wedekind die Szene, indem die Faust-Gestalt schwanger ist, nicht aber die Partnerin der FaustGestalt. So gibt es in beiden Dramen eine Schwangerschaft, die für die Frau ein Verhängnis bedeutet. Zugleich kontrastiert Wedekind Franziskas Schwangerschaft mit Sophies Kinderlosigkeit: »Das dort dargestellte Unglück der ledigen Mutter Margarete transfonniert Wedekind in den Kummer der kinderlosen Ehefrau.«69 Für Gretchen ist das Verhängnis, ein uneheliches Kind zur Welt zu bringen, ungleich größer als für Franziska. Franziska kann einerseits eine Abtreibung vornehmen lassen, wofür sie sich auch entscheidet, andererseits hat sie die finanzielle Absicherung durch eine Geburtsversicherung im Hintergrund. Franziska und Gretchen haben verschiedene Gründe, ihre Schwangerschaft als Katastrophe zu empfinden. Gretchen wird gesellschaftlich geächtet. Franziska ist die Schwangerschaft bloß lästig, und ihr werden dadurch die Grenzen des Pakts verdeutlicht. Für beide wird die Situation durch den Auftritt des Bruders geklärt: Sophies Bruder, ein Oberleutnant, hat herausgefunden, dass Franz(iska) in Wahrheit eine Frau ist. Er deckt dies auf, und Sophie begeht daraufhin Selbstmord. Eine ähnliche Personenkonstellation findet sich in der Gretchentragödie. Auch hier ist es der Bruder der in die Faust-Gestalt verliebten Frau, ein einfacher Soldat, der bekannt macht, dass Gretchen schwanger ist. Wedekind verlagert das Aufdecken der Schwangerschaft auf den Betrug, den Franz(iska) an Sophie begangen hat. Gretchen kommt gesellschaftlich wegen ihrer - unehelichen - Schwangerschaft in Schwierigkeiten, Sophie dagegen, weil sie mit einer Frau verheiratet ist und - ehelich - nicht schwanger ist. Am Ende sterben die beiden betrogenen Frauen. So nehmen beide >Teufelspaktler< auf ihrer Suche nach Sinnengenuss Opfer in Kauf. Die Brüder Sophies und Gretchens, die beide beim Militär sind, klären die jeweilige Situation. Der unterschiedliche militärische Rang beruht auf Wedekinds Verlagerung der gesellschaftlichen Schicht. Diese Verlagerung ist u.a. notwendig, um Ähnlichkeiten zwischen Franziska und Sophie zu betonen. Beide kommen aus einer bürgerlichen Familie, aber nur Sophie schlägt den traditionellen Lebensweg ein und lebt in der Art von Ehe, die Franziska als Frau niemals eingehen wollte. So ergibt sich aus Wedekinds Veränderung der Faust-Vorlage eine neue Betonung der Konflikte. Dabei überträgt Wedekind Gretchens Schuldgefühle weder auf Franziska noch auf Sophie. Gretchen macht sich sowohl für den Tod ihrer Mutter als auch für den ihres Bruders verantwortlich. Sophie jedoch erschießt sich aus Scham und Eifersucht über ihr eigenes Schicksal. Auch den 11. Akt hat Wedekind als Transfonnation des Hypotextes gestaltet. Diese Travestie enthält auch einige Anspielungen auf den Hypotext, sodass auch Intertextualität im Sinne Genettes nachgewiesen werden kann. 68
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Ebd. S. 273. Ebd. S. 260.
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»Zimmer, ehemals Faustens« - »Nacht. Sternenhimmel« Das 7. Bild in Franziska entspricht der Szene »Zimmer, ehemals Faustens« im Faust II. Franziska und Veit treffen sich nach ihrer Flucht vom »Herzoglichen Residenzschloß Rotenburg« unterhalb des Schlosses, in dem Franziska aufgewachsen ist wieder. In dieser überraschend idyllischen Szene sitzen beide innig vereint auf eine~ Treppenabsatz, der zum Schloss hinaufführt, und genießen die friedliche Abendstimmung. Franziska erzählt Veit, dass sie ihre Kindheitsängste überwunden habe. Nun könne sie jeden Lebensgenuss auch wirklich auskosten. Am Abend zuvor wurden beide auf der Treppe von einem weißen Kätzchen begleitet. Nach ihrer Flucht aus der »Kaiserlichen Pfalz« sind Mephisto und Faust wieder in Fausts Studierzimmer. Faust ist seit der Explosion am Kaiserhof, mit der das heraufbeschworene Bild Helenas verschwand, bewusstlos. Der in der Zwischenzeit von Fausts ~amulus .W~gner ~eschaffene Homunkulus deutet Fausts Träume. Mephisto macht Sich schheßhch mit dem Homunkulus und dem noch immer bewusstlosen Faust auf Helena zu finden. Die Rückkehr in die Heimat, in sein Studierzimmer, ennöglich~ Fausts nächste Stufe des Genusses. Beide Rückkehr-Szenen sind Szenen des Übergangs und der Einkehr; ein - vorbereitender - Ruhepol. Im Faust wird die nächste Station vorbereitet, in Franziska wird _ aus Veits Sicht - der Pakt erfüllt, da Franziska auf alle Bedingungen des Pakts tatsächlich eing~~angen zu sein scheint. Diese Szene findet auf einer Treppe, also an einem Ort d~s Ubergangs,. statt. Die entscheidende Szene, die eine erneute Verwandlung Franzlskas und damit das Ende des Pakts mit sich bringt, folgt auf dieses Bild. Im Faust folgt der He1ena-Akt. Der Pakt wird erst später, nach Fausts Verlust Helenas erfüllt, als Faust venneintlich zu einem Mann der Tat wird. ' Wedekind baut Franziska ähnlich wie eine klassische Tragödie auf. Die fünf Akte in Franziska sind in insgesamt neun Bilder unterteilt, die unabhängig von den Akten das Drama durchlaufen. Diese Bilder wiederum sind in einzelne Szenen eingeteilt. 70 Das 7. Bild ist das erste Bild des IV. Aktes. Dieses Bild deute ich im Sinne einer klassischen Tragödie als Retardierung des Geschehens: Franziska hat ihre Ängste überwunden, die maßgeblich ihren Wunsch nach Lebensgenuss genährt und diesen Wunsch zugleich unmöglich gemacht haben. Die Rückkehr an den Ort, an dem Franziska aufgewachsen ist, macht ihr die Überwindung ihrer Kindheitsängste bewusst. Veit ist sich seiner Abmachung sicher, da er auf das »Naturgesetz«71 vertraut und F~anziska bislang auf alle Bedingungen Veits eingegangen ist. Nun scheint es so, als gmge der Pakt in Veits Sinne auf. Veit wiegt sich daher in einer falschen Sicherheit. Seine Aufgabe scheint hier abgeschlossen zu sein, und er behandelt Franziska wie seine »Leibeigene«: 72 »Mund zu und Augen zu! Schweig und sei lieb!« 73 Gerade hier 70 Der 11. und IV. Akt bestehen aus jeweils fünf Szenen, sonst sind es weniger. 71 Wedekind: Franziska, S. 36. 72 Ebd. 73 Ebd. S. 132. 185
wird Irmers zuvor erwähnte Deutung plausibel: »Der Pakt verkehrt sich ironisch in sein Gegenteil, so dass Franziska zwei Jahre lang die Geliebte dieses Tausendsassas wird und dann ihre Freiheit als Frau gewinnt.« 74 Mephisto ist dagegen tatsächlich gefordert, Helena zu finden und damit Fausts Sehnsucht zu erfüllen. Es werden die Weichen für die nächste Station gestellt, die Faust aber noch nicht zu der gesuchten höchsten Erkenntnis verhilft. Faust wird in dieser Szene, anders als Franziska, als vollständig passiv dargestellt. Erst der Übergang vom »Staats-Akt« 75 zum »Helena-Akt« 76 führt Faust in eine neue Richtung. Nach dem Verlust seines Sohnes und Helenas, die dem gemeinsamen Kind in die Unterwelt folgt, sucht Faust die höchste Erkenntnis im Handeln. Er möchte nicht mehr konsumierend erleben. Im Wunsch, einen Sumpf trocken zu legen, um sein Volk vor Krankheiten zu schützen, erreicht er die höchste Erkenntnis: »Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, / Der täglich sie erobern muß.« 77 Beide Szenen sind im Handlungsverlauf ähnlich platziert, haben aber eine unterschiedliche Bedeutung. Daher lässt sich das 7. Bild ebenfalls als eine Nachahmung klassifizieren. Die inhaltlichen Entsprechungen, die Rückkehr nach der Flucht zum Ausgangsschauplatz der Dramenhandlung, gehören also wieder dem Typ der Hypertextualität an. Veit hatte sich Franziska als »Sternenlenker« 78 vorgestellt. Nun sieht Franziska hinter Veit im Himmel die Sterne: »Während du mich gestern in den Armen hieltst, sah ich in die Sterne über deinem Kopf.« 79 Sie hat ihr Trauma überwunden und ist in der Lage, ihre Sterne selbst und in ihrem eigenen Sinne zu lenken. Franziska kann sich aus den Bedingungen, die sie von Anfang an nicht akzeptierte, befreien und ihren eigenen Weg gehen. Veits >Schöpfungswille< greift nicht mehr. In dem weißen Kätzchen, das Franziska und Veit begleitete, vermutet Doering eine doppelte Verdrehung: »Es ist gut möglich, daß Wedekind damit - in doppelter Umkehrung - auf den schwarzen Pudel anspielt, den Faust und Wagner in Goethes Drama >vor dem Tor< beobachten.«8o So wie Mephisto im schwarzen Pudel steckte, steckt die weiße Katze in Franziska (!) und entpuppt sich als der wahre Kern. Damit entläuft Veit >seine< Katze. Als »Symboltier des Weiblichen«81 könnte sie auch Franziskas endgültige Rückverwandlung in eine Frau ankündigen. Auch dies wäre eine doppelte Verdrehung des Hypotextes. In diesem kurzen Bild beginnt Franziskas erneute Verwandlung, die ihre Lösung aus dem Pakt ermöglicht. Am Ende des IV. Aktes spielt sie als Helena in einem von Veit verfassten Mysterienspiel. Veit spielt darin den Christus und der Schauspieler Breitenbach den Simson. Nach einem sinnlichen Erlebnis mit Breitenbach, bei dem
74 Inner: Anarchismus und Psychoanalyse, S. 136. 75 Schöne: Kommentar, S. 492. 76 Ebd. 77 Goethe: WA 15.1. S. 315f, V. 11575f. 78 Wedekind: Franziska, S. 31. 79 Ebd. S. 132. 80 Doering: Die Schwestern des Dr. Faust, S. 268, Fußnote 41. 81 Vgl. Lurker, Manfred (Hg.): Wörterbuch der Symbolik. 2. Aufl. Stuttgart 1983. S. 372f. 186
Franziska »vollständig die Sinne schwanden«,82 ist es ihr möglich sich endgültig aus dem Pakt mit Veit zu befreien: »Dort ist ein Prophet zu sehen / De; sich meiner sicher fühlt. / Hab' ihm drum im Handumdrehen / Einen Schabernack gespielt.«83 Das Stück endet vier Jahre später, nachdem Franziskas Sohn Veitralf, benannt nach den beiden möglichen Vätern Veit Kunz und Ralf Breitenbach, eine schwere Krankheit überstanden hat. Franziska lebt zurückgezogen nur mit ihrem Sohn zusammen. Ob sie eine erneute Verwandlung durchmacht und auf den Heiratsantrag des dritten Mannes, der in ihr Leben tritt, eingeht, oder ob sie sich dem männlichen Wunsch erneut 84 widersetzt, bleibt offen. Franziska hat als Mutter in ihrer Sorge um das kranke Kind das Ziel ihrer Suche erreicht und ihre Lebensbestimmung gefunden. Für den weiblichen Faust ist zwar äußerer Erfolg möglich, aber keine innere Erfüllung. 85
Fazit Die Untersuchung hat gezeigt, dass Wedekind in Franziska die Struktur des Hypotextes, Goethes Faust, übernommen hat und für neue Inhalte und Schwerpunkte nutzt. Im Sinne Genettes ist Franziska daher über weite Teile eine Nachahmung, in der einige Stationen konträr und einige parallel zum Faust I und II angelegt sind. Die Reihenfolge der Handlung bleibt bis auf eine Abweichung erhalten. Franziska wird anfangs als eine Frau der Tat mit konkreten Vorstellungen über ihr Leben dargestellt. Veit wählt für Franziskas Weg die verschiedenen Stufen so aus, dass auch er davon profitiert. Am Ende wird sie in einer passiven Rolle, als auf ihr Kind bezogene Mutter gezeigt, die sich aber noch immer den Wünschen Veits und Breitenbachs widersetzt. So ist Franziska zwar Mutter, aber weder Ehefrau noch Geliebte. Faust möchte konsumierend genießen, und Mephisto muss beständig neue Situationen schaffen, in denen Faust höchstes Glück genießen können soll. Dazu muss Mephisto ausprobieren, für welche Formen von Genuss Faust empfänglich ist. Er ist zwar dafür verantwortlich, dass Faust die erstrebte Erkenntnis erreicht, fühlt sich aber frei in der Wahl des Weges dorthin. Über Fausts Skrupel hinsichtlich einer moralischen Schuld setzt er sich hinweg. Erst als sich Faust vom konsumierenden zum vermeintlich tätigen Mann wandelt, erkennt er, was für ihn wahres Glück bedeuten kann. Im Vorgefühl des Augenblicks erlebt er den Moment höchsten Genusses, nicht ahnend, dass er betrogen ist. Faust und Franziska gehen den Pakt unter verschiedenen Voraussetzungen ein. Franziska möchte aktiv und tatkräftig sein. Faust erlangt die Erkenntnis im Wunsch nach Tätigkeit erst am Ende des Pakts. Franziska hat nicht den Kampf ums Dasein geführt, sondern um das Leben ihres Kindes gekämpft. Wieder verändert Wedekind den Inhalt und behält den äußeren Rahmen bei, das Motiv bleibt also ähnlich. Daraus folgt 82 83 84 85
Wedekind: Franziska, S. 133. Ebd., S. 155. Vgl. Austennühl: »Franziska«, S. 98. Vgl. Doering: Die Schwestern des Dr. Faust, S. 272. 187
eine andere Schwerpunktsetzung. Nach Genette lässt sich diese Ver1age~g ebenso wie die vorangegangenen innerhalb der Hypertextualität als Nachahmung emordnen. In Franziska fehlt das irreale und magische Moment des Faust; das ganze Drama ist realistischer und alltagsnäher angelegt. Auch die Gestaltung der Figuren fällt ande~s aus. Zusätzlich zu der Aufspaltung einzelner Facetten einer Figur prägt Mephisto m~t Witz, aber auch mit Skrupellosigkeit und Menschenverachtung d.ie Ha~dlung, Velt dagegen wird als gerissener Geschäftemacher dargestellt, der auf semen eigenen Pro~t bedacht ist. Beiden Dramen ist aber gemein, dass sie sich nicht an den strengen zel~ lichen Ablauf einer klassischen Tragödie halten, sondern jeweils mehrere Jahre ZWIschen den Szenen vergehen. Genettes Theorie der Transtextualität erleichtert es, offensichtliche und versteckte Bezüge in Franziska zu Goethes Faust herau~~arbeiten. Die eing~ngs erwähnten Paratexte wie das Motto und Wedekinds eigene Außerungen unterstreichen den Bezug zu Goethe. Im Drama selbst lassen sich neben diversen Anspielungen und Zitaten mehrheitlich Bezüge in Form einer Nachahmung oder Transformation ausmachen. In ?er strengen Auffassung von Genettes Theorie, wie sie hier angewende~ wurde, lassen Sich Bezüge auf das tages aktuelle Geschehen und auf bekannte dramattsche Strukturen .allerdings nicht untersuchen. Genette deutet im Ausblick seiner Palimpseste zwar eme Erweiterung über Bezüge auf literarische Texte hinaus an, führt diese aber nicht aus. 86 Unabhängig davon, ob man Franziska als unzumutbare Parodie oder gelung.ene N~ch ahmung des Faust betrachtet, stellen die intertextuellen Bezüge zum Faust el~en Wichtigen Bestandteil der Interpretation dar: Sie öffnen den Blick und zeigen den schwarzen Pudel in Gestalt des weißen Kätzchens.
Constanze Spieß (Deskriptive Sprachwissenschaft)
Strategien der Textvemetzung. Isotopien als Konstituenten intertextueller Relationen
Einleitung Mit der Einführung des Begriffs Intertextualität durch die Semiotikerin, Literaturwissenschaftlerin und Psychoanalytikerin Julia Kristeva in ihrer Auseinandersetzung mit dem Dialogizitätsprinzip Bachtins I fand das Konzept der Intertextualität in der Literaturwissenschaft eine hohe Resonanz, während die Linguistik sich nur zögerlich diesem Konzept näherte. 2 Erst vor einigen Jahren setzte auch innerhalb der Sprachwissenschaft eine gewisse Auseinandersetzung mit dem Phänomen Intertextualität ein, die zugleich unterschiedliche Konzeptionen und Operationalisierungen evozierte und Diskussionen um den Intertextualitäts- und Textualitätsbegriff auslöste. Als eines von sieben Textualitätskriterien diskutieren Beaugrande ulld Dressler 3 Intertextualität im Rahmen der Textlinguistik und bringen damit vorneh.lnlich den Texttnusterbezug ins Spiel. Erst durch die linguistische Auseinandersetzung mit poststrukturalistischen Positionen - etwa dem Foucaultschen Diskursbegriff - sowie die damit in Verbindung stehende Diskussion um Textualitätskriterien und -begriff gewann das Interesse am poststrukturalistischen Intertextualitätskonzept Kristevas und an dessen Implikationen in der Sprachwissenschaft mehr an Bedeutung und führte hin und wieder zu theoretischen Auseinandersetzungen oder zur Anwendung auf Diskursebene. 4 Bis heute allerI
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V gl. Genette: Palimpseste, S. 513ff.
