Sophie von Glinski Imaginationsprozesse
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
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Sophie von Glinski Imaginationsprozesse
Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von
Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer
Herausgegeben von
Ernst Osterkamp und Werner Röcke
31 (265)
≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York
Imaginationsprozesse Verfahren phantastischen Erzählens in Franz Kafkas Frühwerk
von
Sophie von Glinski
≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York
Gedruckt mit Unterstützung der Johanna und Fritz Buch-Gedächtnisstiftung.
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 3-11-018144-4 ISSN 0946-9419 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2004 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin
Dank Wer ein Buch über Kafka schreibt, gerät leicht in Gefahr, einer Figur dieses Autors ähnlich zu werden – etwa jenem Studenten, der sich „für den Fall der Pferde von Elberfeld sehr interessiert und alles was über diesen Gegenstand im Druck erschienen war genau gelesen und überdacht hatte“, und sich dann entschloß, „auf eigene Faust Versuche in dieser Richtung anzustellen und die Sache von vornherein ganz anders und nach seiner Meinung unvergleichlich richtiger anzufassen als seine Vorgänger“.1 In Kafkas Texten gibt es viele Figuren, die sich mit großem Ehrgeiz in ein gedankliches Labyrinth hineinarbeiten, das durch ihr unablässiges Räsonieren immer verwickelter wird. Was diese angestrengt Forschenden eigentlich antreibt, bleibt unklar. Deutlich aber ist, daß ein ähnlicher Impetus auch von den Texten selbst ausgeht. Kafkas Geschichten, die von verzweifelten Bemühungen erzählen, etwas Unerkennbares aufzuklären, haben zu einem bis heute nicht enden wollenden Nachdenken geführt: Der Text präfiguriert die Lektüre. Dafür, daß meine Forschungen an diesen Texten nicht so fruchtlos geblieben sind wie die Versuche mit den „denkenden Pferden von Elberfeld“, möchte ich all jenen danken, die die Entstehung dieser Studie begleitet haben. Professor Dr. Norbert Miller hat die vorliegende Arbeit als Dissertation an der TU Berlin betreut und ihre Fragestellung und Methodik geprägt. Seine Genauigkeit im Umgang mit Texten hat meine Aufmerksamkeit für die Feinheiten von Kafkas Schreibweise immer aufs neue geschärft; seinen Analysen des traumähnlichphantastischen Erzählens bei Kafka und in der europäischen Romantik verdanke ich entscheidende Anregungen. Professor Dr. Reinhard Baumgart (†) möchte ich herzlich dafür danken, daß er meine Überlegungen kritisch begleitet und mit großem Wohlwollen begutachtet hat. Seine Auseinandersetzung mit Kafkas Frühwerk2 gehört zu den wichtigsten Referenztexten der Arbeit. Professor Dr. Hella Tiedemann hat das Fortkommen des Projekts in vielen Gesprächen mit großem Interesse und Verständnis gefördert. Dr. Hans-Gerd Koch, der Redaktor
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E 216. Mit der Erwähnung der „Pferde von Elberfeld“ bezieht Kafka sich wohl auf die von Maurice Maeterlinck untersuchten „denkenden“ oder „rechnenden Pferde von Elberfeld“, die das Ergebnis einer Mathematikaufgabe scheinbar selbständig ermitteln und durch Hufscharren anzeigen konnten (vgl. Chronik, S. 118). Reinhard Baumgart: Selbstvergessenheit. Drei Wege zum Werk: Thomas Mann, Franz Kafka, Bertolt Brecht, Frankfurt/M. 1989.
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Dank
der Kritischen Kafka-Ausgabe, hat mir wichtige Einsichten in die Zusammenhänge von Kafkas Leben und Werk vermittelt. Zu den Voraussetzungen, die meine Arbeit ermöglicht haben, gehören ein Stipendium der Nachwuchsförderungs-Kommission des Landes Berlin sowie ein Arbeitszimmer im Hause von Dr. Giovanna Morelli und Dr. Reiner Helmuth. Ihnen sei für ihre Gastfreundschaft mit großem Nachdruck gedankt. Mein herzlicher Dank gilt auch Sabine Jainski, Dr. Alexandra Kleihues, Dr. Mirjam Schaub und Dr. Franziska Uhlig für viele ermutigende Gespräche und kritische Anmerkungen. Susanne Roggemann und Tomas Didier haben mir bei der Einrichtung der Druckvorlage große Hilfe geleistet. Schließlich danke ich den Herausgebern, Professor Dr. Ernst Osterkamp und Professor Dr. Werner Röcke, für die freundliche Aufnahme der Studie in ihre Reihe. Stuttgart, im März 2004 Sophie von Glinski
Inhaltsverzeichnis Dank .............................................................................................................V Einleitung 1. Erzählen in Kafkas Frühwerk ......................................................................... 1 2. Phantastisches Erzählen und „imaginative Schreibart“ ..................... 5 2.1 Traum oder Wirklichkeit? Phantastisches als Topos der Kafka-Rezeption ........................................................................................... 5 2.2 Die Forschungsdiskussion zur Phantastik bei Kafka .................................... 7 2.3 Phantastik als Rezeptionseffekt ....................................................................... 14
3. Zur Methode ......................................................................................................... 17 I
Beschreibung eines Kampfes
1. Einleitung ............................................................................................................... 26 2. Phantastische Experimente: Erzählen in Kafkas „Novelle“ ........... 30 2.1 Versuch einer Bestimmung ............................................................................... 30 2.2 Schwellenüberschreitung als Erzählprinzip..................................................... 31 Zum Verhältnis von Handlungsentwicklung und Erzählvorgang (31) Übergang in eine innere Realität (34) Selbstreflexion des Erzählens als Sprachbewegung (37) Fiktion, Phantasie, Träumerei: Möglichkeitsformen des Erzählens (38) „Ritt“ und „Spaziergang“: Erzählen als Phantasmagorie (40) Operationen auf der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit (43) 2.3 Erzählen im Zeichen des Traums .................................................................... 44 Endpunkt der Erzählmöglichkeiten (44) Träumendes Erzählen in Kafkas Frühwerk (47)
3. Die Macht der Sprache: Literarische Selbstbegründung .................. 49 3.1 Philosophische und poetologische Reflexion ................................................. 49
VIII
Inhaltsverzeichnis
3.2 Die Erzählung „Der Dicke“: Allegorie einer ästhetischen Existenz .......... 51 3.3 Die „Beter“-Erzählungen: „Seekrankheit auf festem Lande“...................... 54 Schwankendes Unglück (54) Vergessene Namen (56) Versinkende Wirklichkeit (64) Der Aufruhr der Dinge (67) Sprach-Magie? (70) Literarische Selbstbehauptung und papierene Existenz (72) Die Bäume: Aufhebung der Erzählbewegung (76) 3.4 Rückkehr in die Rahmenerzählung: „Der Beweis, daß es unmöglich ist zu leben“ ............................................... 78
4. Schluß ....................................................................................................................... 79 4.1 Résumé ................................................................................................................. 79 4.2 Perspektiven ........................................................................................................ 82
II Betrachtung 1. Einleitung ................................................................................................................ 84 1.1 Von der Beschreibung eines Kampfes zu Betrachtung ............................................. 84 1.2 Betrachtung 1908: Zwischen Anschauung und Reflexion .............................. 88
2. Kleider ...................................................................................................................... 92 2.1 Zur Gleichnishaftigkeit der Prosastücke aus Beschreibung eines Kampfes ...... 92 2.2 Gespiegelte Blicke .............................................................................................. 95 Der erste Satz: Kleider, Schönheit und Vergänglichkeit (95) Der zweite Satz: Gesichter, Zeigen und Erscheinen (97) Der dritte Satz: Erscheinungen im Spiegel (102) 2.3 Schluß ................................................................................................................. 110
3. Der Kaufmann ................................................................................................... 112 3.1 Die Betrachtung der Kaufmannsexistenz .................................................... 113 Mitleiden und Mitfühlen: Integration des Lesers (113) Das Entstehen der Erzählbewegung aus imaginierten Bewegungen (115) 3.2 Imaginäre Betrachtung .................................................................................... 118 Die Konstruktion eines Moments (118) „Ich sehe“: Imaginierte Blicke I (119) „Genießet die Aussicht des Fensters“: Imaginierte Blicke II (123) Flucht als Erzählmodell (125) 3.3 Schluß ................................................................................................................. 127
4. Der Fahrgast ........................................................................................................ 129 4.1 Haltlosigkeit: Das Verhältnis von Ich und Außenwelt .............................. 130
Inhaltsverzeichnis
IX
4.2 Fixierende Blicke................................................................................................ 133 4.3 Betrachtung als Verschiebung von Standpunkten und Sichtweisen ........ 136 4.4 Schluß: Zum Verhältnis von Sichtbarem und Phantastischem ................. 140
5. Die Vorüberlaufenden ................................................................................... 141 5.1 Entwurf einer möglichen Wirklichkeit .......................................................... 143 Zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit: „Uncertainty as Style“? (143) Formen der entwerfend-erzählenden Rede (145) 5.2 Geleugnetes Sehen: Möglichkeiten der Verneinung ................................... 150 Komplementäre Erzählmodelle: ‚Flucht‘ und ‚Verantwortung‘ (150) Behauptungsstruktur und Zeitlichkeit (154)Verneinung als produktive Strategie (156) 5.3 Schluß: Betrachtung und Phantasmagorie .................................................... 158
6. Schluß: Verwandlung als Verfahren ........................................................ 161 6.1 6.2 6.3 6.4 6.5
„Lichtblicke“ und „Verwirrung“ .................................................................... 161 Sprache: Verfahren der Verwandlung ........................................................... 162 Erzählformen in Betrachtung ............................................................................. 165 Das Betrachter-Ich: Erzähler und Perspektivfigur ...................................... 166 Der Zusammenhang der Sammlung Betrachtung: Variation als Prinzip .... 168
III Tagebücher 1909-1912 1. Einleitung .............................................................................................................. 170 2. Übungen im Erfinden ..................................................................................... 173 2.1 Träumen und Phantasieren: Die Tänzerin Eduardowa .............................. 173 2.2 Sprach-Artistik: „The Mitsutas“ ..................................................................... 177 Unfähigkeit zu schreiben als produktives Prinzip (178) Effekte und Wirkungen: Die Unmöglichkeit zu schreiben vorstellbar machen (182) Grund- und haltlose Akrobatik: „The Mitsutas“ als poetologische Metapher? (183)
Inhaltsverzeichnis
X
2.3 Einen Vorwurf zum Thema machen: Der kleine Ruinenbewohner ........ 187 Der kleine Ruinenbewohner: Entwurf einer nie gelebten Biographie (188) Die Erfindung des Vorwurfs als Waffe (190) Verlebendigung des Erziehungspersonals (194) Der Vorwurf als Beschwörungsformel (196) Das beschädigte Ich (199) Phantasierendes Schreiben: Das Ziel der Übung (202) Epilog. Vom Nichts aus das zu Erzählende erfinden: Die städtische Welt (204)
3. Übungen im Beschreiben .............................................................................. 205 3.1 Einleitung .......................................................................................................... 205 3.2 Vertauschung von Körper und Geist: Aufzeichnungen zu Rudolf Steiner ................................................................ 209 Literarische Phantasie und ‚Höhere Welten‘ (209) Rhetorische Wirkung und Körperhaftigkeit der Rede (211) „Okkulte Physiologie“ (214) „Mein Besuch bei Dr. Steiner“: Inspiration und Theosophie (221) Ausblick (224) 3.3 Reflexionen über Schreiben und Sehen: Goethes Reisetagebücher ........ 225 Die Postkutschenfahrt oder: Wie Bewegung in den Satz kommt (225) Die Augenblicksbeobachtung oder: Wie das Flüchtige ins Bild kommt (229) Augenblicksbeobachtungen in Kafkas Tagebuch (232) 3.4 Das Sichtbare erzählbar machen: „Gegen Abend [...]auf dem Kanapee“ .......................................................... 235 Ursachenforschung: Das Sichtbare beschreiben (235) Abstraktion: Die Autonomie der Lichteffekte (236) Dynamisierung: Handlungen des Lichts (238) Die Verwandlung des Sichtbaren in Erzählbares (240) Schreiben als Sehen (242) Abbildung von Licht (243) 3.5 Bild-Erfindungen zur Vermittlung von Gefühlen: „Beim Diktieren“...... 245 Bildzitat und Bild-Erfindung (246) Unästhetische Wirkungen: Die Einbeziehung des Lesers (249) Bild-Erfindung als Verfahren des imaginativen Schreibens (254) 3.6 Ergebnisse: Die Konvergenz der Schreibstrategien ................................... 256
4. Traumaufzeichnung als Modell eines phantasierenden Schreibvorgangs ................................................................................................. 259 4.1 4.2 4.3 4.4
Genaueres Hinsehen und allmähliche Verfertigung ................................... Nachklappen der Wahrnehmung .................................................................. Das Aufzeichnen von Träumen als phantasierender Schreibvorgang ..... Traum und Erzählung .....................................................................................
260 265 267 269
Inhaltsverzeichnis
XI
IV Der Heizer 1. Einleitung .............................................................................................................. 275 2. Ein Moment „Betrachtung“: Der erste Satz ........................................ 278 2.1 Erzählen aus dem Augenblick .........................................................................278 2.2 Der Erzählaugenblick als Moment der Schwellenüberschreitung ............ 283 2.3 Der verdoppelte Erzählbeginn ....................................................................... 289
3. Erzählstruktur ..................................................................................................... 294 3.1 Der Traum als Modell der Erzählstruktur .................................................... 294 Zur Beziehung von Traumaufzeichnung und Erzählung (294) Das ‚erzählende Auge‘: Traumstruktur und Handlungsentwicklung (299) Perspektive und Zeitstruktur (300) ‚Allmähliche Verfertigung‘: Improvisierende Handlungsentwicklung (303) Träumen und Schreiben: Differenz von Arbeitsweise und Schreibweise (307) 3.2 ‚Erzählen im Zeichen des Traums‘ und „imaginative Schreibart“............. 311 Antrieb der Erzählbewegung: Der vergessene Schirm (311) Dialogische Struktur des Erzählvorgangs: Der vergessene Koffer (314) Formen der Erzähllogik (318) Der träumende Leser (324)
4. Improvisationen ................................................................................................. 326 4.1 Die Verteidigung des Heizers ......................................................................... 326 Sprachreflexion und Handlungsentwicklung (326) Der Kampf für den Heizer als Inszenierung des Helden (328) Die Behauptung der Gerechtigkeit: Sieg und Niederlage der Rhetorik (335) Die Macht der Rede: Schein und Lüge (342) 4.2 Die Erfindung des Onkels .............................................................................. 346 ‚Coup de théâtre‘ und ‚happy end‘: Der reiche Onkel aus Amerika (347) Eine „große Geschichte“: Die Rechtfertigung des Onkels (349) „Ein besonderes Geheimnis“: Karls Geschichte und ihre Vorgeschichte (364)
5. Schluß ..................................................................................................................... 367 5.1 Das Meer als poetologische Metapher ...........................................................367 5.2 Das Meer als Traumbild .................................................................................. 372
XII
Inhaltsverzeichnis
Schluß 1. „Es war kein Traum“ ...................................................................................... 375 2. Die Behauptung des Wirklichen als Grundlage der Phantastik .. 377 3. Erzählen als Sprach- und Imaginationsspiel ........................................ 379 4. Résumé ................................................................................................................... 382 Literaturverzeichnis ................................................................................................. 387
Einleitung 1. Erzählen in Kafkas Frühwerk Frühwerke erfahren in der Regel wenig Aufmerksamkeit. Ein Grund für diese Vernachlässigung liegt in der Logik der Einteilung eines Oeuvres in Früh-, Haupt- und Spätwerk. Denn jede Periodisierung impliziert ein Qualitätsurteil. Das Hauptwerk ist weit mehr als bloß die mittlere Position in einer chronologischen Reihe; es ist der Höhepunkt in der Entwicklung eines Autors, die Zeit der Blüte und der Reife und daher immer auch der Maßstab einer Werteskala. Diese Annahme führt leicht dazu, die frühen oder späten Werke in Abhängigkeit vom Hauptwerk zu betrachten. Im Falle des Spätwerks kann dies sinnvoll sein, da es eben auf das Hauptwerk folgt und von dem darin Erreichten ausgeht. Beim Blick auf das Frühwerk dagegen führt diese Sichtweise zu Verzerrungen. Vom Hauptwerk aus gesehen, muß das Vorangegangene fast zwingend als unreif und unfertig erscheinen. Eine andere Perspektive einzunehmen und den Rang eines frühen Werkes positiv zu bestimmen, ist allerdings schwierig, denn die literarischen Anfänge eines Autors sind meistens von künstlerischen Unsicherheiten geprägt. Die Beherrschung des Handwerks ist womöglich noch unvollkommen, die stilistischen Mittel können Einflüssen unterworfen sein, die ästhetischen Absichten wechseln häufig. Doch in jedem Anfang liegt auch das Neue: ein künstlerischer Impuls, den es so noch nie gegeben hat. Was im Werk Franz Kafkas als Früh-, Haupt- und Spätwerk zu gelten habe, ist schon lange festgelegt und unumstritten.1 Insbesondere die Datierung des Übergangs vom Früh- zum Hauptwerk ist bemerkenswert eindeutig. Es handelt sich um einen Einschnitt, mit dem ein neue Ära beginnt; bereits Kafka selbst soll diese Zäsur als „Durchbruch“ bezeichnet haben.2 Die Rede ist von der Erzählung Das Urteil. Mit dem Urteil gelang Kafka im Jahr 1912 das erste Werk, das er als 1
2
Im allgemeinen wird die Schaffensperiode vor 1912 als Frühwerk bezeichnet und von 1920 bis 1924 das Spätwerk angesetzt. Die zwischen 1912 und 1920 entstandenen Werke gelten als Hauptwerk, wobei die Untergliederung der Spanne von 1912-1920 in zwei oder drei Abschnitte diskutiert wurde (1912-1914, 1914-1917, 1917-1920). Vgl. Ingeborg Henel: „Periodisierung und Entwicklung“, in: Kafka-Handbuch, hrsg. v. Hartmut Binder, Stuttgart 1979, Bd. 2, S. 220-241. Vgl. z.B. Karlheinz Fingerhut: „Die Phase des Durchbruchs (1912-1915)“, in: Kafka-Handbuch, a.a.O., Bd. 2, S. 262-312, Michael Müller: Franz Kafka: Das Urteil. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 1995, S. 110.
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Einleitung
gültig empfand. Während der Niederschrift der Erzählung innerhalb einer einzigen Nacht erfuhr er einen schöpferischen Zustand, in dem er das Ideal seines Schreibens erkannte: „Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele“.3 Dieses Zitat markiert für die Kafka-Forschung die Geburt des Schriftstellers Kafka. Ob dieser „Geburtstag“ richtig datiert ist, scheint mir zweifelhaft. Hat es wirklich vor 1912 keinen Schriftsteller Kafka gegeben, wie etwa Ingeborg Henel dekretiert? „Es ist deutlich genug und von der Forschung durchweg anerkannt, daß Kafka mit dem ‚Urteil‘ eine neue Phase, ja erst sein eigentliches Schriftstellertum begonnen hat. Die vor dieser Geschichte liegenden Werke sind, als Kunstwerke betrachtet, bloße Versuche, und nicht einmal besonders geglückte [...]“.4 Eine so eindeutige Festlegung halte ich für kaum geeignet, um einen allmählichen Prozeß wie die Entwicklung eines Schriftstellers zu beschreiben. Möglicherweise entstammt sie eher einem Streben nach sauberen Trennungen, nach handhabbaren Geschichten mit Anfang und Schluß.5 Fest steht, daß Das Urteil zum ersten Mal eine solche Geschichte mit Anfang und Schluß darstellt (oder doch die erste, die von ihrem Autor als gelungen anerkannt und veröffentlicht wurde, was für die frühe Erzählung Beschreibung eines Kampfes, die ebenfalls Anfang und Schluß hatte, nicht zutrifft). Es ist überdies die erste im Sinne der Rezeptionsgeschichte ‚kafkaförmige‘ Erzählung, denn in ihr spannt Kafka zum ersten Mal jenen Konflikt zwischen Vater und Sohn auf, der allgemein als bestimmend für seine späteren Werke angesehen wird. Das Urteil eignet sich daher, um dieses ‚Kafkaförmige‘ von dem anders gearteten Davor zu unterscheiden. Die Vorstellung eines „Durchbruchs“ rückt die Zeit davor aus dem Blick, weil das Eigentliche erst jetzt beginnt. Hinzu kommt, daß Kafkas Frühwerk vielen Lesern noch schwerer zugänglich erscheint als die übrigen Werke des Autors. Entsprechend gering ist die Zahl der Forschungsarbeiten, die sich den frühen Texten gewidmet haben. In den meisten Überblicksdarstellungen ist die Auseinandersetzung mit den vor dem Urteil entstandenen Werken – darunter neben der Beschreibung eines Kampfes auch der 3 4 5
Tagebucheintrag vom 23.9. 1912, KKAT, S. 460f. I. Henel, a.a.O., S. 221. Vgl. hierzu die Ausführungen von Annette Schütterle in ihrer Studie Franz Kafkas Oktavhefte. Ein Schreibprozeß als „System des Teilbaues“, Freiburg i.Br. 2002. Die Autorin verteidigt ihr Projekt, die Oktavhefte in ihrer Gänze, d.h. inklusive sämtlicher Streichungen und Überschreibungen, als eigenständiges Werk zu lesen, mit dem Hinweis auf die Unangemessenheit des klassischen Werkbegriffs in Bezug auf Kafka-Texte. Das Ideal der Geschlossenheit, das Max Brod mit seiner Edition des Kafkaschen Nachlasses verfolgte, indem er aus Fragmenten vollständige Romane und Erzählungen herstellte, lasse alles Nicht-Vollendete zu Unrecht als Überreste und „Trümmer“ erscheinen, die keiner näheren Betrachtung wert seien (A. Schütterle, a.a.O., S. 3537).
Erzählen in Kafkas Frühwerk
3
Romanversuch Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande sowie die Prosaminiaturen aus Kafkas erster Publikation Betrachtung – bloß summarisch. Kafkas Anfänge werden generell als unreif und unvollkommen dargestellt.6 Die erste sorgfältigere Darstellung der Schaffensperiode vor 1912 stammt von Klaus Wagenbach, der in seiner Jugend-Biographie Kafkas (1958) das geistige Umfeld Prags sowie Kafkas Lektüren als Quellen für das frühe Erzählprojekt Beschreibung eines Kampfes benannte.7 1984 erschien ein Sammelband zum Thema „Der junge Kafka“, in dem verschiedene Aspekte des Frühwerks erstmals systematisch behandelt wurden.8 Beiträge aus diesem Band wie die Analyse der Beschreibung eines Kampfes von Jost Schillemeit sind grundlegend für die weitere Forschung geworden. Seither sind zu den vor 1912 entstandenen Werken Kafkas mehrere Einzelstudien erschienen.9 Insgesamt bleibt das Bild des Frühwerks lückenhaft. Die Arbeiten stehen unverbunden nebeneinander; die meisten Ansätze wurden nicht weitergeführt. Eine Darstellung der Entwicklung des frühen Kafka hat nach Wagenbach erst wieder Reinhard Baumgart unternommen. Im Rahmen seines Projektes, die Lebensgeschichten von Kafka, Thomas Mann und Bertolt Brecht als „Produktionsgeschichte“ zu lesen, fragt Baumgart nach den Anfängen von Kafkas Schreiben.10 Mit Lektüren der Beschreibung eines Kampfes, der Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und der Sammlung Betrachtung zeichnet er die Entwicklung des Autors als „Weg zum Werk“. Dies ist Baumgart zufolge kein Weg, der mit dem Gelingen des Urteils abgeschlossen wäre. Das Frühwerk erscheint vielmehr als Auftakt für eine lebenslange Reihe von Suchbewegungen und Schreibkrisen: „Gerade als 6
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Um das Frühwerk Kafkas dennoch zu ‚retten‘, werden bestimmte Themen und Konstellationen bisweilen als grundlegend für Kafkas Werk überhaupt angesprochen. In Wilhelm Emrichs Kafka-Buch beispielsweise dient die Beschreibung eines Kampfes als Universalmetapher (W. Emrich: Franz Kafka, Frankfurt/M., Bonn (7)1970 (zuerst 1958)); Walter H. Sokel sieht in diesem Text Kafkas „Urmodell des Kampfes“ und damit das „Grundthema seiner Dichtung“ in „jugendlich unreifer Form“ (Walter H. Sokel: Franz Kafka: Tragik und Ironie. Zur Struktur seiner Kunst, Frankfurt/M. 1983 (zuerst 1964), S. 33). – Vgl. eine etwas differenziertere Darstellung bei Heinz Politzer: „Franz Kafkas literarische Anfänge waren kärglich. [...] Beide Frühwerke zeigen den jungen Schriftsteller auf der verzweifelten Suche nach einer Form, die sein eigen wäre und vermittels derer er den Dauerstrom ungestalter Bildmassen abdämmen könnte, der seine Phantasie erfüllte. [...] Dennoch liegt der Anfang von Kafkas Stilversuchen auf höherem Niveau als etwa die ersten literarischen Gehversuche seines Landsmannes Rainer Maria Rilke; schon darum, weil die mangelnde Gestalt von Kafkas ersten Werken mit ironischer Bewußtheit eine Wirklichkeit widerspiegelt, die selbst im Begriffe steht, ihre Gestalt und ihren Zusammenhang einzubüßen.“ (Heinz Politzer: Franz Kafka, der Künstler, Frankfurt/M. 1965, S. 45). Klaus Wagenbach: Franz Kafka. Eine Biographie seiner Jugend 1883-1912, Berlin 1958. Der junge Kafka, hrsg. v. Gerhard Kurz, Frankfurt/M. 1984. Die Titel werden jeweils im Kontext der folgenden Kapitel diskutiert. Reinhard Baumgart: Selbstvergessenheit. Drei Wege zum Werk: Thomas Mann, Franz Kafka, Bertolt Brecht. Frankfurt/M. 1989. Vgl. ebd., S. 9, die „allgemeine und doch einigermaßen zutreffende Formel für mein Vorhaben [...]: Lebensgeschichte als Produktionsgeschichte.“
Einleitung
4
Schriftsteller sollte er nie jene vorübergehende wie endgültige Sicherheit des Schreibens erreichen [...], die eine Herstellung von literarischen ‚Werken‘ als Ausübung eines ‚Berufs‘ doch voraussetzt. [...] Kein Wunder also, daß der früheste uns von Kafka überlieferte Text und der einzig längere, den er vor seinem dreißigsten Jahr gewagt hat, daß die ‚Beschreibung eines Kampfes‘ sich nur lesen läßt als ein geradezu vollkommenes Zeugnis der Instabilität seines Autors und seines schriftstellerischen Vermögens“.11 Die vorliegende Arbeit geht, ähnlich wie Baumgarts Studie, von der Frage aus, wie Kafkas Schreiben begonnen hat. Ich konzentriere mich auf die bis 1912 entstandenen Werke, und zwar mit dem erklärten Ziel, diese Anfänge ernst zu nehmen. Was und wie Kafka vor der sogenannten ‚Geburt des Schriftstellers Kafka‘ geschrieben hat, interessiert mich zunächst allein aufgrund der Besonderheiten und Qualitäten dieser Texte und ohne daß der spätere Kafka den Horizont der Betrachtung bildet. Zwar muß das Wissen um das spätere Werk als unhintergehbare Bedingung einer heutigen Lektüre in die Analyse einbezogen werden. Als vorausgewußtes Ziel einer Entwicklung soll dieses Wissen aber nicht ins Spiel gebracht werden. Denn es ist bezeichnend für ein Frühwerk, daß es erst zum Werk wird und noch kein genau definiertes Ziel hat. Nur wenn man diese Prämisse ernst nimmt, kann man erkennen, was sich hier entwickelt, und woran das Spätere einmal anknüpfen wird. Nur so kann in den Blick kommen, was die frühen Texte auszeichnet. Es sind diese Texte, in denen Experimente zum ersten Mal angestellt werden, in denen Entdeckungen zum ersten Mal gemacht und Ziele zum ersten Mal aufgestellt werden, in denen poetologische Reflexionen noch ganz am Anfang stehen – kurz: in denen der Autor Franz Kafka zum ersten Mal erfindet, was ‚Schreiben‘ für ihn heißen kann. Wie gelangt Kafka in diesen frühen Texten zum Erzählen? In den Jahren vor 1912 experimentiert er in Briefen, in literarischen Skizzen, längeren Erzählprojekten und ab 1909 auch im Tagebuch mit unterschiedlichen Formen und Schreibverfahren. Diese Erprobung von Schreibweisen werden im folgenden chronologisch nachvollzogen und ihre Techniken herausgearbeitet. Dabei wird sichtbar, wie sich Kafkas Schreiben in fortgeführter Variation verändert und wie es seine poetologischen Prämissen und ästhetischen Ziele jeweils neu definiert. Aus solcher Lektüre ergibt sich eine Entwicklungsgeschichte von Kafkas Erzählen in der Zeit zwischen 1904 und 1912. Die Darstellung dieser Geschichte muß exemplarisch sein, denn aus den Jahren vor 1912 ist nur ein Bruchteil von Kafkas Schaffen erhalten geblieben. Aus diesem Corpus habe ich wiederum einen Bruchteil ausgewählt. Obwohl lückenhaft, kann man in dieser Reihe von Beispielen bestimmte Muster erkennen und zwischen ihnen Verbindungslinien ziehen. Den Anfang macht eine Analyse 11
R. Baumgart, a.a.O., S. 164.
Erzählen in Kafkas Frühwerk
5
der ersten Fassung der Beschreibung eines Kampfes (entstanden 1904-1907), die ich als Ausgangspunkt des Projektes ‚Erzählen‘ in Kafkas Frühwerk bestimme (Kap. I). Im Anschluß daran werde ich zeigen, wie Kafka dieses Projekt mit je unterschiedlichen Verfahren weiterverfolgt. Stationen dieses Geschehens sind die kurzen Prosastücke aus Kafkas erster Veröffentlichung Betrachtung aus dem Jahr 1908 (Kap. II), des weiteren die ersten Hefte des Tagebuchs, das Kafka 1909 zu führen beginnt und in dem er Strategien des fiktionalen und des diaristischen Schreibens in erzählenden Texten verbindet (Kap. III). Abschließend werde ich zeigen, wie die verschiedenen Stränge in der Erzählung Der Heizer (1912) zu einer neuen Form zusammenfinden (Kap. IV).
2. Phantastisches Erzählen und „imaginative Schreibart“ Mit der Frage, wie Kafka zum Erzählen gelangt, verbindet die vorliegende Studie eine zweite Frage: Wie entsteht die phantastische Signatur dieses Erzählens? Kafkas Schreiben steht von Beginn an im Zeichen des Traums. Bereits in dem frühesten der von mir untersuchten Texte, der Beschreibung eines Kampfes, geht das Erzählen von einem träumenden Phantasieren aus und entfaltet sich als Sprachspiel auf der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit. Um dieses Phänomen zu beschreiben, habe ich den Begriff des Phantastischen gewählt, denn im Unterschied zum Traumhaften beschreibt das Phantastische ein Spannungsverhältnis, das mir für Kafkas Erzählen wesentlich erscheint. Phantastisches Erzählen entsteht aus einer Gegenüberstellung und Verschränkung von Traum und Wirklichkeit, aus einem beweglichen Verhältnis von Realität und Irrealität. 2.1 Traum oder Wirklichkeit? Phantastisches als Topos der Kafka-Rezeption Mit den Begriffen ‚Traum‘ und ‚Phantastik‘ beziehe ich mich auf eine Diskussion, die seit dem Erscheinen von Kafkas ersten Erzählungen andauert. In der KafkaRezeption ist das Traumhafte eine der am häufigsten gebrauchten Metaphern.12 Schon in den ersten Rezensionen wurde Kafkas Erzählen mit dem Traum in Verbindung gebracht.13 In einigen von ihnen läßt sich ein argumentatives Muster 12
13
Vgl. den Überblick bei Hartmut Binder: „Bauformen“, in: Kafka-Handbuch, a.a.O., Bd. 2, S. 4893, hier S. 48-52: „Traum“. Albert Ehrenstein etwa fühlte sich in seiner Rezension zu Kafkas erster Veröffentlichung Betrachtung an die „seltenen Gebilde eines verstandesmäßig unverwüstbaren Traumes“ erinnert (Albert Ehrenstein: „Franz Kafka. ‚Betrachtung‘ “ (1913), in: Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten (1912-1924), hrsg. v. Jürgen Born u.a., Frankfurt/M. 1979, S. 28-29, hier S. 29).
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Einleitung
erkennen, das im weiteren Verlauf der Rezeption zum Topos werden wird: Wenn Kafkas Rezensenten die Traumähnlichkeit seiner Texte betonen, bestehen sie oft darauf, daß nicht das Unklare, Verworrene und Unwirklich-Absurde des Traums gemeint sei, sondern im Gegenteil eine besondere Qualität von Wirklichkeit. So schrieb z.B. Kurt Tucholsky in seiner Besprechung zu In der Strafkolonie (1920): „Das ist nicht wahr, wenn die Leute behaupten, Träume seien verschwommen. ‚Jeder ist, wenn er träumt, ein Shakespeare', sagt der Weise, und noch im unsinnigsten Phantasma der Nacht stehen Konturen und Farben unverrückbar fest. Bäume zum Greifen und saftig grün, und in den Gesichtern der Geträumten kann man die Fältchen mit den Fingern antasten. Klar und scharf ist alles im Traum. So unerbittlich hart, so grausam objektiv und kristallklar ist dieser Traum von Franz Kaffka [sic] ‚In der Strafkolonie‘ [...]“.14 Diese Betonung eines starken Wirklichkeitseindrucks, der von einem traumhaften Geschehen ausgeht, findet sich ähnlich auch bei Willy Haas, der über den Roman Der Proceß schrieb: „Dies alles ist nicht nur real, sondern geradezu von einer entsetzlich genauen Realität, die fast körperlicher wirkt als die Körper und Gegenstände, die uns umgeben: denn dieses Geisterhafte verleiht den Dingen ein Mehr, nicht ein Weniger an greifbarer Realität.“15 Die in diesem Verhältnis von Wirklichkeitseindruck und „Geisterhaftem“ liegende Spannung belegt Haas mit dem Begriff des Phantastischen. Am Beispiel des Romans Das Schloß führt er aus: „Es handelt sich um eine phantastische, oder sagen wir besser, um eine mystische Erzählung, aber in einer ganz genau realistischen, ja fast naturalistischen Form. Nicht etwa so, daß etwas Mystisches real geschildert wird; sondern so, daß gewissermaßen das Mystische ganz und gar in die Dinge des Alltags eingedrungen ist, gewissermaßen im Mittelpunkt dieser Dinge ruht, so stark, daß es die Dinge des Alltags und den Alltag selbst ziemlich sonderbar und oft sogar kurios umgestaltet, aber keineswegs etwa entmaterialisiert. Im Gegenteil. [...] Ich muß immer wieder diese ganz genaue Verbundenheit an das Material des Alltags wiederholen, damit man nicht an so etwas wie phantastische Erzählungen im gewöhnlichen Sinne denkt.“16 Besonders häufig taucht der Begriff des Phantastischen und der Gedanke einer besonderen Ausprägung dieses Genres bei Kafka in Zusammenhang mit der Erzählung Die Verwandlung auf. In diesem Text konkretisiert sich das Traumähnliche in der Figur des „ungeheuren Ungeziefers“, das dem verwandelten Gregor Samsa zunächst wie der Rest eines Alptraums erscheint, nachdem er
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Kurt Tucholsky: „In der Strafkolonie“ (1920), in: Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten (1912-1924), a.a.O., S. 93-96, hier S. 93f. Willy Haas: „Franz Kafka. Worte zu seinem Gedächtnis“ (1930), in: ders.: Gestalten. Essays zur Literatur und Gesellschaft, Frankfurt/M., Bern, Wien 1962, S. 208-223, hier S. 215. W. Haas, a.a.O., S. 209 f.
Phantastisches Erzählen und „imaginative Schreibart“
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„aus unruhigen Träumen erwachte“.17 Doch was nur ein Traum sein kann, erweist sich als Wirklichkeit. Daß keine der Figuren sich über dieses Wunder erstaunt zeigt, erschien bereits einem der ersten Rezensenten als Kern des Phantastischen in der Erzählung. 1915 stellte Kasimir Edschmid Kafkas literarische Technik der Phantastik Gustav Meyrinks gegenüber: „Meyrink hob die Welt seines künstlerischen Umkreises zu dem Wunder empor. Er begehrte es und setzte es als Ziel. Der junge Prager Franz Kafka aber zwingt das Wunder auf die Erde herunter und verflicht es sachlich wie etwas ganz Gewohntes in den Gang seiner fast trockenmenschlich gefaßten Erzählung ‚Die Verwandlung‘.“18 Ganz ähnlich hat Oskar Walzel Kafkas Erzählen von der zeitgenössischen Phantastik abgegrenzt. In seinem Aufsatz „Logik im Wunderbaren“ (1916) erklärt er, das Wunder sei bei Kafka nicht in die ferne Irrealität von Traumwelten verbannt – wie bei Gustav Meyrink oder Paul Adler –, sondern werde als Teil der Wirklichkeit erzählt.19 Walzel betont besonders die realistische Qualität von Kafkas Darstellung: „Kafka nimmt das Wunder überhaupt nur einmal in Anspruch und arbeitet im übrigen nur noch mit einer Wahrung des Wirklichkeitseindrucks, um die ihn ein Naturalist beneiden könnte.“20 Diese „Wahrung des Wirklichkeitseindrucks“ sei das Spezifische von Kafkas Erzählverfahren; sie werde erreicht durch eine logische Entwicklung des Erzählablaufs: „Es mochte ihn locken, das Wunderbare durch eine geschlossene Kette von äußeren und inneren Erlebnissen, deren Glieder sich wie Ursache und Wirkung aneinanderreihen, als etwas Notwendiges, ja Selbstverständliches erscheinen zu lassen.“21 Daß das Wunderbare zum „Selbstverständlichen“ werde, lasse Kafkas Erzählung mit der romantischen Phantastik verwandt erscheinen, die Walzel durch Hoffmann, Arnim und Chamisso vertreten sieht. 2.2 Die Forschungsdiskussion zur Phantastik bei Kafka Die Diskussion um Die Verwandlung zeigt, wie schon zu Beginn der Rezeptionsgeschichte aus der vagen Metaphorik des Traumhaften die Frage nach dem Phantastischen entsteht, verstanden als Frage nach dem Verhältnis von Traum und Wirklichkeit. In der literaturwissenschaftlichen Forschung wurde die Auseinandersetzung mit dieser Frage systematisch fortgesetzt, wobei die 17 18
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E 96. Kasimir Edschmid: „Deutsche Erzählungsliteratur“ (1915), in: Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten 1912-1924, a.a.O., S. 61-63, hier S. 61. Oskar Walzel: „Logik im Wunderbaren“ (1916), in: Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten 1912-1924, a.a.O., S. 143-148, hier S. 148. O. Walzel, a.a.O., S. 148. O. Walzel, a.a.O., S. 146 u. 147.
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Einleitung
Traumähnlichkeit als solche nicht zusammenhängend und konsequent diskutiert wurde.22 Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, daß der Begriff des Traums vielfach für zu unklar gehalten wurde, um der wissenschaftlichen Analyse dienen zu können. Zum anderen hängt die Bevorzugung des Phantastik-Begriffs mit dem Erscheinen von Tzvetan Todorovs „Einführung in die fantastische Literatur“ (1970/72) zusammen. Todorov stellte eine bahnbrechende Definition der literarischen Phantastik vor – und erklärte Kafka zur alle Kategorien sprengenden Ausnahme von der Regel. Todorovs Theorie zufolge kann die Zugehörigkeit eines Textes zum Genre der Phantastik durch eine Analyse der Art und Weise bestimmt werden, wie in diesem Text die Kategorien ‚real‘ und ‚irreal‘ (bzw. ‚imaginär‘) ins Verhältnis gesetzt werden.23 Hierfür gebe es zwei, einander strukturell entgegengesetzte Möglichkeiten: erstens das Wunderbare, d.h. das Märchen, zweitens das Genre des Unheimlichen. Der Unterschied liege jeweils im Verhältnis von Wirklichkeit und Überwirklichkeit. Während im Märchen das Übernatürliche als selbstverständliche Bedingung eines Geschehens vorausgesetzt werde, das sich von vornherein jenseits der landläufigen Unterscheidung von real und irreal befinde, werde das Übernatürliche in den Texten des unheimlichen Genres zur Illusion erklärt und aufgelöst, so daß das Realitätsverständnis des Lesers nicht in Frage gestellt werde. Die phantastische Literatur nun gehöre weder zum Bereich des Märchens noch zum Genre des explizierten Übernatürlichen, sondern situiere sich genau auf der Grenze zwischen beiden. Das Phantastische sei die Wirkung, die entstehe, wenn in eine als real verstandene Welt übernatürliche Elemente eindringen, ohne daß dieses Übernatürliche als Täuschung oder Einbildung erklärbar ist und ohne daß man sich plötzlich im Märchen befindet. In Todorovs Worten: „Das Fantastische ist die Unschlüssigkeit, die ein Mensch empfindet, der nur die natürlichen Gesetze kennt und sich einem Ereignis gegenübersieht, das den Anschein des Übernatürlichen hat.“24 Diese Theorie entwickelt und begründet Todorov an Texten der phantastischen Literatur des 19. Jahrhunderts. Im letzten Kapitel seiner Studie führt er Kafkas Erzählung Die Verwandlung als Beispiel dafür an, daß eine 22
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Unter den Arbeiten, die die Frage nach dem Traum nicht nur metaphorisch begreifen, sondern das Traumähnliche als literarische Technik untersuchen, sind zu nennen: Friedrich Altenhöner: Der Traum und die Traumstruktur im Werk Franz Kafkas, Münster 1964; methodisch wesentlich genauer und ergiebiger: Manfred Engel: „Literarische Träume und traumhaftes Schreiben bei Franz Kafka. Ein Beitrag zur Oneiropoetik der Moderne“, in: Träumungen. Traumerzählung in Film und Literatur, hrsg. v. Bernard Dieterle, St. Augustin 1998, S. 233-262; allgemein zu Traum und Erzählung Elisabeth Lenk: Die unbewußte Gesellschaft. Über die mimetische Grundstruktur in der Literatur und im Traum, München 1983 (mit einigen Bemerkungen zu Kafka) und Wilhelm Richard Berger: Der träumende Held. Untersuchungen zum Traum in der Literatur, hrsg. v. Norbert Lennartz, Göttingen 2000 (ohne Berücksichtigung Kafkas). Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur, München 1972, S. 26. T. Todorov, a.a.O., S. 26.
Phantastisches Erzählen und „imaginative Schreibart“
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phantastische Literatur im 20. Jahrhundert nicht mehr möglich sei. Kafkas Erzählung sei das genaue Gegenteil einer phantastischen Erzählung. Zwar dringe ein übernatürliches Ereignis in die Alltagsrealität ein, aber es gebe keine Unschlüssigkeit darüber, wie dieses Ereignis zu bewerten sei, im Gegenteil: es werde als etwas Natürliches behandelt. Ein Märchen, in dem wunderbare Ereignisse zur Normalität gehören, sei Die Verwandlung jedoch nicht, denn die in ihr dargestellte Welt sei durchaus als alltägliche Realität gemeint und erkennbar. Todorov zieht den Schluß: „In diesem Sinne beruhen Kafkas Erzählungen gleichzeitig auf dem Wunderbaren und dem Unheimlichen, sie sind die Koinzidenz der beiden offensichtlich unvereinbaren Gattungen. Das Übernatürliche ist nicht von der Hand zu weisen und hört doch nicht auf, uns unannehmbar zu erscheinen.“25 Das Muster, das diesem Fazit zugrundeliegt, ist bekannt: Weder Traum noch Wirklichkeit, und doch beides zugleich – so hatten bereits die zitierten Rezensenten die Eigenart von Kafkas Texten beschrieben. Todorov faßt dieses Spannungsverhältnis nicht neu, aber systematischer, so daß sein Versuch, Kafkas Erzählweise zu klassifizieren, in einer scharf herausgearbeiteten Aporie endet. In seiner auf eine Entweder-Oder-Entscheidung zugespitzten Argumentation erscheint Die Verwandlung als Anti-Struktur zum Phantastischen, in der unvereinbare Gegensätze zusammenfallen. In einem letzten Schritt versucht Todorov, über diese Aporie hinauszugelangen. Durch das Zusammenfallen der Gegensätze schlage die Alltagsrealität in ein „verallgemeinertes Fantastisches“ um. Daher sei das Phantastische bei Kafka nicht mehr die Ausnahme, die störend in die Realität einbricht, sondern die Regel, so daß die Realität selbst sich verwandle.26 Diese verwandelte Realität genauer zu analysieren, ist nach Todorovs pointiert-provokanter These mehrfach versucht worden. In Ergänzung zu Todorovs systematisch-strukturalistischem Ansatz hat Peter Cersowsky 1983 eine literaturhistorische Annäherung unternommen.27 Cersowsky stellt Kafkas Erzählungen im Zusammenhang der „phantastischen Literatur im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts“ dar. Am Beispiel Alfred Kubins und Gustav Meyrinks zeigt er die engen Beziehungen des Phantastischen um 1900 zu Spiritismus und Okkultismus. Wie diese Phantastik stehe auch Kafka in der Tradition der „Schwarzen Romantik“, was Cersowsky an der Thematisierung von Motiven wie der „femme fatale“, des Sadismus u.a. zu zeigen versucht. Zugleich habe Kafka mit der zeitgenössischen Phantastik Motive wie Gespenster (in Unglücklichsein) und Untote (im Jäger Gracchus) gemeinsam. In diesen thematischen Verwandtschaften sieht Cersowsky ein Indiz für die Zugehörigkeit zur Phantastik. 25 26 27
T. Todorov, a.a.O., S. 153. T. Todorov, a.a.O., S. 155. Peter Cersowsky: Phantastische Literatur im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts. Kafka, Kubin, Meyrink, München 1983.
