Wie ein Engel auf Erden
Barbara Boswell
Julia Weihnachten 1995
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von alumt k.
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Wie ein Engel auf Erden
Barbara Boswell
Julia Weihnachten 1995
Gescannt von suzi_kay
Korrigiert von alumt k.
1. KAPITEL
Das Nachsitzen fand in der High School von Port Mason jeden Nachmittag im Raum 3 statt, einem langen fensterlosen Schlauch im Keller, der zwischen den Übungsräumen von Chor und Orchester lag. Im November und Dezember hörten die nachsitzenden Schüler den Proben für das alljährliche Weihnachtskonzert zu. Während das Orchester sich mit „Silver Bells" abmühte und der Chor immer wieder über dieselbe Textzeile stolperte, kam Brian Ritterhaus zu dem Ergebnis, dass die zweistündige Haft im Zellenblock 3 gar nicht die eigentliche Strafe darstellte. Sich jeden Tag Chor und Orchester von Port Mason High anhören zu müssen war eine viel wirksamere Folter. Seufzend schob Brian sich auf seinen Stuhl in der ersten Reihe, direkt vor den Adleraugen von Mrs. Crawford. Die Lehrerin knallte mit den Schubladen, was ein deutliches Anzeichen dafür war, dass die Orchesterprobe auch an ihren Nerven zerrte. Brian hätte lieber hinten gesessen, doch das durften nur die älteren beiden Jahrgänge. Anfänger wie er waren dazu verdammt, ganz vorn zu sitzen. Die Schüler des zweiten Studienjahrs nahmen die mittleren Reihen ein. Brian warf einen kurzen Blick nach hinten, wo die kräftigen, schon erwachsen aussehenden Jungen in zerfetzten Jeans mit ihren Freundinnen tuschelten, die fast alle Stretchkleider, Turmfrisuren und ein viel zu grelles Make-up trugen. Verglichen mit den älteren Schülern kam Brian sich unreif vor, zumal er noch immer auf den Wachstumsschub wartete, den sein Vater ihm dauernd ankündigte. Stammkunden beim Nachsitzen waren natürlich nicht die Spitzenschüler von Port Mason High, sondern die Rebellen, Außenseiter und Unruhestifter. Gelegentlich wurde ein „braver Junge" wie Brian dazu verurteilt, den Nachmittag mit ihnen zu verbringen, weil er zu spät zum Unterricht gekommen war. In den letzten zwei Monaten war ihm das allerdings so oft passiert, dass er schon fast zu den Stammkunden gehörte. Das Schlimme daran war, dass er langsam auffiel. Brian wusste, dass er als Sohn des Polizeichefs der Stadt hier unten kaum mit einer freundlichen Aufnahme rechnen durfte. „Hast du dich etwa schon wieder verspätet?" Das Flüstern eines Mädchens riss ihn aus seiner Trübsal. Brian drehte sich zur Seite, als Natalie Nolan, eine Mitschülerin aus seinem Studienjahr, am Nachbartisch Platz nahm. Er nickte traurig. „Jetzt sitze ich die ganze Woche hier fest." „Ich auch", jammerte Natalie leise. „Ich bin schon vom Cheerleaden beim nächsten Junioren-Basketballspiel ausgeschlossen worden, weil ich zu viele Proben versäumt habe. Wenn das so weitergeht, fliege ich noch ganz raus!" „Dann wäre dein Leben komplett ruiniert", erwiderte Brian trocken. Er mochte Natalie. Hübsche, beliebte Mädchen wie sie gaben sich normalerweise nicht mit ruhigen, fleißigen Typen wie ihm ab, aber als jüngste Sträflinge waren sie Freunde geworden. Unter denen, die ihre Nachmittage regelmäßig im Schulkeller verbrachten, waren sie die Außenseiter. „Ja, das stimmt", sagte Natalie ernst. „Wenn ich aus dem Sportteam der Junioren fliege, schaffe ich es im nächsten Jahr nicht, Cheerleader zu bleiben. Das bedeutet, dass ich auf dem Schulball nicht Hofdame der Königin werde, und dann kann ich meinen Traum, im letzten Jahr selbst Homecoming Queen zu werden, endgültig vergessen." Sie warf einen Blick auf die geschminkten Gesichter der älteren Mädchen. „Wenn das so weitergeht, ende ich vielleicht sogar wie die!" flüsterte sie mit einem Schaudern. „Wieso kommst du denn dauernd zu spät?" fragte Brian ohne großes Interesse. Er erwartete, dass sie sich darüber beschweren würde, wie lange sie jeden Morgen für das richtige Outfit und das lange blonde Haar, also den unvergleichlichen Natalie-Nolan-Look, brauchte. Ihre Antwort überraschte ihn. „Ich muss meinen Bruder und meine Schwester zur Grundschule bringen, und die trödeln dauernd", sagte sie grimmig. „Molly und Megan gehen in die erste Klasse und sind morgens wie Zombies. Sie bewegen sich noch langsamer als der Uhrzeiger während eines Geschichtstests. Ich muss sie anziehen und kämmen und
wachhalten, während sie frühstücken. Heute ist Molly eingeschlafen und mit dem Gesicht in die Cornflakes gefallen. Ehrlich, direkt in die Milch, kein Scherz." Brian schmunzelte. „Gut, dass du da warst, um sie herauszuziehen, sonst wäre sie vielleicht ertrunken." Natalie fand das gar nicht lustig. „Und dann mein kleiner Bruder Ned. Er ist zehn und verlegt alles, was er braucht. Schuhe, Büchertasche, das Geld fürs Mittagessen. Jeden Morgen rennen wir wie die Verrückten herum und suchen seine Sachen. Also verpassen wir meistens den Schulbus und müssen laufen." „Und daher kommst du fast immer zu spät", folgerte Brian. „Komisch." „Ich finde das gar nicht komisch", protestierte Natalie. „Die drei bringen mich noch um den Verstand, aber sie sind meine Geschwister, und ich liebe sie." „So habe ich es nicht gemeint. Ich finde es komisch, dass ich mich auch immer wegen meiner jüngeren Geschwister verspäte", erklärte er und war froh, eine Leidensgenossin gefunden zu haben, „Ian ist mit acht der Jüngste und der Vergessliche in der Familie. Er schafft es, seine Schuhe auf dem Weg vom einem Zimmer ins nächste zu verlieren. Justin ist elf und unser Schlafwandler. Aber meine Schwester Robin ist am schlimmsten. Sie ist zwölf, in der siebten Klasse und hasst die Schule. Ich muss sie praktisch hinschleifen. Ich meine, ich nehme ihren Arm, schiebe sie ins Schulgebäude, und sie wehrt sich die ganze Zeit. In letzter Zeit musste ich sie sogar hineintragen!" „Warum hasst sie die Schule so sehr?" fragte Natalie neugierig. „Sie sagt, die anderen Kinder machen sich über sie lustig, vor allem die Mädchen." Natalie seufzte. „Sie tut mir leid. Mädchen in dem Alter können grausam sein." „Ja, Robin hat es nicht leicht. Sie ist das einzige Mädchen im Haus und findet, dass niemand sie versteht." „Das klingt wie mein Bruder. Er ist der einzige Junge in der Familie." Die beiden Vierzehnjährigen sahen sich an. „Lebt dein Dad bei euch?" fragte Brian behutsam. „Nein, er ist vor sechs Jahren gestorben, als ich in der dritten Klasse war. Und deine Mom? Lebt sie bei euch?" „Sie ist vor sechs Jahren gestorben ... als ich in der dritten Klasse war." Natalie und Brian starrten sich aus großen Augen an. „Wow!" hauchte Natalie. „Irgendwie... komisch", murmelte Brian. „Sehr komisch", stimmte Natalie ihm zu. „Ruhe!" fauchte Mrs. Crawford. „Dies ist Nachsitzen undkeine Party!" Sie schlug mit einem Lehrbuch auf den Tisch. In den hinteren Reihen wurde unbeeindruckt weitergetuschelt, nur Brian und Natalie verstummten gehorsam. Obwohl es noch nicht fünf Uhr war, verdunkelte sich der Winterhimmel bereits, als Brian Ritter und Natalie Nolan die High Street, die Hauptstraße von Port Mason, entlanggingen. Ein kalter Wind wehte durch die Bäume, die den Bürgersteig säumten, und Natalie zog fröstelnd den Schal fester um den Hals. „Ich kann nicht glauben, dass die alte Crawford uns früher entlassen hat. Vielleicht kommt bei ihr Weihnachtsstimmung auf", meinte Natalie, als sie sich dem Einkaufsviertel näherten. Die Schaufenster waren festlich geschmückt, denn jedes Geschäft wollte den von der Handelskammer ausgesetzten Preis für die schönste Dekoration gewinnen. „Ich glaube ehe r, dass wir es dem Orchester und dem Chor zu verdanken haben." Brian lächelte. „So grauenhaft hat ,Silver Beils' noch nie geklungen." „Hallo, Brian", rief ein stämmiger, rotwangiger Polizist. Brian winkte ihm zu und hoffte, dass der Mann keine Bemerkung über seine Begleiterin machen würde. Vergeblich. „Du hast ja eine hübsche kleine Freundin, Brian", sagte der Beamte freundlich. „Kommst gut an bei den Frauen, was? Ganz der Vater." Brian hatte das Gefühl, am ganzen Körper rot anzulaufen. Er rang sich ein höfliches
Lächeln ab und eilte weiter. Natalie musste sich anstrengen, um mitzukommen. „Tut mir leid", flüsterte Brian verlegen. „Dich kennt bestimmt jeder Polizist in der Stadt, schließlich bist du der Sohn ihres Chefs." Brian nickte nur. „In dieser Stadt kennt sowieso jeder jeden", fuhr Natalie fort. „Als wir im Sommer herzogen, konnte ich kaum fassen, wie viele Leute die Großtante meiner Mom kannten. Sie hat uns das Haus hinterlassen, weißt du. Jede Menge Leute kamen vorbei, erzählten von Edith und brachten uns Kekse und Torten zum Einzug." „Ja, Port Mason ist ein freundlicher Ort", bestätigte Brian. „Manchmal zu freundlich." „Schade, dass dein Dad nicht gekommen ist, um meine Mom zu begrüßen", sagte Natalie mit einem Blick auf Brian. „Sie ist hübsch, auch wenn sie schon zweiunddreißig ist und vier Kinder hat. Vielleicht hätten sie sich ja angefreundet." Brian blieb stehen. „Mein Dad ist sechsunddreißig, kommt mir aber gar nicht so alt vor. Eigentlich finde ich ihn ganz cool." Er sah Natalie in die Augen und wusste, dass sie beide dasselbe dachten. „Wenn dein Dad meine Mom heiratet, wären wir beide frei", rief Natalie begeistert. „Mom könnte den blöden Job bei der Zeitung aufgeben und zu Hause bleiben. Dann könnte sie die Kleinen morgens zur Schule bringen. Wir würden uns nie mehr verspäten und müssten nie wieder nachsitzen!" „Meinst du, sie würde abends Essen machen?" fragte Brian sehnsüchtig. „Mein Dad hasst Kochen, also gibt es entweder Sandwiches oder Tiefkühlzeug, oder wir bestellen etwas. Ich kann es schon nicht mehr sehen." „Meine Mom kann gut kochen", versicherte Natalie ihm. „Obwohl ich meistens in der Küche stehe, seit wir hier leben und sie diesen dämlichen Redaktionsschluss bei der dämlichen Zeitung hat", fügte sie finster hinzu. „Mein Dad würde sie nicht arbeiten lassen", verkündete Brian stolz. „Er findet, dass eine Frau ins Haus und zur Familie gehört." Sein Vater hatte sich zwar noch nie dazu geäußert, aber Brian fand die Vorstellung, dass es so wäre, großartig. Natalie ebenfalls. „Cool! Die beiden werden perfekt zusammenpassen. Und mein Bruder wird sich freuen, einen Dad und Brüder zu haben. Und ich brauche mir nicht mehr sein ewiges Gejammer darüber anzuhören, dass er der einzige Mann im Haus ist." „Und du könntest Robin mit ihrem Haar und ihrem Outfit helfen", sagte Brian begeistert. „Natürlich würde ich ihr helfen!" Natalie strahlte. „Mit mir als Schwester wird sie das beliebteste Mädchen in ihrer Klasse." Brian war hingerissen. Natalie Nolan war erst seit September auf der Port Mason High, zählte aber schon zu den beliebtesten Mädchen der Schule. Robins Probleme mit ihren Mitschülerinnen wären gelöst, die Tage des Nachsitzens vorüber, und seine kleinen Brüder hätten eine Mutter, die sich um sie kümmerte. Und sein Vater hätte eine Ehefrau. Er müsste nicht mehr ausgehen, sondern könnte daheim bleiben wie alle anderen Väter. Brian fand es schrecklich, dass sein Vater gezwungen war, sich wie ein Teenager zu benehmen. Tanzen und Flirten und Küsse an der Haustür. Wie peinlich! Natürlich würden sein Vater und Natalies Mutter auch erst ein paarmal zusammen ausgehen müssen. Aber sie würden sich wie Erwachsene benehmen, bald heiraten und ein ruhiges Leben beginnen. Er seufzte erleichtert. „Wir werden eine ganz normale Familie sein." Natalie nickte aufgeregt. „Jetzt brauchen wir nur noch dafür zu sorgen, dass die beiden sich begegnen. Wie wollen wir das anstellen?" Er überlegte kurz. „Ich weiß! Meine Pateneltern geben jedes Jahr eine Adventsparty. Sie laden Leute ein, schmücken mit ihnen den Baum und singen im ganzen Viertel Weihnachtslieder. Dann kehren alle zu ihnen nach Hause zurück, essen und sitzen am Kamin und singen noch ein wenig. Ich werde Wayne und Annie bitten, deine Mom
einzuladen." „Kommen deine Geschwister auch?" „Kinder sind nicht zugelassen, nur Erwachsene. Dad geht jedes Jahr hin." „Hoffentlich geht Mom auch hin", sagte Natalie nachdenklich. „So etwas gab es bei uns in Miami nicht. In unserem Viertel lief man abends überhaupt nicht draußen mehr herum." „In Port Mason ist das dagegen völlig ungefährlich." Brian lächelte zuversichtlich. „Und deiner Mom kann erst recht nichts zustoßen, weil sie in Begleitung des Polizeichefs sein wird."
2. KAPITEL
Claudia Nolan stand vor der Haustür und zog die rote Schleife fest, die sie um die Flasche Wein gebunden hatte. Dass drinnen eine Party stattfand, war nicht zu überhören. Fröhliche Stimmen, Gelächter, Weihnachtsmusik. Sie war nervös wie ein Schulmädchen. Aber nicht so sehr wie die von heute, dachte sie lächelnd. Ihre Tochter Natalie war über diese Einladung aufgeregter gewesen als sie selbst. „Ich freue mich, dass du ausgehst und neue Leute kennenlernst, Mom", hatte Natalie gesagt, als ihre Mutter sich vorhin umgezogen hatte. „Und wenn du einen coolen Mann triffst, zerrst du ihn unter den Mistelzweig." Claudia versicherte ihr, dass sie das ganz bestimmt nicht tun würde. Schließlich war sie eine zweiunddreißigjährige Witwe und Mutter von vier Kindern und pflegte keine wildfremden Männer zu küssen, auch nicht unter dem Mistelzweig. Ihre Gedanken schweiften ab. Es war lange her, dass sie geküsst worden war. Sechs Jahre und drei Monate, um genau zu sein. Seit dem Tag nicht mehr, an dem Ihr Ehemann Jeff ihr einen Abschiedskuss gegeben hatte und zur Arbeit gefahren war. Er war nicht wiedergekommen. Ein LKW-Fahrer war am Steuer eingeschlafen, auf die Gegenfahrbahn geraten und frontal mit Jeff s Wagen zusammengestoßen. Jeff war auf der Stelle tot gewesen. Claudia schüttelte die traurigen Erinnerungen ab. Zu einer Adventsparty zu gehen bedeutete nicht, Jeff s Andenken untreu zu werden. Trotzdem war es ein eigenartiges Gefühl, denn abgesehen von Familientreffen und Kindergeburtstagen war dies ihre erste Party seit seinem Tod. Die erste richtige Party. Es erstaunte sie, dass sie eingeladen war. Sie kannte Wayne Smith nicht, obwohl sie durch die Arbeit bei der Zeitung natürlich wusste, dass er Rechtsanwalt war. Im Blumengeschäft war sie seiner Frau Annie begegnet und hatte ihr erzählt, dass sie Edith Camerons Großnichte wäre und jetzt deren Haus an der Hopwood Lane bewohnte. Annie konnte sich noch gut erinnern, was für eine begeisterte Gärtnerin Edith gewesen war. Jeder in Port Mason schien ihre Großtante gemocht zu haben, und sie wusste, dass sie die herzliche Aufnahme in der kleinen Stadt vor allem Ediths stets freundlichem Wesen verdankte. Selbst den Job als Reporterin bei der Port Mason Daily Press hatte sie nicht zuletzt deshalb bekommen, weil der Chefredakteur einst Zeitungen ausgefahren hatte und sich noch immer an Ediths großzügige Trinkgelder erinnerte. Viele Menschen hatten ihr beim Neuanfang in der fremden Umgebung geholfen, weil ihre Großtante immer gut zu ihnen gewesen war. Claudia setzte ein Lächeln auf und läutete zaghaft. Sie würde kaum jemanden kennen, aber als Edith Camerons Großnichte würde man sie bestimmt herzlich aufnehmen. Ein über das ganze Gesicht strahlender Mann mit einem falschen weißen Bart und einer roten Mütze öffnete. An seiner Krawatte blinkten rote und grüne Lämpchen. „Ho, ho, ho! Hallo, schöne Lady!" „Mr. Smith?" fragte Claudia zaghaft. „Wayne", verbesserte er sie. „Heute Abend auch bekannt als der fröhliche alte Sankt Nick." Der Mann umarmte sie so fest, dass Claudia nach Luft schnappen musste und sich fragte, ob ihr Gastgeber sich schon mehrere Gläser Weihnachtspunsch gegönnt hatte. „Ich bin Claudia Nolan", stellte sie sich vor, das Gesicht noch an seinem flauschigen roten Pullover. Sie befreite sich, indem sie die Weinflasche zwische n sich und ihn schob. „Bitte schön." Sie drückte ihm das Mitbringsel in die Hand und musste sich zur Seite beugen, um einen Blick auf das Menschengewühl hinter ihm zu werfen. Überall in dem riesigen Wohnzimmer standen Gäste, und Claudia beschloss, nicht lange zu bleiben. In diesem Trubel würde es nicht auffallen, wenn sie früh wieder ging. Niemand würde sie vermissen. „Nolan, Claudia Nolan", wiederholte Wayne Smith und überlegte. Claudia lächelte verlegen. Wayne betrachtete seine flackernde Krawatte und schnippte mit den Fingern. „Okay, jetzt
weiß ich es wieder", verkündete er und strahlte noch mehr. „Hier ist jemand, der es nicht abwarten kann, Sie kennenzulernen, Claudia. Er hat darauf bestanden, dass wir Sie einladen. Annie und ich haben ihm den Gefallen sehr gern getan." Erstaunt sah Claudia ihn an. Sie hatte keine Ahnung, wovon er redete. „Ich nehmen Ihren Mantel." Wayne streifte ihn ihr von den Schultern. Claudia blieb kaum Zeit, die Weihnachtsbaumbrosche, die sie im letzten Jahr von den Kindern bekommen hatte, wieder richtig zu befestigen, denn Wayne griff nach ihrer Hand und führte sie durch das Wohnzimmer. Über einige Stufen erreichten sie einen tieferliegenden Teil des Hauses, in dem ein gewaltiger Kamin fast eine gesamte Wand einnahm. Hier war es nicht so voll und auch nicht so hell wie oben, denn nur das flackernde Feuer spendete warmes Licht. Im Raum verteilt saßen mehrere Paare eng beieinander und unterhielten sich leise. Wayne Smith steuerte so eilig den Kamin an, dass Claudia ihre Umgebung nur verschwommen wahrnahm. Ihre Verwirrung steigerte sich noch, als ihr Gastgeber abrupt vor einem großen dunkelgrünen Ledersessel stehenblieb. Im Sessel saß ein Mann und starrte in die Flammen. „So, hier ist sie, Zachary!" verkündete Wayne mit lauter Stimme, und der Mann hob den Kopf. Ihre Blicke trafen sich, und Claudia schaute in die blauesten Augen, die sie je gesehen hatte. „Claudia, Zachary. Zachary, Claudia", machte er sie miteinander bekannt und verschwand so rasch, wie er gekommen war. Zachary stand auf und musterte die Blondine vor ihm. Das musste die Frau sein, von der Wayne die ganze Woche lang behauptet hatte, dass sie „ganz heiß darauf ist, dich kennenzulernen." Angeblich hatte sie sich nur deshalb um eine Einladung zu dieser Party bemüht. Zachary gefiel, was er sah. Er schätzte sie auf Mitte zwanzig. Sie war groß, schlank, aber durchaus wohlgeformt, was das rote Jersey-Kleid noch betonte. Der seidige blonde Bubikopf umrahmte ein hübsches Gesicht mit sanft blickenden braunen Augen, einem kleinen Kinn und einem verführerischen Mund. Alles an ihr war verlockend, aber am schönsten fand er ihre Lippen und die Beine. Die Lippen waren voll, anmutig geschwungen und man sah ihnen an, wie hinreißend ihr Lächeln sein musste. Die Beine waren lang und schlank, und Zachary träumte für einen Moment davon, welches Vergnügen sie und der Mund ihm bereiten konnten. Er gab ihr die Hand. „Wayne versteht sich nicht besonders aufs Bekanntmachen", sagte er dabei. „Er liefert nur ein absolutes Minimum an Information und setzt sich dann ab." Claudia nickte, ohne ihn aus den Augen zu lassen. In der Sekunde, in der ihre Blicke sich getroffen hatten, mussten in ihr irgendwelche Sicherungen durchgebrannt sein. Wie sonst war ihr innerer Aufruhr zu erklären? Sie fühlte sich wie vom Blitz getroffen, war atemlos, erhitzt und benommen und stand wie gelähmt vor diesem fremden Mann. Plötzlich kam sie sich lächerlich vor. Sie war eine erwachsene Frau und hatte vier Kinder, aber so fassungslo s war sie noch nie gewesen. Es gibt da jemanden, der Sie unbedingt kennenlernen will. Er hat mich gebeten, Ihnen eine Einladung zu schicken! Mit diesen Worten hatte Wayne Smith sie eindringlich aufgefordert, zur Party zu kommen. Der Mann vor ihr war also dieser Jemand? Claudia ließ sein charmantes, entwaffnendes Lächeln, die lachenden blauen Augen und das dichte, dunkle Haar auf sich wirken. Er trug Jeans und ein am Kragen offenes weißes Hemd mit bis zum Ellenbogen aufgerollten Ärmeln. Seine äußere Erscheinung machte keinerlei Zugeständnisse an den Anlass der Party, ganz im Gegensatz zum Rot und Grün und den weihnachtlichen Accessoires der anderen Gäste. Wie von selbst glitt ihr Blick an ihm hinab. Er war etwa eins- fünfundachtzig groß, athletisch und muskulös. Dass sie das alles wahrnahm, erstaunte Claudia, denn sie war