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Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Ihwe, Jens (Hg): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven Bd. 3: Zur linguistischen Basis der Literaturwissenschaft. Frankfurt 1972. S. 345-375. Bachtin, Michael M.: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur. Frankfurt 1969. Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. u. eingeleitet v. Rainer Grübel. Aus dem Russischen übers. v. Rainer Grübel u. Sabine Reese. Frankfurt 1979. V gl. Linke, Angelika; Nussbaumer, Markus: Intertextualität. Linguistische Bemerkungen zu einem literaturwissenschaftlichen Textkonzept. In: Antos, Gerd; Tietz, Heike (Hg.): Die Zukunft der Textlinguistik. Traditionen, Transfonnationen, Trends. Tübingen 1997. S. 109-126. Hier S. 111. Fix, Ulla: Aspekte der Intertextualität. In: Brinker, Klaus u.a. (Hg.): Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung. 1. Halbbd. Berlin/New York 2000. S. 450f. Vgl. Beaugrande, Robert Alain; Dressler, Wolfgang: Einführung in die Textlinguistik. Tübingen 1981. S. 12f. u. 188. Bei der sprachwissenschaftlichen Rezeption muss zwischen einer Rezeption, die vornehmlich die theoretischen Implikationen reflektiert, und einer Rezeption, die hauptsächlich anwendungsorientiert vorgeht, unterschieden werden. Am empirischen Nachweis konkreter intertextueller Bezüge orientierte Arbeiten sind beispielsweise: Burger, Harald: Intertextualität in den Massenmedien. In: Breuer, Ulrich; Korhonen, Jarmo (Hg.): Mediensprache - Medienkritik. Frankfurt u.a. 2001. S. 13-42; Fraas, Claudia: Bedeutungskonstitution im Diskurs - Intertextualität über variierende Wiederaufhahme diskursiv zentraler Konzepte. Eine exemplarische Analyse. In: Klein, Josef; Fix, Ulla 189
dings blieb die Auseinandersetzung im Vergleich zur Literaturwissenschaft marginal. Allen Konzeptionen von Intertextualität liegt dabei die sehr allgemeine Bedeutung zu Grunde, dass Texte sich immer auf Texte beziehen. Der vorliegende Beitrag zielt darauf ab, intertextuelle Strukturen als Konstitutionsbedingungen von Diskursen zu beschreiben und damit gleichzeitig das Konzept Kristevas für die Linguistik fruchtbar zu machen. In einem ersten Schritt werden daher wesentliche Aspekte der poststrukturalistischen Intertextualitätskonzeption Kristevas herausgestellt. Dabei wird der Intertextualitätsbegriff in den Rahmen eines linguistischen Diskursbegriffs gestellt, um dann einen Textbegriff zu skizzieren, der versucht, sprachpragmatischen und poststrukturalistischen Implikationen gleichermaßen gerecht zu werden (Abschnitt 2). Im Anschluss an diese theoretischen Einlassungen werden im dritten Abschnitt zunächst Beschreibungskriterien für die linguistische Analyse intertextueller Phänomene vorgestellt. In einem weiteren Schritt wird das Isotopiekonzept Greimas' als textlinguistische Methode zur Beschreibung tiefensemantischer Strukturen von Einzeltexten fokussiert und auf die Analyse intertextueller Strukturen eines Diskursausschnittes des öffentlich-politischen Stammzelldiskurses angewandt. Hierzu werden Texte aus der Frankfurter Rundschau (FR), der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), der Süddeutschen Zeitung (SZ) und der Wochenzeitung Die Zeit (Zeit) herangezogen.
(Hg.): Textbeziehungen. Linguistische und literaturwissenschaftliche Beiträge zur Intertextualität. Tübingen 1997. S. 219-234; Gimth, Heiko: Texte im politischen Diskurs. Ein Vorschlag zur diskurs orientierten Beschreibung von Textsorten. In: Muttersprache 1 (1996). S. 66-80; Jakobs, Eva-Maria: Textvernetzung in den Wissenschaften. Zitat und Verweis als Ergebnis rezeptiven, reproduktiven und produktiven Handelns. Tübingen 1999; Janich, Nina: Wenn Werbung mit Werbung Werbung macht... Ein Beitrag zur Intertextualität. In: Muttersprache 1 (1997). S. 297-309; Opilowski, Roman: Intertextualität in der Werbung der Printmedien. Eine Werbe strategie in linguistisch-semiotischer Forschungsperspektive. Frankfurt u.a. 2006; Rößler, EIke: Intertextualität in Zeitungstexten - ein rezeptionsorientierter Zugang. In: Klein, Josef; Fix, Ulla (Hg.): Textbeziehungen. Tübingen 1997. S. 235-255. Auf theoretischer Ebene, z. T. im Zusammenhang mit der Rezeption des Foucaultschen Diskursbegriffs und mit unterschiedlicher Intensität, setzen sich mit dem Intertextualitätsbegriff auseinander bzw. nehmen Bezug darauf: Busse, Dietrich: Historische Diskurssemantik. Ein linguistischer Beitrag zur Analyse gesellschaftlichen Wissens. In: Sprache und Literatur 86 (2000). S. 39-53; Busse, Dietrich; Teubert, Wolfgang: Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der historischen Semantik. In: Busse, Dietrich; Hermanns, Fritz; Teubert, Wolfgang (Hg.): Begriffsgeschichte und Diskursgeschichte. Methodenfragen und Forschungsergebnisse der historischen Semantik. Opladen 1994. S. 10-28; Linke, Angelika; Nussbaumer, Markus: Intertextualität; Warnke, Ingo: Texte in Texten - Post strukturalistischer Diskursbegriff und Textlinguistik. In: Adamzik, Kirsten (Hg.): Texte. Diskurse. Interaktionsrollen. Analysen zur Kommunikation im öffentlichen Raum. Tübingen 2002. S. 1-17; Warnke, Ingo: Adieu Text - Bienvenue Diskurs. Über Sinn und Zweck einer poststrukturalistischen Entgrenzung des Textbegriffs. In: Fix, Ulla u.a. (Hg.): Brauchen wir einen neuen Textbegriff? Antworten auf eine Preisfrage. Frankfurt am Main u.a. 2002. S. 125-141. 190
2
Intertextualität - Diskurs - Text
Dass Texte miteinander interagieren und in Beziehung stehen, ist kein neues Phänomen; die Vemetztheit von Texten wird bereits seit der Antike thematisiert. 5 Lediglich die durch Kristeva eingeführte Bezeichnung Intertextualität, die damit in Gang gesetzte theoretische Diskussion um Textualität und Intertextualität sowie Kristevas mit dem Intertextualitätskonzept verbundenes Anliegen einer allgemeinen Literatur- und Kulturkritik stellten in den 60er Jahren eine Novität dar. Das Konzept der Intertextualität entwickelte Kristeva 6 für literaturwissenschaftliche Auseinandersetzungen unter anderem als Kritik am Strukturalismus,7 der Sprache vorrangig als ein konkreten Kontexten enthobenes System begreift, sowie
»Schon seit der Antike haben sich Texte nicht nur in einer imitatio vitae unmittelbar auf Wirklichkeit, sondern in einer imitatio veterum auch aufeinander bezogen, und die Rhetorik und die aus ihr gespeiste Poetik brachten solche Bezüge von Texten auf Texte mit zunehmender Detailliertheit, wenn auch ohne Sinn fiir den Gesamtzusammenhang, auf den Begriff.« (Broich, Ulrich; Pfister, Manfred (Hg.): Intertextualität. Formen, Funktionen, anglistische Fallstudien. Tübingen 1985. S. 1. Vgl. auch Jakobs, Eva-Maria: Textvernetzung in den Wissenschaften. Tübingen 1999. S. 6-15; vgl. Fix, Ulla: Aspekte der Intertextualität. S. 449). 6 Kristeva selbst nahm in späteren Arbeiten von diesem Begriff Abstand. Sie entwickelte ihr Konzept weiter und ersetzte Intertextualität durch den Begriff der Transposition. »Der Terminus Intertextualität bezeichnet eine solche Transposition eines Zeichensystems (oder mehrerer) in ein anderes; doch wurde der Terminus häufig in dem banalen Sinne von >Quellenkritik< verstanden, weswegen wir ihm den der Transposition vorziehen; [... ] Wenn man einmal davon ausgeht, daß jede signifikante Praxis das Transpositionsfeld verschiedener Zeichensysteme (Intertextualität) ist, dann versteht man auch, daß ihr Aussage>ort< und ihr denotierter >Gegenstand< nie einzig, erfiillt und identisch mit sich selbst sind, sondern pluralisch, aufgesplittert und Tabellenmodellen zugänglich. Die Polysemie erscheint so auch als Folge semiotischer Polyvalenz, d.h. der Zugehörigkeit zu verschiedenen semiotischen Systemen.« (Kristeva, Julia: Die Revolution poetischer Sprache. Frankfurt 1978. S.69). 7 Diese Variante des Strukturalismus, so Kristeva, reduziere Textanalyse auf ein textimmanentes und kontextenthobenes Verfahren. Kristeva möchte aber gerade die geschichtliche, kulturelle, kontextuelle Bedingtheit von Texten und deren Relationalität herausstellen. Vgl. Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 351; vgl. auch Kristeva, Julia: Semiologie kritische Wissenschaft und/oder Wissenschaftskritik. In: Zima, Peter v. (Hg.): Kristeva, Eco, Bachtin u.a. Textsemiotik als Ideologiekritik. Frankfurt 1977. S. 35-53; Kristeva, Julia: Semiologie der Ideologien. In: Ebd. S. 65-76. In der Literaturwissenschaft evozierte sie damit zugleich einen Paradigmenwechsel in der Betrachtung literarischer Texte. Vgl. Heinemann, Wolfgang: Zur Eingrenzung des Intertextualitätsbegriffs aus textlinguistischer Sicht. In: Klein, Josef; Fix, Ulla (Hg.): Textbeziehungen. Tübingen 1997. S. 21-37. Hier S. 22f.; vgl. Linke, Angelika; Nussbaumer, Markus: Intertextualität, S. 109f.; vgl. Fix, Ulla: Aspekte der Intertextualität, S. 449ff., vgl. Dosse, Franc;ois: Geschichte des Strukturalismus Bd. 2: Die Zeichen der Zeit, 1967-1991. Aus dem Französischen v. Stefan Barmann. Hamburg 1997. S.74-77. 5
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»als heftige Reaktion zunächst gegen die literarische critique universitaire und die an Schulen grassierende explication de textes, auch gegen die nouvelle critique, dann auch gegen die etablierte Philologie ganz allgemein«. 8
Die Kritik zielte in erster Linie auf einen statischen und starren Text- und Werkbegriff, der die Literaturwissenschaften bis dahin dominierte. Das Konzept der Intertextualität entstand somit im Kontext ästhetischer Diskussionen und folgt einem allgemeinen und weiten Textverständnis, das alle kulturellen und gesellschaftlichen Zeichensysteme einschließt. In Auseinandersetzung mit dem Dialogizitätsprinzip Bachtins 9 konzeptualisiert Kristeva Intertextualität zunächst als die Nichtfestgelegtheit sprachlicher Zeichen im Sinne einer Mehrstimmig- bzw. Viel stimmigkeit. Das sprachliche Zeichen stellt demnach eine Schnittstelle mehrerer Sinnebenen dar; Wörter und Texte erfahren in den je spezifischen Kontexten unterschiedliche Sinndeutungen, wobei die Rezipientenperspektive als Ort der Sinnerzeugung eine besondere Rolle spielt. »[D]as Wort (der Text) ist Überschneidung von Wörtern (von Texten), in der sich zumindest ein anderes Wort (ein anderer Text) lesen läßt. Diese beiden Achsen, die Bachtin Dialog und Ambivalenz nennt, werden von ihm nicht immer klar voneinander unterschieden. Dieser Mangel an Strenge ist jedoch eher eine Entdekkung, die Bachtin als erster in die Theorie der Literatur einführt: jeder Text baut sich als Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache läßt sich zumindest als eine doppelte lesen.«10
Intertextualität kann somit als genuines Kriterium von Textualität gelten. Kristeva konzeptualisiert Texte als Größen, die durch die Merkmale Prozessualität und Dynamik gekennzeichnet sind: Insofern sie vergangenes Textmaterial zu neuen Sinneinheiten transformieren und neu ordnen, werden Texte als sinngebende Praxis bzw. als Produktivität bezeichnet; demzufolge stellen sie keine abgeschlossenen Einheiten dar. 11 Mit einer solchen Konzeption unterzieht Kristeva zugleich die traditionellen Kategorien Autor/Subjekt und Werk als abgeschlossene Einheit einer kritischen Reflexion. »Diese Dynamisierung des Strukturalismus wird erst durch eine Auffassung möglich, nach der das >literarische Wort< nicht ein Punkt (nicht ein feststehender Sinn) ist, sondern eine Überlagerung von Text-Ebenen, ein Dialog verschiedener Schreibweisen: der des Schriftstellers, der des Adressaten (oder auch der Person), der des gegenwärtigen oder vorangegangenen Kontextes.« 12
Linke, Angelika; Nussbaumer, Markus: Intertextualität, S. 112. V gl. Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman; Bachtin, Michail M: Literatur und Karneval. Frankfurt 1969; Bachtin, Michail M.: Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt 1979. 10 Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 347f.; Hervorh. im Original. 11 Vgl. Kristeva, Julia: Der geschlossene Text. In: Zima, Peter v. (Hg.): Kristeva, Eco, Bachtin u.a. Textsemiotik als Ideologiekritik. Frankfurt 1977. S. 194ff.; Kristeva, Julia: Die Revolution der poetischen Sprache, S. 30. Die Charakterisierung des Textes als Produktivität meint den Prozess der Sinngenerierung durch den Text selbst, insofern mehrere, anderen Texten entstammende Aussagen zusammenwirken. 12 Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 346. 192
Der Text als autonomes Sinngebilde eines einzelnen Autors existiert für Kristeva nicht me.~r. Als ~mmer sc~on i~· größere ~esel1scha:ftliche Zusammenhänge eingebettete Große - Kristeva spncht .hIe~ vom »~mdri~~en d~r Geschichte (der Gesellschaft) in den Text und des Textes m dIe GeschIchte« - WIrd Text als eine Schnittstelle intertextueller Bezüge, die immer schon auf etwas anderes verweisen, begriffen. Der Autor als autonomes Subjekt und als intentionale Instanz verschwindet dahinter 14 dieser ist vielmehr in einer Dreierkonstellation zu denken: Autor - Adressat - T~xt/Kontext Diese Dreierkonstellation lässt die Grenzen zwischen rezipierendem und schreibende~ Subjekt verwischen. 15 Diese spezifische Konstellation bewirkt nach Kristeva eine Dezentrierung des Subjekts, das als »Projektionsraum des intertextuellen Spiels«16 begriffen wird. »Die >Dezentriemng< des Subjekts, die Entgrenzung des Textbegriffes und Texts zusammen mit Derridas Kupierung des Zeichens um sein referentielles Signifikat die die Kommunikation zu einem freien Spiel der Signifikanten reduziert läßt da~ Bild e~nes. >Universum der Texte< entstehen, in dem die einzelnen subjektlosen Texte m emem regressus ad infinitum nur immer wieder auf andere und prinzipiell auf alle anderen verweisen, da sie ja alle nur Teil eines >texte general< sind der mit der Wirklichkeit und Geschichte, die immer schon >vertextete< sind zu~am menfällt.«17 ' -
In einer solchen Konzeption scheinen sich die Kategorien Subjektivität, Intentionalität, A~tor, Werk und Begrenzung aufzulösen. Der Text gilt als nicht abschließbare, dyna-
mIsche und polydimensionale Einheit, die aufgrund eines Spiels mit Verweisen konstituiert wird. 18 Der dabei von Kristeva favorisierte weite Textbegriffumfasst nicht mehr nur sprachlich Verfasstes, sondern alle möglichen Formen kultureller Codes. Sämtli13 Ebd. S. 351. 14 Vgl. ebd. S. 358, 362 u. 367; vgl. Holthuis, Susanne: Intertextualität. Aspekte einer 15 rezeptio.nsorientie~en Ko~eption. Tübingen 1993. S. 14. 16 Vgl: Kriste~a, Juha: Bachtm, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 351. BrOlch, Ulnch; Pfister, Manfred: Intertextualität, S. 8. 17 Ebd. S. 9 18 Auflösen des Subjekts meint bei Kristeva u.a., dass das Subjekt selbst keine autonome mit sich selbst identische Einheit mehr darstellt, sondern eine Schnittstelle im Diskurs ist' und erst durch intertextuelle Bezüge konstituiert bzw. produziert wird. _Entsprechend ihrer Auffassung von Intertextualität konzipiert sie das Subjekt als offen,unabschließbar und prozessual. Die Subjektbildung geht mit dem Spracherwerb einher und wird erst durch dies~n ermöglicht (vgl. .Kristev~, Julia: Die Revolution poetischer Sprache, S. 38). Die SubJektwerdung fasst SIe als emen Prozess der Sinngebung, wobei Subjekt und Sinn Effekte von Prozessen sind. Da sich Sinn immer erst prozessual konstituiert und nicht auf etwas Bestimmtes festgelegt werden kann, ist das Subjekt prinzipiell mehrdeutig und offen. Damit wird es nicht als ein autonomes, einheitliches, intertextuellen Prozessen vorgelagertes S~bjekt au~gefasst, ?as intentional im Sinne eines originären Schöpfers handelt. Vgl. Kristeva, Juha: Bachtm, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 358. Hier ist jed?ch ni~ht der Ort, an dem eine D.is~ssion des Subjektbegriffs erfolgen kann. Vgl. zur. DIs~ssion u~ den poststmkturahstlschen Subjektbegriff beispielsweise Kristeva, Juha: DIe RevolutIOn poetischer Sprache; Foucault, Michel: Die Archäologie des Wissens. Frankfurt 1981; Foucault, Michel: Was ist ein Autor? In: Ders.: Schriften zur Literatur Hrs~. v. Daniel Defert u.a. Frankfurt 2003 sowie Hauskeller, Christine: Das paradox~ Subjekt. Unterwerfung und Widerstand bei Judith Butler und Michel Foucault. Tübingen 2000.