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Einen spiritualistischen Hintergrund, wie er für die zeitgenössische Phantastik typisch sei, d.h. die Überzeugung von der Existenz einer zweiten oder höheren Welt, gebe es bei Kafka jedoch nicht. Die Zuordnung zur Phantastik bleibt damit zweifelhaft.28 Dennoch findet Cersowsky in Kafkas Texten das Prinzip der phantastischen Unschlüssigkeit verwirklicht, das jedoch nicht mehr in Todorovs Sinn zwischen zwei Welten vermittle. Es bestehe vielmehr Unschlüssigkeit hinsichtlich des Unterschieds zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektiver Wirklichkeit. Mit dieser Argumentation beraubt Cersowsky die phantastischen Elemente in Kafkas Erzählung allerdings ihres phantastischen Charakters, indem er sie aus der Realität, in der sie einen Skandal darstellen, in das Subjekt zurückholt und als Träume, Einbildungen oder Projektionen des wahrnehmenden Ich erklärbar werden läßt.29 1991 hat Marianne Wünsch mit einer Analyse der „Fantastischen Literatur der Frühen Moderne“ an Todorovs Phantastik-Theorie angeknüpft.30 Wünsch präzisiert Todorovs Kriterien, indem sie den Realitätsbegriff als historische Variable faßt, die mit dem Wissen der Epoche über das Natürliche und Übernatürliche korreliert sei. Weiter definiert sie das Phantastische als narrative Struktur, die durch das Vorhandensein bestimmter „Realitätsklassifikatoren“ bestimmt werde. Ob Kafkas Texte zur literarischen Phantastik zu zählen sind, läßt sich allerdings auch mit diesem Modell nicht endgültig beantworten. Die Verwandlung sei zwar – wie die Phantastik – realitäts-inkompatibel, aber ihr fehle der „Klassifikator“ der „Realitätsinkompabilität“, weil im Text keine Referenzposition angelegt sei, die den Bruch mit den Naturgesetzen als solchen thematisiere. Ähnlich wie Todorov kommt Wünsch daher zu dem Schluß, daß es sich um ein „literaturhistorisches Novum“ handele.31 Renate Lachmann hat in ihren „Anmerkungen zur Phantastik“ (1995) die von Todorov ausgehende Diskussion nochmals um eine genauere begriffliche
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Eine ähnliche Unsicherheit in der Zuordnung Kafkas zur Phantastik-Tradition ist auch bei anderen Arbeiten zu beobachten, die das Phantastische bei Kafka in historischen Vergleichen zu bestimmen suchen. Vgl. z.B. Bernd Krolop: Versuch einer Theorie des phantastischen Realismus. E.T.A. Hoffmann und Franz Kafka, Frankfurt/M, Bern, New York 1981; Roman Karst: „Die Realität des Phantastischen und die Phantasie des Realen. Kafka und Gogol“, in: Literatur und Kritik 15/1980, S. 28-39. Ähnlich argumentiert auch Rolf Günter Renner: „Kafka als phantastischer Erzähler“, in: Phaicon 3/1978, S. 144-162. Das Phantastische in Kafkas Erzählungen, vor allem in den zwischen 1912 und 1917 entstandenen, gehe auf eine Wahrnehmungs- und Beschreibungsunsicherheit zurück. Durch die Überlagerung unterschiedlicher Wahrnehmungsperspektiven werde die Grenze zwischen Unbewußt-Traumhaftem und Außenwelt aufgehoben. Das phantastische Geschehen versteht Renner als Außenbild einer psychischen Struktur. Marianne Wünsch: Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne 1890-1930, München 1983. M. Wünsch, a.a.O., S. 38f.; vgl. auch S. 80 u. 83.
Phantastisches Erzählen und „imaginative Schreibart“
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Differenzierung bereichert.32 Lachmann unterscheidet zwei Typen phantastischer Texte, die sich in ihren Verfahren der Sinnzuweisung bzw. der Sinnverweigerung unterscheiden. In den klassischen phantastischen Texten des 19. Jahrhunderts würden Verwunderung und Zweifel angesichts des Erscheinens eines „Phantasmas“ im gewohnten Alltag thematisiert, so daß Motivierung und Sinn der übernatürlichen Erscheinung diskutierbar würden. Die phantastischen Texte des zweiten Typs, den Lachmann als „hermetisch“ bezeichnet, verzichteten dagegen auf einen Referenzrahmen, innerhalb dessen sich die Fragen nach ‚real oder irreal‘ und nach dem Sinn stellen ließen. Diese Texte, zu denen Lachmann neben Erzählungen von Borges, Bruno Schulz, Nabokov u.a. auch die Werke Kafkas zählt, ließen die übernatürliche Erscheinung (das Phantasma) ortlos. „Die im Akt des Lesens produzierten Deutungsmodelle, die das hermetische Phantasma nachgerade herausfordert, können sich auf keine innertextlichen Vorgaben berufen.“33 Mit Lachmanns Unterscheidung von hermetischer und nicht-hermetischer Phantastik ist die Frage nach dem Phantastischen bei Kafka methodisch befriedigend beantwortet.34 Definition und Umfang des Phantastik-Begriffs sowie seine mögliche Anwendung auf Kafka sind geklärt. Und dennoch ist damit wenig über Kafkas Texte gesagt. Die Faszination, aus der die lange Diskussion um die traumähnliche oder phantastische Signatur von Kafkas Erzählen entstanden ist, läßt sich wohl kaum darauf zurückführen, daß in Texten wie Die Verwandlung ein Phantasma entwickelt wird, dessen Realitätsstatus rätselhaft bleibt. Was intensive Lese-Erfahrungen wie die eingangs zitierten auslösen kann, ist nicht das Phantasma bzw. das unerklärte Übernatürliche als solches, sondern die imaginative Kraft seiner Entfaltung im Text und als Text.
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Renate Lachmann: „Exkurs: Anmerkungen zur Phantastik“, in: Einführung in die Literaturwissenschaft, hrsg. v. Miltos Pechlivanos u.a., Stuttgart/Weimar 1995, S. 224-229. R. Lachmann, a.a.O., S. 225. Ein weiterer, vielversprechender methodischer Ansatz wird in der Studie von Sonja Dierks entwickelt, die nach Abfassung der vorliegenden Arbeit erschienen ist (Sonja Dierks: Es gibt Gespenster. Betrachtungen zu Kafkas Erzählung, Würzburg 2003). Die Verfasserin benennt als Ort, an dem sich die Differenz von ‚Realem‘ und ‚Irrealem‘ konstituiert, das Verhältnis von Erzählerrede und Erzählgegenstand: „Als würde an dem Verhältnis des Erzählers zu seinem Erzählgegenstand und an dem des Erzählers zu sich selbst, was präzise heißt, an der Narration, ein unauflöslicher Doppelsinn arbeiten, weswegen wir den Erzähler nicht als das Wirkliche angesichts der Chimäre begreifen können, geraten wir am Ende jeder Erzählung vor die Frage: ist das rätselhafte Wesen wirklich? Denn kein Drittes in der Erzählung und auch nicht die Erzählung selbst als das Dritte, das aus Erzähler und Erzählgegenstand hervorgegangen ist, bürgt für die Grenze zwischen dem Realen und dem Irrealen, dem, was in dieser Welt wirklich und was nur erfunden ist.“ (S. Dierks, a.a.O., S. 24). Das Verhältnis von Erzählerrede und Erzählgegenstand ist in der Tat ein wichtiger Gesichtspunkt für die Analyse von Kafkas spezifischer Schreibweise, wie ich insbesondere im II. Kapitel anhand der Verschränkung des erzählten Geschehens mit der Behauptungsstruktur der Erzählerrede zeigen werde.
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Einleitung
Nach diesem Durchgang durch die Positionen der Forschung stellt sich die Frage, ob es sinnvoll war, die Diskussion um Kafkas Phantastik an dem immer wieder bemühten Beispiel Die Verwandlung zu führen. Denn dieses Beispiel gibt eine bestimmt Fragerichtung vor; es fordert geradezu auf, danach zu fragen, ob die Verwandlung Gregor Samsas in ein Ungeziefer real oder imaginär sei. Diese Dichotomie aber läßt sich nicht ohne weiteres auf Kafkas gesamtes Werk beziehen. In vielen Texten Kafkas gibt es keine derartige Gegenüberstellung von Übernatürlichem und Alltag; dennoch lassen sich so gut wie alle Erzählungen Kafkas als traumähnlich oder phantastisch bezeichnen. Heinz Politzer hat in seiner Analyse des kurzen Prosastückes Ein Kommentar (Gib's auf!) gezeigt, wie hier der Eindruck des Überwirklichen ganz ohne Wunder entsteht, allein durch das Sprachspiel.35 Eine Verspätung auf dem Weg zum Bahnhof wird zu einem bedrohlich-alptraumhaften, mit unbestimmter Bedeutung aufgeladenen Erlebnis. Es wird in Sätzen entfaltet, die ein einfaches Geschehen zu erzählen scheinen und es doch kaum faßbar werden lassen. Politzer bezeichnet dieses Erzählverfahren als „Dahinbalancieren auf der Schneide zwischen Wirklichkeit und Überwirklichkeit“.36 Von Politzers Analyse ausgehend, läßt sich folgende Hypothese formulieren, die für die vorliegende Studie erkenntnisleitend sein wird: Es ist ein Irrweg, die Frage nach dem Phantastischen oder Traumhaften in Kafkas Erzählungen ausschließlich auf das Verhältnis zwischen realen und irrealen Elementen der Geschichte37 zu fokussieren. Die sprachlichen Verfahren, die Erzähltechniken sind es, die den Eindruck des Traumhaften hervorrufen – und zwar ohne daß auf der Ebene der Handlung etwas Übernatürliches geschehen müßte. Aus diesem Grund hat eine Analyse des „phantastischen Erzählens“ sich der besonderen Schreibweise zu widmen, die Kafkas Texte auszeichnet. Auf Kafkas Sprache haben im Rahmen der Phantastik-Diskussion bisher nur wenige Autoren hingewiesen. Diejenigen, die es taten, lehnten es meistens ab, Kafkas Texte als phantastisch oder traumhaft zu klassifizieren. Dem liegt oft die Meinung zugrunde, diese Kategorien seien unvereinbar mit dem Literarischen. So grenzt etwa Dieter Hasselblatt Kafkas Erzählen entschieden von Traum und 35
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H. Politzer, a.a.O., S. 19-44. Zu zeigen, daß der Eindruck des Phantastischen auch ohne übernatürliche Ereignisse zustande kommen könne, war allerdings nicht Politzers Intention. Das zitierte Beispiel soll im Kontext seiner Argumentation vielmehr die Offenheit und vielschichtige Bezüglichkeit von Kafkas Schreiben demonstrieren, welche eine interpretatorische Festlegung auf eine bestimmte Bedeutung unmöglich mache. H. Politzer, a.a.O., S. 28. „Geschichte“ wird hier als das Geschehen der Erzählung verstanden, im Unterschied zum Erzähldiskurs. Vgl. Reinhold Schardt: „Narrative Verfahren“, in: Einführung in die Literaturwissenschaft, hrsg. v. Miltos Pechlivanos u.a., Stuttgart/Weimar 1995, S. 49-67, insbesondere S. 50f., sowie Matias Martinez u. Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München (3) 2002, S. 108-110.
Phantastisches Erzählen und „imaginative Schreibart“
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Phantastik ab: „[...] die offensichtliche Nichtkongruenz der in den Romanen und Erzählungen zur Sprache gebrachten ‚Wirklichkeit‘ mit der gewohnten Wirklichkeit hat ganze Zweige der Kafka-Forschung bewogen, im Zusammenhang mit Kafkas Dichtung von quälend realer Phantastik, von Traum, Surrealismus, Metarealismus, magischem Realismus, zweiter Realität, dritter Wirklichkeit, Verlust der Wirklichkeit usw. usw. zu sprechen. Aus solchen Begriffsbildungen spricht nichts als eine Verlegenheit. Denn mit der Benennung des Befremdenden als Traum wird ihm das Befremdende abgesprochen [...]. Das eigentümlich Zauberische bei Kafka als traumhaft, transreal, magisch real usw. zu bezeichnen, bedeutet, daß die Scheidung von ‚wirklich‘ und ‚unwirklich‘ als Beurteilungsperspektive für Dichtung als zulässig angesehen wird. Sie ist jedoch unzulässig, sowohl als Prämisse wie als Perspektive. Sie trifft den Wirklichkeitsgrad von Dichtung überhaupt nicht.“38 Aus diesem Grund schließt sich Hasselblatt an das Verdikt Friedrich Sieburgs an – „Nichts wäre abwegiger, als wenn man seine [Kafkas] Erzählungen phantastisch nennen wollte“39 – und verweist darauf, daß literarisches Sprechen sich als solches jenseits von den Kategorien real und irreal befinde: „Die ‚Wirklichkeit‘ von Gedichtetem liegt nie in der stofflichen Konkretion sprachlicher Entwurfsmuster [...].“40 Daher sei es nicht gerechtfertigt, „von ‚Traum‘, ‚Phantastik‘ usw. zu sprechen, nur weil ein gedichtetes Seiendes nicht in der faktisch erfahrbaren ‚Wirklichkeit‘ vorkommt, wie z.B. der in ein Insekt verwandelte Handlungsreisende. Wenn Sprache mit sich allein ist, also dort, wo sie nicht mitteilt, streift sie ihre semantischen Valenzen ab und beraumt an, beschwört, holt herbei, spielt; heißt vorkommen, nicht was überall schon vorkommt, sondern was vorkommen sollte und könnte.“ Ähnlich wie Hasselblatt hat auch Walter Höllerer das Mögliche und Vorgestellte der Kategorie des Unwirklichen entgegengestellt, um Kafkas Werke vom Phantastischen abzugrenzen. Das unbegreifliche Ding-Wesen Odradek etwa sei keineswegs ein „phantastisches Gebilde“, sondern „ein Geschöpf aus Kafkas Imaginationsvermögen“.41 Höllerer beruft sich auf Gabriel García Marquez, der Phantasie und Einbildungskraft entgegensetzt und das Phantastische abwertend
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Dieter Hasselblatt: Zauber und Logik. Eine Kafka-Studie, Köln 1964, S. 97f. F. Sieburg: Nur für Leser. Jahre und Bücher, München 1961, S. 87; zitiert nach: D. Hasselblatt, a.a.O., S. 99, Anm. 2. Dieses und das folgende Zitat: D. Hasselblatt, a.a.O., S. 100. Walter Höllerer: „Odradek unter der Stiege“. Eröffnungsreferat für das Franz-Kafka-Symposion in London, 20.10. 1983, in: Sprache im technischen Zeitalter, H.85 (1983), S. 350-362, hier S. 355.
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Einleitung
als Domäne Walt Disneys, die Einbildungskraft dagegen als künstlerische Fähigkeit zur Schaffung einer neuen Realität bezeichnet habe.42 Beide Autoren kritisieren zu Recht, daß die Phantastik-Diskussion mit dem Versuch, reale von irrealen Textelementen zu unterscheiden, von Prämissen ausgeht, die dem sprachlichen Charakter der literarischen Wirklichkeit nicht angemessen sind. Die Konzentration auf Elemente der Handlung und die Vernachlässigung der sprachlichen Form der Texte sind in der Tat eklatante Mängel der Todorovschen Theorie und der von ihr ausgehenden Forschungsdiskussion. Es ist jedoch ebenso irreführend, die Begriffe ‚Traum‘ und ‚Phantastik‘ gänzlich aus der Diskussion zu verbannen, wie es Dieter Hasselblatt vorschlägt. Denn diese Begriffe haben sich Kafkas Lesern – wie oben gezeigt – offenbar schon von Beginn an aufgedrängt, und wenn sich in ihnen Verlegenheit dokumentiert (wie Hasselblatt meint), dann bezeugt dies zugleich die Dringlichkeit des Problems, für das sie ihren Namen zur Verfügung stellen sollen. Um diesem Phänomen Rechnung zu tragen, schlage ich vor, die Rezeptionsgeschichte ernst zu nehmen und das Phantastische als eine Wirkung von Kafkas Texten zu betrachten. Dies ist bisher kaum geschehen, obwohl bereits Tzvetan Todorov mit Nachdruck auf die Rolle des Rezipienten für das Zustandekommen phantastischer Unschlüssigkeit hingewiesen hatte. Todorovs Äußerungen radikalisierend, möchte ich behaupten: Das Phantastische ist ein Rezeptionseffekt, der durch Kafkas Schreibweise bewirkt wird. 2.3 Phantastik als Rezeptionseffekt Ansatzpunkt für diese neue Fragerichtung ist die Erkenntnis, daß alle zitierten Beschreibungen von Kafkas Phantastik Lese-Erfahrungen benennen. Diese Erfahrungen zeigen, daß die Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Traum (oder Imaginärem oder Überwirklichem) sich immer von neuem stellt, weil die Texte sie dem Leser stellen. Die Frage nach Kafkas Phantastik ist daher eng verbunden mit der Frage nach der Relation, die seine Texte zu ihren Lesern aufbauen. Wenn Kafkas Leser beschreiben, daß sie das traumähnliche oder auch alptraumhafte Geschehen der Erzählungen als lebendig und wirklich erfahren, 42
Vgl. das Marquez-Zitat bei W. Höllerer, a.a.O., S. 355: „Denn so phantastisch die Vorstellung auch ist, daß ein Mensch in ein riesiges Insekt verwandelt aufwacht, so fällt es doch niemandem ein, zu behaupten, die Phantasie mache die schöpferische Qualität von Franz Kafka aus; dagegen besteht kein Zweifel, daß sie Walt Disney das wichtigste Material geliefert hat. Demgegenüber glaube ich, daß Imagination (Einbildungskraft) eine besondere Fähigkeit ist, die die Künstler haben, um – ausgehend von der Realität, in der sie leben – eine neue Realität zu schaffen. Und diese ist im übrigen die einzige künstlerische Schöpfung, die mir brauchbar scheint. Sprechen wir also von der Imaginationskraft in der künstlerischen Schöpfung und überlassen wir die Phantasie den schlechten Regierungen zum ausschließlichen Gebrauch.“
Phantastisches Erzählen und „imaginative Schreibart“
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dann bezeugen sie damit eine Wirkung dieser Texte, die die ästhetische Distanz zum Leser durchbricht. Theodor W. Adorno hat diese Wirkung folgendermaßen beschrieben: „Unter den Voraussetzungen Kafkas ist nicht die geringfügigste, daß das kontemplative Verhältnis von Text und Leser von Grund auf gestört ist. Seine Texte sind darauf angelegt, daß nicht zwischen ihnen und ihrem Opfer ein konstanter Abstand bleibt, sondern daß sie seine Affekte derart aufrühren, daß er fürchten muß, das Erzählte käme auf ihn los wie Lokomotiven aufs Publikum in der jüngsten, dreidimensionalen Filmtechnik.“43 Das Problem der Phantastik-Diskussion ist, daß dieser Eindruck nicht – wie bei Adorno – als Rezeptionseffekt reflektiert, sondern auf den Realismus der Darstellung zurückgeführt wird. Hier wirkt der seit Edschmid zum Allgemeingut gewordene Gedanke nach, daß bei Kafka das Übernatürliche nicht als solches, sondern als etwas Alltägliches behandelt werde. Diese Auffassung faßt etwa Michael Müller in seiner Vorbemerkung zu einer Sammlung von Kafkas Träumen in der Behauptung zusammen: „Darauf, daß etwas Traumhaftes – oder Wunderbares oder Phantastisches – einfach als etwas Reales vor den Leser hingestellt und mit realistischen Mitteln erzählt wird, beruht der Effekt vieler Werke Kafkas.“44 Nicht nur, daß auf diese Weise die „realistischen“ Mittel mit der Wirkung verwechselt werden; diese Mittel kommen als – scheinbar – unschuldige Werkzeuge der Mimesis überhaupt nicht weiter in Betracht. Dagegen scheint mir gerade interessant, wie, auf welche Weise hier etwas Unglaubliches zweifellose Realität gewinnt, wie, durch welche Verfahren, der Eindruck des Körperlichen, Lebendigen, Wirklichen entsteht. Die Frage nach Kafkas Phantastik als Erforschung eines Rezeptionseffekts zu betrachten, heißt also, die Mittel zu untersuchen, durch die der Text mit dem Leser kommuniziert. Wie erzeugen die Texte den Eindruck des Traumhaften und zugleich höchst Realen? Wie entstehen die Irrealisierungseffekte in Kafkas Erzählungen, und wie gelingt es diesen Texten, den Leser in ihre ImaginationsWelten hineinzuziehen? Walter Höllerer hat für Kafkas spezifische Art und Weise, seine Leser anzusprechen, den Begriff der „imaginativen Schreibart“ geprägt. Worin sie besteht, hat er jedoch nur angedeutet: Kafkas Schreiben unterlaufe das deklarierende Sprechen und setze den Leser auf die Spur einer deutenden, für viele Möglichkeiten offenen Lektüre.45 Ich möchte den Begriff der „imaginativen Schreibart“ von Höllerer entleihen, um damit die Faktur einer Schrift zu bezeichnen, die sich als imaginativer Prozeß entfaltet, indem sie mit der deutend weiterdichtenden, imaginativen Aktivität des 43
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Theodor W. Adorno: „Aufzeichnungen zu Kafka“, in: ders., Prismen. Schriften 10/1, Frankfurt/M. 1977, S. 248-281, hier S. 256. Michael Müller: „Vorbemerkung“ zu: Franz Kafka: Träume, Frankfurt/M. 1993, S. 9-13, hier S. 10. W. Höllerer, a.a.O., S. 357.
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Lesers spielt. Erzählen als Imaginationsprozeß: Mit diesem Konzept soll in den folgenden Kapiteln beschrieben werden, wie Kafkas Texte verfahren. Ausgehend von den frühesten Aufzeichnungen, werde ich die Ausbildung der „imaginativen Schreibart“ Schritt für Schritt nachvollziehen. Analysiert werden also nicht allein die Elemente einer Verfahrensweise, sondern auch ihre werkgeschichtliche Entwicklung. Das Phantastische ist in der Phase der experimentellen Schreib-Erprobungen vor 1912 durchaus kein formuliertes oder bewußtes Ziel. Es ist allerdings bemerkenswert, daß Kafkas Schreiben mit der Beschreibung eines Kampfes im Zeichen von Traum und Phantastik beginnt. Die Experimente mit verschiedenen Erzählmöglichkeiten führen in den folgenden Jahren zu einer weiteren Annäherung von Träumen und Schreiben, während die phantastisch-wunderbaren Elemente zurücktreten. Kafka erfindet Möglichkeiten textueller Imaginationsprozesse, die dem Träumen nahekommen, ohne den Vorgang des Träumens selbst zu thematisieren. Die Prosaminiaturen der Betrachtung etwa erproben ein imaginierendes, phantasmagorisches Entwerfen des zu Erzählenden. Von hier aus entwickeln die literarischen Ansätze in den Tagebüchern das Verfahren eines phantasierenden Schreibens, aus dem schließlich der Heizer entsteht – eine Geschichte, die als Traum erzählt ist, ohne doch eine Traumerzählung zu sein, und die wir lesen, als träumten wir sie. Diese Entwicklung werde ich in Einzel-Lektüren nachzeichnen, um schließlich zu zeigen, daß die Frage, inwiefern Kafkas Erzählungen phantastisch zu nennen seien, von der Entstehungsgeschichte seiner Schreibweise her neu und anders zu beantworten ist als bisher geschehen. Wenn man nicht erst bei der Erzählung Die Verwandlung beginnt, nach der Relation von Traum und Erzählen zu fragen, sondern diese Beziehung bereits an den Anfängen von Kafkas Schreiben untersucht, werden Verfahren des imaginativen Schreibens sichtbar, die dem von einem „ungeheuren Ungeziefer“ gebannten Blick bisher entgangen sind.
Zur Methode
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3. Zur Methode Kunstwerke werden wir die Dinge nennen, die mit Hilfe besonderer Kunstgriffe geschaffen werden, mit Kunstgriffen, die bewirken sollen, daß diese Dinge als Kunst wahrgenommen werden.46
Meine Untersuchung von Erzählverfahren und Schreibweisen in Kafkas Frühwerk schließt an eine lange Reihe von Studien an. Daß man Kafka beim Wort nehmen müsse, daß also die Aufmerksamkeit auf seine sprachlichen Verfahren zu lenken sei, ist ein in der Geschichte der Kafka-Forschung immer wieder erhobenes Postulat. Mit Nachdruck hat etwa Martin Walser 1961 eine Abkehr von der weltanschaulichen Kafka-Interpretation gefordert und sich der reinen „Beschreibung einer Form“ gewidmet47. Beispielhaft in dieser Hinsicht ist Heinz Politzers Arbeit „Franz Kafka, der Künstler“ (1962/65). Theodor W. Adorno hat am eindrücklichsten die Eigenart von Kafkas Texten beschrieben, die ihm eine solche Konzentration auf das Wort nötig erscheinen ließ: „Jeder Satz spricht: deute mich, und keiner will es dulden. [...] [Kafka] ist die Schrift gewordene Turandot. Wer es merkt und nicht vorzieht fortzulaufen, muß seinen Kopf hinhalten oder vielmehr versuchen, mit dem Kopf die Wand einzurennen, auf die Gefahr hin, daß es ihm nicht besser ergeht als den Vorgängern. Anstatt abzuschrecken, steigert ihr Los, wie im Märchen, den Anreiz. Solange das Wort nicht gefunden ist, bleibt der Leser schuldig.“48 Die Art dieser Schrift und ihres Absolutheitsanspruchs näher zu bestimmen, hat vor allem die jüngere Kafka-Forschung als ihre wichtigste Aufgabe angesehen. Einig ist man sich darin, daß in dem Beharren auf dem Wort, auf der Sprache als einem Letzten, Unhintergehbaren und zugleich Unzugänglichen Kafkas Modernität liege.49 Im Zuge dieser Konzentration auf Sprache und Schrift haben die früher für die Kafka-Forschung so bezeichnenden Diskussionen über die Deutung dieser Schrift an Virulenz verloren. Während Adorno sich noch als interpretierender Leser vor eine unerfüllbare Aufgabe gestellt sah – „jeder Satz spricht: deute mich, und keiner will es dulden“ –, neigen die wissenschaftlichen Leser von heute zur Meta-Reflexion über die Bedingungen einer solchen
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Viktor Šklovskij: Theorie der Prosa, Frankfurt/M. 1966, S. 9. Martin Walser: Beschreibung einer Form, München 1961. Th.W. Adorno, a.a.O., S. 255f. Vgl. Maurice Blanchot: Von Kafka zu Kafka. Frankfurt/M. 1993.
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Einleitung
Appellstruktur50 und finden, dekonstruktionistisch geschult, in Kafkas Texten die Voraussetzungen der sprachlichen Sinnproduktion reflektiert und vorgeführt.51 Diese eher philosophisch orientierte Rede über die Bedeutung von Sprache und Schrift im Werk Kafkas hat die philologische Beschäftigung mit Kafkas Schreiben in den Hintergrund gedrängt. Es ist erstaunlich, wie wenig das literaturwissenschaftliche Handwerkszeug an der bereits seit 1993 in wesentlichen Teilen vorliegenden Kritischen Kafka-Ausgabe erprobt wurde.52 Auch die bisher erschienenen Bände der Faksimile-Edition von Roland Reuß und Peter Staengle („Frankfurter Kafka-Ausgabe“) sind in der Forschung so gut wie nicht berücksichtigt worden.53 Dabei kann sich die Analyse mit Hilfe dieser Editionen erstmals auf den Text stützen, den Kafka tatsächlich geschrieben hat, wovon die vorliegende Studie intensiven Gebrauch macht. Ich untersuche Kafkas Schreibweise mit einem ‚close reading‘, das den Mikrostrukturen einzelner Sätze folgt. Diese Methode scheint mir die angemessene, weil Kafkas Texte um so vielschichtiger und mehrdeutiger werden, je genauer man sie betrachtet. Ein Satz wie beispielsweise der Eingangssatz des Verschollenen, der bei flüchtiger Lektüre eine einfache Aussage zu vermitteln scheint, wird bei näherem Hinsehen zum Ausgangspunkt unbeantwortbarer Fragen: „Als der 17jährige Karl Roßmann [...] in dem schon langsam gewordenen 50
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Kafkas Texte scheinen in geradezu idealtypischer Weise diesem von Wolfgang Iser geprägten Begriff zu entsprechen (vgl. Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa, Konstanz 1970). Vgl. z.B. Stanley Corngold: „Kafka's other Metamorphosis“, in: Kafka and the contemporary critical performance, hrsg. v. Alan Udoff, Bloomington/Indianapolis 1987, S. 41-57; Joseph Vogl: Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik, München 1990. Wichtige Referenzpositionen für die dekonstruktionistische Kafka-Interpretation sind von der französischen Literaturwissenschaft formuliert worden; vgl. insbesondere die Studie von Gilles Deleuze und Félix Guattari: Kafka – Pour une littérature mineure, Paris 1975, sowie Jacques Derridas Lektüre von Kafkas Parabel „Vor dem Gesetz“ (in J. Derrida: Préjugés. Vor dem Gesetz, hrsg. v. Peter Engelmann, Wien 1992, S. 3489). Franz Kafka: Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe, hrsg. v. Jürgen Born, Gerhard Neumann, Malcolm Pasley und Jost Schillemeit, Frankfurt/M. (Kürzel: KKA). Bis 1993 waren erschienen: Das Schloß (1982), Der Verschollene (1983), Tagebücher (1990), Der Proceß (1990), Nachgelassene Schriften und Fragmente I u. II (1992/93). Danach erschienen noch Drucke zu Lebzeiten (1996) sowie Briefe (Briefe 1900-1912: 1999, Briefe 1913 - März 1914: 2001, Briefe 1914-1917: 2003) und Amtliche Schriften (2004). – Die Studie von Annette Schütterle: Franz Kafkas Oktavhefte, a.a.O., auf die ich unten näher eingehe, bildet eine unter den neueren Arbeiten zu Kafka lobend hervorzuhebende Ausnahme. Franz Kafka: Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte, hrsg. v. Roland Reuß u. Peter Staengle, Frankfurt/M., Basel. Bisher erschienen: 3 Briefe an Milena Jesenská vom Sommer 1920 (1995); Der Process (1997); Beschreibung eines Kampfes / Gegen zwölf Uhr [...] (1999); Oxforder Quarthefte 1&2 (2001); Die Verwandlung (Oxforder Quartheft 17, 2003). - Ich konnte diese Ausgabe nur zur nachträglichen Überprüfung heranziehen, da der für meine Analyse einschlägige Band Oxforder Quarthefte 1&2 erst nach Beendigung meiner Textarbeit erschienen ist. Zur Bedeutung der konkreten Gestalt des Manuskripts für die Analyse s.u. die methodische Abgrenzung von der „critique génétique“.
Zur Methode
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Schiff in den Hafen von Newyork einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht.“54 Was hat es mit dieser strahlenden Erscheinung auf sich? Anscheinend ist weder das Sonnenlicht wirklich stärker geworden – Karl erblickt die Statue ja nur „wie in einem...“, nicht in einem „stärker gewordenen Sonnenlicht“ –, noch hat eine Veränderung in Karls Aufmerksamkeit stattgefunden. Sein Blick war „schon längst“ auf die Statue gerichtet, und nicht dieser Blick verändert sich „plötzlich“, sondern der Anblick. Was also ist geschehen? Der Vorgang bleibt in der Schwebe, weil keine Instanz für das haftbar zu machen ist, was die Erzählerrede behauptet. Dadurch aber gewinnt die Erscheinung eine geradezu halluzinatorische Präsenz.55 – Solche sich selbst verunsichernden Sprachprozesse fordern ein geschärfte Aufmerksamkeit. Um sie zu beschreiben, muß die Lektüre so genau wie möglich dem Aufbau und der Bewegung der Sätze, den Verbindungen zwischen den Worten folgen. Jede vorschnell abstrahierte, summarische Aussage rächt sich beim nächsten Blick auf den Text; an keiner Stelle scheint es erlaubt, sich von seinem Wortlaut zu entfernen. In der Vorgehensweise orientiert sich diese extrem nahsichtige Lektüre weitgehend an der Tradition des ‚close reading‘ bzw. der ‚explication de texte‘ und der ‚werkimmanenten Hermeneutik‘, wie sie in den Nationalphilologien ausgearbeitet worden sind.56 Mit deren Prämissen bin ich in bezug auf Kafka dahingehend einig, daß die entscheidende Frage nicht ist, was in einem literarischen Werk kommuniziert wird, sondern wie es kommuniziert wird. Motivation und Rechtfertigung meiner Arbeit sind allerdings mit den literaturtheoretischen Festlegungen dieser Schulen nicht deckungsgleich. Die Vertreter des „New Criticism“ und der werkimmanenten Interpretation gingen von einem Kunstbegriff aus, welcher der Einheit und Einzigartigkeit des Werks absoluten Vorrang zusprach und damit die Konzentration auf den Text sowie den Ausschluß aller dem Kunstwerk äußerlichen (historischen, sozialen, psychologischen) Bestimmungen begründete. Dieser Werkbegriff kommt als Grundlage für meine Untersuchung nicht in Frage, schon allein weil sie sich hauptsächlich Texten widmet, die nicht als Werke im klassischen Sinne gelten können, da sie weder abgeschlossen noch von ihrem Verfasser anerkannt und autorisiert worden sind. 54
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KKAT, S. 464. Zitiert nach der Niederschrift des ersten Romankapitels im sechsten Tagebuchheft (KKAT, S. 464-488), die nach dem Ende dieses Heftes auf den noch leeren Seiten des zweiten Heftes fortgesetzt wurde (KKAT, S. 168-189). Vgl. meine ausführliche Analyse dieser Textstelle in Kap. IV. Vgl. hierzu René Wellek u. Austin Warren: Theorie der Literatur. Durchges. Neuauflage, Weinheim 1995, S. 144ff.; Peter V. Zima: Literarische Ästhetik. Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft, Tübingen 1995, S. 48-59 („Epilog: Von Croce zum New Criticism“); Michael Weitz: „Zur Karriere des Close Reading: New Criticism, Werkästhetik und Dekonstruktion“, in: Einführung in die Literaturwissenschaft, hrsg. v. Miltos Pechlivanos u.a., Stuttgart/Weimar 1995, S. 354-365.
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Einleitung
Ich möchte das Verfahren meiner Kafka-Lektüre vor allem mit der Eigenart dieser Texte selbst rechtfertigen. In Kafkas Schreiben ist alles auf die Sprache gestellt; das Eigengewicht der Gestaltung ist so groß, daß seine Sätze sich weder reformulieren noch zusammenfassen oder nacherzählen lassen.57 Daher gelten für die Auseinandersetzung mit diesen Sätzen handlungsleitende Imperative, wie sie Theodor W. Adorno formuliert hat: „alles wörtlich nehmen, nichts durch Begriffe von oben her zudecken. Die Autorität Kafkas ist die von Texten. Nur die Treue zum Buchstaben, nicht das orientierte Verständnis wird einmal helfen.“58 Diese Lektüre-Anleitung radikalisierend, werde ich Kafkas Texte ausschließlich immanent lesen und mich ganz auf die „Buchstaben“ konzentrieren, und zwar unter Absehung von historischen oder sozialen Verortungen, ja sogar unter weitgehender Mißachtung von Handlung, Motiven und Themen. Mein Gegenstand ist der ‚discours du récit‘; die Darstellung wird gegenüber Geschichte und Handlung in den Vordergrund gestellt.59 Untersucht werden vor allem Fragen der Perspektive, des Aussagemodus sowie der Rhetorik und Stilistik.60 Dabei komme ich nicht ganz ohne thematische Bezüge aus; doch sind die Themen, um die Kafkas Frühwerk kreist – „Junggesellentum, Kindheit, Doppelgängerei, Frauen, das zerstreute und das in sich zusammengekrümmte Ich, Träume von Lebenserfolg und von existentieller Reinheit“61 –, im Rahmen dieser Studie nicht als eigener Untersuchungsgegenstand von Interesse.
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Diese Aussage ist in ihrer allgemeinen Form höchst angreifbar, denn die sprachliche Gestalt ist selbstverständlich für jedes literarische Werk absolut wesentlich. Das Besondere in der Art und Weise, wie Kafkas Texte gestaltet sind, liegt jedoch so ausschließlich in der Verwendung einzelner Worte mit ihrem Reichtum an Assoziationen und Qualitäten, daß ein übersetzter Kafka-Text tatsächlich völlig anders erzählt als das Original. Th.W. Adorno: „Aufzeichnungen zu Kafka“, a.a.O., S. 257. Die narratologische Begrifflichkeit folgt im Wesentlichen den Definitionen von Martinez/Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, a.a.O. Vorzüge dieses Standardwerkes sind erstens die m.E. gut begründete Zusammenführung deutscher und französischer Begriffsbildungen und Theorie-Traditionen; zweitens die Überprüfung der Konzepte an literarischen Texten des 20. Jahrhunderts (u.a. auch an Werken von Kafka) mit ihren von den tradierten Formen abweichenden Erzählverfahren. – ‚Discours du récit‘: in Anlehnung an Tzvetan Todorov die sprachliche Form oder allg. Darstellungsweise, die von der ‚histoire‘ (story, Fabel) abgegrenzt wird; bei Martinez/Scheffel entspricht dem die Opposition von Welt/Handlung vs. Darstellungsweise (Martinez/Scheffel, a.a.O., S. 24). Vor allem im Hinblick auf die Erzählperspektive sind die Arbeiten der sog. „Tübinger Schule“ grundlegend, die im Anschluß an Friedrich Beißners Entdeckung von Kafkas „einsinniger Erzählweise“ die Fragen nach Erzählerfigur und Perspektive ins Zentrum der Analyse gerückt haben (vgl. den Forschungsüberblick zur „Tübinger Schule“ bei Sonja Dierks, a.a.O., S. 113ff.). Besonders hervorzuheben ist die umfangreiche und höchst detailgenaue Arbeit von Jörgen Kobs: Kafka. Untersuchungen zu Bewußtsein und Sprache seiner Gestalten, hrsg. v. Ursula Brech, Bad Homburg 1970. So die Zusammenfassung der thematischen Konstellationen des Frühwerks bei Reinhard Baumgart, a.a.O., S. 172.
Zur Methode
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Nun ist der soeben vorgestellte Begründungsversuch zirkulär, da er als Rechtfertigung eines methodischen Vorgehens den spezifischen Charakter des Werks voraussetzt, der doch erst als Ergebnis der Lektüre zutage treten kann. Darüber hinaus sind derartige Annahmen jederzeit von subjektiven Interpretations-Entscheidungen geprägt. Ein Anspruch auf methodische Letztbegründung läßt sich also nicht erheben; mehr als eine Absichtserklärung kann diese Auskunft über die methodischen Voraussetzungen nicht sein. Das aber heißt: Es gehört zur Aufgabe, die Gründe dafür transparent zu machen, warum Kafkas Texte ihre Leser zu ausschließlicher Konzentration auf ihren Wortlaut verpflichten. Allem Beharren auf Textimmanenz zum Trotz, ist das damit anvisierte Ziel letztlich ein (literar-)historisches: Zu erforschen ist die spezifische Sprach-Arbeit, welche die Signatur von Kafkas Erzählen als modernistische bestimmt. Als Grundtexte der Moderne sind Kafkas Erzählungen in jenem besonderen, emphatischen Sinne sprachliche Kunstwerke, den Samuel Beckett für James Joyce bestimmt hat: „His writing is not about something; it is that something itself“.62 Die Unhintergehbarkeit von Kafkas Texten hat Folgen für die Darstellung: Wie die mikrologische Lektüre, so kann auch der Bericht über ihre Ergebnisse nur schwer abgekürzt werden. Mein Vorgehen ist daher über weite Strecken ein kommentierendes Nachzeichnen von Sprachbewegungen und Erzählprozessen. Auf diese Weise möchte ich den Verlauf der textuellen Imaginationsprozesse als einen sich im Lesen ereignenden Vorgang zeigen. Denn diese Ereignisqualität ist – wie zu zeigen sein wird – für Kafkas Schreiben wesentlich. In jedem Satz wird nicht nur etwas ausgesagt, es geschieht auch etwas. Kafkas Sätze sind sprachliche Handlungen: Jeder Satz ist ein neuer Schritt, der die Bewegung des sprachlichen Imaginationsprozesses weitertreibt, und jeder dieser Schritte entsteht erst im Augenblick seines Vollzugs. Ihre Abfolge kann nicht vorausgewußt oder -geplant werden; jeder neue Satz entscheidet über die Fortführung des ganzen ErzählUnternehmens. In diesem Sinne ist Kafkas Schreiben „performativ“ zu nennen.63 62
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Samuel Beckett: „Dante . . . Bruno . Vico . . Joyce“ (1929), in: ders., Disjecta. Miscellaneous writings and a dramatic fragment, hrsg. v. Ruby Cohn, London 1983, S. 19-33, hier S. 27. Das vollständige Zitat lautet: „Here form is content, content is form. You complain that this stuff is not written in English. Is is not written at all. It is not to be read – or rather, it is not only to be read. It is to be looked at and listened to. His writing is not about something; it is that something itself. [...] When the sense is sleep, the words go to sleep. (See the end of Anna Livia.) When the sense is dancing, the words dance. [...]“. Vgl. zum Begriff der Performativität und seiner Anwendung in der Literaturwissenschaft allg. Manfred Pfister: „Performance/Performativität“, in: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, hrsg. v. Ansgar Nünning, Stuttgart u. Weimar (2) 2001, S. 496. – Eine Auseinandersetzung mit dem Begriff des Performativen und seiner Anwendung auf Kafkas Texte gehört nicht zu den Absichten der vorliegenden Studie. Die Theorie der Performativität geht von sprachlichen Handlungen aus, die das vorführen bzw. tun, wovon sie sprechen. Damit läßt sich jedoch nur ein kleiner Teil der Phänomene erfassen, die ich im folgenden beschreiben werde. Einige Kategorien, die im Kontext der literaturwissenschaftlichen Diskussion um die Performativität
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Einleitung
Eine Darstellung, die diese Qualität am Text aufzeigen will, muß danach streben, auf der Höhe des jeweiligen ereignishaften Vollzugs zu bleiben, da dieser sich eben anders als in actu nicht fassen läßt.64 Das Unternehmen, Kafkas Erzählen als prozeßhaft verfaßte Sprachbewegung zu analysieren, hat in mancher Hinsicht eine geradezu täuschende Ähnlichkeit mit jenen Kafka-Lektüren, die sich an den Methoden der „critique génétique“ orientieren. Hier wird Kafkas Schreiben („écriture“) am Manuskriptbefund untersucht. Anhand der Spuren des Schaffensprozesses im handschriftlichen Text läßt sich belegen, daß Kafkas Erzählungen ohne vorab gefaßten Plan entstanden sind und offenbar in dem Moment erst erfunden und entwickelt wurden, in dem die schreibende Hand des Autors über die Seite ging.65 Daher ist Kafka für Almuth Grésillon der Modellfall einer „écriture à processus“, die sich ins Schwarze, Unbekannte hinein vorschreibt und für deren Analyse die Methoden der „critique génétique“ nachgerade erfunden worden zu sein scheinen.66 Diese Form der ungesteuerten, prozeßhaften Textgenese bleibt nicht ohne Einfluß auf den Erzählverlauf. Daher unternehmen viele Textgenetiker den Versuch, aus der Art und Weise des Zustandekommens von Kafkas Texten die Struktur dieser Texte zu erklären. Meines Erachtens ist dies ein Kategorienfehler, der weder von den Vertretern der „critique génétique“ noch von anderer Seite ausreichend bedacht worden ist. Es ist ein fundamentaler Unterschied, ob von der materiellen Entstehung eines Textes die Rede ist oder von einem sprachlichen Entstehungs- oder Entwicklungsprozeß, verstanden als strukturelles Merkmal eines Textes. Im ersten Fall handelt es sich um einen historischen, einmaligen Vorgang; im zweiten um ein sprachliches Phämomen, das sich bei jedem Öffnen
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prominent geworden sind, wie etwa der Begriff der „Inszenierung“, werden allerdings eine wichtige Rolle spielen. Eine theoretische Fundierung für dieses Problem wäre möglicherweise über Gilles Deleuzes Kafka- und Carroll-Lektüren und seine Überlegungen zu einer „Logik des Vollzugs“ zu gewinnen. Vgl. zu den Konzepten von Ereignis und Vollzug bei Deleuze Mirjam Schaub: Gilles Deleuze im Wunderland: Zeit- als Ereignisphilosophie, München 2003, S. 116-179 u. 276. Diese Vermutung zu Kafkas Schaffensprozeß ist zuerst von Malcolm Pasley formuliert worden, der als Hüter der Kafka-Manuskripte in der Bodleian Library besten Zugang zu sowie intime Kenntnis von Kafkas Handschriften hatte (Malcolm Pasley: „Wie der Roman entstand“, in: Nach erneuter Lektüre: Franz Kafkas ‚Der Proceß‘, hrsg. v. Hans-Dieter Zimmermann, Würzburg 1992, S. 11-33). Unter den Herausgebern der Kritischen Kafka-Ausgabe hat vor allem Jost Schillemeit Pasleys Thesen weiter verfolgt. Von Seiten der „critique génétique“ haben Florence Bancaud (Le Journal de Kafka ou l’écriture en procès, Paris 2001) und Annette Schütterle (a.a.O.) detaillierte Analysen der Tagebuch- respektive Oktavheft-Manuskripte vorgelegt. Leider sind beide Arbeiten nach Fertigstellung wesentlicher Teile der vorliegenden Studie erschienen, so daß ihre Thesen im Einzelnen keine Berücksichtigung mehr finden konnten. Zur Abgrenzung von Schreibweise und Schreibprozeß vgl. meine Ausführungen in Kap. III u. IV. Almuth Grésillon: „Über die allmähliche Verfertigung von Texten beim Schreiben“, in: Kulturelle Perpektiven auf Schrift und Schreibprozesse, hrsg. v. Wolfgang Raible, Tübingen 1995, S. 1-36, hier S. 28f.
Zur Methode
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des Buches aufs neue ereignet. Wenn Kafkas Texte so wirken, als seien sie planlos aus dem Augenblick entwickelt, dann heißt das noch keineswegs, daß sie improvisierend niedergeschrieben wurden. Ebensowenig muß ein aus dem Moment heraus geborener Schaffensprozeß notwendig Spuren im Text hinterlassen, die für die Struktur dieses Textes wesentlich sind. Es ist allerdings – soviel muß zugestanden werden – im Falle Kafkas tatsächlich so, daß beide Prozesse, d.h. der Entstehungsvorgang und der textuelle Imaginationsprozeß, einander durchdringen und sich zu bedingen scheinen. Doch inwiefern dieses Wechselverhältnis für die Texte in ihrem Status als Kunstwerke (und nicht als historische Zeugnisse eines Schreibvorgangs) relevant wird, kann nur geklärt werden, wenn man die beiden Analyseperspektiven klar voneinander unterscheidet. Wenn also im folgenden von „Kafkas Schreiben“ die Rede ist, dann ist immer seine Schreibweise gemeint und nicht der Vorgang der Textproduktion. Gegenstand der Analyse ist, wie sich Kafkas frühe Texte als erzählerische Imaginationsprozesse konstituieren, nicht unter welchen Umständen sie entstanden sind. Die Manuskripte stehen daher nicht im Zentrum der Analyse; die Untersuchung kann weitestgehend ohne einen Blick auf die Handschriften auskommen und allein auf den Apparat der Kritischen Ausgabe zurückgreifen. Das Augenmerk gilt nicht den Schriftzügen, sondern den Vorgängen, die zwischen den Wörtern, innerhalb der Sätze stattfinden. So faszinierend Kafkas Handschrift als ästhetisches Bild und historisches Zeugnis ist: Die Aura von Authentizität und Nähe zum Schaffensprozeß ist auch verführerisch.67 Die Exploration der Manuskripte scheint mir die Auseinandersetzung mit dem Text selbst mitunter in den Hintergrund zu drängen. Demgegenüber möchte ich zeigen, daß man Kafka nicht nur in seinen unveröffentlichten Manuskripten neu entdecken kann, sondern zum Beispiel auch in den Prosaminiaturen der Betrachtung, die seit 1908 gedruckt und für jedermann zugänglich vorliegen (vgl. Kap. II). Wie also soll die Rede von ‚Kafkas Erzählen als prozeßhaft verfaßter Sprachbewegegung‘ verstanden werden, wenn damit nicht der improvisierendentwerfende Entstehungsvorgang angesprochen wird? Gemeint ist ein Erzählen, das sich von der narrativen Konvention entfernt, der zufolge das in der 67
Dies gilt z.B. für den Versuch von Karlheinz Fingerhut, anhand von Manuskriptbefunden die kreativen Prozesse nachzuempfinden, die sich abspielten, während Kafka den Proceß-Roman schrieb (Karlheinz Fingerhut: „Annäherung an Kafkas Roman ‚Der Prozess‘ über die Handschrift und über Schreibexperimente“, in: Nach erneuter Lektüre: Franz Kafkas ‚Der Proceß‘, hrsg. v. Hans-Dieter Zimmermann, Würzburg 1992, S. 35-65). Vgl. Axel Gellhaus‘ kritische Auseinandersetzung mit dem Wunsch, „den Moment der Sinn-Epiphanie“ beim Schreiben durch die Lektüre von Manuskripten nachträglich „wiederzubeleben“: Axel Gellhaus: „Textgenese als poetologisches Problem“, in: Die Genese literarischer Texte, hrsg. v. Axel Gellhaus, Würzburg 1994, S. 11-24, hier S. 14.