nicht der Typ, der Männer mit solchen Augen sah. Das hatte sie noch nie getan. Aber sie hatte auch noch nie so wild und ungehemmt auf das Aussehen und die Ausstrahlung eines Mannes reagiert. Ihr Herz raste, und alles Weibliche fühlte sich zu seiner überwältigenden Männlichkeit hingezogen. Erst jetzt bemerkte sie seine ausgestreckte Hand und ergriff sie mit einem ebenso verwirrten wie verlegenen Lächeln. Claudia hätte fast aufgestöhnt. Sie hätte wissen müssen, dass diese Berührung eine Flut sinnlichster Empfindungen in ihr auslösen würde. Auch Zachary fühlte es. Es war kein Funke, der zwischen ihnen übersprang, es war ein wahrer Funkenregen. Er nahm nichts außer Claudia wahr, keine anderen Gäste, keine Musik, keine Wärme, die nicht von ihr stammte. „Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen, Claudia." Seine Stimme war leise und heiser, und in seinen Augen brannte ein heftiges, unverhohlenes Verlangen. Es ging ihr unter die Haut, und sie fragte sich, ob auch ihr Blick so wenig vor ihm verbarg. Hastig schaute sie zur Seite. „Ich ... ich freue mich auch", flüsterte sie, und noch nie war ihr diese Phrase so abgedroschen vorgekommen wie in diesem Moment. Aber welche Worte würden ausreichen, um ihre Gefühle auszudrücken? Wie konnte man über eine so gewaltige Umwälzung aller Gedanken und Empfindungen reden, wie sie beide sie jetzt erlebten? Und dass es nicht nur ihr so erging, spürte Claudia mit einer so starken Gewissheit, dass sie Zachary in einem Anflug von Panik ihre Hand entriss. Es war so lange her, dass sie Verlangen empfunden hatte. So lange, dass sie schon fast vergessen hatte, wie es war. Sie sah ihm in die Augen, und die Erinnerung daran kehrte schlagartig zurück. „Singen Sie gern?" fragte Zachary. Claudia blinzelte verwirrt. Was hatte er sie gerade gefragt? Offenbar war sie nicht die einzige, die Unsinn redete. „Denn falls nicht, können wir gern irgendwo hingehen, wo es ruhiger ist. Und viel ungestörter." Er sah sich im Kaminzimmer um, das sich langsam mit Gästen füllte, die oben keinen Platz mehr fanden. „Ich persönlich singe äußerst ungern. Ich kann es auch gar nicht. Ich erinnere mich noch genau, wie die Musiklehrerin in der Schule mich aufforderte, nur die Lippen zu bewegen, damit mein falscher Gesang nicht den ganzen Chor ruinierte." Claudia lachte, aber in die Belustigung mischte sich Nervosität. Sie sollte die Party verlassen, um mit ihm allein und ungestört zu sein? Wie sehr sie sich genau das wünschte, irritierte sie zutiefst. Was würde geschehen, wenn sie nun ja sagte und ihn begleitete? Dass sie daran auch nur dachte, erschreckte sie. Sie war von Natur aus vorsichtig, und die Verantwortung, die sie seit sechs Jahren für vier Kinder trug, ermutigte sie nicht, Risiken einzugehen. Eine ausgelassene Schar von Gästen näherte sich dem Kamin und machte ihnen den Platz streitig. Zachary legte die Hand auf ihren Arm. „ Lassen Sie uns gehen, Claudia." Claudia rührte sich nicht von der Stelle. „Nein, ich ... ich möchte lieber bleiben. Ich singe sehr gern, vor allem Weihnachtslieder. Ich möchte mitmachen." Er spürte Verärgerung in sich aufsteigen, gekoppelt mit Verständnislosigkeit. Was für ein Spiel spielte sie mit ihm? Sie hatte ihn unbedingt kennenlernen wollen, diese Begegnung arrangiert und ihr Ziel erreicht. Hundertprozentig. Er war interessiert. Er ließ seinen Blick an ihr hinabwandern. O ja, er war interessiert. Er wollte so schnell wie möglich mit ihr ins Bett. Und sie wollte hierbleiben und mit den arideren Lieder vom Weihnachtsmann und der kleinen Stadt namens Bethlehem singen? Claudia wurde immer nervöser und ballte die Hände zu Fäusten. Er sah verärgert aus. Weil sie nicht mit ihm gehen wollte? Hatte sie sich etwa so verhalten, dass er das erwarten konnte? Vermutlich. Sie hatte dagestanden wie ein Schulmädchen, das einen Rockstar
anhimmelte. Natürlich musste er annehmen, dass sie ihm folgen würde, wohin er sie auch führen wollte. Ins Bett? Der Pulsschlag hämmerte in ihren Ohren. „Ich glaube, ich suche jetzt Annie und sage hallo." Claudia wich zurück und sah sich hektisch unter den Gästen um. „Ich habe sie noch gar nicht begrüßt. Hoffentlich finde ich sie. Hier ist es wie am Silvesterabend auf dem Times Square." Sie eilte ins Wohnzimmer und fragte sich, ob er hinterherkommen würde. Ein Teil von ihr hoffte es, und Claudia machte sich große Vorwürfe deswegen. Sie war eindeutig noch nicht bereit für derartige Veranstaltungen. Nicht wenn gleich der erste Mann, dem sie begegnete, sie so verwirrte. Sie fand Annie Smith nicht. Eine Gruppe von Gästen wollte zum Lieder singen aufbrechen und Claudia folgte ihnen in eins der Schlafzimmer, wo sich auf dem Doppelbett die Mäntel und Jacken stapelten. Sie fand ihren Mantel, zog ihn an und flüchtete. Fünfzehn Minuten später war sie zu Hause. Aufatmend schloss sie die Tür hinter sich. „Mom?" Natalie kam in den kleinen Flur, als Claudia gerade ihren Mantel in die Garderobe hängte. „Warum kommst du schon so früh zurück?" „Ich wollte lieber hier sein." Claudia lächelte ihrer Ältesten zu. Doch die erwiderte das Lächeln nicht. „Warum?" fragte Natalie streng. „O Natalie, was für eine Frage! Selbstverständlich bin ich lieber zu Hause bei meiner Familie als inmitten einer Horde fremder Menschen. Wo sind die Kleinen?" „Ned sitzt schmollend in seinem Zimmer, weil er mit seinen Videospielen spielen wollte und ich den Zwillingen erlaubt habe, die Weihnachtssendung im Fernsehen einzuschalten. Ich wünschte, wir hätten ein zweites Gerät, an dem er dauernd seihe dämlichen Spiele spielte könnte. Dann würde es nicht jedesmal Streit..." „ Ein Fernsehgerät pro Haushalt ist genug", unterbrach Claudia Natalie. Sie mochte es nicht, wenn ihre Tochter materielle Dinge so sehr betonte. „Ich bin mit einem einzigen Schwarzweißgerät aufgewachsen und war damit zufrieden. Ihr Kinder habt Glück, ihr habt sogar Farbe." „Mom, jeder in Amerika hat einen Farbfernseher, was ist schon dabei?" entgegnete Natalie aufgebracht. „Viele Leute in diesem Land besitzen sogar zwei Farbfernseher, vor allem wenn sie einen zehnjährigen Jungen in der Familie haben, der das Gerät mit seinen..." „Dämlichen Videospielen blockiert", vollendete Claudia gleichzeitig mit Natalie den Satz. Claudia lachte. Natalie machte ein wütendes Gesicht. „Also hast du auf der Party niemanden getroffen, für den es sich gelohnt hätte, dort zu bleiben?" fragte Natalie, und ihre Miene wurde noch grimmiger. Vor Claudias geistigem Auge erschien Zachary mit seinen lachenden blauen Augen. Sie sah das Feuer darin und den sinnlichen Schwung seiner Lippen. Falls nicht, können wir gern irgendwo hingehen, wo es ruhiger ist. Und viel ungestörter. Sie hörte seine heisere, sinnliche und vielversprechende Stimme, als würde er wieder vor ihr stehen. Das Verlangen durchzuckte sie heiß und fast schmerzhaft. Claudia biss sich auf die Lippe. Ihr Körper war zum Verräter geworden, der sich Zacharys Anziehungskraft so widerstandslos auslieferte, dass allein der Gedanke an ihn sie erregte. Ihre Wangen brannten. „Du kennst mich doch, Honey. Ich bin nicht das, was man eine Partylöwin nennt." Sie versuchte, unbeschwert zu klingen, und konnte nur hoffen, dass Natalie das Zittern in ihrer Stimme entging. „Das steht allerdings fest", murrte Natalie voller Enttäuschung. Ihre Träume von einem Vater, der der Familie unter anderem einen zweiten Fernseher einbringen würde, und von einer Mutter, die die Kleinen in die Schule schickte und der Großen das Nachsitzen ersparte, zerstoben. Sie waren ebenso sinnlos wie der, dass Seth Albans, Sprecher der Oberstufe und Quarterback des Footballteams, seine Freundin, die zufällig Captain der
Cheerleader und amtierende Ballkönigin war, sitzenließ, um mit Natalie Nolan zum nächsten Schultanz zu gehen. „Mommy! Du bist zu Hause!" Die sechsjährige Megan kam angerannt und warf sich ihrer Mutter in die Arme. „Ich habe dich vermisst, Mommy!" Claudia drückte das kleine Mädchen an sich und rieb die Wange an ihrem seidenweichen blonden Haar. „Jetzt bin ich ja hier, mein Liebling." Ich hätte gar nicht erst weggehen dürfen, tadelte Claudia sich. Sie gehörte hierher, zu ihren Kindern, wo sie sicher war vor stürmischen Gefühlen und der beunruhigenden Versuchung, die ein hochgewachsener... Sie schüttelte den Kopf. „Was seht ihr euch denn gerade im Fernsehen an, Megan?" „Etwas über Rudolf, das rotnasige Rentier. Es ist mit Puppen." Megan wand sich frei. „Kannst du uns Popcorn machen, Mom?" „Ich habe vorhin erst Popcorn gemacht. Sie haben die eine Hälfte gegessen und die andere auf dem Fußboden verstreut." Natalie seufzte. „Also musste ich staubsaugen, und sie haben sich über den Lärm beschwert und den Fernseher so laut gestellt, dass mir jetzt noch die Ohren ..." „Ich mache frisches Popcorn", unterbrach Claudia ihre Tochter. „Wenn sie es wieder verschütten, sauge ich es nicht auf", warnte Natalie. „Die hat heute Abend schlechte Laune." Megan streckte ihrer großen Schwester die Zunge heraus. „Dazu habe ich ja wohl auch jedes Recht", erwiderte Natalie betrübt und stapfte die Treppe hinauf.
3. KAPITEL
„Zeigen Sie es ihm lieber nicht", warnte Gail, die Sekretärin von Chief Zachary Ritter und der Polizeistation von Port Mason. Zwei Streifenbeamte, ein Neuling, frisch von der Polizeiakademie, und sein Partner O'Neil, ein Veteran kurz vor dem Ruhestand, standen vor ihrem Schreibtisch und hielten eine aufgeschlagene Lokalzeitung in den Händen. „Er ist heute miserabel gelaunt und..." „Was sollen Sie mir lieber nicht zeigen?" Zachary kam mit finsterer Miene aus seinem Büro geeilt. „Wenn Sie nicht wollen, dass ich jedes Wort von Ihnen mitbekomme, dann schließen Sie gefälligst die Bürotür, Gail", sagte er und warf der Sekretärin einen verärgerten Blick zu. „Und ich bin keineswegs miserabel gelaunt. Ganz und gar nicht. Ich fühle mich großartig, so richtig weihnachtlich." Sein Gesichtsausdruck strafte seine Behauptung Lügen. Gail ließ sich nicht einschüchtern. „Nun ja, das werden Sie nicht mehr, wenn Sie das hier gelesen haben. Deshalb wollte ich auch nicht, dass Batman und Robin es Ihnen zeigen." Zachary riss Kowalski die Port Mason Daily Press aus den Händen. „Es ist nur mal wieder etwas von diesem PM Observer, der sich als das Gewissen unserer Stadt bezeichnet", sagte O'Neil und zeigte auf den Artikel, den er meinte. „Er beschwert sich mal wieder über die Tempofalle", fügte Kowalski hinzu. „Ich meine natürlich die Zone beschränkter Fahrgeschwindigkeit", verbesserte er sich sofort, denn der Chief mochte das Wort „Tempofalle" nicht und zog den von ihm selbst geprägten offiziellen Begriff vor. Zachary überflog die Kolumne und lief vom Hals bis zur Stirn dunkelrot an, während er laut vorlas. „Chief Ritter versucht noch immer, die Autofahrer in eine Falle zu locken, indem er sie auf dem eine Viertelmeile langen Verbindungsstück zwischen dem Highway 8 und dem Interstate höchstens 25 Meilen pro Stunde fahren lässt. Das ist so unfair wie das Fischen mit Dynamit." „Aua", murmelte Kowalski. „Wie das Fischen mit Dynamit?" brüllte der Polizeichef und warf die Zeitung auf den Boden. Er war ein begeisterter Sportangler mit einer Leidenschaft fürs Fliegenfischen, deshalb traf ihn der Vergleich besonders hart. „Das ist ja die Höhe! Als würde ich jemals..." „Ich habe Ihnen gesagt, er geht in die Luft", meinte Gail und hob die Zeitung auf. „Der Fischereisport und diese Tempofalle sind ihm so gut wie heilig." „Es ist keine Tempofalle, es ist eine Zone beschränkter Fahrgeschwindigkeit", sagte Zachary. „Natürlich, die ZBF", erwiderte Gail lächelnd. „Warum vergesse ich es bloß immer wieder?" Ihr Chef warf ihr einen vielsagenden Blick zu, stürmte in sein Büro, riss die Jacke vom Haken und zog sie an, während er über den Korridor eilte. „Wohin wollen Sie, Chief?" rief O'Neil ihm nach. „Ich werde meinen ganz besonderen Freunden bei der Port Mason Daily Press einen Besuch abstatten", verkündete Zachary so laut, dass jeder in der Polizeistation es hören konnte. „Ich respektiere unsere Verfassung und die darin garantierte Pressefreiheit, aber diesmal ist PM Observer zu weit gegangen! " Genau das erklärte er kurz darauf Manny Fisher, dem Chefredakteur des Lokalblatts. Die beiden kannten sich, seit sie zusammen für die Port Mason High Football gespielt hatten. „Das ist jetzt das dritte Mal, dass dieser Idiot der Polizei in den Rücken fällt, nur weil wir mit diesem Tempolimit für mehr Verkehrssicherheit sorgen wollen", knurrte Zachary, während er wie ein Tiger im Käfig durch Mannys Büro marschierte. „Und alle drei Artikel sind anonym erschienen. Der Kerl unterschreibt nur mit PM Observer, bezeichnet sich als das Gewissen der Stadt und ist nicht Manns genug, seinen richtigen Namen unter seinen Schmutz zu setzen."
Mannys Mundwinkel zuckten. „Nun ja, so würde ich das nicht sagen, Zachary." „ Aber ich. Und ich will es ihm ins Gesicht sagen. Es gibt einige Dinge, die ich diesem Schmierfinken erzählen will. Der Kerl versucht, die Öffentlichkeit gegen die Polizei aufzuhetzen! Ich verlange ein Gespräch mit diesem PM Observer, und zwar von Mann zu Mann." Er blieb vor Mannys Schreibtisch stehen und verschränkte die Arme. „Vorher gehe ich hier nicht weg. Wenn du nicht willst, dass ich in deinem Büro übernachte, holst du diesen Burschen her." „Okay, okay." Manny versuchte, ein Lächeln zu unterdrücken. Es gelang ihm nicht. „Aber ich sollte dir vor hersagen, dass dieser Bursche kein Bursche ist. Das Gewissen der Stadt ist eine Frau, Zachary." Der Polizeichef warf die Hände in die Luft. „Na, das erklärt alles." Er seufzte schwer. „Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen? Kein Mann würde etwas so Beleidigendes wie das mit dem Dynamitfischen schreiben. Ich schlage vor, du sorgst dafür, dass die Schreiberin dieser kindischen Kolumne sich ab sofort ehrlicherweise als weibliches Gewissen von Port Mason bezeichnet, damit die Leser wissen, woran sie sind." „Kindisch?" wiederholte der Chefredakteur. „Als du noch glaubtest, dass sie von einem Mann stammt, hat sie die Öffentlichkeit aufgehetzt, und jetzt ist sie nur kindisch? Auf einmal? Weil eine Frau sie schreibt?" „Halt mir keinen Vortrag über Gleichberechtigung, sondern ruf Brenda Starr, deine kleine Reporterin, her. Wenn ich mit ihr fertig bin, wird sie froh sein, wenn sie im Frauenteil Rezepte und Partytips verfassen darf. Dort hättest du sie lassen sollen, Manfred." „Es nennt sic h Lifestyle-Ressort, Zachary", verbesserte Manny geduldig. „Die Artikel sind so breit angelegt, dass sie nicht nur Frauen..." „Ja, ja", unterbrach sein Besucher lächelnd. „Frag einen Mann, ob er den Teil liest, und du wirst ein lautes Nein hören, alter Freund." „Du bist ein hoffnungsloser Chauvi. Wie hast du es nur geschafft, so rückständig tu bleiben? Na ja, warte einen Moment, dann wirst du dein blaues Wunder erleben." Schmunzelnd ging Manny hinaus. „Polizeichef Ritter ist in meinem Büro und möchte mit Ihnen sprechen", sagte er kurz darauf zu Claudia. „Ich muss Sie warnen, er steht unter Dampf. Er ist nämlich ein fanatischer Sportangler, der nie im Leben Dynamit einsetzen würde, um die Fische aus dem Wasser zu pusten. Und von Ihrem Artikel über die Tempofalle ist er auch nicht gerade begeistert." „Die Autofahrer sind auch nicht begeistert, durch die Tempofalle zur Melkkuh gemacht zu werden. Einhundertzwanzig Wagen wurden während einer sechsstündigen Kontrolle angehalten, obwohl sie weder Fußgä nger noch andere Fahrzeuge gefährdet haben." Claudias braunen Augen blitzten entrüstet. „Ich finde es unfair und intolerant, dass ..." „He, schon gut! Ich bin auf Ihrer Seite", protestierte Manny. „Mich haben sie in dieser verdammten Tempofalle schon dreimal angehalten. Erzählen Sie das alles Ritter." „ Das werde ich. Danke für Ihre Unterstützung, Manny." Claudia eilte durch die Redaktion und zum Büro des Chefredakteurs im Stockwerk darüber. Manny sah ihr nach. Das geschieht dem alten Zachary recht, dachte er schadenfroh. In Mannys Büro legte der Chief sich gerade zurecht, was er dieser Frau, die von Verkehrsregelung und Polizeiarbeit nicht den leisesten Schimmer besaß, alles sagen wollte. Claudia hatte sämtliche Gegenargumente parat, als sie ihm gegenübertrat und die Tür hinter sich schloss. Sie war sicher, eine gerechte Sache zu vertreten, und wollte sich keinerlei Selbstzweifel anmerken lassen. „Chief Ritter", sagte sie und sah erst seine glänzende Polizeimarke, dann den Mann an. Sie musste noch einmal hinsehen, bevor sie begriff. Der Mann in der blauen Uniform war kein anderer als der Zachary, den sie am Abend zuvor auf der Party der Smiths getroffen hatte. Zachary. Zachary Ritter. Der Polizeichef von Port Mason. Natürlich. Warum ging ihr das
erst jetzt auf? Aber Wayne Smith hatte bei der etwa zehn Sekunden langen Vorstellung keinen Nachnamen genannt. Claudia starrte Zachary aus großen Augen und mit trockenem Mund an. „Sie!" entfuhr es ihm. Die Lady in Rot von der Party gestern Abend! Die, die ihn unbedingt hatte kennenlernen wollen. Die ihm erst unter die Haut und dann allein nach Hause gegangen war, während er sich für den Rest des Abends unerklärlich rastlos und gereizt gefühlt hatte. Jetzt rief ihr Anblick wieder das wilde Verlangen in ihm wach, das ihn die ganze Nacht hindurch so gequält hatte, dass er am Morgen müde und mürrisch aufgestanden war. Und kaum war er im Büro eingetroffen, hatte dieser verdammte Artikel ihm dann den ganzen Vormittag ruiniert. Der Artikel, den diese ebenso erotische wie rätselhafte Lady in Rot verfasst hatte. Die Frau, die im schlichten grauen Rock und der grauweißen Stehkragenbluse genauso begehrenswert war wie im Partykleid. Warum muss sie so sanft und anschmiegsam aussehen? dachte Zachary niedergeschlagen. Ihre Kleidung war so züchtig wie die der ersten Siedlerfrauen, die amerikanischen Boden betreten hatten, nur ohne Haube, und trotzdem erregte sie ihn so schnell und heftig wie noch keine andere. Warum nur? „Sie sind wütend über meinen Artikel." Claudia schluckte und zwang sich weiterzusprechen, obwohl sie am liebsten aus dem Büro geflüchtet wäre, um sich zu verstecken. „Deshalb haben Sie Wayne Smith gebeten, mich mit Ihnen bekannt zu machen. Damit Sie Ihren Ärger loswerden können." Sie erinnerte sich an ihre teenagerhafte Reaktion, an die Sprachlosigkeit und die feuchten Hände. „Sie waren es doch, die mich unbedingt kennenlernen wollte" entgegnete Zachary hastig. „Sie haben sich eine Einladung zur Party der Smiths besorgt, um mich dort zu treffen. Warum? Haben Sie einen Strafzettel bekommen, den ich vergessen ..." „Ich habe mir keine Einladung besorgt! Nach meinen Informationen haben Sie die Smiths gebeten, mich einzuladen." „Ihre Informationen sind falsch. Genauso falsch wie die, auf denen der Unsinn beruht, den Sie Kolumne nennen. Ich habe Wayne und Annie nicht gebeten, Sie einzuladen. Ich wusste nicht einmal, wer Sie sind. Ich habe Ihre Artikel gelesen und mich über sie geärgert, aber der heutige ist wirklich der Gipfel der Frechheit, Lady! Was Sie da produzieren, ist nichts als unfairer, unverantwortlicher Sensationsjournalismus. Und Sie wagen es auch noch, sich das Gewissen der Stadt zu nennen! Seien Sie wenigstens so ehrlich, sich als weibliches Gewissen zu bezeichnen." „Das weibliche Gewissen", wiederholte Claudia eisig. „Ich nehme an, das soll humorvoll sein." „Ich erwarte von Ihnen nicht, dass Sie meine Scherze begreifen. Oder die von anderen." „Ihre Tempofalle ist ein Scherz, und zwar ein übler, den ich sehr gut begriffen habe. Ein getarntes Radargerät aufzustellen und Wagen anzuhalten, die die ohnehin schon lächerliche Höchstgeschwindigkeit um fünf Meilen überschritten haben, noch dazu auf einem vollkommen ungefährlichen Abschnitt... haha! Wirklich sehr lustig!" „Was Sie da gerade über unsere ZBF ..." „Ihre was?" unterbrach Claudia ihn. „Auf englisch, bitte." Zachary räusperte sich. „Die Zone beschränkter Fahrgeschwindigkeit", erklärte er und ahnte, dass sie von seiner Formulierung ebensowenig halten würde wie Gau. „Zone beschränkter Fahrgeschwindigkeit?" wiederholte sie so verächtlich, wie er es erwartet hatte. „Wer hat sich das denn ausgedacht?" „Der Begriff stammt von mir", sagte er mit gepresster Stimme. „Glückwunsch. Ich dachte immer, die Regierung hätte das Monopol auf die Erfindung lächerlicher und schwerverständlicher Begriffe, aber Sie haben sie wirklich übertroffen." „Ich habe nicht die Absicht, mit Ihnen eine sprachwissenschaftliche Diskussion zu führen", sagte er zornig. „Sie sollten lieber Verbrecher fangen, als hier den Tempofallenhüter zu spielen."