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ches gesellschaftliche Wissen stellt für Kristeva Text dar; der Text kann nur noch als Intertext gesehen werden, der nicht mehr von einem originären Subjekt produziert wird, sondern sich ständig selbst reproduziert. Mit einer solchen Entgrenzung des Textbegriffs radikalisiert Kristeva Bachtins Auffassung, zugleich löst sie die Unterscheidung zwischen textimmanenten und textexternen Faktoren auf. Sie konzeptualisiert »Text als >Gesellschaft< oder >historio-kulturelles< Paradigma und [den] Textbegriff [... ] als >transsemiotisches Universum< bzw. als Konglomerat aller Sinnsysteme und kulturellen Codes«.19 Daraus ergeben sich allerdings Probleme für eine linguistische Rezeption des poststrukturalistischen Intertextualitätsbegriffes, die weiter unten erörtert werden. Jüngere linguistische Auseinandersetzungen mit dem Intertextualitätsbegriff Kristevas plädieren dafür, das poststrukturelle Konzept Kristevas kritisch zu übernehmen und es in den Rahmen eines Diskursbegriffes im Anschluss an Foucault zu stellen. Insbesondere die linguistische Auseinandersetzung mit dem Foucaultschen Diskursbegriff und die damit zusammenhängende Diskussion um Textualitätskriterien forcierte das zwar relativ geringe, aber langsam zunehmende Interesse am Intertextualitätsbegriff in der Sprachwissenschaft. 20 Nach Foucault stellen Diskurse Denksysteme dar, die die Wahrnehmung der Welt stark prägen und somit realitätskonstituierende Kraft haben. Diskurse haben Handlungspotenz, insofern sie als Praxis produktiv sind und nicht Bedeutungen abbilden, sondern diese erst als Effekte der diskursiven Praxis schaffen. 21 Diskurse konstituieren sich aus einer bestimmten Anzahl regelmäßig auftretender Aussagen, die einem gleichen Formationssystem angehören. 22
19 Holthuis, Susanne: Intertextualität, S. 144; vgl. auch Hempfer, Klaus: Post strukturale Texttheorie und Narrative Praxis. Tel Quel und die Konstitution des nouveau Roman. München 1976. S. 53-55. 20 Vgl. Warnke, Ingo: Texte in Texten; Warnke, Ingo: Adieu Text - Bienvenue Diskurs; Busse, Dietrich; Teubert, Wolfgang: Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt?; Linke, Angelika; Nussbaumer, Marlrus: Intertextualität. Warnkes Forderung einer Erweiterung des Textbegriffes ist nicht mit einer Entgrenzung oder Auflösung des Textes im Sinne Kristevas gleichzusetzen. Vielmehr plädiert er im Anschluss an den Diskursbegriff Foucaults für die Einbettung des immer schon in diskursiven Bezügen stehenden Einzeltextes in die übergeordnete Ebene des Diskurses. Dies schließt eine Rezeption des Intertextualitätskonzeptes Kristevas, das in engem Zusammenhang mit dem Diskursmerkmal der Diskursivität zu sehen ist, ein. Vgl. Warnke, Ingo: Texte in Texten, S. 4, 6f.; Warnke, Ingo: Adieu Text - Bienvenue Diskurs, S. 136f. Linke und Nussbaumer plädieren für eine kritische Übernahme poststrukturalistischer Intertextualitätskonzepte. In diesem Zusammenhang setzen sie sich für die Orientierung an einem dynamischen, sich an kognitiven Prozessen ausrichtenden Textbegriff ein. Zugleich stellen sie aber zentrale Theoreme der Textlinguistik heraus, die ein linguistisches Intertextualitätskonzept nicht außer Acht lassen darf, wie beispielsweise den Handlungscharakter von Texten oder den Faktor der Intentionalität. 21 Vgl. Foucault, Michel: Die Archäologie des Wissens, S. 67 u. 171. 22 Auf das Phänomen der Intertextualität bezieht er sich im Kontext seiner Diskurstheorie, ohne diese ausdrücklich zu benennen, wenn er sagt, dass »[d]ie Grenzen eines Buches [... ] nie sauber und streng geschnitten [sind]: über den Titel, die ersten Zeilen und den Schlußpunkt hinaus, über seine innere Konfiguration und die es autonomisierende Form hinaus ist es in einem System der Verweise auf andere Bücher, andere Texte, andere Sätze verfangen: ein Knoten in einem Netz.« (Ebd. S. 36). 194
»In dem Fall, wo man in einer bestimmten Zahl von Aussagen ein ähnliches System der Streuu~g beschreiben könnte, in dem Fall, in dem man bei den Objekten, den Ty~.e~ de~ A~ßerung, den Begriffen, den thematischen Entscheidungen eine Regelmaßlgkeit (eme Ordnung, Korrelation, Positionen und Abläufe, Transformationen) definieren könnte, wird man übereinstimmend sagen, daß man es mit einer diskursiven Formation zu tun hat«.23 Im linguistis~hen Konte~t wird Diskurs im Anschluss daran als eine Ansammlung von Texten zu eInem gemeInsamen Thema verstanden, die in einem >diskursiven< Beziehungsgefüge stehen. Intertextuellen Strukturen kommt dabei eine entscheidende Rolle . . zu, insofern 24 . sich Texte im gegenseitigen thematischen-Bezug zu Diskursen konstttuieren. Diskurse als komplexe Handlungsrahmen sprengen somit die Einzeltextgrenze, der Einzeltext wird nicht mehr als größte Analyseeinheit aufgefasst. Die kommunikative Funktion und die Stellung von Einzeltexten innerhalb von Diskursen ~eigen sic~ mithin erst durch die diskursive und intertextuelle Vernetzung, insofern Ihnen besttmmte Merkmale und Eigenschaften zugewiesen werden können. So können Texte beispielsweise diskurs transzendent, diskurs immanent, diskursperipher oder dis~rsd?minant sein. 25 ~war sind Einzeltexte intratextuell oftmals monologisch struktunert~ Im Zusammenspiel des Diskurses stehen sie aber in Bezug zu anderen Texten, rea~leren auf. an~ere Texte und bilden Ausgangspunkte bzw. MöglichkeitsbedIngungen für wettere Textproduktionen. Die gegenseitige Bezogenheit der Texte innerhalb von Diskursen kann sowohl expliziter als auch impliziter Art sein, sie resultiert aus der immer schon bestehenden kontex~ellen . Einbe~ng der Textemittenten, die nur auf Grund dieser Einbettung Texte In der Je spezifischen Art produzieren und immer schon auf Vorhergehendes Bezug nehmen. Daraus ergi.bt si~h das ~erkmal der Dialogizität als offene und polyphone Struktur von Texten Im Diskurs; eIn Text bedarf immer anderer Texte um existieren zu können, und ist aufgrund seiner relationalen Potenz zu andere~ Texten prinzipiell unabgeschlossen, wie auch Diskurse immer unabgeschlossen sind. Intertextualität kann somit als ein wesentliches Merkmal von Diskursen neben anderen Diskursmerkmalen angesehen werden. Das jeweil~ge Int~rtextualitätskonzept wird wesentlich durch den zugrunde liegenden Textbegnff besttmmt. Im Folgenden soll ein Textbegriff vorgestellt werden der s~wohl poststrukturalistischen Anliegen gerecht wird als auch wesentliche textli~gui sttsche Grundannahmen einschließt. Es gibt zahlreiche Definitionen und Zugriffsweisen, ~s Phänomen Text linguistisch zu beschreiben. Um den hier verfolgten ~ethodlschen Ansatz der Analyse intertextueller Strukturen zu verstehen, bedarf es eIner kurzen Er~äuterun~, in ~elchem Sinne der Textbegriff hier Verwendung fIndet, welche BeschreibungsdimensIonen von Texten dabei zum Tragen kommen und wie s.c~ließlich dieser Textbegriff mit dem :R0st~~kturali~tische~ Konzept von Intertextuahtat zusammengebracht werden kann. Wahrend Kristeva Ihrem Konzept einen wei23 Ebd. S. 58. 24 Vgl. hier Warnke, Ingo: Texte in Texten; Warnke, Ingo: Adieu Text - Bienvenue Diskurs' Busse, Dietrich: Historische Diskurssemantik. ' ~: Vgl. dazu auc? Gimth, Heiko: Texte im politischen Diskurs, S. 71ff. D~r T~xt~.egnff, u~ des~en .Kriterien und Dimensionen in der Forschung viel debattiert WIrd, 1st außerst VielschIchtIg. Vgl. Adamzik, Kirsten: Textlinguistik. Eine einführende Darstellung. Tübingen 2004; Beaugrande, Robert Alain; Dressler, Wolfgang: Einführung 195
ten und offenen Textbegriff zu Grunde legte, wird hier eine sprachbezogene Textauffassung favorisiert. 27 Im sprachpragmatischen Kontext stellen Texte die grundlegenden sprachlichen Handlungseinheiten dar, die immer schon in situative Kontexte eingebettet sind. Spätestens seit der pragmatischen Wende in der Textlinguistik werden Texte als sprachliche Handlungen aufgefasst, deren funktionale Ausprägungen sich in Abhängigkeit vom situativ-pragmatischen Kontext, ihrer thematischen Entfaltung sowie ihrer sprachlichen Struktur konstituieren. Zwar impliziert ein derartiger Textbegriff, dass Texte als heterogene und nicht-abgeschlossene Sinngebilde aufzufassen und relativ zu ihren Kontexten zu begreifen sind: Sie konstituieren sich wie bei Kristeva in einer Dreierkonstellation aus Sender - Adressat - Kontext; sie können - wie bei Kristeva mit den Merkmalen dynamisch, prozessual und produktiv in Verbindung gebracht werden, insofern die Funktion und die Bedeutung immer nur im Kontext des jeweiligen Interaktionsrahmens konstituiert werden; und oftmals lassen sich keine konkreten Autoren ausmachen. 28 Durch die Faktoren Situationalität und Kontext steht der Text immer schon in einem Abhängigkeitsverhältnis und Gesellschaftsbezug, durch die er zu einem gewissen Maß determiniert wird. Dennoch führt das hier verfolgte Textkonzept nicht automatisch zur Entgrenzung des Textbegriffes im Sinne Kristevas, denn Texte sind - trotz häufiger Mehrdeutigkeit - nicht beliebig verstehbar, sie sind feste, sprachlich verfasste Bezugspunkte der Kommunikation und verfolgen bestimmte vom Textemittenten ausgehende Ziele. 29 Wenngleich deutliche Parallelen zwischen Kristevas Textauffassung (Text als Tätigkeit, Kontextualität, Sender-, Gesellschafts- und Adress.atenbezug, dynamische und prozessuale Erscheinungsweise) und einer sprachpragmatischen Auffassung von Text 30 existieren, so bestehen Unterschiede zwischen"
in die Textlinguistik. Tübingen 1981; Brinker, Klaus: Linguistische Textanalyse. Eine Einführung in Grundbegriffe und Methoden. 6. Aufl. Berlin 2005; Heinemann, Margot; Heinemann, Wolfgang: Grundlagen der Textlinguistik. Interaktion - Text - Diskurs. Tübingen 2002; Heinemann, Wolfgang; Viehweger, Dieter: Textlinguistik. Eine Einführung. Tübingen 1991; Sandig, Barbara: Text als prototypisches Konzept. In: Mangasser-Wahl, Martina (Hg.): Prototypentheorie in der Linguistik. Anwendungsbeispiele - Methodemeflexion - Perspektiven. Tübingen 2000. S. 93-112. 27 In der sprachpragmatisch orientierten Linguistik ist die Weite des Textbegriffes allerdings umstritten. So verfolgt Burger einen sehr weiten Textbegriff, der auch visuelle Aspekte einbezieht. Im Zuge der Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Multimodalität wird ein weiter Textbegriff, der sich auch aufnichtsprachliche Phänomene erstreckt, zunehmend in Erwägung gezogen (vgl. Burger, Harald: Intertextualität in den Massenmedien, S. 1342). Somit kann dieser Aspekt nicht ausschlaggebend für eine Vereinbarkeit oder Nichtvereinbarkeit von sprachpragmatischen und poststrukturalistischen Konzepten sein. 28 Vgl. ebd. S. 16. 29 Vgl. Heinemann, Wolfgang: Zur Eingrenzung des Intertextualitätsbegriffs aus textlinguistischer Sicht, S. 29ff. 30 Mit ihrer Kritik am Strukturalismus, dem sie das Intertextualitätskonzept entgegensetzt, verfolgt Kristeva aber genuine Anliegen sprachpragmatischer Analyse: So legt sie ihrem Konzept einen Kontext- und Adressatenbezug sowie die Auffassung von Text als Tätigkeit zu Grunde (vgl. Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 347 u. 366). Tegtmeyer deutet den Kristevaschen Text- und Intertextualitätsbegriff als den »semantischen und pragmatischen Gehalt eines jeden Textes.« (Tegtmeyer, Henning: Der Begriff der Intertextualität und seine Fassungen - Eine Kritik der Intertextualitätskonzepte 196
der Textkonzeption Kristevas und einer sprachpragmatischen Konzeption vor allem darin, dass der hier verfolgte Textbegriff zwischen sprachlichen und sprachexternen bzw. textexternen Faktoren unterscheidet und vor allem die Faktoren der Intentionalität und - damit verbunden - des Subjekts/Autors nicht auflöst. Die Intentionalität von Texten, die damit verbundene und in einem bestimmten Rahmen mögliche Kontrollierbarkeit und Regulierbarkeit des Sprachgebrauchs durch die Sprachbenutzer, der Handlungsaspekt von Sprache sowie die Begrenzung des Textbegriffes auf bestimmte Kriterien sind wesentliche pragmatische bzw. textlinguistische Konstanten. Den pragmatischen Grundkonstanten entspricht ein Mehrebenenbeschreibungsmodell von Texten, das Funktionalität, Situationalität, Textgestalt und Thematizität31 als zentrale Beschreibungsdimensionen umfasst. Verfolgt wird mit diesen Beschreibungsdimensionen ein integrativer Analyseansatz, der zudem die unterschiedlichen Textebenen einbezieht. 32 Eine pragmalinguistische Auffassung von Intertextualität kann nicht die Intentionalität, die Funktionalität, den Handlungsaspekt, die Autorgebundenheit von Texten ausblenden, da diese Merkmale zentrale Theoreme der Textund Pragmalinguistik darstellen. Dennoch lässt sich Kristevas Position mit einer sprachpragmatischen Auffassung vereinbaren, da - wie bereits erwähnt - auch die Sprachpragmatik von einem heterogenen Text- und auch Autorbegriff ausgeht. Die im Kontext poststrukturalistischer Theorien vielfach gebrauchte Aussage vom Tod bzw. Verschwinden des Autors,33 nach der in ihrer radikal verstandenen Form der Intentionalitätsbegriff aufgegeben werden müsste, kann m.E. beispielsweise mit Judith But34 ler modifiziert werden, so dass die Idee des Intertextualitätskonzeptes Kristevas mit einer sprachpragmatischen Begründung zu vereinbaren wäre. Ausschlaggebend für eine mögliche Vereinbarkeit poststrukturalistischer und sprachpragmatischer Konzepte ist m.E. der Subjekt- und Autorbegriff und damit einhergehend der Handlungs- und
Julia Kristevas und Susanne Holthuis'. In: Klein, Josef; Fix, Ulla (Hg.): Textbeziehungen. Tübingen 1997. S. 49-81. Hier S. 53). 31 Die Dimension der Funktionaliät beschreibt die Texthauptfunktion und typische kommunikative Verfahrensweisen, die Dimension der Situationaliät geht auftextexterne Faktoren wie Adressatenkreis, Form der Kommunikation, Kommunikationsbereich, Situationsrollen etc. ein. Die Textgestalt umfasst Faktoren wie Textaufbau, Metaphorik, Lexik, typische Gestaltungsmuster. Die Dimension der Thematizität setzt sich mit der inhaltlichen Gestaltung, mit der Textkohärenz und der Art der Themenentfaltung auseinander (vgl. Literaturangaben in Fußnote 27). 32 Im Vordergrund steht hier eine prototypische Textauffassung, die je nach Forschungsperspektive bestimmte Textualitätskriterien ins Zentrum rückt. In diesem Fall sind es die vier genannten Beschreibungsdimensionen (vgl. Sandig, Barbara: Text als prototypisches Konzept). 33 Vgl. Kristeva, Julia: Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman, S. 358, 362, 367. 34 Die poststrukturalistische Theoretikerin Judith Butler setzt sich mit den Implikationen und Problemen eines poststrukturalistischen Subjektbegriffs und in diesem Zusammenhang mit Julia Kristeva auseinander. Die Gemeinsamkeit heider Positionen besteht vor allem in der Auffassung, dass Subjekte produziert werden und Effekte von Produktionsweisen darstellen. In Auseinandersetzung mit Foucault sind speziell für Butler Subjektpositionen Effekte von Diskursen (vgl. Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt 2003. S. 16ff.). 197
Intentionalitätsbegriff. 35 So bedarf es nicht zwingend eines autonomen Subjekt- und Autorbegriffs, um den für einen pragmalinguistischen Textbegriff notwendigen Handlungsspielraum nicht aufgeben zu müssen. Butler beispielsweise löst das Problem des Handlungsspielraumes folgendermaßen: »Radikal wäre es zu sagen, daß diese Regeln, die vor jeder individuellen Entscheidung entschieden sind, gerade die restriktiven Bedingungen sind, die jede gegebene Entscheidung erst ennöglichen. Damit gibt es eine Ambiguität der Handlungsrnacht am Ort der Entscheidung. Das sprechende Subjekt trifft seine Entscheidung nur im Kontext eines bereits begrenzten Feldes spr~chlicher Möglichkeiten. Man entscheidet nach Maßgabe eines bereits umschriebenen sprachlichen Feldes, aber diese Wiederholung macht die Entscheidung des sprechenden Subjekts nicht redundant. Der Zwischenraum zwischen Redundanz und Wiederholung ist der Raum der Handlungsmacht«. 36 Das Verhältnis von vorgegebenen Strukturen und individueller Freiheit könnte also in diesem Kontext als ein festgelegter Handlungsspielraum, in dem das Subjekt gewisse Entscheidungsfreiheiten hat und intentional handeln kann, zusammengedacht werden. 37 Dieses Verhältnis zeigt sich auch deutlich im Bezug auf immer schon vorgegebene, konventionalisierte Sprechakte oder Textmuster, derer man sich bedienen muss, um überhaupt verstanden zu werden. Der einem pragmalinguistischen Konzept zugrunde liegende Autorbegriff geht demzufolge nicht von einem autonomen Autor/Subjekt aus, vielmehr wird die Kategorie des Autors heterogen konzeptualisiert; der Autor wird in seiner Textproduktion wesentlich vom Kontext und von der Situation bestimmt,38 dennoch kann er in diesem Rahmen intentional handeln. Die Einbettung des Einzeltextes in die übergeordnete Handlungseinheit des Diskurses erweist sich dabei als notwendig.