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Einleitung
Erzählung Berichtete dem Akt des Erzählens zeitlich bzw. logisch vorausgeht.68 In Kafkas Texten gibt es keine Erzählung vor dem Erzählen. Das erzählte Geschehen ist mit der Behauptungsstruktur der Erzählerrede derart verschränkt, daß der Erzählvorgang und das zu Erzählende gleichursprünglich aus einander hervorgehen. Das Erzählen ist zugleich Hervorbringen, und zwar in einem ähnlichen Sinne, wie das Träumen ein produktiver Prozeß ist, der einen narrativen Verlauf im Moment des Sich-Ereignens herstellt. Welche Kunstgriffe nötig sind, um einen solchen Sprachprozeß zu erzeugen und in Gang zu halten, und wie Kafka diese Mittel sucht, erfindet und verändert, werden die folgenden Analysen zeigen. Wesentlich für das Erzählen als Imaginationsprozeß ist, wie bereits erwähnt, die Rolle des Lesers. Und zwar vor allem das Zusammenspiel der im Text angelegten Position eines impliziten Lesers mit der Lektüre des aktuellen, tatsächlichen Rezipienten. Um diesen Aspekt immer im Blick zu behalten, ist meine Beschreibung der Erzähltechniken in Kafkas Frühwerk doppelseitig strukturiert: Zum einen ist sie produktionsästhetisch orientiert, insofern ich zu zeigen versuche, welche Schreibverfahren Kafka erprobt und wie er sie weiter entwickelt; zum anderen ist sie wirkungsästhetisch angelegt, weil sie danach fragt, wie der Text mit dem Leser kommuniziert. Erkenntnisleitende Begriffe für letztere Fragestellung sind zunächst die von Wolfgang Iser geprägten Konzepte des impliziten Lesers sowie der Leerstelle.69 Darüber hinaus gilt das Augenmerk besonders der rhetorischen Dimension in der Kommunikation zwischen Text und Leser, die für Kafkas Schreiben große Bedeutung besitzt. Dabei zeigt sich, daß innerhalb des Frühwerks eine wichtige Entwicklung stattfindet: Kafka entdeckt in den Jahren vor 1912 rhetorische und erzähltechnische Mittel der Leseransprache, die für die Signatur seines späteren Werks prägend sein werden. Die vom Text inszenierten Imaginationsprozesse werden mit Hilfe dieser Verfahren zu Vorgängen in der Imagination des Lesers. Der Leser wird zum Akteur des Textes gemacht, den er deutend zu ergänzen versucht, während er seine Autonomie zugleich an das erzählstrategische Spiel des Textes verliert. Die hiermit vorgestellten methodischen Konzepte und erkenntnisleitenden Annahmen sind als Voraussetzungen der Untersuchung in dem Sinne zu verstehen, daß sie die Fragestellung begründen und diskursiv nachvollziehbar machen sollen. In der Analyse selbst werden sie weder als Leitlinien vorausgesetzt, noch sollen sie gefunden werden, um die Phänomene auf den immer schon gewußten Begriff zu bringen. Vielmehr versteht sich diese Studie als Entdeckungsreise durch die Frühphase eines Schreibens, das sich permanent selbst erfindet, ohne daß es ein fest umrissenes Ziel verfolgen könnte oder wollte. 68 69
Vgl. Martinez/Scheffel, a.a.O., S. 18. Wolfgang Iser: Der implizite Leser. Kommunikationsformen von Bunyan bis Beckett, München 1972.
Zur Methode
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Meine Absicht ist, zu zeigen, daß und warum der ständige Neuanfang, die Ziellosigkeit und die Beweglichkeit im Experiment zu den Bedingungen dieses Schreibens gehören. Zu den Entdeckungen, die auf dieser Reise durch den Text zu machen sind, gehört die Erkenntnis, daß Ziellosigkeit das Entstehen von Zusammenhängen keineswegs ausschließt. In Kafkas Frühwerk bilden sich Erzählweisen und Stilformen heraus, die seinem Schreiben eine ganz bestimmte Signatur geben. Diese läßt sich jedoch nicht außerhalb der unabschließbaren Suchbewegung des Schreibens fassen: Sie wird im Nachgehen seiner mäandernden Wege allererst sichtbar.
I Beschreibung eines Kampfes 1. Einleitung Die Beschreibung eines Kampfes ist Kafkas erstes großes Erzählprojekt. Der Text entstand zwischen 1904 und 1907; im Nachlaß überliefert ist die abschließende Reinschrift von 1907 („Fassung A“).1 Mit Ausnahme einzelner Teile blieb die Erzählung zu Kafkas Lebzeiten unveröffentlicht.2 Zwischen 1909 und 1911 arbeitete Kafka an einer zweiten Fassung, wobei die Struktur der Erzählung eine grundlegende Umgestaltung erfuhr. Diese „Fassung B“ ist unvollendet geblieben.3 Im gleichen Zeitraum wie die Beschreibung eines Kampfes entstanden zwei Ansätze zu einem Roman mit dem Titel Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande (1906–07 und 1909), die ebenfalls Fragment geblieben sind. Die „Fassung A“ der Beschreibung eines Kampfes ist also das einzig vollständige Dokument der frühen Erzählversuche Kafkas. Anhand dieses Textes werde ich im folgenden die Position bestimmen, von der eine Beschäftigung mit den Erzählverfahren in Kafkas Frühwerk ausgehen kann.
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KKA: Nachgelassene Schriften und Fragmente I, S. 54-120. Zitate aus diesem Text werden im folgenden mit der Sigle „BK“ und der Nennung der Seitenzahl nachgewiesen. In der Zeitschrift Hyperion erschienen 1908 zwei Prosastücke aus der Beschreibung eines Kampfes unter den Titeln Die Bäume und Kleider, 1909 die Texte Gespräch mit dem Betrunkenen und Gespräch mit dem Beter. „Fassung B“ in KKA: Nachgelassene Schriften und Fragmente I, S. 121-169; Angaben zur Datierung s. KKA: Nachgelassene Schriften und Fragmente I, Apparatband, S. 43-50 u. 52-56. Bis zur textkritischen Edition der beiden Fassungen der Erzählung durch Ludwig Dietz war die Beschreibung eines Kampfes nur in der Edition von Max Brod verfügbar, die eine Mischung aus beiden Fassungen darstellt (Franz Kafka: Beschreibung eines Kampfes. Die zwei Fassungen, Parallelausgabe nach den Handschriften. Textedition von Ludwig Dietz, hrsg. v. Max Brod, Frankfurt/M. 1969). Roland Reuß hat 1999 eine Edition der beiden Manuskripte vorgelegt: Franz Kafka: Beschreibung eines Kampfes / Gegen zwölf Uhr [...]. Faksimile-Edition, hrsg. v. Roland Reuß in Zusammenarbeit mit Peter Staengle und Joachim Unseld, Frankfurt/Main, Basel 1999 (Teilband von Franz Kafka: Historisch-kritische Ausgabe sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte, hrsg. v. Roland Reuß u. Peter Staengle). Reuß verweist zu Recht darauf, daß die Rede von zwei „Fassungen“ irreführend ist, denn „es existiert kein ideales Substrat hinter den überlieferten Handschriften, deren äußerliche Seite sie wären, noch sind die beiden Handschriften Fassungen voneinander“ (Roland Reuß: „Zur kritischen Edition von ‚Beschreibung eines Kampfes‘ und ‚Gegen 12 Uhr...‘ “, in: Franz Kafka-Hefte 2, Frankfurt/M., Basel 1999, S. 3-8, hier S. 6). Dennoch möchte ich die Bezeichnungen „Fassung A bzw. B“ der einfachen Orientierung halber beibehalten, da sie in der Forschung eingeführt sind.
Einleitung
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Für eine solche Positionsbestimmung ist die Beschreibung eines Kampfes bereits mehrfach herangezogen worden. Dieses Interesse scheint nachgerade das einzige zu sein, das man der Erzählung entgegenbringt. Die Forschung wendet sich dem Text nicht um seiner selbst willen zu; sie wird vielmehr von der Absicht geleitet, Ursprünge und Prinzipien von Kafkas Schreiben zu definieren. Wilhelm Emrich etwa sieht in der Beschreibung eines Kampfes den „ ‚Kampf‘, der [...] sich in dem ‚Kampf ‘ aller späteren Helden seiner Dichtungen fortsetzt“. Dieser sei „nichts anderes als die fast übermenschliche Anstrengung, die ‚Einzelheiten‘, sämtliche konkreten Gegebenheiten des Lebens, und zugleich das ‚Ganze‘ dieses Lebens zu meistern, in sinnvolle, ‚lebensmögliche‘ Übereinstimmung zu bringen – obgleich doch eine solche Übereinstimmung nach menschlichem Ermessen ‚unmöglich‘ erscheint.“4 So wird der von der Erzählung abstrahierte Begriff des ‚Kampfes‘ zur Universalmetapher. Das extremste Beispiel dieser Form der Lektüre bildet die Arbeit Walter H. Sokels, der in der Beschreibung Kafkas persönliches „Urmodell des Kampfes“ sieht und damit das „Grundthema seiner Dichtung“ in „jugendlich unreifer Form“.5 Sokel zufolge vollzieht sich dieser Kampf zwischen zwei antagonistischen Prinzipien, die als „reines Ich“ und „Fassaden-Ich“ durch die beiden Hauptfiguren der Erzählung verkörpert würden. – Gerhard Kurz setzt diese Interpretationsrichtung fort, indem er die Beschreibung vom „literarische[n] Paradigma des allegorischen Kampfes“ herleitet und diesen als Grundmuster darstellt: „Die Geschichten Kafkas [...] erzählen von einem verbissenen Kampf zwischen dem Helden und einer Gegenwelt“. Als Metapher für den allegorischen Gehalt dieser „Geschichten“ wählt Kurz den Titel des Mittelteils der Erzählung („Beweis, daß es unmöglich ist zu leben“): „Kafkas Literatur ist eine Literatur der Weltablehnung [...]. [...] Sie führt den ‚Beweis‘, daß es unmöglich ist, zu leben.“6 Die Beschreibung eines Kampfes wird so zum meta-fiktionalen Modell erhoben. Diese Tendenz herrscht auch in Studien vor, die sich der Erzählung jenseits von allegorisierenden Interpretationen widmen.7 Man will von der Beschreibung oft nicht mehr wissen als das Prinzipielle; dieses Interesse konzentriert sich auf Passagen, die als theoretische Reflexion ästhetischer Positionen des jungen Kafka
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Wilhelm Emrich: Franz Kafka, Frankfurt/M. u. Bonn (7)1970 (zuerst 1958), S. 34. Walter H. Sokel: Franz Kafka, Tragik und Ironie. Zur Struktur seiner Kunst, Frankfurt/M. 1983 (zuerst 1964), S. 33, Kap. I.1. „Worum geht es aber in diesem Kampf? Es geht um Macht, um Selbstbehauptung, um Existenz.“ (ebd., S. 36). - Seither ist der Dualismus eines Kampfes immer wieder als Grundform des Kafkaschen Werkes dargestellt worden, wobei die Inhalte der entgegengesetzten Positionen unterschiedlich ausgefüllt wurden. Gerhard Kurz: Traum-Schrecken. Kafkas literarische Existenzanalyse, Stuttgart 1980, S. 133 u. S. VI. Vgl. z.B. James Rolleston: Kafka's Narrative Theater, University Park u. London 1974.
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I Beschreibung eines Kampfes
gelesen werden können. Nur wenige Beiträge analysieren Erzählformen und versuchen, Struktur und Konzeption der Beschreibung zu bestimmen.8 Einer abstrahierenden Lesart leistet der Text selbst Vorschub. Montiert aus einer Reihe ineinander verschachtelter Erzählpassagen, bietet er „so etwas wie die poetische Summe des ganz jungen Kafka“ (Schillemeit).9 In die Erzählung sind viele Motive, Bilder und Wendungen aus Kafkas frühen Briefen an Oskar Pollak und Max Brod eingegangen. Des weiteren enthält sie Reminiszenzen an Kafkas literarische Texte aus dieser Zeit10 und vermutlich sogar eine Reihe dieser Erzählansätze selbst.11 Dieses Verfahren der Addition verschiedener Elemente steht im Dienste eines vereinheitlichenden Konzepts, das darauf abzielt, aus der „Summe“ tatsächlich eine ‚summa‘ zu machen. Das sorgfältig redigierte Manuskript präsentiert sich in seiner numerierten Einteilung – die Max Brod „an ‚Deutsche Hausarbeit‘ “ erinnerte – als eine höchst durchdachte Komposition.12 An ihr ist das Bemühen ablesbar, poetologische Positionen und programmatische Intentionen zugleich zu formulieren. Diese Anstrengung zeigt sich in der Vielzahl von symbolischen Bezügen, philosophischen Reflexionen und selbstreferentiellen Sprachspielen. Es entsteht eine Kommentarstruktur, die die Erzählung verrätselt und den Leser dazu auffordert, sie als Einkleidung theoretischer Positionen zu interpretieren.13 Von zentraler Bedeutung dafür sind einige Passagen des Mittelteils der Beschreibung, in denen eine „Beter“ genannte Figur Reflexionen über die Beziehung von Bewußtsein, Sprache und Wirklichkeit formuliert. Die Forschung beschäftigt sich hauptsächlich mit diesem Teil des Textes. Sie sieht darin ein Dokument der Weltsicht des jungen Kafka, die von der Jahrhundertwende8
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Hier ist vor allem der Beitrag von Jost Schillemeit zu nennen: „Kafkas ‚Beschreibung eines Kampfes‘. Ein Beitrag zum Textverständnis und zur Geschichte von Kafkas Schreiben“, in: Der junge Kafka, hrsg. v. Gerhard Kurz, Frankfurt/M. 1984, S. 102-132. - Zum Stellenwert der Erzählformen der Beschreibung in der Geschichte von Kafkas Schreiben vgl. außerdem Reinhard Baumgart: Selbstvergessenheit. Drei Wege zum Werk: Thomas Mann, Franz Kafka, Bertolt Brecht, Frankfurt/M. 1989, S. 164-172. - Zu Struktur und Konzeption der Erzählung Shimon Sandbank: „The Unity of Kafka's ‚Beschreibung eines Kampfes‘ “, in: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen 210/1973, S. 1-21. - Eine sehr detaillierte Rekonstruktion unternimmt Lukas Trabert, gelangt dabei jedoch über die Reihung der Details kaum hinaus: „Erkenntnisund Sprachproblematik in Franz Kafkas ‚Beschreibung eines Kampfes‘ vor dem Hintergrund von Friedrich Nietzsches ‚Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne‘ “, in: DVjs 61/1987, S. 298-324. J. Schillemeit, a.a.O., S. 103. Zur Entstehungsgeschichte der Beschreibung vgl. ebd., S. 104-108. Vgl. z.B. die Vertrackte Geschichte vom schamhaften Langen und vom Unredlichen in seinem Herzen, überliefert in einem Brief Kafkas an Oskar Pollak vom 20.12. 1902 (KKA: Briefe 1900-1912, S. 17-19). Zu diesen Texten gehören wahrscheinlich die später unter dem Titel Die Bäume und Kleider veröffentlichten Passagen. Max Brod, „Nachwort“ zu F. Kafka: Beschreibung eines Kampfes. Die zwei Fassungen, a.a.O., S. 148159, hier S. 155f. Jost Schillemeit weist nach, daß die von Max Brod hergestellte Version des Textes geeignet war, allegorische Interpretationen zu begünstigen (J. Schillemeit, a.a.O., S. 127).
Einleitung
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Thematik des Welt- und Sprachverlustes, der Erfahrung von Entfremdung, Leere und existenzieller Verunsicherung des Ich geprägt sei. Die Beschreibung wird an Hofmannsthals „Chandos-Brief“ und an Nietzsches Philosophie angenähert und als Ausdruck einer Sprachkrise gelesen.14 In der Rekonstruktion von sprach- und erkenntnistheoretischen Positionen geraten diese Ansätze vielfach zur Übersetzungsarbeit, die den Gehalt der Erzählung auf Aussagen und ihre Form auf eine Einkleidung dieser Aussagen reduziert. Dieser Gefahr wollen die folgenden Lektüren mit einer genauen Analyse der Erzählvorgänge begegnen. Deshalb richten sie die Aufmerksamkeit auf die sprachlichen Verfahren der erzählenden Rede. Zwar müssen Teile der Erzählung sehr wohl als theoretische Reflexion verstanden werden, doch kann diese Reflexion nicht von ihrer Form abgetrennt werden. Wichtige Dimensionen bleiben unberücksichtigt, wenn der interpretierende Zugriff auf der Suche nach programmatischen Aussagen dazu verleitet, einzelne Sätze aus dem Erzählkontinuum herauszulösen und sie als Formulierung von poetologischen Prämissen oder als Ausdruck der Sprach- und Literaturtheorie des jungen Kafka zu lesen. Zwar scheint Kafkas eigene Praxis dieses Verfahren der Herauslösung zu legitimieren, da er ja selbst die zentralen „Gespräche“ mit dem Beter und dem Betrunkenen später gesondert veröffentlichte. Diese Veröffentlichung bedeutete für Kafka aber zugleich das Scheitern des ursprünglichen Projekts. Die für die Bestimmung des Ausgangspunkts und der Intentionen des Frühwerks interessante Frage lautet daher, wie dieses Projekt ausgesehen hat. Fest steht, daß der programmatische Gestus integraler Teil des Erzählprojekts ist, da er es begründen und reflektieren soll, und daß er deshalb nicht ohne weiteres von dieser Funktion gelöst oder gar als Modell auf spätere Texte bezogen werden kann. Zuallererst ist die Beschreibung eines Kampfes ein Versuch, zu erzählen. Diesen Versuch und seine poetologischen Voraussetzungen werde ich nachzeichnen, indem ich herausarbeite, wie Kafka in diesem einzig erhaltenen, frühen Beispiel eines abgeschlossenen Erzähltextes verfährt, was und wie er zu erzählen unternimmt. Die Beschäftigung mit dieser Frage bietet die Möglichkeit, die Entwicklung von Erzählverfahren nachzuvollziehen, die für das gesamte Frühwerk von Bedeutung sind. Über den textimmanenten Ansatz hinausgehende Diskussionen um Kafkas Beziehung zu den geistigen und literarischen Strömungen seiner Zeit werden im Rahmen dieser Analyse unberücksichtigt bleiben. Zwar ist diese Perspektive 14
Vgl. Gerhard Kurz: „Einleitung: Der junge Kafka im Kontext“ sowie ders., „Schnörkel und Schleier und Warzen. Die Briefe Kafkas an Oskar Pollak und seine literarischen Anfänge“, beide in: Der junge Kafka, a.a.O., S. 7-39 bzw. S. 68-101. - Ludo Verbeek: „Scheidewege am Jahrhundertbeginn: Zu Hofmannsthal und Kafka“, in: Littérature et culture allemandes. Hommages à Henry Plard, hrsg. v. Roger Goffin u.a., Brüssel 1985, S. 271-285. - Peter-André Alt: „Doppelte Schrift, Unterbrechung und Grenze: Franz Kafkas Poetik des Unsagbaren im Kontext der Sprachskepsis um 1900“, in: JDSG 29/1985, S. 455-490. - L. Trabert (über Kafka und Nietzsche), a.a.O.
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gerade für Kafkas frühestes Werk sinnvoll, da es noch stark von Einflüssen geprägt ist, wie Klaus Wagenbach zuerst gezeigt hat.15 Doch die Erzählstruktur des Textes ist so vielschichtig, daß vor jedem literaturhistorischen Vergleich eine genaue Analyse stehen muß.
2. Phantastische Experimente: Erzählen in Kafkas „Novelle“ 2.1 Versuch einer Bestimmung Das Genre des Textes ist schwer zu definieren. Kafka nannte ihn „meine Novelle“.16 Diese Bezeichnung verweist auf die Struktur der Beschreibung eines Kampfes: Einzelne Erzählungen sind in einen Rahmen eingebettet. Allerdings wird dieses Prinzip hier über die Novellenform hinaus zu einer Potenzierung von Einrahmungen gesteigert.17 Die Handlungsentwicklung geht von einer Rahmenhandlung aus, wird bald von irrealen und traumhaften Ereignissen bestimmt, die sich allmählich in Phantasien des Erzählers auflösen, um schließlich vollends in märchenhafte und parabolische Welten überzugehen, die ständig auf ihr eigenes Literatur-Sein hinweisen. Auf die Schwellenüberschreitung von der RahmenErzählung in eine traumhafte Phantasiewelt hinein folgen immer weitere; der Text bringt ständig neue Erzählungen hervor, die wieder neue Wirklichkeiten entstehen lassen. Diese werden von wechselnden Erzählerfiguren präsentiert, die in der je zuvor erzählten Geschichte bereits aufgetreten sind und daran anschließend ihre eigene Geschichte zu berichten beginnen. Auf diese Weise werden die Erzählebenen wie eine Serie von Matrjoschka-Puppen ineinander geschachtelt.18 Alle diese Erzählungen diskutieren das Verhältnis des Ich (bzw. des Bewußtseins) zur Wirklichkeit. Als Auseinandersetzung mit der Beziehung von Sprache 15
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Klaus Wagenbach verweist neben Hofmannsthal vor allem auf die Einflüsse des Sprachstils der Zeitschrift Der Kunstwart, die Kafka regelmäßig las, sowie auf Josef Popper-Lynkeus' Phantasien eines Realisten (Klaus Wagenbach: Franz Kafka. Eine Biographie seiner Jugend 1883-1912, Berlin 1958; v.a. S. 102-106, 122-124). Vgl. zum Einfluß des Kunstwart-Stils auf Kafkas früheste Erzähltexte auch Peter Cersowsky: „ ‚Die Geschichte vom schamhaften Langen und vom Unredlichen in seinem Herzen.‘ Zu Fremdeinflüssen, Originalität und Erzählhaltung beim jungen Kafka“, in: Sprachkunst 7/1976, S. 17-35. Tagebucheintrag vom 15.11. 1910, KKAT, S. 126. Vgl. Kurt Druckenthaler: „Kommunikation zwischen Masken - Kafkas ‚Beschreibung eines Kampfes‘ im Lichte des symbolischen Interaktionismus“, in: Im Labyrinth. Texte zu Kafka, hrsg. v. Michael Aichmayr und Friedrich Buchmayr, Stuttgart 1997, S. 19-36, hier S. 20f. Friedmann Harzer verweist in diesem Zusammenhang auf die Tradition der Verwandlungserzählung: „In der mehrfachen Rahmung und Staffelung der Erzählerstimmen kehrt das proteische und polyphone Narrationsverfahren wieder, das auch in Ovids ‚Metamorphosen‘ zur Fiktionalisierung der Verwandlungen beiträgt.“ (Friedmann Harzer: Erzählte Verwandlung. Eine Poetik epischer Metamorphosen (Ovid - Kafka - Ransmayr), Tübingen 2000, S. 112.
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und Wirklichkeit vollzieht sich diese Diskussion auch im Erzählvorgang selbst. Der Versuch zu erzählen ist zugleich ein Versuch, das Erzählen in seinem Vollzug über sich und seine Bedingungen reflektieren zu lassen, beziehungsweise: es erst aus dieser Reflexion heraus – und als diese Reflexion – in Gang zu setzen. Aufgrund dieser selbstreflexiven Struktur scheint es nahezuliegen, die Beschreibung als eine Meta-Erzählung über das Erzählen anzusehen. Doch geht die Erzählung in der abstrakten Selbstthematisierung allein nicht auf. Ebensowenig läßt sich der Text auf eine durchgängige allegorische Funktion hin interpretieren, etwa als Parabel über das prekäre Verhältnis von Bewußtsein und Wirklichkeit. Wegen der traumhaften Elemente der Handlung wäre die „Novelle“ vielleicht am zutreffendsten als Traumerzählung oder als phantastische Erzählung zu bezeichnen. Von diesen Genres unterscheidet sie allerdings ihr bewußt konstruierter Charakter. Wie also läßt sich das Erzählprojekt der Beschreibung charakterisieren? Ich möchte diese Frage mit einer Textanalyse beantworten, die am Übergang von der Rahmenerzählung in die Phantasie- und Fiktionswelten des Mittelteils ansetzt. Mit diesem Übergang vollzieht der Erzählvorgang eine Schwellenüberschreitung, die verschiedene Wirklichkeiten, Erzählebenen und Aussagemodi miteinander verzahnt. Daher ist diese Passage geeignet, um das zwischen den Genres und Erzählweisen schwer faßbare Projekt von Kafkas erster „Novelle“ genauer zu bestimmen. 2.2 Schwellenüberschreitung als Erzählprinzip 2.2.1 Zum Verhältnis von Handlungsentwicklung und Erzählvorgang Die Beschreibung eines Kampfes beginnt mit einer Rahmenhandlung, die im Prag der Jahrhundertwende situiert ist. Zwei Männer, die sich auf einer Abendgesellschaft kennengelernt haben, der Ich-Erzähler und sein – immer nur „mein Bekannter“ genannter – Begleiter, machen einen Spaziergang durch die nächtliche Stadt. Die beiden Figuren sind als Gegensätze charakterisiert: der Erzähler ist ein unglücklicher und einsamer Junggeselle, unsicher und ängstlich, mit langem und dünnem Körper; sein kleiner, dicker „Bekannter“ steht solide im Leben, ist frisch verliebt und glücklich. Zwei Positionen, zwei Haltungen zum Leben also, zwischen denen sich ein „Kampf“ darüber entspinnt, wer recht hat, der lebenssichere „Bekannte“ oder die zusehends verrückter erscheinende Ich-Figur. Während des Spaziergangs beginnt der Erzähler, über seinen Bekannten und dessen Verhalten nachzudenken und Mutmaßungen über seine Gedanken anzustellen, sogar mögliche Handlungen des Bekannten zu imaginieren. Dabei gerät er in immer irrwitzigere Gedankenspiele. Sie kreisen um das Bemühen, die Beachtung des Bekannten zu gewinnen, von ihm gesehen zu werden, was immer
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wieder mißlingt.19 Der Bekannte wird mehr und mehr zum imaginären Partner in einem Spiegelgefecht. Schließlich geht der Erzähler sogar so weit, dieses Spiegelverhältnis in der Außenwelt herzustellen, indem er versucht, sich in gebückter Haltung der geringen Körpergröße seines Bekannten anzunähern. Doch auch auf dieses Spiel geht der Bekannte nicht ein. Diese Gleichgültigkeit wiederum verwandeln die Gedanken des Erzählers innerhalb von ein paar Sätzen in eine Morddrohung: Ich aber sagte zu mir: „Wie herzlos ist dieser Mensch! Wie bezeichnend und deutlich ist seine Gleichgültigkeit gegen meine demüthigen Worte! [...] Und wenn ich jetzt ins Wasser gesprungen wäre oder wenn mich jetzt vor ihm Krämpfe zerreißen hier auf dem Pflaster unter diesem Bogen immer würde ich mich friedlich seinem Glück einfügen. Ja, wenn er in die Laune käme – ein Glücklicher ist so gefährlich, das ist unzweifelhaft – würde er mich auch todtschlagen wie ein Straßenmörder.“20
Mit immer neuen „und wenn – und wenn“ steigert sich der Erzähler Schritt für Schritt in eine lebensbedrohliche Situation hinein, aus der es keine Rettung mehr geben kann – auch diese Möglichkeiten werden nacheinander durchgespielt und steigern, da vergeblich, die Bedrohung noch weiter (er wird nicht zu schreien wagen, der Schutzmann wird ihm nicht helfen). Auf diese Weise entsteht in der Phantasie des Erzählers eine komplette Handlungssequenz, aus der heraus sich eine neue Situation ergibt, auf die er jetzt reagieren muß: „Aber jetzt wußte ich auch, was ich thun mußte [...]. Ich mußte weglaufen.“21 Auch diese Möglichkeit wird erst in Gedanken durchgespielt („es gab dort dunkle Hausthore...“22), bis der Erzähler sie anschließend in die Tat umsetzt. Die zitierte Passage zeigt Anzeichen eines Verfolgungswahns beim Erzähler. Der Bekannte hat nichts getan, was zu Verdächtigungen und Ängsten Anlaß gäbe, er hat sich im Gegenteil vollkommen gleichgültig gezeigt. Aber das ist für den Erzähler offenbar Anlaß genug, er braucht nur irgendeinen Anlaß, der sein Gedankenspiel ins Rollen bringt, einen Ansatz, aus dem sich Denkmöglichkeiten entwickeln lassen, und alle weiteren Details der Außenwelt – wie der Schutzmann – werden in die Dynamik dieses Gedankenspiels fortlaufend integriert. Wie absichtsvoll steigert der Erzähler sich in seine Befürchtungen hinein: er inszeniert seine Paranoia. Damit aber sorgt er erst dafür, daß überhaupt etwas passiert. Die Handlung wird hier allein aus der Bewegung seiner Gedanken heraus in Gang gebracht. Das panische Laufen der Gedanken führt zum Entschluß – „Ich mußte weglaufen“ – und geht daraufhin in die Handlung des Weglaufens über. Auf diese Weise entsteht die Erzählbewegung aus dem phantasierenden Entwerfen von
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Diese Anstrengung wird die genauso dünne und verrückte „Beter“-Figur des Mittelteils fortsetzen als ein Bemühen darum, einen Körper und damit überhaupt eine Existenz zu erlangen. BK 66. BK 66. BK 67.
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irrealen Möglichkeiten, aus der bzw. als die fortgesetzte Dynamik der Gedankengänge. Man könnte diese Passage so lesen, als kommentiere der Text sein eigenes Entstehen beim Schreiben, als würde der Schreibende selbst im Schreiben zu sich sprechen. „Aber jetzt wußte ich auch, was ich thun mußte...“ wäre übersetzbar in: jetzt hat der Schreibende die Gedankengänge so auf die Spitze getrieben, daß sich daraus wieder der Ansatz für die nächste Handlungssequenz, den nächsten Satz ergibt. „Es war ganz leicht.“23 Ich will jedoch nicht behaupten, daß der Text über sich selbst und seine eigene Sprachbewegung spreche, wenn es heißt: „Ich mußte weglaufen“. Ich möchte zeigen, daß der Text ‚wegläuft‘, während und indem der Erzähler dieses Laufen als Handlung imaginiert und dann vollzieht. Der Text beschreibt sich nicht selbst, sondern er setzt mit der erzählten Bewegung eine Erzählbewegung in Gang. Prompt läuft die Ich-Figur im nächsten Moment gegen ein Hindernis und bringt damit die gerade etablierte Bewegung wieder zu Fall. „Es krachte.“24 Dieses Ereignis schafft eine neue Situation, von der sich die nächste Erzählbewegung abstoßen kann. Der Erzähler beschließt, liegen zu bleiben, der Bekannte kommt, um ihn zum Aufstehen zu bewegen, daraus entspinnt sich ein kurzer Dialog, in dem der Erzähler zu erklären versucht, wieso er geflüchtet ist. Diese Erklärung beschreibt eine sich in ähnlich absurder Weise weiterschraubende Spirale wie die Gedankenkette, die zum Mord führte. Sie beginnt mit einem Negativum: der Erzähler bekennt, nicht zu wissen, wie er seine Handlung erklären soll. Daraufhin erfindet er eine mögliche Erklärung, die er aber im nächsten Schritt wieder zurücknimmt. Das absurde Räsonnement führt über lauter Verneinungen ins Nichts. Schließlich wird die Absurdität und Grundlosigkeit der Handlung selbst zum Entschuldigungsgrund: „... es ist genügende Mühe sich den Tag über zu beherrschen. Man schläft eben um sich zu dieser Mühe zu kräftigen, schläft man aber nicht, dann geschehn nicht selten zwecklose Dinge mit uns, aber es wäre unhöflich von unsern Begleitern sich darüber laut zu wundern.“25 Die Nacht ist ein Bereich, in dem sich das Realitätsprinzip auflöst, so wie sich hier das Räsonieren in seiner eigenen Bewegung in Nichts auflöst. Die Phantasien des Erzählers entwerfen nicht zufällig eine Fluchtbewegung. („Ich mußte weglaufen.“) Bereits vor den hier besprochenen Passagen hatte der Erzähler versucht, sich von seinem Bekannten zu verabschieden und vor dessen Überlegenheit und Lebenssicherheit zu fliehen. Gegen den Bekannten, der das Realitätsprinzip vertritt, versucht der Erzähler, die Normalität in Erfindungen und Künstlichkeit aufzulösen. Er beginnt damit bei sich selbst. Seinen eigenen Körper beschreibt er als „Stange in baumelnder Bewegung“, d.h. als Menschen-
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BK 66. BK 67. BK 68.
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Puppe, als Vogelscheuche, die nur so tut, als sei sie ein wirklicher Mensch.26 – Die Flucht- und Abstoßungsbewegung wendet sich als „Belustigung“ auch gegen die Langeweile, die von der fraglosen Normalität ausgeht.27 Sie ist der Versuch, aus der Wirklichkeit Funken für Geschichten zu schlagen. Zugleich ist sie die einzige Möglichkeit für das Erzähler-Ich, sich gegenüber dem Bekannten zu behaupten. Je weiter der Erzähler sich in die Welt des Imaginären hineinbegibt, desto mehr kommt ihm die Wirklichkeit abhanden. An der oben zitierten Stelle, mit der Entschuldigung des Erzählers für seine Flucht, beginnt das Verhältnis der Innenwelt zur Außenwelt sich zu verschieben. Aus der Antwort des Bekannten – „Ja, warum reden Sie denn nicht mein Lieber“ – entsteht nachträglich der Eindruck, daß der Erzähler gar nicht wirklich gesprochen habe (obwohl er das zweimal behauptet).28 Damit kündigt sich eine Spaltung an: Die WirklichkeitsWahrnehmung der Ich-Figur und die vom Bekannten vertretene, ‚normale‘ Sicht der Dinge beginnen auseinander zu treten. 2.2.2 Übergang in eine innere Realität Der Prozeß des Auseinandertretens beginnt, als der Erzähler aufsteht, um in die gemeinsame Welt zurückzukehren und den Spaziergang mit seinem Bekannten wieder aufzunehmen. Diese Handlung bringt ihn jedoch nicht wieder in die normale Lage, sondern erst recht ins Schwanken. Nach seinem Flucht-Abenteuer hat er durch eine Knieverletzung keinen festen Stand mehr. Er versucht, sich an dem verläßlichsten Halt zu orientieren, den die Außenwelt zu bieten hat: dem Standbild Kaiser Karls IV. neben dem Altstädter Brückenturm. Doch von dort kommt ihm sein Schwanken nur gespiegelt entgegen; die Statue scheint davon angesteckt worden zu sein: Ich schwankte und mußte das Standbild Karls des Vierten fest ansehn um meines Standpunktes sicher zu sein. Aber das Mondlicht war ungeschickt und brachte auch Karl den Vierten in Bewegung.29
Der Satz berichtet das Ins-Schwanken-Bringen als Handlung des Mondlichts. Dieses erscheint grammatisch und semantisch („ungeschickt“) personalisiert, es verselbständigt sich wie eine agierende Person. Darüber hinaus sorgt dieses Mondlicht dafür, daß sich die Wirklichkeit auf groteske Weise verlebendigt: wenn es Karl IV. ‚in Bewegung bringt‘, dann wird auch dieser als Person, nicht als Statue angesprochen. Allerdings wird durch die in der Formulierung liegende
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BK 62. „Belustigungen oder Beweis dessen, daß es unmöglich ist zu leben“ (BK 72) ist der Titel des Mittelteils, in dem die Flucht ins Imaginäre Wirklichkeit wird (dazu s.u.). BK 68f. BK 69.
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Komik zugleich bestritten, daß das Standbild wirklich lebendig werde.30 Hier wird, anders als in einer phantastischen Erzählung, kein wunderbares Ereignis, sondern eine Wahrnehmung beschrieben. Es bleibt deutlich, daß Karl IV. dem Betrachter nur schwankend erscheint.31 Der Satz ist lesbar als Beschreibung eines Wahrnehmungseindrucks in einer Form, wie sie im Text bereits öfter aufgetreten ist: der subjektive Eindruck wird nicht als solcher formuliert, sondern als Handlung der Dinge der Außenwelt, bzw. vor allem als Handlung der Beleuchtung, die diesen Eindruck hervorbringt (einige Seiten zuvor heißt es z.B.: „einige Lichter [...] spielten mit den schauenden Augen“32). Der Eindruck des Betrachters von der Statue Karls IV. wäre also der einer im Mondschein unsicher werdenden Wahrnehmung. Zugleich ist aber die vom Mondlicht verursachte Bewegung im Sichtbaren überkreuzt mit dem Schwanken des wahrnehmenden Ich. In der Formulierung „das Mondlicht war ungeschickt“, mit der der Betrachter das Mondlicht beschuldigt, die Welt ins Schwanken zu bringen, äußert sich der ebenso verzweifelte wie komische Ärger dessen, der den Boden unter den Füßen verloren hat und versucht, sich an einer Wirklichkeit festzuhalten, die nicht stillstehen will. Darin liegt die absurdaberwitzige Logik eines Betrunkenen, der die verwackelte Realität nicht auf das Schwanken in seinem Kopf zurückführt, sondern darauf, daß die Dinge sich weigern, den Gesetzen der Schwerkraft zu folgen, so daß niemand dabei gerade stehenbleiben kann. Das Mondlicht muß also für die Verunsicherung einstehen, die im Auge des Betrachters liegt. Doch solche Unterschiede zwischen dem, was ihm erscheint, und dem, was real ist, kann dieser Betrachter nicht mehr machen. Seine Wahrnehmung ist als der Vorgang in der Außenwelt erzählt, als der sie ihm erscheint, bzw. in einen solchen Vorgang übersetzt, so daß sich sein Schwanken auf die Wirklichkeit überträgt.33 Mit der Metapher des Betrunkenseins möchte ich den Weltbezug charakterisieren, auf dessen prekäre Verfassung der Erzähler bereits verwiesen hat („Man schläft eben um sich zu dieser Mühe zu kräftigen, schläft man aber nicht, ...“).34 Die Wahl dieser Metapher ist nicht zufällig. Sie wird als von Beginn an wiederkehrendes Motiv im Text verwendet und schließlich im „Gespräch mit dem Betrunkenen“ ausdrücklich zum Thema. Die Beziehung dieses ‚betrunkenen‘ Ich zur Welt ist die eines in die Phantasie hinein sich auflösenden Bewußtseins, 30
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Sonst wäre das von seinem Sockel herabsteigende Standbild ein klassisches phantastisches Motiv (vgl. Prosper Mérimée, La Vénus d'Ille (1837)). Vgl. die Analyse der Szene als „Prozeß einer halluzinatorischen Verwandlung“ bei Friedmann Harzer: Erzählte Verwandlung, a.a.O., S. 113f. BK 63. Mit einer ähnlichen Technik hat Kafka später vom unscharfen Bewußtsein des auf der Schwelle zum Einschlafen phantasierenden K. aus die phantastischen Metamorphosen des SchloßSekretärs Bürgel aufgezeichnet, als einen halluzinatorischen Prozeß, in dem sich Wahrnehmungen und das Gesehene um-träumende Phantasien mischen. BK 68.
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das am Übergang zu einem träumenden oder halluzinierenden Zustand die Reste von Wahrnehmung bereits nach eigenen Gesetzen umorganisiert und nicht mehr zwischen Realität, Erscheinung und Einbildung unterscheiden kann. In seiner Wahrnehmung der im Mondlicht schwankenden Statue werden die Positionen von Wirklichkeit und Ich gegeneinander verschoben und in einer neuen, selbst verrückten Logik miteinander in Beziehung gesetzt. Statt sich auf die festen Dinge der Wirklichkeit verlassen zu können, kommt dem Erzähler jetzt das Schwanken, das sein eigenes ist, von der Wirklichkeit her gespiegelt entgegen. Darüber gerät er wiederum ins Staunen, setzt also einen aberwitzigen Realitätssinn gegen die irrealen Vorgänge und bemüht sich, dieser Logik folgend, selbst fester zu stehen, „aus Angst, Karl der Vierte möchte umstürzen, wenn ich nicht in beruhigender Haltung wäre“.35 Diese Logik hat in ihrer Absurdität eine verquere Überzeugungskraft. Es scheint ebenso komisch wie logisch, daß Standbild und Ich in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit sich je nur aneinander halten können. Damit ist das normale Verhältnis von Ich und Welt, d.h das Realitätsprinzip, in dem die Dinge dem Bewußtsein Halt bieten, weil sie von ihm unabhängig sind, auf den Kopf gestellt worden. Aus dem festen Halt ist ein Verhältnis der Interdependenz von zwei unsicheren Positionen geworden, die sich gegenseitig immer wieder neu ins Schaukeln bringen. Dies ist ein Verhältnis, in das sie der Satz erst gebracht hat, indem er die Sinnestäuschung in eine halluzinierte Realität hinein umkehrt. Wichtig ist, daß es sich keineswegs um pure Halluzination handelt. Die Geschichte von der schwankenden Statue, die der Erzähler berichtet, enthält noch Reste einer Wahrnehmung von Realität, deren Konturen im Mondschein ja tatsächlich unsicher werden. Die Projektion des eigenen Schwankens nach außen findet als Auseinandersetzung mit der wahrgenommenen Realität statt. Für die Auseinandersetzung zwischen Realität und Bewußtsein ist es von Bedeutung, daß der Gegenstand, der hier ins Schwanken gerät, ausgerechnet eine Statue Karls IV. ist. Friedmann Harzer weist in seiner Analyse der Passage auf den Bezug dieser „phantastischen Destabilisierung“ zu Ovids MetamorphosenErzählungen hin: „Die Animation einer Statue durch ihren Schöpfer, welche mit Ovids Pygmalion-Erzählung zum produktionsästhetischen Modell schlechthin avancierte, wird so als Projektion einer verunsicherten Figur entzaubert, denn die vorfindliche Statue wird ja nicht lebendig, sondern als weiterhin petrifiziertes Bild von einer unschlüssigen Phantasie bewegt und gestürzt.“36 Die Statue hat darüber hinaus noch weitere Bedeutungsebenen. Sie ist nicht nur ein innerhalb der Wirklichkeit der Erzählfiktion als real angesprochenes Element. Sie ist darüber hinaus ein Teil der außerliterarischen Wirklichkeit der Stadt Prag. Als solcher steht sie im Gegensatz zur Fiktion. Darüber hinaus ist diese Statue, da sie ja 35 36
BK 69. F. Harzer, a.a.O., S. 114.
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geradezu der Inbegriff von Standfestigkeit sein sollte, die symbolische Verkörperung des Realitätsprinzips. Dieser Umstand bringt noch eine weitere ironische Drehung in die Diskussion um das Verhältnis von Bewußtsein und Wirklichkeit. Die Textpassage beschreibt nicht nur den Übergang des Ich-Erzählers in eine andere, verrückte Realität, sondern sie fängt auch noch selbst – genauso wie es der Betrunkene tun würde – eine Diskussion darüber an, wer recht hat: die Realität oder das verrückte Bewußtsein. In dem ironischen Bezug der symbolischen Konnotationen zur Ebene der Handlung wiederholt sich die Irrealisierung auf zweiter Stufe. Dies setzt die beiden Positionen, die Realität und die Einbildungen, in ein ironisch-absurdes Verhältnis, das nicht mehr einfach aufzulösen ist. Damit aber wird der Realität selbst – und nicht dem Ich – der Boden entzogen. Es geht also in dieser Textpassage nur vordergründig darum, daß das Bewußtsein des Ich-Erzählers sich in eine innere Welt hinein verabschiedet. Zugleich geht es um die Umkehrung des Verhältnisses, das bestimmt, was wirklich ist. Es geht darum, die Wirklichkeit zu irrealisieren, das Schwanken des Ich auf die Welt zu verschieben. Eine solche Umwertung im Verhältnis von real und irreal vollzieht die Erzählerrede, indem sie der absurd-komischen Logik des Betrunkenen folgt und diese ernst nimmt. Die Umdrehung geschieht in der Sprachbewegung jedes einzelnen Satzes, der die Positionen gegeneinander ins Schwanken bringt. Das heißt: in der Bewegung, die die Sätze selbst vollziehen, liegt der Übergang, die ‚passage‘ der Schwellenüberschreitung. 2.2.3 Selbstreflexion des Erzählens als Sprachbewegung Daß der Übergang in eine andere Erzählwirklichkeit eine Leistung der Sprache, und zwar einer poetischen oder literarischen Sprache ist, reflektiert der Text selbst. Das Mondlicht nämlich, dessen „ungeschicktes“ Licht diese Verschiebungs-Operation eingeleitet hatte, ist die poetische Beleuchtung par excellence, die mit ihrem Schein die nächtliche Wirklichkeit ins Traumhafte verschiebt. Der Mond ist nicht nur – realiter – verantwortlich für die Unsicherheit der Wahrnehmung (die Täuschung der Augen durch die unscharf werdenden Konturen), sein trügerisches Licht ist auch Agent der Irrealisierung und steht schließlich als Emblem des Poetischen für die Verzauberung des Wirklichen. (Außerdem hat der Mond auch dem Irresein einen Namen gegeben: ‚lunaticus‘.) Dieser Übergang in eine andere Erzählwirklichkeit geschieht im nächtlichen Prag zur Geisterstunde. Das Abenteuer der Schwellenüberschreitung ist fast eine phantastische Geschichte. Sie ist allerdings nicht an phantastischer, unheimlicher Wirkung interessiert. Ihr geht es darum, zu reflektieren, daß dieser Übergang sich als Literatur, als Erfindung vollzieht. Das Phantastische liegt darin, daß das Abhandenkommen der Wirklichkeit begleitet wird von einem Wirklich-Werden
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der Fiktionen und Erfindungen. Die Schwellenüberschreitung ist zugleich erzählte Handlung und Bedingung des Erzählens. Im Zeichen dieser Irrealisierung durch Erfindungen unternimmt der Erzähler noch weitere Versuche, sich von der bekannten Wirklichkeit abzustoßen und in eine andere Wirklichkeit der Phantasie überzugehen. Die Statue Karls IV. „fiel doch herunter“, und zwar „gerade als es mir einfiel, daß ich geliebt würde von einem Mädchen in einem schönen weißen Kleid“.37 Dieser Einfall ist ein literarischer, was schon die wortwitzige Dopplung von Fallen und Einfallen anzeigt. Zudem bildet sie die Fortsetzung einer bisher fehlgeschlagenen poetischen Bemühung. Um dem verliebten Gerede seines Bekannten zu entgehen, hatte der Erzähler bereits zuvor versucht, „Liebesgeschichten mit merkwürdigen Lagen zu erfinden“.38 Jetzt ist ihm diese Erfindung geglückt, d.h. es ist ihm gelungen, aus der Fiktion eine Wirklichkeit zu machen, die er als Tatsache anspricht, wobei paradoxerweise gleichzeitig betont wird, daß es sich um seinen Einfall handelt („wie glücklich war dieser Einfall“39), daß er also ein Autor ist, der selbstherrlich über die Welt der Tatsachen gebietet. Diese Tatsachenwelt wiederum verabschiedet sich in Gestalt der prompt – wie als logische Folge des literarischen Einfalls – herunterfallenden Statue aus dieser neuen, imaginären Wirklichkeit. Das neue Glück setzt wiederum einen nächsten, ebenfalls literarischen Einfall frei, der seinerseits eine Textbewegung in Gang bringt. Es sind die „Vers“ genannten Zeilen „Ich sprang durch die Gassen / wie ein betrunkener Läufer / stampfend durch Luft“.40 Sie gehen unvermittelt in die erzählte Handlung über, die sie beschreiben: schon schwebt der Erzähler in der Luft und erhebt sich fliegend über die Szenerie der Karlsbrücke. In dem „betrunkenen Läufer“ wird die Bewegung, aus der die Erzählung hervorgeht, personalisiert ins Bild gebracht: Diese Figur, in der der Ich-Erzähler sich selbst anspricht und als die er sich imaginiert, ist Urheber und Antrieb der Erzählbewegung, die aus den Verdrehungen der betrunkenen, schwankenden Perspektive und dem Laufen der Gedankengänge in der Phantasie hervorgeht. 2.2.4 Fiktion, Phantasie, Träumerei: Möglichkeitsformen des Erzählens Mit dem „Vers“ beginnt ein phantastisches Abenteuer. Der Erzähler fliegt mit Schwimmbewegungen in Schleifen um die Statuen auf der Karlsbrücke. Dieses Erlebnis wird ohne Übergang, wie eine Fortsetzung der vorigen Handlung berichtet. Damit verschwimmen die Grenzen zwischen wirklichem Vorgang und subjektivem Eindruck und auch zwischen dem Wirklichen und dem Imaginären. 37 38 39 40
BK 69. BK 64. BK 69. BK 69.