Zachary hatte große Mühe, nicht die Beherrschung zu verlieren. „Die ZBF bringt der Polizei von Port Mason pro Jahr fast eine Viertelmillion Dollar an Bußgeldern ein", verkündete er nicht ohne Stolz. „Genau mein Punkt", triumphierte Claudia. „Das ist ein unverschämt hoher Betrag. In dieser Stadt wird den Autofahrern das Geld aus der Tasche gezogen." „Aus der Tasche gezogen?" rief Zachary empört. „Die Tempobeschränkung durchzusetzen ist absolut legal. Und Bußgelder zu kassieren, die einen unverzichtbaren Zuschuss zur Finanzierung der örtlichen Partei darstellen, ist keineswegs unverschämt." „Ein Zuschuss? Die Bußgelder reichen aus, um die Polizei ganz allein zu finanzieren!" „Warum versuche ich überhaupt, es Ihnen zu erklären?" sagte er seufzend. „Sie gehören zu diesen verbitterten, unwissenden und selbstgerechten Kreuzrittern, die der Öffentlichkeit ihre unausgegorene Meinung aufdrängen, ohne die Folgen ihres dummen Geschreibsels zu bedenken." „Ich frage mich, warum der Polizeichef sich so aufregt", erwiderte Claudia kühl. „Alles nur wegen eines Artikels, der eine berüchtigte Tempofalle kritisiert? Wahrscheinlich wissen Sie genau, wie recht ich habe, und ..." „Glauben Sie mir, Baby, Sie können rechts nicht von links unterscheiden, schon gar nicht Recht von Unrecht", unterbrach Zachary sie scharf. Claudia musterte ihn herablassend. „Ich glaube, Sie haben ein schlechtes Gewissen wegen all der armen Autofahrer, die Sie in ihre raffinierte Falle locken, Chief Ritter. Deshalb haben Sie dem Unternehmen auch diesen tollen Namen gegeben und versuchen jetzt, sich vor mir zu rechtfertigen." „Ich habe es nicht nötig, mich in dieser Sache vor Ihnen oder sonst jemandem zu recht fertigen!" „Das ist typisch für Leute, die die Meinung anderer nicht gelten lassen." „ Sie unterstellen mir, dass ich die Meinung anderer Leute nicht gelten lasse?" fragte er ruhig, aber eine heftig pulsierende Ader am Hals bewies, wie zornig er war. Claudia wusste, dass sie zu weit gegangen war. Nervös befeuchtete sie sich die Lippen. „Nun ja, nicht ganz." Zack starrte mit zusammengekniffenen Augen auf ihren Mund. „Was soll das heißen, nicht ganz?" Er ging auf sie zu, und sie wich instinktiv zurück. „Sie werfen mir vor, die Meinungsfreiheit in diesem Land nicht ganz zu achten, oder wie soll ich Sie verstehen? Was kommt als nächstes, der Vorwurf der Polizeibrutalität?" „Sollte mir ein Fall polizeilicher Brutalität zu Ohren kommen, werden Sie darüber in der Zeitung lesen, verlassen Sie sich darauf", sagte sie und warf einen Blick zur Tür hinüber. Wenn sie sich umdrehte und losrannte, konnte sie in weniger als zehn Sekunden aus dem Zimmer sein. „Wenn Ihnen so etwas zu Ohren kommt, möchte ich selbst davon hören. Aber ich kann Ihnen versichern, es wird keinen Fall von Brutalität geben. Ich leite eine saubere, professionelle Polizeitruppe." Er war zu schnell für sie. Ihr blieb keine Bewegungsfreiheit mehr, sie stand mit dem Rücken an der geschlossenen Tür. An Flucht war nicht zu denken, und Zachary Ritter war nur eine Haaresbreite von ihr entfernt. „Ich meinte nicht... das heißt, ich meine, ich ..." Ihr stockte der Atem, als sie seine breite Brust an ihren Handflächen spürte. Seine Körperwärme drang in die Fingerspitzen. Der würzigmännliche Duft seines After-shave entfaltete eine betäubend sinnliche Wirkung. „Ich glaube, Sie wissen gar nicht, was Sie meinen", sagte Zachary heiser. Er legte die Hände kurz auf ihre, ließ sie zur Taille hinabgleiten und zog Claudia langsam an sich. „Aber ich weiß, was Sie wollen, denn ich will es auch." Claudias ohnehin kaum nennenswerter Widerstand schmolz dahin, als sich in ihrem Bauch eine verführerische Wärme ausbreitete und immer mehr von ihr erfasste. Sie öffnete die Lippen, und Zacharys Zunge tastete sich in ihren wartenden Mund. Der Kuss wurde heißer und wilder und tiefer. Seine großen Hände strichen entschlossen,
aber zärtlich über Rücken und Taille und Hüften, bis sie den Po umfassten und sie fühlen ließen, wie sehr er sie begehrte. In ihr wurde etwas weich und schwach. Claudia stieß einen leisen, hungrigen Laut aus und klammerte sich an Zachary. Sie ließ die Zunge in seinen Mund gleiten und rieb sich an ihm, während sie den Nacken und das dichte Haar streichelte. Er schmeckte wundervoll, er fühlte sich wundervoll an. Es war wundervoll, in seinen Armen zu sein. Seine Kraft, sein Duft, seine Ausstrahlung berauschten sie und weckten in ihr weibliche Bedürfnisse aus einem langen, tiefen Schlaf. Claudia erbebte und seufzte vor Vergnügen. Zachary hatte ihre selbstauferlegten Hemmungen hinweggefegt, und sie konnte sich endlich einer schwindelerregenden Sinnlichkeit hingeben. Zacharys Verlangen war so groß wie ihres, aber er hob kurz den Kopf, damit sie nach Luft schnappen konnten. „Von dem hier träume ich, seit ich dich gestern Abend gesehen habe", flüsterte er keuchend. „Du wolltest es auch, aber du bist gegangen." Er ließ ihr keine Zeit zu einer Antwort. Eine Erklärung interessierte ihn nicht, sondern nur ihre Lippen an seinen, ihr heißer, offener Mund, ihr warmer Körper, der sich unter seinen Händen so lustvoll wand. Als er den Kuss wieder vertiefte, hüllte die herrliche Hitze sie ein, bis die Leidenschaft wie ein Flächenbrand zwischen ihnen aufflackerte und sie beide jeden Sinn für Zeit und Raum verloren, um sich ausschließlich auf ihre Gefühle und Empfindungen zu konzentrieren. Zachary umfasste eine Brust und massierte sie zärtlich, während er mit dem Finger mühelos die feste Knospe unter Bluse und BH fand und sie gekonnt streichelte. Claudia stöhnte auf und presste sich an ihn. Sie wollte seine Berührung, brauchte sie. Die Kleidung war ein Hindernis, und am liebsten hätte sie sie ausgezogen, um seine Haut an ihrer zu spüren. Seinen Mund an ihren Brüsten, die Zunge an den ungeduldig drängenden Knospen ... Er schob ein Bein zwischen ihre und bewegte es behutsam auf und ab. Das Gefühl war herrlich, und Claudia wollte mehr davon. Und dann ... „He, das ist ja so ruhig da drin!" Mannys ohrenbetäubender Ruf hallte wie ein Pistolenschuss durch das Büro. Claudia und Zachary sprangen auseinander, als hätte sie ein Schwall eisigen Wassers getroffen. Mannys heftiges Klopfen erzielte eine durchaus vergleichbare Wirkung. „Habt ihr zwei euch gegenseitig umgebracht, oder was?" rief er und rüttelte an der Tür. Zachary lehnte sich dagegen. „Gib uns noch eine Minute, Manny." Er strich Claudias zerzaustes Haar glatt. „Wir sind gerade ... dabei, die Sache zu bereinigen." Claudia unterdrückte ein nervöses Lachen. Ihr Lippenstift hatte an Zacharys Mund deutliche Spuren hinterlassen, und sie versuchte, ihn mit den Fingern abzuwischen. Er griff nach ihrer Hand und küsste sie. „Ich muss dich wiedersehen", flüsterte er eindringlich, „Wann kann ich dich anrufen?" Claudias Herz schien einen Freudensprung zu machen. Sie wollte ihn auch wiedersehen. „Heute Abend, nach zehn", erwiderte. Dann würden die Kinder im Bett liegen, sie würden reden und Pläne schmieden können ... „Stehst du im Telefonbuch?" „Ja." „Ich komme jetzt herein", warnte Manny und machte die Drohung sogleich wahr. Plötzlich stand er im Büro und musterte seine Reporterin und den Polizeichef ebenso neugierig wie belustigt. „Ich nehme an, der Streit um die Tempofa lle ist beigelegt?" Zachary lächelte. „Falls du damit die ZBF meinst, so glaube ich, sie versteht jetzt meinen Standpunkt in dieser Sache." „Wir haben uns darauf geeinigt, uns nicht einig zu sein", warf Claudia mit heiserer, belegter Stimme ein. „Das freut mich zu hören", sagte Manny trocken. „Du hast ihr also erklärt, dass du
niemals mit Dynamit fischen würdest, Zachary?" „Sie verspricht, diesen widerlichen Vergleich nie wieder zu benutzen, nicht wahr, Claudia?" Zachary sah ihr in die Augen und machte einen Schritt auf sie zu. Claudia blieb, wo sie war, denn ihr Körper fühlte sich plötzlich heiß und geschwollen und schwer an. Manny Fisher beobachtete sie beide und zog ohne Zweifel seine eigenen Schlüsse aus der Situation. „Ich kann mich nicht erinnern, irgendwelche Versprechungen gemacht zu haben", erklärte sie matt. Sie wusste, dass sie ein großes Problem hatte, wenn Zachary Ritter sie allein mit einem Blick bewegungslos machen konnte. „O doch." Zacharys Blick wurde noch erotischer, noch herausfordernder. „Ich werde Sie zu gegebener Zeit daran erinnern." „Das hört sich geheimnisvoll an", sagte Manny. Claudia ertrug die Anspannung nicht mehr. „Ich muss zurück an meinen Schreibtisch." Sie musste weg von Zachary und ihr inneres Gleichgewicht zurückgewinnen. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden ..." Sie eilte hinaus. „Augenblick." Zacharys befehlsgewohnte Stimme ließ sie stehenbleiben. Ärgerlich auf sich selbst drehte sie sich zu ihm um. „Ist das Ihre Polizeichefstimme? Die, mit der Sie Verbrecher festnehmen?" „Bei Ihnen hat sie gewirkt, oder?" Zachary lächelte zufrieden. „Sie haben mir Ihren Nachnamen noch nicht genannt, Claudia." Panik erfasste sie. Er wollte den Nachnamen, um ihre Nummer nachzuschlagen. Damit er sie anrufen und dort weitermachen konnte, wo sie gerade aufgehört hatten? Plötzlich fürchtete sie sich davor. Es ging alles zu schnell, und sie begehrte ihn zu sehr. „Ich warte, Claudia." Er wusste, wie durcheinander sie war, und bildete sich etwas darauf ein. Am liebsten hätte sie die Antwort verweigert. „ Vielleicht sollte ich mich auf meine verfassungsmäßigen Rechte berufen, Chief." „Irgendwie scheint sie auf euren Polizistenhumor zu stehen" warf Manny ein. „Du bist dran, Zachary. Willst du ihr Hand schellen anlegen und ihr ihre Rechte vorlesen?" „Handschellen", murmelte Zachary. „Hm, interessanter Gedanke." Er sah ihr wieder in die Augen, und sie konnte sich vorstellen. woran er dachte. „Nennen Sie mir jetzt Ihren Nachnamen, oder soll ich ihn mir von Manny geben lassen?" fragte er mit einer Ruhe, die sie zugleich ärgerte und die sie an ihm bewunderte. „Ich habe eine Kolumne zu schreiben", verkündete sie und eilte nach unten. „Er lautet Nolan", sagte Manny Fisher, bevor sein Freund ihn darum bitten konnte. „Sie ist Edith Camerons Großnichte und im Sommer aus Florida hergezogen. Edith hat ihr das Haus an der Hopwood Lane hinterlassen." „Ich habe die alte Miss Cameron immer gemocht", sagte Zack. „Aber am Steuer hatte sie einen Bleifuß. Ob Ms. Nolan weiß, dass ihre Großtante bei unseren Verkehrskontrollen regelmäßig angehalten wurde? Jedesmal war sie sechzig gefahren. Ich glaube, es gab ein Jahr, in dem wir allein mit ihren Bußgeldern einen halben Streifenwagen finanziert haben." „Hoffe n wir, dass ihr Claudia so bald nicht wieder stoppen müsst." Manny lächelte. „Sonst gräbt das weibliche Gewissen der Stadt das Kriegsbeil wieder aus." „Wieder? Soll das heißen, sie wurde angehalten?" „Von O'Neil. Er hat bei ihr dreißig Meilen pro Stunde gemessen und ihr ein Bußgeld verpasst. Junge, war sie wütend!" „Und so hat sie beschlossen, die Macht der Presse für ihren Rachefeldzug einzusetzen." Nachdenklich schüttelte Zachary den Kopf. „Sie ist eine faszinierende Lady, Manny." „Fasziniert sie dich?" Der Chief lachte. „Ich verweigere die Aussage."
4. KAPITEL
Natalie saß bereits auf ihrem Platz in der ersten Reihe, als Brian später am Nachmittag mit betrübtem Gesicht zum Nachsitzen kam. „Sag bloß, du hast dich schon wieder verspätet?" fragte er verblüfft, und Natalie nickte. „Sogar mehr als sonst. Wenn es so weitergeht, werde ich meine gesamte Schulzeit hier unten verbringen", flüsterte sie grimmig. „Dein Plan hat nicht funktioniert. Meine Mutter ist gestern Abend nicht einmal eine Stunde auf der Party geblieben. Sie kann deinen Dad gar nicht kennengelernt haben." „Erzähl mir etwas, das ich noch nicht weiß." Niedergeschlagen betrachtete Brian seinen Bücherstapel. „Ich habe gesehen, mit wem mein Dad die Party verlassen hat, und es war nicht deine Mom." Die Verzweiflung in seiner Stimme ließ Natalie aufhorchen. „Wer war es denn?" „Miss Pierson", antwortete Brian mit Leidensmiene. „Mein Dad hat sie bei den Smiths getroffen und anschließend mit zu uns nach Hause gebracht. Ich bin nach unten an die Wohnzimmertür geschlichen, als ich Stimmen hörte. Ich dachte, es ist deine Mom, und wollte nachsehen, ob der Plan Fortschritte macht. Und da waren sie dann, mein Dad und Miss Pierson." „Haben Sie sich geküsst?" flüsterte Natalie. „Nein, nur geredet und gelacht." Er schauderte. „Als wären sie so alt wie wir!" In Natalies Augen spiegelten sich Mitgefühl und Entsetzen. „O nein, grauenhaft!" „Mein Vater ist sechsunddreißig. Er hat vier Kinder. Er kann sich nicht wie ein Teenager benehmen! Miss Pierson ist sowieso viel zu jung für ihn. An ihrem Geburtstag, dem Tag nach Halloween, hat sie uns erzählt, dass sie vierundzwanzig ist. Wir haben eine kleine Party für sie veranstaltet." „Senorita Pierson, die Spanischlehrerin? Die hübsche Rothaarige?" Erstaunt starrte Natalie ihn an. „Die habe ich im Spanisch- Einführungskurs." „Meine Klasse auch. Jessica und ich haben Kuchen mitgebracht." Natalie sah ihn besorgt an. „Stell dir vor, dein Dad will sie heiraten, dann wird Senorita Pierson deine Stiefmutter!" „Niemals!" Brian schlug mit der Faust auf den Tisch. „Die Kleinen brauchen eine richtige Mutter, nicht ein Püppchen wie Senorita Pierson. Mein Dad muss eine Frau heiraten, die... die..." „Kein Püppchen ist", beendete Natalie den Satz. „Er braucht eine, die über dreißig ist und eigene Kinder hat. Eine, die sich nicht jung und albern aufführt." „Genau." Brian nickte heftig. „Eine wie deine Mom." „Habt ihr zwei Fernseher?" fragte Natalie plötzlich. Brian wirkte verwirrt, antwortete aber trotzdem. „Wir haben drei. Zwei für uns Kinder, eins davon nur für Videospiele. Das dritte steht in Dads Schlafzimmer." „Das ist ja noch besser, als ich gehofft habe! Wenn dein Dad und meine Mom heiraten, haben wir zusammen vier Fernsehgeräte! " schwärmte Natalie. „Wir beide können sehen, was wir wollen, während die Kinder spielen und unsere Eltern ihr eigenes Programm bestimmen!" Unsere Eltern. Hört sich gut an, dachte Brian. „Aber erst müssen sie sich kennenlernen", erinnerte er Natalie. „Das werden sie, heute Abend im Einkaufszentrum. Jetzt kommt mein Plan. Pass auf, ich erkläre dir jetzt, was wir tun werden..." „Ich und Megan wollen beim Weihnachtsmann auf den Schoß und ein Bild von uns haben, Mommy!" rief Molly und zog an Claudias Arm. „Jetzt gleich! Bitte!" „Megan und ich", verbesserte Claudia automatisch. „Natalie, warum gehst du nicht in das Büroartikelgeschäft und holst dir die Pinnwand für dein Kunstprojekt, während wir ..." „Lass uns doch erst etwas essen", schlug Natalie rasch vor und sah sich auf dem zentralen Platz der Port Mason Mall um. „Ich habe nämlich Hunger, Mom." „Wieso das denn?" fragte Claudia erstaunt. „Wir haben doch erst vor einer halbe Stunde
zu Abend gegessen." Der überraschende Ausflug ins Einkaufszentrum war nötig geworden, weil Natalie plötzlich eingefallen war, dass sie unbedingt eine rote Pinnwand für den Kunstunterricht brauchte. Dass ihre Tochter mit dem Einkauf bis zur letzten Minute wartete, war ungewöhnlich. Doch dann gab Claudia nach und lud die vier Kinder in den Wagen. Die Fahrt dauerte nur fünfzehn Minuten, und das Zentrum war an diesem Abend nicht überfüllt. Zweifellos trug dazu auch das nasskalte Wetter bei. „Ich habe auch Hunger", rief Ned. Sobald irgend jemand vom Essen sprach, bekam Ned Appetit. „Kann ich Chicken Nuggets und Pommes Frites bekommen?" „Du hattest doch schon eine ganze Portion Spaghetti? Ganz sicher nicht", erwiderte Claudia. „Da wir keinen Nachttisch hatten, bekommt jeder einen gefrorenen Joghurt." „Danke, Mom!" Natalie strahlte sie an. „Molly, Megan, was für einen wollt ihr? Es gibt verschiedene Geschmacksrichtungen." „Musstest du ihnen das erzählen?" stöhnte Claudia. Sie wusste, dass die beiden Sechsjährigen sich erst alle aufzählen lassen und danach eine Ewigkeit brauchen würden, um sich zu entscheiden. „Jetzt kommen wir frühestens Weihnachten hier heraus!" Ned lachte. Er hielt es für einen Scherz. „Ich nehme Vanille", verkündete er. „Jungen machen es einem so leicht", flüsterte Claudia, und Natalie unterbrach die Aufzählung, um ihrer Mutter verständnisvoll zuzulächeln. „Du hättest bestimmt gern mehr Jungen, nicht wahr, Mom? Vielleicht drei mehr?" „Ich würde meine drei Mädchen gegen nichts auf der Welt eintauschen", versicherte Claudia, da sie ihre Tochter völlig falsch verstand. „Oh, das brauchst du nicht", sagte Natalie leise. „Ananas, Limone, Himbeere", fuhr sie mit der Aufzählung fort. „Essen! Essen!" riefen Ian und Justin Ritter im Chor und rannten vor ihrem Vater, ihrer Schwester und ihrem älteren Bruder durch das Einkaufszentrum. Brian sah auf die Uhr. Sie kamen über zehn Minuten zu spät, und Natalie wurde vor Ungeduld bestimmt schon verrückt. Was sollte er tun, wenn sie und ihre Mutter nicht mehr da waren? Er warf einen verstohlenen Blick auf seinen Vater. Es war nicht leicht gewesen, ihn zu diesem Bummel zu überreden. Sein Dad hätte fast zugelassen, dass er für ein nicht existierendes Projekt im Kunstunterricht eine völlig ungefährliche Fünf bekam, weil er eine nicht verlangt e Pinnwand nicht vorlegen konnte. Zum Glück bettelten Robin und die Jungens darum, im Einkaufszentrum zu Abend zu essen. Die zahlreichen Fast- food-Stände übten auf sie einen unwiderstehlichen Reiz aus. Vier Kindern war ein Wunsch viel schwerer abzuschlagen als nur einem, also hatte Zachary Ritter schließlich nachgegeben, und jetzt waren sie hier. Das Glück ist auf unserer Seite, dachte Brian erfreut. Kaum betraten sie den Platz in der Mitte des Einkaufszentrums, da entdeckte er Natalie auch schon. Sie sprach mit zwei süßen Zwillingsmädchen, die kurze rote Kleider, rote Strumpfhosen und lange blonde Zöpfe mit roten Schleifen trugen. Am selben Tisch verspeiste ein blonder Junge gerade die Reste einer Waffel. „He, da ist jemand, den ich aus der Schule kenne!" sagte Brian, wie er und Natalie es beim Nachsitzen besprochen hatten. Er rannte los. „Hallo, Natalie!" „Luftschokolade schmeckt toll, Molly, wie Marshmallows aus Schokolade ..." Natalie hob den Kopf und lächelte erleichtert, als sie Brian sah. Lange hätte sie die Diskussion über gefrorenen Joghurt nicht mehr im Gang halten können. „Hallo, Brian", rief sie und winkte ihm zu. Claudia sah den gutaussehenden dunkelhaarigen Jungen auf ihren Tisch zurennen und lächelte wissend. Sie hatte den starken Verdacht, dass nicht die angeblich so wichtige Pinnwand, sondern er der Grund für Natalies Drängen gewesen war. Natalie lächelte ihm zu. „Mom, dies ist Brian Ritter, er ist in meiner Klasse. Brian, dies ist meine Mom", fügte sie stolz hinzu.
„Hi, Mrs. Nolan", begrüßte Brian sie höflich, bevor er Natalie anerkennend zunickte. Ihre Mutter war perfekt. Hübsch, aber kein Püppchen, genau richtig gekleidet in dunkelblauer Hose und blaugrünem Pullover, den Sachen, die zu einer über dreißigjährigen Mutter passten. Ganz anders als das schockierend kurze und enge Goldglitzerkleid von Senorita Pierson. „Hallo, Brian." Claudia freute sich für Natalie und Brian. Die beiden würden ein süßes Paar abgeben, dachte sie mit einem Anflug von Sentimentalität. „Ich wette, du bist auch wegen der Pinnwand hier." „Ja, für das Kunstprojekt", bestätigte Brian und blickte über die Schulter, als sein Vater mit den drei Kleinen näher kam. Claudia starrte gebannt auf Zachary Ritter, der Jeans und ein graues Sweatshirt trug, und seine Söhne in aufgerissenen Jeans, übergroßen T-Shirts und abgetragenen Basketballschuhen. „ Claudia?" sagte Zachary erstaunt und ließ den Blick über die vier blonden, braunäugigen Kinder an ihrem Tisch wandern. Die Ähnlichkeit mit ihr war unverkennbar. „Hallo, Zachary", erwiderte sie mit einem leichten Zittern in der Stimme. Die vier dunkelhaarigen, blauäugigen Kinder mussten seine sein. Die Ähnlichkeit war nicht zu übersehen. „Ihr kennt euch?" fragte Brian ungläubig. „Woher?" wollte Natalie wissen. Zachary ignorierte sie. „Das sind deine Kinder?" fragte er, hoffend, dass sie es nicht waren, und zugleich wissend, dass sein Verdacht zutraf. Er hatte nicht groß über Claudias Vergangenheit nachgedacht, nur erwartet, dass sie unverheiratet war. Jetzt suchte er an ihrer linken Hand nach einem Ring. Er sah keinen. „Ja, das sind meine Kinder. Natalie, Ned, Molly und Megan", sagte sie mit mütterlichem Stolz. „Kinder, das ist Polizeichef Ritter." „Haben Sie eine Waffe, Chief Ritter?" erkund igte sich Ned beeindruckt. „Natürlich hat er eine", antwortete Justin Ritter für seinen Vater. „Alle Polizisten haben eine." „Schießen Sie damit auf böse Menschen?" fragte die kleine Megan ehrfurchtsvoll. „Er tötet sie", prahlte Ian. „Jeden Tag einen." Molly versteckte sich ängstlich hinter ihrer Mutter. „Das stimmt nicht", stellte Zachary richtig, um sich und seinen Beruf zu verteidigen. Er schaute Claudia kurz in die Augen und sofort wieder zur Seite. Er hatte einen großen Teil des Tages damit verbracht, sich von der Erinnerung an ihr wildes kleines Zwischenspiel in Manny Fishers Büro abzulenken. Er hatte ihre Telefonnummer nachgeschlagen, sie notiert und sich vorgenommen, sie später am Abend anzurufen, wenn seine Kinder im Bett lagen. Und er hatte gehofft, sie wiederzusehen. Jetzt starrte er auf die acht Kinder, die sich um den Tisch drängten. Seine Kinder. Ihre Kinder. Zusammen hatten sie acht Kinder! Zachary wurde blass. Er wusste, dass er Claudia nicht anrufen würde, heute Abend nicht und auch später nicht. Da es seinem Vater offenbar die Sprache verschlagen hatte, übernahm Brian die Vorstellung. „Das sind meine Schwester Robin und meine Brüder Justin und Ian", erklärte er Claudia und den anderen Nolans. Molly sah von Justin zu Robin zu Ian. „Wer ist denn deine Schwester?" fragte sie verdutzt. „Für mich sehen sie alle wie Jungen aus." Für Claudia auf den ersten Blick auch, aber als sie genauer hinsah, bemerkte sie die schmalere Figur und die zarteren, anmutigeren Gesichtszüge des Mädchens. Aber Robins Frisur war schrecklich, sie war kurz wie die ihrer Brüder, und das war bestimmt das Werk eines Friseurs, der auf Geschlecht und Geschmack seiner Kunden keine Rücksicht nahm. Außerdem fand Claudia, dass die Kleidung der drei jüngsten Ritters weniger zu einem Ausflug ins Einkaufszentrum als zu einer Aufräumaktion in der Garage passte. Robin errötete. „Rob muss sich eine Menge anhören", sagte Zachary mit liebevollem
Schmunzeln. „Und sie ist so zäh und kräftig wie jeder Junge." „Sogar noch zäher und kräftiger", behauptete Ian. „Robin kann Justin und seine Freunde verprügeln." „Kann sie nicht!" knurrte Justin und verpasste seinem jüngeren Bruder einen kurzen Rippenstoß. „Halt den Mund, Kotzbrocken." „Kotzbrocken?" flüsterten die Zwillinge und ließen das neue Schimpfwort auf der Zunge zergehen. Natalie und Brian wechselten einen besorgten Blick. „Hört auf zu streiten, Leute", warnte Brian, denn er wollte nicht, dass seine Brüder Natalies Mom verschreckten. „Sie machen nur Spaß, Mrs. Nolan. In Wirklichkeit sind sie die besten Freunde." „Du hast wunderschöne blaue Augen, Robin", sagte Natalie, um die taktlose Bemerkung ihrer kleinen Schwester wiedergutzumachen. Robin starrte schweigend zu Boden und schob die Hände tie f in die Taschen. „Sagt mal, Jungens, habt ihr Lust, ein paar Videospiele zu spielen?" fragte Brian nach einem weiteren Blickwechsel mit Natalie. Sie hatte fast unmerklich genickt und fand also auch, dass sie beide jetzt mit den Kindern etwas unternehmen sollten, um den Erwachsenen Zeit für ein ungestörtes Gespräch zu geben. Wie erwartet stimmten Justin, Ian und Ned begeistert zu. „Ich sehe mir mit den Zwillingen den Weihnachtsmann an", sagte Natalie. „Kommst du mit, Robin?" „Zum Weihnachtsmann?" Robin schnaubte verächtlich. „Ganz bestimmt nicht! Ich gehe mit zu den Videospielen." „Kinder, ich glaube nicht, dass ihr..." begann Zachary. „Kinder, wir haben gar keine Zeit, um ..." sagte Claudia gleichzeitig. „Gehen wir!" rief Brian und raste los wie ein Bankräuber auf der Flucht. Robin und die drei jüngeren Söhne folgten ihm. Natalie nahm die Zwillinge an die Hand und steuerte eilig die Rolltreppe an. Alles ging so schnell, dass Zachary und Claudia nicht mehr eingreifen konnten. Sekunden später standen sie allein am Tisch und sahen ihrem flüchtenden Nachwuchs nach. Claudia räusperte sich verlegen. „Ich glaube, diese Begegnung ist kein Zufall", sagte sie leise. „Bestimmt haben meine Natalie und dein Brian dieses Treffen bereits heute Vormittag in der Schule arrangiert. Aber ich glaube nicht, dass sie uns beide und sämtliche Geschwister dabeihaben wollten. Sie fühlten sich überfordert und haben deshalb die Flucht ergriffen." „Du hast vier Kinder", staunte Zachary. „Bist du geschieden?" „Verwitwet. Seit sechs Jahren. Meine Zwillinge waren damals einen Monat alt." Diese Tatsache, die Jeffs Tod zu einer noch größeren Tragödie machte, fügte sie stets hinzu. „Es muss hart für dich gewesen sein." „Bist du geschieden?" fragte sie ihn. Erst als sie seine Kinder gesehen hatte, waren ihr Zweifel gekommen. Nach den Blicken auf der Party und dem Kuss in Mannys Office war sie sicher gewesen, dass er unverheiratet war. Wehe ihm, wenn nicht! „Meine Frau ist vor sechs Jahren gestorben", erzählte er widerwillig. Er sprach nur ungern über Sharon. „Das tut mir leid", sagte Claudia mit sanfter Stimme. „Ich weiß, wie schwer es ist, allein vier Kinder aufzuziehen." Zachary spürte, wie er unruhig wurde. Sie hatte vier Kinder, und nirgends war ein Vater in Sicht. Er sah in ihre großen Augen und wäre am liebsten davongelaufen, aber etwas Stärkeres als der Selbstschutz hielt ihn an ihrer Seite fest. „Ich brauchte es nicht allein zu tun", hörte er sich erzählen. „Mein Mutter hat bis zum vergangenen Sommer bei uns gelebt. Dann hat sie wieder geheiratet und ist mit ihrem neuen Mann nach Florida gezogen. Wir kommen zurecht. Meine Kinder sind nicht verhätschelt, sondern sehr selbständig und unabhängig." Das bezweifelte Claudia. Brian sah gut aus, aber die beiden Jüngeren wirkten irgendwie
vernachlässigt. Und die arme Robin! Claudia war nicht nur die Mutter eines jungen Mädchens, sondern auch selbst einmal in dem Alter gewesen. Daher konnte sie sich gut vorstellen, wie Robin sich unter ihren modebewussten und markenorientierten Mitschülerinnen fühlten musste. Doch sie sagte nichts dazu. Sie durfte seine verhassten Tempofalle kritisieren, aber wie er seine Kinder aufzog, ging sie wirklich nichts an. „Nach Jeffs Tod lebte ich bis zu diesem Sommer bei meinen Eltern in Florida", erzählte sie von sich, anstatt ihm Ratschläge zu erteilen. „Sie sind nach Arizona gezogen und boten uns an mitzukommen, aber ich möchte, dass sie ihren Ruhestand möglichst lange genießen können. Großtante Edith hinterließ mir ihr Haus, und Manny Fisher bot mir den Job bei seiner Zeitung an, also wohnen die Kinder und ich seit Juni in Port Mason." „Meine Mutter ist nach Florida gezogen, und deine Eltern sind von Florida weggezogen", stellte Zachary fest. „Komisch, nicht?" War es nicht, jedenfalls nicht besonders, aber er wollte verhindern, dass das Gespräch persönlicher wurde. „Zachary, was heute Vormittag betrifft..." begann Claudia. Bitte nicht, dachte er. Etwas Persönlicheres als die kleine Szene in Mannys Büro konnte es für einen Mann und eine Frau kaum geben. „Ich möchte mich dafür entschuldigen", sagte er rasch, um die Distanz zu wahren. „Ich habe reagiert, ohne vorher zu überlegen. Das kommt bei mir selten vor." „Ich... wollte keine Entschuldigung von dir hören", erwiderte sie leise. „Ich wollte nur sagen ..." „Wenn wir schon darüber reden ..." Zachary holte tief Luft. „Es ist mir unangenehm, aber ich muss es dir sagen, Claudia. Ich bin stolz auf meine Ehrlichkeit, und es wäre unfair von mir, dich ..." Er hustete. Ihre großen Augen blickten misstrauisch. „Mich was?" fragte Claudia scharf. Unangenehm? Das war noch milde ausgedrückt. Aber er wollte fair zu ihr sein. „Ich sagte, ich würde dich heute Abend anrufen, und es wäre nicht fair, dich warten zu lassen, denn ..." Er zögerte erneut. „Ich werde dich nicht anrufen, Claudia. Heute Abend nicht und später auch nicht."