35 Der Intentionalitätsbegriff als Grundlage sprachlicher Handlungen ist allerdings wiederum ein sehr umstrittener Begriff, der hier nicht weiter erörtert werden kann. Zumindest aber umfasst er, dass kommunikative Akte häufig von bestimmten Handlungsabsichten geleitet werden. Jedoch diskutieren Holly, Kühn und Püschel auch (sprachliche) Handlungen, die nicht-intentional sind. In ihrer Auseinandersetzung mit dem Handlungsbegriff stellen sie die Vielschichtigkeit und Komplexität des Handlungsbegriffs heraus. Um von sprachlichen Handlungen zu sprechen, bedürfe es nicht unbedingt der Intentionalität und Bewusstheit des jeweiligen Redeakts (vgl. Holly, Werner; Kühn, Peter; Püschel, Ulrich: Für einen »sinnvollen« Handlungsbegriff in der linguistischen Pragmatik. In: Zeitschrift für Gennanistische Linguistik 12 (1984). S. 275-312). 36 Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, S. 201. 37 Vgl. dazu auch Linke, Angelika; Nussbaumer, Markus: Intertextualität, S. 119-121 sowie 124f. Linke und Nussbaumer weisen auf die Unterscheidung zwischen langue und parole hin, die im Zusammenhang des Intertextualitätskonzepts »grundsätzlich und konsequent nicht« erfolgt (S. 120). Sie machen darauf aufmerksam, dass der Mensch zwar in eine ihn bestimmende Sprache, Kultur etc. hinein geboren wird und damit sozial und kulturell geprägt ist (langue); den Gebrauch (parole) von der Sprache macht aber letztlich in einem gewissen Handlungsspielraumjeder Mensch selbst (S. 124). 38 Vgl. hier Burger, Harald: Intertextualität in den Massenmedien, S. 16ff. 198
3
Linguistische Beschreibungskriterien - Methode - Analyse
Intertextualität stellt sich auch auf der empirischen Ebene als ein sehr komplexes Phänomen dar, das unterschiedliche Dimensionen umfasst, sich aus unterschiedlichen Perspektiven betrachten lässt, sich auf unterschiedlichen Ebenen manifestiert und gerade im Hinblick auf Gebrauchstextsorten eine bedeutende Rolle spielt. Eine wesentliche Voraussetzung für linguistische Konzepte von Intertextualität stellt die Bezogenheit auf Sprache dar. Verschiedenen bisherigen linguistischen Konzepten von Intertextualität ist vor allem die Lokalisierbarkeit von sprachlich manifestierten intertextuellen Strukturen in Gebrauchstextsorten und die damit zumeist einhergehende Abgrenzung vom globalen Intertextualitätskonzept Kiistevas gemeinsam. 39 So können intertextuelle Strukturen zum einen durch textoberflächenstrukturelle Bezüge wie beispielsweise explizite Bezugnahmen, zum anderen durch texttiefensemantische Verweise, beispielsweise durch Aufgreifen inhaltlicher Aspekte vorangegangener Texte hergestellt werden. Das Phänomen Intertextualität ist in linguistischen und literaturwissenschaftlichen Arbeiten verschiedentlich beschrieben worden. Die meisten Ansätze befassen sich mit dem konkreten Vorkommen intertextueller Strukturen. Folgende Kategorien lassen sich grob differenzieren: 4o
39 Insbesondere Texte des öffentlichen Sprachgebrauchs, vor allem Texte medial vennittelter Dis~se sind intertextuell disponiert, da sie sich in einem recht stark vernetzten Gefüge von Außerungen konstituieren (vgl. Steyer, Kathrin: Irgendwie hängt alles mit allem zusammen - Grenzen und Möglichkeiten einer linguistischen Kategorie >Intertextualität<. In: Klein, Josef; Fix, Ulla (Hg.): Textbeziehungen. Tübingen 1997. S. 83-106). Burger sieht aber die Nähe zum poststrukturalistischen Textverständnis insofern gegeben, als er speziell für den Medienbereich einen weit gefassten Textbegriff für erforderlich hält, der auch visuelle Elemente enthält. Zudem konkretisiert sich die vom poststrukturalistischen Konzept herrührende Implikation des )Verschwindens des Autors( in Medientexten. So konstatiert Burger, dass »der Begriff des >Autors( [... ] für Medientexte oft keinen empirischen Gehalt [hat], d.h. es ist kein konkreter Autor des Textes festzumachen und entsprechend ist auch die Verantwortlichkeit für den Text nicht einer bestimmten Person zuzuschreiben.« (Burger, Harald: Intertextualität in den Massenmedien, S. 16ft). 40 Die Tabelle fasst grob bisherige Kategorisierungen zusammen und erhebt nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. Vgl. z.B. Beaugrande, Robert Alain; Dressler, Wolfgang: Einführung in die Textlinguistik. Tübingen 1981; Heinemann, Wolfgang: Zur Eingrenzung des Intertextualiätsbegriffs aus textlinguistischer Sicht; Holthuis, Susanne: Intertextualität. Tübingen 1993; Steyer, Kathrin: Irgendwie hängt alles mit allem zusammen; Weise, Günter: Zur Spezifik der Intertextualität in literarischen Texten. In: Klein, Josef; Fix, Ulla (Hg.): Textbeziehungen. Tübingen 1997. S. 39-48. Für die Literaturwissenschaft wurden Taxonomien und Systematisierungen beispielsweise entwickelt von Broich, Ulrich; Pfister, Manfred: Intertextualität; Holthuis, Susanne: Intertextualität. Tübingen 1993; Helbig, Jörg: Intertextualität und Markierung. Untersuchungen zur Systematik und Funktion der Signalisierung von Intertextualität. Heidelberg 1996. 199
Typologische Intertextualität
Einzeltext
Textjunktionale Ebene
Text-TextmusterRelation
Synchrone Perspektive
Textoberflächenstrukturelle Ebene
Referenzielle Intertextualität
Diachrone Perspektive
Texttiefenstrukturelle Ebene
a) Text-TextReferenz b)TextUmwelt/TextweltReferenz
~-------------yr------------~
Abb. 1: Dimensionen, Perspektiven, Konstitutionsebenen und Formen intertextueller Strukturen. In den meisten literaturwissenschaftlichen und linguistischen Arbeiten wird zunächst eine Unterscheidung in die beiden Großklassen bzw. Dimensionen typologische Inter41 textualität und referenzielle Intertextualität vorgenommen. Die typologische Intertextualität umfasst alle Formen, die unter Intertextualität einen Bezug auf Textmuster 42 oder Textexemplare (oder auf Gattungen und Genres) verstehen. Die Text-TextweltReferenz wird häufig als globale oder enzyklopädische Intertextualität umschrieben. Eine pragmatische Sprachauffassung und demzufolge ein pragmatisch orientierter Textbegriff stellt von vornherein einen Text-Textwelt-Bezug her, insofern die Einbeziehung von kulturellen, sozialen, situationalen und kontextuellen Faktoren in die Beschreibung konstitutiv für die Sprachpragmatik ist. 41
42
Für typologische Intertextualität wird ebenso die Terminologie Systemreferenz verwendet. Für referenzielle Intertextualität auch Einzeltextreferenz, spezielle Referenz oder TextReferenz. Weise spricht hier von vertikaler und horizontaler Intertextualität. »Die erstere bezieht sich auf die Zuordnung von Textexemplaren zu bestimmten konventionellen Textklassen bzw. Genres auf der Basis prototypischer Eigenschaften. Die zweite Dimension referiert auf Prätexte unter semantischem Aspekt. Sie nutzt Intertextualität als Möglichkeit des Bedeutungs- bzw. Sinnaufbaus eines Textes unter Rückgriff auf Elemente, Situations- und Sinnzusammenhänge früherer Texte.« (Weise, Günter: Zur Spezifik von Intertextualität in literarischen Texten, S. 39). Vgl. Holthuis, Susanne: Intertextualität; vgl. Heinemann, Wolfgang: Zur Eingrenzung des Intertextualitätsbegriffs aus textlinguistischer Sicht.
200
Intertextuelle Bezüge können zum einen innerhalb zeitgleich erschienener Einzeltexte, also aus synchroner Perspektive, beschrieben werden. Zum anderen kann die diachrone Perspektive gewählt werden, die vor allem für diskursanalytische Untersuchungen relevant ist und bei der Texte über einen längeren Zeitraum hinsichtlich intertextueller Markierungen untersucht werden. 43 Erst unter diachroner Perspektive können Bedeutungsverschiebungen oder Bedeutungsaushandlungen aufgedeckt werden. Allerdings lässt sich schwer sagen, ab welchem Zeitraum es sich um synchrone oder diachrone Betrachtungsweisen handelt. Die Grenzen sind hier fließend. Ausgangspunkt für beide Perspektiven stellt die Einzeltextperspektive dar, wonach der Einzeltext hinsichtlich verschiedener Intertextualitätsdispositionen untersucht wird, ohne zunächst die Bezugstexte in den BHck zu nehmen. Letzteres geschieht erst unter synchroner bzw. diachroner Perspektive. Intertextuelle Bezüge können sich textfunktional (Texttypenbezug), textgrammatisch (Textoberflächenbezug) und textsemantisch (Texttiefenstrukturbezug) konstituieren. Dabei sind die Konstitutionsebenen voneinander abhängig. Die textfunktionale Konstitutionsebene ist der typologischen Dimension zuzuordnen und eignet jedem Text, insofern er einem typischen Muster folgt, das aus bestimmten Handlungstypen aufgebaut ist. Unter den verschiedenen Formen des Textmusterbezugs gibt es auch spielerisch-bewertende Formen. Hier spricht Holthuis unter anderem von evaluierenden typologischen Relationen. 44 Die textgrammatische Bezugsebene umfasst explizite Formen intertextueller Bezugnahmen wie etwa Zitate, Wortwiederholungen, Paraphrasierungen, indirekte Redewiedergaben etc. Bei intertextuellen Relationen auf semantischer Ebene geht es nicht mehr nur um explizite Wortrekurrenzen, Zitate oder dergleichen. Vielmehr sind es thematische Bezüge, die auch unterhalb der Ebene komplexer Zeichenbedeutungen durch das wiederholte Auftauchen semantischer Merkmale (Isotopieketten) oder Argumentationstopoi Texte diskursiv vernetzen. Der Übergang von der textgrammatischen zur textsemantischen Ebene ist fließend, da sich tiefensemantische Phänomene beispielsweise durch Lexeme immer auch an der Oberfläche zeigen. Aus dem Zusammenspiel dieser Kategorien resultieren die verschiedenen Erscheinungsformen und Funktionen von Intertextualität, die sich in der konkreten Analyse zeigen. Dass sich die intertextuellen Bezüge in unterschiedlicher Intensität manifestieren und verschiedene Explizitheitsgrade umfassen, liegt auf der Hand. 45 Zudem 43 44 45
Vgl. hier Steyer, Kathrin: Irgendwie hängt alles mit allem zusammen. Vgl. Holthuis, Susanne: Intertextualität, S. 69. Im Bereich literaturwissenschaftlicher Taxonomien haben beispielsweise folgende Autoren die Markierung der Intensität von Intertextualität mitbedacht: Helbig, Jörg: Intertextualität und Markierung; Holthuis, Susanne: Intertextualität; Broich, Ulrich; Pfister, Manfred: Intertextualität; Tegtmeyer, Henning: Der Begriff der Intertextualität und seine Fassungen. Pfister (S. 27ff.) hat zur Skalierung der Intensität intertextueller Bezüge einen Kriterienkatalog vorgeschlagen, der die Parameter Referenzialität, Kommunikativität, Autoreflexivität, Strukturalität, Selektivität und Dialogizität umfasst. Tegtmeyer (S. 79) schlägt eine Systematisierung der unterschiedlichen Formen intertextueller Bezüge hinsichtlich der Kriterien Quantität der Referenztexte, Bewertung des Referenztextes, Deutlichkeit der Referenz sowie Modalität der intertextuellen Beziehung vor. Holthuis (S. 108) verfolgt ebenfalls das Konzept der Skalierbarkeit von Intertextualität, wenn sie von einem »Kontinuum [ausgeht], das sich über (quasi) explizit markierte, nicht explizit markierte zu explizit nicht markierten Referenzen erstreckt.« Helbig klassifiziert die 201
J
spielt hier immer auch die Rezipientenperspektive eine gewisse Rolle, da es sich um 46 ein sowohl sprecherseitiges als auch rezipientenseitiges Phänomen handelt. Intertextuelle Bezüge können auf allen sprachstrukturellen Ebenen - Z.B. Einzelwort, Einzelaussage, Text - etabliert werden. Dementsprechend groß ist auch die Anzahl von konkreten Erscheinungsformen. Formen referenzieller Muster reichen von gekennzeichneten und nicht gekennzeichneten Zitaten über Reformulierungen von Bezugsausdrücken, Bezugstexten oder Bezugsaussagen, über Wortrekurrenzen, Themen, Schlüsselwörtern, Phrasen, Argumenten bis zu Topoi und ganzen Sprachhandlungsmustern. 47 Referenzielle Muster der Wiederaufnahme/Rekurrenz von Bezugsausdrücken sind beispielsweise für öffentliche und mediale Diskurse typisch. 48 Die im öffentlich-politischen Diskurs auch unter dem Stichwort Kampf um Wörter be~ kannte Bedeutungsaushandlung von Lexemen realisiert sich niclif\,zuletzt durch intertextuelle Bezugnahmen. 49 Für den Zweck der Erfassung intertextueller Strukturen auf tiefenstruktureller Ebene, also auf einer Ebene, die vor allem unterhalb spezifisch-markierter Intertextualität und komplexer Zeichenbedeutungen liegt, soll hier die Methode der Isotopieanalyse gewählt werden. Diese Methode legt die tiefensemantische Bezüge innerhalb eines Diskurses offen und erfasst beispielsweise, welche Themen Diskurse konstituieren bzw. dominieren und wie innerhalb von Diskursen Themen generiert werden. Bei der favorisierten Beschreibungsmethode handelt es sich um ein textlinguistisches Instrumentarium, das primär für die Analyse von Einzeltexten entwickelt wurde, hier jedoch seine Praktikabilität und Anwendbarkeit auf textübergreifender Ebene erweisen soll. Dieses Vorgehen zielt darauf ab, die immer schon gegebene Relationalität der Texte untereinander mittels Isotopieebenen als Manifestationen inhaltlicher Bezüge zu beschreiben. Die Anwendung dieser Methode auf textübergreifende Einheiten wird dadurch begründet, dass eine solche Methode geeignet ist, Kontextbedeutungen und semantische Verkettungen angemessen darzustellen.