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Die Realität der Karlsbrücke verwandelt sich, zur ‚rêverie‘ erweitert, in eine Traum-Wirklichkeit. Der Zusammenhang von Zeit und Raum hat sich gelockert; der Fliegende hat plötzlich ein vollständiges Wissen von den Namen der Sterne, ohne sie je gelernt zu haben. Auch das Fliegen selbst ist eine typische Traumerfahrung. – Der Bekannte holt den schwebenden Erzähler schließlich abrupt auf den ganz wörtlich genommenen Boden der Wirklichkeit (das Pflaster der Karlsbrücke) zurück, und die Reste des Erlebnisses verflüchtigen sich wie ein am Morgen beim Aufwachen schon halb vergessener Traum. Die Namen der Sterne verblassen wieder, die Liebe des Mädchens bzw. die Überzeugung davon (die den Erzähler ins glückliche Schweben gebracht hatte) löst sich ebenfalls auf. Verzweifelt versucht er noch das einzige Detail festzuhalten, das ihm geblieben ist: das weiße Kleid. Doch dieses Unterpfand des Traum-Erlebnisses entschlüpft ihm, verdinglicht als weißer Schimmer, der in einer Suggestion von mädchenhafter Bewegung „zierlich“ ins Dunkle hinein „hüpfte“.41 Zugleich beginnt der Träumer, die Worte des Bekannten zu verstehen, die sich in sein Bewußtsein drängen und es wieder in die Wirklichkeit hinein aufwachen lassen. Noch vor dem Bewußtsein sind die Körper-Empfindungen in die wache Welt zurückgekehrt: der Schmerz im Knie ist wieder fühlbar geworden. Diese Textpassage läßt sich als ein Traumprotokoll lesen, gefolgt von der Beschreibung des allmählichen Aufwachens aus dem traumumfangenen Zustand.42 Der Träumende verläßt dabei die Wirklichkeit nicht ganz, er erweitert sie nur zur Träumerei. Er erreicht dabei einen Zustand der Befreiung von den Begrenzungen der Realität und des Körpers, in dem er sich schwebend über die Wirklichkeit erhebt und ihr Meister ist. Dieser träumerische Zustand ist als ein literarischer oder jedenfalls sprachlicher gekennzeichnet, in dem die Worte besondere Bedeutung haben. Es scheint wesentlich für die Überlegenheit des Erzählers zu sein, daß er die „Namen“ sämtlicher Sterne kennt und daß sein Fliegen „des Erzählens wert“ sei; umgekehrt holen ihn die Reden und Worte des Bekannten wieder daraus zurück.43 Der Traum vom Fliegen führt also die Reflexion über das Verhältnis von literarischen Erfindungen, Wirklichkeit und Traum fort, die mit dem ersten Ausflug des Ich in seine Imaginationswelten hinein begonnen hatte. Der Wunsch, zu fliegen, ist nicht nur der Wunsch des Erzählers, sondern – in übertragenem Sinne – auch der des Textes selbst, insofern dieser Text danach strebt, seine Erzähldynamik als eine sich aus der Phantasie entwickelnde Bewegung zu erzeugen. Damit ist das Ziel benannt, auf das sich die folgenden Bemühungen des Erzählers richten werden. Der Flugtraum ist der erste Schritt in eine neue, andere Wirklichkeit der Fiktion hinein. Der nächste folgt als ein Sprung, mit dem der 41 42
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BK 71. Vgl. die Darstellung dieser Übergänge zwischen Halluzination und Traumvision bei J. Schillemeit, a.a.O., S. 110-112. BK 70.
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Erzähler sich aus der Realität verabschiedet, ein Absprung ins Imaginäre. „Schon sprang ich mit ungewohnter Geschicklichkeit meinem Bekannten auf die Schultern und brachte ihn dadurch, daß ich meine Fäuste in seinen Rücken stieß in einen leichten Trab.“44 Mit diesem Satz verläßt der Erzähler die Rahmenerzählung und geht in den Fiktionsraum der „Belustigungen“ über, die sich im Textabschnitt II ineinander schachteln („Belustigungen oder Beweis dessen, daß es unmöglich ist zu leben“).45 Nach dem Abdriften in Gedankenspiele, nach halluzinatorischer Wahrnehmungsverschiebung und Wirklichkeitsverlust, nach dem phantastischen Abenteuer des Fliegens in einer träumerisch verwandelten Wirklichkeit, also nach lauter stufenweise aufeinander folgenden Stationen eines Übertretens in Möglichkeitsräume der Phantasie bzw. der literarischen Imagination hinein, folgt nun das Leben in dieser Phantasiewelt. 2.2.5 „Ritt“ und „Spaziergang“: Erzählen als Phantasmagorie Raum und Zeit sind in der neuen Wirklichkeit nicht mehr die des nächtlichen Prag; man befindet sich plötzlich in einer ländlichen Gegend, es ist Abend. Die Landschaft ist „noch unfertig“. Sie entsteht erst nach dem Willen des Ich („Die Landstraße, auf der ich ritt, war steinig und stieg bedeutend, aber gerade das gefiel mir und ich ließ sie noch steiniger und steiler werden“).46 Je weiter der Erzähler auf dem Rücken seines Bekannten in diese Landschaft hinein reitet, desto vollständiger erfindet er sie. Sie kommt als seine Projektion zur Erscheinung, unter seinem Blick, der Bäume wachsen und Berge sich auftürmen läßt. Schließlich läßt er auch noch den Bekannten zurück und schreitet allein voran in eine Welt, die ganz seiner Regie gehorcht. Da ich Fichtenwälder liebe, gieng ich durch Fichtenwälder und, da ich gerne stumm in den ausgesternten Himmel schaue, so giengen mir auf dem großausgebreiteten Himmel die Sterne langsam und ruhig auf ...47
Die Ich-Figur wird hier in einem ganz wörtlichen Sinne zum Erzähler, der sich seine Welt erschafft. Damit werden die im Text erzählte Bewegung und die Erzählbewegung des Textes erneut parallelisiert, allerdings unter gegenüber der Rahmenerzählung umgekehrten Vorzeichen. Das Laufen als Handlung, das sich aus dem Laufen der Gedanken heraus entwickelt, ist hier von einem Reiten abgelöst worden, das die Landschaft erst entstehen läßt, die es dann durchquert. Die Handlung entwickelt sich nicht mehr aus dem Phantasieren, sondern das Phantasieren ist die Handlung. Damit wird das Ineinander von Erfindung und Handlungsentwicklung jetzt selbst zum Gegenstand der Erzählung. Während die 44 45 46 47
BK 72. BK 72. BK 73. BK 74f.
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voraufgegangenen Textpassagen als Traum beschreibbar waren, wird der Text nun zur Phantasmagorie. Es liegt nahe, diese Landschaft wegen der im Text reflektierten Verbindung von phantasierender Erfindung und Literarizität als Land der Phantasie zu deuten, in welchem die evokative Macht der dichterischen Sprache Welten entstehen läßt. Interessanterweise erträumt der Erzähler sich aber keine Märchenwelten. Die „unfertige“ Welt ist eher ein Zwilling der ersten, eine Parallelwirklichkeit. Zweimal betont der Erzähler ihre unspektakuläre Normalität: die Sterne gehen für ihn auf, „wie es auch sonst ihre Art ist“, und der von ihm ins Dasein gerufene Berg bietet einen ganz „gewöhnlich[en]“ Anblick.48 Doch gerade diese Gewöhnlichkeit ist sein Stolz. Diese Welt gehorcht keiner poetischen Sprache, sondern einem Kommandoton. Eher als um poetische Evokation geht es hier um Herrschaft, und zwar nicht über eine bloß erfundene, sondern über eine als wirklich angesprochene Welt. Die Phantasie ist, daß sie dem Erzähler aufs Wort gehorchen, das heißt: sich erzählen lassen soll. Diesem Ansinnen verweigert sich die Landschaft allerdings bald. In dem Moment, in dem der Erzähler das Erfinden aufgibt und sich in die von ihm geschaffene Aussicht hinein verabschieden will, entsteht eine Gegenbewegung. In einem Augenblick des Wegsehens beginnt die Landschaft selbst tätig zu werden, beginnt die projizierte Welt sich unabhängig vom Bewußtsein zu bewegen, wird aus der Projektion wieder Wahrnehmung, die dem Ich entgegentritt. Als sein Gegenspieler erhebt sich der Mond, „der schon hinter dem Berge lag, wahrscheinlich zürnend wegen der Verzögerung“.49 Die Beseelung des Himmelskörpers erinnert an jene erste Begegnung der Ich-Figur mit dem Mond, bei welcher der Mondschein die Wirklichkeit ins Wanken brachte. Auch hier ist der Mond wieder als handelndes Subjekt personalisiert und setzt eine das Ich bedrohende Bewegung in Gang. Ungewöhnlich ist auch hier nur die Formulierung dieser Bewegung, nicht jedoch das ‚Verhalten‘ des Mondes, der ja auch sonst von alleine aufgeht. In die Formulierung dieses Vorgangs schreibt der Erzähler seine verdrehte Perspektive ein. Er entwirft als Szenerie, wie der Mond noch wartend hinter dem Berg liegt – als ob der Betrachter nicht wüßte, daß es für ihn nur so aussieht, als ob der aufgehende Mond hinter den Bergen hervorkäme, während er in Wirklichkeit natürlich nie auf ihrer Rückseite zu finden ist. Weil es aber wirklich so aussieht, gewinnt die wörtlich genommene Verdrehung eine anschauliche Kraft und eine naiv-handgreifliche Komik. Das aber heißt: gerade weil der Erzähler gar nichts anderes beschreibt, als daß der Mond aufgeht, „wie es auch sonst seine Art ist“, nämlich indem er hinter einem Berg hervorkommt und in den Himmel steigt, wird die Wirklichkeit zum Theater. Nicht das Hervorrufen aufs Wort, das der 48 49
BK 75. BK 75.
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Erzähler zuvor inszeniert hatte, sondern die Tatsache, daß der Mond dabei nicht mitspielt, läßt ihn überhaupt erst als Spieler erscheinen. Sein Aufgehen wird so zum Auftritt, motiviert von seinem Zorn „wegen der Verzögerung“, der auf absurde Weise daraus verständlich wird, daß der Erzähler versäumt hat, dem Mond das Stichwort zu geben. Es entsteht der Eindruck, als ob nicht in dem benennenden Erfinden des Erzählers, sondern in dem ganz normalen ‚Verhalten‘ der Landschaft das eigentlich Kulissenhafte dieser Landschaft läge. In diesem Ursache und Wirkung verkehrenden Aberwitz liegt eine ähnlich groteske Komik wie in dem Ärger des Betrunkenen über die wackelige Welt, und die verkehrte Logik ist in ihrer Anschaulichkeit ähnlich schwer zu entkräften. Auch hier werden Wirklichkeit und Irreales in ein ironisches Verhältnis gebracht. Die aus Wille und Vorstellung des Erzählers entstandene Phantasie-Landschaft klappt wieder zurück und wird eine ‚wirkliche‘ Wirklichkeit, die dem Erzähler eben nicht aufs Wort gehorcht. Doch genau dieses normale Verhalten der Dinge bewirkt erst recht eine Irrealisierung der Wirklichkeit: als läge die Sensation des Mondaufgangs gerade darin, daß die selbständig gewordene Welt nichts von ihrem Schöpfer wissen will, daß alles auf ganz natürliche Weise vor sich geht. Diese Vertauschung ist auch hier eine Leistung der Sprache. In dieser Sprachbewegung, nicht schon im Bericht über das sprachmagisch-benennende Erfinden der Wirklichkeit, liegt die eigentliche Verschiebung. Sie setzt Wirklichkeit und Irreales in ein neues Verhältnis. Von den Übergängen zwischen Imaginärem und Wirklichkeit wird nicht nur erzählt, sondern sie werden zugleich vollzogen, in den Vertauschungs-Operationen, die die sprachliche Form des Textes in Gang setzt. Diese Verdrehung bringt die Ich-Figur und die Wirklichkeit erneut in ein Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit. Während sie vorher in der Schaukelbewegung miteinander verbunden waren, kommt jetzt zwischen dem Blick des Ich auf die Wirklichkeit und der Bewegung des Mondes eine prekäre Balance zustande. Ich-Figur und Mondscheibe bewegen sich entgegenkommend aufeinander zu: „meine abschüssige Straße schien gerade in diesen erschreckenden Mond zu führen“.50 Diese Bewegung und damit der Spaziergang durch die erträumte Welt ist jedoch nicht von langer Dauer. Die Ich-Figur beginnt Schritt für Schritt einzuschlafen, während parallel dazu die Wirklichkeit immer schneller ins Schwarze versinkt: Die Sterne dunkelten schon und der Mond versank schwächlich im Himmel, wie in einem bewegten Gewässer. Der Berg war schon ein Stück der Nacht, die Landstraße endete beängstigend dort, wo ich zum Abhang mich gewendet hatte und aus dem Innern des Waldes hörte ich das näherkommende Krachen fallender Stämme.51
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BK 75. BK 76.
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Bewußtsein und Welt stürzen ineinander. Die Dynamik in der fortschreitenden Auflösung ist die Gegenbewegung zu dem phantasierenden Erfinden im vorwärtsdrängenden Reiten. Nach dem Ritt in eine Phantasmagorie bzw. einen Traum hinein muß der Erzähler nun versuchen, dem Aufwachen aus dem Traum zu entgehen, der Auflösung des Traums davonzuschlafen und in einen nächsten Traum überzugehen. 2.2.6 Operationen auf der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit Die Lektüre des phantasmagorischen Entwurfs eines anderen Lebens zeigt, daß es in diesem Text um mehr geht als darum, die Realität zu verlassen und sich durch Erfindungen in Phantasiewelten aufzuschwingen. Zwar versucht der Erzähler, der bekannten Wirklichkeit zu entfliehen und stattdessen Geschichten ins Laufen zu bringen, und tatsächlich finden diese Geschichten nicht mehr in der Welt der Rahmenerzählung statt, sondern in imaginären, künstlich hergestellten Wirklichkeiten. Dennoch läuft die Erzählbewegung des Textes nicht einfach darauf hinaus, einen Traum oder eine Phantasie beginnen zu lassen. Der Erzähler begibt sich zwar in immer unwirklichere Wirklichkeiten, aber er beginnt nie auf ganz einfache Weise zu träumen. Die Erzählung gibt die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Traum (oder Irrealem oder Imaginärem) und Wirklichkeit nie auf. Die Positionen von Wirklichkeit und Imaginärem, von Fiktion und Realität werden auch in den erträumten Welten immer wieder aufs neue geschaffen, um anschließend in ein wiederum verdrehtes Verhältnis gebracht zu werden. Es geht also nicht einfach darum, in den Traum bzw. die Fiktion hineinzuspringen. Dies hieße, Fiktion und Traum zu parallelisieren. Es geht darum, in diesem Übergang, in der gleitenden Bewegung der Schwellenüberschreitung, Traum und Wirklichkeit zu vertauschen. Aus dieser Bewegung entfaltet sich der Erzählvorgang. Er entsteht aus Sprachbewegungen, die sich selbst als sprachliche Phänomene reflektieren. Daraus ergibt sich eine Fiktionalisierung sämtlicher Erzählwirklichkeiten, die jedoch nicht den Zweck hat, den Text nur noch über das eigene Erfundensein sprechen zu lassen, ein sich selbst beschreibendes Schreiben ablaufen zu lassen. Die Selbstreflexion wird vielmehr zur Bedingung des Erzählens. Von dieser Konstellation aus versucht der Erzähler, die Erzählbewegung als ein Erfinden freizusetzen, als einen imaginativen, traumartigen Prozeß. Die Schwellenüberschreitungen arbeiten an der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit, auch wenn sie längst nicht mehr vom Boden der Realität ausgehen, und sie alle arbeiten durch ihre witzig verdrehten Sprachbewegungen daran, diese Opposition selbst ad absurdum zu führen. Dies bedeutet, die Logik des Betrunkenen – oder des Wahnsinns oder des Traums – in ihr Recht zu setzen und damit Ich bzw. Bewußtsein und Wirklichkeit in eine Schaukelbewegung zu bringen. Damit wird jedoch nicht behauptet, diese verdrehte Sichtweise sei die
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eigentlich richtige. Auch die verkehrte Welt wird durch Ironisierung wieder verkehrt. Es geht allein darum, die Bewegung des ständigen Umkehrens herzustellen, denn sie soll zum Motor der Erzählbewegung werden. Aus diesem Grund hören die Übergänge nicht auf: weil die Textbewegung sich nur als fortgesetzte Schwellenüberschreitung weiterschrauben kann. Diese Bewegung kann nur dann an ein Ende kommen, wenn es ihr gelingt, den Punkt zu finden, an dem sie mit der naiv-absurden Logik des Betrunkenen den Gegensatz von Wirklichkeit und Imaginärem selbst aus den Angeln heben kann. Doch auch dies wäre notwendig transitorisch, da es ja die Existenz beider Teile des Gegensatzes nach wie vor voraussetzt. So besteht die Suche nach dem Hebelpunkt darin, immer wieder neu mit dieser Grenze zu spielen. Da dieses Spiel auf der Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit ein genuin phantastisches Unternehmen ist, kann das Erzählen, das diese Bewegung aus sich entfaltet, als phantastisches Erzählen bezeichnet werden. Natürlich gilt dies nicht im Sinne einer klassischen phantastischen Erzählung; schon allein deshalb nicht, weil das als Wirklichkeit bzw. Überwirklichkeit Erzählte immer auch als Sprachwirklichkeit reflektiert wird. Die Frage nach dem Verhältnis von Wirklichkeit und Imaginärem ist in die Sprachebene verschoben. Durch eine Bewegung in der Sprache, in welcher die Beziehung von Sprache und Wirklichkeit selbst verhandelt wird, entwickeln sich die Erzählungen des Mittelteils. An der Stelle des Übergangs in den Mittelteil, d.h. unmittelbar vor Beginn der „Geschichte des Dicken“, gibt die Erzählung ihre Auseinandersetzung mit dem Träumen auf. An dieser Stelle stand ursprünglich noch eine weitere Traum-Passage, die Kafka gestrichen hat. 2.3 Erzählen im Zeichen des Traums 2.3.1 Endpunkt der Erzählmöglichkeiten Die Beschreibung eines Kampfes ist Kafkas erster Ansatz zu dem Projekt, außerordentliche Bewußtseinszustände und das Erfinden von Geschichten in einer Sprach- und Textbewegung zwischen Traum und Wirklichkeit zusammenzubringen. Die gestrichene ‚Traum‘-Passage, die am Ende des Weges vom Gedankenspiel in die Phantasmagorie hinein steht, bildet den Höhepunkt dieses Versuchs – und auch seinen Endpunkt. Sie nimmt alle bisher durchprobierten Erzählmöglichkeiten noch einmal auf und führt sie in einem Text weiter, der sich jenseits aller zuvor noch festgehaltenen Wirklichkeits-Paradigmen bewegt.
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Es handelt sich um einen Traum, der kein Traum ist. So behauptet es jedenfalls der Erzähler: „Ich schlief traumlos und versunken.“52 Während des Schlafes hört er eine Stimme, die zu ihm spricht, deren Wahrnehmung er aber zu verdrängen versucht, um nicht aufzuwachen. Diese Stimme erzählt ihm nichts anderes als die Liebesgeschichte, die er selbst einige Seiten zuvor erfunden hat; Satzfetzen wie „Züge mit erglänzendem Rauch“ werden zitiert.53 Es scheint, als läse ihm die Stimme seinen eigenen Text noch einmal vor, bzw. als schliefe er auf der Rückseite dieses Textes, immer knapp davor, wieder in diese vormalige Wirklichkeit zurückzufallen und den Raum seiner „Belustigungen“ zu verlassen. Als wäre im Schlaf-im-Traum die Grenze zwischen den verschiedenen Wirklichkeitsbereichen dünn geworden: wie in einem Halbschlaf befindet sich das Bewußtsein ständig auf dieser Grenze, kurz vor dem Aufwachen. Zur Illustration dieses Vorgangs sei auf Gustav Meyrinks Roman Der Golem (1915) verwiesen, dessen Anfangspassage ähnliche Phänomene beschreibt.54 Der Erzähler berichtet sein Einschlafen als Übergang in einen Traum, der durch eine halbwache Bewußtseinsschicht gestört wird. Eine Stimme stellt ihm immer wieder eine Frage, die sich auf ein Gleichnisbild bezieht, von dem er vor dem Einschlafen gelesen hatte, und dessen Vorstellung immer unschärfer und verzerrter wird, je öfter es auftaucht. Diese quälende Halbschlaf-Wiederholung des in sinnlose Bruchstücke fragmentierten Tagesgeschehens verhindert das Einschlafen und den tieferen Traum, solange das Bewußtsein der Frage nicht entkommen kann. In einer bewußten Traum-Anstrengung versucht der Erzähler, der fragenden Stimme davonzuschlafen, indem er seine Imagination auf den im tieferen Schlaf zu träumenden Traum richtet. Auch Kafkas Erzähler regiert seine eigenen Träume. Dabei geht es jedoch nicht darum, das Erleben eines psychischen Phänomens beschreibend nachzuvollziehen. Im Unterschied zu Meyrinks Golem ist der Traum, den Kafkas Erzähler produziert, zugleich die Geschichte, in der er sich befindet. Auf diese Tätigkeit des Erfindens und Erzählens verweist der Traum-Text so deutlich wie noch nirgends zuvor. Nach dem Aufwachen aus dem nicht geträumten Traum ist das Erzähler-Ich ganz von Nebeln umgeben – ein wie ins Außen übersetztes Bild der Innenansicht eines Bewußtseins, das noch halb schläft, ‚benebelt‘-traumumfangen ist. In grotesk-handgreiflicher Komik muß das Ich sich bemühen, diese Wolken, in denen noch allerlei hier und dort aufgesammelte Reste von Welt hängen („Schornsteine, verendetes Wild, Fahnentücher, Wetterhähne und andere meist unkenntliche Dinge“55), von sich wegzuschieben. Mit seinem allmählichen Aufwachen, nach jedem Gähnen, entsteht die Landschaft wieder, die am Abend zuvor beim Einschlafen eingestürzt war. Wenn der Erzähler daraufhin den 52 53 54 55
KKA: Nachgelassene Schriften und Fragmente I, Apparatband, S. 158-161; hier S. 158. Ebd., S. 158. Gustav Meyrink: Der Golem, Prag 1998 (zuerst Leipzig 1915), Kap. 1: „Schlaf“. KKA: Nachgelassene Schriften und Fragmente I, Apparatband, S. 159.
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Eindruck hat, „als hätte ich im Traume mich her verirrt und begriffe das Schreckliche meiner Lage erst im Erwachen“, und wenn dieser Eindruck auch wieder nur als ein Als-Ob, im Konjunktiv berichtet wird: dann sind die SchachtelVerhältnisse der erfundenen und erträumten Wirklichkeiten oder Träume undurchschaubar geworden.56 Daraufhin konstatiert das Erzähler-Ich, in der Sphäre der „Belustigung“ angekommen zu sein: „Du kannst zufrieden sein, es ist lustig hier. [...] du verdienst diese Belustigung“.57 Doch obwohl es sie „meines Vergnügens halber“ aufgesucht hat, erscheint die „Belustigung“, das willkürliche Erfinden, plötzlich als unerträgliche „Anstrengung“. Um die Dinge der Welt nicht mehr sehen zu müssen, drückt der Erzähler das Gesicht in den Waldboden. In dieser Lage ist er der Mühe enthoben, „Bewegung“ und „Gedanken“ in Gang zu setzen: „denn sonst würde ich vieler mühseliger Krämpfe, wie Schritte oder Worte bedürfen“.58 An diesem Punkt gelangt der Traum zu jener Deckungsgleichheit von erzählten „Schritten“ und erzählenden „Worten“, die immer angestrebt wurde. Jetzt aber, als nur noch sich selbst beschreibende Beschreibung einer Textbewegung, droht der Erzählvorgang leerzulaufen. Die TextWirklichkeit wird nun selbst so dünn wie vordem die Grenze zwischen dem schlafenden Bewußtsein und seinen Erfindungen. Sie besteht nur noch aus dem Blatt Papier, das Innen und Außen des Textes trennt, das die Geschichte in sich enthält, und das jetzt als das bloße Blatt sichtbar wird, das auf dem Schreibtisch liegt, auf dem der Schreibende jetzt schreibt. Mit dem sein eigenes „Belustigungs“-Verfahren als „gezwungen“ und „mühselig“ kommentierenden Erzählen droht ein Aufwachen aus der Fiktion, aus dem Buch heraus. An dieser Stelle läßt sich von außerhalb der Text-Wirklichkeit erneut eine zweite Stimme vernehmen. Sie treibt den Erzähler zu einer Flucht in seine Landschaft hinein und an den Beginn einer neuen Erzählung. Mit dem nicht geträumten Traum, der sein Erfunden-Sein ausstellt, riskiert der Text eine Bewegung, die sich auf sein eigenes Zustandekommen zurückwendet. Die Streichung dieser Passage stellt den Zustand der Landschaft vor dem Einschlafen wieder her und umgeht damit die prekäre Phase eines erneuten, erfindenden Aufbauens. Als hätte die Auflösung der Landschaft gar nicht stattgefunden, oder: als hätte das Ich diese Auflösung nur geträumt, fällt es jetzt ohne Übergang in einen tieferen Traum, in die „Geschichte des Dicken“ hinein. Mit diesem Schnitt löst sich das Erzählverfahren von der Anlehnung an Bewußtseinsvorgänge. Die Wahrnehmungen des Erzählers werden nicht mehr als Halluzinationen, Wunschprojektionen oder Halbschlafphantasien erzählt, sondern als waches Erleben von Wirklichkeit. Die „Geschichte des Dicken“ enthält zwar genügend irreale Elemente, um als Traum angesprochen zu werden, aber sie wird nicht mehr erzählend geträumt. 56 57 58
Ebd., S. 159. Ebd., S. 160. Ebd., S. 160.
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2.3.2 Träumendes Erzählen in Kafkas Frühwerk In der späteren „Fassung B“ der Beschreibung eines Kampfes (1909–1911) wird der Übergang in eine neue Traum-Wirklichkeit unter Umgehung des Träumens noch radikalisiert. Dort heißt es am Beginn des Textteils III: „Ich schlief und fuhr mit meinem ganzen Wesen in den ersten Traum hinein. Ich warf mich in ihm so in Angst und Schmerz herum, daß er es nicht ertrug, mich aber auch nicht wecken durfte, weil doch die Welt um mich zu Ende war. Und so lief ich durch den in seiner Tiefe gerissenen Traum und kehrte wie gerettet – dem Schlaf und dem Traum entflohn – in die Dörfer meiner Heimat zurück.“59 Darauf folgt die später als Kinder auf der Landstraße veröffentlichte Erzählung. Sie entwickelt das Prinzip des Immer-Tiefer-Einschlafens als Verfahren eines traumartigen Erzählens: Wir machten den Angriff, wurden vor die Brust gestoßen und legten uns in das Gras des Straßengrabens, fallend und freiwillig. Alles war gleichmäßig erwärmt, wir spürten nicht Wärme, nicht Kälte, nur müde wurde man. Wenn man sich auf die rechte Seite drehte, die Hand unters Ohr gab, da wollte man gerne einschlafen. Zwar wollte man sich noch einmal aufraffen mit erhobenem Kinn, dafür aber in einen noch tieferen Graben fallen. Dann wollte man, den Arm quer vorgehalten, die Beine schiefgeweht, sich gegen die Luft werfen und wieder bestimmt in einen noch tieferen Graben fallen. Und damit wollte man gar nicht aufhören.60
Mit ihrem wie träumend entwickelten Fluß von intensiven Bildern und Wahrnehmungen ist die Erzählung Kinder auf der Landstraße vielleicht der faszinierendste von Kafkas frühen Texten. Der Verweis auf die Traumähnlichkeit dieses Textes deutet an, welche Perspektive die vorstehende Analyse der „Fassung A“ von Beschreibung eines Kampfes eröffnet. Im Erzählprinzip der Schwellenüberschreitung sehe ich das erste Dokument eines Annäherungsversuchs, der Kafkas Frühwerk durchzieht: den ersten Ansatz zu einem ‚Erzählen im Zeichen des Traums‘. Die Beschreibung ist der erste Text, der das Träumen als Modell für ein phantasierendes Erfinden nutzt, welches die Handlung im Erzählvorgang entwickelt. Dieses träumende Erzählen erfindet allerdings keine Handlung im Sinne einer Geschichte, sondern Vorgänge, die nur zu ihrer eigenen Selbstreflexion da zu sein scheinen. Es entsteht im Rahmen einer Erprobung und Reflexion der Möglichkeiten, überhaupt zu erzählen, und ist noch nahezu vollständig mit dieser Reflexion beschäftigt.61 59 60 61
KKA: Nachgelassene Schriften und Fragmente I, S. 145. Ebd., S. 147f. Eine ähnliche Beziehung zwischen der Beschreibung und dem Traum-Text von Kinder auf der Landstraße skizziert Reinhard Baumgart, allerdings unter negativen Vorzeichen: „So realisiert diese Prosa [in ‚Kinder...‘] endlich jene Welt als Text, die ‚Darstellung meines traumhaften inneren Lebens‘, die sich dem Autor der ‚Beschreibung‘ immer wieder auflöste in Erzählrhetorik.“ (R. Baumgart, a.a.O., S. 174). Diese Auflösung des Erzählens in Selbstreflexivität und bemühte Konstruktionen ist in der Tat die Kehrseite des von mir dargestellten Erzählverfahrens. Dennoch erscheint es mir sinnvoll, den Ansatz der Beschreibung von ihren Ambitionen statt von ihrem Scheitern her zu bestimmen (auch wenn letzteres erstere in Frage
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Von diesem Anfang führt kein direkter Weg zu einem traumhaften Erzählen, wie es in Kinder auf der Landstraße gelingt. Im Gegenteil: Die Entwicklung von Kafkas Schreiben scheint sich eher von dem frühen Projekt zu entfernen. Zwar folgt die umgearbeitete Struktur der zweiten Fassung von Beschreibung eines Kampfes demselben Traum-Prinzip wie Kinder auf der Landstraße. Aus den aufeinander verweisenden Verschachtelungen von Geschichten („Fassung A“) werden einander ablösende Erzählverläufe. Diese Form der Textentwicklung hat jedoch offenbar nicht zu einer abgeschlossenen Erzählung geführt.62 In jedem Fall ist dieser Weg eines Immer-Weiter-Laufens nicht der, auf dem Kafkas Schreiben sich nach der zweiten Fassung der Beschreibung weiterentwickelt. Kafkas erste Publikation Betrachtung (1908) versammelt kurze Stücke, deren Erzählformen vom Mittelteil der „Fassung A“ ausgehen. Den Erzählweisen dieses Mittelteils werde ich mich im zweiten Teil des vorliegenden Kapitels zuwenden. Erst auf dem Weg über diese Entwicklung kommt es, wie im weiteren Verlauf der Arbeit gezeigt wird, zu einem Wieder-Anknüpfen an jene ersten Versuche eines Erzählens vom Bewußtsein des Träumers aus, dessen Höhepunkt der nicht geträumte Traum in der Beschreibung eines Kampfes bildet, in dem das Erzählen selbst zu träumen beginnt. Die vorstehenden Analysen haben das ‚Erzählen im Zeichen des Traums‘ als erzähltechnisches Projekt entwickelt. Ob die Beziehung zwischen Erzählen und Träumen über eine solche Verfahrensbeschreibung hinaus poetologisch gewendet werden kann, ob Kafkas Erzählen überhaupt als Träumen verstanden werden muß, soll einer späteren Erörterung vorbehalten bleiben (Kap. III.4). An dieser Stelle läßt sich dazu vorläufig festhalten: die Beschreibung eines Kampfes formuliert keine Poetik des Traums, sondern sie erprobt mit dem Träumen Möglichkeiten für ein Erzählen als Sprachphantasie. Das erfindende Träumen als Tätigkeit der Imagination, der Einbildungskraft, wird zum Medium eines träumenden Erzählens bzw. einer „imaginativen Schreibart“ (Höllerer).63
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stellt). Denn nur dadurch kann in den Blick kommen, von welchen Prämissen Kafka ausgegangen ist und welche Form diese Ansätze im Verlauf der weiteren Entwicklung seines Schreibens angenommen haben. Das Manuskript der „Fassung B“ bricht aufgrund von Überlieferungsverlusten unvermittelt ab, so daß nicht zu klären ist, ob es je abgeschlossen wurde. Daß dieser mögliche Schluß (oder sein Fehlen) Kafka nicht befriedigte, dokumentieren seine Einträge in den Tagebüchern um 1909/10, die in unermüdlichen Wiederholungen versuchen, eine Fortsetzung der Beter-Geschichte zu finden („Du, sagte ich“-Fragmente). W. Höllerer: „Odradek unter der Stiege“, in: Sprache im technischen Zeitalter, H. 88/1983, S. 350362, Zitat S. 357.
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3. Die Macht der Sprache: Literarische Selbstbegründung 3.1 Das Zentrum der Erzählung als Ort philosophischer und poetologischer Reflexion Im Zentrum der Schachtelstruktur der Beschreibung eines Kampfes steht der Textabschnitt „3/Der Dicke“, der vier Teil-Erzählungen umfaßt (3a-3d).64 Diese Erzählungen führen die Auseinandersetzung um die Beziehung von Bewußtsein und Wirklichkeit fort, jedoch nicht mehr im Zeichen des Traums, sondern als erzählte Allegorese, die eine erkenntnis- und sprachtheoretische Reflexion vermittelt. Die Erzählerfigur des betrunkenen Träumers wird von einem „Nachdenkenden“ abgelöst.65 Dessen „Nachdenken“ unterläuft das Realitätsprinzip, indem es sich gegen den Anspruch der Dinge richtet, wirklich zu sein. Diese Selbstbehauptung des Erzählers gegenüber den Dingen der Wirklichkeit ist zugleich die Behauptung einer literarischen Sprache, die in dieser Auseinandersetzung Autonomie gewinnt. Damit unternimmt das Erzähl-Projekt Beschreibung eines Kampfes seine poetologische Begründung. Diese dient zugleich als Begründung der schriftstellerischen Existenz. Kafkas erste große „Novelle“ dokumentiert nicht zuletzt den Anspruch ihres Autors, sich als solcher zu präsentieren. Mit dem Wechsel der Erzählweise wird die Beschreibung zur narrativen Entfaltung theoretischer Positionen. Dies ist jedoch nicht in dem Sinne zu verstehen, daß sich das Erzählte in abstrakte Aussagen übersetzen ließe.66 Die philosophische und poetologische Reflexion in der Beschreibung konstituiert sich im Erzählvorgang und kann von diesem nicht getrennt werden. Das theoretische „Nachdenken“ über das Verhältnis von Ich und Wirklichkeit vollzieht sich im Prozeß des Erzählens als Sprachbewegung. Durch Wiederholung, Spiegelung und
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Abschnitt 3 (BK 78-111) bildet die Mitte des Hauptteils „II. Belustigungen oder Beweis dessen, daß es unmöglich ist zu leben“, der seinerseits von der Rahmenerzählung (Teile I und III) umschlossen ist. Die Abschnitte 1, 2, 3a und 4 des II. Teils der Erzählung formen wiederum einen Rahmen, innerhalb dessen die Erzählung des Dicken über seine Begegnung mit dem Beter steht (3b und 3d), die ihrerseits die „Geschichte des Beters“ umschließt (3c). „Nachdenkender“: Mit dieser Bezeichnung werden die beiden Figuren in der „Geschichte des Beters“ (3c) einander gegenübergestellt („Gott, wie zuträglich muß es erst sein, wenn Nachdenkender vom Betrunkenen lernt!“ (BK 102)). Es ist möglich, die gleichnishaften Geschichten des Mittelteils auf Bedeutungen hin transparent zu machen; es ist jedoch nicht plausibel, daß sie als Ausformulierung einer konsistenten Theorie gelesen werden müßten, die der Beschreibung zugrunde läge. Den bisher ausführlichsten Versuch einer solchen Übersetzung der Erzählung in Theorie hat Lukas Trabert unternommen, der die sprachtheoretischen Reflexionen der Beschreibung und Nietzsches Essay Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne aufeinander abbildet. Dieses Unternehmen scheitert daran, daß es Trabert nicht gelingt, eine gedankliche Beziehung zwischen den Texten jenseits eines bloß illustrativen Verweises zu entwickeln (L. Trabert, a.a.O.).
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Überlagerung verschiedener Motive entsteht eine bewegliche Konstellation von sich gegenseitig mit Bedeutung anreichernden Metaphern. Die narrative Entwicklung dieser Konstellation setzt jene Drehbewegungen fort, die in den Rahmenerzählungen die Diskussion über die Beziehung von Ich und Wirklichkeit vorantreiben. Die „nachdenkende“ Form der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit arbeitet weiter an den Verschiebungen, die vom „betrunkenen“ Träumen ausgehen. Das Ziel dieses Unternehmens ist es, die Ironie im Verhältnis von Ich und Welt in sich aus einander fortzeugenden Fiktionen immer noch weiter auf die Spitze zu treiben, so lange, bis das Ich – nunmehr eine komische Figur, die gar nicht recht existiert – einen Punkt gefunden hat, um mit dem absurden Witz seiner Betrunkenen-Logik dieses Verhältnis anzugreifen. Es ist der Versuch, einen Punkt zu finden, an dem die Fiktion die Wirklichkeit aus den Angeln hebt – und zwar ohne daß diese Hebelwirkung noch (im Sinne des Realitätsprinzips) dem Betrunken- oder Verrückt-Sein anzulasten wäre. Diese Suche, die sich in der Rahmenerzählung in der ständigen Vertauschung von Traum und Wirklichkeit vollzieht, wird im Mittelteil zu einer Reflexion über die Sprache und deren Bedeutung für die Beziehung von Bewußtsein und Welt. Das Nachdenken über diese Beziehung ist zugleich ein Nachdenken über die Wirklichkeit von Fiktionen, vermittelt durch die sprachliche Form des Textes. Auf diesem Weg wird das Drehungs- und Verschiebungs-Moment stellenweise in Sprachbewegungen hinein verlagert und auf kleinsten Raum reduziert. Von der Analyse solcher Sprachbewegungen aus wird es möglich, die Entwicklung von Kafkas Erzählen nach der Beschreibung eines Kampfes in den Blick zu bekommen, die dann im II. Kapitel zum Thema wird.
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3.2 Die Erzählung „Der Dicke“: Allegorie einer ästhetischen Existenz Die vom Erzähler der Rahmenhandlung berichtete „Ansprache“ des Dicken „an die Landschaft“ bildet den Übergang zu den allegorisch-parabolischen Erzählungen des Mittelteils und bietet eine erste Formulierung der Fragen, die in den folgenden Teilen der Erzählung diskutiert werden (3a).67 Bereits die Figuren der Rahmenhandlung, „Ich“ und „Bekannter“, waren als Thesen-Charaktere, als Vertreter gegensätzlicher Positionen erkennbar. Der „Dicke“ nun ist nur noch These: er ist der Denker. Sein Aussehen erinnert an eine Buddha-Statue; entsprechend scheint sein nach innen gewendetes Bewußtsein in die Leere der Meditation versunken zu sein.68 Während der Körper des ersten Erzählers noch ein menschlicher war (der sich nur im Gedankenspiel in die menschenähnliche Als-Ob-Figur einer Vogelscheuche verwandelt hatte), ist die Körperlichkeit des „Dicken“ schon ganz Metapher. Dieser Körper wäre lesbar als die Verkörperung des Bewußtseins selbst – absurderweise also als Verkörperung des Gegenteils von Körperlichkeit. Die Veränderungen dieses Körpers zeigen die Beziehung des denkenden Bewußtseins zur Welt an. Zuerst bietet er seine Massivität gegen die der Dinge auf und ist in der Lage, Zweige von Buschwerk zu durchstoßen. Nach der Niederlage gegen die von der Landschaft vertretenen Naturmächte verwandelt sich seine Masse jedoch in etwas beinahe Substanzloses: der Dicke wird „wie ein Götterbild aus hellem Holz“ vom Fluß davongetragen und kann von einem Vogel durchflogen werden.69 Gelb ist die Symbolfarbe dieses irrealen, artifiziellen Körpers. Sie verbindet den Dicken mit der Vogelscheuche, deren ‚Haut‘ aus gelben Stoffetzen besteht, und dem verrückten Beter, der als Silhouette aus gelbem Seidenpapier angesprochen wird. Die Handlungen dieser VerkörperungsFiguren stellen gedankliche Zusammenhänge her; jede ihrer Gesten ist bedeutsam. Die Instabilität des uneigentlichen Körpers bedroht die Existenz des Ich, denn dieser Körper ist der Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit, vor allem den Naturmächten Wasser und Wind, nicht gewachsen. Das Leben des Dicken steht auf dem Spiel, wenn er die ihn umgebende Landschaft anruft: „Jetzt aber – ich bitte Euch – Berg Blume Gras, Buschwerk und Fluß, gebt mir ein wenig Raum, damit ich athmen kann.“70 Damit ist die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Ich und Wirklichkeit ins Existenzielle gewendet. Es handelt sich ja in diesem Mittelteil der „Belustigungen“, wie der Untertitel besagt, um den 67 68
69 70
„3 / Der Dicke / a / Ansprache an die Landschaft“, BK 78-84. Dies erscheint allerdings, von außen gesehen, in ironischer Verdrehung gerade als Abwesenheit von Geist: „Sein Gesicht trug den einfältigen Ausdruck eines Menschen der nachdenkt und sich nicht bemüht es zu verbergen.“ (BK 79) BK 83. BK 81.
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„Beweis dessen, daß es unmöglich ist zu leben“.71 Der Dicke erfährt diese Unmöglichkeit am eigenen – metaphorischen – Leib und ist darin der Stellvertreter einer Erfahrung, die alle Ich-Figuren des Mittelteils teilen. Seine Existenz hängt am „Denken“. Die Außenwelt droht diese Innenwendung zu verhindern: „ ‚Die Landschaft stört mich in meinem Denken‘, sagte er leise, ‚sie läßt meine Überlegungen schwanken, wie Kettenbrücken bei zorniger Strömung. Sie ist schön und will deshalb betrachtet sein‘ “72 Was der Inhalt dieses „Denkens“ sei, wird nicht mitgeteilt; es ist jedenfalls von den Dingen der Welt abgezogen und scheint sich selbst zu genügen. Demgegenüber fordert die Außenwelt als solche einen Bezug auf außerhalb des Denkens Liegendes. Dieser Bezug erscheint hier als ästhetischer, und zwar in zweifacher Hinsicht: als ein wahrnehmender und als ein sprachlich-literarischer. Der Dicke ist gezwungen, die Augen zu öffnen; zugleich muß er seine Wahrnehmung immer wieder durch „Lobpreisung“ sprachlich kommentieren, um die Dinge der Welt sich „freundlich“ zu erhalten: „Ja, Berg Du bist schön und die Wälder auf Deinem westlichen Abhang freuen mich. – Auch mit Dir, Blume, bin ich zufrieden und Dein Rosa macht meine Seele fröhlich.“ Andernfalls droht der Einsturz der Wirklichkeit: der in Steinschlag abbröckelnde Berg würde das denkende Gehirn zu „Brei“ machen.73 Blick und Benennung gehören hier offensichtlich in ähnlicher Weise zusammen wie zuvor in der sprachlichen Erschaffung dieser instabilen Landschaft durch den Erzähler. Die Worte des Dicken haben jedoch keine Gewalt über die Natur, sondern sind in Umkehrung des vormaligen Herrschaftsverhältnisses von ihr erzwungen. Gegen ihre Forderungen verstoßen zu haben, ist die Sünde des Dicken, für die sich die Natur schließlich rächt: Ja, Rache ist es, denn wie oft haben wir diese Dinge angegriffen, ich und mein Freund der Beter, beim Singen unserer Klinge, unter dem Aufglanz der Cymbeln, der weiten Pracht der Posaunen und dem springenden Leuchten der Pauken.74
Ganz offensichtlich ist dies nicht der Tribut ästhetischer Betrachtung, den die Natur fordert („Ja, Berg Du bist schön“), und es ist auch nicht die natürliche Sprachverwendung, die diesem Verhältnis angemessen wäre. Statt die ästhetische Relation als die eines Betrachters gegenüber der schönen Natur zu affirmieren, spricht der Dicke von Musikinstrumenten, also von nicht-mimetischer Kunst, und seine Worte sind ein Beispiel ‚wider-natürlichen’, poetischen Sprechens. Es sind Metaphern, die die natürlichen Verhältnisse verzerren, indem sie Akustisches mit Optischem vertauschen („das springende Leuchten der Pauken“) und ein kakophonisches Katachresen-Konzert entfesseln. Es scheint sich um eine Militärmusik zu handeln, deren Posaunen und Pauken im Verein mit dem „Singen 71 72 73 74
BK 72. BK 79. BK 80. BK 84.