5. KAPITEL
Claudia zeigte keinerlei Gefühlsregung. „Ich verstehe", sagte sie leise und deutlich. Zachary fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Warum machte sie es ihm so schwer? „Claudia, ich kann mit dir keine Beziehung anfangen." „Ich erinnere mich nicht, dich darum gebeten zu haben", erwiderte sie kühl. „Ich kann dir nicht verdenken, dass du wütend auf mich bist", sagte er wahrheitsgemäß. „Nach dem Kuss im Büro ist es nur natürlich, dass du mehr erwartest als ..." „ Ich erwarte gar nichts von dir", unterbrach Claudia ihn eisig. Wie konnte er nur so gefühllos sein? Wie konnte er es wagen, sie so zu demütigen? Wenn er sie nicht anrufen wollte, warum ließ er es dann nicht einfach, anstatt auch noch Salz in die Wunde zu streuen? „Ich wollte dich anrufen, Claudia, wirklich. Ich habe mich darauf gefreut, aber nachdem ich dich hier gesehen habe ..." Er merkte, wie ihm der Schweiß auf die Stirn trat. Einen Berufsverbrecher zu verhören fiel ihm leichter als das hier! „Claudia, ich beginne grundsätzlich nichts mit Frauen, die Kinder haben", platzte er heraus. „Und daran muss ich mich strikt halten. Ich habe selbst vier Kinder und kann nicht ... werde nicht..." „Was für ein Zufall. Ich fange nämlich prinzipiell nichts mit Männern an, die Kinder haben", entgegnete Claudia. Das war eine Lüge. Seit sie verwitwet war, hatte sie mit überhaupt niemandem etwas angefangen. Auf die Idee, Männer mit Kindern aus dem Kreis möglicher Begleiter auszuschließen, war sie gar nicht gekommen. Aber Zachary hatte ihren Stolz verletzt, und sie war entschlossen, es ihm heimzuzahlen. „Da Sie vier Kinder haben, sind Sie aus dem Rennen, Chief. Selbst wenn Sie mich auf den Knien darum bitten würden, würde ich mit Ihnen nicht einmal ausgehen." Sie sah so hochnäsig aus wie eine Königin. Und so begehrenswert wie ein Model in einer Parfümwerbung. Zachary musste schlucken. Er wollte sie, Kinder oder nicht. Er wollte sie, seit er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Und sie wollte ihn auch. Er wusste es einfach. Aber nach seinen Regeln, und ihren offenbar auch, durfte er sie nicht besitzen. Claudia ließ ihn einfach stehen, ging erhobenen Hauptes zum Geländer und sah auf das Nordpol-Hauptquartier des Weihnachtsmanns hinab, das auf der offenen Plaza der ersten Ebene errichtet worden war. Eine Kinderbahn umkreiste eine Werkstatt, in der Zwerge Spielzeug herstellten, und eine Küche, in der die Frau vom Weihnachtsmann bunte Festtagskekse für süße Plüschrentiere backte. Eins von ihnen hatte eine rote Nase, die hell leuchtete, und die Kinder in der Bahn zeigten jubelnd darauf. In der Mitte stand ein Thron, auf dem ein fröhlicher Weihnachtsmann Hof hielt. Die Kinder saßen auf seinem Schoß und erzählten ihm, was sie sich zum Fest wünschten. An einem rotweiß gestreiften Stand stand ein Mädchen in grünem Elfenkostüm und verkaufte den stolzen Eltern Fotos und Videofilme ihrer Lieblinge. Molly und Megan saßen auf den Knien des Weihnachtsmanns und sprachen auf ihn ein. Die beiden sahen hinreißend aus. Natalie und Brian warteten auf ihre Schützlinge und unterhielten sich so angeregt miteinander wie die Zwillinge mit dem Weihnachtsmann. „Deine Kleinen fürchten sich kein bisschen vor dem Weihnachtsmann", sagte Zachary, als er neben Claudia trat. Er war ihr gefolgt, denn plötzlich hatte ihm ihre Nähe gefehlt. „Sie sind sehr süß, Claudia." „Für Sie dürften die beiden in etwa so reizvoll sein wie ein typhuskranker Koch für einen Restaurantbesitzer." Claudia sah ihn nicht an. „Sparen Sie sich ihre falschen Komplimente, Chief. Sie haben ausreichend klargemacht, dass Sie Kinder nicht mögen, und brauchen wegen meiner keine Ausnahme zu machen." „Natürlich mag ich Kinder!" beteuerte er. „Ich habe schließlich selbst vier und viel Spaß mit ihnen." „Das ist schön für Sie." Sie hob das Kinn noch höher. „Aber lassen Sie mich mit meinen
allein." Dass sie ihn wegschickte, machte ihn nur noch entschlossener, bei ihr zu bleiben. „Hör zu, wir haben uns... missverstanden. Es gibt keinen Grund, Feinde zu sein." Er blickte zu seinen Sohn hinunter, der lachend neben Claudias ältester Tochter stand. Noch nie hatte er Brian, der sonst immer still und zurückhaltend war, in der Gesellschaft eines Mädchens so locker erlebt. „Können wir nicht Freunde sein, Claudia? Auch der Kinder wegen. Wie es aussieht, verstehen sie sich großartig." „Ich bin an einer Freundschaft mit Ihnen nicht interessiert, Chief Ritter. Nur weil Natalie mit Brian befreundet ist, muss ich mich nicht mit seinem dickschädeligen Vater anfreunden." Claudia ging zur Rolltreppe. Zachary blieb ihr dicht auf den Fersen. Er kam sich vor wie ein Spielzeug, das ein Kind an einer Schnur hinter sich herzog. Er stand eine Stufe über ihr und starrte auf ihr seidiges Haar. Es wäre so leicht, die Hände auf ihre Schultern zu legen, sie an sich zu ziehen und ihren Hals zu küssen. Das Verlangen wurde von Sekunde zu Sekunde größer. „Claudia", begann er heiser. „Lassen Sie mich in Ruhe", erwiderte sie, ohne sich umzudrehen. „Nimm doch Vernunft an, Claudia." „Ich versuche, Sie zu ignorieren, aber Sie erschweren es mir. Gibt es in diesem Staat ein Gesetz gegen Belästigung und unerwünschte Verfolgung? Falls ja, so verstoßen Sie gerade dagegen." „Warum verstehst du denn nicht?" Zacharay stöhnte auf. „Ich will keine Stiefkinder. Ist das ein Verbrechen? Sieh dir die Statistik an. Es zerbrechen mehr zweite Ehen als erste, und ein Hauptgrund dafür sind die Stiefkinder. Das Leben ist keine heile Familienserie, Claudia. Und du und ich... mein Gott, wir haben zusammen acht Kinder!" „Ich erinnere mich nicht, gesagt zu haben, dass ich dich heiraten will", fuhr Claudia ihn an. „Ganz im Gegenteil. Ich habe dir gesagt, dass ich mit dir nicht einmal ausgehen würde. Würdest du mich jetzt bitte allein lassen und aufhören, mich zu kränken!" „Ich habe dich nicht gekränkt, ich ..." Sie verließen die Rolltreppe, und Claudia drehte sich endlich zu ihm um. „Sie haben mich nicht gekränkt?" wiederholte sie ungläubig. „Ich bin noch nie in meinem Leben so tief gekränkt worden wie gerade von Ihnen, Mr. Ritter." Sie eilte zum Stand, an dem die Fotos verkauft wurden. Molly und Megan hüpften fröhlich über den roten Teppich vor dem Thron des Weihnachtsmanns. „Wir haben ihm erzählt, dass wir uns die Burg der Meerjungfrauen, die BabyWasserskier, die Anzüge dazu und die Mutterkatze mit dem süßen Kätzchen wünschen", verkündete Megan stolz. „Er hat uns Zuckerstangen geschenkt, und er weiß auch, dass wir artig waren!" rief Molly begeistert. „Du musst das Foto bezahlen, Mom", sagte Natalie. „Ich habe zwei Abzüge bestellt. Einen für dich und einen für Grandma und Grandpa in Arizona." „Wo ist mein Dad?" fragte Brian. Claudia schwirrte der Kopf. Ihr Herz klopfte noch von der Konfrontation mit Zachary, und vor Anspannung war ihr fast ein wenig übel. Aber am schlimmsten war die Enttäuschung. Erst jetzt wurde ihr richtig bewusst, wie sehr sie sich auf seinen Anruf gefreut hatte. Auf die Möglichkeit, dass sich zwischen ihnen mehr entwickelte. „Dein Vater war eben noch auf der Rolltreppe, Brian", erwiderte sie. „Danach habe ich ihn aus den Augen verloren." Sie versuchte, ruhig zu bleiben, konnte aber nicht verhindern, dass ihre Stimme kühler klang als zuvor. „Wir müssen jetzt aufbrechen. Brian, würdest du bitte zu meinem Sohn gehen und ihm sagen, dass er sofort herkommen soll?" Natalie und Brian sahen sich an. „Zweiter Versuch gescheitert", murmelte er und eilte zu den Videospielen. Kurz darauf trat Zachary zu Claudia und ihren Töchtern, die an der weißen Holzpforte zum Thron warteten. Claudia schrieb gerade den Scheck für die Fotos aus und tat, als
würde sie ihn gar nicht bemerken. Die drei Mädchen sahen den Plüschtieren zu, die sich im Kunstschnee drehten. „Wo ist Brian hin?" fragte Zachary. „Zu den Videospielen, um die Kinder zu holen, Chief Ritter", antwortete Natalie mit einem Tausend-Megawatt-Lächeln. Für einen Moment herrschte Schweigen. Zachary sah, wie die Augen der Zwillinge leuchteten. Er erinnerte er sich daran, wie aufgeregt er als Kind um diese Jahreszeit gewesen war, und empfand einen Anflug von Nostalgie. Heutzutage war alles anders. Niemand in seiner Familie glaubte noch an den Weihnachtsmann, nicht einmal der achtjährige Ian, der im Herbst von Klassenkameraden die Wahrheit erfahren hatte. „Haben Sie schon mit den Weihnachtseinkäufen begonnen, Chief Ritter?" fragte Natalie in dem freundlichen Tonfall, mit dem sie Erwachsene zum Plaudern brachte. Zachary war ihr dankbar, denn er wusste, dass ihre Mutter ihn weiterhin ignorieren würde. „Noch nicht", gab er zu. „Allein schon der Gedanke daran macht mir angst." Das stimmte. Herauszufinden, was die Kinder sich wünschten, die Sachen im vorweihnachtlichen Gewühl zu kaufen und sie rechtzeitig unter den Baum zu legen, all das drohte ihn zu überfordern. Nach Sharons Tod hatte seine Mutter sich darum gekümmert. Dies war das erste Jahr, in dem er es allein erledigen musste. „Vielleicht kann meine Mom Ihnen helfen", schlug Natalie vor. „Sie ist eine tolle Weihnachtseinkäuferin und organisiert alles perfekt. Sie hat sogar schon unsere Grußkarten verschickt." „Erstaunt mich nicht", knurrte Zachary, der seine Karten noch nicht einmal besorgt hatte. „Molly, Mega n, erzählt Chief Ritter, was ihr euch wünscht", forderte Natalie ihre Schwestern auf. Natürlich wusste sie, dass die eineiigen Zwillinge jeden Erwachsenen begeisterten. Wildfremde Menschen blieben stehen, um sie zu bewundern. Vielleicht würden die beiden ihr ja helfen, Zachary Ritter für die Nolans einzunehmen. Ihre Mutter tat leider sehr wenig dafür. Im Gegenteil, sie ließ sich mit dem Ausschreiben des Schecks viel Zeit und ignorierte den Chief völlig. Lächelnd beugte Zachary sich zu den Zwillingen hinab. Als Kind musste Claudia wie sie ausgesehen haben. „Was wünscht ihr euch denn?" fragte er. „Einen Daddy", antwortete Molly ohne jedes Zögern. Ihre glockenhelle junge Stimme schien durch das Einkaufszentrum zu hallen. Jedenfalls kam es Claudia so vor, und sie spürte, wie sie errötete. Musste ihre Tochter das ausgerechnet zu einem Mann sagen, der für keine anderen als seine vier leiblichen Kinder Daddy sein wollte? „Das hast du dem Weihnachtsmann nicht gesagt, Molly!" rief Natalie aus, die ebenfalls errötet war. „Ihr habt ihm erzählt, dass ihr euch die Burg der Meerjungfrauen, die BabyWasserskier, die Anzüge dazu und die Mutterkatze mit dem süßen Kätzchen wünscht. Megan hat es mir erzählt." „Megan hat dem Weihnachtsmann gesagt, dass wir uns das alles wünschen", bestätigte Molly. „Aber ich habe ihm gesagt, dass wir uns einen Daddy wünschen." „ Stimmt", sagte Megan. „Wir wünschen uns schon ganz lange einen. Neddy auch." Claudia war entsetzt. Gleich würden die Zwillinge Zachary bitten, ihr Daddy zu werden. Sie konnte sich seine Reaktion nur zu gut ausmalen! Noch schlimmer, wahrscheinlich würde er glauben, sie hätte ihre Kinder dazu angestiftet, weil sie selbst verzweifelt nach einem Ehemann suchte. Sie warf einen Blick auf Natalies Gesicht. Die Vierzehnjährige stand wie erstarrt da. Ihre Tochter war alt genug, und auch ihr waren die unschuldigen Kinderworte schrecklich peinlich. „Ihr habt einen Daddy, Mädchen. Er ist im Himmel und liebt euch sehr", sagte Zachary zu Claudias Erstaunen.
Seine Antwort war unerwartet einfühlsam gewesen. Vermutlich hatten seine eigenen Kinder ihn oft nach ihrer toten Mutter gefragt. Er wurde Claudia wieder etwas sympathischer. Wenigstens war er auf die Zwillinge eingegangen und nicht vor ihnen davongelaufen, als wären sie zwei unheimlich aussehende Wesen von einem anderen Stern. „Aber ein Daddy im Himmel kann nicht mit uns zu den Indianerprinzessinnen gehören", sagte Molly traurig. „Sechs Mädchen aus unserer Klasse gehören mit ihren Dads zu den Indianerprinzessinnen. Sie bekommen indianische Namen, basteln schöne Sachen und machen Ausflüge. In dieser Woche machen sie bei Brittany zu Hause Schmuck für die Rentiere und gehen mit all den anderen Stämmen in Port Mason zu einer großen Weihnachtsparty." „Wir können nicht hin, weil wir keinen Dad haben", fügte Megan hinzu. „Wir werden den Rentierschmuck bei uns zu Hause basteln", versprach Natalie schnell. „Ich weiß, wie man ihn macht." „Das ist nicht dasselbe", klagte Megan. Zachary warf Claudia einen unauffälligen Blick zu. Für einen Moment sahen sie einander in die Augen, bevor sie wieder wegschaute. Er fühlte sich, als hätte er etwas ganz Besonderes verloren. Etwas, von dem er noch gar nicht gewusst hatte, dass er es wollte. „Vielleicht sollte ic h jetzt mit den beiden Joghurt essen gehen", bot Natalie ein wenig verzweifelt an. „Dad! Dad!" Justin und Ian rannten durch das Einkaufszentrum und schrien aus vollem Hals. Brian und Ned waren direkt hinter ihnen. „Ich weiß, ihr sterbt vor Hunger", sagte ihr Vater und lachte erleichtert. Ihr Auftauchen entspannte die Atmosphäre und befreite ihn aus einer äußerst peinlichen Situation. „Kommt schon, lasst uns essen." „Dad, falls du es nicht bemerkt hast, Robin ist nicht hier", hielt Brian ihn mit vorwurfsvoller Stimme zurück. Zachary betrachtete die Vierergruppe, die aus seinen drei Jungen und Claudias Sohn bestand. Natürlich. Robin fehlte. „Ich habe es bemerkt, Brian", erwiderte er schärfer als beabsichtigt. Der Ton des Jungen gefiel ihm nicht, und er hatte nicht vor, ihn sich vor Claudia bieten zu lassen. „Geht zu den Videospielen zurück und sagt eurer Schwester, sie soll sofort zum Essen kommen." „Aber da ist sie auch nicht!" rief lan. „Wir wissen nicht, wo sie ist!" „Was?" erwiderten Claudia und Zachary gleichzeitig. Sie sahen sich an. Jeder von ihnen wusste, dass Eltern kaum etwas so sehr fürchteten wie diesen Satz. Zachary atmete tief durch und versuchte, ruhig zu bleiben. Die Polizei von Port Mason musste regelmäßig nach vermissten Kindern suchen, und bisher war jedes davon gesund wieder aufgetaucht. Er wollte nicht .an die entsetzlichen Fälle in anderen Städten denken, in denen das Kind trotz groß angelegter Suchaktionen und der tatkräftigen Mithilfe der Bürger nie wieder aufgetaucht war. „Vermutlich ist sie in eins ihrer Lieblingsgeschäfte gegangen", sagte er. Wie im Leben, so erwies sich auch bei der Polizeiarbeit die einfachste Lösung meist als die richtige. Er wusste, dass seine Tochter fast immer die Geschäfte ansteuerte, in denen es Süßigkeiten, Spielsachen und CDs gab. „Sie hat uns nichts gesagt, sondern ist einfach nur weggelaufen, Dad", berichtete Justin ernst. „Auf dem Weg zu den Videospielen haben wir in der Tierhandlung nachgesehen, und da waren diese blöden Mädchen aus ihrer Klasse." „Die, die immer so gemein zu ihr sind?" fragte Natalie. Justin nickte betrübt. „O nein", sagte Brian. „Sie lachten Robin gerade aus und sagten etwas zu ihr", berichtete Ned aufgeregt. „Ich konnte es nicht verstehen, weil die Welpen so laut bellten, aber plötzlich rannte Robin aus dem Geschäft." „Wir dachten, sie kommt zu uns zu den Videospielen, aber sie kam nicht", erzählte lan.
„Wo ist sie hin, Dad?"
6. KAPITEL
Zachary konnte lan nicht sagen, wo seine Schwester war. Statt ihm zu antworten, stellte er selbst eine Frage. „Was sind das für Mädchen, die so gemein zu Robin sind?" „In ihrer Klasse gibt es ein paar versnobte Gören, die sich immer über sie lustig machen", informierte Natalie ihn. „Mädchen können sehr grausam sein, wenn sie mehr Geld haben als andere", fügte sie seufzend hinzu. Zachary starrte sie verständnislos an. Bisher hatte ihm niemand erzählt, was Robin erleiden musste. „Wie lange geht das schon so?" Und warum wusste Natalie Nolan davon, er jedoch nicht? „Seit einigen Monaten", berichtete Brian grimmig. „Gleich nach den Ferien fing es an." „Und es wird immer schlimmer ", meldete sich Justin zu Wort. „Erst musste Brian sie nur zur Schule schleifen. In dieser Woche hat er sie den ganzen Weg getragen." „Brian ist stark", sagte lan bewundernd. „Er trägt Robin, und ich und Justin wechseln uns mit ihren Sachen ab." „Aber wir kommen immer zur spät", seufzte Justin. „Brian muss dauernd nachsitzen, weil er sich so oft verspätet. Ich bin heilfroh, dass es das auf meiner Schule nicht gibt, sonst müsste ich auch dauernd nachsitzen. Aber ich werde oft getadelt", fügte er hinzu. Zachary stand wie angewurzelt da, und sein Entsetzen wurde immer größer. Er fühlte sich, als wäre er in ein unbekanntes Theaterstück geraten. Und da er den ersten Akt verpasst hatte, musste er versuchen, die versäumten Kenntnisse möglichst schnell nachzuholen, um die Handlung zu begreifen. Aber das hier war die Wirklichkeit. Dies waren keine Schauspieler, sondern seine Kinder, die eine Situation beschrieben, von der er keine Ahnung gehabt hatte. „Was sagen die gemeinen Mädchen zu Robin?" fragte Megan. „Sie lästern über ihr Haar, ihre Kleidung und alles", antwortete Natalie. „Wisst ihr noch, was ich mir in Florida alles anhören musste, weil ich zum Sportunterricht keine Edelmarke trug? Erinnert ihr euch, wie ich mich gefühlt habe?" Die Zwillinge nickten. „Arme Robin", sagte Molly. „Warum hat mir keiner erzählt, was los ist?" Zachary kam sich vor, als hätte ihn eine Bowlingkugel im Magen getroffen. Die drei Ritter-Brüder sahen sich an und zuckten mit den Schultern. „Du hättest doch nichts tun können, Dad", sagte Justin. „Ich meine, du kannst diese dämlichen Mädchen nicht ins Gefängnis werfen oder sie erschießen oder so etwas." „Man könnte ihnen Kaugummi ins Haar kleben", schlug Ned vor. „Das haben ich und meine Freunde mit den Mädchen gemacht, die Natalie zum Weinen gebracht haben. Junge, haben die geschrien." Er lächelte. Justin strahlte. „Cool!" „Ihr habt ihnen Kaugummi ins Haar geklebt?" fragte Claudia erstaunt. „Wieso erfahre ich das erst jetzt?" „Es gibt eben Dinge, die man seinen Eltern nicht erzählt", erklärte Natalie. „Erst recht nicht, wenn man nicht zwei davon hat." Sie blickte von ihrer Mutter zu Zachary. „Wir wissen, dass ihr es auch so schon schwer genug habt, und wollen euch nicht auch noch mit unseren Problemen belasten." Brian nickte zustimmend. „Also versuchen wir, sie selbst zu lösen." Claudia war zutiefst betroffen. „Aber wir wollen, dass ihr zu uns kommt, wenn ihr Hilfe braucht!" sagte sie zu allen sieben Kindern, und ihr kamen fast die Tränen. „Wir sind eure Eltern und lieben euch. Macht euch um uns keine Sorgen, sondern erzählt uns alle eure Probleme, und wir werden helfen, so gut wir können. Das stimmt doch, nicht wahr, Zachary?" Sie drehte sich zu ihm. „Natürlich", murmelte er mit grimmigem Gesicht. „Dann ist es okay, euch zu sagen, dass wir jeden Tag zu spät zum Unterricht kommen?" fragte Megan und sah Natalie an, die warnend den Kopf schüttelte.