Das Isotopiekonzept entwickelte Algirdas Julien Greimas im Zusammenhang seines Werkes Strukturale Semantik (1971) im Kontext eines Textanalysemodells. 50 Es stellt für die Linguistik deli meistrezipierten Teil seiner Konzeption dar. 51 In den 70er Jahren wurde dieses Konzept vor allem von der Literaturwissenschaft aufgenommen;52 auf Gebrauchstextsorten und ganze Diskurse wurde es bislang selten angewendet. Das Konzept basiert in seiner Erweiterung durch Franyois Rastier (1974) auf zwei verschiedenen Prinzipien: dem Prinzip der semantischen Äquivalenz zwischen mindestens zwei Textsegmenten und dem der Iterativität semantischer Merkmale. Die semantische Äquivalenz kann mitunter wesentlich von sozio-kulturellen und kontextuellen Faktoren sowie von Wissenskomponenten der Sprachbenutzer bestimmt sein. Unter einer Isotopie versteht man demnach das wiederholte Vorkommen von sprachlichen Einheiten. 53 Seme bzw. semische Einheiten sind semantische Merkmale der Lexeme (Wörter). Das Semem (bzw. Lexem) besteht innerhalb eines Textes aus einem invarianten Teil, dem Sem-Kern (= Sem-Minimum), und einem varianten, kontextuellen Teil, dem Klassem. Beim Sem-Kern kann es sich natürlich auch um ein feststehendes Merkmalbündel handeln. Das Klassem garantiert und konstituiert die Kohärenz des Textes, insofern es durch die Prinzipien der Iterativität und Äquivalenz gekennzeichnet ist. Semem = N (Nukleäres Sem, Semkern) + C (Klassem) Beispiele: SPolitiker = Nmenschlich + Cpolitisch SPartei = Nkonzeptuell + Cpolitisch Ipolitisch =
(NI menschlich +
SVerbrauch
= Nmateriell +
N2konzeptuell) Cpolitisch
Cforschen
SStammzellforschung = Nembryonal+ Cforschen
46
47
48 49
unterschiedlichen Deutlichkeitsgrade intertextueller Bezüge in Nullstufe, Reduktionsstufe, Vollstufe und Potenzierungsstufe. Steyer spricht hier von »repräsentierter« und »interpretierter« Intertextualität (vgl. Steyer, Kathrin: Irgendwie hängt alles mit allem zusammen, S. 91ff.). So liegt es oftmals am Rezipienten, von Textemittenten intendierte aber auch nicht intendierte intertextuelle Bezüge aufzudecken oder diese nicht zu bemerken. Dabei spielt die Funktion der Sinnkonstitution durch Intertextualität eine bedeutende Rolle, die ganze Diskurse erst entstehen lässt (vgl. Holthuis, Susanne: Intertextualität, S. 24ff.). Eine Engführung auf bloß eine Perspektive ist aber nicht sinnvoll, denn Intertextualität kann sowohl durch den Autor bewusst angelegt sein als auch vom Rezipienten als solche interpretiert werden, ohne dass diese vom Autor intendiert wurde. Und schließlich nelunen die Texte immer schon auf thematisch Vorgegebenes Bezug. Da es hier nicht um eine vollständige Systematisierung von intertextuellen Phänomenen gehen kann, muss die Erwähnung von Erscheinungsformen und Funktionen als eine Auswahl betrachtet werden. Vgl. Steyer, Kathrin: Irgendwie hängt alles mit allem zusammen. Steyer legt eine Systematisierung von möglichen expliziten intertextuellen Relationen vor. Vgl. Fraas, Claudia: Bedeutungskonstitution im Diskurs, S. 219-234; vgl. auch Spieß, Constanze: Zwischen Hochwert und Stigma - Zum strategischen Potenzial lexikalischer Mittel im Bioethikdiskurs. In: Girnth, Heiko; Spieß, Constanze (Hg.): Strategien politischer Kommunikation. Pragmatische Analysen. Berlin 2006. S. 38f.
202
Iforschen =
(N 1materiell +
N2embryonal) Cforschen
50 Vgl. Greima~, Algirdas Julien: Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen. Autorisierte Ubersetzung aus dem Französischen v. Jens Ihwe. Braunschweig 1971. 51 Vgl. Marx, Peter: Heiner Müller: Bildbeschreibung. Eine Analyse aus dem Blickwinkel der Greimas'schen Semiotik. Frankfurt u.a. 1998. S. 21; vgl. Girnth, Heiko: Rez. Peter W. Marx: Heiner Müller: Bildbeschreibung. In: Journal for Semiotic Studies 11, 1-3 (1999). S. 455. 52 Vgl. Dosse, Franr;ois: Geschichte des Strukturalismus. Hamburg 1997. Bd. 1: Das Feld des Zeichens, 1945-1966. S. 105. Bd. 2: Die Zeichen der Zeit, 1967-1991. S. 237ff. Mit der Methode der Isotopienanalyse zielte Greimas darauf ab, eine möglichst objektive, von »der humanistischen Perspektive« abgelöste, formalisierte und ahistorische Herausarbeitung homogener semantischer Ebenen zu leisten (Dosse, Franr;ois: Geschichte des Strukturalismus Bd. 1, S. 311). Hier wird die Isotopienanalyse jedoch nicht im strikt strukturalistischen Sinne angewendet. Gerade die Zuordnung einzelner Lexeme ist bereits ein nicht objektivierbarer, interpretativer Akt, der sowohl vom Kontext als auch von der jeweiligen Forscherperspektive stark beeinflusst wird. 53 Vgl. Rastier, Franr;ois: Systematik der Isotopien. In: Kallmeyer, Werner u.a. (Hg.): Lektürekolleg zur Textlinguistik Bd. 2: Reader. Frankfurt 1974. S. 153-190. 203
Eine Isotopie besteht demzufolge aus mindestens zwei semischen Einheiten, die ein Klassem gemeinsam haben. 54 Die durch den Kontext und sozio-kulturelle Faktoren bestimmten Isotopien können sich zu einem Sememfeld organisieren. Diese Isotopien werden von Rastier semiologische Isotopien genannt. Sie unterscheiden sich nochmals in horizontale und vertikale Isotopien. Bei den semiologischen Isotopien geht es um die Zusammenstellung der Sememe zu einer Isotopie, die einem semischen Feld angehören. Z.B. gehören die Sememe Bundesminister, Gesetzgebung und entscheiden dem semischen Feld
an. Die Zugehörigkeit zu einem Semfeld entscheidet sich an einem Bündel gemeinsamer kontextueller Seme, die sich auch durch Kontiguitätsbeziehungen dem Semfeld zuordnen lassen. Der sozio-kulturelle und kontextuelle Rahmen spielt dementsprechend eine wesentliche Rolle bei der Identifizierung von horizontalen Isotopien. Je größer die Anzahl ihrer Sememe, umso dominanter tritt eine Isotopie in Erscheinung. Die vertikalen Isotopien, auch komplexe Isotopien genannt, entstehen, wenn sich zwei horizontale Isotopien überschneiden, so zum Beispiel wenn ein Semem zwei Isotopien zugeordnet werden kann, was insbesondere (aber nicht nur) bei Metaphern der Fall ist. Die vertikale Isotopie weist demnach auf ein Verhältnis zwischen mindestens zwei horizontalen Isotopien. Eine wesentliche Funktion von Isotopien sowohl auf der intra- wie auch auf der intertextuellen Ebene besteht auf Grund des klassenbildenden Bedeutungsmerkmals darin, polyseme Ausdrücke auf eine Lesart festzulegen (zu monosemieren). Werden polyseme Lexeme nicht monosemiert, gehören sie mehreren Isotopieebenen an und bringen so verschiedene Lesarten des Textes hervor. Ein gängiges Mittel, um im öffentlich-politischen Diskurs bewusst Zwei- bzw. Mehrdeutigkeiten in Texten zu etablieren, stellen Metaphern dar. Werden Sememe nicht monosemiert, überlagert sich in ihnen eine doppelte Bedeutungsstruktur. Ihre Funktion besteht dann in der Verknüpfung zweier sich interferierender horizontaler Isotopien zu einer vertikalen bzw. komplexen Isotopie. Diese Vertextungsstrategie ist insbesondere ästhetischen Texten eigen, lässt sich aber auch an Gebrauchstextsorten feststellen. 55 Alle Isotopien zusammen bilden die semantische Kohärenz des jeweiligen Textes ab. Die der exemplarischen Untersuchung zugrunde liegenden Texte des Stammzelldiskurses werden hier in der Dimension der Text-Text-Relation in diachroner Perspektive auf der texttiefensemantischen Ebene untersucht. Um zu verdeutlichen, wie die semantische Kohärenz innerhalb eines Einzeltextes durch verschiedene Isotopieebent(n garantiert wird, werden zunächst exemplarisch an einem Kurzkommentar 56 die enthaltenen Isotopieketten herausgearbeitet. Im Anschluss daran werden die Isotopieketten von acht im Diskurszeitraum von November 1998 bis Juni 2001 verteilten Diskurstexten nebeneinander gestellt, um so die Verflechtung der Texte über diesen Zeitraum zu exemplifizieren.
54
55
56
Rastier entwickelte eine Systematik von Isotopien, zu der nicht nur die hier besprochenen Isotopietypen zählen. Vgl. dazu Marx, Peter: Heiner Müller, S. 38. Vgl. Rastier, Fran90is: Systematik der Isotopien, S. 172ff.; vgl. Marx, Peter: Heiner Müller, S. 46ff. Komplexe Isotopien finden sich häufig in der Werbung. Vgl. Janich, Nina: Werbesprache. Ein Arbeitsbuch. 2., vollständig überarb. u. erw. Aufl. Tübingen 2001. S. 136f. Der den Isotopieebenen zugrunde liegende Text ist im Anhang als Text 1 abgedruckt.
204
Abb.2: Isotopieebenen Text 1.
Die einzelnen Isotopien sind miteinander verflochten. Einzelne Lexeme können zu verschiedenen Isotopien gezählt werden, so dass die Vernetzung der Isotopien untereinander garantiert wird. Abbildung 3 gibt einen Einblick in die thematische Struktur verschiedener Diskurstexte. Anhand der Tabelle lässt sich zudem erkennen, welche Themen innerhalb des Diskurses zu welchem Zeitpunkt eine gewisse Dominanz erlangten (gekennzeichnet durch Fettdruck) oder nur am Rande eine Rolle spielten. Nicht zuletzt kann über die Menge der Isotopien eines Textes auf dessen Komplexität einerseits und auf dessen Zugehörigkeit zu anderen Diskursen geschlossen werden.
205
Deutlich wird durch die Etablierung von Isotopien in den Einzeltexten auch die Bedeutungsvarianz bestimmter Ausdrücke, da diese je nach Kontext (bzw. Klassem) unterschiedlichen Isotopieebenen zugeordnet werden. Daraus ergibt sich letztlich nicht nur eine Vernetzung des Diskurses über die parallelen Isotopien, sondern auch der Isotopien untereinander, so dass man hier von einem dichten, horizontal und vertikal strukturierten Verflechtungsnetz sprechen kann.
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Text 1
Stherapeutisches Klonen =
Text 2
StherapeutischesKlonen = NEingriffamMenschen+ Cverzweckend
NEingriff~ Menschen +
Isotopie
COrundlagenforschung ~
Isotopie
~ Isotopie <Missbrauch>
Abbildung 4 soll schematisch eine Vernetzung durch Isotopien verdeutlichen. Die intertextuelle Verflechtung zu komplexen Isotopien über das unterschiedlichen Isotopieebenen angehörende Lexem therapeutisches Klonen ergibt sich hier nicht aus ästhetischen oder metaphorischen Gründen; vielmehr spielen im vorgestellten Beispiel und in Abbildung 4 der Faktor Bewertung und damit verbunden die Faktoren der Umstrittenheit von und des semantischen Kampfes um Ausdrücke eine entscheidende Rolle.
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Die jeweilige Dominantsetzung eines kontextuellen Merkmals und die damit verbundene Festlegung des Referenzbezugs erfolgt durch den Kontext und kann zur Etablierung unterschiedlicher Isotopieebenen führen, 190 wie folgendes Beispiel zeigt: 191
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zählt vor allem der Faktor der Bewertung und Einstellungsbekundung, der in der Merkmalsstruktur von Lexemen zum Beispiel durch die evaluative Bedeutungskomponente realisiert wird. 191 Text 2 ist ebenfalls im Anhang abgedruckt . 190 Hierzu
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207
4
Schlussbemerkungen
Auf der Basis eines poststrukturalistischen Intertextualitätskonzepts und eines sprachpragmatischen Textbegriffs konnte exemplarisch an Texten des öffentlich-politischen Diskurses um embryonale Stammzellforschung durch Isotopieanalyse gezeigt werden, dass Diskurse intertextuell konstituiert werden und die einzelnen Texte auf einer tiefenstrukturellen Ebene unterhalb komplexer Zeichenketten und -bedeutungen miteinander verflochten sind. Zudem wurde deutlich, dass Intertextualität eine Eigenschaft aller Texte darstellt, da diese immer schon Teile von Diskursen sind. Innerhalb der linguistischen Diskursanalyse gilt Intertextualität somit als ein konstitutives Merkmal von Diskursen und Texten gleichermaßen. Die diskurskonstituierenden Texte sind immer schon aufeinander verwiesen. Somit ist Intertextualität auch durch den Diskursbegriff näher bestimmt und von diesem abhängig.
Anhang Text 1: Kommentar Süddeutsche Zeitung von Holger Wormer:
Text 2: Auszug aus der Bundestagsdebattenrede Maria Böhmers vom 30.1.2002:
208
209
Quellen
Thomas Dürmeier (Wirtschaftwissenschaften)
Bartens, Werner: Revolutionäre Zellen. In: Die Zeit. 24.9.2000. Böhmer, Maria: Debattenrede in der Bundestagsdebatte vom 30.1.2002, 214. Sitzung der 14. Wahlperiode. Online abrufbar als PDF-Datei im Dokumentations- und Informationssystem für Parlamentarische Vorgänge http://dip.bundestag.de (Abrufdatum 13.3.2006). Emundt, Corinna: Moral gegen Moral. In: Frankfurter Rundschau. 1.6.2001. Hefty, Paul: Die Menschenwürde ist nicht antastbar aber auslegbar. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 28.5.2001. Koch, Klaus: Kopf-an-Kopf-Rennen von Mensch und Tier. In: Süddeutsche Zeitung. 10.11.1998. Roß, Jan: Das Monströse. Contra Organ zucht: Wenn Heilen zur Obsession wird. In: Die Zeit. 24.8.2000. Sentker, Andreas: Die Verheißung. Pro Organzucht: Wenn Rigorismus neue Wege blockiert. In: Die Zeit. 24.8.2000. Van den Daele, Wolfgang: Zweierlei Moral. In: Die Zeit. 3.5.2001. Wormer, Holger: Die Politik der Klon-Forscher. In: Süddeutsche Zeitung. 21.1.1999.
Die ökonomische Sprachtextur. Effizienter Sprachimperialismus am Beispiel von Interessengruppen
Ökonomen sind erfolgreich, auch wenn einer ihrer Fachbegriffe >Preisträger< für das Unwort des Jahres 2004 wurde. Die Gesellschaft für deutsche Sprache in Wiesbaden hat das Wort »Humankapital« ausgezeichnet, wobei dies für Wirtschaftswissenschaftler ein gängiger Fachbegriff unter vielen ist. Bereits im Jahre 2002 wurde die »IchAG« nominiert und 2005 war es das Wort »Entlassungsproduktivität«. Die Begrifflichkeiten der ökonomischen Texte werden kritisiert, obwohl ihre interdisziplinäre Relevanz immer stärker zunimmt. Denn die ökonomische Textur und Sprache dringen in andere Wissenschaften vor, was auch als >ökonomischer Imperialismus< kritisiert oder befürwortet wird. Die Wirtschaftswissenschaft oder kurz Ökonomik hat somit intertextuelle Bedeutung. In diesem Artikel möchte ich die Macht und Veränderungswirkung der Sprache der neoklassischen Ökonomik auf andere Sozialwissenschaften untersuchen. Die Übertragung und Intertextualität der ökonomischen Texte führt im interdisziplinären Texttransfer zu verzerrten Perspektiven. Diese Elemente von Macht in der Intertextualität zeige ich am Beispiel von Gary Beckers >ökonomischem Imperialismus<, wobei ich den Schwerpunkt auf dessen Interessengruppentheorie lege. Theoretisch greife ich nur auf allgemeine Ideen der Intertextualitätsforschung zurück, wenn ich ökonomische Texte machttheoretisch untersuche, da ich mich in dieser Analyse hauptsächlich mit der empirischen Beschreibung von Public Choice und dem Wandel der Interessengruppenliteratur beschäftige. In methodischer Hinsicht vergleiche ich auf allgemeiner Ebene die Literatur ökonomischer und politologischer Texte. Am Anfang meiner Analyse werde ich von der allgemeinen Sprache und den Textelementen der ökonomischen Sprache sprechen. Im Fokus soll eine Einführung in die mikroökonomische Handlungstheorie des Homo Oeconomicus und das Konzept der Nutzenmaximierung stehen. Im zweiten Teil möchte ich die Anwendung dieser Handlungstheorie bei Interessengruppen und im interdisziplinären Dialog darstellen, bevor ich die Folgen des sogenannten >ökonomischen Imperialismus< analysieren werde. Im letzten Teil möchte ich Schlußfolgerungen für die Theorie der Intertextualität ziehen und die Bedeutung von intertextuellen Machtverhältnissen aufzeigen.