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unserer Klinge“ eine anti-realistische, anti-mimetische Kriegserklärung anstimmen, mit der die Natur „angegriffen“ werden soll. In der Ansprache des Dicken, die das Verhältnis von Bewußtsein (oder Denken) und Wirklichkeit (bzw. Natur) reflektiert, überkreuzt sich die Frage, wie man über die Dinge der Welt sprechen soll, mit der Frage, ob man über die Welt sprechen soll. Der Dicke entwirft die Position einer Ästhetik, die die Dinge der Natur, die Naturschönheit und die Natürlichkeit des Sprechens hinter sich läßt und für die Künstlichkeit eines Sprechens optiert, das die Dinge und ihre Verhältnisse nach eigenen Gesetzen umorganisiert. Diese zweifache Operation der Irrealisierung und Fiktionalisierung führt jedoch dazu, daß die Existenz dieses Ich in Gefahr gerät: Ertrinken oder Ersticken sind die Folgen. Das Erzähler-Ich resümiert verzweifelt: „Was sollen unsere Lungen thun“, schrie ich, schrie, „athmen sie rasch, ersticken sie an sich, an innern Giften; athmen sie langsam ersticken sie an nicht athembarer Luft, an den empörten Dingen. Wenn sie aber ihr Tempo suchen wollen, gehn sie schon am Suchen zugrunde.“75
Die „Unmöglichkeit zu leben“ wäre also die Unmöglichkeit eines ästhetischen Subjekts? Das letzte Wort ist dazu an dieser Stelle noch nicht gesprochen. Am Ende kann sich dieses Subjekt womöglich doch behaupten, wenn auch als komische, unmögliche Figur. Erkennbar ist immerhin, daß die metaphorischen Reden des Dicken die Versuche der ersten Ich-Figur fortsetzen, sich durch die fingierende Eigenmacht der Sprache von der Wirklichkeit abzustoßen. Sprachliche Äußerungen sind nicht daran gebunden, daß das, was sie aussagen, existiert. Bei dieser sprachtheoretischen Feststellung bleibt die vom Dicken begonnene Auseinandersetzung jedoch nicht stehen. Im folgenden wird sich zeigen, daß es den „Belustigungen“ nicht einfach darum geht, die referentielle Funktion von Sprache zu verneinen und nach dem Muster der Metaphern des Dicken neue Sprachwirklichkeiten zu entwerfen. Die benennende Funktion der Sprache soll vielmehr das Verhältnis von Worten und Dingen selbst in Bewegung bringen. Dieses Unternehmen betreibt die Beter-Figur, die der Dicke mit seinen oben zitierten Worten in den Text einführt. Der Beter und seine verschobene Weltsicht sind das Thema der folgenden Erzählung, mit welcher der Dicke die Erzählerfunktion übernimmt, um von seiner Begegnung mit dieser Figur zu berichten (3b: „Begonnenes Gespräch mit dem Beter“).76 In dieser Rückblende vertritt der Dicke – im Gegensatz zu seiner Position in dem soeben dargestellten Geschehen – die vernünftige Weltsicht, spiegelbildlich zur Konstellation der Rahmenerzählung also die Position des vormaligen Bekannten, während der Beter, eine lange und dünne Figur wie das Ich der Rahmenerzählung, ihn von seiner verrückten Perspektive zu überzeugen versucht. 75
76
Diese Schlußfolgerung zieht der Erzähler allerdings erst nach dem Durchgang durch die dieses Verhältnis weiter diskutierenden „Belustigungen“ des Mittelteils (BK 111). BK 84-94.
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3.3 Die „Beter“-Erzählungen: „Seekrankheit auf festem Lande“ 3.3.1 Schwankendes Unglück Der Beter stellt als erster die Frage, wer eigentlich stärker schwankt: der Boden unter den Füßen oder das Ich? Er ist das Urbild all jener Ich-Figuren der Beschreibung eines Kampfes, die an einem gestörten Verhältnis zur Wirklichkeit leiden. Mit dieser Figur ist der Ursprung jener Verunsicherung erreicht, von der aus sich die Schwindel erregenden Schaukel- und Drehbewegungen durch den Text ziehen. Die verschachtelten Geschichten arrangieren sich um dieses Zentrum wie konzentrische Kreise, Echos und Folgen einer zentralen Erschütterung. Im „Gespräch mit dem Beter“, das der Dicke erzählt, beschreibt der Beter seine Existenz als vollkommen haltlos. Um sich ihrer versichern zu können, führt er beim Beten in der Kirche ein konvulsivisches Spektakel auf, das die Leute zwingt, ihn anzusehen, so daß er durch ihre Blicke die Bestätigung erhält, einen Körper zu haben, wirklich zu existieren. Die prekäre Verfassung dieses Welt- und Selbstverhältnisses bezeichnet er gegenüber dem Dicken als sein „Unglück“ und warnt zugleich davor, sich allzu nah damit einzulassen: Denn mein Unglück ist ein schwankendes Unglück, ein auf einer dünnen Spitze schwankendes Unglück, und berührt man es, so fällt es auf den Frager.77
Worin dieses Unglück besteht, beantwortet dieser Satz nicht. Stattdessen führt seine Sprachbewegung es vor. Durch das Adjektiv wird das abstrakte „Unglück“ zu einem dinghaft „schwankenden“. Mit der „dünnen Spitze“ gewinnt es eine merkwürdig anschauliche Gestalt. Der Satz entfaltet diese Verwandlung wie eine kleine Geschichte, einen szenischen Auftritt: wie das Unglück, sich gegenständlich verkörpernd, in schaukelnde Bewegung gerät, sich dann bildhaft konkretisiert, indem es eine Spitze bekommt, auf der es schwankt, und von der es schließlich herunterfallen kann, sobald man es anstößt. Im Ausspinnen der Bildvorstellung von der rhetorischen Verdinglichung aus wird das Abstrakte wie zum Anfassen greifbar, was dann auch tatsächlich eine imaginierte Berührung nach sich zieht, die – ganz in der Logik dieser gerade aufgebauten Szene – das Zusammenfallen der wackeligen Konstruktion zur Folge hat. Damit ist das „Unglück“ geschehen: die Berührung bringt den Aufbau aus der Balance.78 – Dieses rhetorische Verfahren knüpft an ein bekanntes Sprachbild an, nämlich – ironischerweise – an die Rede vom ‚schwankenden Glück‘. Von diesem Sprachbild geht die Formulierung „schwankendes Unglück“ aus. Das visuelle Vorstel77 78
BK 88. Vgl. zum Phänomen der grotesken Verdinglichung die Arbeit von Norbert Kassel, der in dem Ausspinnen von Bildvorstellungen die Grundlage für Kafkas Metaphern sieht, von denen aus Kafka in einem zweiten Schritt ganze Geschichten entwickelt habe. (Norbert Kassel: Das Groteske bei Franz Kafka, München 1969, v.a. S. 112-121).
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lungsbild aber, in das sich das „Unglück“ verwandelt, entwickelt sich auf einem anderen Weg als die Allegorie des Glücks. Fortuna wird zwar in ähnlich instabiler Stellung dargestellt, balanciert aber nicht auf dünner Spitze, sondern auf einer Kugel. Mit seiner Gestalt als fragiles Gebilde gewinnt das „schwankende Unglück“ ein Eigenleben bzw. eine eigene Dynamik, die sich durch die imaginative Entwicklung eines sich aufbauenden Geschehens, welche zugleich Vergegenwärtigung seines drohenden Zusammenbruchs ist, dem Leser vermittelt. Durch die Entfaltung von imaginativen Prozessen in der Sprachbewegung wird das Unglück vorstellbar, ohne daß man eigentlich etwas darüber erfahren hätte. Einblick in das Innenleben des Beters gewährt das Bild seines „Unglücks“ nicht. Dennoch bringt es einen inneren Zusammenhang zur Erscheinung. Das Unglück wird im Bild selbst zu dem schwankenden Zustand, in dem sich der befindet, der daran leidet. Diese rhetorische ‚Verpersönlichung‘ des Wortes „Unglück“ – die kaum als Personifikation zu bezeichnen ist, weil sie in einer ganz wörtlichen Weise ein Abstraktum zum Körper macht79 – wirkt grotesk. Sie verleiht dem Unglück eine eigene Existenz, die unabhängig ist vom Subjekt, dessen Zustand es ist. Das Ich wird zum ‚Eigentümer‘, der das verselbständigte Unglück besitzt wie ein Haustier oder ‚hat‘ wie eine Krankheit. Die Dissoziation des Subjekts von seinen eigenen Zuständen, d.h. sein instabiler Selbstbezug, wird dadurch vorgeführt: als eine sprachliche Handlung, die eine sich im Moment des Lesens ereignende, szenische Aktion hervorbringt. Das „Schwanken“ erklärt nichts. Es bleibt im Bild und spinnt es weiter; aber gerade durch diese Verweigerung einer Aussage vermittelt es eine Vorstellung vom inneren Zustand des Beters. Anschauung und Wörtlichkeit kommen hier in einer neuen Weise zusammen, die keine Metapher ergibt. Während eine Metapher das Ungreifbar-Abstrakte in körperliche Dinge übersetzt, ist hier das Abstraktum selbst konkret und körperlich und damit sein eigenes Vergleichsbild geworden. Die sprachliche Form des Satzes löst sich im Sprachspiel von ihrer Bezeichnungsfunktion und gewinnt Autonomie. Über die Vorstellung der inneren Instabilität hinaus vermittelt das Bild des „schwankenden Unglücks“ eine Drohung: es zeigt, daß dies ein ansteckender Zustand ist, der sich sofort auf jeden überträgt, der sich mit ihm beschäftigt. Am Ende des Gesprächs mit dem Beter wird die vom „Unglück“ dieser Figur ausgehende Destabilisierung auch den Dicken ergreifen. Er wird gegenüber dem ersten Ich-Erzähler zur verrückten Figur, so wie dieser gegenüber seinem 79
Die verschiedenen Verfahren von Verkörperung, Verlebendigung, Personifikation, Anthropomorphisierung usw., die sich in Kafkas Texten finden, sind nur schwer unter dem Begriff der „Personifikation“ zu fassen, da jede dieser Redeweisen anders verfährt: Abstraktes kann in Dinghaftes, aber auch in Körperliches oder Personhaftes, Menschenähnliches verwandelt werden, umgekehrt kann Dinghaftes verlebendigt werden usw. Ich ziehe es daher vor, zu Lasten einer einheitlichen Terminologie in jedem Einzelfall den Begriff zu wählen, der mir das jeweilige Verfahren am genauesten zu bezeichnen scheint. „Verpersönlichung“: nach Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik, München 1960, S. 287.
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lebenssicheren Bekannten.80 Das „schwankende Unglück“ – der Wahnsinn, wenn man es so nennen will – serialisiert, setzt sich fort, zieht die gesicherten Positionen in seine Bewegung hinein. 3.3.2 Vergessene Namen ‚Wahnsinn‘ ist nur eine der Metaphern, mit denen der schwankende Zustand umschrieben wird. Zu der Bezeichnung „gelungener Tollhäusler“, mit der der Dicke auf die Erklärungen des Beters reagiert, tritt der Vorwurf des lächerlichen Benehmens, den auch schon der Bekannte der Rahmenerzählung dem Ich gemacht hatte.81 Von Beginn an zieht sich dieses Motiv des lächerlichen, komischen, clownesken Verhaltens durch den Text und wird mit den absurdironischen Textstrategien korreliert. In einer Ansprache an den Beter verbindet der Dicke diese Motive mit der Frage nach der natürlichen (richtigen, angemessenen, referentiellen) Sprachverwendung, die das Thema der vorangegangenen Erzählung („Der Dicke“) war. Im Ton einer Moralpredigt wirft er dem Beter seinen verdrehten Weltbezug vor: Ja, ich ahne schon, ja ich ahnte es schon, seit ich Euch zum erstenmal sah, in welchem Zustande Ihr seid. Ich habe Erfahrung und es ist nicht scherzend gemeint, wenn ich sage, daß es eine Seekrankheit auf festem Lande ist. Deren Wesen ist so, daß Ihr den wahrhaftigen Namen der Dinge vergessen habt und über sie jetzt in einer Eile zufällige Namen schüttet. Nur schnell, nur schnell! Aber kaum seid Ihr von ihnen weggelaufen, habt Ihr wieder ihre Namen vergessen. Die Pappel in den Feldern, die Ihr den ‚Thurm von Babel‘ genannt habt, denn Ihr wußtet nicht oder wolltet nicht wissen, daß es eine Pappel war, schaukelt wieder namenlos und Ihr müßt sie nennen ‚Noah, wie er betrunken war‘.82
Die Mahnung des Dicken ist die meistzitierte Passage aus der Beschreibung eines Kampfes. Diese Aufmerksamkeit hat sie nicht zu Unrecht erfahren. Die „Seekrankheit auf festem Lande“ vereint als zentrale, paradox strukturierte Metapher alle Aspekte der bisher geführten Auseinandersetzung um die Beziehung und sprachliche Vermittlung von Bewußtsein und Wirklichkeit. Der in der Forschungsliteratur gängigen Diagnose zufolge ist diese „Seekrankheit“ das Symptom einer Sprachkrise, wie sie ähnlich auch in anderen Texten der
80 81 82
Auch diese Beziehung war als Gegensatz von (Liebes-)Glück und Unglück aufgebaut worden. BK 89. BK 89f.
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Jahrhundertwende, vor allem in Hofmannsthals „Chandos-Brief“, formuliert werde.83 Die sprachliche Form dieser ‚Krise‘ verdient eine genauere Betrachtung. Das Schwanken, über das der Beter klagt, das Unglück also, sich des Bodens unter den Füßen ebensowenig sicher zu sein wie der eigenen Existenz, hat – den Worten des Dicken zufolge – seine Ursache im Vergessen der Wörter, die zu den Dingen gehören. Das Bewußtsein gerät in eine Krise und ist nicht mehr in der Lage, sich in der Welt zu orientieren; die Namen und die Dinge treten ihm auseinander. Dieses Vergessen macht die Welt unsicher; es scheint fast als eine im wörtlichen Sinne ‚fortschreitende‘ Amnesie vorgestellt, deren Geschwindigkeit eine eilige Bewegung erzwingt: ein permanentes Umbenennen, das orientierungslos von einem Namen zum nächsten gleitet. Im Zuge dieser Bewegung wird am Ende auch die Wirklichkeit vom „schwankenden Unglück“ des Ich angesteckt: die Pappel „schaukelt wieder namenlos“. Damit wiederholt sich die Kontamination von Innen und Außen, die am Beginn der verrückten Abenteuer stand. Die angesteckte Pappel setzt das Schwanken fort, mit dem das Ich vormals die Statue Karls IV. in Bewegung gebracht hatte. – Dieser Zustand einer wechselseitigen Auflösung von Bewußtsein und Welt ist als die Kehrseite der sich von Natur und Natürlichkeit entfernenden, metaphorischen Sprachverwendung des Dicken lesbar. Die poetische Sprache, die sich vom „wahrhaftigen Namen“ der Dinge entfernt, erscheint in der Realisten-Perspektive, die der gewandelte Dicke hier einnimmt, als Wahnsinn bzw. Krankheit. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich allerdings, daß gar keine vollkommene Trennung herrscht zwischen Zeichen und Bezeichnetem. So „zufällig“, wie der Dicke moniert, sind die Namen nicht, die der Beter in aller Eile über die Dinge „schüttet“. Seine Sprache mag zwar ihre eindeutige Benennungsfunktion verloren haben. Die „zufälligen Namen“ aber unterhalten sehr wohl Beziehungen zu der namenlosen Pappel. Der Beter, dem es nicht mehr möglich ist, die Pappel als Pappel zu bezeichnen, nennt sie den „Thurm von Babel“, was angesichts ihrer hohen, schlanken Gestalt nicht ohne Sinn ist und auch an die lautliche Verwandtschaft Pappel – Babel anknüpft. Dann heißt sie, weil sie so schaukelt, „Noah, wie er betrunken war“. Diese Benennungen ergeben sich als Assoziationen aus dem visuellen Bild. Wie ein Aphasiker des „Typs A“ aus Roman Jakobsons Aufsatz über Metapher und Metonymie, der die Ersetzung aufgrund des ‚tertium comparationis‘ noch beherrscht und dessen „disorder“ nur 83
Vgl. die bereits zitierten Aufsätze von G. Kurz, L. Verbeek und L. Trabert. Außerdem: Walter H. Sokel: „Von der Sprachkrise zu Kafkas Poetik“, in: Österreichische Gegenwart, hrsg. v. Wolfgang Paulsen, Bern u. München 1980, S. 39-58. - Ich kann im Rahmen dieser Erörterung auf Kafkas Beziehung zu dem von ihm bewunderten Hofmannsthal nicht eingehen, ebensowenig auf die Frage, wie bzw. ob sich eine Stellungnahme zu Ein Brief oder zum Gespräch über Gedichte – beides Texte, die Kafka um 1905 bekannt waren –, anhand der Beschreibung eines Kampfes bestimmen ließe. Vgl. die sorgfältig argumentierende Reflexion über „Sprachskepsis“ bei Kafka und Hofmannsthal von P.-A. Alt (a.a.O.). Alt geht allerdings nicht von der Beschreibung eines Kampfes aus, sondern von Kafkas Schreibexperimenten im Tagebuch um 1910. Vgl. Kap. III.
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den Zusammenhang der Dinge betrifft, erschafft der Beter Metaphern, Ersetzungen aufgrund visueller Ähnlichkeit, statt die Dinge mit ihrem eigentlichen Namen zu benennen.84 Trotz der Sprachstörung im Bezug zwischen Namen und Dingen ist ihre Bezeichnung kein Sprachspiel ohne Wirklichkeitsbezug, sondern sucht nach Vergleichen, läßt eine Beschreibungs-Anstrengung erkennen. Die assoziativen Ersetzungen sind nicht nur in einer Richtung lesbar. In der von der Pappel aus in Gang gesetzten Assoziationsreihe überlagern sich die Eigenschaften der herbeigezogenen Bilder und ergeben eine bewegliche Konstellation, die nicht nur die Pappel, sondern zugleich die „Seekrankheit auf festem Lande“ umschreibt. Die ‚Beschreibungen‘ der Pappel kehren damit die metaphorische Relation um und machen die Pappel selbst zur Metapher. Der hohe, dünne, schaukelnde Baum wird zum Bild für den inneren Zustand des Beters. Dabei löst sich das Anschauungsbild jedoch nicht in ein Sinnbild hinein auf, sondern der Sinn entsteht aus einer Bewegung, die in der Anschauung selbst stattfindet. Die hohe und dünne Gestalt der Pappel wird zunächst zum Turm – daß es ein „Thurm von Babel“ wird, kommentiert in ironischer Wörtlichkeit zugleich das Ergebnis dieser Sprachverwirrung. Doch trotz Verschiebung stimmt das Bild: solche hohen und schlanken Türme – Leuchttürme etwa – dienen gerade wegen ihrer Gestalt zur Orientierung; Orientierungslosigkeit – „Seekrankheit auf festem Lande“ – aber ist die Folge des Turmbaus zu Babel. Weil Gott – zwar nicht der Bibel, aber der ikonographischen Tradition zufolge – diesen Turm wegen seiner Höhe einstürzen ließ, ist Instabilität in das Bild des hohen Turms eingeschrieben. Diese Bedeutungen, die in den assoziativ aus einander hervorgehenden Bildern mitschwingen, bringt die metaphorische Übertragung ohne Rücksicht auf gedankliche Stringenz in Verbindung. Zusammengehalten werden die Bezüge nur durch die sinnliche Ähnlichkeit, die Laut und Anschauung jeweils vermitteln. Im Prozeß dieses Übergangs von Pappel zu Babel werden die Konnotationen ‚hoch/schlank‘, ‚Schwanken‘ und ‚Sprachverwirrung‘ so ineinander überblendet, daß sich eine schlüssig erscheinende Kette ergibt. Es scheint, als müßte aus der schlanken Höhe das Schwanken und daraus die Verwirrung folgen, als läge darin eine Logik, der zufolge die Pappel am Ende dieses Durchgangs „schaukelt“, weil sie „wieder namenlos“ ist. Der metaphorische Überblendungsprozeß verbleibt in der Anschauung. Dies gilt auch für den betrunkenen Noah, der die Assoziationsreihe fortsetzt. Das Bild des Betrunkenseins ergibt sich sinnlich-konkret aus der schaukelnden Bewegung der Pappel. Zugleich ist es eine Umschreibung der „Seekrankheit auf festem Lande“: ob betrunken oder seekrank, der Zustand von Übelkeit und Schwindel zeigt sich als schwankendes Taumeln. Diesem wiederum liegt eine Wahrnehmungs-Beziehung zugrunde. So, wie es dem Betrunkenen nicht mehr gelingt, sich 84
Vgl. Roman Jakobson: „Zwei Seiten der Sprache und zwei Typen aphatischer Störungen“, in: ders., Aufsätze zur Linguistik und Poetik, hrsg. v. W. Raible, München 1974, S. 117-141.
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an der Wirklichkeit zu halten, weil diese vor seinen Augen nicht mehr feststehen will, so kommt umgekehrt der Seekranke ins Wanken, weil sich die sichtbare Schaukelbewegung seiner Umgebung auf sein Inneres überträgt. Mit dem Unterschied allerdings, daß der feste Boden unter seinen Füßen keiner ist. Auf festem Lande seekrank zu sein, wäre also nicht gleichbedeutend mit dem Betrunkensein. Es ist zum einen eine lächerliche und absurde Veranstaltung, denn auf festem Lande gibt es eben per definitionem keine Ursache für Seekrankheit. Zum anderen aber ist diese Krankheit viel beunruhigender als der betrunkene Zustand des Bewußtseins, weil sie eine tiefergehende Unsicherheit darüber impliziert, wer von beiden eigentlich mehr schwankt: der Boden oder das Ich. Diese Krankheit stellt die unbeantwortbare Frage, was aus der Kausalbeziehung zwischen beiden geworden ist. Darüber hinaus verweisen Babel und Noah als Zitate aus der Genesis auf die Erschaffung der Welt: im Anfang war das Wort, und erst dann kam die Wirklichkeit, der feste Boden unter den Füßen; oben und unten, Himmel und Erde. 85 Die Kombination dieser beiden Zitate vertauscht den babylonischen Turm mit dem Namen des betrunkenen Vaters86 und entwickelt dabei eine absurde Logik. Trotz – oder gerade wegen – des weihevoll-ernsten Tons, den die Bibelzitate und die umständliche, altertümelnde Wortwahl anschlagen – „es ist nicht scherzend gemeint“ –, entbehrt diese Verkehrung nicht der Ironie. In der Bezeichnung einer schaukelnden Pappel als „Noah, wie er betrunken war“, liegt zudem ein bildlich-anschaulicher Witz, der an die Respektlosigkeit anknüpft, derer sich Noahs Sohn Ham schuldig gemacht hatte, als er die Blöße seines betrunkenen Vaters entdeckte.87 Die Bild- und Bedeutungs-Verkettung ergibt einen ähnlich anschaulichen Sinn wie der akrobatische Auftritt des „schwankenden Unglücks“ auf seiner dünnen Spitze. Hier wird dieses Verfahren durch die sich gegenseitig kommentierenden Bildfelder zu einem Prozeß von Metaphorisierung erweitert. Worin das „Unglück“, die „Seekrankheit“ besteht, wird nach wie vor nicht eindeutig 85
86
87
1 Mose 9, 18-29 (Noahs Weinberg; der Stammvater der biblischen Geschlechter war auch der erste Weinbauer und der erste Betrunkene) und 1 Mose 11, 1-9 (Turmbau zu Babel). - Auf die an die religiösen Anspielungen geknüpften Bedeutungs-Dimensionen des Textes, dessen zentrale Figur ein „Beter“ ist, kann ich im Rahmen dieser Untersuchung nicht näher eingehen. So bei Wolf Kittler: Der Turmbau zu Babel und das Schweigen der Sirenen. Über das Reden, das Schweigen, die Stimme und die Schrift in vier Texten von Franz Kafka, Erlangen 1985, S. 109. Kittler liest diese Vertauschung in poststrukturalistischer Perspektive als Infragestellung des Gesetzes der Sprache und führt diesen Gedankengang anhand des Textes Beim Bau der chinesischen Mauer weiter. Angedeutet ist damit eine Auseinandersetzung mit der Welt des Realitätsprinzips als der Welt des Vaters und seiner Autorität. Dieses Thema wird jedoch, so weit ich sehe, im Text nicht wieder aufgenommen; statt dessen erscheint die Welt der Normalität und der gesellschaftlichen Konventionen als die der Frauen. Dabei kehrt allerdings das vom Noah-Zitat angespielte Motiv der Entblößung als Frage nach der unverstellten Wahrheit wieder. Die Mutter des Beters spricht mit natürlicher Sicherheit (dazu s.u.); demgegenüber zeigen junge Mädchen auf einer Abendgesellschaft die Scheinhaftigkeit und Künstlichkeit des normalen Verhaltens, das nur auf verabredeten Zeichen und doppeltem Wortsinn beruht (worin aber auch ein erotisches Versprechen liegt, das die Söhne interessiert).
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benannt, sondern durch die Überlagerung und Anreicherung der Bilder nur weiter ausgesponnen. Eines wird dabei allerdings deutlich: in der Gleichzeitigkeit von visueller Konkretion und ineinander gespiegelter Bedeutsamkeit bieten die Metaphern mitnichten das Bild einer Sprachkrise. Die „zufälligen“ Wörter, die den natürlichen Zusammenhang mit den Dingen „vergessen“ haben, erzeugen in ihrem Hin und Her zwischen Dingen und Bildern eine neue, umgekehrte WeltSprach-Ordnung. Wörtliche und übertragene Bildebene sind in ihr offenbar gründlich durcheinandergeraten – und gleichzeitig unauflöslich miteinander verquickt. Daß die Worte des Beters nicht so „zufällig“ und sinnlos sind, wie der Dicke behauptet, ist in der Forschung schon oft bemerkt worden.88 Wie die verschiedenen visuellen und gedanklichen Ähnlichkeits-Beziehungen sich in wechelseitiger Kontamination zu einer Kette von metaphorischen Umschreibungen zusammenschließen und damit eine eigene, absurd-verdrehte und dennoch anschauliche Logik etablieren, ist allerdings bisher nicht gesehen worden. Die meisten Autoren belassen es bei dem Hinweis auf einzelne Bezüge. So betont etwa Hans-Thies Lehmann die lautlichen Verwandtschaften und schließt daraus, hier werde die Buchstäblichkeit der Schrift thematisiert, um die Materialität der Sprache gegenüber ihrer sinnstiftenden Funktion zu privilegieren.89 Wolf Kittler dagegen konzentriert seine Auslegung ganz auf die Sinnstiftung: ausgehend von den biblischen Verweisen identifiziert er eine väterliche Autorität, vertreten durch Noahs Fluch sowie den mit Sprachverwirrung strafenden Gott, als die Instanz, die das „wahrhaftige“ Sprechen unmöglich mache. Zum Paradox einer Sprache, die diesen – laut Kittler – „präzisen Sinn“ ausspricht, indem sie ihre Aussagemöglichkeit zugleich verneint, äußert er sich nicht.90 Heinz Politzer hat neben den Bildverbindungen auch auf die Brüche in ihrer inneren Logik aufmerksam gemacht: „Gewiß ist es nicht unmöglich, einen Baum, der still in den Feldern steht, mit einem Turm zu vergleichen oder hinwiederum einen Baum, der im Winde schwankt, mit einem Trunkenen, der seines Weges dahergetorkelt kommt. Lediglich beides, das stille Ragen und das Schwanken im Winde, ist in einem einzigen Bilde nicht unterzubringen, ohne daß das Bild selbst 88
89
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Vgl. z.B. G. Kurz: „Schnörkel und Schleier und Warzen“, a.a.O., S. 78. Kurz sieht - mit einer etwas bemühten Parallele zu Freud - in der verborgenen Sinnstruktur der Metaphern die Äußerung eines unbewußten Wissens. Von hier aus entwickelt er Kafkas Prinzip der „doppelten Rede“, welche die Wahrheit nicht erreichen, aber „verraten“ könne, wenn sie sich wie eine Fehlleistung gegen den Sprecher kehrt (S. 95). - Hinweise auf metaphorische Bezüge auch bei L. Trabert, a.a.O., S. 312f. Hans-Thies Lehmann: „Der buchstäbliche Körper. Zur Selbstinszenierung der Literatur bei Franz Kafka“, in: Der junge Kafka, a.a.O., S. 213-241, hier S. 232. Dieses Verfahren bringt er mit der Zeichen-Magie der Kabbala in Verbindung, ohne näher darauf einzugehen, wie sich dieser Verweis auf Transzendenz mit dem gleichzeitig behaupteten Entzug von Bedeutung zusammendenken lasse (S. 232f.). Wolf Kittler: „Brief oder Blick. Die Schreibsituation der frühen Texte von Franz Kafka“, in: Der junge Kafka, a.a.O., S. 40-67, hier S. 48f.
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zu schwanken begönne. Indem jedoch das Bild selbst zu schwanken beginnt, überträgt sich das Grundgefühl, die Seekrankheit, auf direktem Wege auf den Leser. Dieser direkte Weg ist jedoch nicht der Weg der Literatur“91 Ich habe bereits im ersten Teil dieses Kapitels gezeigt, daß innere Paradoxien und sinnwidrige Verbindungen für Kafkas sprachliches Verfahren in der Beschreibung wesentlich sind. Dieser Befund ist meiner Meinung nach keineswegs so negativ zu bewerten, wie es Politzer tut. Die „Seekrankheits“-Passage hat gerade wegen ihrer Brüche eine innere Logik, allerdings keine einsinnig zu erfassende. Der Text arbeitet mit scheinlogischen Anschlüssen und Überkreuzungen, um implizit die absurde Behauptung zu etablieren, daß die Pappel schaukele, weil sie namenlos sei. Durch die doppelte Richtung im Prozeß der Metaphorisierung, im ständigen Wechsel zwischen eigentlich nicht zusammengehörigen Bildbereichen, wird die Pappel zum Inbild der Sprachverwirrung. Die widersinnige Verdrehung, die dieser Prozeß inszeniert, ist nicht der Grund für das Scheitern des Bildes, sondern die Bedingung dafür, daß es sich als absurde Veranstaltung behaupten kann. Als Paradox wird ein Bild der Sprachverwirrung möglich, das im performativen Widerspruch zu dem steht, was es selbst aussagt.92 Nur eine verrückte Logik kann in metaphorisierender Rede den Metaphern ihre Berechtigung absprechen, ohne sich selbst aufzuheben. Mit dem absurden Witz, der in diesem Verfahren liegt, behauptet sich eine neue Form der Rede. Sie bewegt sich jenseits eines eindeutigen Bezugs von Zeichen und Bezeichnetem, ohne diesen Bezug aber aufzugeben. Die bezeichnende, benennende Macht der Sprache soll vielmehr so ausgenutzt werden, daß sie im Spiel zwischen Metaphorizität und Wörtlichkeit das Verhältnis von Worten und Dingen in einer Weise vermittelt, die dieses Verhältnis selbst in Bewegung bringt. Während die Verbindung zwischen den Dingen und den Worten angeblich längst gekappt ist, unterhalten sprachliche und visuelle Bildlichkeit um so innigere Beziehungen, die den naturgemäßen, realistischen Bezug zu den Dingen ersetzen. Diese Feststellung hat Konsequenzen, die in der Beschäftigung mit Kafkas Jugendwerk bisher noch nicht gesehen worden sind. Die Klage über die 91 92
Heinz Politzer: Franz Kafka, der Künstler. Frankfurt/M. 1965, S. 51. Peter-André Alt erarbeitet an Kafkas Tagebucheintragungen eine ähnlich paradoxe Struktur und entwickelt daraus die These, daß die Klage über die Unmöglichkeit zu sprechen nur vordergründig sei und daß die Sprachnot in Wirklichkeit inszeniert werde als die Bedingung dafür, überhaupt sprechen zu können. (P.-A. Alt, a.a.O., S. 457). Diese These stellt er ins Zentrum seiner Darstellung von Kafkas „Sprachskepsis“, wobei er nur kurz auf die „Seekrankheits“-Passage aus der Beschreibung eines Kampfes zurückgreift und sie als Wendung gegen metaphorisches Sprechen liest (S. 468). Von meiner Lektüre aus ist zu Alts These anzumerken, daß das Verhältnis von Ausgesagtem und performativ Behauptetem in der Beschreibung (und, wie im III. Kapitel gezeigt wird, auch in den Tagebüchern), durchaus komplizierter ist, als es sein dialektisches Konzept einer „Inszenierung unter dem Mantel der Sprachnot“ erfaßt. Zutreffend ist allerdings der Hinweis auf den inszenierten Charakter und die innere Widersprüchlichkeit dieser Sprachspiele, die Bodenlosigkeit zu ihrer Bedingung und Begründung machen.
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I Beschreibung eines Kampfes
„Seekrankheit auf festem Lande“ formuliert keine Kritik an der Unzulänglichkeit von Sprache, sondern inszeniert eine vertauschende, ironische Umdrehung in der Beziehung zwischen Sprache und Dingen. Von hier aus wäre der Bezug von Kafkas Beschreibung eines Kampfes zu Sprachzweifel und Bewußtseinskrise der Jahrhundertwende neu zu bestimmen. In der Metapher der „Seekrankheit“ konzentriert sich die Diskussion um die Beziehung zwischen Ich und Wirklichkeit, die der Text in den aufeinander folgenden und aus einander hervorgehenden allegorischen Erzählungen des Mittelteils führt. Die Motive, die sich über die verschiedenen Textteile verteilt wiederholen und spiegeln, und die alle auf verschiedene Weise mit der „Seekrankheit auf festem Lande“ verbunden sind – das Schwanken, Taumeln und Schaukeln, die Haltlosigkeit, das Betrunkensein, die Sprachverwirrung –, finden sich hier ineinander verdreht. Dieses Verfahren von serialisierend wiederholter, räumlich ausgreifender Spiegelung und in einem Punkt verdichtender Überlagerung ist das Prinzip, das die verschiedenen Teile der Erzählung vereinheitlicht. Im Durchgang durch ihre verschiedenen Schichten entwickelt sich die Verknüpfung dieser Themen Schritt für Schritt, ohne daß es einen zentralen Punkt gäbe, von dem aus ihre Beziehungen organisiert wären. Dadurch entsteht eine vielschichtige Bedeutsamkeit des erzählten Geschehens, das sich aufgrund seiner widersprüchlichen Vielschichtigkeit nicht als allegorische Einkleidung einer bestimmten Bedeutung auflösen läßt. Die ästhetischen und poetologisch-programmatischen Positionen der Beschreibung eines Kampfes entfalten sich im Fortgang des Erzählens, als die Text- und Sprachbewegungen, die es in Gang setzen. Sie gehen nicht von einer feststehenden Prämisse aus. Wenn man den Versuch aufgibt, diese Prämisse in der Form einer Aussage dingfest machen zu wollen, und stattdessen der Entwicklung der Bildbereiche folgt, erweist sich die Beziehung der verschiedenen Ebenen bei aller Verwirrung doch als weniger kompliziert, als es den Anschein hat. Die Architektur ihrer vielschichtigen Verweisstruktur entsteht jeweils neu aus einer die Differenzen weiter verschleifenden und neu hervorbringenden Verschiebung und Überlagerung. Die Verkehrung der Beziehung zwischen Wörtern und Dingen vollzieht sich in der Engführung von visuellem und sprachlichem Bild. Man könnte nach jeweils einem Durchgang durch eine solche Dreh- und Verschiebungsbewegung immer schon am Ende der Erörterung sein, da ja die Vertauschung an einem jeden solchen Punkt bereits geleistet ist. Die Diskussion zwischen dem Beter und dem Dicken aber fängt damit erst an. In dieser Erzählung geht es um mehr als um die Verschiebungsbewegung als solche; es ist – wie erinnerlich – ein „Beweis“ zu führen, und es gibt unterschiedliche Stationen dieses Beweisweges. Es geht immer noch um die Frage, wie das seekranke Ich in einer schwankenden, vom Einsturz bedrohten Welt überleben kann, und ob seine Seekrankheit nicht doch bloß Betrunkenheit bzw. Irrsinn ist. Oder: ob sie wirklich Irrsinn ist, es aber den-
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noch keine Möglichkeit gibt, anders zu leben. Diese Frage hat zwar die Selbstbehauptung des verrückten Sprachspiels bereits beantwortet; auf der Ebene der erzählten Handlung, für die Welt- und Selbsterfahrung des Ich, d.h. für die erzählerische Gestaltung der Sprach- und Bewußtseinskrise, ist damit noch nichts gesagt. Die „Unmöglichkeit zu leben“ ist noch nicht bewiesen und die Möglichkeit, dennoch zu leben, noch nicht gefunden. Trotzdem wäre es vielleicht nicht nötig, diesen Weg im einzelnen nachzuzeichnen – wenn er sich denn auf die oben angedeutete Weise als Allegorie der haltlosen Schriftstellerexistenz oder des ästhetischen Subjekts auf der Suche nach seiner Selbstbehauptung und -begründung zusammenfassen ließe. Doch das ist nicht möglich. Zwar habe ich gezeigt, daß die Erzählung in ihrer Bildlichkeit dieses Thema verhandelt. Lesen aber kann man diese Bilder nur ganz wörtlich, in ihrer eigenen Logik. Jede Übersetzung auf eine Meta-Ebene stößt schnell an ihre Grenzen, denn der Gedankengang, der hier entfaltet wird, stimmt nur innerhalb der Bilder-Logik. Deren ‚Beweiskraft‘ liegt in der Art und Weise, wie sich Sinn und Anschauung mit charakteristischer Unschärfe überlagern. Diese Bewegung ist nur zu erfassen, indem man die metaphorische Wörtlichkeit nicht verläßt. In den Beter-Erzählungen geht es nicht nur um das Sprechen bzw. Schreiben über Wirklichkeit. Verhandelt wird nicht allein, wie Wörter und Dinge sich zu einander verhalten. Die Auseinandersetzung zwischen Bewußtsein und Wirklichkeit betrifft auch die Frage, was zwischen Ich und Welt im Sehen, in der Wahrnehmung geschieht und wie das zu beschreiben wäre. Bereits in den Erlebnissen des ersten Erzählers mit dem Mond lag bei aller Irrealisierung ein Moment von Wahrnehmung, fand eine Auseinandersetzung mit dem Gesehenen statt. Diese Dimension hat der Text in seiner Selbst- und Sprach-Reflexion nie aufgegeben. Noch in den angeblich „zufälligen“ Bezeichnungen für die Pappel war ja keine poetische Willkür, sondern im Gegenteil eine BeschreibungsAnstrengung, d.h. letztlich ein Bemühen um Mimesis erkennbar. Die Diskussion bleibt immer auf die wahrnehmende Erfahrung von Welt, auf das Sehen und das Sichtbare bezogen. Damit aber geht es letzten Endes um die Frage, was überhaupt ‚wirklich‘ ist: was wir davon erfahren und wie wir darüber sprechen können. Diese beiden Fragen sind offensichtlich ineinander verschränkt, und zwar in einer noch genauer zu klärenden Weise. ‚Realismus‘ und ‚Mimesis‘ sind jedenfalls, so zeigt die bisherige Analyse der Beschreibung, allzu simple Verfahren, um dieser Verschränkung gerecht zu werden. Daß sie gerade dies zu tun behaupten, d.h. Wirklichkeit abzubilden und darzustellen, wird in der „Geschichte des Beters“ als die eigentliche Täuschung vorgeführt. Was überhaupt ‚wirklich‘ ist: dies ist die Frage des Beters, der die unsichere Beziehung des Ich zu sich selbst und zur Außenwelt von der Perspektive des „Tollhäuslers“ aus als Erfahrung darstellt. Seine Antwort auf die Anklage des Dicken stellt dessen Diagnose den ‚seekranken‘ Standpunkt gegenüber, d.h. die Behauptung, daß nicht der Kopf, sondern die Außenwelt schwankend und
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I Beschreibung eines Kampfes
unsicher sei und das Unglück von daher rühre. Von der Rekonstruktion dieses Standpunkts aus wird es möglich, genauere Aussagen darüber zu machen, was dieser „Beweis, daß es unmöglich ist zu leben“ verhandelt, und wie er es beweist. Die Stationen des Beweisweges sollen im folgenden durch Lektüren der wichtigsten Passagen nachvollzogen werden. 3.3.3 Versinkende Wirklichkeit Es hat niemals eine Zeit gegeben, in der ich durch mich selbst von meinem Leben überzeugt war. Ich erfasse nämlich die Dinge um mich nur in so hinfälligen Vorstellungen, daß ich immer glaube, die Dinge hätten einmal gelebt, jetzt aber seien sie versinkend. Immer, lieber Herr, habe ich eine so quälende Lust, die Dinge so zu sehn, wie sie sich geben mögen, ehe sie sich mir zeigen. Sie sind da wohl schön und ruhig. Es muß so sein, denn ich höre oft Leute in dieser Weise von ihnen reden. [...] Sie glauben nicht daran, daß die Leute so reden? Ach, hören Sie doch; als ich als Kind einmal nach einem kurzen Nachmittagsschlaf die Augen öffnete hörte ich noch ganz im Schlaf befangen meine Mutter in natürlichem Ton vom Balkon hinunterfragen: ‚Was machen Sie meine Liebe. Es ist so heiß.‘ Eine Frau antwortete aus dem Garten: ‚Ich jause im Grünen.‘ Sie sagten es ohne Nachdenken und nicht allzu deutlich, als müßte es jeder erwartet haben.93
Der Beter schildert seine Krankheit als eine umgekehrte Wörter-Seekrankheit. Nicht die Wörter, sondern die Dinge erscheinen ihm „versinkend“. In seiner Wahrnehmung ist die Wirklichkeit permanent im Einstürzen begriffen. Wobei sich auch hier Innen und Außen unauflöslich kontaminieren: die Vorstellungen des Ich von den Dingen sind „hinfällig“ und übertragen diese Bewegung als „Versinken“ auf die Dinge. Umgekehrt hängen das Leben des Beters und das der Dinge von einander ab: daß die Dinge nicht mehr leben, führt der Beter als Begründung dafür an, daß er selbst sich nicht von seinem Leben überzeugen könne. Seine Beziehung zur Wirklichkeit erfährt er also gerade deshalb als entfremdet, weil er die Dinge nicht unabhängig von sich erfahren kann, „ehe sie sich mir zeigen“. Gestörtes Weltverhältnis und unsicheres Selbstverhältnis sind gleichen Ursprungs. Den anderen – festen, ruhigen, „schönen“ – Zustand der Welt, nach dem der schwankende Beter sich sehnt, gibt es allerdings auch nur in der Rede der Leute. Als Beispiel für ein solches Reden zitiert der Beter einen Wortwechsel seiner Mutter mit ihrer Nachbarin. Die beiden unterhalten sich in „natürlichem Ton“, „ohne Nachdenken“ und „als müßte es jeder erwartet haben“. Für sie verschwinden also weder die Wörter noch die Dinge, sondern beides hängt ganz selbstverständlich zusammen, die Sätze stehen genauso fest wie die Welt, auf die sie sich beziehen. Dem Beter ist diese Selbstverständlichkeit unverständlich. Er ist 93
BK 91f.
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gegenüber der Welt immer noch in der Situation des Kindes, das er war, als er diese Szene erlebte: gerade aus einem Schlaf mitten am Tag aufgewacht, ein Moment, in dem die Welt, in die man so plötzlich hineinfällt, noch gar nicht sicher ist. Die „natürliche“ Rede „Ich jause im Grünen“ erscheint von hier aus gesehen staunenswert. Die Geschichte von der Jause im Grünen fungiert zwischen den beiden Dialogpartnern als Prüfstein. Mehrfach wird nach der Reaktion des Dicken auf diese Geschichte gefragt. Seine Antworten verändern sich, je nachdem, wie sein Verhältnis zum Realitätsprinzip sich gestaltet. Zunächst glaubt er, den Beter zufriedenzustellen, indem er sich auf die Seite des Verrückten stellt, und bezeichnet den alltäglichen Vorgang als „merkwürdig“.94 Diese Zustimmung nimmt der Beter zum Anlaß, um dem Dicken noch mehrere solcher Erlebnisse zu erzählen. Daraufhin nimmt der Dicke sein Urteil wieder zurück und behauptet das Gegenteil: „Ein so einfacher Vorfall“.95 Gerade darüber aber freut sich der Beter, woraus geschlossen werden kann, daß es ihm um mehr geht als um die Behauptung, daß die verkehrte Weltsicht die eigentlich richtige sei. Er erzählt eine letzte Geschichte. Im Anschluß daran modifiziert der Dicke seine Haltung nochmals und findet zu einem neuen Einverständnis mit dem Beter. Ein Prüfstein ist die Jausen-Episode auch für die Interpretation. Ihre Bewertung entscheidet über die ‚causa‘ des Beweises, und das heißt letztlich: über den Grund für die „Unmöglichkeit zu leben“. Wer die Unterhaltung der Frauen als „ontologisch erfüllte Rede“ liest, kann in ihr den Gegenpol zu einer lügnerischen Metaphernsprache sehen und damit die Existenz des BeterKünstlers als zu Recht einsturzgefährdet betrachten.96 Wer die Einfachheit der Rede als „Sprache der Mutter“ interpretiert, kann sie als Sehnsuchtsziel dem Fluch des Vaters entgegensetzen, der den paradiesischen Zustand unerreichbar macht und damit das Leben unmöglich werden läßt.97 Die Unterhaltung der Frauen enthält bei aller Einfachheit die ganze Ambivalenz, die in der Beziehung von Sprache und Wirklichkeit, Natürlichkeit und Künstlichkeit liegt, wie sie die Beschreibung entfaltet. Man kann eine Darstellung der Erzählung ganz auf dieser Szene aufbauen;98 man kann auch eine ganze Darstellung auf diese Szene
94 95 96
97 98
BK 92. BK 94. Vgl. Charles Bernheimer: „Psychopoetik. Flaubert und Kafkas ‚Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande‘ “, in: Der junge Kafka, a.a.O., S. 154-183, hier S. 164f.; ähnlich auch W.H. Sokel: „Von der Sprachkrise zu Kafkas Poetik“, a.a.O., S. 40. Vgl. W. Kittler, „Brief oder Blick“, a.a.O., S. 48. Shimon Sandbank entwickelt von den Reaktionen des Dicken aus drei Möglichkeiten des Weltverhaltens, die seiner Analyse zufolge die Gesamt-Konzeption der Erzählung bestimmen (a.a.O., S. 11-16).