Aber es war zu spät, die Worte waren heraus. „Ihr kommt jeden Tag zu spät zum Unterricht?" wiederholte Claudia matt. „Ich und die Zwillinge sind morgens einfach unmöglich", zitierte Ned die oft ausgestoßene Klage seiner älteren Schwester. „Also verpassen wir den Schulbus. Natalie muss uns erst zu Fuß zur Grundschule bringen und dann noch zur High School laufen. Deshalb muss sie doch dauernd nachsitzen." „Ich hätte auch gern einen großen Bruder, der mich zur Schule trägt", sagte Molly und warf Brian einen sehnsuchtsvollen Blick zu. „Neddy würde mich nie tragen." „Da hast du völlig recht", bestätigte Ned. „Du hast mir nie erzählt, dass du nachsitzen musst, Natalie", sagte Claudia zu ihrer ältesten Tochter. „Das ist auch nichts, womit ich prahlen könnte", erwiderte Natalie. „Außerdem werden die Kleinen nachmittags in der Kindertagesstätte betreut, also ist es doch egal, ob ich bei den Cheerleader-Proben bin oder nachsitzen muss." „Aber mir ist es nicht egal", entgegnete Claudia. Glaubte Natalie etwa, dass sie in ihr nur einen kostenlosen Babysitter sah? Sie hätte weinen können. „Dort haben wir uns kennengelernt. Beim Nachsitzen", sagte Brian. „Wir beschlossen, uns gegenseitig bei unseren Problemen zu helfen. Bisher hatten wir leider nicht viel Erfolg", meinte er und blickte von seinem Vater zu Natalies Mutter. Warum begriffen die Erwachsenen denn nicht endlich, dass sie die Lösung für alle Probleme waren? Ihm und Natalie war das absolut klar. „Wir reden später weiter", brach Zachary die Diskussion ab. „Im Moment will ich nur Robin finden. Zuerst kämmen wir ihre Lieblingsgeschäfte durch und..." „Sagtest du nicht, die Jungen hätten noch nicht zu Abend gegessen?" mischte Claudia sich ein. „Haben wir nicht!" rief lan mit einem dankbaren Lächeln. „Und wir sind am Verhungern!" „Laß sie doch etwas essen", schlug Claudia vor. „Die Kinder gehen alle zusammen hin, und wir beide durchsuchen das Einkaufszentrum, Zachary. Wenn Brian fertig ist, kann er sich uns anschließen, falls wir Robin bis dahin noch nicht gefunden haben. Natalie wird bei den jüngeren Kindern bleiben." „Ein guter Plan, finde ich", stimmte Brian begeistert zu. Wortlos reichte der Polizeichef seinem Sohn etwas Geld, und die sieben Kinder zogen gemeinsam los. Claudia und Zachary standen einander gegenüber. „An das Abendessen habe ich gar nicht mehr gedacht", gab er ein wenig verlegen zu. „Danke, dass du mich daran erinnert hast." „Ich weiß von meinem Sohn, dass hungrige Jungens ziemlich nutzlos sind." „Und trotzig", fügte er hinzu. „In etwa so umgänglich wie wilde Dschungelbestien." „Genau." Er sah ihr ins Gesicht. „Ich sagte dir doch, wie unabhängig und selbständig meine Kinder sind. Vielleicht fällt es ihnen nur nicht leicht genug, sich mir anzuvertrauen oder mich um Hilfe zu bitten. Oder sie denken, ich habe sowieso keine Ahnung." Er lächelte wehmütig. „Und damit haben sie möglicherweise sogar recht." „Ich weiß, wie du dich fühlst", sagte sie und spürte erstaunt, wie nah sie und Zachary sich in der letzten Viertelstunde wieder gekommen waren. So nah, dass sie ihn nicht mehr Chief oder Mr. Ritter nannte. „Ich stelle mir gerade vor, wie meine Kinder in Kälte und Regen zur Schule gelaufen sind, während ich dachte, dass sie warm und trocken im Bus sitzen. Und sie wagten nicht, es mir zu erzählen! Ich finde es erschütternd, wie wenig Vertrauen unsere Kinder zu uns haben." „Ehrlich gesagt, ich kann mir gar nicht vorstellen, dass der arme Brian Robin zur Schule tragen muss, weil sie Angst vor irgendwelchen verzogenen kleinen Mädchen hat." Zachary runzelte verwirrt die Stirn. „So kenne ich Rob gar nicht." „Die angeblich stärker und zäher als jeder Junge ist", wiederholte Claudia seine vorhin
geäußerte Einschätzung des Mädchens. Vielleicht kannte er seine Tochter gar nicht so gut, wie er dachte. „Aber wenn Mädchen älter werden, kämpfen sie nicht mehr mit Fäusten, sondern mit Worten. Und eine Gruppe scharfzüngiger Teenager kann ihrem Opfer schnell jegliches Selbstvertrauen rauben." „Aber warum ist Robin überhaupt zum Opfer geworden?" fragte Zachary verzweifelt. „Sie ist klug, sie ist zäh, sie läuft schneller als ihre Brüder und schlägt sie beim Basketball." Claudia fand seine Naivität rührend. Und deprimierend. „Unglücklicherweise beurteilen die Mädchen in der siebten Klasse ihre Mitschülerinnen nach anderen Dingen. Ganz oben auf der Liste stehen Aussehen und Kleidung, glaub mir. Es ist ein oberflächliches Alter, aber sie wachsen heraus, das ist das einzig Tröstende daran. Das Schlimme ist, dass es bis dahin eine Unmenge verletzter Gefühle gibt." „Mit Robins Aussehen und Kleidung ist alles in Ordnung", beharrte er fast trotzig. Claudia war klar, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, um ihm etwas über Teenagermode zu bringen. „Ich sehe in den restlichen Waschräumen nach", bot sie an. „Unten ist eine öffentliche Toilette, und am Marktplatz eine weitere. Danach durchkämme ich die Warenhäuser." Er nickte energisch. „Ich nehme mir ihre Lieblingsgeschäfte vor. Wir treffen uns hier in zwanzig Minuten." Er zögerte. „Claudia?" Sie war schon losgegangen und drehte sich noch einmal zu ihm um. „Ich weiß deine Hilfe sehr zu schätzen. Als Mann könnte ich nicht überall nach Robin suchen." Er atmete tief durch. „Danke." „Ich würde jedem helfen, wenn es darum geht, ein vermisstes Kind zu finden", erwiderte sie und tat seinen Dank mit einer Handbewegung ab. Sie hatte nicht vor, sich wieder in der intensiven Bläue seiner Augen zu verlieren, nie wieder. „Wer würde das nicht tun?" Mit schnellen Schritten durchquerte sie das Einkaufszentrum und sah in jeder Toilette und jedem Waschraum nach. Robin Ritter war nirgends zu finden. Claudia schaute auf die Uhr. Bis zum vereinbarten Treffen mit Zachary blieben ihr noch zehn Minuten. Sie fragte sich, ob er mehr Glück gehabt hatte, und konnte es nur hoffen. Wieviel Zeit musste vergehen, bis aus einem vermissten Kind ein verschollenes Kind wurde? Bei dem Gedanken fröstelte sie. Als sie eine Glocke läuten hörte, sah sie zu der großen Glastür hinüber, die zu einem Seiteneingang des Einkaufszentrums führte. Sie erinnerte sich daran, dass die Leitung des Zentrums den glockenschwingenden Mitgliedern der Heilsarmee untersagt hatte, innerhalb des Gebäudes Spenden zu sammeln. Ihnen war auch verboten worden, sich an den Haupteingängen zu postieren. Daher blieben ihnen nur die weniger benutzten Seitenzugänge, was schnell einen Rückgang der Spenden bewirkt hatte. An die Bedürftigen, um die die Heilsarmee sich kümmerte, dachte kaum jemand. Offenbar galten die Bestimmungen auch in diesem Jahr noch. Hastig ging Claudia nach draußen. Ihr war eine Idee für einen Artikel gekommen. Sie würde die Heilsarmisten und den Geschäftsführer des Einkaufszentrums interviewen. Sie überlegte, welche Aussage sie in den Mittelpunkt stellen sollte. Vielleicht den Gegensatz zwischen der hartherzigen Leitung des glitzernden Konsumtempels und den engagierten Heilsarmisten, die versuchten, auch den Armen von Port Mason etwas Weihnachtsfreude zu bringen. „Aber warum kann ich denn nicht sofort eintreten?" Die Mädchenstimme drang sofort an Claudias Ohr, als sie ins Freie trat. Ein kalter Windstoß wehte ihr den Regen ins Gesicht. Die Glockenschwingerin war nicht allein. Neben ihr stand Robin Ritter und verlangte die sofortige Aufnahme in die Heilsarmee. „Robin!" rief Claudia erleichtert und eilte zu dem jungen Mädchen. „Wir haben überall nach dir gesucht." „Robin will unbedingt mit mir in die Mission zurückkehren, wenn mein Dienst hier beendet ist", erklärte die Frau mit der Glocke und der Sammelbüchse. „Ich habe ihr gesagt,
dass sie nach Hause zu ihrer Familie gehört." „Ich will nicht nach Hause! Und ich will auch nicht wieder in die Schule!" protestierte Robin. „Lass uns doch hineingehen und etwas essen. Du bist bestimmt sehr hungrig, Robin." Claudia warf eine Spende in die rote Blechbüchse, bevor sie Robin zurück in die Wärme geleitete. Robin wehrte sich nicht. Claudia vermutete, dass das Mädchen müde, durchgefroren, hungrig und daher insgeheim froh war, endlich gefunden worden zu sein. „Dein Vater macht sich große Sorgen um dich, Robin", sagte sie leise. „Deine Brüder haben ihm von den Mitschülerinnen erzählt, die dir das Leben zur Hölle machen." Robin stöhnte auf. „Daddy wird es nicht verstehen. Er wird sagen, ich soll sie einfach nicht beachten. Und dass nur Schläge einen verletzten können, nicht Worte." „Nun ja, da irrt dein Dad sich gewaltig." Claudia sah das Mädchen an. „Worte können einen Menschen oft viel schwerer verletzen als Schläge." „Ich weiß." Robins blaue Augen füllten sich mit Tränen. „Vor allem, wenn man so aussieht wie ich." Blinzelnd schaute sie zu Claudia hoch. „Und erzählen Sie mir bloß nicht, dass es auf die innere Schönheit ankommt, wie meine Grandma immer behauptet hat. Denn innen drin sehe ich nur so aus, wie wir es in Biologie gelernt haben, aber außen bin ich noch immer hässlich!" „Du bist nicht hässlich, Robin", widersprach Claudia geduldig. „Deine Frisur ist nicht ideal, aber das lässt sich ändern. Ich habe hier in Port Mason eine gute Friseurin namens Paula gefunden. Wenn du möchtest, vereinbare ich für dich einen Termin bei ihr." Nachdenklich starrte Robin sie an. „Meine Frisur steht mir wirklich nicht", stimmte sie zu. „Deinen jüngeren Brüdern könnte ein ne uer Haarschnitt auch nicht schaden. Meinst du, ich sollte sie gleich mit anmelden?" „lan vielleicht", erwiderte Zacharys Tochter. „Aber nicht Justin. Ich bin froh, dass der auch so unmögliches Haar hat! Wir streiten uns dauernd. Er hasst mich, und ich hasse ihn." „Justin hasst dich nicht, Robin. Er war sehr besorgt, als du wegliefst, und sehr wütend, als er uns erzählte, was du in der Schule alles ertragen musst." „Diese miesen kleinen Hexen." Robins Gesicht erhellte sich kurz, doch dann erschienen wieder Falten auf ihrer Stirn. „Aber mit meiner komischen Kleidung haben sie recht. Selbst wenn mein Haar okay ist, wird mein Outfit mich noch blamieren." „Dann ist es höchste Zeit, dir ein neues zu besorgen", sagte Claudia aufmunternd. „Und zwar Sache n, die nur dir gehören und die deine Brüder nicht auftragen können." „Ich habe keine Ahnung, was ich nehmen soll. Außerdem gibt es niemanden, der mit mir zum Einkaufen gehen könnte." Robin ließ die Schultern hängen. „Und sagen Sie nicht, mein Dad kann mitgehen. Der hat keine Ahnung von Mode, und er hasst Einkaufen." Claudia sah der niedergeschlagenen Zwölfjährigen in die tränenfeuchten Augen und gab ihr die einzige Antwort, die sie ihr unter diesen Umständen geben konnte. „Nun ja, meine Tochter Natalie und ich könnten dich begleiten, wenn du möchtest. Wir unternehmen beide gern Einkaufsbummel." „Natalie würde niemals mit mir losziehen. Dazu ist sie viel zu cool! Mit einer wie mir würde sie sich nicht sehen lassen." Das war die ideale Überleitung, und Claudia nutzte sie sofort, um von Natalies Problemen mit den Mädchen im Sportunterricht in Florida zu erzählen. Als sie dann noch hinzufügte, was sie vorhin über Neds Kaugummi-Attentate erfahren hatte, lächelte Robin. Die beiden lachten sogar, als Zachary sie am Nordpol-Hauptquartier fand. Der Anblick seiner Tochter löste in ihm eine gewaltige Erleichterung aus, der jedoch sofort nackter Zorn folgte. „Tu so etwas nie wieder, junge Lady!" schrie er sie an. Claudia sah, wie Robin zusammenzuckte und erstarrte. Das Wiedersehen von Vater und Tochter nahm keinen sehr guten Anfang. Ihr blieb nicht anderes übrig, als helfend
einzugreifen. „Zachary, Robin braucht jetzt ihr Abendessen", sagte sie streng. „Wir bringen sie zu den anderen, und danach möchte ich mit dir reden, allein." Sie legte den Arm um Robin und ging davon. Zachary hatte keine andere Wahl, er musste ihnen folgen. Claudia kehrte ihm den Rücken zu, spürte jedoch die Spannung zwischen ihnen. Sie ließ Robin bei den anderen Kindern zurück und führte Zachary danach in einen weniger belebten Teil des Einkaufszentrums, in dem mehrere Bänke standen. Claudia blieb vor einer davon stehen. „Okay, leg los und schrei mich auch an." Herausfordernd sah sie ihm in die Augen. „Ich weiß, dass du unter Dampf stehst. Lass ihn heraus. Ich kann ihn ertragen, Robin nicht, jedenfalls nicht jetzt. Also lass es an mir aus, Zachary." Sie hatte recht, seine Gefühle standen kurz vor der Explosion, und ihr Vorwurf wirkte wie ein Zündfunke. „Du willst es, Baby? Okay, hier es ist!" Er packte ihr Handgelenk und zog sie unsanft an sich. „Aber ich bin ein Mann der Tat und handle lieber, als dass ich rede." „Zachary!" protestierte sie und versuchte, seinen Griff abzuschütteln. Neugierige Blicke trafen sie. Ein junger Mann blieb stehen und drehte sich nach ihnen um. „Zachary, wir befinden uns in einem Einkaufszentrum, um Himmels willen!" „Das ist mir egal." Er hielt sie fest, betrachtete ihr anmutiges Gesicht, starrte auf ihre verführerisch vollen Lippen. Die Berührung ihrer Hände, auch wenn sie unfreiwillig geschah, schien seinen ganzen Körper zu erwärmen. Er spürte, wie seine Erregung wuchs, und wusste, dass er Claudia loslassen sollte. Aber er tat es nicht. Er konnte es nicht. „Das ist mir egal!" wiederholte er noch lauter und stöhnte auf. Claudia fühlte, was mit ihm los war, und erstarrte. „Du kannst mich nicht wollen", flüsterte sie. „Ich habe vier Kinder, oder hast du das vergessen? Nach den Regeln, die du dir auferlegt hast, bin ich damit tabu für dich." „Allerdings, das bist du", stieß er hervor. „Ich will dich nicht wollen, glaub mir." Sein Blick wanderte wie von selbst nach unten und über den sanften Schwung ihrer an ihn gedrückten Brüste. Der Anblick war unglaublich erotisch. Er wollte mehr sehen. Er wollte ihre Brüste ganz sehen, nackt und an seiner Haut. „Leider kann ich mich nicht erinnern, jemals eine Frau mehr begehrt zu haben", gestand er, bevor er das Gesicht an ihren Hals legte und tief durchatmete. Claudia spürte, wie sich in ihr eine herrliche Wärme ausbreitete und ihren Kampfgeist dahinschmelzen ließ. „Armer Zack", seufzte sie und lehnte sich an ihn. Sie schlang die Arme um seine Taille und entspannte sich. „Du hast einen anstrengenden Tag hinter dir, nicht wahr?" „Das kann man wo hl sagen." Mit heftig klopfendem Herzen presste er sie an sich. Er war immer dagegen gewesen, seine Gefühle öffentlich zur Schau zu stellen, aber es war so herrlich, Claudia in den Armen zu halten. Es fühlte sich so gut an, so erregend und trostreich zugleich, dass er gegen seine eigenen Regeln verstieß. Er wünschte, sie wären allein, nicht in Port Masons belebtem Einkaufszentrum. „Diese Nacht war schrecklich", gestand er. „Ich habe mich dauernd herumgewälzt und kaum geschlafen, weil ich immer an die Lady in Rot denken musste, die mich erst erregte und dann von der Party verschwand. Ich schleppte mich aus dem Bett, fuhr ins Büro und las einen Artikel, in dem ein verbissener Idiot gegen meine ZBF wettert." „Eine Tempofalle bleibt auch mit anderem Namen eine Tempofalle", zitierte Claudia aus der Kolumne. „Stell dir vor, wie entsetzt ich war, als ich feststellte, dass dieser verbissene Idiot identisch mit der Puppe war, die mich unbedingt kennenlernen wollte." „Stell dir mein Entsetzen darüber vor, dass ich mich mitten im Einkaufszentrum von einem chauvinistischen Dickschädel befingern lassen muss, der mich als Idiot und Puppe bezeichnet", entgegnete Claudia.
Lächelnd ließ Zachary die Arme sinken und trat einen Schritt zurück. „Ich habe dich nur festgehalten. Wenn ich dich befingere, wie du es nennst, wirst du es merken, Baby", versprach er mit belustigt funkelnden Augen. Claudia konnte nicht anders, sie musste lachen. Sie gestand sich ein, dass sie ihn mochte. Und dass sie ihn äußerst attraktiv fand. Es war so schade, dass es für sie keine gemeinsame Zukunft geben konnte. Außer vielleicht eine Freundschaft. Denn Zack hatte recht, acht Kinder waren wirklich unglaublich viele. Und obwohl Zacks Ablehnung von Stiefkindern ihr übertrieben vorkam, fand sie die Vorstellung, vier weitere Kinder zu haben, auch nicht gerade begeisternd. Zusammen gingen sie durch das Zentrum. Claudia erzählte Zachary von Robins Versuch, in die Heilsarmee einzutreten, und von dem, was sie dem Mädchen versprochen hatte. „Ich erwarte keine Gegenleistung und habe keine Hintergedanken", erklärte Claudia, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. „Glaub nicht, dass ich mich um Robin kümmere, weil ich es auf dich abgesehen habe. Ich würde niemals ein Kind für so etwas ausnutzen." Es klang so endgültig. Zachary stellte verblüfft fest, wie sehr er sich wünschte, sie hätte es auf ihn abgesehen. Die Verwirrung schien seinen Verstand zu lahmen. Er wollte sich nicht mit einer Frau einlassen, die Kinder hatte, schon gar nicht mit einer, die gleich vier davon hatte! Vielleicht wenn Claudia nur eins hätte, na gut, gab er nach, seinetwegen auch zwei, dann könnte er Stiefvater werden. Aber vier? Er würde seine Familie mit einem Schlag verdoppeln! Nein, das kam nicht in Frage. Claudia schien ähnlich zu empfinden. Als sie an diesem Abend ihre Kinder einsammelten und zum Parkplatz gingen, sprach sie mit Robin über den gemeinsamen Einkaufsbummel. Aber davon, dass sie Robins Dad wiedersehen oder auch nur anrufen wollte, war keine Rede.