Die Sprache der Ökonomik Wir wollen beim Gegenstand unserer Untersuchung, der Sprache der Ökonomik, beginnen. In jeder Fachdisziplin entwickelt sich eine eigene Sprachwelt mit Begriffen, Kategorien, Metaphern, Redewendungen oder kanonischen Texten. Die Wirtschaftswissensehaft bildet hier keine Ausnahme, sondern stellt ähnlich wie die Soziologie
210
211
einen fast paradigmatischen Fan l dar, wo sich Sprachspiele und Texturen so weit von anderen Diskursen entfernt haben, dass große Verständigungsbarrieren zur Alltagssprache und auch anderen Fachdisziplinen entstanden. Begriffe wie Falke-TaubeSpiele, Gefangenendilemma oder Informationsasymmetrie sind Fachfremden unverständlich. In der Alltagssprache werden einige Begriffe wie Humankapital oder Effizienz verwendet, wobei deren Bedeutungen stark vom wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs abweichen und zu zahlreichen Mißverständnissen und sogar Konflikten führen. Zahlreiche Ökonomen kritisierten daher Z.B. die Auswahl des Begriffs »Humankapital« als Unwort des Jahres, da hier Fachfremde einen Fachbegriff negativ beurteilten. Die ökonomische Sprache spielt in Bezug auf unsere sprachliche Weltwahmehmung und die Wissenschaft eine besondere Rolle, weil sie als Quelltext für zahlreiche Argumentationen wie in den Debatten um Globalisierung oder Hochschulpolitik oder auch in ethischen Fragen dient. Ökonomische Begriffe und Sprache begannen nach dem Zweiten Weltkrieg in den sozialwissenschaftlichen Diskursen Fuß zu fassen, obwohl sich die Texte und Begriffe der Wirtschaftswissenschaften radikal von anderen Sozialwissenschaften unterscheiden. Während Ökonomen mathematische Sprache verwenden und stark von empirischen Fakten abstrahieren, benutzen Sozialwissenschaftier Empirie und sehr stark verbal formulierte Theorien und setzen beides in Beziehung zueinander. Soziologen sprechen davon, dass sich Menschen an gesellschaftlichen Rollenzuschreibungen orientieren, während Ökonomen das Eigeninteresse des Einzelnen als Motivation und Maßstab für das menschliche Handeln annehmen. Dieses wirtschaftswissenschaftliche Menschenbild des Homo Oeconomicus mit seinen Elementen von Rationalität, Präferenzen und Nutzenmaximierung fand Eingang in die Sprachen anderer Sozialwissenschaften. Mit dem ökonomischen Menschenbild oder besser dem ökonomischen Erklärungsmodell für menschliches Handeln beschreibt man den Menschen als rationales individuum. Diese Vorstellung entwickelte sich in den Wirtschaftswissenschaften aus der marginalistischen Schule und wurde von Paul Samuelson im Zuge des ersten Lehrbuches für Volkswirtschaftslehre zum sich herausbildenden Kanon und in eine mathematische Modellsprache überführt. 2 Diese Modellierung des wirtschaftlich handelnden Akteurs zählt zu den fast allgemein akzeptierten Grundlagen des ökonomischen Denkens, auch wenn in den letzten Jahren Erkenntnisse der experimentellen Ökonomik zahlreiche Grundannahmen wie perfekte Rationalität oder Eigeninteresse der Akteure teilweise in Frage gestent haben. Menschen entscheiden im Gegensatz zum Modell nicht nach Eigennutz und suchen nicht die beste Alternative, sondern geben sich mit sub optimalen Ergebnissen zufrieden und orientieren sich an Faimessvorstellungen oder sozialen Normen. 3
I
Vgl. Kuhn, Thomas S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen. Frankfurt am Main 1973.
2 Vgl. Colander, David C.: The Death ofNeoc1assical Economies. In: Journal ofthe History ofEconomic Thought 22/2 (2000). S. 127-143. 3 Im Ultimatumspiel wird eine Entscheidungssituation über die Aufteilung einer festen Geldoder Gütermenge zwischen drei Akteuren untersucht. Der erste Akteur darf eine Verteilung vorschlagen, die danach vom zweiten Akteur angenommen oder abgelehnt wird. Der dritte 212
Für Ökonomen kann menschliches Handeln theoretisch so beschrieben werden als ob jeder Mensch seinen eigenen Nutzen maximiere. Er sucht positive hedonisti~che Befriedigungen zu erreichen oder negative Empfindungen wie Arbeitsleid zu vermeiden. Ein solches Vorteilsstreben schafft einen subjektiv positiven Wert, den Ökonomen ähnlich wie Utilitaristen als Nutzen bezeichnen. Dem Erreichen von persönlichen Zielen und dem Vermeiden oder Minimieren von Leid wird ein positiver Nutzenwert zugeschrieben. Der Besuch einer gelungenen Theateraufführung gibt zahlreichen Menschen Freude und positive Erlebnisse, wobei es ebenso Menschen gibt, für welche ein Kammermusikabend mit Langeweile verbunden ist und ein persönliches Opfer bedeutet. Jeder Mensch hat je eigene Bedürfnisse und Ziele, die sich in der ökonomischen Theorie in Präferenzen widerspiegeln. Eine Vorliebe für klassische Musik oder modeme Kunst gehen genauso in die Präferenz funktion ein wie die Bevorzugung des einen gegenüber dem anderen. Mag ich eher anspruchsvollere Unterhaltung, oder will ich nur das eine Meisterwerk von Beuys sehen und würde dafür auf fünf Kammermusikabende verzichten? All diese Abwägungen und bevorzugten Alternativen können in einer Präferenzfunktion auch mathematisch dargestellt werden. 4 Um eine qualitative Aussage über die Abwägung von unterschiedlichen Alternativen zu machen, führt man unterschiedliche Nutzenniveaus ein. Es kann somit zwischen nützlicheren und schlechteren Alternativen unterschieden werden, wobei ein h~here~ Nutzenniveau ei~er besseren Alternative von Güterkombinationen entspricht. Eme DIchterlesung und em Kammermusikabend könnten mir mehr Nutzen geben als drei Musikabende. Jedem möglichen Konsumbündel x von materiellen oder immaterielle~ Gütern wie Kammermusik oder einer Musikkassette wird ein Nutzen U zugeschneben. Der Zusammenhang aller Konsumbündel und des daraus folgenden Nutzens wird Nutzenfunktion U(x) genannt. (1) U(x) = U(Xh X2) (z.B. U = Xl . X2) mit den Eigenschaften: U(x)' > 0 ; U(x)" < 0 5 In der theoretischen Darstellung menschlichen Verhaltens haben sich zwei zentrale Annahmen als plausibel und theoretisch sinnvoll durchgesetzt. Jede zusätzliche Einheit Akteur hat keinen Einfluss auf die Entscheidung der beiden anderen. Wenn der zweite Akteur ablehnt, erhält keiner der drei etwas. Eine Nachverhandlung über das Angebot des ersten Akteur~ findet nicht statt. Die ökonomische Theorie sagt eine Verteilung voraus, nach der der erste Akteur fast alles, der zweite einen marginal kleinen Anteil und der dritte nichts erhält, weil der zweite bereits bei einer kleinen Verbesserung seines individuellen Nutzens zustimmen würde. Im empirischen Experiment tritt jedoch oft eine Gleichverteilung auf (vgl. Weise, Peter: Neue Mikroökonomie. 5., verb. u. erw. Aufl. Heidelberg 2005). Die Vorstellung vom steigenden Nutzen bei größerem Konsum und das Streben nach Mischlösungen wurden bereits in den Gossenschen Gesetzen im 19. Jahrhundert formuliert. Jede zusätzliche Einheit erhöht den Nutzen, jedoch vergrößert sich der Nutzen nicht gleichmäßig mit jedem zusätzlichen Vergnügen gleicher Art. Diese Abnahme der Nützlichkeit von zusätzlichen Einheiten desselben Gutes wird als Gossensches Gesetz bezeichnet.
213
desselben Gutes führt zu einer Nutzenzunahme. Der Besuch eines weiteren Kammermusikabends macht einem Freund der klassischen Musik auch noch Freude. Die Veränderungsrate des Nutzens, der Grenznutzen, nimmt ab. Mathematisch läßt sich dies als erste Ableitung der Nutzenfunktion mit positivem Wert, kurz U(x)' > 0, darstellen. Doch die Zunahme des Nutzens nimmt mit jeder zusätzlichen Einheit ab, d.h. die Veränderungsrate des Nutzens nimmt ab. Mathematisch kann dies als die zweite Ableitung der Nutzenfunktion dargestellt werden, die negativ ist, kurz U(x)" < 0, was ÖkonomInnen als >abnehmenden Grenznutzen< bezeichnen. Im Beispiel des Musikabends würde dies darin bestehen, dass jeder weitere Besuch immer noch Lust und Freude macht, aber die zusätzlichen Vorteile verringert und einer Sättigung oder Grenze des Besuchs von Musikveranstaltungen zustrebt.
Möglichkeiten links unterhalb und auf der Linie sind zulässig. Die unterschiedlichen Niveaus der Nutzenfunktion stellt man mit Hilfe von Indifferenzkurven dar, die Orte gleichen Nutzens darstellen. Jeder Ort auf derselben Kurve gibt dem Homo Oeconomicus eine gleiche Menge von Nutzen und Befriedigung, wohingegen Kurven weiter außerhalb ein höheres Nutzenniveau abbilden. Dort, wo die Indifferenzkurve die Budgetgerade tangential in einem Punkt T berührt, liegt der Ort mit maximalem Nutzen bei gegebenem Einkommen. Jede andere Wahl der beiden Güter würde bedeuten, dass 'der Akteur auf ein schlechteres Nutzenniveau abfallen würde.
Budgetrestriktion B
Handlungsziel: Präferenzen
Kauf von Güterkombination
Abbildung 1: Schema der ökonomischen Handlungstheorie Nutzenfunktionen bilden somit die Wünsche und Ziele eines Menschen oder auch von wirtschaftlichen Akteuren wie Unternehmen oder Regierungen ab. Der so mathematisch modellierte Homo Oeconomicus kann aber seine oft unendlich gedachten Wünsche und Bedürfnisse nicht befriedigen, da zahlreiche Restriktionen sein Handeln begrenzen (vgl. Abbildung 1). Im einfachsten Fall ist sein Einkommen y begrenzt. Mit dem gegebenen Preis p für jedes Gut kann der Homo Oeconomicus nur eine bestimmte Menge von unterschiedlichen Güterkombinationen wählen, wobei der Wert der gekauften Güter kleiner oder gleich seinem Einkommen sein muss. (2) PI . Xl + P2 . Xl = Y Die exogenen Preise p und die Budgetobergrenze y legen somit die maximal möglichen Kombinationen von Güterbündeln fest, die gewählt werden können. Die Budgetrestriktion begrenzt die Nutzenmaximierung des Homo Oeconomicus als >exogen gegebene Nebenbedingung<. Mit dieser Formulierung der rationalen Entscheidungssituation kann das Nutzenmaximierungsproblem in ein mathematisches Maximierungsproblem mit einer Nebenbedingung überführt werden. 6 (3) max U(x) = U(x}, X2) = Xl • X2 unter der Nebenbedingung PI . Xl + P2 . X2 = Y Dieses mathematische Problem kann bei der Beschränkung auf zwei Alternativen von Gütern auch geometrisch dargestellt werden (vgl. Abbildung 2). Die beiden Koordinatenachsen Xl und X2 bilden die Gütermengen ab. Die Budgetrestriktion B verdeutlicht die maximalen Wahlmöglichkeiten von Kombinationen von Gut 1 und 2. Alle 6
Für die weiteren Annahmen vgl. Varian, HaI R: Grundzüge der Mikroökonomik. 2. Aufl. München 1991. S. 120ff. Vgl. auch Mas-eolell, Andreu; Whinston, Michael D.; Green, Jerry R: Microeconomic theory. New York 1995.
214
.....-----------~-- X1
Abbildung 2: Geometrische Darstellung der Nutzemnaximierung Dieser geographische Tangentialpunkt der Nutzenfunktionen an der Budgetgerade kann mit Hilfe von Lagrange-Multiplikationen auch algebraisch ermittelt werden. Geometrisch bedeutet dies, dass der Preisvektor orthogonal zur Hyperebene der Nutzenfunktion steht. In der zwei-dimensionalen Grafik der Nutzenmaximierung stellt sich dies wie folgt dar: Die Indifferenzkurve des nutzenmaximalen Güterbündels (Xl, X2) tangiert die Budgetrestriktion im Tangentialpunkt T (vgl. Abbildung 2). Dieses Modell von Nutzenmaximierung unter einer gegebenen Restriktion nennt man auch Rational Choice. Der Homo Oeconomicus entscheidet sich im Sinne der neoklassischen Volkswirtschaftslehre rational nach klaren Entscheidungsregeln für die
215
beste Alternative. »Ökonomen gehen von der Annahme aus, daß die Konsumenten ihre knappen Einkommen so verwenden, daß sie daraus die größte Zufriedenheit oder den größtmöglichen Nutzen schöpfen. Um seinen Nutzen zu maximieren, muß ein Konsument die Grenznutzen der letzten Geldeinheiten, die er für jedes einzelne Gut bezahlt, ausgleichen.« 7 Diese Handlungstheorie der neoklassischen Wirtschaftstheorie konnte auf zahlreiche Entscheidungsprobleme übertragen werden. Die Anwendung von Rational Choice auf das Kaufverhalten von Konsumenten wurde bereits im obigen Beispiel dargestellt, aber auch die Arbeitsplatzentscheidung kann als Abwägung zwischen Freizeit und unterschiedlichen Arten von Erwerbsarbeit abgebildet werden. Arbeiter können eine hohe Präferenz für Freizeit gegenüber zusätzlicher Entlohnung haben und somit einen gering bezahlten Teilzeitarbeitsplatz mit mehr Freizeit einer besser bezahlten Vollzeitstelle vorziehen. Auch das Verhalten kollektiver Akteure wie Unternehmen, dem Staat, Verbänden oder der Kirche kann in der Sprache der Nutzenmaximierung abgebildet werden. Gewerkschaften maximieren den Lohn ihrer Mitglieder unter der Restriktion des Verlustes von Arbeitsplätzen. Unternehmen maximieren ihren Gewinn bei gegebenen Produktions strukturen oder minimieren ihre Kosten bei extern gegebener Produktnachfrage. Wirtschaftswissenschaftler wie Gary Becker oder James Buchanan übertragen die Sprache der rationalen Entscheidungsmodelle auch auf nicht-ökonomische Situationen. Autofahrer maximieren ihr Ziel, das schnelle Erreichen eines Ortes, unter der Nebenbedingung unterschiedlicher Kosten für Verstöße gegen das Tempolimit mit der Wahrscheinlichkeit, >geblitzt< oder >erwischt< zu werden. Straftäter maximieren ihre Beute unter der Restriktion, die durch die Strafen für unterschiedliche Straftaten und die Erfolgsbilanz der Strafverfolgungsbehörden gegeben ist. Dieses Modell führte Gary Becker zur Aussage, dass härtere Strafen die Kosten von Straftaten erhöhen und somit Kosteneinsparungen bei der Strafverfolgung aufwiegen könnten. »Total public spending on lighting crime can be reduced, while keeping the mathematicaHy expected punishment unchanged, by offsetting a cut in expenditures on catching criminals with a sufficient increase in the punishment to those convicted.«8 Auch auf die Bereiche Ehe und Partnerschaft wurde das neoklassische Entscheidungsmodell angewandt: »For example, contrary to a common belief about divorce among the rich, the economic analysis of family decisions shows that wealthier couples are less likely to divorce than poorer couples. According to this theory, richer couples tend to gain a lot from remaining married, whereas many poorer couples do not. A poor woman may weH doubt whether it is worth staying married to someone Samuelson, Paul Anthony; Nordhaus, William D.: Volkswirtschaftslehre. Übersetzung der 15. amerikan. Aufl. Wien 1998. S. 118. 8 Becker, Gary S.: The Economic Way of Looking at Life. Vorlesung zur Erinnerung an Alfred Nobel. Stockholm, 9. Dezember 1992. S. 42. Deutsche Übersetzung: »Man kann die Summe der öffentlichen Ausgaben für Verbrechensbekämpfung senken, ohne das mathematische Produkt von Strafwahrscheinlichkeit und erwarteter Strafhöhe zu ändern, indem man Kürzungen bei den Ausgaben für Verbrechensverfolgung durch eine Erhöhung der Strafen für diejenigen, die verurteilt werden, gerade ausgleicht.«
chronically unemployed. Empirical studies for many countries do indicate that the marriages ofricher couples are much more stahle.« 9 Ehe, Kinder oder Scheidung können als Maximierung von Vorteilen aus einer Partnerschaft und Kosten der Kooperation mit dem Ehepartner dargestellt werden, wobei die sprachliche Formulienmg bereits zu Verfremdungseffekten führt: >Ehe ist eine Investition in Sozialkapital. Die Kooperation beider Tauschpartner und die damit verbundenen Investitionen führen zu positiven Auszahlungen für beide Ehepartner. Eine Ehe sollte geschieden werden, wenn die Auszahlungen aus einer Lebensgemeinschaft negativ werden und somit Verluste bedeuten. < Bevor wir die Wirkungen der Sprachspiele der neoklassischen Ökonomik weiter untersuchen, soll die interdisziplinäre Rezeption der Rational Choice-Theorie in der Analyse von Interessengruppen betrachtet werden.