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I Beschreibung eines Kampfes
konzentrieren.99 Möglicherweise war diese Episode die Keimzelle der Beschreibung eines Kampfes, wie Klaus Wagenbach zuerst vermutet hat.100 Sie findet sich in beinahe identischer Form bereits 1904 in einem Brief Kafkas an Max Brod.101 Es ist denkbar, daß die verschiedenen Teile der Erzählung in den folgenden Jahren schrittweise um diesen Kern herum entstanden sind. Welche Bedeutung kommt dieser Szene zu? Statt diese Frage zu beantworten, scheint es mir ratsam, darüber nachzudenken, warum – oder ob – es auf eine Antwort ankäme. Das Gewicht der Frage wird davon bestimmt, daß die JausenEpisode im Text zum Knotenpunkt einer Auseinandersetzung gemacht wird. Sie wird durch die Rede des Beters als paradiesische „Urszene“ etabliert (Baumgart), welche für ihn die Urszene seiner Fremdheits-Erfahrung ist. Dadurch wird sie zum Gegenstand einer Frage nach ihrer Bedeutung (als deren Adressat sich der Dicke empfindet). Diese Frage aber entzieht der fraglosen Selbstverständlichkeit den Boden. Gerade durch ihre Inszenierung als Urszene der „Festigkeit“ ist die „Jause“ schon in die Diskussion verwickelt.102 Einen festen Ankerpunkt gegenüber dem Schwanken des Beters kann sie der Interpretation nicht bieten, und zwar gerade weil sie dessen Gegenpol ist. Der Verweis auf eine Erfahrung außerhalb des Schwankens ist als solcher schon in die Konstruktion integriert, aus der sich dieses Schwanken entfaltet. Zudem handelt es sich um eine Erfahrung, die ihrerseits nur sprachlich verbürgt ist, nämlich in der Rede der Frauen. Fest steht in den Sätzen dieser Unterhaltung kaum ein Bezug auf Wirklichkeit, fest stehen die Redewendungen, die sich wie von selbst zusammenschließen. Die Forderung des Dicken nach den „wahrhaftigen Namen“, der natürlichen Bezeichnung der Dinge erfüllt eine solche Redeweise „in natürlichem Ton“ nicht. Stattdessen stellt sie Natürlichkeit als Eindruck her. Dies tut auch die Rede des Beters, indem sie diese Szene als „schön und ruhig“ evoziert; und doch erhält die Idylle ihre Eindrücklichkeit erst dadurch, daß sie vom Befremden des Sprechers aus vorgetragen wird: „als müßte es jeder erwartet haben“. – Angesichts dieser Doppelbödigkeit sind interpretatorische Festlegungen kaum sinnvoll. Daher werde ich an die Stelle einer Antwort auf die Frage nach der Bedeutung dieser Szene den Nachvollzug des Weges setzen, an dessen Ende der Dicke zu seiner Antwort gelangt und sich vom „Beweis“ überzeugen läßt.103 99
100 101 102
103
Reinhard Baumgart liest die Episode als „Urszene“, mit der im Zentrum von Krisenzuständen des Erzählens eine „lakonische Beschwörung der Selbstverständlichkeit des Lebens“ gelinge: „Mit ihrer einfachen Strahlkraft, mit dieser schlicht diesseitigen Utopie erleuchtet die unscheinbare Episode tatsächlich die ganze zuckende Wirrnis der ‚Beschreibung eines Kampfes‘, als zugleich deren Kern und Gegenpol.“ (a.a.O., S. 171f.) K. Wagenbach, a.a.O., S. 122. Vgl. KKA: Briefe 1900-1912, S. 39-41 (Brief vom 28.8. 1904). „Festigkeit“: In dem erwähnten Brief an Brod kommentiert der Schreiber die Jausen-Episode mit dem Schlußsatz: „Da staunte ich über die Festigkeit, mit der die Menschen das Leben zu tragen wissen.“ (KKA: Briefe 1900-1912, S. 40). Darin folge ich dem Ansatz von Shimon Sandbank, der auf die Auseinandersetzung hingewiesen hat, die sich in der Wandlung der Reaktionen des Dicken vollzieht.
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Von der „Jausen“-Episode ausgehend, wendet sich der Beweisweg in zwei Richtungen. Die Unterhaltung der Frauen führt die Frage nach der Wirklichkeit auf das Thema des Darüber-Sprechens zurück. An die hier begonnene Diskussion um Natürlichkeit schließen die Erzählungen von den Erlebnissen des Beters auf einer Abendgesellschaft an, die die Beziehung von Illusion und Fiktion sowie Konvention und Schein thematisieren. In diesen Kontext gehört auch sein „Gespräch mit dem Betrunkenen“ über das mondäne Paris (3c). Dieser Erzählstrang wird von einem zweiten gespiegelt und begleitet, der die Frage nach der Wahrnehmung, der Erfahrung von Welt weiterführt. Er setzt bei der Erfahrung des Beters mit den „versinkenden“ Dingen an, die sich niemals so erfassen lassen, „wie sie sich geben mögen, ehe sie sich mir zeigen“.104 Im folgenden werde ich darauf verzichten, die Diskussionen um Künstlichkeit und Natürlichkeit zu kommentieren, und mich dem zweiten Strang, der Wirklichkeitserfahrung des Beters zuwenden (Fortsetzung von 3b, Teile von 3c und 3d). Diese Auseinandersetzung führt schließlich zur Selbstbehauptung des Beters gegenüber der Wirklichkeit und beantwortet die Frage nach der Möglichkeit und Existenzweise eines ästhetischen Subjekts. 3.3.4 Der Aufruhr der Dinge Dann aber wenn ich einen großen Platz zu durchqueren habe, vergesse ich an alles. Die Schwierigkeit dieses Unternehmens verwirrt mich und ich denke oft bei mir: „Wenn man so große Plätze nur aus Übermuth baut, warum baut man nicht auch ein Steingeländer, das durch den Platz führen könnte. Heute bläst ein Südwestwind. Die Luft auf dem Platz ist aufgeregt. Die Spitze des Rathausthurmes beschreibt kleine Kreise. Warum macht man nicht Ruhe in dem Gedränge? Was ist das doch für ein Lärm! Alle Fensterscheiben lärmen und die Laternenpfähle biegen sich wie Bambus. Der Mantel der heiligen Maria auf der Säule rundet sich und die stürmische Luft reißt an ihm. Sieht es denn niemand? Die Herren und Damen, die auf den Steinen gehen sollten, schweben. Wenn der Wind Athem holt, bleiben sie stehn, sagen einige Worte zu einander und verneigen sich grüßend, stößt aber der Wind wieder, können sie ihm nicht widerstehn und alle heben gleichzeitig ihre Füße. Zwar müssen sie fest ihre Hüte halten, aber ihre Augen schauen lustig, als wäre milde Witterung. Nur ich fürchte mich.“105
In diesem Bericht des Beters wird der Altstädter Ring zum Schauplatz eines „Aufruhrs“ der Dinge.106 Bewegung und Lärm scheinen aus dem eigenen Willen der Dinge entstanden zu sein, wenn diese, grammatisch subjektiviert, als 104 105 106
BK 91. BK 93f. „Aufruhr“: Die Erfahrung des Beters auf dem Altstädter Ring spiegelt den Untergang des Dicken durch die „Rache“ der Naturgewalten, die von der ersten Erzählerfigur als „Aufruhr“ bezeichnet werden (BK 83).
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I Beschreibung eines Kampfes
Handelnde beschrieben werden: die Spitze des Rathausturmes „beschreibt kleine Kreise“, „alle Fensterscheiben lärmen“, die Laternenpfähle „biegen sich wie Bambus“, ganz unabhängig vom Wind. Dieser wiederum tritt selbst als Akteur auf, personifiziert als ein Jemand, der „Athem holt“. Die „Luft auf dem Platz ist aufgeregt“, als sei diese Aufregung weniger ihre Bewegung als vielmehr die Empfindung einer Person. Diese Suggestion von Psychologie setzt die „stürmische“ Luft fort, die am Mantel der Marienstatue „reißt“, fast als würde nicht der wörtliche, sondern der auf Personen übertragene Sinn von „stürmisch“ auf sie zutreffen, als würde sie aus stürmischer Ungeduld am Mantel zerren. Der Mantel wiederum „rundet“ sich selbsttätig, noch bevor die Luft an ihm reißt (als griffe sie nach dem schon geblähten Saum, statt ihn aufzublasen, wie es ‚eigentlich‘ sein müßte – beides angesichts eines Mantels aus Stein gleich absurd). Durch die Emanzipation der Wirkungen von ihren Ursachen ist der Sturm ins Phantastische gesteigert. An die Stelle der normalen Kausalbeziehungen treten neue: statt banal Fensterscheiben zum Klirren zu bringen – diese lärmen selbsttätig-unheimlich –, treibt der Wind die Füße der „Herren und Damen, die auf den Steinen gehen sollten“, in die Höhe. So handeln sie – komplementär zu der Verlebendigung der Dinge – nicht mehr als selbständige Personen, sondern als verdinglichte Marionetten, die wie in einem irrsinnigen Ballett vom Wind getrieben werden.107 Wie bereits beim Erlebnis des Ich mit der schwankenden Statue Karls IV., wird hier trotz aller Phantastisierung kein eigentlich phantastisches Geschehen berichtet. Die Wirkungen des Sturms werden nur gesteigert und von einer verkehrten Perspektive aus erzählt. Die Optik des Beters übersetzt Vorgänge in Handlungen und schafft dabei neue Zusammenhänge, so daß sich die Wirklichkeit verselbständigt und in eine bedrohliche Macht verwandelt. Dieses Erschaffen neuer Zusammenhänge geht von der Sprache aus. Die Erscheinung der Dinge und deren sprachliche Beschreibung („Heute bläst ein Südwestwind“) werden wörtlich genommen und als Theaterszene imaginiert, in welcher der Wind wirklich „Athem holt“. Aus den Worten dieser Beschreibung entsteht weitere Wirklichkeit, ausgehend von der „Ruhe in dem Gedränge“, nach der das Ich angesichts der „aufgeregten“ Bewegung auf dem Platz vergeblich ruft. Die „Ruhe“ wird von ihrer anfänglichen Bedeutung als Gegenteil der Bewegung (Ruhe – Gedränge) verschoben, indem Optisches und Akustisches überkreuzt werden. Aus dieser Operation geht im nächsten Satz der auf ‚ä‘ assonierende „Lärm“ als Äquivalent zu „Gedränge“ und als neuer Gegensatz der „Ruhe“ 107
Diese Ansicht des Altstädter Rings verweist auf die (späteren) Verfahren in der expressionistischen Lyrik, die Auflösung von Ich und Welt in der nicht mehr zu einer Einheit synthetisierbaren Wahrnehmung durch die Stilmittel der Personifikation, Verdinglichung und vertauschenden Überkreuzung sprachlich zu fassen; in ihrer Komik ähnelt die Stelle insbesondere Jakob van Hoddis' „Weltende“ („Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut...“). Anders als die Expressionisten beschreibt Kafka die Wahrnehmungen jedoch immer noch beinahe im Rahmen des Wirklichen, dessen Ursache-Wirkungs-Relationen überkreuzt werden.
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hervor. Ähnlich wie schon für das „schwankende Unglück“ beschrieben, folgen diese Sätze ihrer eigenen sprachlich-bildlichen Logik, die eine imaginative Bewegung in Gang setzt und aus dieser eine (hier: akustische) Vorstellung hervorbringt. Der „Lärm“ geht so auf quasi natürliche, jedenfalls sinnlich überzeugende Weise aus dem „Gedränge“ hervor. Daher erscheint das Geschehen bei allem Aberwitz als ebenso zwingende wie anschauliche Kette von Folgen. Sie vermitteln durch die Suggestion eines bewegten, gestischen Geschehens eine Vorstellung des Sturms. Diese Form der Beschreibung zeigt die Dinge, wie „sie sich mir zeigen“.108 Die ins Surreale gesteigerte Stadtszenerie ist das Gegenteil jener „schön“ in sich ruhenden Wirklichkeit, auf die sich die Sehnsucht des Beters richtet. In seinen „Vorstellungen“, seiner Sicht gespiegelt, geraten die Dinge in Aufruhr und wenden die Auflösungsbewegung des „hinfälligen“ Versinkens ins Aggressive. Der Witz dieser Darstellungsweise liegt in einer doppelten Bewegung. Einerseits verwandelt sie die Stadtszenerie ins Bild einer Wirklichkeit, die das Leben bzw. den unsicheren Körper des Ich bedroht. Zugleich aber setzt die sprachliche Formulierung dieser Erfahrung eine märchenhaft-phantastische Irrealisierung der Wirklichkeit ins Werk. Die Auflösungsbewegung ist also zweiseitig: sie betrifft sowohl das Ich als auch die Wirklichkeit. Aus dieser Struktur entstehen komische Effekte, die in die Darstellung des Wirklichen einen doppelten Boden einziehen. Zum einen macht die Rede des Beters diesen lächerlich, weil sie zeigt, daß seine Wahrnehmung verrückt ist. Auf das Auseinandertreten von Wirklichkeit und Erscheinung der Dinge weist er selbst ebenso komisch wie verzweifelt hin („Sieht es denn niemand?“). Zum anderen bietet die seltsame Optik des Beters ein anschauliches Bild des windigen Platzes. Ausgerechnet die lächerlich verrückte Verzerrung ins Phantastische erzeugt auch einen Wirklichkeitseindruck. Darin liegt eine ironische Brechung, die die Perspektivierung von ‚verzerrt‘ versus ‚realistisch‘ ad absurdum führt. Während der Beter noch damit kämpft, daß die Dinge ihm immer nur „versinkend“ erscheinen und er nicht weiß, was ‚wirklich‘ zu nennen wäre, sind seine Sätze längst damit beschäftigt, die ‚natürliche‘ Weltsicht zu verkehren und die Wirklichkeit zu irrealisieren. Dies ist ein weiterer „Beweis“-Schritt, weil die Sprache damit ihre Autonomie gegenüber dem Realitätsprinzip behauptet. Auf der Ebene der Handlung ist für den Beter allerdings noch nichts gewonnen. Der Dicke nimmt seine Zustimmung zurück und behauptet nun, die JausenGeschichte sei ein „einfacher Vorfall“.109 Auch auf der Ebene der sprachlichen Form scheint kein großer Schritt getan: die Verfahren der Irrealisierung unterscheiden sich nicht wesentlich von jenen, mit denen der erste Ich-Erzähler die Statue Karls IV. ins Schwanken brachte. Hier wie dort sind es dieselben 108 109
BK 91. BK 94.
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I Beschreibung eines Kampfes
Strategien, die eine verdrehte Perspektive etablieren, um das, was auf ganz natürliche Weise vor sich geht, als Theatermachination erscheinen zu lassen. Dennoch erreicht die Sprache hier eine neue Qualität: die irrealisierende Inszenierung bietet eine eindrucksvolle, anschauliche Beschreibung des Platzes, gespiegelt im Erleben der Figur. Die ironische Verschiebung ist nicht mehr Selbstzweck; sie gibt Rechenschaft von der zutiefst verunsichernden Erfahrung einer auseinanderfallenden Wirklichkeit.110 Auf der Handlungsebene sind noch einige Schritte notwendig, um die Verdrehung nicht nur in der sprachlichen Form der Darstellung wirklich werden zu lassen. In einem nächsten Schritt geht die Operation der Vertauschung in das Sprechen der Figuren über. In einer Ansprache gegen den Aufstand der Dinge versucht der Beter die Wirklichkeit zu bändigen und seine Existenz zu behaupten (3c). 3.3.5 Sprach-Magie? Als ich aus dem Hausthor mit kleinem Schritte trat, wurde ich von dem Himmel mit Mond und Sternen und großer Wölbung und von dem Ringplatz mit Rathhaus, Mariensäule und Kirche überfallen. Ich gieng ruhig aus dem Schatten ins Mondlicht, knöpfte den Überzieher auf und wärmte mich; dann ließ ich durch Erheben der Hände das Sausen der Nacht schweigen und fieng zu überlegen an: „Was ist es doch, daß Ihr thut, als wenn Ihr wirklich wäret. Wollt Ihr mich glauben machen, daß ich unwirklich bin, komisch auf dem grünen Pflaster stehend. Aber doch ist es schon lange her, daß Du wirklich warst, Du Himmel und Du Ringplatz bist niemals wirklich gewesen.“ „Es ist ja wahr noch immer seid Ihr mir überlegen, aber doch nur dann, wenn ich Euch in Ruhe lasse.“ „Gott sei Dank, Mond, Du bist nicht mehr Mond, aber vielleicht ist es nachlässig von mir daß ich Dich Mondbenannten noch immer Mond nenne. Warum bist Du nicht mehr so übermüthig, wenn ich Dich nenne ‚vergessene Papierlaterne in merkwürdiger Farbe‘. Und warum ziehst Du Dich fast zurück, wenn ich Dich Mariensäule‘ nenne und ich erkenne Deine drohende Haltung nicht mehr Mariensäule, wenn ich Dich nenne ‚Mond, der gelbes Licht wirft‘.“ „Es scheint nun wirklich, daß es Euch nicht gut thut, wenn man über Euch nachdenkt; Ihr nehmet ab an Muth und Gesundheit.“ [...]
110
Vgl. zur Irrealisierung der Wirklichkeitserfahrung im Frühwerk von Kafka Norbert Miller: „Für seine Anfänge [...] ist es charakteristisch, dass hier die Welt der Einbildungskraft und die unstabile Welt, die andere mit der beschreibbaren Realität der Gegenwart gleichsetzen, sich unentwirrbar überlagern.“ (Norbert Miller: „Traum- und Fluchtlandschaften. Zur Topographie des jungen Kafka. Mit einem Exkurs über die Träume in der ‚Schwarzen Romantik‘ “, in: Möglichkeitssinn. Phantasie und Phantastik in der Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Gerhard Bauer u. Robert Stockhammer, Wiesbaden 2000, S. 63-102, hier S. 73. Vgl. insbesondere ebda., § 1: „Die taumelnden Plätze: Beschreibung eines Kampfes“, S. 64-74.
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„Warum ist alles still geworden. Ich glaube es ist kein Wind mehr. Und die Häuschen, die oft wie auf kleinen Rädern über den Platz rollen, sind ganz festgestampft – Still – still – man sieht gar nicht den dünnen schwarzen Strich, der sie sonst vom Boden trennt.“111
Ein letztes Mal wird der Beter vom Altstädter Ring mit seinem personalisierten Inventar „überfallen“. Diesmal aber läßt er sich von der urbanen Wirklichkeit nicht beeindrucken; statt zum Opfer seiner Wahrnehmung und sich selbst unwirklich zu werden, spricht er der Außenwelt einfach jedes Recht auf Wirklichkeit ab. Zum Beweis dessen benennt er sie kurzerhand um. Besonders der Mond – es ist die dritte Konfrontation mit dem nächtlichen, poetischen Gestirn – wird immer weiter umgetauft. Zuerst verwandelt er sich metaphorisch – über eine visuelle Assoziation wie bei der Umschreibung der Pappel, zugleich in Anlehnung an ein Theaterrequisit – zur „vergessene[n] Papierlaterne in merkwürdiger Farbe“, von dort aus wird er metonymisch zur „Mariensäule“ verschoben, als die er schließlich wieder in „Mond, der gelbes Licht wirft“ umbenannt wird. So erscheint der „wahrhaftige Name“ am Schluß phantastischerweise als Sprach-Erfindung.112 Diese metonymischen und metaphorischen Umbenennungen sind es, die der Dicke dem Beter als „Seekrankheit auf festem Lande“ vorgeworfen hatte. Aus dem dort beklagten Sprach- und Weltverlust macht der Beter mit der Namensverschiebung eine Waffe. Wenn die Wörter sich nicht mehr auf die Dinge beziehen, dann kann man so tun, als ob sie es täten. Dabei geht es nicht um Sprach-Magie. Die Macht der Worte evoziert nicht Wirklichkeit, sondern irrealisiert sie. Das Wirkliche soll mit Hilfe der Wörter verschoben werden, um es zur bloßen Kulisse verblassen zu lassen. Der Ring ist nach dieser Ansprache wieder alltäglich geworden, die Häuser stehen fest. Und doch scheint der nächtlich ruhende Stadtplatz nur die Luft anzuhalten, wenn unter den Häusern ausnahmsweise einmal kein schwarzer Strich zu sehen ist, „der sie sonst vom Boden trennt“, noch die kleinen Räder, auf denen sie „oft [...] über den Platz rollen“. Mit diesen Sätzen, die auf der Ebene ihrer Aussage nur das Normale behaupten, stellt die Rede des Beters die Eigenmacht der Sprache unter Beweis. Indem die Rädchen und der schwarze Strich zwischen Haus und Boden genannt werden, sind sie da, nämlich in der Vorstellung des dadurch erzeugten Bildes, und dieses Bild verschwindet auch beim negierenden Durchstreichen nicht. Die ruhende Wirklichkeit, die das Ich nicht mehr bedroht und sich still verhält, erscheint dadurch als das eigentlich Phantastische: als sei diese Befriedung das Werk des Ich, welches einem Regisseur oder Zirkusdompteur gleich, mit erhobenen Händen auftritt, die Nacht „schweigen läßt“ und mit seinen Worten den Spuk beendet.
111 112
BK 101-103. Es ist auch möglich, die Stelle so zu lesen, als würden Mariensäule und Mond die Benennungen tauschen.
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Die Wörter und Sätze, mit denen der Beter den Aufstand der Dinge bändigt, kehren die Wertigkeit von fragloser Wirklichkeit und fragwürdiger Fiktion um. Auf diese Weise verdreht, scheint es, als würde ihm die Wirklichkeit endlich aufs Wort gehorchen – so, wie es jene andere Ich-Figur in der LandschaftsPhantasmagorie imaginiert hatte. Damit gelingt es dem Beter, seine Existenz gegen die der Wirklichkeit zu behaupten. In der Umwendung des Wirklichen ins Staunenswerte als Effekt seiner Rede kann er die Wirklichkeit irrealisieren, ohne daß diese zu schwanken begönne. Dieses Verfahren hat nicht mehr und nicht weniger „Beweis“-Kraft als die vorigen Textpassagen. Die „Ansprache“ ist nur eine weitere Station auf dem Weg, der schrittweise zu einer Vertauschung der Plätze führt, zu einer Umwertung dessen, was ‚zuerst‘ wirklich ist: die Dinge oder die Rede über sie. Nach einer letzten Drehung im „Gespräch mit dem Betrunkenen“ erreicht der Beter das Ende dieses Prozesses und damit auch seiner Geschichte. Ihr Inhalt war weniger „Beweis“ als Vollzug: die Verwandlung der „Unmöglichkeit zu leben“ in die Möglichkeit, dennoch zu leben. Es bleibt zu klären, worin die Existenzform besteht, um deren „Leben“ und „Beweis“ es hier geht. 3.3.6 Literarische Selbstbehauptung und papierene Existenz Die „Geschichte des Beters“ stellt die Frage nach der Wirklichkeit und der Wahrheit im Rahmen einer Reflexion über die Beziehung von Konvention und Schein, Natürlichkeit und Künstlichkeit. Die Erlebnisse ihrer Titelfigur kreisen um den Gedanken, daß gerade die Natürlichkeit eigentlich Schein sei und daß die Auseinandersetzung nicht zwischen Illusion und Wahrheit – wie das Mimesisund Realitätsprinzip behauptet –, sondern zwischen Illusion und Fiktion geführt werde. Es gibt die Dinge vielleicht gar nicht, „ehe sie sich mir zeigen“, bzw. ihre „schöne“ Ruhe ist eine durch die gesellschaftliche Konvention affirmierte Fiktion. Die Illusion besteht darin, diese Fiktion für Natur zu halten, die Lüge ist, sie dafür auszugeben. Indem aber die Wirklichkeit als ein solches ‚trompe-l'oeil‘, als Theaterkulisse vorgeführt wird, gerät sie in ein neues Verhältnis zur Kunst, die diese Theater-Wirklichkeit herstellt und sich dabei zugleich von diesem Spiegelverhältnis emanzipiert, um sich selbst als Wirklichkeit zu behaupten. Auf die Erzählung der „Geschichte des Beters“ folgt ein kurzer Dialog, mit dem der Text wieder auf die vom Dicken in der Ich-Form erzählte Ebene wechselt. In diesem Wortwechsel gelingt es dem Beter endlich, den Dicken von seiner Weltsicht zu überzeugen. Nur mit schwachem Widerstand stellt dieser noch die Frage: „Sollte man nicht anders leben können?“ Die Antwort lautet „Nein“: es gibt keine Möglichkeit, anders zu leben, also keine Möglichkeit, die
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‚vernünftige‘ Weltsicht aufrecht zu erhalten und dem Wahnsinn zu entgehen.113 Dieser ‚Wahnsinn‘ ist die einzige Möglichkeit, zu leben, d.h. sich in ein Verhältnis zur Wirklichkeit zu setzen. Der Wahnsinn behauptet jedoch nicht einfach die verkehrte Welt, sondern verdreht die Perspektive noch eine Wendung weiter und führt in die Normalität des Realen selbst einen Irrealitätsverdacht ein. Ein letztes Mal wird in diesem Zusammenhang die Geschichte von der „Jause im Grünen“ zitiert. Der Dicke hat seine Haltung erneut geändert und erklärt die Mutter für „bewunderungswürdig“: „Wir müssen uns nach ihrem Beispiel benehmen“, als läge gerade in ihrer scheinbar so natürlichen Redeweise eine besonders raffinierte Strategie.114 Der Beter formuliert das Ergebnis dieser Strategie, mit der sich das Ich behauptet, indem es sich selbst und der Wirklichkeit den Boden unter den Füßen entzieht: [wir] erhalten uns in Schwebe, wir fallen nicht, wir flattern, wenn wir auch häßlicher sind als Fledermäuse. Und schon kann uns kaum jemand an einem schönen Tage hindern zu sagen: „Ach Gott heute ist ein schöner Tag.“ Denn schon sind wir auf unserer Erde eingerichtet und leben auf Grund unseres Einverständnisses.115
Dieses Eingerichtet-Sein dokumentiert sich in einer Sprachfloskel, wie sie die Frauen in ihrer Unterhaltung austauschen. Es ruht nicht auf festem Grund, sondern besteht „auf Grund unseres Einverständnisses“, qua Konvention. Es geht hier nicht um die Wahrheit der zutreffenden Namen, sondern um einen Trick: indem man bewußt so tut, als ob, kann man sich „einrichten“ in der kollektiven Illusion, die darin besteht, an eine wirklich existierende Welt zu glauben; wenn man verbirgt, daß man die banalen, ‚natürlichen‘ Gemeinplätze nur ironisch zitiert, kann man sich dieser Konvention bedienen. Dieser Zustand „in Schwebe“ ist eine instabile, momentane, vielleicht auch artistische Veranstaltung, aber möglicherweise nicht ganz so unsicher wie das „schwankende Unglück“. Mit dieser Strategie kann das Schwanken der Welt besiegt werden, das die Stabilität des Ich bedroht. Die natürliche Redeweise wird durch die Einführung des Scheins umgewendet in eine Strategie ironischen Sprechens, die in die Aussage eine Differenz sich widerstreitender Aussageebenen einzieht, gewissermaßen den „dünnen schwarzen Strich, der sie sonst vom Boden trennt“.116 Diese Strategie ist eben jene, die ich als Verfahren des Textes beschrieben habe. Sie zielt nicht darauf, künstliche, irreale Sprachwelten entstehen zu lassen, sondern darauf, gerade den ‚natürlichen‘, konventionellen Zusammenhang von Zeichen und Bezeichnetem auszunutzen, um in dieses Verhältnis selbst ein Moment von Irrealisierung einzubringen, so daß die Normalität als das Staunenswerte, als das eigentliche Kunststück erscheint. Als ein solches Kunststück beglaubigt jede 113 114 115 116
BK 108. BK 110. BK 109. BK 103.
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dieser Dreh-Figuren die Eigenmacht der Sprachkunst in der literarischen Herstellung von fiktionalen Wirklichkeiten. Diese Strategie wird als lächerliche Verirrung präsentiert und zugleich als die einzige Möglichkeit des ästhetischen Subjekts, sich selbst zu behaupten. Von einer ‚Möglichkeit zu leben‘ kann dabei jedoch nicht die Rede sein. Es scheint vielmehr, als sei die ästhetische Existenz eine Form der „Unmöglichkeit zu leben“. Diese paradoxe Existenzweise läßt sich anhand einer Passage aus der „Geschichte des Beters“ näher bestimmen. Auf einer Abendgesellschaft wird dem Beter vorgeworfen: Die Wahrheit ist nämlich zu anstrengend für Sie, mein Herr, denn wie sehn Sie doch aus! Sie sind Ihrer ganzen Länge nach aus Seidenpapier herausgeschnitten, aus gelbem Seidenpapier, so silhuettenartig und wenn Sie gehn, so muß man Sie knittern hören.117
Darauf antwortet der Beter, „daß einmal alle Menschen, die leben wollen, so aussehn werden, wie ich [...]“.118 Die Verwandlung ins Papier-Wesen wäre demnach die einzige Möglichkeit, zu überleben. Doch was sollte das heißen? Offensichtlich ist die Seidenpapier-Existenz als Metapher zu verstehen. HansThies Lehmann schlägt folgende Lesart vor: „Hier verwandelt sich das Ich buchstäblich als Körper in den corpus eines Buchs, aus Seiden- (oder Seiten-)Papier, das man knittern hört beim Umwenden der Seiten, das sich im Luftzug biegt.“119 Das Papier-Wesen sei demnach eine Form der Selbstthematisierung der Literatur. Dies trifft zweifellos zu. Lehmann übersieht bei seiner Übersetzung der Figur in Buchseiten allerdings die konkrete Gestalt dieser „buchstäblichen“ Verkörperung. Das Mädchen vergleicht den Beter nicht mit einem Buch, sondern mit Silhouettenpapier, das stellvertretend für Körperhülle wie Körperschatten steht. Genau betrachtet, bedeutet ihr Vorwurf, der Körper des Beters sei noch un-eigentlicher als dessen eigener, schwarzer Schatten: Als dessen Urbild sei er bereits aus (gelbem, hautähnlichem) Papier, also ein noch irrealeres Wesen als ein Geist, der keinen Schatten wirft, ein gesteigerter Peter Schlemihl. Da es sich bei dem gelben Papierkörper des Silhouettenmenschen bereits um verkörperte Uneigentlichkeit handelt, ist es kaum sinnvoll, dieses Papier nun noch einmal zur Metapher – für Literatur – zu erklären. Damit würde sich die ganze Operation in einer selbstreflexiven Potenzierung auflösen. Ich meine, daß die Leistung dieser Figur nicht im bloßen Verweis auf ihre Literarizität liegt, und daß man, um sie zu erfassen, beim Bild verharren muß. Die Papiersilhouette bietet eine Möglichkeit, zu leben, weil dieses unmögliche Wesen tatsächlich hörbar „knittert“, wenn es sich bewegt, weil es also keineswegs so körperlos ist, wie das Bild behauptet, und weil es gerade dadurch zum Lachen reizt. Indem die Silhouetten-Figur in übertreibendem Ausspinnen des handgreiflich-sinnlichen Moments der metaphorischen Übertragung von Körper in Papier zu einem neuen Körper verlebendigt 117 118 119
BK 97. BK 98. H.-Th. Lehmann, a.a.O., S. 224.
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wird, entsteht aus dieser Körperlichkeit ein Witz, der die ‚natürlichen‘ Verhältnisse zwischen Körper und Geist (bzw. Schrift) umkehrt. Mit diesem Witz behauptet sich die Papier-Figur als literarische. Sie demonstriert die Eigenmacht von Sprache und Fiktion nicht als Figuration von Sprachlichkeit, sondern in ihrer Körperhaftigkeit.120 Diese Verkörperung vollzieht sich nicht als einsinnige Übersetzung von Abstraktem in Konkretes (Literatur in Papierkörper), sondern als mehrgleisige Überblendung zwischen Körper, Papier und Literatur. Der Vergleich zwischen dem Körper des Beters und Seidenpapier bringt durch die Farbe Gelb die Beschreibung von Haut und zugleich die Symbolfarbe für Irrealität in den Vergleich hinein und macht die Haut des Beters zur bloßen Papierhülle. Zugleich ruft aber die Verbindung gelb–Papier–Haut zumindest hintergründig die Assoziation von gelblichem Pergament wach, ein an metaphorischen wie wörtlichen Bedeutungen reiches, selbst schon ‚literarisches‘ Material. Pergament ist Haut, auf der geschrieben wird, Medium für Literatur. Von dieser Funktion ausgehend, wird der Zeichenträger selbst zum Zeichen, er wird, wie das Buch, zum metonymischen Stellvertreter von Literatur. Schließlich dient Pergament noch in einem anderen, wörtlichen Sinne als Zeichen, nämlich als Vergleichsbild zur Bezeichnung von Haut (die es eigentlich selbst ist), wenn sie alt und dünn, papierähnlich geworden und von Falten verknittert ist. Diese visuelle Assoziation lebt noch in der hörbaren Konsequenz des Zu-Papier-Werdens, der auditiven Assoziation, die das Mädchen an den Vergleich anschließt, im Knittergeräusch. – Dieses Vergleichsbild ist also eine Bewegung, die zwischen Wort und Bild vermittelt, die das ‚metaphorein‘, das Übertragen, als Tätigkeit der Einbildungskraft vorführt und in dieser Vermittlung einen witzigen Kurzschluß erzeugt. Als deren Ergebnis gehen die Umkehrungsprozesse von der Sprachfigur in die Anschauung über, in der sie irreduzibel verbleiben. Ein solches Verfahren ist anders als in der minutiösen Lektüre kaum darstellbar; jede Rückführung auf Allgemeines muß seine Besonderheit und seine Leistung verfehlen. Da das Verfahren wesentlich darin besteht, die Grenzen der Anschauung nicht zu verlassen, kann auch die Beschreibung keine Meta-Ebene erreichen, sondern muß sich damit begnügen, die Bewegung nachzuvollziehen, die in der Sprache vor sich geht. In dieser Bewegung aber, die das vergleichsweise zu Papier gewordene Wesen hervorbringt, ist die Selbstbehauptung der Literatur 120
Der Aufsatz von Lehmann zeigt, daß die Idee der Selbstthematisierung zu einer Entleerung sämtlicher Erzählvorgänge führt, wenn man die jeweilige Form des Selbstbezugs nicht beachtet. Bei dem Versuch, die Beschreibung insgesamt in der „Perspektive der Selbstthematisierung der Literatur zu deuten“ (H.-Th. Lehmann, a.a.O., S. 224), geraten schließlich die „Baumstämme im Schnee“ (Die Bäume) zu Buchstaben, weil „das Wort Buchstabe vom Buchenbaum abgeleitet ist“ (ebd., S. 226), weißer Schnee ist Papier, und „im Nachtvogel erkennen wir den Nachtschreiber Kafka“ (ebd., S. 225). Auf diese Weise schlägt der „Entzug der Referenz“ (ebd., S. 214) in der reinen Buchstäblichkeit eines Schreibens, das nur sich selber meint, in universelle Allegorisierung um.
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bereits geschehen. Die Existenz-Behauptung als ästhetisches Subjekt, um die der Beter ringt, existiert nur in dieser Sprachbewegung und als diese Sprachbewegung, das heißt: in der Art, wie das Bild des Papierwesens als vielschichtige Beziehung zwischen Worten und Bildern entfaltet wird. Warum gerade der ironische Witz, der ihn lächerlich macht, die Selbstbehauptung des Beters als Literatur-Wesen ermöglicht und damit die ‚Möglichkeit zu leben‘ eröffnet, ist nur in der Logik dieser Bilder und nicht unabhängig von ihrer Terminologie zu erklären. Aber wenn das Bild nicht verlassen werden kann, heißt das auch, daß es sich als Wirklichkeit eigenen Rechts behauptet, weil es für eine über es hinausgehende Deutung uneinholbar geworden ist. Mehr ist nicht zu „beweisen“. Weil der „Beweis“ immer nur in jeweils einem, in sich geschlossenen Sprachprozeß geschieht, ist er immer schon geführt. Daraus ergibt sich ein Problem: Wie erzählen? Die Beschreibung eines Kampfes beantwortet diese Frage, indem sie Textpassagen aneinanderreiht, die jeweils eine Sprach- und Drehbewegung durchführen, und diese Passagen durch motivische und symbolische Verknüpfung sowie durch kompositorische Entsprechungen sich ineinander spiegeln läßt, so daß sich die gerade etablierten Positionen immer wieder vertauschen. Daher gibt es keinen Punkt, an dem der „Beweis“ an ein Ende gelangen könnte. Das permanente Vertauschen wird zum nicht enden wollenden Redefluß, der um so bemühter erscheint, je länger er dauert. Gegen Ende des „Fortgesetzten Gesprächs mit dem Beter“ (3d) wird dieser Prozeß unterbrochen. In einem nur wenige Zeilen langen Gleichnis, das Kafka später unter dem Titel Die Bäume veröffentlichte, erreicht die Sprachbewegung eine Qualität, die über das Drehen und Schwanken hinausweist. 3.3.7 Die Bäume: Aufhebung der Erzählbewegung Die neue Beziehung, von der man gar nicht mehr sagen kann, ob sie eine Beziehung zwischen Ich und Welt, zwischen Sprache und den Dingen, zwischen den Dingen und ihrer Erscheinung, zwischen Schein und Wahrheit oder zwischen Wahrheit und Wirklichkeit ist, faßt der Beter in einem Gleichnis, dessen Bedeutung schwer zu greifen ist. Nur, daß es sich um ein Gleichnis handelt, um eine Operation des Übertragens, die sich in der Sprache, als gleitende Bewegung von einem Satz zum nächsten vollzieht, ist noch beschreibbar.121 Wir sind nämlich so wie Baumstämme im Schnee. Sie liegen doch scheinbar nur glatt auf und man sollte sie mit kleinem Anstoß wegschieben können. Aber nein, das kann
121
Die folgende Darstellung bezieht sich auf die genaue Analyse dieser sich selbst immer wieder zurücknehmenden und verunsichernden Sprachprozesse, die Jörgen Kobs geleistet hat. (Jörgen Kobs: Kafka. Untersuchungen zu Bewußtsein und Sprache seiner Gestalten, hrsg. v. Ursula Brech, Bad Homburg 1970, S. 7-19.)
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man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist bloß scheinbar.122
Das rätselhafte Bild der „Baumstämme im Schnee“ (ein Wald mit durch den Schnee verdeckten Wurzeln oder ein Haufen gefällter Stämme? Ist er eingeschneit oder liegen die Stämme auf dem Schnee?) erklärt sich nicht. Es scheint ein Gleichnis zu sein. Dies ist aber nur der erste in einer Reihe ineinander verschachtelter ‚Scheinvorgänge‘123, ausgelöst durch den Schnee, der die Baumstämme (oder den Boden?) zudeckt und unter den man nicht schauen kann. Die Stämme scheinen zuerst „glatt“ aufzuliegen und leicht wegzuschieben, aber das sieht nur so aus, der visuelle Eindruck täuscht, tatsächlich sind sie nicht von der Stelle zu bewegen, als wären sie „fest mit dem Boden verbunden“. Aber auch diese Vermutung trifft nicht zu. Aber was daran trifft nicht zu? Daß sie – als abgeschlagene – nicht (mehr) fest verwurzelt sind? Daß sie nicht von der Stelle zu bewegen sind? Die schweren, massiven Stämme haben offenbar gegen allen Augenschein ihre Uneigentlichkeit mit den leicht schwebenden Papierfiguren gemeinsam, die sich aneinander und an den als-ob-Sätzen festhalten und „eigentlich unbrauchbare Kriegsmaschinen“ aus Seide bauen – Figuren, die zwar nur Scheinvorgänge sind, aber trotzdem einen nicht wegzuschiebenden Verbund bilden.124 Es bleibt unsicher, wie es sich mit den Baumstämmen in Wirklichkeit verhält. Die ‚Moral‘ dieses Gleichnisses ist dennoch nicht: alles ist nur Schein und Täuschung. Daß die Baumstämme nicht von der Stelle zu bewegen sind, steht fest. Das ist aber auch alles. In einem ähnlichen Sinne ‚gibt‘ es die Wirklichkeit. Mehr kann man darüber vielleicht gar nicht sagen. Mit dem Rätselspruch dieses Gleichnisses hat die Erzählung einen Moment erreicht, in dem die Diskussion um die Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit suspendiert ist. Die Sprachbewegung, als die sich das Gleichnis in permanenten Verschiebungen zwischen Zweifel, Negation und Behauptung entfaltet, hat diese Frage ins Schweben gebracht. Sie hat jenen Punkt erreicht, an dem – wenn auch nur für einen Moment – das Verhältnis von Realität und Irrealität aus den Angeln gehoben ist. Auf engstem Raum ist die Balance gelungen.
122 123
124
BK 110. „Scheinvorgang“: eine Wendung aus Kafkas Erzählung Beweis dessen, daß auch unzulängliche, ja kindische Mittel zur Rettung führen können (Das Schweigen der Sirenen). Von Odysseus, der als Udeis/Niemand der erste war, der die Lücke zwischen Zeichen und Bezeichnetem zum Durchschlüpfen nutzte, vermutet dieser Text: „vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, daß die Sirenen schwiegen und hat ihnen und den Göttern den obigen Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten.“ (E 352). BK 109.
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3.4 Rückkehr in die Rahmenerzählung: Folgen des Beweises, „daß es unmöglich ist zu leben“ Mit dem Ende der Beter-Erzählungen kehrt sich die Richtung der Handlungsentwicklung um. Durch alle Ebenen ihrer Schachtel-Architektur hindurch gelangt die Erzählung von hier aus wieder zurück zur Rahmenerzählung. Der Rückweg zeigt das Ergebnis des „Beweises“ und kommentiert seine Konsequenzen. Er führt den „Kampf“ der zwei Lebenshaltungen zu Ende und setzt die verrückte Ich-Figur in ein neues Verhältnis zum Bekannten. Der Rückweg beginnt mit der Reaktion des Dicken auf das „Bäume“Gleichnis. Er besiegelt sein Einverständnis mit der ‚verrückten‘ Weltsicht durch die (bereits erwähnte) Neubewertung der „Jausen“-Geschichte und bezeichnet den Beter als seinen „Freund“.125 Um Halt zu geben, bedarf es des „Einverständnisses“,126 der tragenden Einigkeit mit den anderen, eines ‚wir‘, das bekanntlich aus mindestens zwei Personen besteht: die Grundkonstellation von Ich-Figur und Bekanntem, Ich und Freund. Freundschaft ist also vielleicht das Ziel, jedenfalls aber das Ergebnis des „Beweises“. Die Annäherung des Dicken an den Beter spiegelt das Einverständnis von „Nachdenkendem“ und „Betrunkenem“, zu dem der Beter am Ende seiner Geschichte im „Gespräch mit dem Betrunkenen“ gelangt.127 In dieser Verbrüderung treffen sich die beiden Schaukelbewegungen, die der Text permanent gegeneinander ausspielt. Ihre Umarmung am Ende des Mittelteils besiegelt den Entschluß, sich statt an den Dingen aneinander festzuhalten. Dieses neue Verhältnis setzt sich in der Beziehung von Ich und Bekanntem fort. Nach der Rückkehr des Erzählers aus den „Belustigungen“ in die Rahmenerzählung zeigt sich, daß sich während seiner Abwesenheit die Relationen umgekehrt haben. Liebeskrank geworden, nähert sich der Bekannte dem Zustand des schwankenden Ich aus dem Mittelteil an. Als der Erzähler daraufhin seine erfundene Konkurrenz-Liebesgeschichte ein zweites Mal zu erzählen beginnt und behauptet: „Ich bin verlobt, ich gestehe es“, sticht sich der Bekannte ein Messer in den Arm.128 Damit hat sich der Weg des im Mittelteil konzentrierten „schwankenden Unglücks“ in die Realität hinein vollendet. Es ist dem Ich gelungen, seinem Bekannten die „Unmöglichkeit zu leben“ zu beweisen. Oder richtiger: Der Bekannte hat den „Beweis“ vollzogen. Er hat die Selbstmörder-Formel, „daß es unmöglich ist zu leben“, auf seinen eigenen Leib bezogen, indem er versucht, sich
125 126 127 128
BK 111. BK 109. BK 107. BK 117.
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umzubringen – wenn auch nur „wie im Spiele“.129 Jedenfalls fließt echtes Blut, und zwar als Folge der literarischen Lüge von Liebesgeschichte und Verlobung. Es ist also nicht die unsicher-haltlose Ich-Figur, die die „Unmöglichkeit zu leben“ erfährt. Sie hat im Gegenteil den Kampf gewonnen. Trotz dieses Sieges ist sie jedoch um keinen Grad ‚wirklicher‘ geworden als zuvor. Nach wie vor ist es der Bekannte, der über eine „breit[e] und schön[e]“ Brust verfügt, während das Ich eine nächtliche und unsichere Existenz bleibt.130 Zwar scheint sie überlegen; dennoch ist das Flatterwesen auf die Körperlichkeit seines Bekannten angewiesen: an der Armwunde saugend, wird die Erzählerfigur zum Vampir, der echtes Blut fordert, um seine Existenz zu sichern. Arm in Arm gehen die beiden schließlich nach Hause. Die Beschreibung eines Kampfes endet als Geschichte einer Freundschaft. Wer ist dieser Freund, der Spiegel des Ich ist und zugleich der Jemand, von dem es gesehen wird? Ist der immer schon „Bekannte“ doch nur das immer gleiche, alte Ich? Oder als „Du“ der, der man hätte sein können, hätte man sich nicht entschlossen, zu schreiben, zum Papiermenschen zu werden? Der, dem das literarische alter ego mit Geschichten von lauter fiktiven Figuren, deren Selbst wie seines schwankend ist, die Existenzberechtigung zu „beweisen“ versucht? Möglicherweise ist der Bekannte aber auch der Leser, auf den die Schrift vampirisch angewiesen ist?
4. Schluß 4.1 Résumé Die erste Fassung der Beschreibung eines Kampfes, der früheste, vollständige Erzähltext des jungen Kafka, stellt in vielerlei Hinsicht den Versuch einer Grundlegung dar. Die „Novelle“ erprobt Möglichkeiten, zu erzählen. Zugleich reflektiert sie die Berechtigung und die Bedeutung dieses Unternehmens. Diese Reflexion von ästhetischen Positionen und poetologischen Prämissen geht von der Entwicklung erzählerischer Möglichkeiten im Zeichen des Traums aus und erweitert sich zu theoretisch-philosophischen Überlegungen. In der Doppelbewegung von Erzählentwicklung und reflexiver Selbstbegründung entwickelt Kafka Ansätze eines ‚phantastischen Erzählens‘. Als philosophisches Problem formuliert, ist das Thema der Erzählung die sprach- und erkenntnistheoretische Frage, in welcher Form eine Beziehung zwischen Ich (bzw. Bewußtsein) und Wirklichkeit möglich ist. Diese Frage wird mit Skepsis beantwortet: weder ist durch die sinnliche Wahrnehmung Gewißheit 129 130
BK 119. BK 117.