7. KAPITEL
„Das Orchester wird immer besser, findest du nicht auch? Inzwischen erkennt man sogar, dass es ,Silver Be lls' sein soll", sagte Natalie fröhlich, als Brian am nächsten Tag den fensterlosen Nachsitzraum betrat und sich neben sie setzte. Nebenan probte das Schulorchester, auf der anderen Seite sang der Chor. „Ich glaube, sie werden es bis zur Weihnachtsfeier hinbekommen. Und mir gefällt, wie der Chor ,We Wish you a Merry Christmas' singt. Es klingt richtig gut." „Du bist ja heute in toller Stimmung", stellte Brian überrascht fest. „Das bin ich. Denn wenn ich diese Strafe am Ende der Woche abgesessen habe, wird mich dieser Raum nie wiedersehen!" „Du wirst dich also nie wieder verspäten, was?" Natalie schüttelte den Kopf. „Meine Mom hat ihren Chef angerufen und ihm erklärt, dass sie in Zukunft erst zur Arbeit kommt, wenn sie die Kinder persönlich in den Schulbus gesetzt hat. Sie hat versprochen, dafür nachmittags länger in der Redaktion zu bleiben. Es war ein großartiger Morgen!" Das Mädchen strahlte vor Freude. „Diesmal musste Mom Neds Büchertasche und seinen Mantel und die Schuhe suchen. Und sie musste die lahmen Zwillinge aufscheuchen. Als ich ging, sagte sie mir, wie leid es ihr tut, dass sie mir das alles die ganze Zeit aufgebürdet hat. Dass dies das erste Schuljahr ist, in dem Grandma uns morgens nicht hilft, und zugleich das erste Jahr, in dem die Zwillinge in die Schule gehen. Sie meinte, sie hätte keine Ahnung gehabt, wie schwer es für uns alle werden würde. Außerdem will sie mir als Entschädigung für das viele Nachsitzen die neue Lemonheads-Kassette schenken!" „Das klingt, als wäre für dich das Leben wieder in Ordnung." Brian freute sich für sie, aber ihm war anzuhören, dass er seine Zukunft nicht so rosig sehen konnte. „Und bei dir?" fragte Natalie. „Ist es bei euch zu Hause besser gelaufen? Jetzt, da dein Dad weiß, was für Probleme ihr hattet." „Er ist später zum Dienst gefahren, aber das kann er natürlich nicht jeden Tag tun. Aber obwohl er da war, lief alles so chaotisch ab wie immer. Justin trödelte, lan hatte sämtliche Sachen verlegt, und Robin drehte durch und weigerte sich, in die Schule zu gehen. Als ich aufbrach, hatte ich ein richtig schlechtes Gewissen, weil ich Dad mit all dem Ärger allein ließ." „Wahrscheinlich kann er noch schlechter damit umgehen als du", meinte Natalie, und Brian nickte. „Mein Dad braucht einfach eine Frau, aber ich schätzte, dir ist es jetzt egal, ob deine Mom heiratet oder nicht. Schließlich hast du das Nachsitzen bald hinter dir." Brian Ritter seufzte wie ein alter Mann. „Brian, ich finde nicht, dass wir beide aufgeben sollten." Natalie beugte sich zu ihm und senkte die Stimme. „Dein Dad und meine Mom gehören zusammen. Die Kinder brauchen einen Vater und eine Mutter. Und ich noch einen Fernseher. Heute abend werde ich die Verleihung der Billboard-Preise verpassen, weil die Zwillinge irgend etwas über Frosty, den Schneemann, sehen wollen." „Du könntest zu uns kommen, dann sehen wir uns die Verleihung gemeinsam an", schlug Brian sofort vor. „Deine Mom könnte dich fahren." „Nein, sie lässt die Zwillinge nicht allein, nicht einmal kurz. Die beiden würden wie Monster um die Fernbedienung kämpfen. Verstehst du jetzt, warum wir unbedingt ein zweites Gerät brauchen?" „Dann werde ich meinen Dad bitten, dich abzuholen. Aber du musst irgendwie dafür sorgen, dass er euer Haus betritt und deine Mom sieht." „Keine Sorge", erwiderte Natalie ebenso entschlossen wie zuversichtlich. „Mir wird schon etwas einfallen." Zachary überließ seine beiden jüngeren Söhne Robins Obhut und brach mit Brian zu den Nolans auf, um Natalie abzuholen. Es war ein kalter, klarer Abend, und er schob eine
Kassette mit Weihnachtsliedern ein, als sie durch die hell erleuchteten Straßen von Port Mason fuhren. In der Innenstadt hing an jeder Laterne ein großer Adventskranz mit wetterfester roter Schleife. In den Wohnvierteln war nahezu jedes Haus festlich geschmückt. Die Dekoration reichte von schlichten weißen Kerzen in den Fenstern bis hin zu langen Lichterketten, die bei jedem Aufleuchten die Farbkombination wechselten. „Natalie wohnt in der Hopwood Lane?" fragte Zachary Brian. Natürlich wusste er das längst, denn er hatte Claudias Nummer und Anschrift im Telefonbuch nachgeschlagen. Er warf seinem Sohn einen Blick zu. Dies war das erste Mal, dass Brian ein Mädchen zu sich nach Hause eingeladen hatte, also konnte man diesen Abend durchaus als erstes Date seines Sohns bezeichnen. Bei dem Gedanken wurde ihm nostalgisch. Es kam ihm vor, als wäre Brian erst gestern noch ein Baby gewesen, und jetzt hatte er eine Freundin! Auf die Nostalgie folgte Unbehagen. Die Tatsache, dass er die Mutter der kleinen Freundin seines Sohns begehrte, beunruhigte ihn. Der arme Brian wäre entsetzt, wenn ihm auch nur der leiseste Verdacht käme! Nun ja, außer zu Schlafmangel konnten seine Gefühle für Claudia Nolan zu nichts führen. Zachary gähnte, denn auch in dieser Nacht hatte das Verlangen ihn lange wachgehalten. Ich muss damit aufhören, sagte er sich streng, so kann es nicht weitergehen. „Da ist die Hopwood Lane", rief Brian. Was für einen Plan Natalie wohl geschmiedet hatte? Ob sie Erfolg haben würden? Zachary hörte die Nervosität in Brians Stimme und deutete sie vollkommen falsch. Er erinnerte sich an seine ersten Dates, an die panische Angst davor, mit einem Mädchen allein zu sein und nicht zu wissen, ob und wann er sie ... Zachary hustete verlegen. „Brian, wir beide haben noch nie richtig über ... solche Verabredungen gesprochen. Und auch nicht über die Verantwortung, die ein Junge gegenüber dem Mädchen..." „Dad!" unterbrach Brian ihn entsetzt. Sein Vater wollte doch wohl jetzt kein ernsthaftes Gespräch über Sex mit ihm führen! „Natalie ist nur eine gute Freundin", versicherte er hastig. Wie konnte er sie mit anderen Augen sehen? Schließlich würde sie bald seine Schwester sein! „Dort ist es. Nummer 433", verkündete Zachary erleichtert und enttäuscht zugleich. Er war immer stolz darauf gewesen, mit seinen Kindern über alles reden zu können, aber dies war das zweite Mal innerhalb von zwei Tagen, dass sie ihn abgewiesen hatten. Erst Robins Weigerung, ihm von ihren Problemen in der Schule zu erzählen, und jetzt Brians Ablehnung ihres ersten ernsthaften Vater-Sohn-Gesprächs über das andere Geschlecht. „Natalie steht auf der Leiter." Brian beugte sich vor und starrte durch die Windschutzscheibe. Natalie befestigte eine Lichterkette am Fensterrahmen. Claudia und Ned hängten gerade eine weitere in die Büsche, die vor dem Haus wuchsen. Als Zachary in die Einfahrt einbog, begann die Leiter gefährlich zu schwanken, und plötzlich fiel Natalie herunter. „Sie ist abgestürzt!" rief Brian entsetzt. Claudia schrie auf, ließ die Lichterkette fallen und rannte zu ihrer Tochter. Zachary hielt mit quietschenden Bremsen und sprang aus dem Wagen. Sekunden später hockten er und Claudia neben Natalie, die stöhnend am Boden lag. „Ist sie okay?" fragte Brian besorgt. „Ich sehe kein Blut", verkündete Ned, und es klang fast enttäuscht. „Natalie, Honey, bist du in Ordnung?" Claudia tastete den Kopf ihrer Tochter nach Brüchen, Beulen und offenen Wunden ab. „Kannst du Arme und Beine bewegen, Natalie?" erkundigte sich Zachary. Natalie bewegte vorsichtig Finger und Füße, dann beugte sie langsam Ellbogen und Knie. „Ja, ich kann sie bewegen", sagte sie matt, bevor sie den Kopf drehte und Brian kurz in die Augen blickte.
Brian war verwirrt. Er hätte schwören können, dass sie ihn gerade eben angelächelt hatte. Konnte das sein? War es möglich, dass der Sturz von der Le iter zu Natalies Plan gehörte? „Versuch, dich aufzusetzen, Liebling", drängte Claudia und half ihrer Tochter, sich gegen sie zu lehnen. „Ist dir schwindlig?" „Wie viele Finger siehst du?" fragte Zachary und hielt drei Finger vor Natalies Gesicht. „Weißt du, was für ein Tag heute ist?" Das Mädchen beantwortete seine Fragen richtig. „Ich nehme an, das heißt, mein Gehirn funktioniert noch", sagte sie anschließend und lächelte tapfer. „Versuch, diese Fragen zu beantworten." Brian hockte sich zu ihr. „Welches bekannte Weihnachtslied studiert das Orchester immer ein, wenn wir nebenan nachsitzen? Ist Shonnas neuer Nasenring aus Silber oder Gold? Und was für eine Schlange befindet sich auf Smashs Tätowierung?" Er sah, dass Natalie Mühe hatte, nicht in Gelächter auszubrechen, und wusste jetzt, dass der Sturz tatsächlich zu ihrem Plan gehörte. Ihr Einsatz imponierte ihm, und er bewunderte das Mädchen immer mehr. „Ich glaube, ich kann jetzt aufstehen", sagte Natalie mit angemessen schwacher Stimme. Claudia half ihr auf die Füße. Langsam legte sich ihr Herzklopfen. Sie wäre fast ohnmächtig geworden, als sie gesehen hatte, wie ihr ältestes Kind auf dem Boden aufschlug. „Ich finde, wir sollten dich ins Krankenhaus bringen und von einem Arzt untersuchen lassen, Honey. Vielleicht sollten wir dich auch röntgen lassen." Zachary nickte. „Gute Idee." Er betrachtete Claudias blasses Gesicht. Sie zitterte am ganzen Körper, und er konnte ihr den Schreck nachfühlen. „Ich fahre euch", bot er an. „Nein, das brauchst..." begann Claudia. „Ich bestehe darauf", unterbrach er sie. „Brian kann bei den Kindern bleiben, während wir im Krankenhaus sind. Und vergiss nicht, deine Schwester anzurufen und ihr zu sagen, wo wir sind, mein Sohn." „Ich will aber nicht ins Krankenhaus!" rief Natalie trotzig. „Und es ist nicht fair, dass Brian hierbleiben und sich mit den Zwillingen diesen blöden Frosty ansehen muss." „Das macht Brian nichts aus", erwiderte Zachary. „Wir bringen dich jetzt ins Krankenhaus, Natalie, und damit Schluss. Kannst du zum Wagen laufen, oder soll ich dich tragen?" „Ich kann laufen", murmelte Natalie. „Aber vielleicht sollten Sie meine Mom tragen. Sie sieht schlimmer aus als ich." Zachary legte fürsorglich den Arm um Claudia. „Ja, das stimmt." Er zog sie an sich, rein freundschaftlich, sagte er sich. „Keine Sorge, euch beiden geht es bald wieder gut." Brian brachte Natalie zum Auto, während Zachary und Claudia ins Haus gingen, um den jüngeren Kindern zu erklären, was geschehen war. „Ich kann nicht glauben, dass du absichtlich von der Leiter gefallen bist!" sagte Brian zu Natalie, als sie auf dem Rücksitz saßen. „Bist du verrückt? Du hättest dir weh tun können!" „Unsinn!" Natalie lächelte. „Ich bin seit meinem sechsten Lebensjahr Geräteturnerin. Wenn es eins gibt, das ich gelernt habe, dann ist es, wie man sicher landet. Außerdem war das eben gar kein richtiger Sturz. Es war mehr wie ein Abgang vom Doppelbarren, nur dass ich absichtlich nicht auf den Füßen gelandet bin. Mir geht es gut, und unser Plan hat blendend funktioniert!" Aufgeregt packte sie Brians Arm. „Sie sind zusammen! Hast du gesehen, wie er sie an sich gezogen hat?" „Aber du musst ins Krankenhaus", wandte Brian ein. „Okay, das gehörte nicht zum Plan. Ich hätte es meiner Mom ausreden können, aber deinem Dad nicht." „Mein Dad ist der Polizeichef und gewohnt, das Kommando zu übernehmen. Er erwartet, dass die Leute das tun, was er verlangt, und meistens tun sie es auch." Natalie seufzte betrübt. „Also verpassen wir jetzt beide die Preisverleihung. Tut mir leid, dass du meinetwegen den Babysitter spielen musst." „Schon gut." Brian zuckte mit den Schultern. „Irgendwie mag ich diese alten
Zeichentrickfilme. Viel Glück im Krankenhaus" wünschte er ihr und stieg aus. Ihre Eltern erschienen, und Zachary half Claudia beim Einsteigen. „Natalie scheint es gut zu gehen", flüsterte er ihr zu, während er sie anschnallte. „Mach dir keine Sorgen, Claudia. Dass wir sie ins Krankenhaus bringen, ist eine reine Vorsichtsmaßnahme. Die Untersuchung wird bestimmt ergeben, dass sie unverletzt ist." Claudia war durchaus in der Lage, sich selbst anzuschnallen, aber sie überließ es Zachary. Es war schön, so umsorgt zu werden, und ihr ging auf, wie lange es her war, dass ein Mann das auch nur versucht hatte. „Danke, Zachary", sagte sie sanft, und sie sahen einander in die Augen. „Das ist sehr nett von dir." Er schluckte. Das Bedürfnis, sie zu küssen, war überwältigend. Er spürte sein Herzklopfen und musste alles an Willenskraft aufbieten, um sich aufzurichten und von ihr zu entfernen. Die Fahrt zum Krankenhaus war kurz, doch das Warten in der Unfallstation dauerte dafür um so länger. Natalie setzte sich ihrer Mutter und Zachary gegenüber auf die andere Seite des Raums und vertiefte sich in eine Modezeitschrift. „Natalie tut so, als würde sie uns nicht kennen", flüsterte Claudia Zachary zu. „Sie ist mal wieder in ihrer Ich-habe-keine-Eltern-Stimmung und will in Ruhe gelassen werden." „O je." Er lachte leise. „Das kenne ich von meine n Kindern gar nicht." „Warte nur ab. Eines Tages wirst du etwas tun, was in ihren Augen nicht cool ist, und dann wirst du verstoßen. Für eine Weile jedenfalls." Er sah zu Natalie hinüber. „Sie sieht gelangweilt aus. Vielleicht sind wir nicht cool, aber wenigstens reden wir miteinander. Sie hat nur sich als Gesellschaft." „Das ist das Problem, wenn man Single ist", erwiderte Claudia lächelnd. „Wer wüsste das besser als wir", murmelte er. Trotz ihrer Kinder waren er und Claudia Singles. Und als alleinerziehende Eltern konnten sie nicht die Freiheiten genießen, die Erwachsene ohne Kinder sich nehmen konnten. Er musste zugeben, dass seine und Claudias Situation sich erstaunlich ähnelte. „ Mit vier Kindern sind wir nie allein, aber manchmal schrecklich einsam", sagte sie leise. Eine verblüffende Einsicht, fand Zachary und bewunderte sie dafür. Wie angenehm es war, mit einem anderen Erwachsenen zu sprechen und zu lachen. Einem Menschen, der Kinder verstand und sie weder verteufelte noch vergötterte. Sämtliche Frauen, mit denen er in der Vergangenheit ausgegangen war, hatten entweder das eine oder das andere getan. Natürlich waren sie damals jünger gewesen, Anfang oder Mitte zwanzig, und er hatte noch keine Kinder gehabt. Natalie wurde vom Arzt untersucht und zum Röntgen geschickt. Sie bestand darauf, allein zu gehen, nur von einer Schwester begleitet. Claudia und Zachary blieben allein im Warteraum zurück und unterhielten sich angeregt. Er erzählte ihr alles über Port Mason. Seine Familie lebte seit vier Generationen hier, daher wusste er viel über die Geschichte der Stadt und ihre interessanten Skandale. Als Reporterin und Neubürgerin war Claudia begierig, möglichst viel über ihre Heimat zu erfahren. Sie fand es herrlich, ihm zuzuhören, denn er war amüsant und klug und geistreich. Sie spürte nichts mehr von der bedrückenden Stimmung in einem Krankenhaus. Als Zachary Getränke und Snacks besorgte und sie tranken und aßen, redeten und lachten, da war es fast, als ob... sie zusammen ausgegangen wären! Sofort meldete sich Claudias schlechtes Gewissen. Ihr Kind wurde abgetastet und geröntgt, und sie benahm sich im Wartezimmer wie ein ausgelassener Teenager bei seinem ersten Date. Sie tadelte sich für ihr unmütterliches Verhalten. Zachary spürte, wie sie sich zurückzog, und es gefiel ihm kein bisschen. „Nicht", sagte er nur. Claudia sah ihn. „Nicht was?"
Seine Augen glitzerten. „Zeig mir nicht die kalte Schulter. Solche Stimmungsschwankungen kann ich nicht vertragen, Claudia." Sie wollte zum Gegenangriff übergehen, doch ihr Instinkt hinderte sie daran. „Ich habe nur gerade an Claudia gedacht", gestand sie. „Und mich schuldig gefühlt, weil ich mich hier draußen mit dir amüsiere, während sie untersucht wird, anstatt sich mit Brian die TVShow anzusehen. Und dabei hatte sie noch Glück. Sie hätte sich ernsthaft verletzen können." Zachary fühlte, wie seine Anspannung verschwand. Er war auf einen Streit vorbereitet gewesen, zu dem es nicht gekommen war. „Es tut mir leid", flüsterte er verlegen. „Wer war der launische Mensch in deinem Leben, der dich so empfindlich gemacht hat?" fragte Claudia und staunte darüber, wie gut sie ihn plötzlich verstand. „Deine Mom?" „Meine Mom war die ausgeglichenste Frau, die ich je gekannt habe", antwortete er nach kurzem Zögern. „Ich nehme an, deshalb hat mich Sharons Temperament so sehr schockiert. Die Launen meiner Frau waren so unvorhersehbar wie das Wetter." Er schüttelte den Kopf. „Es war schwer für die Kinder. Sie war so inkonsequent. Manchmal schrie sie sie wegen eines Missgeschicks an, beim nächsten Mal lachte sie nur darüber." Claudia vermutete, dass seine verstorbene Frau ihm gegenüber genauso wechselhaft und unberechenbar gewesen war. Zachary holte tief Luft. „Sharon und ich haben keine glückliche Ehe geführt", gestand er grimmig. „Irgendwie ging von Anfang an alles schief. Wir dachten, die Kinder würden uns zusammenschmieden, statt dessen trieben sie uns immer weiter auseinander." Er war nicht sicher, warum er es ihr erzählte. Über seine Ehe sprach er sonst nie. Aber irgendwie war es ein gutes Gefühl, sie in die schweren Zeiten seiner Vergangenheit einzuweihen. „Sharon hatte bereits die Scheidung eingereicht, als bei ihr Leberkrebs festgestellt wurde. Ich überredete sie, den Antrag zurückzuziehen, und wir versuchten es noch einmal miteinander, aber uns blieb keine Zeit mehr. Weniger als sechs Monate später starb sie." „Das tut mir leid", sagte Claudia leise. „Es muss schrecklich für dich gewesen sein." Sie war froh, so viele schöne Erinnerungen an Jeff zu besitzen. Zachary stand auf und lachte gequält. „Ich weiß nicht, warum ich dich damit belaste." Er starrte auf den Fußboden. „Weil wir Freunde sind." Sie ging zu ihm und schob die Hand in seine. „Freunde erzählen einander so etwas." Sie drückte seine Hand. „Sie helfen einander und sitzen zum Beispiel stundenlang im Wartezimmer einer Unfallstation. Danke, dass du mein Freund bist, Zachary." In diesem Moment erschien Natalie, gefolgt von der Schwester. Die Augen des Mädchens le uchteten auf, als sie sah, dass ihre Mutter und Zachary Ritter Hand in Hand auf sie warteten. „Mrs. Nolan, Natalie geht es gut", erklärte die Schwester. „Wir haben sie nur davor gewarnt, auf Leitern zu steigen." Die drei waren auf der Fahrt zu den Nolans, als Natalie verkündete, dass sie gleich morgen wieder auf die Leiter steigen und die Lichterkette anbringen würde. „Nein!" erwiderten Zachary und Claudia gleichzeitig. „Nun ja, einer muss es tun, und ich will nicht, dass meine Mom von der Leiter fällt", sagte Natalie ruhig. „Also werde ich ..." „Natalie, ich werde die Lichterkette anbringen", unterbrach Zachary sie streng. „Du hältst dich in Zukunft von der Leiter fern, verstanden?" „Ja, Sir", antwortete Natalie gehorsam. „Mommy, wenn Chief Ritter die Lichter für uns anbringt, könnten er und die Kinder doch morgen zum Abendessen zu uns kommen." „Ich finde, das ist eine wunderbare Idee, Natalie." Claudia lächelte erst ihrer Tochter, dann ihm zu. „Vorausgesetzt, du möchtest es auch, Zachary." Er lächelte. „Ich werde Brian mitbringen", kündigte er an. „Deine Mom und ich sind nicht von gestern, Natalie. Wir merken es, wenn man uns zu manipulieren versucht."
„Ich weiß nicht, was Sie meinen", sagte Natalie unschuldsvoll. „Er meint, dass wir beide wissen, warum du ein gemeinsames Abendessen vorgeschlagen hast", erklärte Claudia. „Du möchtest mit Brian das nachholen, was ihr heute leider versäumt habt." „Eltern sind ja so schlau", seufzte Natalie. Fast hätte sie laut losgelacht. Sie und Brian? Sie waren praktisch Bruder und Schwester. Und sehr bald würden sie es wirklich sein, da war sie absolut sicher. „Das finde ich auch", sagte Zachary. „Vergiss nicht, dass deine Mutter und ich euch Kindern immer einen Schritt voraus sein werden." „Schließlich wart ihr ja auch einmal in unserem Alter", führte Natalie seinen Gedanken zu Ende. „Oh, bitte stellt die Musik lauter!" bat sie. „Ich liebe das Lied. Der Schulchor singt es nie. Vielleicht mag ich es deshalb so sehr." Zachary drehte das Radio weiter auf. „ We need a Little Christmas" erfüllte mit seinem Glockenläuten den Wagen. Er ließ eine Hand am Lenkrad und legte die andere auf Claudias. Ihre Finger verschränkten sich wie von selbst. Warum sollten zwei Freunde sich nicht an den Händen halten? Zumal so kurz vor Weihnachten, in der Zeit, in der Frieden und Freude unter den Menschen herrschen sollten? Claudia spürte die Wärme und die Kraft, die sich von ihm auf sie übertrug. Als sie zu Hause ankamen, war das Lied vorüber, aber die Glocken schienen noch immer zu läuten. Jedesmal, wenn Zachary ihr zulächelte, wurden sie lauter.
8. KAPITEL Die Ritters waren die fröhlichsten und dankbarsten Gäste, die Claudia jemals zum Abendessen eingeladen hatte. Sie lobten ihr Gulasch, das den ganze n Tag hindurch auf kleiner Flamme gegart hatte, verschlangen die Tiefkühlwaffeln und ließen sich den Obstsalat mit rotgrüner Götterspeise schmecken. Ihre Komplimente sorgten dafür, dass Claudia sich wie eine Fünf-Sterne-Köchin fühlte. Claudia war erstaunt. Von ihren Kinder hatte eigentlich nur Ned einen herzhaften Appetit, die Mädchen waren viel zu wählerisch. Da machte das Kochen keinen rechten Spaß. Bis heute. Die Ritters weckten in ihr eine solche Begeisterung, dass sie vorschlug, zum Nachtisch gemeinsam Kekse zu backen. „Wenn Zachary und Brian die Lichterketten befestigt haben, wird das erste Blech fertig sein", versprach sie. „O ja, lass uns Lebkuchenleute machen!" rief Molly. Megan rannte zum Schrank, um die Ausstechformen herauszuholen. „Wir haben Männer und Frauen und Jungen und Mädchen", zählte Zachary auf, während er die Blechformen aus der Schachtel nahm. „Ich dachte schon, Molly hält sich an den vorgeschriebenen Sprachgebrauch, als sie Lebkuchenleute, nicht Lebkuchenmännchen sagte. Aber hier sind tatsächlich beide Geschlechter und verschiedene Altersstufen vorhanden." Er sah Claudia in die Augen. „Hast du etwas anderes vom Gewissen der Stadt erwartet?" fragte sie lächelnd. „Das wirst du mir wohl ewig unter die Nase reiben, was?" Er rückte näher und warf ihr einen Blick zu, der ihr unter die Haut ging. „Ganz genau", erwiderte sie atemlos. Auch sein Herz schlug spürbar schneller, und er wünschte, sie wären allein. Dann könnte er sie jetzt an sich ziehen und das einfordern, was ihr sexy Lächeln zu versprechen schien. Er vergaß ganz, dass so etwas unter guten Freunden nicht üblich war. „Wir backen immer komplette Lebkuchenfamilien ", erklärte Natalie den Ritters. „Den Dad, die Mom, den Bruder und die Schwester." „Die Zwillinge", warf Megan ein. „Die Großeltern?" schlug Robin vor und wühlte in einem Karton, der Tuben mit Zuckerguß in vielen verschiedenen Farben enthielt. „Hier sind sogar ein Hund und eine Katze!" freute sich lan und hielt die Blechformen hoch. „Ich werde eine komplette Hundefamilie und eine komplette Katzenfamilie machen." „Und ich eine Football-Mannschaft", verkündete Justin. „Mit dem Grün und dem Orange kann ich ihnen Trikots anziehen. Auf die kommen dann Nummern. Meine Nummer ist siebzehn", fügte er stolz hinzu. „Ich dachte, ihr wolltet mit mir Videospiele spielen", meinte Ned. Justin schüttelte den Kopf. „Das können wir doch immer noch. Jetzt wollen wir backen." „Ich hole die Zutaten", sagte Natalie rasch und eilte an den Kühlschrank. „Ich fasse es nicht", flüsterte Zachary Claudia zu, als die Kinder sich an den Tisch setzten. „Justin und lan haben noch nie auf das Angebot verzichtet, Videospiele zu spielen. Und das, seit sie im reifen Alter von vier oder fünf Jahren das erste Mal zur Fernbedienung gegriffen haben. Und jetzt wollen sie backen? Ich glaube es nicht." „Überlass die beiden uns, und wir machen aus ihnen noch richtig moderne, vielseitige Männer der neunziger Jahre", scherzte Claudia. „Ich glaube, ich helfe Ihnen mit den Lichterketten, Chief Ritter", beschloss Ned und stellte sich neben ihn. „Sie und ich und Brian können die Arbeit erledigen, während die da Kekse backen." Der Blick, den er seiner Mutter und seinen Schwestern zuwarf, ließ erkennen, dass er die Begeisterung der Ritters für die Küche nicht teilte. Claudia unterdrückte ein Lächeln, als Ned Zachary und Brian mit energischen Schritten nach draußen folgte. Es war gut, dass es Männer gab, die Ned vor der nur von Frauen beherrschten Atmosphäre retten konnten, in der er sonst leben musste.