2
Die traditionellen Erzählungen über Interessengruppen
Am Beispiel der wirtschaftswissenschaftlichen Analyse von Politik möchte ich die intertextuelle Dominanz von rationalen Handlungsmodellen in den Sozialwissenschaften erarbeiten und die damit verbundene Verdrängung alternativer Theorien aufzeigen. Die Sozialwissenschaften, insbesondere die Politikwissenschaft, beschäftigen sich mit der Analyse von gesellschaftlichen Entscheidungen. Modeme Demokratien beruhen auf rechtsstaatlichen Institutionen, in denen Verbände und Lobbyisten eine wesentliche Rolle spielen. Sozialwissenschaftier und Politologen haben unterschiedliche Theorien entwickelt, um das Handeln von Interessengruppen zu verstehen. Pluralis~us-, Eliten- oder Klassentheorien gehören zu den bedeutendsten Schulen der LobbyIsmus- und Demokratieforschung. Die ökonomische Analyse von Politik und Interessengruppen kommt zu anderen Aussagen. 10 Der Pluralismus fokussiert auf den freien Wettbewerb von zahlreichen Interessengruppen und deren Einfluss auf die Politiker durch ihre Politikempfehlungen. Der offene demokratische Prozess soll es ermöglichen, dass sich alle Interessen organisieren können und bei der Politikformulierung Gehör finden und dass alle Partikularinteressen nach ihrer gesellschaftlichen Bedeutung berücksichtigt werden. Vertreter wie 9
7
10
Be~ker, .Ga"!y S.: The Economic Way of Looking at Life, S. 46f. Deutsche Übersetzung: »Ern BeIspIel: Im Gegensatz zu dem, was man allgemein über Scheidungen unter reichen Leut~n annimmt, zeigt die ökonomische Analyse von Familienscheidungen, daß ScheIdungen von wohlhabenderen Ehepaaren weniger wahrscheinlich sind als die von ärmeren Paaren. Der Theorie zufolge ist es für reichere Paare in der Regel sehr vorteilhaft verheiratet zu bleiben, für ärmere Paare aber nicht. So mag sich eine mittellose Fra~ durchaus fragen, ob es sich lohnt, mit einem Langzeit-Arbeitslosen verheiratet zu bleiben. Empirische Untersuchungen belegen für viele Länder, daß Ehen reicher Paare stabiler sind.« Vgl. Kershaw, Charles; Schneider, Friedrich (Hg): The EncycIopedia of Public Choice. Volume 1. Dordrecht 2004. S. 118-129; Grossman, G. M.; Helpman, E.: Special Interest Politics. Cambridge 2001.
217 216
11
Dahl wurden dahingehend kritisiert, dass sie die unterschiedlichen Voraussetzungen von gesellschaftlichen Gruppen nicht berücksichtigten und die Benachteiligung sozial Schwächerer nicht thematisierten. Im Gegensatz zum Pluralismus erzählen Elitentheorien die Geschichte von Machteliten, die sich in den Hierarchien des politischen Apparates leichter durchsetzen als andere gesellschaftliche Gruppen, da ein enges Beziehungsnetzwerk reichen und mächtigen Interessengruppen den Zugang zu staatlichen Akteuren öffnet. Für Elitenforscher orientieren sich demokratische Prozesse daher an den starken Eliten und nicht am Wettbewerb aller Interessengruppen (vgl. Tabelle I). Elitentheorien legen ein sehr starkes Gewicht auf Machthierarchien und unterschätzen die gesellschaftliche Auseinandersetzung. So haben z.B. neue soziale Bewegungen wie die Öko-Bewegung in den letzten Jahrzehnten eine andere Politik auch gegen etablierte Eliten durchgesetzt. Die sozialwissenschaftliche Debatte über die Rolle und Wirkung von Interessengruppen konzentriert sich auf den pluralistischen Wettbewerb von Gruppen, auch wenn neuere Theorien differenzierte Erklärungen entwickelten. 12 Pluralistic Basic unit of analysis Interest groups
Elite Institutional elites
Class-Dialectic Social institutions; social classes Essential processes Interest group competition Hierarchical dominance by Imperatives of social elites institutions; class domination and conflict Basic of group power Many bases: organizational, Institutional position, Class position; degree of (resources) common social background, class consciousness and governmental, economic, convergent interests social, personal organization Distribution of power Dispersed among Concentrated in relatively Held by dominant class, but homogenous elites competing, heterogenous potentially available to I groups subordinate class Limits and stability Stable, no identifiable limits Historically contingent; Unstable; limited by of groups' power to elite domination democratic values generally stable, but limited consensus, shifting strength by class conflict and among organized interests contradictions within and and by cross-cutting among social institutions allegiances Conception of role of State is broker, able to State has little, if any, State serves interests of the state preserve some autonomy by autonomy; captive of elite dominant class, but requires balancing competing interests a degree of autonomy from interests segments of dominant class in order to act to preserve basis of class h~emony
Tabelle 1: Vergleich von politikwissenschaftlichen Theorien von Eliten, Klassen und Pluralismus 13 Marxistisch inspirierte Klassentheorien sehen in Demokratien einen Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit als grundsätzliche Dynamik. Diese ökonomistische Sichtweise wurde im Neomarxismus (Poulantzas, Gramsci) relativiert und näherte sich somit
Eliten- und Pluralismustheorien an, wobei die gesellschaftliche Widersprüchlichkeit im Kapitalismus immer noch als theoretische Fundierung im Neomarxismus existiert. Die ökonomische Interpretation von Politik hingegen stellt diesen drei Theorieschulen eine au~ rati~nal~s Handeln bezogene Politikanalyse gegenüber. Interessengruppen versuchen Ihr Elgemnteresse durchzusetzen und nutzen staatliche Marktintervention ~m Vorteile zu erhalten. Gewinne und Vorteile aus Marktprozessen werden in de; Okonomik >Rente< ge~annt, so dass das erfolgreiche Agieren von Lobbyisten und Interessengruppen von Okonomen als »rent-seeking« 14 bezeichnet wird. In Interessengruppen schließen sich Akteure zusammen, die einen persönlichen Nutzenvorteil in dieser politischen Aktivität sehen. Kleine Gruppen können sich leichter organisieren, weil dort die Kosten für die Koordination der Gruppe kleiner sind und bei großen Gruppen zahlreiche Betroffene auf das Engagement der anderen vertrauen und keinen Anreiz haben, einen Beitrag zu leisten. 1s Da kleine Gruppen sich leicht organisieren und große Gruppen sich bei kleinen Transfers nicht zu Wort melden, beuten nach der ökonomischen Theorie rationaler Interessengruppen kleine Interessengruppen die Allgemeinheit aus, da kleine Transfers von vielen zu einem großen Gewinn für wenige werden. In dieser ökonomischen Theorie wird eine große Skepsis gegenüber Lobbyismus und Demokratie allgemein gehegt, da sich Partikularinteressen auf Kosten des Gemeinwohls durchsetzen. Der plurale Wettbewerb von Interessen kann für neoklassische Ökonomen nur begrenzt funktionieren und somit sind Machtverhältnisse wie im Marxismus oder im Elitenansatz für ein Scheitern der Demokratie und Politik nicht notwendig. Die Theorie des Rent-Seekings gewann in zahlreichen Debatten großen Einfluss. Sie hat heute starke Wirkung auf Diskurse über Zollpolitik im Außenhandel 16 über Wirtschaftspolitik bis zur Entwicklungspolitik. Rationale Modelle politischer Systeme werden oft als Public Choice bezeichnet und haben in zahlreichen Fächern eine große Dominanz erreicht.
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Insbesondere der Chicagoer Ökonom Gary Becker begann in den 50er Jahren das theoretische Konstrukt des Homo Oeconomicus auf die Gegenstände anderer Dis~ipli nen anzuwenden. Rationales Handeln und Nutzenmaximierung sollen Kriminalität, Fami~iengründung ..und Scheidung oder Politik erklären. Insbesondere Soziologen warfen emer solchen Okonomik vor, einen >ökonomischen Imperialismus< in den Theorien und Sprachspielen der Sozialwissenschaften auszuüben. Ökonomen sahen den 14
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Dahl, Robert A.: The Concept ofPower. In: Behavioral Science 2/July (1957). S. 201-215.
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Vgl. Streeck, Wolfgang: Staat und Verbände. Politische Vierteljahresschrift, Sonderheft 25. Opladen 1994. Quelle: Whitt, Allen J.: Toward a Class-Dialectical Model of Power. In: American Sociological Review 44/1 (1979). S. 81-99. Hier S. 83.
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Der ökonomische Imperialismus und seine Folgen
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Krueger, Anne 0.: The Political Economy of the Rent Seeking Society. In: American Economic Review 64/3 (1974) S. 291-303. Hier S. 291. Zum Trittbrettfahrerverhalten und den damit verbundenen Problemen des kollektiven Handeins vgl. Olson, Mancur: The Logic ofCollective Action. Cambridge 1965. Vgl. Markusen, James R; Melvin, James R; Kaempfer, William Hutchison; Maskus, Keith E.: International Trade. Theory and Evidence. New York 1995. 219
Konflikt weniger dramatisch und Gary Becker übernahm den Vorwurf des, >ökonomischen Imperialismus< als Bezeichnung für seine Wirtschaftswissenschaft, dIe das Nutzenmaximierungskonzept auf nicht-ökonomische Sachverhalte anwendet, 17 Soziologen kritisierten aber mit diesem Kampfbegriff die Nic~tbe~chtung ~aditi~i1el ler Ansätze und sahen in der wachsenden Anzahl von PubhkatlOnen mit Rational Choice-Ansätzen eine Verdrängungsgefahr für ihre Disziplin. Die politikwissenschaftliche Untersuchung von Lobbyismus und I~te~essengruppen verändert sich durch Public Choice-Ansätze sehr stark. Der pluralIstIsche Wettbewerbsansatz vereinfachte die Integration von ökonomischen Ideen, aber eine einfache Produktionsfunktion von gesellschaftlichem Einfluss über die Umlenkung von Kapital aus der Produktion von Gütern in Erzeugung politischen Drucks auf Entscheidungsträger war diesen Ansätzen normalerweise fremd. Gegen die immer stärkere Dominanz der Public Choice-Ansätze wehrten sich traditionelle Politologen und formten das >Perestroika-Movement<, um z.B. den >ökonomischen Imperialismus< in 18den zentralen Zeitschriften wie American Political Science Review zurückzudrängen. In ökonomischer Nutzenmaximierung fehlen überwiegend sozialwissenschaftliehe Kategorien wie Macht, soziale Beziehung oder Wirkungen gesellschaftlicher Strukturen. In der soziologischen Feldtheorie von Bourdieu19 besteht eine Interdependenz zwischen Akteuren, wobei Ökonomen nutzenmaximierende Akteure als freie Individuen denken. Obwohl auch fiihrende Soziologen wie Bourdieu Begriffe wie Sozial- oder Kulturkapital verwenden, lehnt Bourdieu doch ökonomische Konzepte wie Humankapital für zukünftige Einkommensmöglichkeiten aus erworbener Ausbildung und Bildungskenntnissen ab. Eine Mehrheit der Soziologen, eine bedeutende Anzahl von Politologen und die eher kleine heterodoxe Fraktion von Ökonomen, die sich nicht zum Mainstream zählen, stehen Nutzenmaximierung und Rational Choice-Theorien aus theoretischen und empirischen Gründen distanziert gegenüber. Ihre Kritik beru~t a~f ~ahlreich~n Schwierigkeiten, die mit dem Rational Choice-Ansatz verbunden smd. 0 DI~ Rhetonk und S~rechweise der Ökonomen wurde schon von Deirdre McCloskey kritIsch untersucht. 1 Die ökonomischen Diskurse schließen sich stark gegenüber anderen Fächern ab, was insbesondere die >postautistische Bewegung< von Ökonomiestudierenden beklagt. 22 In methodologischer Hinsicht verengt sich die ökonomische Perspektive auf 17 Vgl. Pies, Ingo: Gary Beckers ökonomischer Imperialismus. Tübingen 1998. 18 Steinmo, Sven: Perestroika/Glasnost and >Taking Back the APSR<. http://www.btinternet.com/-pae_newslPerestroika/Steinmo.htm(15.11.2006). 19 Vgl. Bourdieu, Pierre: Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft. Konstanz 2001. 20 Vgl. Fullbrook, Edward: A Guide to What's Wrong with Economics. London 2004; Dürmeier, Thomas; von Egan-Krieger, Tanja; Peukert, Helge (Hg): Die Scheuklappen der Wirtschaftswissenschaft. postautistische Ökonomik für eine pluralistische Wirtschaftslehre. Marburg 2006. 21 Vgl. McCloskey, Deirdre N.: The Rhetoric ofEconomics. 2. Aufl. Madison 1998. 22 Vgl. Dürmeier Thomas; von Egan-Krieger, Tanja; Peukert, Helge (Hg): Die Scheuklappen der Wirtschaftswissenschaft. postautistische Ökonomik für eine pluralistische Wirtschaftslehre. Marburg 2006. 220
logische Deduktion aus allgemeinen Theoremen, quantitative Statistik und Ökonometrie, wobei besonders die Regressionsanalyse als zentrales Analysewerkzeug dient. Diskursanalysen, historische Fallstudien oder Feldbeobachtung finden in der Ökonomik nicht statt. Auch in der Erkenntnistheorie setzt die heutige Ökonomik andere Schwerpunkte als die übrigen Sozialwissenschaften. Mathematische Deduktion und Modellierung wird verbalen Theorien vorgezogen. Die starke Vorherrschaft des Positivismus grenzt sich von neueren konstruktivistischen oder postmodernen Ansätzen stark ab. 23 Der ökonomische Text beruht daher auch auf einer anderen Ontologie. Der menschliche Akteur wird als >methodischer Individualist< gedacht, der entscheidet, als ob er vollständig rational handeln würde. Soziale Beziehungen oder Interaktionen spielen nur eine untergeordnete Rolle. 24 Die ökonomische Theorie, die in den Texten der Volkswirtschaftslehre formuliert wird, verwendet Mathematik und die Metapher des >all~~meinen Gleichgewichts< m:-is,chen Ang~bot und Nac~frage auf unzähligen Märkte~. Aus dem Handeln des IndiVIduums wlrd aus der MIkroperspektive die gesamte WIrtschaft auf der Makroebene erklärt. Diese Perspektive von Rationalität, Effizienz und Gleichgewicht hat auch ethische Konsequenzen. 26 In der unternehmens- und wirtschafts ethischen Debatte sieht man dies in der Auseinandersetzung zwischen Karl Homann und Peter Ulrich. Während Homann aus der Nutzenmaximierung eher liberal-konservative Politikempfehlungen ableitet,27 fordert Ulrich aus einer sozialphilosophischen Position in Anlehnung an Habermas und gegen die neoklassische Ökonomik sozialdemokratische Grenzen und Regulierungen von Marktprozessen. 28 Eine ähnliche Debatte findet man auch in anderen Bereichen wie Umweltpolitik29 , Agrarpolitik oder politischer Philosophie. 30 Die ökonomischen Texte und ihre Wirkung auf andere Sprachspiele haben weitreichende Folgen, daher verwundert es kaum, dass auch von The Secret Sins of Economics 31 besprochen wird. ~: Vgl. Lawso~, Tony: Economics and Reali~. Economics as Social Theory. London 1997.
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Vgl. PolanYl, Karl: The Economy as Instttuted Process. In: Polanyi, Karl; Arensberg, C. M.; Pearson, H. W. (Hg): Trade and Market in the Early Empire. Economies in History and Theory. New York 1957. S. 243-270. Vgl. Mäki, Uskali: Fact and Fiction in Economics. Models, Realism, and Social Construction. Cambridge 2002. Vgl. Lakoff, George; Johnson, Mark: Philosophy in the Flesh: The Embodied Mind and its Challenge to Western Thought. New York 1999. Hier S. 513-538. Vgl. Homann, Karl: Vorteile und Anreize. Zur Grundlegung einer Ethik der Zukunft. Tübingen 2002. Ygl. Ulrich, Peter: Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichen Okonomie. Bern 1997. Für den Schulenstreit zwischen neoklassischer Umweltökonomik und heterodoxer ökologischer Ökonomik vgl. exemplarisch Beckenbach, Franz: Zwei Sichtweisen auf das Umweltproblem. Neokl.~ssische Umweltökonomik versus ökologische Ökonomik. Jahrbuch ökologische Okonomik 1 (1999); Costanza, Robert; Eser, Thiemo W.: Einfiihrung in die ökologische Ökonomik. Stuttgart 2001. Vgl. Koller, Peter: Neue Theorien des Sozialkontrakts. Berlin 1987. McCloskey, Deirdre N.: The Secret Sins ofEconomics. Chicago 2002. 221
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Machtressourcen der wirtschaftswissenschaftlichen Dominanz
Nachdem wir uns kritisch mit Theorien rationalen Handeins auseinandergesetzt haben, wollen wir Ursachen für den >ökonomischen Imperialismus< suchen, da sich trotz der theoretischen Schwächen der neoklassische Homo Oeconomicus in die Sprachtexturen der Sozialwissenschaften integriert hat. Die Forschung zu dieser Frage befindet sich noch in ihren AnHingen, aber einige Erklärungen lassen sich anführen. 32 Eine gute wissenschaftliche Theorie versucht, einfache, allgemeine und wahre Aussagen über die reale Welt zu machen. Die neoklassische Wirtschaftstheorie und die darin enthaltene Handlungstheorie der Nutzenmaximierung überzeugt mit ihrer Schlichtheit und einfachen Theoriestruktur. Die Präferenzen des Akteurs und ihm gegenüberstehende Restriktionen werden zur Erklärung menschlichen Verhaltens benutzt. Aus nur wenigen Variablen und zwei daraus folgenden Gleichungen leiten Ökonomen das menschliche Verhalten ab. Diese Einfachheit setzt sich klar von komplexeren Modellen der Soziologie sowie der klassischen Psychologie ab. Im Gegensatz zur soziologischen Sprache der Wortneuschöpfungen (vgl. Luhmanns »Autopoiese«, Habermas' »Kolonialisierung der Lebenswelt«) zeigt sich die formale Darstellung in der Sprache der Ökonomen schlicht und klar strukturiert. Formale Darstellungen in der Sprache der Mathematik haben in unserer heutigen Wissenschaftskultur, die stark vom Positivismus und den Naturwissenschaften dominiert ist, einen höheren Stellenwert als verbale Ausführungen anderer Sozialwissenschaften. Eine mathematische Theorie erleichtert die quantitativ-empirische Überprüfung einer Theorie. Zusätzlich ermöglicht der Datenreichtum in der Welt der Wirtschaft die empirische Forschung in der Wirtschaftswissenschaft. Empirisch >harte Fakten< überzeugen in wissenschaftlichen Diskursen oft eher als stark hermeneutisch geprägte Erklärungen und empirische Fundierungen in qualitativen Untersuchungen. Neben dem Stellenwert mathematischer und einfacher Theorien in unserer Wissenschaftswelt ermöglichen diese bei den Eigenschaften der Neoklassik eine höhere wissenschaftliche Produktivität, da die Mathematik zahlreiche Methoden des logischen Schließens in Deduktionen oder induktiven Schlüssen erlaubt und somit den Arbeitsaufwand stark reduziert. Zusätzliche Kategorien können durch eine neue Variable oft sehr einfach integriert werden. Mathematik und theoretisch einfache Konzepte erleichtern neue wissenschaftliche Entdeckungen und führen so zu größerer wissenschaftlicher Produktivität und schnelleren Publikationszyklen, was die Dominanz ökonomischer Publikationen verstärkt.