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über die Außenwelt zu erlangen, noch ist sicher, daß sich die Sprache auf Dinge außerhalb des Bewußtseins bezieht. Auf der Figurenebene wird diese Auseinandersetzung ins Existenzielle gewendet und als ‚Unmöglichkeit zu leben‘ erfahrbar gemacht. Begriffe und Weltwahrnehmung der Ich-Figuren befinden sich in fortschreitender Auflösung, wodurch auch ihr Selbstbezug unsicher wird. Von diesem prekären Weltverhältnis aus entdecken die Ich-Figuren der Beschreibung die Macht der Erfindungen, die Normalität zu irrealisieren und eine andere Realität zu schaffen. Dem Erzähler der Rahmenhandlung gelingt es, die Fiktionalität in der Beziehung von Sprache und Welt für sich auszunutzen, indem er seinem Bekannten etwas vorlügt. Die Lüge ist nur einer von mehreren sprachlichen Tricks, die das Ich als Möglichkeit entdeckt, um sich zu retten. Der Beter als Hauptfigur der zentralen Erzählung, dem seine eigene Existenz unsicher geworden ist, kann für die Dinge neue, metaphorische Namen erfinden, kann so tun, als ob seine Erfindungen wirklich seien, und damit die Wirklichkeit verschieben, sie zu seiner Schöpfung machen. Daß dies kein Wahnsinn, sondern der einzige Weg für das Bewußtsein ist, den Einsturz der Welt zu überleben, will der Mittelteil „beweisen“. Die Macht der Fiktionen ist die Macht der literarischen Sprache, die in dieser Auseinandersetzung Autonomie gewinnt. Diese Entdeckung der Beschreibung eines Kampfes ist in der Forschung bisher noch nicht gesehen worden.131 Die Vernachlässigung der sprachlichen Form hat dazu geführt, die Figurenrede zu verabsolutieren, so daß die Erzählung als Ausdruck von Sprachskepsis gelesen wurde. Insistierend auf der Negation von Referenz und Sinn, verstellt diese Interpretation den Blick darauf, daß das Medium, in dem die Zweifel verhandelt werden, sich mitnichten in einer Krise befindet. Gerade weil sie den selbstverständlichen Weltbezug verweigert, erreicht die Sprache eine neue Freiheit. Durch die Betonung ihrer verselbständigten Produktivität behauptet sie sich gegen das Diktat eines realistischen Bezugs auf feststehende Wirklichkeit. Damit verschränkt ist die Selbstbehauptung der Erzählerfiguren gegenüber der Erfahrung unsicherer Welt- und Selbstverhältnisse. Wenn das Einstürzen der Welt mit dem Sprechen über sie verbunden ist und zugleich mit einer verunsichernden Wahrnehmungserfahrung einhergeht, dann kann die Beziehung 131
Dies gilt auch für die Ansätze, die sich explizit mit der Sprachreflexion in der Erzählung befassen, wie die Beiträge von Hans-Thies Lehmann und Lukas Trabert. Beide verweisen auf das Sprachspielerische und die Selbstthematisierung von Sprache und Schrift, ohne jedoch Form und Leistung solcher Reflexion näher zu untersuchen. Dies führt zu einer Entleerung der Erzählvorgänge; ein Ergebnis, das bei Lehmann als „Entzug der Referenz“ dekonstruktionistisches Programm ist und bei Trabert von einem an Nietzsche angelehnten Konzept der Sprachskepsis ausgeht. Das Spielerische vollzieht sich nach Trabert in einer Sprache, die nur noch Leerlauf ist: „Die in eine ‚Sinnkrise‘ geratene Sprache zeigt in der ‚Beschreibung‘ eine Neigung, sich auf sich selbst zurückzuziehen [...] Kafka gebraucht Sprache als Gerüst und als Spielzeug.“ (L. Trabert, a.a.O., S. 320 u. 324). Unter diesen Vorzeichen kann die Autonomie der Sprache nur als selbstreferentielles Zeichenspiel, nicht jedoch als produktive, schöpferische Macht gesehen werden.
Schluß
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zwischen Bewußtsein und Wirklichkeit nicht einsinnig gefaßt werden. Daß die Wirklichkeit einstürzt, heißt auch, daß sie beweglich ist. Sie steht nicht fest, und darin liegt eine Chance. Diese Chance begreift die Beschreibung als erzählerische Erkundung der Eigenmacht der Sprache. Sie wird zur Erzählung über die Macht der Erfindungen, zur Erprobung der Möglichkeiten der literarischen Phantasie. Aus dieser Konstellation ergibt sich eine vielschichtige Reflexion darüber, was ‚Schreiben‘ heißt, und wie Literatur sich selbst begründen und behaupten kann. Das Erzählen entsteht als experimentierende Suche nach Antworten auf die Frage: Wie erzählen? Damit wird die Beschreibung eines Kampfes zur poetologischen Erzählung. Sie geht von der Einsicht aus, daß die Wirklichkeit nicht einfach erzählt werden kann. Das Wirkliche löst sich unter dem Zugriff des Wortes auf, und umgekehrt wird jedes Wort beliebig. Doch gerade dadurch wird ein neues, produktives Verhältnis möglich: die Wörter selbst können ‚Wirklichkeit‘ veranstalten. An der Beweglichkeit im Verhältnis zwischen Ich und Wirklichkeit setzt ein Erzählen ein, das jenseits von konventionellen, narrativen Formen Möglichkeiten der erzählenden Rede erprobt. Der Text entfaltet sich als Sprach- und Erzählvorgang, der das Verhältnis von Realität und Imaginärem ständig von neuem in Bewegung bringt. Dieser Prozeß vollzieht sich in den Mikrostrukturen der Sätze. Vor allem im Mittelteil häufen sich die Versuche, die erzählte Wirklichkeit zu verunsichern und durch Sprachwirklichkeiten zu ersetzen: zum einen durch Formen der uneigentlichen Rede als Techniken der Irrealisierung (symbolische Verdichtung, allegorische und metaphorische Redeweisen); zum anderen mit den rhetorischen Verfahren der Wörtlichnahme, in der Personen als wörtlich genommene Redefiguren erscheinen, und der personifizierenden Verlebendigung, die unbelebte Dinge zu handelnden Subjekten macht. – Die Sprachbewegungen sind wiederum auf die Makrostruktur der Erzählung bezogen. Mit den Mitteln der serialisierenden Wiederholung und Spiegelung stellt die Erzählung einen Zusammenhang her zwischen den sprach- und erkenntnistheoretischen Äußerungen, den metaphorischen bzw. allegorischen Redeweisen und den logisch-semantischen Verschiebungen der Sprachbewegungen. Die erzählte Wirklichkeit wird dabei zum Fiktionsraum, in dem aus Ideen heraus entwickelte Verkettungen von Bildern und Motiven untereinander Assoziationsverbindungen eingehen und sich wie in einem Kaleidoskop brechen und verdoppeln. Bei allem Bemühen um die Komposition der großen Form bleiben die Erzählverfahren, die Kafka in diesem frühen Text erprobt, jeweils an kurze Passagen gebunden. Wie ein Mosaik ist die Beschreibung eines Kampfes aus solchen Stellen zusammengesetzt. Ihr Zusammenhalt ist prekär. Mit Prosastücken wie Die Bäume erreicht das sich in immer neuen Spiegelungen weiter schraubende Erzählen für einen Moment eine Balance. Diese Momente des Schwebens, artistische Kunststücke, hervorgegangen aus der Bewegung der Sprache, können sich als irreduzible behaupten – und fallen damit aus dem Erzählkontinuum heraus.
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4.2 Perspektiven Die Auseinandersetzung zwischen Ich und Welt vollzieht sich in der Beschreibung eines Kampfes als Mischung aus Komik und Groteske; die Geschehnisse sind ins Phantastisch-Traumhafte verlagert, die Wirklichkeit ist zur märchenhaften Theaterkulisse verwandelt. Dies wiederholt sich in den späteren Erzählungen nicht mehr in gleicher Weise. Doch bereits in der surreal übersteigerten Beschreibung sind die Erzählverfahren angelegt, die später zu jenem „Dahinbalancieren auf der Schneide zwischen Wirklichkeit und Überwirklichkeit“ führen, das Heinz Politzer als grundlegend für Kafkas Erzählkunst bezeichnet hat.132 In dieser Perspektive ist die Beschreibung eines Kampfes der Beginn einer Entwicklung hin zum phantastischen Erzählen. Der neuralgische Punkt, an dem die Erzählung ansetzt, betrifft das Verhältnis von Wirklichkeit und Traum, und mit der verdrehtabsurden Logik des Betrunkenen wird gezeigt, daß dieses Verhältnis nicht im Sinne des Realitätsprinzips zu bestimmen ist. Daher ist die Hebelwirkung gegenüber der feststehenden Wirklichkeit, nach der die Erzählung sucht, im Kern eine phantastische. Diese Suche bleibt immer als sprachliches Verfahren kenntlich, ja wird bewußt als solches sichtbar gemacht, so daß auch die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion ständig thematisiert und die Auseinandersetzung damit Teil der Handlung wird. Indem sie sich aus dieser selbstbezüglichen Reflexion entfaltet, gelangt die „Novelle“ nicht eigentlich zum Erzählen einer Geschichte. Auch dies ändert sich im Verlauf der weiteren Entwicklung von Kafkas Schreiben; es findet zu Themen und erfindet Geschichten. Die gewollte und ausgestellte Künstlichkeit des Sprechens in seiner verfremdenden Metaphorizität wird nicht fortgesetzt. Die Entdeckung aber, die der Beschreibung eines Kampfes zugrundeliegt, nämlich: auf die Eigenmacht der Sprache zu vertrauen und von ihr her die Erzählbewegung zu entfalten, bildet die Grundlage für die weitere Entwicklung von Kafkas Schreiben. Von der neuartigen Verbrüderung zwischen Worten und Anschauung aus, die der „Beter“ als erster ins Werk setzt, von den minimalen Verschiebungen zwischen Sinnebenen und dem imaginativen Ausspinnen von assoziativen Verknüpfungen her läßt sich eine Linie ziehen, die zu den Prosaminiaturen der Betrachtung führt (Kap. II). Mit der traumartigen, imaginativen Entwicklung des Geschehens, die ich in der Analyse der Schwellenüberschreitungen herausgearbeitet habe, ist darüber hinaus der Grundzug eines Schreibverfahrens beschrieben, das Kafka in der literarischen Werkstatt der Tagebücher weiter ausformt (Kap. III). Wenn Kafkas Erzählen von der Autonomie der erzählerischen Mittel ausgeht, dann ergeben sich daraus Konsequenzen für den Umgang mit Kafkas Texten. Die sprachlichen Verfahren und Techniken des Erzählens müssen ins Zentrum der Analyse treten, die ihnen Wort für Wort nachzugehen hat. Zugleich 132
H. Politzer, a.a.O., S. 28.
Schluß
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umfaßt diese Aufgabe die Bestimmung der poetologischen Implikationen eines solchen Erzählens, dessen Grundzug zu sein scheint, daß es weder vom Wort noch vom Akt der Textkonstitution ablösbar ist. In dem Ausgang von der Erfindungsbewegung, aus der sich das Erzählen in der Beschreibung eines Kampfes als autonom gewordener sprachlicher Vorgang entfaltet, liegt letztlich Kafkas Modernität.
II Betrachtung 1. Einleitung 1.1 Von der Beschreibung eines Kampfes zu Betrachtung Acht kurze Prosastücke, Anfang 1908 unter dem Titel Betrachtung in der Zeitschrift „Hyperion“ erschienen, bilden Kafkas erste Veröffentlichung: Der Kaufmann, Zerstreutes Hinausschaun, Der Nachhauseweg, Die Vorüberlaufenden, Kleider, Der Fahrgast, Die Abweisung und Die Bäume.1 Die Bäume und Kleider wurden der unveröffentlichten Beschreibung eines Kampfes entnommen; die übrigen Stücke entstanden wahrscheinlich im selben Zeitraum wie diese Erzählung, zwischen 1904 und 1907.2 Der Akt der Veröffentlichung präsentiert die Texte mit einem Anspruch auf Gültigkeit. Nur noch zwei weitere Texte wurden von Kafka so hervorgehoben: die „Gespräche“ mit dem Beter und dem Betrunkenen aus dem Manuskript der Beschreibung veröffentlichte er 1909 ebenfalls im „Hyperion“.3 Die
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In dieser Reihenfolge wurden die Prosastücke 1908 in der Zeitschrift „Hyperion“ gedruckt (Hyperion. Eine Zweimonatsschrift, hrsg. v. Franz Blei, 1. Folge, 1. Band, Heft 1 [Januar-Februar 1908], S. 91-94). In dieser Veröffentlichung trugen die Texte noch römische Ziffern anstelle der genannten Titel. Titel erhielten sie erst in der zweiten Veröffentlichung 1910 (in der Zeitschrift „Bohemia“, s.u.); diese wurden für das Buch Betrachtung (1912) zum Teil geändert. Vgl. Ludwig Dietz: Franz Kafka. Die Veröffentlichungen zu seinen Lebzeiten (1908-1924). Eine textkritische und kommentierte Bibliographie, Heidelberg 1982, S. 38ff., sowie die Angaben in KKA: Drucke zu Lebzeiten, Apparatband, S. 33-47, zu der ersten Veröffentlichung von 1908 insbesondere S. 44f. Die Texte aus Betrachtung werden zitiert nach KKA: Drucke zu Lebzeiten, S. 9-40. Die Edition folgt der Fassung von 1912; im Apparatband sind die Änderungen gegenüber dem Text von 1908 verzeichnet. Sie sind minimal und wurden deshalb nicht berücksichtigt. Zitate werden im folgenden mit der Sigle „B“ und der Nennung der Seitenzahl nachgewiesen. Nur für Die Abweisung läßt sich die Entstehungszeit um 1906 eingrenzen. Vgl. KKA: Drucke zu Lebzeiten, Apparatband, S. 68. Gespräch mit dem Beter und Gespräch mit dem Betrunkenen in: Hyperion, 2. Folge, 1. Band, Heft 8, München 1909. Dieser Veröffentlichung hat Kafka später gegenüber Max Brod die Berechtigung abgesprochen („[...] willst Du mir wirklich raten [...] bei hellem Bewußtsein etwas Schlechtes drucken zu lassen, das mich dann anwidern würde, wie die zwei Gespräche im Hyperion.“ Brief an Brod vom 7.8. 1912, KKA: Briefe 1900-1912, S. 165). Die „Gespräche“ wurden 1912 nicht in die Sammlung Betrachtung aufgenommen. - Zu Kafkas Veröffentlichungs- und Zurücknahmestrategien und dem ambivalenten Verhältnis von „Öffnung und Selbstversenkung“ vgl. Gerhard
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gesamte übrige Produktion der Jahre vor 1908 trat zugunsten dieser kleinen Auswahl zurück. Dieses Muster wiederholte sich in den folgenden Jahren. Zwischen 1909 und 1911 verfolgte Kafka weiter das Ziel, zu einer längeren Erzählform zu gelangen: mit Fortsetzungen zu Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande (Fassungen B und C) und mit der Umarbeitung der Beschreibung eines Kampfes (Fassung B). Dennoch blieb es bei Betrachtungen: 1910 druckte die Zeitschrift „Bohemia“ unter diesem Titel vier der Stücke aus dem „Hyperion“ noch einmal, erweitert um Zum Nachdenken für Herrenreiter.4 Ende 1912 erschien Betrachtung, Kafkas erstes Buch.5 Es enthielt über die bisher gedruckten Prosastücke hinaus zwei Texte aus der zweiten Fassung der Beschreibung eines Kampfes: Ausflug ins Gebirge und Kinder auf der Landstraße. Vermehrt wurde die Sammlung außerdem um sieben Stücke, die zum Teil bereits in dem seit 1909 geführten Tagebuch entstanden waren.6 Die kurzen Prosastücke der Betrachtung und die längeren Erzählprojekte bilden zwei eng verbundene und zugleich gegensätzliche Tendenzen in Kafkas Frühwerk. Das Scheitern der „Novellen“ - und Roman-Ansätze mündet in die Arbeit an den – von Kafka so genannten – „Stückchen“, in dem Bemühen, die kleine Form zur Perfektion zu bringen.7 Der Beitrag dieser „Stückchen“ zur Entwicklung von Kafkas Erzählverfahren und Schreibweisen soll im vorliegenden Kapitel untersucht werden. Ich werde mich dabei auf einige der frühesten Texte aus der Hyperion-Veröffentlichung Betrachtung von 1908 konzentrieren.8 Von der ersten Fassung der Beschreibung eines Kampfes ausgehend, frage ich danach, wie Kafka von der „Novelle“ zur Betrachtung kommt und aus welchen Gründen er an dieser Form festhält. Welche Beziehungen bestehen zwischen dem großen Erzählprojekt, das Kafka in immer neuen und immer wieder abbrechenden Anläufen weiter zu treiben versuchte, und den Miniaturen, mit denen er erstmals als Autor auftrat?
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Neumann: „Nachbemerkung“ zu Franz Kafka: Ein Landarzt und andere Drucke zu Lebzeiten (KKA/TB, Band 1), Frankfurt/M. 1994, S. 353-358. Bohemia, 83. Jg., Nr. 86, 27.3. 1910 (Morgen-Ausgabe, Oster-Beilage). Vgl. KKA: Drucke zu Lebzeiten, Apparatband, S. 45. Franz Kafka: Betrachtung, Leipzig: Ernst Rowohlt Verlag, 1913 [erschienen Dezember 1912]. Im Tagebuch entstanden sind die Prosastücke Unglücklichsein, Das Unglück des Junggesellen, Der plötzliche Spaziergang und Entschlüsse; von den Texten Wunsch, Indianer zu werden, Entlarvung eines Bauernfängers und Das Gassenfenster existieren keine Manuskripte und keine weiteren Anhaltspunkte für die Datierung. „Stückchen“: Kafkas Bezeichnung für die kurzen Prosastücke der Betrachtung, dokumentiert in Briefen an Max Brod und den Rowohlt-Verlag (vgl. z.B. KKA: Briefe 1900-1912, S. 166 u. 172). Die Veröffentlichung Betrachtung von 1908 ist als solche bisher nicht Gegenstand der Forschung geworden (außer einer Erwähnung bei Ludwig Dietz: „Franz Kafka und die Zweimonatsschrift ‚Hyperion‘ “, in: DVjs 37/1963, S. 463-473). Die Forschung konzentriert sich hauptsächlich auf einzelne Texte; Überlegungen zu ihrem Kontext und zum inneren Zusammenhang gelten ausschließlich der späteren Buchveröffentlichung Betrachtung (1912).
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Diese Frage ist zunächst eine der Chronologie. Es ist gut denkbar, daß Kafkas Schreiben überhaupt mit kurzen Prosaskizzen und Reflexionen, mit „Betrachtungen“ also, begonnen hat. Mit der Publikation Betrachtung von 1908 griff Kafka auf Texte zurück, die wahrscheinlich bereits vor, zumindest aber während der Arbeit an der Beschreibung eines Kampfes entstanden waren. Entsprechende Ansätze finden sich bereits um 1902 in seinen Briefen an Oskar Pollak. Im Rahmen solcher frühen Experimente könnten die Stücke Kleider und Die Bäume entstanden sein. Sie wirken in der Beschreibung eines Kampfes wie Fremdkörper, als wären sie schon als fertige Texte in die Dialoge eingefügt worden.9 Überhaupt scheint ja die Beschreibung wie eine Collage aus lauter ineinander montierten Erzählstücken zu bestehen.10 Wäre die Erzählung am Ende nur eine Summe von unabhängig entstandenen Einzelteilen, also eigentlich eine Aneinanderreihung von Betrachtungen? Dagegen spricht, daß sich Kafkas „Novelle“ von einer Collage in einem zentralen Punkt unterscheidet. Ihr Ziel ist nicht oder nicht allein das Einbinden von Einzelteilen in eine übergreifende Konzeption. Die Beschreibung eines Kampfes ist der Versuch, den Erzählvorgang als immer wieder neu ansetzende, Gedanken und Bilder verknüpfende Textbewegung zu gestalten. Die Ebenen- und Perspektivenwechsel zwischen den wie montiert wirkenden Teilen sind integraler Bestandteil dieses Verfahrens. Die „Novelle“ soll sich als fortlaufender Übergang von einer Erzählebene in die nächste entwickeln. Die Brüche im Erzählkontinuum – wie etwa beim schroffen Wechsel zur „Geschichte des Beters“, die den Dicken für die Dauer der nächsten Erzählung in der Abbruchkante eines Wasserfalls hängen läßt – sind bewußte Inszenierungen von Übergängen. Daher sind die Brüche als eine Technik zu verstehen, neue Konstellationen zu schaffen, und nicht als Versuche, Nahtstellen zu kaschieren. – Der Übergang kann sich zwischen ganzen Erzählteilen, zwischen verschiedenen Bewußtseinszuständen, aber auch als Sprachbewegung zwischen einzelnen Sätzen stattfinden. Dieser Vorgang vollzieht sich mitunter innerhalb weniger Zeilen. In solchen Passagen entstehen sprach- und denklogische Operationen, die Aussagen und Assoziationen übereinander blenden und dabei zwischen Sinn und Anschauung neue Verbindungen herstellen. Diese Passagen können formal und inhaltlich in sich abgeschlossen sein wie Kleider und Die Bäume; sie können aber auch in die nächste Bewegung übergehen, wie die „Seekrankheit auf festem Lande“, die in den Dialog mit dem Beter mündet, oder die „Ansprache“ des
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Vgl. zu dieser Vermutung KKA: Nachgelassene Schriften und Fragmente I, Apparatband, S. 46-50, 5265, und KKA: Drucke zu Lebzeiten, Apparatband, S. 49, Anm. 1 u.ö. Vgl. die Mutmaßungen zum Entstehungsprozeß bei Jost Schillemeit: „Kafkas ‚Beschreibung eines Kampfes‘. Ein Beitrag zum Textverständnis und zur Geschichte von Kafkas Schreiben“, in: Der junge Kafka, hrsg. v. Gerhard Kurz, Frankfurt/M. 1984, S. 102-132, hier S. 106-108.
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Beters an den Rathausplatz, die im Gespräch mit dem Betrunkenen weitergeführt wird. Wenn man dieses Verfahren ernst nimmt, kann die Beschreibung eines Kampfes nicht als Ergebnis einer Collage von Betrachtungs-Texten gelesen werden. Sie erscheint vielmehr als der Versuch, die kurzen Prosa-Einheiten zu einer Geschichte auszuweiten, in der aus immer neuen Ansätzen eine Bewegung entsteht. Das so verfaßte Erzählprojekt scheitert allerdings, weil es anstelle einer Entwicklung eine Art fortgesetztes Auf-der-Stelle-Treten hervorbringt. Es schachtelt immer neue Geschichtenanfänge ineinander, ohne dabei zum Erzählen einer Geschichte zu gelangen; die Verweise und Bezüge bilden ein unendliches Netz, aber keine Intrige. Die Beschreibung zerfällt in einzelne Betrachtungen. Kann also das Erzählexperiment der Beschreibung nur in der Betrachtungs-Form, das heißt auf engstem Raum gelingen? Es scheint jedenfalls, als sei „Betrachtung“ nicht nur die früheste, sondern auch die erste gültige Form von Kafkas Schreiben.11 Wenn die als poetologische Grundlegung angelegte „Novelle“ nach ihrer Fertigstellung nur noch als „Steinbruch“ gedient hat, aus dem Kafka einzelne „Stückchen“ herauslöste, dann bedeutet das, daß in diesen Stücken etwas gelingt, während in der Erzählung, deren Teil sie waren, etwas nicht erreicht wurde.12 Dieses Verhältnis soll im folgenden genauer untersucht werden. Beziehen sich Gelingen oder Scheitern auf dasselbe Ziel? Wie verhalten sich die Betrachtungen zu dem literarischen Experiment einer neuen Beziehung zwischen Ich und Welt, Wörtern und Dingen, dessen Idee die Beschreibung eines Kampfes formuliert? Welche Rolle spielt die minimalistische Reduktion, die diese kurzen Prosastücke auszeichnet? Diesen Fragen werde ich mit einer Lektüre des Textes Kleider nachgehen (II.2). Aus der Analyse der sprachlichen Mittel dieses Textes ergibt sich eine weitere Frage. Wenn Kafkas Verfahren in der Miniatur gelingt, dann sind die kurzen Stücke der Betrachtung der Ort, an dem dieses Verfahren weiter entwickelt werden kann. Wenn Kafka an der kleinen Form festhält und die Reihe der kurzen Prosastücke bis 1912 immer noch erweitert, dann sind die aus der Beschreibung entnommenen Stücke Muster für etwas, das fortgesetzt wird. Mit Analysen der Texte Der Kaufmann, Der Fahrgast und Die Vorüberlaufenden aus der Betrachtung von 1908 (II.3 II.5) werde ich die Koordinaten dieser Entwicklung bestimmen. Welche Erzählformen entwickelt Kafka in diesen Texten, was führen sie weiter, welche neuen Mittel und Wege entdecken sie?
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Vgl. Reinhard Baumgart: „Von der ‚Beschreibung‘ zur ‚Betrachtung‘ rettet sich Kafkas Talent [...] in seine frühen Möglichkeiten [...].“ (Reinhard Baumgart: Selbstvergessenheit. Drei Wege zum Werk: Thomas Mann, Franz Kafka, Bertolt Brecht. Frankfurt/M. 1989, S. 172). „Steinbruch“: Die Metapher übernehme ich von Heinz Politzer: Franz Kafka, der Künstler, Frankfurt/M. 1965, S. 53.
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II Betrachtung
Aus dieser Untersuchung ergibt sich die These, daß sich in der Kurzprosa von Betrachtung wichtige Entwicklungen der Erzählverfahren und -formen vollziehen. Die Arbeit an den „Stückchen“ führte Kafka zu Entdeckungen und entscheidenden Weichenstellungen, die er ab 1909 in der experimentierenden Schreib-Arbeit im Tagebuch weiter verfolgte. Kafkas erste Veröffentlichung Betrachtung von 1908 wird in dieser Perspektive zur Scharnierstelle, die zwischen den frühen Erzählprojekten und der literarischen Werkstatt der Tagebücher vermittelt. 1.2 Betrachtung 1908: Zwischen Anschauung und Reflexion Der Titel Betrachtung weist in zwei Richtungen. Zum einen bezieht er sich auf eine Gattungstradition. Unter „Betrachtung“ wird eine allgemeine, im Barock religiöserbauliche, später vor allem philosophische Reflexion verstanden (meditatio, consideratio, contemplatio).13 Zum anderen verweist Kafkas Titel Betrachtung, anders als der gebräuchliche Plural „Betrachtungen“, auf den Akt des Betrachtens, auf das Sehen eher als auf das Nachdenken. Dies gilt insbesondere für diejenigen Prosastücke, die Kafka 1908 zuerst unter diesem Titel veröffentlichte. Im Gegensatz zu späteren Texten aus dem Buch Betrachtung von 1912 bevorzugen die frühen Betrachtungen die Anschauung gegenüber der Überlegung, den Blick aus dem Fenster gegenüber meditativen Innenansichten. Sie reflektieren die Beziehung zwischen Ich und Welt im Medium des Sehens. 13
Nach Gerhard Kurz: „Lichtblicke in eine unendliche Verwirrung. Zu Kafkas ‚Betrachtung‘ “, in: Text und Kritik, Sonderband: Franz Kafka, VII/1994, hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold, S. 49-65, hier S. 58. - Der Aufsatz von Kurz ist unter den wenigen Forschungsarbeiten zu Betrachtung der Beitrag, der am ausführlichsten auf Form und Struktur einzelner Texte eingeht. Kurz bietet einen facettenreichen Überblick über die Themen und Motivkomplexe von Betrachtung (1912) sowie über inhaltliche wie formale Bezüge innerhalb der Sammlung und weist nach, daß sie als Zyklus angelegt ist (G. Kurz, a.a.O., S. 53f.). Vgl. dort ebenfalls die Angaben zur Situierung von Betrachtung im Kontext der Prosaformen um die Jahrhundertwende (S. 50f., 53f.). Eine Erörterung des literaturgeschichtlichen Kontextes der Betrachtung als Form moderner Kurzprosa kann im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet werden. Von Interesse wäre hier insbesondere die Tatsache, daß James Joyces erste Epiphanien-Notizen im selben Zeitraum entstanden wie Kafkas früheste Betrachtungs-Texte. Walter Höllerer hat eine Verbindung zu Joyce in seinem Essay „Die Epiphanie als Held des Romans“ angedeutet: Kafka habe - wie auch Musil und Walser - seine literarische Technik in Momentaufnahmen geschärft, die sich Joyces „Subjekt-Objekt-Augenblicken“ vergleichen ließen (Walter Höllerer: „Die Epiphanie als Held des Romans“, in: Akzente 8/1961, H.1 u. 4, S. 125-137 u. 275-285, Zitat S. 135). Verwiesen sei auch auf Höllerers Aufsatz „Die kurze Form der Prosa“. Im Bemühen um eine Charakterisierung der Kurzgeschichte beschreibt Höllerer Phänomene, die Betrachtung in ähnlicher Form aufweist, wie die Hineinnahme von Motiven und Handlung in die Sprachbewegung und die Zerdehnung von Augenblicken in Sprach-Arabesken. Höllerer geht hier jedoch nicht auf Kafka ein (Walter Höllerer: „Die kurze Form der Prosa“, in: Akzente 9/1962, H.3, S. 226-245).
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Das Sichtbare ist der Ausgangspunkt, und Blicke sind der Gegenstand der betrachtenden Reflexion.14 Diese Auseinandersetzung mit dem Sehen ist von einer Distanz zur angeschauten Wirklichkeit gekennzeichnet, die über die kontemplative Distanz des Zuschauers zum Objekt hinausgeht. Das Subjekt der Betrachtung ist ein Ich, das von einer exzentrischen, ‚weltfremden‘ Position aus seinen Blick auf die Welt richtet. Als „die tagebuchartigen Anmerkungen eines seltsamen Mannes“ beschrieb Otto Pick, 1913 einer der ersten Rezensenten des Bändchens Betrachtung, dessen Inhalt.15 Dieser Mann sei eine „neue Art von Betrachter“. Er sehe „nie die Dinge an sich und auch nicht ihren Schein: Die Begriffe verschieben sich, Alltägliches steigert sich zum Außerordentlichen, Gespenstisches wird wohlvertraut. [...] In diesem Buche wird die Welt als etwas unendlich Rätselhaftes, in seiner derben Wirklichkeit bereits Unwirkliches betrachtet [...]“. Diese Spannung zwischen Alltäglichkeit und Unwirklichkeit erschien Pick neuartig und „unnachahmbar“. Auch andere Rezensenten sahen in Betrachtung das Dokument eines verschobenen Weltbezugs. Albert Ehrenstein las „Randbemerkungen eines verschwindensbereiten, unauffindbaren Zimmerherrn und Aftermieters des Lebens“, die ihn an die „seltenen Gebilde eines verstandesmäßig unverwüstbaren Traumes“ erinnerten.16 – Aus der verschobenen Sichtweise entsteht im Verlauf der Betrachtung eine Bewegung, die das Sichtbare verändert und eine nichtalltägliche Form von Erfahrung vermittelt. Diese Bewegung ist eine sprachliche. In den folgenden Lektüren werde ich ihr nachgehen und zeigen, wie sie ein neues Verhältnis von Anschauung und Reflexion, von Blick und Erscheinung, von Alltäglichem und Unwirklichem, oder eben: das Phantastische der Betrachtung konstituiert. Auf die Sprache in Betrachtung hat zuerst Kurt Tucholsky in seiner Rezension des Buches hingewiesen: „Es gibt nur noch einen, der diese singende Prosa 14
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James Rolleston thematisiert diese Beziehung als Ausdrucksform der problematischen Relation des modernen Bewußtseins zur Wirklichkeit. Von Henri Bergsons Begriff des ‚élan vital‘ ausgehend, expliziert er das Programm von Betrachtung als Wechselspiel zwischen zwei möglichen Haltungen des Bewußtseins („observing consciousness“ vs. „acting consciousness“), die mit den Kategorien von Zeit und Raum korreliert werden. „Betrachtung“ entstehe als „prototypical encounter between Self and World, in which the self is entirely conditioned by the objects surrounding it and the world is energized by the intense temporality with which the human consciousness infuses it.“ Im einzelnen zutreffende Beobachtungen werden zugunsten dieses Konstrukts einer antithetischen Struktur überformt. (James Rolleston: „Temporal Space: a Reading of Kafka's ‚Betrachtung‘ “, in: Modern Austrian Literature, Vol. 11/1978, Nr. 3-4, S. 123138, Zitate S. 127 u. 123.) Otto Pick: „Franz Kafka ‚Betrachtung‘ “ (1913), in: Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten (1912-1924), hrsg. v. Jürgen Born u.a., Frankfurt/M. 1979, S. 20-23, hier S. 22; die folgenden Zitate ebd. Albert Ehrenstein: „Franz Kafka. ‚Betrachtung‘ “ (1913), in: Franz Kafka. Kritik und Rezeption, a.a.O., S. 28-29, hier S. 29.
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schreiben kann: Robert Walser. [...] Es ist Melodie in dem, was er sagt, und wenn sich über die Berechtigung solcher Literaten streiten läßt, so bestimmt das nicht über das große Können Kafkas.“17 Die Betonung der „Melodie“ verweist auf die lyrische Qualität der Sprache in Betrachtung. Auch das Druckbild der Buchveröffentlichung „sollte“ – Gerhard Kurz zufolge – „mit dem großen Schriftgrad, der Zuordnung von Titel und Text, den großen Randflächen den Eindruck eines Gedichtes erzeugen“.18 Als lyrische Merkmale von Betrachtung benennt Kurz „Elemente, die charakteristisch sind für die dichte Struktur des Gedichts, wie Wiederholungen, Assonanzen, Rhythmisierungen, Musikalität, Evokationen, Allusionen, Metaphorisierungen, Mehrdeutigkeiten. Die größeren sprachlichen Einheiten (Sätze, Syntagmen) werden durchsichtig auf kleinere Einheiten, auf einzelne Wörter, Silben und Phoneme, im Unterschied zur narrativen Form, in der die kleinen Einheiten von den größeren absorbiert werden.“19 Friedhelm Kemp hat die Stücke der Betrachtung ebenfalls als Prosagedichte bezeichnet, nennt als Grund dafür jedoch nicht das Rhythmische und Melodische der Sprache, sondern ihre Bildhaftigkeit. „Wo das Sprechen aus konkreten Einzelhaftigkeiten sich vollzieht, können auch kleinste Gruppen von Sätzen für sich selbst stehen, vorausgesetzt, daß jeder dieser Sätze ‚inwendig ganz voll Figur steckt‘, wie das bei Kafka fast immer der Fall ist.“20 Kemp umschreibt das ‚poème en prose‘ als eine „kaleidoskopische Konfiguration“, in der „Bewegung, Wendigkeit, Gliederung, ganz allgemein das Choreographische und Pantomimische der Sprache im freien, gleichsam improvisierten Vortrag und Vollzug“ den Eindruck vermitteln, „daß für diese kurze Zeit, auf diesem engen Raum alles stimmt, aber nicht more geometrico, sondern, wie gesagt: pantomimisch“. Diese allgemeine Charakterisierung trifft mit Sicherheit auf Kafkas Texte zu, die ganz aus einer Sprachbewegung heraus entstehen. Die pantomimische oder gestische Qualität der Sprache wird ein wichtiger Gesichtspunkt der folgenden Analysen sein. Der Schwerpunkt meiner Untersuchungen zur sprachlichen Form liegt jedoch nicht auf den lyrischen Qualitäten der Betrachtung. Bildhaftigkeit und 17 18
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Kurt Tucholsky: „Drei neue Bücher“ (1913), in: Franz Kafka, Kritik und Rezeption, a.a.O., S. 19-20. G. Kurz, „Lichtblicke“, S. 51. Die Zuschreibung dieser Intention ist allerdings durch keine Äußerung des Autors gedeckt. Schriftgröße und Ausstattungsmerkmale wie das Velinpapier des Hyperion galten Kafka als Zeichen von Kostbarkeit und Gültigkeit, die er für seine Texte nicht beanspruchen wollte (vgl. einen Brief an Felice Bauer vom 8.11. 1912 über die Buchpublikation Betrachtung: „Wie gefällt Ihnen die Schriftprobe [...]? Sie ist zweifellos ein wenig übertrieben schön und würde besser für die Gesetzestafeln Moses passen als für meine kleinen Winkelzüge.“ (Briefe an Felice, S. 83). Vgl. G. Neumann, „Nachbemerkung“, a.a.O., S. 353. G. Kurz, „Lichtblicke“, a.a.O., S. 51. Die Verwendung dieser formalen Mittel demonstriert Kurz am Beispiel von Zerstreutes Hinausschaun. Friedhelm Kemp: Dichtung als Sprache. Wandlungen der modernen Poesie, München 1965, S. 67; das folgende Zitat S. 55.
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„Figur“, Gestus und Rhythmus treten zurück gegenüber einer Analyse des Erzählvorgangs. Denn Erzählvorgänge gibt es in diesen „Stückchen“, narrative Dynamik, Bewegungen, in denen sich ein betrachtendes Nachdenken vollzieht. Als Denk- und Erzählvorgang dreht sich diese Bewegung in ihrem Fortschreiten ständig in sich selbst zurück. Auf kleinstem Raum führen die Texte logisch-semantische Wendungen aus; sie inszenieren dialogische Vertauschungen von Objekt und Subjekt der Betrachtung, Innen und Außen, Ursache und Wirkung, Raum und Zeit. Kafka nannte sie in einem Brief an Felice Bauer „meine kleinen Winkelzüge“.21 Mit der Analyse ihrer Erzählbewegungen knüpfe ich an Reinhard Baumgart an, der „die unendliche, doch in sich abgeschlossene Bewegung“ in Betrachtung als „meisterhaft beherschtes Erzählmodell“ anspricht. Dabei werde „die Dynamik der Texte so gesteuert, daß sie keine Lösungen erreichen müssen und doch ihr Motiv und Problem und sich selbst in dem jeweiligen Ende – erschöpfen.“22 Für eine Entfaltung des Erzählvorgangs als Sprachbewegung ist eine zeitliche Ordnung, ein Nacheinander wesentlich. Den Betrachtungen liegt, wie ich zeigen möchte, ein narratives Kalkül zugrunde. Sie folgen Strategien, die einen Ablauf vom Anfang zum Ende gestalten. Diese Abfolge ist ein Merkmal, das die kurzen Skizzen von Lyrik unterscheidet. Die Betrachtung vollzieht sich als eine narrative Bewegung durch Raum und Zeit, die über die Augenblicke der lyrischen Stimmung hinausgeht. Allerdings sind diese Erzählvorgänge in ihrer kondensierten Kürze Wort für Wort durchgestaltet wie Gedichte. Diese Beschaffenheit macht eine äußerst detaillierte Lektüre notwendig. Der Autor der Betrachtung warnte seine Briefpartnerin Felice Bauer: „Es ist ja wirklich eine heillose Unordnung darin oder vielmehr: es sind Lichtblicke in eine unendliche Verwirrung hinein und man muß schon sehr nahe herantreten, um etwas zu sehn.“23 Mit den folgenden Analysen bin ich der Aufforderung, „nahe heranzutreten“, gefolgt, und habe es unternommen, den Weg nachzuzeichnen, auf dem die „Verwirrung“ zustandekommt.
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Vgl. den oben zitierten Brief an Felice Bauer vom 8.11. 1912. Baumgart verbindet dieses Erzählmodell mit den Themen des Frühwerks: „In diesen ebenso konzentrierten wie sehr weiten Sprachstücken kann Kafka kurz, emphatisch aufleuchten lassen, was ihn von Anfang an schreibend wie lebend bewegt, also Junggesellentum, Kindheit, Doppelgängerei, Frauen, das zerstreute und das in sich zusammengekrümmte Ich, Träume von Lebenserfolg und von existentieller Reinheit.“ (R. Baumgart, a.a.O., S. 172). Briefe an Felice, Brief vom 29./30.12. 1912, S. 218.
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2. Kleider 2.1 Zur Gleichnishaftigkeit der Prosastücke aus Beschreibung eines Kampfes Kleider und Die Bäume heben sich durch ihre Gleichnishaftigkeit vom Rest der Sammlung Betrachtung ab. Die Gleichnisrede verweist auf die Zugehörigkeit der beiden Stücke zur Beschreibung eines Kampfes, die von uneigentlichen Redeweisen und biblischen Anklängen geprägt ist. In der „Novelle“ fügt sich Kleider als Reflexion über „Mädchenschönheit überhaupt“ in das letzte Gespräch der Rahmenhandlung ein, in welchem der Ich-Erzähler seinen Bekannten in dessen Zweifeln an der Schönheit seiner Geliebten bestärken will.24 Kleider nimmt zentrale Themen der Erzählung auf: Das mit einem abendlichen Fest angedeutete Gesellschaftliche ist verbunden mit Theater-Illusion und scheinhafter Oberfläche sowie mit der Ambivalenz weiblicher Anziehungskraft. Verwandte Bilder finden sich im „Gespräch mit dem Betrunkenen“, dessen Erzähler fragt: „... ist das wahr, was man mir erzählt hat. Giebt es in Paris Menschen, die nur aus verzierten Kleidern bestehn und giebt es dort Häuser die bloß Portale haben [...]?“25 Den wichtigsten Bezugspunkt bildet das Gedicht, das als Motto der Erzählung vorangestellt ist: „Und die Menschen gehn in Kleidern / schwankend auf dem Kies spazieren / unter diesem großen Himmel, / der von Hügeln in der Ferne / sich zu fernen Hügeln breitet.“26 In kompositorischer Entsprechung zu diesem Beginn steht Kleider am Ende der Beschreibung. Der Bezug wird dadurch verdeutlicht, daß das Gespräch mit dem Bekannten nach dem Motiv der Kleider auch die Andeutung eines sonntäglichen Spaziergangs und einer Parklandschaft aufgreift. Das Motiv des Gekleidetseins wird im Gedicht durch die verfremdende Betonung des Alltäglichen („gehn in Kleidern“) mit dem Selbst- und Weltbezug der Menschen verbunden, der sich im Sozialen, gegenüber der „Ferne“ von Natur und gegenüber dem „Himmel“ als Andeutung von Transzendenz bestimmt. So steht Kleider vor dem Hintergrund der „schwankend[en]“ Erfahrung von existenzieller Unsicherheit, die alle Ich-Figuren der Beschreibung teilen.
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Kleider
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Diese Bezüge fordern dazu auf, Kleider als Metapher für die ‚condition humaine‘ zu lesen, wie es auch der Gestus der Erzählerfigur in Die Bäume zu empfehlen scheint („Wir sind nämlich so wie Baumstämme im Schnee“).27 Am breitesten ausgeführt wird eine solche Deutung in Mark Andersons Studie „Kafka's Clothes“.28 Kleidung wird hier zur Metapher für den Gehalt von Kafkas Werk. Anderson verortet Kafkas literarische Anfänge, im Ausgang von Oscar Wildes Diktum: „One should either be a work of art, or wear one“, im Kontext der Jahrhundertwende. Im Zeichen einer Verschmelzung von Kunst und Leben formuliere Kafka eine Ästhetik des Ornaments. Diese sei zugleich als Ästhetik des modernen, städtischen Lebens zu verstehen, das von OberflächenPhänomenen und Vermittlung durch (medialen, sozialen, wirtschaftlichen) Verkehr geprägt werde. Mit der Kleider-Metapher bindet Anderson dieses KunstProgramm wiederum an das Leben des Autors zurück, und zwar durch den Hinweis auf das Galanteriewarengeschäft von Kafkas Vater: „In this sense fashionable clothing, inevitably linked to the realm of his father, serves him as the exemplary figure for human existence in history, that is, in a world of impermanence, false appearances, error, and guilt.“ Von dieser Konstellation ausgehend, habe Kafka in seinen Werken die Welt als Kleidung präsentiert. In dieser Perspektive wird Kleidung schließlich zur poetologischen Definition: „Clothing is a matrix for reading the work as a whole. One might call it the ‚master trope’ in so far as it both informs and symbolizes the very act of covering blank sheets of paper with linguistic signs [...].“ Andersons Lesart zeigt, wie leicht die Gleichnishaftigkeit von Kafkas Texten dazu führt, dieselben in Allegorisierungen zu übersetzen. Dieses Muster bestimmt auch die Interpretationen des Stückes Die Bäume.29 Der die Baumstämme bedeckende Schnee wird – analog zu den Kleidern – gemeinhin als Metapher für Täuschung und Schein gelesen, die undurchsichtige Beziehung zwischen den Stämmen und dem Boden als Gleichnis für das problematische Verhältnis von Realität und Erscheinung. Daß eine solche Übersetzung in Sinngehalte dem Text nicht gerecht werden kann, zeigt die Analyse von Jörgen Kobs. Er arbeitet die offene Form der Sinnstrukturen in Die Bäume heraus, die keine hinter dem Gleichnis liegende Bedeutung verkleiden, sondern durch Aussparung und Andeutung eine nicht eindeutig aufzulösende Bedeutsamkeit konstituieren.30 27 28
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BK 110. Mark Anderson: Kafka's Clothes. Ornament and Aestheticism in the Habsburg Fin de Siècle, Oxford 1992. Vgl. insbesondere Kap. I: „The Traffic of Clothes“. Zur Interpretation von Kleider vgl. ebd., S. 30-32. Die folgenden Zitate S. 4 u. 3. Vgl. z.B. Ingeborg Henel: Kafka gelinge es hier, „eine abstrakte Idee vollkommen durch ein Bild auszudrücken.“ (Ingeborg Henel: „Periodisierung und Entwicklung“, in: Kafka-Handbuch, hrsg. v. Hartmut Binder, Stuttgart 1979, Bd. 2, S. 220-241, hier S. 225). Jörgen Kobs: Kafka. Untersuchungen zu Bewußtsein und Sprache seiner Gestalten, hrsg. v. Ursula Brech, Bad Homburg 1970, S. 7-19. Vgl. auch Kap. I.