Die drei jüngsten Ritters dagegen schienen genau die Atmosphäre zu genießen, vor der Ned geflüchtet war. Nachdem er die Lichterketten aufgehängt hatte, kehrte Zachary in die Küche zurück, um seinen Söhnen beim Backen zuzuschauen. Alle hatten großen Spaß, während die Kekse ausgestochen, gebacken, hin und wieder auch verbrannt und schließlich farbenprächtig verziert wurden. lan und Justin baten Claudia immer wieder um ihre Meinung und ihren Rat, viel öfter als die Zwillinge, die kleiner und jünger als sie waren. Zachary wollte gerade einen Scherz über seine backbegeisterten Söhne machen, als ihm etwas bewusst wurde. Die beiden brauchten weniger Claudias Hilfe als ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Sie unterhielten sich mit ihr und brachten sie mit kindlichen Witzen zum Lachen. Als sie eine Hand auf lans Schulter legte, schmiegte er sich an sie wie ein Hündchen, das Wärme suchte. Der Anblick ging Zachary ans Herz. Weder er noch lans Mutter waren so zärtlich mit dem Jungen umgega ngen, aber jetzt sog er Claudias liebevollen Gesten auf wie eine Blume die Sonnenstrahlen. Und Zachary sah nicht nur dies. Robin, die zu Hause meistens im Kriegszustand mit ihren jüngeren Brüdern lebte, half den Zwillingen beim Backen. Er war überzeugt gewesen, dass seine Tochter kleine Kinder nicht ausstehen konnte, aber die beiden kleinen NolanMädchen umsorgte sie wie eine Mutter. Alle Kinder vertrugen sich großartig. Natalie war nett zu Robin, scherzte mit ihr und behandelte sie wie eine echte Freund in, nicht wie eine Aussätzige. Claudia dirigierte die Runde wie ein Maestro sein Orchester. In dieser Küche herrschte mit sechs Kindern weniger Krach und Durcheinander als zu Hause in Zacharys mit nur vier. Im Nebenzimmer spielte Brian mit Ned ein Videospiel, und Ned ließ Brian den Respekt zukommen, den dieser von seinen eigenen Geschwistern nie bekam. Den beiden war anzumerken, dass sich zwischen ihnen über den Altersunterschied hinweg eine echte Männerfreundschaft entwickelte. „Acht Kinder, und es hat noch keinen Streit gegeben. Kein Geschrei, keine Prügelei, keine endlosen Beschimpfungen", flüsterte Zachary Claudia ins Ohr, als sie sich zu ihm gesellte. „Was hast du getan, sie verzaubert?" „Natürlich", erwiderte Claudia fröhlich. Ihr Zauber wirkte auch auf ihn, doch das sagte er nicht. Statt dessen legte er die Hand in ihren Nacken und massierte ihn mit kräftigen, aber zärtlichen Fingern. „Du bist ja gar nicht verspannt", sagte er mit gespieltem Vorwurf. „Wie kann ich da vorschlagen, dass wir nach oben schleichen, damit ich dich massieren kann?" Claudia sah ihm in die Augen und hielt unwillkürlich den Atem an. „Ich kenne mich mit so etwas nicht aus, Zachary", flüsterte sie. „Nein?" Er strich ihr über die gerötete Wange. „Ich würde sagen, du bist eine erstklassige Keksbäckerin, Organisatorin und Beraterin." „Ja, das bin ich vielleicht." Sie lächelte. „Aber ich kann nicht mit einem Mann flirten, der keinen Zweifel daran gelassen hat, dass er von mir nicht mehr als Freundschaft will." Sie rückte von ihm ab, und er ließ die Hand sinken. „Ich mag es, wenn ich die Regeln kenne und mich an sie halten kann", fuhr sie leise fort. „Ich dachte, als Polizist geht es dir ebenso. Freunde überschreiten eine gewisse Grenze nicht." Sie war nervös und verwirrt, wollte es sich jedoch nicht anmerken lassen. Allein die Berührung seiner Finger ließ sie erschauern. Kein anderer Mann hatte je eine so spontane und intensive Reaktion bei ihr bewirkt, nicht einmal ihr geliebter Jeff. Wenn Zachary bei ihr war, wollte sie ihn berühren. Wenn er sie berührte, wollte sie sich an ihn schmiegen, seine Lippen auf ihren und seine fordernden Hände an ihrem Körper fühlen. Aber er wollte keine Beziehung mit einer Frau, die Kinder besaß, und ohne das ganze Spektrum an Gefühlen und Wünschen, die für sie zur körperlichen Intimität untrennbar dazugehörten, würde sie nicht mit ihm, schlafen.
Ich mag es, wenn ich die Regeln kenne und mich an sie halten kann. Zachary hätte fast geseufzt. Claudia hatte natürlich recht. Er sandte widersprüchliche Signale aus, seine Taten passten nicht zu seinen Worten. Er wünschte, es wäre ihm und Claudia möglich, zugleich Freunde und Liebhaber zu sein, aber natürlich ging das nicht. Also zügelte er sein Verlangen und verwandelte sich in den guten Kumpel Zachary. „Ich backe jetzt Polizisten", kündigte er an und nahm sich einige der noch nicht verzierten Lebkuchenmännchen vom Blech. „Wo ist der blaue Zuckerguss, den ich für die Uniformen brauche?" „Schade, dass es keine Ausstechform für Autos gibt", meinte Natalie. „Dann könnten wir ihnen einen Streifenwagen machen." „Und eine ZBF einrichten, um all die armen Weihnachtseinkäufer aus Lebkuchen in die Falle zu locken", warf Claudia ein. „Um noch etwas Geld für den Ball der Lebkuche npolizisten auf zutreiben." „In Port Mason wird kein Polizeiball veranstaltet, weder für echte noch für Lebkuchenpolizisten", erwiderte Zachary schlagfertig. „Aber ich freue mich, dass du endlich den korrekten Sprachgebrauch beherrschst." „Ich beherrsche ihn sogar so gut, dass ich einen Artikel darüber schreiben werde", sagte Claudia. „Einnahmesteigerung heißt Steuererhöhung, ein interdimensionales Kommunikationsmedium ist eine Zeitungsanzeige. Und als Höhepunkt werde ich die ZBF als schlichte Tempofa lle entlarven." „Auf den Artikel freue ich mich jetzt schon", meinte Zachary trocken. Er wartete auf die Empörung, die Claudias Ankündigung eigentlich in ihm auslösen müsste, auch wenn sie nur scherzhaft gemeint war. Erwartete vergeblich. In ihm stieg nicht einmal Verärgerung auf. Artikel zu schreiben war Claudias Beruf, und seiner bestand darin, dem Gesetz - und den Geschwindigkeitsbeschränkungen - Geltung zu verschaffen. So einfach war das. Mit ihrer Beziehung hatte das gar nichts zu tun. Mit ihrer Freundschaft, verbesserte er hastig. „Eine Weihnachtsbaumfarm?" wiederholte Molly verwirrt. „Gibt es hier denn auch Rentiere?" „Nein, es gibt hier keine Tiere, Keks", erwiderte Zachary. Er hatte sich angewöhnt, beide Zwillinge Keks zu nennen, um auf taktvolle Weise zu verheimlichen, dass er sie nicht voneinander unterscheiden konnte. Die Nolan-Kinder hatten darauf bestanden, dass sie alle noch mehr Kekse backten. Bis jetzt hatten sie vier Abende in Claudias gemütlicher Küche verbracht. Für Zachary gehörten Lebkuchen und die Nolans untrennbar zusammen. „Auf dieser Farm gibt es nur Weihnachtsbäume." „Eine Farm ohne Tiere kann es gar nicht geben", widersprach Megan. „Old Macdonald hatte Schweine und Kühe und Katzen und andere Tiere auf seiner Farm, aber keine Weihnachtsbäume." Natalie seufzte. „Die beiden reden von nichts anderem als dieser Weihnachtsbaumfarm, seit Sie uns eingeladen haben, mit Ihnen zusammen einen Baum zu schlagen." „Lass sie doch", sagte Claudia leise und lächelte ihrer ältesten Tochter zu. „Ich kann noch immer nicht glauben, dass wir wirklich in einen Wald gehen und unseren eigenen Baum fällen werden!" rief Ned aufgeregt. „Chief Ritter, darf ich mit der Axt zuschlagen?" Der Junge warf einen ehrfürchtigen Blick auf die große, glänzende und sehr scharfe Klinge der Axt in Zacharys Händen. „Ich glaube nicht..." begann Claudia besorgt. „Natürlich, Ned, das darfst du", unterbrach Zachary sie. „Ich werde es ihm genau zeigen und gut aufpassen, Claudia. Er wird sich nicht weh tun, das verspreche ich." „Ich mag Äxte nicht", erklärte lan und hielt sich dicht an Claudias Seite. „Ich hätte Angst, dass ich nicht den Baum, sondern mir selbst etwas abhacke." „Du brauchst die Axt nicht anzufassen, wenn du nicht willst", beruhigte sie ihn und legte schützend den Arm um die Schultern des kleinen Jungen. „Wir beide sehen aus sicherer Entfernung zu, nicht wahr, lan?"
Mit einem erleichterten Lächeln schmiegte lan sich an sie und griff dankbar nach ihrer Hand. Die Ritters und Nolans befanden sich auf ihrem gemeinsamen Ausflug zu Emersons' Weihnachtsbaumfarm, die fünfzehn Meilen westlich von Port Mason lag. Die Ritters zogen jedes Jahr in den Wald, wählten ihren Baum aus, schlugen ihn eigenhändig und zogen ihn auf dem Schlitten zurück zur großen Scheune, wo ein Lagerfeuer brannte und alle sich zur Belohnung für die harte Arbeit heißen Cidre und Donuts gönnten. Während eines ihrer Backabende, an dem vor allem Weihnachtsbäume ausgestochen worden waren, hatten die Ritters den Nolans von der alljährlichen Tradition erzählt. Claudias Kinder lauschten gebannt, denn im sonnigen Florida hatten sie sich immer nur mit einem künstlichen Christbaum begnügen müssen. „Er war aus Plastik mit weißen Lichtern und weißen Kugeln", beschrieb Ned ihn den Ritters. „Er gehörte Grandma", ergänzte Natalie. „Sie fand ihn sehr hübsch, und deshalb mussten wir ihn jedes Jahr aufstellen." Claudia lachte, als sie an das alljährliche Theater mit dem Prachtstück ihrer Mutter dachte. „Wir haben uns so auf dieses Jahr gefreut und sind fest entschlossen, uns endlich einen grünen Kunstbaum zu kaufen." „Dad wird Sie festnehmen, wenn Sie so ein Ding aufstellen, egal welche Farbe er hat", scherzte Brian. „Wir schlagen für sie einen echten, nicht wahr, Dad?" „Ihr kommt einfach mit und sucht euch selbst einen aus", entschied Zachary. „Natürlich helfen wir euch beim Schlagen und beim Transport." Also waren die beiden Familien jetzt gemeinsam unterwegs und alle Kinder schrecklich aufgeregt. Als sie den Waldrand erreichten, begann es zu schneien. Die Jungen zogen begeistert die Schlitten für den Abtransport der Bäume durch die weiße Pracht, und die Kleinen rannten vor, während Claudia und Zachary sich Zeit ließen, um sich die Tannen am Wegesrand gründlich anzusehen. „Es ist so schön hier", rief Claudia und reckte das Gesicht den herabsegelnden Flocken entgegen. „Wie in einem Weihnachtsfilm und so herrlich romantisch. Danke, dass du uns eingeladen hast, Zachary." Sie trug eine hellblaue Jacke mit passenden Ohrschützern, und der Schnee glitzerte an ihrem Haar. Sie sah wunderhübsch aus und passte herrlich in die prächtige Winterlandschaft. Zachary spürte, wie ihr Anblick sein Herz schneller schlagen ließ und die inzwischen fast vertrauten Gefühle in ihm weckte. „Es ist mir ein Vergnügen", erwiderte er, und genau das war es. Er wollte mehr sagen, aber hier im verschneiten Wald, umgeben von acht Kindern und mit einer Axt in der Hand, erschien ihm weder der Ort noch der Zeitpunkt richtig. Er blieb stehen. „Kinder, hier ist ein guter Baum. Und gleich dahinter ist noch einer. Kommt her und seht sie euch an." Die Kinder umringten die Bäume, auf die er zeigte, und fanden sie perfekt. Das Schlagen konnte beginnen. „Zwei Bäume zu schlagen ist harte Arbeit", meint e Justin eine Weile später, als sie die Tannen auf den Schlitten zur Scheune zogen. „Wir hätten nur einen Baum nehmen und ihn uns teilen sollen." „Aber bei wem hätten wir ihn denn aufstellen sollen?" wollte Robin wissen. Sie griff in die Manteltasche, holte einen Kamm heraus und fuhr sich damit durch das neu gestylte Haar. Die Frisur stand ihr ausgezeichnet und hatte ein wahres Wunder bewirkt. Das Mädchen sah viel besser aus und hatte erheblich an Selbstsicherheit gewonnen. Ihre ebenfalls neuen Sachen, die sie zusammen mit Claudia und Natalie gekauft hatte, passten dazu. „Wenn wir nur einen Baum hätten, könnten wir auch nur in einem Haus einen aufstellen", folgerte sie logisch. „Er könnte in Claudias Haus stehen", rief lan. „Und dann könnten wir dort auch wohnen."
„Man kann doch nicht bei jemandem einziehen, nur weil man sich einen Weihnachtsbaum teilt, lan", erklärte Natalie ihm geduldig. „Um zusammenzuleben muss man aus zwei Familien eine einzige machen. Zum Beispiel, indem dein Dad meine Mom heiratet." „Okay", erwiderte lan. „Wann?" „Wirklich raffiniert, Nat", murmelte Brian trocken. „Sehr taktvoll und unauffällig." Claudia und Zachary schwiegen und vermieden sorgfältig jeden Blickkontakt. „Also ich halte das für eine tolle Idee", meldete Ned sich zu Wort. „Wir brauchen einen Dad, und die Ritters brauchen eine Mom. Ganz einfach." Ganz einfach? dachte Claudia betrübt. „Neddy, du weißt doch, dass Chief Ritter und ich nur gute Freunde sind", sagte sie zu ihrem Sohn. „O nein, Mom, das stimmt nicht." Natalie seufzte. „Brian und ich sind Freunde, aber du und Chief Ritter, ihr seid viel mehr als das. Warum seht ihr das nicht endlich ein und handelt danach?" Zachary sah sich zum Eingreifen gezwungen, denn Claudia war glutrot angelaufen und offenbar sprachlos. „Natalie, deine Mutter und ich wissen genau, dass du nur von dir und Brian abzulenken versuchst. Wir haben längst gemerkt, dass ihr ... nun ja, füreinander schwärmt." „O nein!" Natalie sah zum Himmel. „Ich stehe auf ältere Männer. Solche wie Seth Albans. Ich wünschte nur, er würde auch auf mich stehen." „Und ich bin noch nicht bereit, mich an eine einzige Frau zu binden", verkündete Brian und versuchte, weltmännisch zu wirken. „Dazu genieße ich meine Freiheit viel zu sehr." „Brian und ich sind wie Bruder und Schwester. Das wollen wir werden, und zwar bald", platzte Natalie heraus. „Was glaubt ihr denn, warum Brian die Smiths gebeten hat, Mom zu ihrer Party einzuladen? Doch nur, damit sie Ihnen begegnen konnte, Chief Ritter", fügte sie für den Fall hinzu, dass die Erwachsenen zu begriffsstutzig waren. „Ihr steckt hinter der Einladung?" fragte Claudia ungläubig. „Halt den Mund", fiel Natalie ihm ins Wort und strahlte Ihre Mutter und Zachary an. „Es ist doch vollkommen gleichgültig, wir ihr euch gefunden habt. Jetzt seid ihr zusammen, und wir alle werden eine große Familie." „Leider hat es nicht funktioniert", sagte Brian traurig. „Dad ging mit Senorita Pierson weg, und wir mussten uns einen neuen Plan einfallen lassen. Zum Beispiel den mit Natalie und der Lei..." „Kinder, ihr seid alle auf dem Holzweg." Zachary begann zu schwitzen, obwohl es hier draußen im Wald gewiss nicht warm war. Im Gegenteil, es wurde immer kälter und schneite immer heftiger. „Außerdem mischt ihr euch in Dinge ein, für die ihr viel zu jung seid." „Ich bin müde und kann nicht mehr laufen", jammerte Megan. Die drei Jüngsten waren die einzigen, die nicht verstanden, wie wichtig dieses Gespräch für alle Beteiligten war. „Mir ist kalt. Ich habe Schnee in den Stiefeln. Kann ich mich auf einen der Bäume setzen?" „Nein!" erwiderten alle bis auf Molly und lan im Chor. Megan begann zu weinen. Claudia nahm sie hoch, und das kleine Mädchen klammerte sich wie ein Äffchen an ihre Mutter. „Warum willst du Claudia nicht heiraten, Dad?" fragte Justin. „Wir wollen, dass du es tust." „Mögen Sie meine Mom denn nicht, Chief Ritter?" Ned klang gekränkt. „Ich finde, wir haben jetzt genug zu diesem Thema gesagt", verkündete Claudia und schaffte es, sich die Anspannung nicht anhören zu lassen. „Lasst uns über etwas anderes reden, ja?" „Zum Beispiel darüber, mit wem du auf die Weihnachtsparty deiner Zeitung gehst?" fragte Natalie wie beiläufig. „Wie heißt er doch noch gleich, Mom? Owen Sowieso? Oder Sowieso Owen?" „Owen Wexler", flüsterte Claudia und versuchte, Natalie mit einem strengen Blick zum
Schweigen zu bringen. „Er schreibt bei euch in der Zeitung über neue Bücher und Filme und kommt umsonst ins Kino, ist das nicht cool?" rief Natalie und warf Brian einen auffordernden Blick zu. „Was wirst du zu deinem Date anziehen, Mom?" „Ein Date?" fragte Robin betroffen. „Und was ist mit Daddy?" „Dad kann mit Senorita Pierson hingehen", sagte Brian. „Was macht es schon, dass sie zu jung ist, zu enge Sachen trägt und ich in der Schule leiden werden, weil alle Witze darüber machen?" „Da ist die Scheune!" rief Claudia. Sie hatte Megan noch immer auf dem Arm, und die Kleine hatte endlich aufgehört zu weinen. „Ich wette, ihr freut euch alle schon auf he ißen Cidre und leckere Donuts." Ihre Fröhlichkeit wies einen verzweifelten Unterton auf. „Du willst mit einem Mann zu eurer Weihnachtsfeier?" fragte Zachary sie mit leiser, aber eisiger Stimme. Die Eifersucht schüttelte ihn wie der Schneesturm die Bäume um sie herum. „Davon hast du mir kein Wort..." „Ich erinnere mich nicht, dass du Senorita Person erwähnt hättest", erwiderte sie. Sie ging schneller, um von ihm wegzukommen, stolperte jedoch, verlor das Gleichgewicht und landete mit Megan im Schnee. Die Kleine fing wieder an zu weinen. Mit grimmigem Gesicht hob Zachary sie auf, während er mit der anderen Hand Claudia auf die Füße riss. „Wir schaffen es allein, danke." Claudia wollte ihm ihre Tochter abnehmen. „Das sehe ich", knurrte Zachary unwirsch. Er hatte Megan unter dem Arm und ließ Claudias nicht los, sondern schleifte sie halbwegs zur Scheune. „Ich glaube, sie streiten sich", sagte Natalie zu den anderen und sah den Erwachsenen nach. „Oder sie sind kurz davor." „Zu erzählen, dass deine Mom ein Date hat, war dumm von dir", murmelte Justin. „Dad ist stinksauer, das merkt man." „Weil er eifersüchtig ist", meinte Robin. „Wenn er eifersüchtig ist, mag er meine Mom. Vielleicht ist er sogar in sie verliebt!" fügte Natalie begeistert hinzu. „Hoffentlich ist er das!" Brian starrte seinen Vater an, der sich die Hände am Lagerfeuer wärmte. Er sah wütend aus, aber nicht verliebt. Claudia half den jüngeren Kindern, sich ihre Erfrischungen zu holen. Brian ging zu seinem Vater. „Dad?" begann er vorsichtig. „Gehst du auch zu der Party, zu der Claudia mit ihrem ... Begleiter geht?" „Nein!" erwiderte Zachary scharf. „Es ist eine Betriebsfeier, nur für die Mitarbeiter der Zeitung. Und versuch ja nicht, mir bei Manny Fisher eine Einladung zu besorgen ", warnte er seinen Sohn. „Ich finde, du und deine junge Komplizin habt bereits genug angerichtet." „Das war alles Natalies Idee", verteidigte Brian sich. „Ich war nur Mitwisser, und wir wollten ..." „Ich möchte nicht darüber reden", unterbrach Zachary ihn so streng, dass Brian überlegte, ob er seinen Vater bitten sollte, ihm seine Rechte vorzulesen. Er schlenderte dorthin, wo Claudia stand, umringt von ihren und Zacharys Kindern. „Sind Sie jetzt böse auf mich und Natalie?" fragte Brian sie geradeheraus. Sie sah nicht böse aus, aber er wollte lieber nachfragen. \ „Natalie und mich", verbesserte Claudia. Dann seufzte sie. „Nein, ich bin nicht böse, Brian. Ich bin wirklich froh, dass ich dich, deine Schwester und deine Brüder kennenge lernt habe. Und ihr sollt wissen, dass ihr vier in unserem Haus immer willkommen seid." „Wir vier? Mein Dad nicht?" Brian sah zu seinem Vater hinüber, der noch immer mit finsterem Gesicht am Feuer stand. „Dein Vater auch. Er und ich sind Freunde", beharrte Claudia, obwohl die Art, wie
Zachary sie ansah, alles andere als freundschaftlich war. Plötzlich ritt sie der Teufel, und sie winkte ihm lächelnd zu. Dass er weder das Lächeln noch das Winken erwiderte, erstaunte sie kein bißchen.