32 Vgl. DÜImeier, Thomas: Post-Autistic Economies. Eine studentische Intervention für plurale Ökonomik. In: Intervention 2/2 (2005). S. 65-76; Kliemt, Hartrnut: Semiotische Aspekte der Wirtschaftswissenschaften. Wirtschaftssemiotik. In: Posner, Roland; Robering, Klaus; Sebeok, Thomas A. (Hg.): Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. 3. Teilband. New York 1997. S. 2904-2918. 222
Neben den methodischen und ontologischen Gründen können auch soziale Ursachen für den >ökonomischen Imperialismus< in andere Wissenschaftsdisziplinen gefunden werden. Dfe soziale Stellung der Ökonomen in der Wissenschaftswelt unterscheidet sich stark von anderen Sozialwissenschaften. Wirtschaftliche Themen haben in einer marktwirtschaftlieh geprägten Gesellschaft eine höhere Relevanz als in mittelalterlich organisierten Gesellschaften mit der Dominanz des Klerus und der Theologie. Ökonomen versuchen, Antworten auf zentrale Fragen der Zeit wie Wirtschaftswachstum, Arbeitslosigkeit oder Globalisierung zu geben, und haben aufgrund ihrer formalen Arbeitsweise und hohen Publikationstätigkeit auch einen hohen Stellenwert im sozialen Feld der Wissenschaften. Die hohe soziale Stellung der Ökonomen 33 spiegelt sich z.B. auch im nachträglich eingeführten Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften, der 1968 von der schwedischen Zentralbank gestiftet wurde. Diese gesellschaftliche BedeutUng von Ökonomen spielt für zahlreiche politische Gruppen eine Rolle. Ökonomische Ideen prägen gesellschaftliche Entwicklungen, wie die Theorien von Karl Marx oder John Maynard Keynes gezeigt haben. Insbesondere die ökonomischen Interpretationen nicht-ökonomischer Phänomene durch Ökonomen der Chicagoer Schule diente in den 70er Jahren als wirtschaftswissenschaftliche und auch ideologische Fundierung politischer Projekte von Ronald Reagan oder Margaret Thatcher. 34 Die Theorie der Nutzenmaximierung war für zahlreiche politische Kämpfe eine opportune Fundierung der eigenen Argumente, wie auch Gary Becker seine theoretische Arbeit als politisch notwendig erachtete. 35 Diese Dominanz ökonomischen und oft verkürzten Denkens in Effizienz und opportunistischen Abwägungen verstärkt einen ökonomistischen Zeitgeist, was Jürgen Habermas als »Kolonialisierung der Lebenswelt«36 bezeichnet. In spätkapitalistischen Gesellschaften wandeln sich Werte und Normen, die Habermas als Lebenswelt bezeichnet, von Gerechtigkeit und Solidarität zu Profit, Effizienz und Nutzenmaximierung. Dieser Trend bettet die steigende Vorherrschaft ökonomistischer Erklärungen und den damit verbundenen >ökonomischen Imperialismus< in einen gesamtgesellschaftlichen Wandel ein. Wir konnten somit den >ökonomischen Imperialismus< und seine Dominanz in den Sozialwissenschaften mit den aufgezeigten Hypothesen auf wissenschaftliche und gesellschaftliche Ursachen zurückführen.
33 Vgl. Leander, Anna: Pierre Bourdieu on Economics. In: Review of International Political Economy 8/2 (2001). S. 344-353. 34 V gl. Blyth, Mark: Great Transformations. Economic Ideas and Institutional Change in the Twentieth Century. Cambridge 2002; Yergin, Daniel; Stanislaw, Joseph: The Commanding Heights. The Battle Between Government and the Marketplace that is Remaking the Modern World. New York 1998. 35 Vgl. z.B. Becker, Gary S.: Die Ökonomik des Alltag. Von Baseball über Gleichstellung zur Einwanderung. Tübingen 1998. 36 Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handeins Bd.l: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung. Frankfurt am Main 1981. 223
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Intertextuelle Macht 6
Eine grundsätzliche Frage, die sich aus dem >ökonomischen Imperialismus< ergibt~ bezieht sich auf die Intertextualität. Sollten wir uns nicht fragen, ob es asymmetrische Beziehungen zwischen Texten gibt? Der wirtschaftswissenschaftliche Text wirkt auf andere Texte ein und verändert diese. Für Max Weber war Macht die »Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen.«37 Der ökonomische Text verändert im sozialen System der Wissenschaften durch seine Beziehungen andere Disziplinen. Intertextualität kann, wie am >ökonomischen Imperialismus< gezeigt, auch ein Machtverhältnis 38 zwischen Texten bedeuten. Die Theorien der Intertextualität beschäftigen sich mit den Verbindungen zwischen Texten. Die Bezüge vom Urtext zu anderen Texten sollen geklärt werden und so das Verständnis dieser Texte verbessern. Zwar möchte ich hier nicht die Bedeutung von Macht für die Konzepte der Intertextualität erörtern, doch will ich auf die Intertextualität der Wissenschaften hinweisen. Für wissenschaftliches Arbeiten ist intertextuelles Beziehen von Aussagen grundlegend. Wissenschaft lebt vom Grundprinzip des Zitates, des Verweises und der Erstellung von Überblicken der Literatur. Die Verwendung des gesamten wissenschaftlichen Textkörpers und eine Art der umfassenden Intertextualität gehört zum Alltag der Wissenschaft. Für die nähere Analyse von Machtrelationen zwischen Texten bzw. (Fach-) Sprachen würde sich das »dritte oder vierte Gesicht der Macht«39 anbieten. Unter diesem Begriff versteht man in der Machttheorie die Veränderung der Vorstellungen des Machtunterworfenen. Machtverhältnisse entstehen aus der Möglichkeit, durch dominante Begriffe und Argumente, was Pierre Bourdieu »symbolisches Kapital« nennt, Denkmöglichkeitsräume zu verändern oder zu beeinflussen. In der Politikwissenschaft spricht man von hegemonialen Diskursen in Bezug auf Gramsci oder von >Gouvernementalität< 40 . Den Aufbau von Aussagesystemen und die soziale und politische Wirkung von Argumentketten hat Laclau untersucht;41 Kenntnis hiervon könnte bei der Beschreibung bzw. Analyse von Machtverhältnissen zwischen Texten hilfreich sein. Mittels Diskursanalyse könnte eine Verbindung zwischen Sprachwissenschaft und der Ideengeschichte der Volkswirtschaftslehre hergestellt werden und somit die Machtverhältnisse aus der >ökonomisch-imperialen< Intertextualität analysiert werden.
Ein interdisziplinäres Fazit
In der Untersuchung der intertextuellen Ausbreitung ökonomischer Begriffe und Argumente in andere Sozialwissenschaften haben wir Machtverhältnisse zwischen Texten erkennen können. Die neoklassische Sprache tritt mit Macht in den Sozialwissenschaften auf und verändert diese, wie die Beispiele der ökonomischen Analyse der Ehe, der Kriminalität oder von Lobbyismus gezeigt haben. Die Sprache der neoklassischen Wirtschaftswissenschaft verändert Wirtschafts-, Sozial- und Geisteswissenschaften; interdisziplinärer Texttransfer verzerrt Perspektiven. Daher sollte Macht ein Untersuchungsaspekt in der Forschung zu Intertextualität sein. Diese erste Erschließung der interdisziplinären Intertextualität sollte in weitergehende Forschungen münden. Eine Wirkungs analyse der Rezeption ökonomischer Texte oder die wissenschaftssoziologische Frage nach dem Bezug von machtfOrmiger Intertextualität und Wirkung auf die Realität wäre wünschenswert. Es könnte auch eine quantitativ-empirische Detailuntersuchung (z.B. Bibliometrie) vorgenommen werden. Insbesondere würde eine Forschung über interdisziplinäre Intertextualität und ihre Wirkung wichtige Beiträge fiir wissenschafts soziologische und wissenschaftstheoretische Reflexionen mit ethischer Dimension leisten.
37 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie 1972. S. 28.
Für eine weitergehende Untersuchung zur Kategorie Macht vgl. Wartenberg, Thomas E.: Rethinking power. Albany 1992. 39 »Third/fourth face of power«. Vgl. Lukes, Steven: Power. Basingstoke 2004; Digeser, Peter: The Fourth Face of Power. In: Journal of Politics 54/4 (1992). S. 977-1007; Isaac, Jeffrey C.: Beyond the Three Faces ofPower. A Realist Critique. In: Wartenberg, Thomas E. (Hg.): Rethinking Power. Albany 1992. S. 32-55. 40 Vgl. Foucault, Michel; Sennelart, Michel: Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität. Bd. 1. Vorlesung am College de France 1977-1978. Frankfurt am Main 2006. 41 Vgl. Laclau, Ernesto: Emanzipation und Differenz. Wien 2002. 38
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der .C~lumbia l!~iversity. 2006 Promotion mit einer Arbeit zum Thema Faith Matters: Re!lglon, Et~nzClty, .an~ Survival in Louise Erdrich 's and Toni Morrison 's Fiction. SeIt 2006 wissenschafthche Mitarbeiterin im Department of English and Linguistics der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Zu den Autoren
Kristina Dronsch Jahrgang 1971. Studium der Evangelischen Theologie in Bonn, Göttingen, Zürich, Neuchätel, Hamburg und München. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Ev. Theologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Dissertation zum Thema Bedeutung als Grundbegriff neutestamentlicher Wissenschaft. Texttheoretische und semiotische Entwürfe zur Kritik der Semantik dargelegt anhand einer Analyse zu akouein in Mk 4.
Sandra Hübenthai Jahrgang 1975. Studium der Katholischen Theologie an der Hochschule Sankt Georgen (Frankfurt am Main) und am Milltown Institute (Dublin). Dissertation zum Thema Transf.ormation und Aktualisierung. Zur Rezeption von Sach 9-14 im Neuen Testament. SeIt 2007 Lecturer für Biblische Theologie an der RWTH Aachen. Andreas Linsenmann
Thomas Dürmeier Jahrgang 1973. Studium der Wirtschafts- und Politikwissenschaft in Regensburg und Boulder/Colorado. Arbeit an einer Dissertation zum Thema Politische Macht transnationaler Unternehmen in der ökonomischen Theorie der Internationalen Politischen Ökonomie an der Universität Kassel. Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl Globalisierung & Politik (Kassel). Mitbegründer des bundesweiten Arbeitskreises Postautistische Ökonomie und Vorstandsmitglied in der NGO LobbyControl.
J~hrgan~ 1973. Diplom-~usiklehrerstudium an der Musikhochschule Karlsruhe, künstlensches ~ufb~~studIUm an der Basler Schola Cantorum, parallel Magisterstudium an der Umv~rsitat ~r!sruhe (Musikwissenschaft und Geschichte). Dissertation ~~ !hema MUSik als polztzscher F.aktor. Fr~nzösische Umerziehungs- und Kulturpolztik zn De~tschland 1945-1950. SeIt 2007 wIssenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Semmar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Annegret Reese
Achim Förster Jahrgang 1979. Studium der Rechtswissenschaft mit Begleitstudium zum Europäischen Recht in Würzburg. Nach dem Ersten Juristischen Staatsexamen Studium zum Master of Laws mit Schwerpunkt Intellectual Property Law an der Indiana University School of Law (Indianapolis/USA). Seit Mai 2006 rechtsvergleichende Dissertation zu einem urheberrechtlichen Thema im DFG-Graduiertenkolleg Geistiges Eigentum und Gemeinfreiheit an der Universität Bayreuth.
Ja~rgan~ 1~6~. Diplomtheologin und Grundschullehrerin. Seit 1999 wissenschaftliche MI~arbeitenn 1m Fach Katholische Theologie/Religionspädagogik an der Universität ~uIsburg-Esse~: 2005. Disse~a~ion zum Thema >Ich weiß nicht, wo da Religion anfln~t .un~..aufh~rt<: Ezne empzrzsche Studie zum Zusammenhang von Lebenswelt und RelzglOsltat b~l SzngleJrauen. Derzeit Mitarbeit an einem empirischen Lehr-LernForschungsproJekt und Arbeit an einer Habilitationsschrift. Katharina Rhode
Elisabeth-Christine Gamer Jahrgang 1980. Magisterstudium der Europäischen Kunstgeschichte und Germanistik an den Universitäten Heidelberg und Edinburgh (UK). Seit 2005 Arbeit an einer Dissertation zum Thema Interikonizität im 20. Jahrhundert. Überlegungen zu einer Theorie der Bildbeziehungen anhand ausgewählter Kunstwerke.
Jahr~~ng 19:1. Studium ~er G~rmanistik und Theaterwissenschaft an der Freien UniversI~~t Berhn un~ de~ UmversItät Wien. Arbeit an einer Dissertation zum Thema Ehe, Famllze und ProsiltutlOn in den späten Dramen Frank Wedekinds.
Karin Herrmann Jahrgang 1975. Studium der Literaturwissenschaft, Linguistik, Theologie und Pädagogik an der RWTH Aachen. Dissertation zum Thema Ernst Meisters lyrisches Spätwerk. Poetologie und literarische Verfahrensweise. Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Ernst Meister-Arbeitsstelle (AachenIBonn).
Jahrgang 1977. St:udium de~ Evange~ischen Theologie, Mathematik und Philosophie in Frankfu~ am Mam und GIeßen. WIssenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Ev. ~heolo~Ie der .Johann Wolfgang Goethe-Universität (Frankfurt am Main). Arbeit an emer DIssertatIOn zur Gottesrede des ersten Korintherbriefes in intertextueller Perspektive. Kirchenmusiker im Nebenamt.
Bärbel Höttges Jahrgang 1977. Studium der Amerikanistik, Germanistik und Filmwissenschaften an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, der University of California, Irvine, und
Constanze Spieß
Michael Schneider
Jahrgang 1975: Stu~~~m d~r Ge~anistik und Katholischen Theologie an der Johannes G~tenberg-U~IVerSltat ~amz. SeIt 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin am GermanistIschen InstItut (AbteIlung Sprachwissenschaft) der Westfälischen Wilhelms-
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1 Universität Münster. Dissertation zum Thema Linguistische Diskursanalyse nach Foucault am Beispiel des Bioethikdiskurses um humane, embryonale StammzellJorschung. Theorie, Methode und Gegenstand. Georg Steins Jahrgang 1959. Studium der Katholischen Theologie und Philosophie an den Univ~rsi täten Münster, Tübingen und Innsbruck. 1993 Promotion mit einer Arbeit über die Chronikbücher, 1998 Habilitation mit einer Studie zur Methode kanonischer Schriftauslegung am Beispiel von Genesis 22. Seit Mai 2002 Professor für Exegese des Alten Testaments und Mitglied der Forschungsstelle für Christlich-jüdische Studien an der Universität Osnabrück. Stefan Wieczorek Jahrgang 1971. Studium der Neueren deutschen Literatur, Komparatistik und Soziologie mit Parallelabschluss an der Universität Utrecht und der Ruhr-Universität Bochum. 2006 Promotion an der RWTH Aachen. Seit 2007 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Germanistische und Allgemeine Literaturwissenschaft der RWTH Aachen. Publikationen u.a. zur Medienbeziehung zwischen Literatur und Fotografie sowie zur Lyrik des 20. Jahrhunderts.
Nachweis der Rechte
Marcel Duchamp: L.H O. O. Q. © Succession Marcel Duchamp / VG Bildkunst, Bonn 2007. Andy Warhol: Thirty Are Hetter Than One. © Andy Warhol Foundation for the Visual Arts / Artists Rights Society (ARS), New
York2007.
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