9. KAPITEL
Der Schneesturm schien langsam, aber sicher zu einem ausgewachsenen Blizzard zu werden. Die Sicht nahm immer mehr ab, und die Scheibenwischer schafften es auch in der höchsten Stufe nicht, die dicken weißen Flocken schnell genug zur Seite zu befördern. Zachary murmelte eine Verwünschung nach der anderen, während er den Wagen über die glatte Straße steuerte. Claudia sollte eigentlich hinter ihm herfahren, aber es war fast unmöglich, ihr Auto im Rückspiegel zu erkennen. Die Heckscheibenheizung kam gegen den dichten Schnee nicht an. Die Kinder spürten seine Anspannung und schwiegen. Hin und wieder warf Zachary einen Blick zu Brian hinüber und nach hinten, wo die drei Jüngeren saßen. Sie sahen alle niedergeschlagen und verängstigt aus, und er wusste, dass sie sich nicht vor dem Schneesturm fürchteten. Sie glaubten, das harmonische Zusammensein mit den Nolans wäre endgültig vorüber, und gaben ihrem Vater die Schuld daran. Zachary fand das alles entsetzlich unfair. Was konnte er denn dafür, wenn Claudia mit einem anderen Mann ausging? Er dachte daran, wie sie an jenem ersten Abend auf der Party der Smiths ausgesehen hatte. In dem roten Kleid, lächelnd, mit funkelnden Augen, hinreißend sexy. Vielleicht würde sie das Kleid auch zur Betriebsfeier tragen und ihren Begleiter so anlächeln! Zachary packte das Lenkrad noch fester und presste die Lippen zusammen, bis sein Mund zu einem schmalen Strich wurde. Der Gedanke, dass Claudia mit einem anderen Mann zusammen sein würde, war unerträglich, und er war wütend auf sie, weil sie sich mit diesem Owen verabredet hatte. Und wütend auf sich selbst, weil es ihm etwas ausmachte. Nach den Regeln der Freundschaft hätte er ihr eigentlich zu ihrem Begleiter gratulieren müssen! Immerhin kam der Typ umsonst ins Kino! Im Wagen hinter Zachary umklammerte Claudia voller Angst das Lenkrad. Da sie ihr ganzes Leben in Südflorida verbracht hatte, war sie noch nie auf einer verschneiten Straße gefahren, und dieser Sturm war selbst für Winterveteranen eine echte Herausforderung. Die Scheibenwischer kämpften einen verlorenen Kampf gegen die weiße Masse. Claudia sah nichts mehr, nicht einmal Zacharys Wagen, dem sie folgen sollte. Auf dem Rücksitz sangen Molly und Megan zum dreißigsten Mal „Jingle Beils", während Ned nach draußen starrte und laufend Kommentare wie „grauenhaft" und „cool" von sich gab. Er hatte noch keinen Blizzard erlebt und genoss vom warmen Auto aus das Naturschauspiel. Natalie saß still auf dem Beifahrersitz. „Ich habe Angst, Mom", flüsterte sie schließlich, um die Kleinen nicht zu erschrecken. „Es wäre schön gewesen, sich langsam daran gewöhnen zu können, wie man auf Schnee fährt", sagte Claudia wie beiläufig, da sie Natalie nicht noch mehr ängstigen wollte. „Du weißt schon, erst ein paar vereinzelte Flocken, dann ein oder zwei Zentimeter, um erst einmal Erfahrung zu sammeln, anstatt gleich beim ersten Mal in einem heulenden Blizzard zu landen." Der Wind schüttelte den Wagen. „Mom, was ist schlimmer, ein Blizzard oder ein Wirbelsturm?" fragte Ned neugierig. Claudia blieb keine Zeit, ihm zu antworten. Der Sturm drückte den Wagen zur Seite, um ihn herum war nur noch Weiß, dann stießen sie gegen etwas. „Mom, da liegt ein Baum mitten auf der Straße!" rief Natalie genau in dem Moment, in dem sie damit kollidierten. Die Tanne lag quer über der Straße und versperrte ihnen den Weg. Selbst wenn sie sie rechtzeitig bemerkt hätten, wäre sie nicht zu umfahren gewesen. Claudia hätte den Wagen nach dem Aufprall vielleicht unter Kontrolle bekommen können, wenn die Straße nicht so glatt gewesen wäre. Doch auf der dicken Eisschicht, die sich gebildet hatte, drehte der Wagen sich mehrmals, bevor er von der Straße rutschte. „Das macht Spaß!" jubelte Megan. Der Wagen landete im Graben und wäre fast umgekippt. Da alle Insassen angeschnallt
waren, passierte ihnen nichts, und sie saßen sicher und warm auf ihren Sitzen, wenn auch in Schräglage. „Spaß?" erwiderte Natalie. „Es macht in etwa soviel Spaß wie Nachsitzen, wenn sich nebenan das Orchester mit ,Stille Nacht, heilige Nacht' abquält." „Es ist wie die Achterbahn in Disney World!" begeisterte sich Molly. „Wir sitzen schief." „Wie sollen wir hier herauskommen, Mom?" fragte Ned. „Vorsichtig", erwiderte Claudia grimmig. „Sehr vorsichtig." „Es ist etwas passiert, Dad", sagte Brian, als die orkanartige Bö ihren Wagen schwanken ließ. Es gab ein dumpfes Geräusch, dann polterte es mehrmals, schließlich war nur noch das unheimliche Heulen des Winds zu hören. „Ich weiß." Zachary bremste behutsam. Als der Wagen endlich stand, öffnete er die Tür, und vom Rücksitz kam Protest und Jubel, als eine Ladung Schnee ins Innere geweht wurde. Voller Besorgnis stieg Zachary aus und stellte entsetzt fest, dass der frisch geschlagene Weihnachtsbaum nicht mehr auf dem Dachgepäckträger lag. Er stieg wieder ein. „Der Baum ist vom Dach geweht." „O nein!" jammerte lan. „Müssen wir jetzt einen neuen holen?" Justin fand die Vorstellung schrecklich. „Lass uns umkehren und ihn suchen, Dad", bat Robin. „Dad, wenn er nun auf die Straße gefallen und Claudia damit zusammengestoßen ist?" flüsterte Brian seinem Vater zu. „Genau das befürchte ich", knurrte Zachary. Seine Besorgnis wuchs mit jedem Herzschlag. Die Sicht nach vorn und hinten betrug keinen Meter mehr, und weder Claudias Wagen noch der verschwundene Baum waren deshalb zu erkennen. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis er den Wagen vorsichtig gewendet hatte und zurückfahren konnte. „Ich finde das hier nicht mehr gut", sagte Molly ein wenig weinerlich und versuchte, sich aufzusetzen. Es war unmöglich. Jede Bewegung der Insassen hatte den Wagen immer weiter nach unten rutschen lassen, und jetzt lag er auf der Seite. Ned streckte den Kopf durchs Fenster. „Es ist wie in einem U-Boot, und ich bin der Kapitän am Sehrohr", sagte er fröhlich. „Junge, das schneit hier draußen vielleicht!" Er zog den schneebedeckten Kopf wieder herein und schloss das Fenster, was bei der Schräglage keine leichte Aufgabe war. „Mom, warum kommt Zachary nicht zurück und holt uns?" fragte Natalie. „Schließlich war es sein blöder Baum, der uns das hier eingebrockt hat. Da könnte er uns wenigstens retten!" „Wahrscheinlich weiß er gar nicht, was geschehen ist", erklärte Claudia mutlos. „Die Sicht ist so gering, dass er uns nicht bemerkt." „Und wenn er nun genau weiß, was los ist, und nur deshalb nicht umkehrt, weil wir ihm egal sind?" überlegte Natalie laut. „Ich glaube, ich hätte das mit deiner Verabredung für die Weihnachtsfeier nicht erwähnen sollen. Ich wollte ihn ein wenig eifersüchtig machen, aber wenn wir ihm jetzt einfach nur gleichgültig geworden sind? Oder er uns sogar hasst? Vielleicht hofft er, dass wir erfrieren." „Natalie, spar dir deine Schreckenstheorien für später auf", sagte Claudia verärgert. „Ich frage mich jetzt nur, ob wir im Wagen bleiben oder aussteigen und Hilfe holen sollen?" „Wo denn? Hier ist meilenweit nur Wald", erwiderte Natalie. „Dann bleiben wir und warten", entschied Claudia. „Was für ein Abenteuer", versuchte sie, tapfer zu klingen. „Unser erster Blizzard!" Megan war nicht aufzuheitern. „Ich will nach Hause!" schluchzte sie. Als erstes stießen die Ritters auf die ziemlich lädiert aussehende Tanne, die noch immer quer über der Straße lag. Zachary und Brian zogen sie zur Seite und stiegen wieder in den Wagen, um die Suche nach den Nolans fortzusetzen. „Sie müssen in der Nähe sein", meinte Zachary, während er vorsichtig anfuhr. „Wir werden sie bald finden, da bin ich sicher." Und wenn er sie gefunden hatte, würde er besser auf sie aufpassen, schwor er sich. Wenn
er sich nicht wie ein eifersüchtiger Idiot benommen hätte, wäre ihm klargeworden, in welche Gefahr er Claudia gebracht hatte. Er hätte nicht zulassen dürfen, dass sie, die aus Florida stammte, sich ganz allein ihrem ersten Winter in Port Mason stellte! Sicher, sie hätte protestiert, wenn er sie und ihre Kinder einfach in seinen Wagen geladen hätte, und ihn vermutlich als herrschsüchtigen Macho bezeichnet, aber sie würde eben lernen müssen, dass es Situationen gab, in denen er das Kommando hatte. Es würde sehr lange dauern, ihr das beizubringen, aber Zachary war sicher, dass er es irgendwann schaffen würde. „Dad, ich glaube, ich sehe ihren Wagen!" rief Brian einige Minuten später. Er hatte sich aus dem Fenster gebeugt und hielt tapfer den Kopf in den eisigen Wind, um nach den Nolans Ausschau zu halten. „Er liegt auf der Seite im Graben unterhalb der Straßenböschung!" „Und wenn sie nun tot sind?" wimmerte Robin. lan brach in Tränen aus. „Ihr Kinder bleibt im Wagen", befahl Zachary, bevor er ausstieg und sich durch den heulenden Sturm zum umgestürzten Wagen der Nolans vorkämpfte. Der Puls dröhnte ihm in den Ohren, und er hatte die tränennassen Gesichter der Kleinen vor Augen. Als er den Wagen erreichte, konnte er nicht hineinsehen, also klopfte er gegen die Scheibe. Zugleich überlegte er, was er tun sollte, falls die Insassen sich nicht aus eigener Kraft befreien und ihm auch nicht helfen konnten, sie herauszuholen. Langsam öffnete sich das Fenster. Es war Ned, der mit aller Kraft an der Kurbel drehte. „Zachary!" rief er erleichtert, und trotz seiner Besorgnis registrierte Zachary, dass der Junge ihn zum ersten Mal beim Vornamen und nicht Chief oder Mr. Ritter genannt hatte. „Ich wusste, dass du kommen würdest!" „Natalie meinte, du würdest hoffen, dass wir hier erfrieren", sagte eins der Zwillingsmädchen schluchzend und streckte die Arme nach ihm aus. „Ich würde nie zulassen, dass dir etwas zustößt, Keks", erwiderte er und zog sie ins Freie. „Das kann ich dir versprechen." Es gelang ihm, die Beifahrertür zu öffnen, und er half den Nolans einem nach dem anderen heraus. Brian hatte die Anweisung, im Wagen zu bleiben, missachtet und war ihm gefolgt. Jetzt half er seinem Vater bei der Rettungsaktion. „Brian, Natalie, bringt die kleinen in unseren Wagen", befahl Zachary und griff nach Claudia, die gerade allein ins Freie zu klettern versuchte. Er packte sie unter den Armen und hob sie aus dem Wagen, so mühelos, wie er es mit ihren Kindern getan hatte. Sie schwebte über dem Boden, schwankte im Wind und griff instinktiv nach etwas Festem, um Halt zu finden. Zachary. Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals. „Jetzt umklammere mich mit den Beinen, damit ich dich zum Wagen tragen kann", sagte er. Claudia zögerte. Blizzard oder nicht, was er verlangte, war unglaublich intim. Doch dann kam sie sich plötzlich lächerlich vor. Intim! So ein Unsinn! Er war ein Polizist, der sie aus einem umgestürzten Wagen rettete, um Himmels willen! Sie schlang die Beine um seine Taille, doch als ihre Blicke sich trafen, sah sie in seinen Augen ein Verlangen, das mit einer polizeilichen Rettungsaktion nichts zu tun hatte. „Du wirst mit dem Kerl nirgendwo hingehen", sagte Zachary, als er sie über die Straße trug. „Wenn du unbedingt zu der Party willst, werde ich dich begleiten." Der schneidende Wind trieb ihr Tränen in die Augen. Sie legte die Stirn an seine Brust, um Schutz vor der eisigen Kälte zu suchen. Und auch vor Zacharys durchdringendem Blick. „Geht das für eine Freundschaft nicht etwas zu weit?" sagte sie. Sein Seufzen übertönte sogar den heulenden Wind. „Du willst mich zwingen, es auszusprechen, nicht wahr?" „Was auszusprechen?" Sie lächelte heimlich. „O ja, du lässt nicht locker." Zachary lachte. „Okay, Ms. Nolan, diese Runde geht an Sie. Ich gestehe es. Meine Gefühle für dich sind viel tiefer als rein freundschaftliche. Ich will
dich, und du weißt es. Selbst inmitten eines Blizzard mit acht ängstlichen Kindern in meinem zwei Meter entfernten Wagen will ich dich so sehr, dass ich es kaum noch aushalte." Sie schlang die Beine noch fester um ihn, und eine herrliche Wärme durchströmte ihren Bauch. Sie begehrte ihn so sehr, wie er sie begehrte, selbst in dieser ungewöhnlichen Situation. Aber sie war noch nicht bereit nachzugeben. „Du willst mich, obwohl ich vier Kinder habe und du dir geschworen hast, Müttern und möglichen Stiefkindern aus dem Weg zu gehen?" Sie hob den Kopf und sah ihn an. „Ich will dich", wiederholte er und schaute ihr sehnsüchtig in die Augen. „Und irgendwie sind deine Kinder keine Abschreckung mehr, sondern ein zusätzlicher Reiz." Sie hatten den Wagen erreicht, und er stellte Claudia auf die Füße. „ Du... bist nicht böse, dass dein ältester Sohn und meine älteste Tochter uns manipuliert haben?" fragte sie ein wenig nervös. Zachary war ein Mann, der gern alles unter Kontrolle behielt, doch jetzt hatten zwei Teenager entscheidend in sein Leben eingegriffen. „Und wenn du nun tief in deinem Inneren ..." „Tief in meinem Inneren bin ich den beiden Verschwörern dankbar. Obwohl ich fest davon überzeugt bin, dass wir zwei uns irgendwann auch ohne ihre Hilfe gefunden hätten." „Als ob es unser Schicksal ist?" Er lächelte. „Ich bin romantisch genug, um an Wunder zu glauben, zumal in dieser Jahreszeit." Sie standen dicht beieinander, vom wirbelnden Schnee umweht. Fast unmerklich hob Claudia das Gesicht und sah auf seine Lippen. Zachary zog sie an sich und küsste sie. Lange, zärtlich und voller Gefühl. Claudia wurden die Knie weich, und sie musste sich erneut an ihm festhalten, während sie ihrem Verlangen nachgab und ihm zugleich ein Versprechen gab. „Sie küssen sich!" rief Natalie im überfüllten Inneren des Wagens. Hastig wischte sie die beschlagene Scheibe frei, um den schönen Anblick noch mehr genießen zu können. „Ich glaube, unser größter Weihnachtswunsch geht gerade in Erfüllung!" „Hoho", jubelte Brian, während er Natalie in die erhobene Hand klatschte. „Laßt uns ,Jingle Be lls' singen!" schlug Megan glücklich vor. „Nein, wir bellen wie die Hunde, die man bei dem Lied immer hört", rief lan. „Cool!" meinte Ned, bevor er in Megan und lans Gebell einstimmte. Molly, Robin und Justin schlössen sich ihnen an. Natalie und Brian wechselten einen vielsagenden Blick. „Viel schlimmer als unser Schulchor klingen sie auch nicht", sagte Brian tröstend. Draußen zwang der schneidende Wind Zachary und Claudia dazu, die zärtliche Umarmung zu beenden. Nur widerwillig lösten sie sich voneinander und gingen langsam auf den Wagen zu. Mit geröteten Gesichtern und leidenschaftlichem Blick sahen sie sich an. „Unglaublich, was für eine Wirkung du auf mich hast!" Zachary lächelte. „Ich höre Glockenläuten." Im Wagen schwenkte lan eine kleine Kette mit bunten Glöckchen, um den Hundechor der Kinder musikalisch zu begleiten. „Ich höre Gebell." Claudia lauschte und zog die Augenbrauen hoch. „Und zwar von Hunden, die sich verdächtig nach unseren musikalisch völlig unbegabtem Nachwuchs anhören." Lachend fielen sie einander in die Arme. „Dies wird ein wirkliches interessantes Werben", sagte Zachary. Claudia musste über den altmodischen Ausdruck lächeln, aber irgendwie passte er zu Zachary. „Du willst also um mich werben?" „Ich glaube, das tue ich, seit wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Aber ab jetzt werde ich es viel gründlicher tun. Viel romantischer", fügte er hinzu. „Und ich fange sofort damit an." Er öffnete ihr die Wagentür. „Es ist zwar kein offener Pferdeschlitten, aber den werde
ich dir am nächsten Wochenende bieten. Nur wir beide ... und ohne Blizzard." Sie stieg ein und schmiegte sich an ihn, als er losfuhr. „Ich kann es kaum abwarten."
10. KAPITEL
Ein Jahr später Bei Claudia und Zachary Ritters Hochzeit läuteten die Kirchenglocken, als das Brautpaar durchs Portal in den sonnigen Wintertag hinaustrat. Alle sangen „ Joy to The World" und lächelten Claudia und Zachary zu, die Mühe hatten, sich zwischen den vielen Gratulanten hindurch einen Weg zur wartenden Limousine zu bahnen. „Es ist äußerst ungewöhnlich, dass Braut und Bräutigam ihrem eigenen Hochzeitsempfang fernbleiben", sagte Claudias Mutter zu Zacharys Mutter, als sie von der Kirchentreppe aus ihren Kindern nachsahen. Am Straßenrand standen ihre acht Enkelkinder und winkten dem davonfahrenden Wagen nach. Die vier Mädche n sahen in ihren langen roten Samtkleidern ebenso hübsch aus wie die vier Jungen in den gemieteten Smokings mit roter Fliege und rotem Kummerbund. „Ich habe versucht, sie zu überreden, wenigstens noch eine Stunde zu bleiben, aber Zachary ließ sich nicht umstimmen. Er meinte, die Gäste sollten sich amüsieren, während er mit seiner Frau nach Key West fliegt", erwiderte die Mutter des Bräutigams. „Sie haben mich nicht einmal gebeten, ihnen ein Stück von der Hochzeitstorte aufzuheben!" „Ich kann verstehen, dass die beiden es kaum abwarten können, endlich einmal allein zu sein", meinte Claudias Vater. „Schließlich haben sie ihre einjährige Verlobungszeit zusammen mit acht Kindern verbracht! Das finde ich weitaus ungewöhnlicher als die Tatsache, dass sie es nicht abwarten können, in die Flitterwochen zu fliegen." „Ich kann es sehr gut verstehen", sagte Zacharys Stiefvater. „Acht Kinder! Allein bei der Vorstellung wird einem schwindlig!" „Und wenn ich Zachary so höre, glaube ich, er und Claudia hätten sehr gern noch eins." Zacharys Mutter bekamen einen verträumten Blick. „Es wird ein Haus mit deinen, meinen und unseren Kindern, wie romantisch!" „Sie lieben sich so sehr." Claudias Mutter wischte sich eine Träne ab. „Ich bin überglücklich. Obwohl eine Hochzeit im Sommer noch schöner gewesen wäre. Dieses kalte Wetter ist scheußlich." „Mom und Zachary meinten, dass sie sich kurz vor Weihnachten kennengelernt haben und deshalb auch kurz vor Weihnachten heiraten wollten", verkündete Natalie. „War es nicht eine wunderbar romantische Hochzeit?" Darin waren sich alle Anwesenden einig. „Ein Toast, Mrs. Ritter?" Zachary nahm die Flasche aus dem Eiskübel auf dem Rücksitz und ließ den Korken knallen. Der Champagner war eine Aufmerksamkeit der Port Mason Daily Press, die Limousine und die Motorradeskorte hatte die Polizei der Stadt für das Brautpaar arrangiert. Sie ließen die Gläser klingen und nahmen einen Schluck. „Unsere Mütter waren ein wenig entsetzt darüber, dass wir den Empfang schwänzen", meinte Cla udia. „Aber ich glaube, alle anderen haben Verständnis dafür." Zachary stellte die Gläser ab und zog Claudia an sich. „Ich kann es kaum abwarten, eine ganze Woche allein mit dir zu verbringen. Bisher musste jede Stunde sorgfältig im voraus geplant werden." „Wir waren im letzten Jahr sehr einfallsreich." Sie streichelte seine Wange. „Weißt du noch, wie wir zum ersten Mal miteinander geschlafen haben?" Er lächelte. „Wir hatten alles perfekt organisiert. Sämtliche Kinder waren bei mir zu Hause, damit wir dein Haus ganz für uns allein hatten." „Wir haben ihnen erzählt, dass wir erst essen gehen und dann ins Kino wollten." „Aber wir haben die ganzen viereinhalb Stunden im Bett verbracht." Seine Augen leuchteten. „Unsere Kinder halten uns für begeisterte Kinogänger, weil wir uns jede Woche mehrere Filme anschauen. Gut, dass sie uns nie nach der Handlung fragen. Abgesehen von den gemeinsamen Besuchen, wenn wir zu zehnt ins Kino einfallen und tonnenweise Popcorn kaufen, war ich seit einem Jahr nicht mehr im Kino."
Er küsste sie. „Ich muss sagen, es fehlt mir nicht. Ich bin viel lieber mit dir allein, denn du faszinierst mich mehr als jede Frau auf der Leinwand." Sie schloss genießerisch die Augen, als er ihre Brüste streichelte und ein sinnliches Kribbeln ihren Körper durchlief. Claudia dachte an die erste Nacht, die sie mit Zachary verbracht hatte, und an all die aufregenden, erotischen Erlebnisse danach. Er war ein leidenschaftlicher Liebhaber, der jeden der Wünsche, die er in ihr weckte, auch auf zärtlichste Weise erfüllte. Sie hatte nie gewusst, dass es so sein konnte, dass Geben und Nehmen sich so herrlich ergänzen konnten. Sie hatte nie geahnt, dass sie so sehr begehren konnte, und zu spüren, dass Zachary sie ebensosehr begehrte, setzte ihre ganze Sinnlichkeit frei und raubte ihr alle Hemmungen. „Meine süße Frau." Er strich mit den Lippen über ihre Stirn und die Wange, bevor er sie behutsam küsste. „Habe ich dir schon gesagt, wie schön du heute bist?" flüsterte er, während er die Hand über ihre Schulter, die Taille und schließlich zum Schenkel wandern ließ. Claudia beobachtete, wie seine kräftigen Finger sie durch das weiche weiße Kleid hindurch streichelten, und der Anblick ließ sie daran denken, wie sich sein fester, athletischer Körper an ihrer weichen Haut anfühlte. Sie betrachtete den neuen goldenen Ehering, den er an der linken Hand trug, und sah dann auf ihren. Er war ihr Ehemann, jetzt gehörte er endlich zu ihr, und sie war fest entschlossen, ihn nie wieder herzugeben. „O Zachary", flüsterte sie überglücklich. „Ich liebe dich so sehr." „Und ich liebe dich, mein Schatz." Er zog sie auf den Schoß. „Wie lange dauert der Flug nach Key West?" fragte er, den Mund an ihrem Hals. „Ein paar Stunden, ohne die Wartezeit am Flughafen." Er stöhnte. „Ich weiß nicht, ob ich so lange warten kann." Er schob die Hand unter ihren Rock, und das Verlangen durchzuckte sie so heftig, dass ihr der Atem stockte. Er berührte sie dort, wo sie es sich am sehnlichsten wünschte, und sie genoss es einige Sekunden lang, bevor sie widerstrebend von seinem Schoß glitt. „Wir sollten damit aufhören, sonst wird unser Chauffeur der Polizei von Port Mason ziemlich interessante Dinge zu erzählen haben." Claudia lächelte hinreißend. „Okay, wir lenken uns einfach ab, indem wir alle Geschenke aufzählen, die in ,Twelve Days of Christmas' genannt werden. Das erste ist ein Rebhuhn im Birnbaum. Du bist dran." „Zwei goldene Hennen? Zwei Waldhörner?" Er überlegte. „Ich weiß es nicht, und es ist mir auch egal. Wenn du mich wirklich ablenken willst, frag mich nach dem Stand der FootballMeisterschaft." Claudia nahm seine Hand und küsste sie. „Ich habe eine noch bessere Idee. Erzähl mir, wann du wusstest, dass du mich liebst und mich heiraten wolltest." „Ich kann mich nicht erinnern, es überhaupt jemals nicht gewusst zu haben, Claudia", erwiderte Zachary ernst. „Und das vergangene Jahr mit dir und allen unseren Kindern hat mich nur darin bestätigt. Du bist die Liebe meines Lebens." Sie legte den Kopf an seine Schulter und schob die Finger zwischen seine. „ Jeff und ich haben gleich nach der High School geheiratet und unsere ganze Ehe damit verbracht, etwas aus uns zu machen und unseren Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen. Als er starb, war ich so tief erschüttert, dass ich sicher war, nie wieder einen Mann lieben zu können. Ich wollte es nicht einmal versuchen. Und dann begegnete ich dir, Zachary. Ich brauchte gar nicht zu versuchen, dich zu lieben. Es geschah einfach von selbst, und selbst wenn ich gewollt hätte, hätte ich mich nicht dagegen wehren können." Sie lächelte verträumt. „Ich habe nie gewusst, dass die Liebe so sein kann wie mit dir." „Womit du mir etwas umständlich sagen willst, dass auch ich die Liebe deines Lebens bin, habe ich recht?" fragte Zachary. „Ja, das will ich. Und dich zu heiraten und vier weitere großartige Kinder zu bekommen ist das schönste Weihnachtsgeschenk, das ich je erhalten habe." „Genau das fühle ich auch, Liebling", flüsterte er.
Sie trafen früh genug in Key West ein, um in einem Restaurant am Ufer unter blauweißen Girlanden und blauweiß blinkenden Lichterketten zu Abend zu essen. „Den Kindern würde es hier nicht gefallen", stellte Zachary fest, nachdem er den letzten Bissen Key Lime Pie verspeist hatte. „Kein Schnee. Ich musste ihnen versprechen, dass wir gleich nach unserer Rückkehr zu Emersons' Weihnachtsbaumfarm fahren und die Tradition fortsetzen, die wir im vergangenen Jahr begonnen haben." „Die Tradition, einen Baum auf der Straße zu verlieren und in einem Blizzard festzusitzen?" fragte Claudia lächelnd. „Das war der Tag, an dem ich wusste, wie meine Zukunft aussah. An dem ich wusste, dass du meine Zukunft bist." Eine kleine Band spielte eine romantische Melodie, und er nahm ihre Hand. „Tanzen Sie mit mir, Mrs. Ritter." Claudia kam der Aufforderung nur zu gern nach. Zachary führte sie auf die kleine Tanzfläche, sie schmiegte sich in seine Arme, und eng umschlungen bewegten sie sich zur Musik. „Es fühlt sich so richtig an", flüsterte sie. „Unglaublich richtig, mein Liebling." Sie tanzten noch eine Weile und schlenderten Hand in Hand durch Seitenstraßen zu ihrem Hotel zurück. Eine tropische Brise ließ die Fahnen hoch über ihnen rascheln. Obwohl fast jedes Schaufenster weihnachtlich dekoriert war, war der Kontrast zu den Winterabenden in Port Mason gewaltig. „Fehlt es dir, das ganze Jahr hindurch gutes Wetter zu haben?" fragte Zachary und warf einen Blick auf ihr Sommerkleid und sein Poloshirt. Zu Hause hätten sie jetzt dicke Daunenjacken tragen müssen. Claudia schüttelte den Kopf. „Eigentlich nicht. Ich finde den Wechsel der Jahreszeiten aufregend. Und Schnee ist für mich noch immer etwas aus dem Märchen!" Sie lächelte glücklich, denn alles war so romantisch, wie sie es sich immer erträumt hatte. Dies war ihre Hochzeitsnacht! Sie fühlte sich wie die Heldin in einem Märchen und durchlebte gerade das Happy-End mit dem Helden. Und ein Polizeichef gab einen wunderbaren Märchenprinzen ab. Dass auch Zachary eine romantische Ader besaß, bewie s er, indem er sie über die Schwelle der Hochzeitssuite trug und behutsam auf das breite Bett gleiten ließ. Nur ein kleiner, zwar künstlicher, aber grüner Weihnachtsbaum erhellte das Zimmer mit seinen bunten Lichtern. Und dann gab es nur noch sie beide, während sie das Versprechen feierten, das sie einander an diesem Tag gegeben hatten. Ihr Verlangen wuchs, bis sie in Liebe und Leidenschaft zueinander kamen und mit ihren Körpern auch ihre Seelen verschmolzen. Danach lagen sie aneinandergeschmiegt da und sahen zu den bunten Lichtern des kleinen Baums hinüber. „Wir passen so gut zusammen", flüsterte Claudia und strich Zachary eine Locke aus der Stirn. „Wie füreinander geschaffen", erwiderte er und sah ihr in die Augen. „Glaubst du, dass wir im nächsten Jahr um diese Zeit auf die Geburt unseres Babys warten werden?" fragte sie. „Wenn es ein Mädchen wird, können wir es Holly oder Joy oder Noelle oder Christy nennen." Zachary küsste sie. „Und wenn es ein Junge ist, können wir ihn Zachary junior nennen." „Wie weihnachtlich." Sie lächelte. „Aber zufällig liebe ich diesen Namen. Und Zachary senior." „Und ich liebe dich, mein Engel. Fröhliche Weihnachten, Claudia." Sie drückte ihn zärtlich an sich. „Fröhliche Weihnachten, Zachary." -ENDE