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II Betrachtung
Meine Analyse von Die Bäume im ersten Kapitel gelangte zu einem ähnlichen Ergebnis. Sie führte zu der These, daß alles, was die Gleichnisse mitteilen, in dem sprachlichen Prozeß liegt, aus dem sich das Gleichnis entfaltet, und nichts ‚dahinter‘. Von diesem Ansatz ausgehend, widmet sich die folgende Lektüre von Kleider den sprachlichen Verfahren. Das Problem der Bedeutung bzw. der Deutbarkeit ist dabei nicht primär von Interesse. Stattdessen werde ich die Architektur des Gleichnisses, d.h. den Aufbau seines Vergleichsbildes rekonstruieren, um zu zeigen, in welcher Weise der Text mit Metaphern arbeitet. Damit verbunden ist eine erste Antwort auf die Frage, wie sich die Betrachtungen auf die poetologischen Positionen des „Novellen“-Projekts beziehen lassen, und inwiefern sie darüber hinausgehen.31 Bei aller Ablehnung allegorischer Interpretationen muß zugestanden werden, daß Kleider wie kein anderer von Kafkas frühen Texten dazu einlädt, als Allegorie gelesen zu werden, sogar im barocken Sinne. Der Text beginnt mit einer Formel, die an Barthold Hinrich Brockes’ erbauliche Betrachtungen anschließen könnte: „Oft wenn ich [...] sehe, [...] dann denke ich...“. Das Gesehene wird zum Anlaß einer Reflexion, die auf Bedeutung zielt.32 Das Thema von Kleider, die weibliche Schönheit, ist ein klassischer Gegenstand solcher Betrachtung. Es wird hier in einem zweigliedrigen Vergleich gefaßt. Mädchengesichter seien als „natürlicher Maskenanzug“ verzierten, kostbaren Kleidern vergleichbar; wie die Schönheit von Kleidern, vergehe auch die der Gesichter durch das tägliche Tragen. In diesem Vergleich werden dem Thema der weiblichen Schönheit die Topoi des schönen Scheins, der ‚vanitas‘ (Eitelkeit) und des ‚memento mori’ assoziiert. Auch der Vergleich selbst ist ein Topos: Er zitiert die alte Vorstellung vom Leib als der irdischen Hülle der Seele und, spezieller, ein biblisches Gleichnis: „Wir alle 31
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Die inhaltlichen Bezüge zur Beschreibung eines Kampfes werde ich hier nicht diskutieren. Ich habe bereits im I. Kapitel gezeigt, warum ich es für sinnvoll halte, die ‚schwankende Existenz‘ in ihrer Relation zu einem sich ausspinnenden Assoziationsgeflecht zu beschreiben, statt sie als Aussage zur ‚condition humaine‘ zu interpretieren. Statt aber diese Assoziationsverbindungen für Kleider noch einmal zu aktualisieren, wende ich mich der inneren Struktur des Stückes zu. - Auch auf den Kontext der Jahrhundertwende kann ich nicht eingehen. Daß dieser Bezug durchaus sinnvoll wäre, belegt Andersons Studie jenseits von allegorisierenden Interpretationen durch viele aufschlußreiche Hinweise auf die sozial- wie kulturhistorischen Dimensionen ihres Themas. Im Kontext von Kleider interessant wäre insbesondere Oskar Bies Essay „Maskenzüge“, 1904 in der Neuen Rundschau erschienen (M. Anderson, a.a.O., S. 40, Anm. 16). Von hier aus könnte Kleider in Bezug gesetzt werden zu den Gesichtsmasken in Rilkes Malte Laurids Brigge (1910). Weitgehend unergiebig Peter Cersowsky: „Mein ganzes Wesen ist auf Literatur gerichtet“: Franz Kafka im Kontext der literarischen Dekadenz, Würzburg 1983. Nach diesem Schema verfahren die Betrachtungen von Brockes, die Momente von Anschauung durch daran anknüpfende Reflexion als Zeichen einer geistigen Bedeutung lesbar machen. Vgl. z.B.: „Ich seh' die kleinen Eulchen schweben, / Die man Ephemeris sonst heisst; / Die einen eintz'gen Tag nur leben. / Bey dem Geschöpfe denckt mein Geist: / Wie flüchtig ist doch eure Zeit! [...]“ Zitiert nach: Barthold Hinrich Brockes: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott. Faksimile der Ausgabe 1738, Nachdruck Stuttgart 1965, S. 281.
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werden alt wie ein Kleid; es ist ein ewiges Gesetz: Alles muß sterben.“ (Jesus Sirach 14,17).33 Obwohl diese Gedankenverbindungen nicht neu sind, ist der Vergleich, der sie in Kleider zusammenbringt, durchaus ungewöhnlich. Der Text suggeriert, die Mädchen seien selbst schuld daran, daß die Schönheit ihrer Gesichter vergeht, weil sie sie täglich tragen – wie ein kostbares Kleid, das bei solcher Unachtsamkeit schnell abgenutzt würde. Dadurch wird in den altbekannten Vergleich eine seltsame Verdrehung eingetragen. Dennoch erscheint die Gleichsetzung von Gesicht und Kleid im Schlußbild einleuchtend und eindrücklich. Um zu zeigen, durch welche Kunstgriffe Kafkas Gleichnis diesen Effekt erreicht, werden die folgenden Lektüren von Kleider den sprach- und denklogischen Prozessen des Textes Satz für Satz folgen. Kleider Oft wenn ich Kleider mit vielfachen Falten, Rüschen und Behängen sehe, die über schönen Körper schön sich legen, dann denke ich, daß sie nicht lange so erhalten bleiben, sondern Falten bekommen, nicht mehr gerade zu glätten, Staub bekommen, der, dick in der Verzierung, nicht mehr zu entfernen ist, und daß niemand so traurig und lächerlich sich wird machen wollen, täglich das gleiche kostbare Kleid früh anzulegen und abends auszuziehn. Doch sehe ich Mädchen, die wohl schön sind und vielfache reizende Muskeln und Knöchelchen und gespannte Haut und Massen dünner Haare zeigen, und doch tagtäglich in diesem einen natürlichen Maskenanzug erscheinen, immer das gleiche Gesicht in die gleichen Handflächen legen und von ihrem Spiegel widerscheinen lassen. Nur manchmal am Abend, wenn sie spät von einem Feste kommen, scheint es ihnen im Spiegel abgenützt, gedunsen, verstaubt, von allen schon gesehn und kaum mehr tragbar.34
2.2 Gespiegelte Blicke 2.2.1 Der erste Satz: Kleider, Schönheit und Vergänglichkeit Der Text besteht aus drei Sätzen, deren Abfolge einem Syllogismus ähnelt. Die ersten beiden Sätze formulieren zwei Bedingungen, der dritte zieht die Schlußfolgerung. Der erste Satz eröffnet diese Vergleichs- und Denkoperation mit einer Reflexion über kostbare Kleider. An die Beschreibung, „Kleider mit vielfachen Falten, Rüschen und Behängen“, schließt sich eine Überlegung, die Betrachtung an. Der Erzähler denkt darüber nach, wie schnell solch aufwendig 33
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Zitiert nach: Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift: Die Bibel. - Der Hinweis bei Joseph Vogl: Ort der Gewalt. Kafkas literarische Ethik, München 1990, S. 34. B 28f.
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verzierte Kleider verschmutzen und altern. Diese Reflexion zielt – im Gegensatz zu ihrem barocken Vorbild – nicht direkt auf die Bedeutsamkeit des Gesehenen, die Vergänglichkeit der Schönheit. Sie bleibt so konkret und pragmatisch, daß sie fast komisch wirkt. Die Aufmerksamkeit des Betrachters heftet sich mit scharfem Blick an die Verzierungen; seine Redeweise gleicht der einer besorgten Hausfrau, die die gefältelten Behänge nur als Gegenstand zukünftiger und vergeblicher Arbeit wahrnimmt. Falten werden „nicht mehr gerade zu glätten“, Staub wird „nicht mehr zu entfernen“ sein. Das Thema Vergänglichkeit ist nur angedeutet in diesem ‚Hausfrauen‘-Blick, der den gegenwärtigen schönen Anblick wie ein Vexierspiegel ins Futur II verwandelt: die Kleider werden schon bald nurmehr schön gewesen sein. An diesen Gedanken schließt ein zweiter Relativsatz an, der die Schlußfolgerung des reflektierenden Ich formuliert: „daß niemand so traurig und lächerlich sich wird machen wollen, täglich das gleiche kostbare Kleid früh anzulegen und abends auszuziehn“. Aus der Sorge um die schöne Hülle folgt die Verhaltensregel, diese möglichst zu schonen und nicht täglich zu tragen. Diese Maxime wird allerdings nur implizit aufgestellt. Der Satz überspringt sie, denn die Reflexion verschiebt sich von dem Schicksal des Kleides auf das der Person, die es trägt. Sie wird sich vor der Öffentlichkeit „lächerlich“ und sich selbst „traurig“ machen. Und zwar nicht: weil das Kleid abgetragen wird – diese Begründung ist zwar vorausgesetzt, bleibt aber ungenannt – sondern: sie wird sich traurig und lächerlich machen, wenn sie es täglich trägt. Die Bedingung wird der Begründung substituiert. Zwar wird dadurch sinngemäß das Gleiche ausgesagt; aus dem täglichen Tragen folgt ja die im ersten Relativsatz vorausgesehene Abnutzung. Dieser Schritt kann also ausgelassen werden. Dadurch aber stellt der Satz einen Kurzschluß her zwischen dem Schicksal der Person, nicht des Kleides, und dem täglichen Tragen. Dieser Vorgang wird im weiteren Verlauf bedeutsam werden. Auch wenn die Verhaltensregel, etwas Schönes nicht täglich zu tragen, nicht explizit behauptet wird, muß sie doch mitgedacht werden. „Daß niemand so traurig und lächerlich sich wird machen wollen“, ist eine Suggestivformel, die eine schon beantwortete rhetorische Frage voraussetzt und die Antwort darauf nochmals einfordert: nein, das wird niemand wollen. Man wird sich also an die Maxime halten und etwas Schönes nicht täglich tragen. Statt nun diese Frage an die im nächsten Satz genannten Mädchen zu richten, die doch als Trägerinnen solch verzierter Kleider allein in Frage kommen, setzt der Erzähler das höchst allgemeine, noch nicht einmal geschlechtlich bestimmte „niemand“. Dadurch ergeht die Aufforderung zur beipflichtenden Antwort an den Leser. Das tägliche Tragen wird mit dem Vorgang des täglichen An- und Ausziehens ausgemalt, ohne daß das Wort ‚tragen‘ genannt würde. Es wird nur indirekt, über die Bildvorstellung suggeriert. In diese Vorstellung des Tragens fügt sich die Beschreibung der Kleider, die „über schönen Körper schön sich legen“. Zugleich geht sie einen Schritt darüber hinaus. Die auffällige Parallelisierung
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suggeriert Ähnlichkeit und nähert Körper und Kleid einander an. In dieser Annäherung werden die Eigenschaften von Hülle und Körper kontaminiert. Die Kleider werden nicht als ‚schön‘ bezeichnet, sondern sie „legen“ sich „schön“ „über schönen Körper“, sie werden also schön, indem sie sich dem Körper mimetisch angleichen.35 So wird eine Vorstellung von Hülle eingeführt und zugleich die Vorstellung von zwei Häuten, von (Kleider-)Haut über nackter Haut. Diese Technik der Andeutung ist die Voraussetzung für die Entfaltung des Gleichnisses, die der zweite Satz unternimmt. 2.2.2 Der zweite Satz: Gesichter, Zeigen und Erscheinen Auch der zweite Satz beschreibt eine Alltagsbeobachtung. Mit dem ersten Wort – „Doch“ – wird behauptet, daß sie der zuvor formulierten widerspreche. Der Betrachtende berichtet von Mädchen, die schön (wie die Kleider) sind und trotzdem jeden Tag mit dem gleichen schönen Gesicht „erscheinen“. Dieser Widerspruch läßt sich nicht anders ausdrücken als mit den Worten des Textes, denn würde man etwa sagen, „die trotzdem jeden Tag dasselbe Gesicht haben“, erschiene der Vergleich absurd, denn es ist ja selbstverständlich, daß man jeden Tag dasselbe Gesicht hat und daß Gesichter genau in diesem Punkt nicht den Kleidern vergleichbar sind, die man bekanntlich wechseln kann. (Gerade dieser Umstand aber, den der zweite Satz übergeht, macht später die Pointe des dritten und letzten Satzes aus.) – Obwohl ungewöhnlich, ist es wiederum nicht gänzlich falsch, zu sagen, daß die Mädchen jeden Tag mit demselben Gesicht „erscheinen“. Es ist nur eine etwas unangemessene Redeweise, die das Selbstverständliche verdreht, als läge darin ein Skandal. Die verwunderte Haltung des Erzählers ergibt sich aus der im ersten Satz implizierten Maxime. Es gibt, wie man sieht, sehr wohl Leute, die sich unbedingt „traurig und lächerlich [...] machen wollen“: so könnte man die para-logische Argumentation des Textes ausformulieren. Damit wird auf die Zustimmung rekurriert, die der Text den Lesern abverlangt hatte. Sie erscheint jetzt als verfrüht, denn offensichtlich stimmt die Behauptung nicht, der wir zugestimmt haben. Diese Form der Bezugnahme auf den ersten Satz stellt einen Dialog her: als ob der Erzähler den Mädchen ihre Uneinsichtigkeit und Unvorsichtigkeit vorwürfe, während diese darauf beharrten, ihr Gesicht weiterhin täglich zu tragen, also 35
Joseph Vogl liest dieses Verhältnis von Kleidern und Körpern im Zeichen einer Dialektik von Verhüllen und Zeigen. Die Kleider verhüllen den Körper und zeigen ihn zugleich als „schönen“, bzw. bringen seine dem Blick verborgene Schönheit zur Erscheinung. Diesen Gedanken verbindet Vogl mit dem Thema der verhüllenden/offenbarenden ‚draperie mouillée‘ und ihrer Bedeutung für die literarische Konstruktion des schönen (weiblichen) Körpers (J. Vogl, a.a.O., S. 32-35 u. S. 39).
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die Position des Selbstverständlichen gegen die verdrehte Sichtweise des Betrachters behaupten. Denselben Dialog führt der Text mit den Lesern: als ob diese sich weigerten, den übertrieben wirkenden Vergleich zu akzeptieren, und stattdessen darauf beharrten, daß die empörte Verwunderung des Erzählers überzogen sei. Der Vergleich wird also nicht einfach gesetzt. Indem die Sätze auf ihre eigenen Setzungen rekurrieren, diskutieren sie über die Berechtigung des Vergleichs, den sie zugleich schon vollziehen. Zentral dafür ist das Wort „wollen“, das der Leser in der rhetorischen Frage bereits akzeptiert hat, und das nun den verqueren Eindruck erweckt, daß die Mädchen sich absichtlich lächerlich machen wollten: als ob es in ihr Belieben gestellt sei, ihre Gesichter anders als täglich zu tragen. Damit wird das Alltägliche umgewendet ins Staunenswerte. Diese Umwendung wird begleitet und erleichtert durch eine ständige Ironisierung. Es bleibt deutlich, daß es sich um eine Redeweise handelt, die sagt, daß die Mädchen tagtäglich mit demselben Gesicht „erscheinen“, und daß der Sprecher nur vorgibt, nicht zu wissen, daß sie keine andere Wahl haben. – Diese Verschiebungstaktik zwischen zwei abwechselnd und immer genau verkehrt aufeinander bezogenen Behauptungen ist den Dialogen vergleichbar, mit denen die Bewohner von Lewis Carrolls „wonderland“ ihrer Besucherin Alice den Kopf verdrehen. Wie diese funktioniert Kafkas dialogischer Text nach dem Prinzip: „the more you argue, the farther you get from the point“, und wie sie bedient er sich in seiner Verkehrungs-Argumentation der Wörter und der autonomen Logik sprachlicher Aussagen.36 Die beiden Behauptungen, auf denen die dialogische Beweglichkeit des Vergleiches beruht, sind je für sich richtig. Es ist zweifellos so, daß die Mädchen jeden Tag das gleiche Gesicht haben und zeigen, und ebenso unwiderlegbar ist es, daß kostbare Kleider sich bei täglichem Tragen abnutzen. Verdreht ist nur die Art und Weise, wie sie miteinander verschränkt werden. Die Engführung der beiden Beobachtungen über Kleider und Mädchen konzentriert sich in der Metapher vom „natürlichen Maskenanzug“. An dieser Metapher hängt die Überzeugungskraft des zweiten Satzes und damit des ganzen Gleichnisses. Allein dieser Ausdruck motiviert die Verwendung der Worte „zeigen“ und „erscheinen“, die sich auf das Gesicht beziehen, aber dabei an etwas denken lassen, das man trägt wie ein Kleid. Ließe man den „Maskenanzug“ weg, würde der vom Erzähler behauptete Widerspruch der zweiten Beobachtung zu der des ersten Satzes nur als bemühte Konstruktion erscheinen. Er wäre weder prägnant und einleuchtend noch ärgerlich schief, denn jener unauflösbare Dialog, ob und inwiefern Gesichter und Kleider überhaupt vergleichbar sind, würde gar nicht erst zustandekommen.
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Lewis Carroll: The Two Clocks, in: The Complete Works of Lewis Carroll, London 1988, S. 1109.
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Doch sehe ich Mädchen, die wohl schön sind und vielfache reizende Muskeln und Knöchelchen und gespannte Haut und Massen dünner Haare zeigen, und doch tagtäglich in diesem einen natürlichen Maskenanzug erscheinen ...
Der „natürliche Maskenanzug“ ist der Kern der intrikaten bild- und denklogischen Operation, die der Text mit der Engführung der beiden Alltagsbeobachtungen unternimmt. Es handelt sich um die Übertragung eines Unbelebten aus dem Bildbereich der Kleider (Kostüm, Theater, Verkleidung) auf das Belebte, das Gesicht. Das Gesicht als Maske – das weibliche zumal – ist eine gängige Metapher. Sie bietet sich so selbstverständlich an, als wäre sie die einzig mögliche Verbindung von Gesicht und Kleid. Diese Selbstverständlichkeit verdeckt die Frage, ob hier überhaupt von einer Maske die Rede ist, also von Lüge, Täuschung und Verkleidung? Der „Maskenanzug“ wird ebenso bildlich und genau beschrieben wie die Kleider. Im Gegensatz zu diesen handelt es sich beim Gesicht um eine Oberfläche ohne Verzierungen. Von Schminke ist jedenfalls nicht die Rede. Dieses Gesicht ist nicht verdeckt oder verhüllt, es ist nackte Haut. Seine Schönheit ist körperlich: „vielfache reizende Muskeln und Knöchelchen“, darüber „gespannte Haut“, aus der „Massen dünner Haare“ wachsen. Das Gesicht ist mit einem taktilen Blick gesehen, der einen sinnlichen Eindruck der Qualitäten dieser Schönheit vermittelt. Sie liegt nicht in einer schönen Form, sondern in seiner Jugendlichkeit: Beweglichkeit in der Erscheinung von „vielfache[n]“ Muskeln und verniedlichend verkleinerten „Knöchelchen“, Glätte der Haut und Üppigkeit des Haares. Die Worte, die dies beschreiben, können allerdings auch wie ein Vexierbild umklappen. Muskeln, Haut und Knochen zitieren das greisenhafte Gegenteil der Jugendschönheit und sprechen eine versteckte Vanitas-Warnung aus. Die „vielfache[n] reizende[n] Muskeln und Knöchelchen“ werden durch die parallelisierende Satzstellung zu Entsprechungen der „vielfachen Falten, Rüschen und Behänge“, welche die kostbaren Kleider schmücken. Obwohl und gerade weil also dieses Gesicht ungeschminkt und unverziert ist, wird es zur ‚natürlichen‘ Version des kostbaren Kleides: als hätte Mutter Natur aus Muskeln und Knöchelchen, Haut und Haaren einen „natürlichen Maskenanzug“ geschneidert. Damit aber wird das Natur-Gesicht zu einem vom Künstlichen abgeleiteten. Der Inbegriff des Nicht-Natürlichen, die kunstvolle Verkleidung, wird als Vorbild der Natur ins Umgekehrte sinnverdreht. Diese Verkehrung enthält eine ironische Pointe, weil sie auf ganz natürliche Weise vor sich zu gehen scheint. Das Wort „natürlich“ vor dem „Maskenanzug“ bezieht sich wie natürlich auf das ungeschminkte Natur-Gesicht aus Muskeln und Haut – obgleich der SinnVerschiebungs-Vorgang, der durch diese Verbindung zwischen Wort und Anschauung in Gang gesetzt wird, jeder Natürlichkeit spottet. Dieser Anschein eines natürlichen Bezugs wird durch die Kontamination der Eigenschaften von Gesicht und Kleid erreicht. Die Beschreibung des schönen
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Gesichts als Haut legt fast von selbst den Vergleich zu den neuen, noch unzerknitterten Kleidern nahe, die ja ebenfalls, wie es der erste Satz beschrieben hatte, wie eine zweite Haut „über schönen Körper schön sich legen“. Die mit jenem Bild schon vorbereitete Vorstellung von den Kleidern als Hülle tritt nun im assoziierenden Vergleich an die Stelle des „Maskenanzugs“. Dadurch aber wird nun der Körper selbst, d.h. die Haut, zur Hülle wie ein Kleid. Semantisch ist diese Verbindung von Nacktheit und Hülle – Nacktheit als Hülle – widersinnig. Als sinnliche Vorstellung ist sie hingegen um so einleuchtender. Das Gesicht ist Haut, die Haut ist wie das schöne Kleid: durch diese Engführung in der Anschauung verdreht sich im Zuge der Übertragungsoperation die Sichtweise. Die Metapher vom „Maskenanzug“ bringt nicht eigentlich zwei getrennte Bildbereiche zusammen, sie ist vielmehr Ausdruck der Identität von Gesicht und Kleid: Haut und Haut. Die vertraute Metapher ist also nicht die, für die wir sie halten. Sie funktioniert genau nicht in der Weise, die das bekannte Bild vom Gesicht als Maske nahelegt. Zum einen spricht die Beschreibung des Gesichts dem semantischen Gehalt der Maske geradezu Hohn: statt Verkleidung und Täuschung sieht man hier pure Natur, statt Verhüllung Nacktheit. Diese ist sogar durchsichtig auf „reizende Muskeln und Knöchelchen“ hin, was starre Masken niemals sind. Die in der Metapher ‚Maske‘ für ‚Gesicht‘ angelegte Vergleichsfunktion kann so nicht zum Tragen kommen; angesichts der Beschreibung dieses Gesichts ist es eigentlich vollkommen unangemessen, von ‚Maske‘ zu sprechen. – Zum anderen aber macht gerade die Beschreibung, die der Maske widerspricht, das Gesicht zu Haut und verschmilzt damit die beiden Bildbereiche von der anderen, sinnlichen Seite her. In der Verkehrung der metaphorischen Übertragungs-Operation zwischen Maske und Gesicht, vermittelt über die Vorstellung der Kleider, vollzieht sich eine um so innigere Verbrüderung in der Anschauung. Man glaubt der Metapher, die man zu kennen meint, aber man glaubt ihr aus den falschen Gründen. Sie ist ein Trick, und man fällt darauf herein, weil sie die Verbindung Gesicht – Kleid so augen- und sinnfällig zugleich vermittelt. Unter der Hand wird dabei die Beziehung von Natürlichkeit und Künstlichkeit in ihr Gegenteil verkehrt. Bei dieser Verdrehung hilft die Ironie, die in der Benennung des Gesichts als „natürlicher Maskenanzug“ liegt. Ein solcher Anzug ist etwas Absurdes, wieso sollte die Natur Verkleidungen schneidern oder sich verkleiden wollen? In dem offensichtlich Unpassenden, Sinnwidrigen dieser Bezeichnung liegt ein Witz, der die Aussage modifiziert, indem er deutlich macht, daß eine solche Redeweise nicht ganz ernst gemeint sein kann. Das Gewicht des Vergleichs wird so in Zweifel gezogen; der Vergleich gibt zu, daß er nicht eigentlich spricht und nicht wirklich zutrifft, sondern nur eine Übertragung darstellt. Dieser Unernst aber unterstützt die Überblendung, die sich im Hintergrund und aller Ironie zum Trotz um so unauflöslicher vollzieht.
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Das Bild der Maske wird trotz allem nicht zugunsten der Haut durchgestrichen. Nachdem die Maske fast zu Haut geworden ist, überblendet der zweite Satzteil Gesicht und Kleid in umgekehrter Richtung: ... und doch tagtäglich in diesem einen natürlichen Maskenanzug erscheinen, immer das gleiche Gesicht in die gleichen Handflächen legen und von ihrem Spiegel widerscheinen lassen.
Das Gesicht scheint der Person tatsächlich äußerlich zu sein, gar nicht zu ihr zu gehören. In den Prädikaten „zeigen“, „in die Handflächen legen“ und „widerscheinen lassen“ deutet sich dieses Verhältnis zum Gesicht an, das in der zwar ungewöhnlichen, aber nicht ungrammatischen Formulierung behandelt wird wie ein Ding, das man besitzt, zu dem man sich verhalten kann. Wichtig für diese Übertragung ist der zweite Wortteil „Anzug“. „Anzug“ vermittelt die Beziehung zu der Vorstellung, etwas jeden Tag zu tragen – nämlich: „früh anzulegen und abends auszuziehn“, wie im ersten Satz gesagt. Damit kommen Gesicht und Kleid neu in Verbindung: die Vorstellung vom Tragen wird zu einem zweiten ‚tertium comparationis‘. Diese Vorstellung des Tragens eines Anzugs/eines Kleides wird auf ebenso sinnlich-konkretem Weg eingeführt wie zuvor die Maske über die Vorstellung von Haut. In ihrer wie selbstverständlichen Sinnfälligkeit macht diese Verbindung vergessen, daß das Tragen mit dem ersten ‚tertium comparationis‘, der Haut, vollständig unvereinbar ist (eine Haut kann eben nicht getragen und ausgezogen werden wie ein Anzug). In der Sprachbewegung des Vergleichs ergibt sich ein neues Verhältnis zwischen Sinn und Anschauung. Diese komplexe Verschiebungs-Operation ist mit dem Begriff ‚Metapher‘ nur unzureichend zu erfassen. Der Sinn entfaltet sich nicht aus der Übertragung des einen Bildbereichs auf den anderen, sondern durch die in verschiedene Richtungen zugleich verlaufende Überblendung und Verschmelzung der Vorstellungen ‚Haut‘ und ‚Tragen‘. Diese Operation beruht auf dem Kunstgriff, den Vergleich durch zwei Wege, zwei ‚tertii comparationis‘ zu vermitteln und zwischen diesen beiden Möglichkeiten gleichsam Stand- und Spielbein ständig zu wechseln. Das zweiteilige Substantiv „Maskenanzug“ selbst ist das Ergebnis der metonymischen Verschiebung der beiden Glieder des Vergleichs: aus Kleid wird Anzug, aus Gesicht Maske. In diesem Wechselspiel entsteht die „Betrachtung“, die Sichtweise, durch die der Erzähler dem Leser das Gesehene zeigt. Sie vermittelt sich durch die Verwendung der Ausdrücke „zeigen“ und „erscheinen“, die beschreiben, was hier zu sehen ist und als was es gesehen wird. Diese Ausdrücke setzen die Verdrehungen in Gang und machen sie durch den Bezug auf den „natürlichen Maskenanzug“ im wörtlichen Sinne ‚einsichtig‘. Wir sehen, daß das Gesicht als etwas benutzt wird, mit dem die Mädchen sich „zeigen“ und in dem sie „erscheinen“. Auf den Bericht des Erzählers, der beobachtet, daß die Mädchen jeden Tag dasselbe Gesicht tragen („Doch sehe ich Mädchen ...“), folgt am Ende des Satzes der Blick in den Spiegel, der es ihnen Abend für Abend bestätigt. Mit dem Spiegel
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wird in den Satz ein zweiter Blick eingeführt. Er wiederholt die verdrehte Sichtweise, die die Aussage des Erzählers behauptet hatte. Denn wenn es heißt, daß die Mädchen „immer das gleiche Gesicht [...] von ihrem Spiegel widerscheinen lassen“, dann erweckt der Satz den Eindruck, als könnten die Mädchen dem Spiegel befehlen, ihr Bild zu zeigen. Sie sehen nicht ihr Gesicht an, sondern sie lassen es sich zeigen – als eben jenes Gesicht, das sie selbst, wie der Erzähler gesagt hat, „zeigen“. Damit schreibt sich die Sichtweise des Erzählers in den Blick der Mädchen auf sich selbst ein. Deren das eigene Bild kontrollierende Blick in den Spiegel macht das Gesicht zum allabendlich bestätigten Besitz seiner Trägerin und bestätigt damit den Blick des Erzählers auf den „natürlichen Maskenanzug“, in dem die Mädchen tagtäglich in der Öffentlichkeit „erscheinen“. Die Operation der Überblendung von Gesichtern und Kleidern wird unterstützt durch die parallele Konstruktion der beiden Sätze. Auf die Beschreibung des Gesehenen folgt in beiden die Reflexion. Auch einzelne Worte beziehen sich wiederholend auf einander. Besondere Bedeutung hat dabei die Parallelität von „täglich das gleiche [...] anzulegen“ und „tagtäglich in diesem einen [...] erscheinen“. Diese Formulierung initiiert den Vergleich der zwei Alltagsbeobachtungen, der letztlich nur darauf beruht, daß beides, das Tragen von Kleidern und das Zeigen der Gesichter, täglich und immer wieder geschieht. Über diesen Bezug hinaus greift die parallelisierende Wiederholung weiter auf den letzten Teil des Satzes aus, auf die ebenfalls täglich wiederkehrende Handlung, vor dem Spiegel „immer das gleiche Gesicht in die gleichen Handflächen [zu] legen“. Diese Handlung bildet eine Parallele zu der ebenfalls repetitiven Handlung, die Kleider „früh anzulegen und abends auszuziehn“. Wie ein Echo verbindet die Wiederholung die Handlungen, die dadurch ähnlich werden, obwohl die auf diese Weise zusammengebrachten Elemente eigentlich gar nicht benachbart sind. 2.2.3 Der dritte Satz: Erscheinungen im Spiegel Mit dem dritten Satz wird eine Situation entworfen, die zu den vorigen, „oft“, „täglich“ bzw. „tagtäglich“ wiederholten im Gegensatz steht: „Nur manchmal“ findet sie statt. Damit beginnt nach den regelhaften und allgemeinen Beobachtungen die Schilderung einer Erfahrung. Der Erzähler berichtet von einem zweiten, neuen Blick der Mädchen in den Spiegel, der aus der allabendlichen Kontinuität herausfällt. Dieser Blick zieht die Summe aus den im ersten und zweiten Satz dargestellten Serien täglich wiederholter Abläufe. Nur manchmal am Abend, wenn sie spät von einem Feste kommen, scheint es ihnen im Spiegel abgenützt, gedunsen, verstaubt, von allen schon gesehn und kaum mehr tragbar.
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Die Art und Weise, wie die Mädchen sich zu ihrem Spiegelbild verhalten, hat sich verändert. Während sie ihr Gesicht im zweiten Satz noch vom Spiegel duplizierend „widerscheinen lassen“ konnten, erscheint im Spiegel jetzt nicht mehr die immergleiche Kopie, sondern ein anderes. Die Schönheit, die die Mädchen vor der Gesellschaft vorgeführt haben, ist verschwunden; stattdessen blickt ihnen aus dem Spiegel dürftige Alltäglichkeit entgegen. Diese Veränderung ist motiviert durch die Situation: die Mädchen kommen „spät von einem Feste“. Sie sind also wahrscheinlich müde, doch diese Müdigkeit benennt der Erzähler nicht. Er beschreibt nur, was die Mädchen im Spiegel sehen und wie es ihnen erscheint. Damit gehen die Betrachtung und auch die Reflexion vom Erzähler auf die Perspektive der Mädchen über. Als würde er in indirekter Rede die Gedanken der Mädchen wiedergeben, berichtet der Erzähler, wie das Gesicht aussieht: „abgenützt, gedunsen, verstaubt, von allen schon gesehn und kaum mehr tragbar“. Diese Reihe beschreibt den Zustand des Gesichts als Resultat eines Prozesses. Es ist der Vorgang des Abtragens, dem die Sorge im ersten Satz galt. Durch die Reihung wird er als zeitlicher Verlauf mimetisch nachgebildet; auch jedes einzelne Wort betont die Zeitlichkeit des Vergehens, da es sich um lauter Perfekt-Partizipien handelt. Damit wird insinuiert, daß dieser Prozeß tatsächlich stattgefunden habe. Ganz unauffällig geht hierbei eine Verschiebung vor sich. Die Beschreibung, das Gesicht sehe „abgenützt“ und „verstaubt“ aus, wird zur Begründung: das Gesicht sieht so schlecht aus, weil es sich abgenützt hat. Die Müdigkeit, also die mögliche Ursache für das schlechte Aussehen, verschwindet hinter dieser Suggestion eines Vorgangs des Abtragens, dessen Ergebnis man jetzt im Spiegel sieht. Dennoch bleibt die Möglichkeit, daß das Gesicht nicht abgetragen ist, sondern nur so aussieht (weil es müde ist), durch die Form der indirekten Rede gewahrt, da sie ja nur beschreibt, wie es erscheint – im Spiegel, dessen Bild wiederum in den Gedanken der Mädchen gespiegelt wird. Die Abfolge der Elemente in der Reihe folgt einem genauen Kalkül. Auf „abgenützt“, das die Verbindung zu den Kleidern und zum täglichen Tragen herstellt, folgt „gedunsen“, das Attribut eines müden und von ausschweifenden Feiern gezeichneten Gesichts. „Verstaubt“, für ein Gesicht eine eher ungewöhnliche Vorstellung, verweist erneut auf die Kleider und den Staub in ihren Verzierungen. „Von allen schon gesehn“ schließt die beiden Bereiche dann mit verblüffender Überzeugungskraft kurz. „Verstaubt“ und „abgenützt“ können noch vergleichsweise gebraucht worden sein. Doch beim nächsten Schritt ist nicht mehr von der Hand zu weisen, daß der Ausdruck wörtlich zutrifft. Das Gesicht wurde tatsächlich „von allen schon gesehn“, da die Mädchen ja täglich damit erschienen sind und auch jetzt gerade von einem Fest nach Hause kommen. Die Formulierung „von allen schon gesehn“ ist ein ähnlicher Kunstgriff wie zuvor die Rede von „zeigen“ und „erscheinen“. Sie zitiert einen Ausdruck und
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wendet ihn auf das Gesicht an, der sich normalerweise auf Kleider bezieht, und zwar diesmal ausschließlich auf weibliche: „von allen schon gesehn“ ist ein Kleid, das nicht mehr der neuesten Mode entspricht, das schon zu oft gezeigt wurde. Obwohl die Übertragung dieses Ausdrucks auf Gesichter eigentlich unpassend ist, ist ihre Berechtigung unmittelbar einleuchtend. Darin liegt zum einen ein überraschender Witz; zum anderen aber die Behauptung, daß die Berechtigung des Vergleichs über den Witz hinausreiche. Die Mädchen – und mit ihnen der ihre Blicke und Gedanken nachvollziehende Leser – bemerken plötzlich, daß eingetreten ist, wovor der über die Unachtsamkeit der Mädchen verwunderte Erzähler im zweiten Satz implizit gewarnt hatte. Das Verhalten, das der Vorsichts-Maxime widerspricht, nämlich dasselbe Gesicht tagtäglich zu „zeigen“, hat dazu geführt, daß es jetzt „von allen schon gesehn“ ist. Diese Konsequenz folgt mit zwingender Logik – die vor allem deshalb bezwingt, weil die Folge von „tagtäglich zeigen“ und „von allen schon gesehn“ kurzschlüssig ist. In der Reihe der Gesichts-Beschreibungen folgt eine letzte Konsequenz: das Gesicht erscheint „kaum mehr tragbar“. Diese Konsequenz liegt in der Redeweise. „Kaum mehr tragbar“ setzt fort, was „von allen schon gesehn“ begonnen hatte, das Zitat der bekannten Wendung, die sich üblicherweise auf Kleider bezieht. Der stimmige Anschluß macht die ganze Reihe zur folgerichtig erscheinenden Verkettung. Die Folgebeziehung besteht zwar strenggenommen nur zwischen den Redeweisen „von allen schon gesehn“ und also „kaum mehr tragbar“; semantisch schließt sich „kaum mehr tragbar“ aber auch an „abgenützt“ an. Auf diese Weise bindet das letzte Glied der Reihe das Abgenützte und Verstaubte in eine Ursache-Wirkungs-Relation ein. Die Redensart „kaum mehr tragbar“ spiegelt den Bewußtseinshorizont von Mädchen, die vor ihrem Schrank verzweifeln, weil sie ‚nichts anzuziehen‘ haben, in die Betrachtung hinein. Diese Operation eröffnet zwei einander widersprechende Sinnebenen. Zunächst setzt das Zitat die ‚typisch weibliche‘ Logik der Redensart fort. Denn nicht mehr tragbar sind die Kleider im Schrank nicht, weil sie wirklich durchgetragen wären, sondern weil sie „von allen schon gesehn“ wurden. Diese Logik wird nun plötzlich umgewendet und ernstgenommen: es ist wirklich angemessen, von den Gesichtern als nicht mehr tragbaren zu reden, es ist nicht bloß weibliche Koketterie, wie es die zitierte Redewendung will. Die Gesichter sind nicht mehr tragbar, weil sie bereits zu oft gezeigt wurden, denn durch dieses Zeigen sind sie abgenutzt worden. In dieser Umwendung liegt jedoch eine Ironie, die wiederum das Gegenteil behauptet: nämlich daß die Gesichter eigentlich gar nicht abgetragen seien, daß man hier nicht von einer wörtlich durchgewetzten Haut sprechen könne, sondern nur in übertragenem Sinne. Bei aller Ironie hat diese Logik etwas Unerbittliches. Dies geht auf die Überblendung der Beziehung von Zeigen und Gesehen-Werden mit dem Vorgang der Abnutzung zurück. Die Suggestion eines Prozesses von allmählichem Durchtragen, Verstauben, aus-der-Form-Geraten, die der Vergleich
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mit den Kleidern und ihrer Vergänglichkeit etabliert hat und die die Worte „abgenützt“ und „verstaubt“ präsent halten, ist durch „gedunsen“ schon auf das Gesicht übergegangen. Daher scheint es jetzt so, als bestünde tatsächlich eine Verbindung zwischen zeigen/erscheinen und Abnutzung: als würden die Gesichter durch die Blicke der anderen abgenutzt und verbraucht, denen sie sich täglich aussetzen. Diese aber sind nicht zu vermeiden gewesen. Die tragische Dimension der Vergänglichkeit liegt demnach nicht, wie die als Folie diesem Vergleich zugrundeliegenden Topoi (‚vanitas‘ bzw. ‚memento mori‘) suggerieren, in der Unausweichlichkeit des Alterns (Jesus Sirach 14,17: „Wir alle werden alt wie ein Kleid; es ist ein ewiges Gesetz: Alles muß sterben“37). Diese Assoziation wird nur angedeutet und ausgenutzt, um einem ganz anderen Vorgang ihre Bekanntheit und die darauf beruhende Überzeugungskraft zu leihen. Die Gesichter werden nicht faltig, sondern verstaubt, aber Falten und Staub sind schon in der Beschreibung der Kleider zu einer Vorstellung von Altwerden überblendet worden, die hier weiterwirkt. Die Mädchengesichter sind noch jung, sie sind gar nicht gealtert, sondern sie sind vom täglichen Gebrauch verbraucht, vom „Zeigen“ und „Erscheinen“. In diesen Prozeß ist die Vorstellung vom Altern (durch verstauben/abtragen) eingekreuzt worden, obwohl er eigentlich gar kein Prozeß des Alterns, d.h. der langen Dauer ist. Seine zeitliche Struktur ist repetitiv: weil das „Zeigen“ und „Erscheinen“ tagtäglich wiederholt wird – ein Vorgang, den die parallelisierenden Satzkonstruktionen, immer wieder insistierend, mimetisch abgebildet und vollzogen haben –, weil es das Immergleiche ist, ist das Gesicht am Ende durchgetragen. Dieses Resultat erscheint schließlich als unmittelbar einleuchtende Folge. – Solche Logik ist eigentlich eine Scheinlogik, eine Logik der Anschauung. Durch sprachliche VerschiebungsOperationen, die mehrere Assoziationswege überkreuzen, wird in die Anschauung Sinn eingelagert, der dann bei geschickter Zusammenstellung von Beobachtungen unmittelbar augenfällig und damit zugleich sinnfällig wird. Mit dem Zitat ‚weiblicher‘ Redensarten suggeriert der Text, daß es jetzt die Mädchen seien, die sehen und einsehen, daß ihre Gesichter wie Kleider sind. Mit ihrer Reaktion auf den Blick in den Spiegel bestätigen sie die verdrehte Sicht des Betrachters, denn sie sehen jetzt genauso wie er. Der Blick in den Spiegel tritt damit in komplementären Bezug zu der ‚hausfraulichen‘, um Staub und Falten besorgten Sicht des Ich auf die verzierten Kleider aus dem ersten Satz. Auf die ‚Mutter‘ antwortet hier gleichsam die ‚Tochter‘. Mit diesem Effekt bestätigt der letzte Satz die Bedingungs-Logik des ersten Satzes: wenn man etwas Schönes täglich trägt, dann nutzt es sich ab, und dadurch macht man sich traurig und lächerlich. Dieser passende Anschluß ist durch den ersten Satz vorbereitet worden, denn dort war nicht eigentlich von schönen, sondern von „kostbaren“ 37
Zitiert nach Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift: Die Bibel.
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und aufwendig verzierten Kleidern die Rede. Auf diese läßt sich die Vorstellung des Abtragens viel besser beziehen als auf die Schönheit an sich. Das schöne Kleid ist ja nicht deswegen untauglich für den Alltag, weil es zu schön ist, sondern weil es zu kostbar und empfindlich ist, weil es nicht aus grobem, haltbarem, widerstandsfähigem Stoff gemacht ist. Auf diesem alltagslogisch sinnvollen Weg wird die Vorstellung von der Vergänglichkeit der Schönheit zur notwendigen Konsequenz. Das Wort „tragbar“, das die Überblendung von Gesichtern und Kleidern auf den Punkt bringt, wird erst an letzter Stelle des Satzes genannt. Es ist allerdings bereits vorbereitet durch die Vorstellung des Tragens von Kleidern und Gesichtern, die schon vom ersten Satz an stillschweigend präsent war. Die Reihe der Perfekt-Partizipien wird mit diesem letzten Wort unterbrochen; der Autor setzt offenbar bewußt nicht ‚abgetragen‘. „Tragbar“ bezieht sich als Möglichkeitsform auf die Zukunft, ist aber (fast) verneint: die Zukunft ist bereits so gut wie vorüber. Die Warnung vor der Vergänglichkeit blickt aus dem Spiegel jetzt als eigenes Gesicht entgegen. Damit schafft das Ende des letzten Satzes eine Situation, wie sie die Vanitas-Darstellungen in der Malerei zeigen: eine junge, schöne Frau sieht in den Spiegel, den der Tod ihr hinhält, und erblickt darin ihr eigenes Antlitz, das vom Verfall entstellt ist.38 Damit kommt der im ersten Satz voraus entworfene Prozeß an sein Ende. Die schreckliche Erfahrung ist allerdings nicht, wie in dieser VanitasVorstellung, die Vergänglichkeit der Schönheit (die Sterblichkeit), d.h. daß das Gesicht alt und müde aussieht. In der Formulierung, daß es „nicht mehr tragbar“ ist, liegt noch eine andere Einsicht. Es ist die Erkenntnis, daß der Vergleich plötzlich aufgeht, daß der bloß vergleichsweise, metaphorische Gebrauch von „zeigen“, „erscheinen“, „Maskenanzug“ wörtlich genommen werden muß, daß er wirklich zutreffend geworden ist. Diese Umwendung ist in die Negation hineinversteckt. Das Gesicht ist nicht zu etwas geworden, das man trägt wie ein Kleid, sondern zu etwas, das nicht bzw. „kaum mehr tragbar“ ist. Diese Vorstellung aber ist schrecklich, weil man das Gesicht eben nicht trägt wie ein Kleid, was bedeutet: daß man das untragbar Gewordene nicht ausziehen kann, daß man es morgen wieder wird tragen müssen und Unglück und Lächerlichkeit daher unausweichlich sind. Dabei geht es nicht um eitle Äußerlichkeiten, wie es der Vanitas-Topos nahelegt. Wenn das Gesicht wirklich „kaum mehr tragbar“ ist, dann ist dies ein unhaltbarer Zustand. Nicht, weil Gesichter diese Dimension in Wirklichkeit nicht haben können, sondern weil die Möglichkeit, daß es so sein könnte, für die Person, zu der dieses Gesicht gehört, höchst bedrohlich ist.
38
Vgl. die Ausführungen zum Bildtypus „Der Tod und das Mädchen“ im Artikel „Vanitas“ in: Lexikon der christlichen Ikonographie, Bd.4, Sp. 410.
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Damit vollzieht sich am Endpunkt des Vergleichs eine doppelte Umwendung. Die Vergleichbarkeit von Gesicht und Kleid ist auf einmal erwiesen, denn das Gesicht ist wie ein Kleid geworden, eine abgenutzte Hülle. Zugleich aber hat sich bestätigt, daß Gesichter genau in dem Punkt, der diesem Vergleich zugrundeliegt, dem „Tragen“, den Kleidern nicht vergleichbar sind. Die zwei ‚tertii comparationis‘ (Hülle/Haut und Tragen), deren inneren Widerspruch die Verschmelzung im „natürlichen Maskenanzug“ übergangen hatte, um daraus den Gedankengang zu entfalten, werden nun gegeneinandergesetzt. Der im zweiten Satz angelegte Einwand, daß man Gesichter nicht tragen könne wie Kleider, kommt damit endlich zu seinem Recht: aber eben erst, nachdem der Vergleich vollzogen ist. Ironischerweise vollendet sich also gerade in dem Moment, in dem die im Text implizierte Argumentation zugibt, daß Gesichter und Kleider genau nicht vergleichbar sind, weil man das Gesicht nicht wechseln kann, durch das Wort „(nicht mehr) tragbar“ die Überblendung der beiden Bereiche. Das Gesicht erscheint als Maske, aber als eine, die man nicht abziehen kann. Der Vergleich mit der Maske hinkt jetzt nicht mehr – bzw. er hinkt jetzt aus anderen Gründen. Für diese doppelte Umwendung ist eine zeitliche Reihenfolge wesentlich. Das Gesicht ist nur solange eine Maske (bzw. ein „Maskenanzug“), wie es altern kann, aber dann, als abgenutztes, ist es keine Maske mehr, die man wechseln könnte. Diese Übertragung ist eigentlich widersinnig, denn Masken altern überhaupt nicht. Auf Stimmigkeit ist der Vergleich aber an dieser Stelle gar nicht angewiesen, denn er braucht Maske und Kleider nur dazu, um die Vorstellung von der Hülle in die Anschauung einzuführen und dann aus ebendieser Anschauung abzulesen, daß der Vergleich berechtigt ist.39 Die schreckliche Einsicht vermittelt sich im Blick in den Spiegel, im Blick auf das Bild, das in ihm erscheint. In diesem Bild des Gesichts konzentriert sich die Überzeugungskraft des Vergleichs. Es ist mehr als nur das Bild des müden Gesichts. Es ist die zur Anschauung gewordene Vorstellung vom Gesicht als Hülle. Die vergleichende Rede, die dieses Bild evoziert, ist selbst ein Spiegel: sie zeigt eine verstaubte, abgenützte Haut-Oberfläche, die einmal ein schönes, jugendliches Gesicht war. Genauer: sie suggeriert es der Imagination des Lesers. Durch gezielten Rekurs auf dessen Assoziationen und in der Überblendung der dabei wachgerufenen Bildvorstellungen und Sinngehalte erzeugt der Text einen Denkvorgang, dessen sprachlich-bildliche Logik im Schlußbild kulminiert. Mit dem ‚Blick‘ des Lesers auf dieses Bild wird die Behauptung, die Gesichter und Kleider vergleichend in Verbindung bringt, unmittelbar einleuchtend. Dieser 39
Von dieser Erkenntnis aus wäre Kleider nicht zuerst dem Jesus-Sirach-Vers anzunähern, sondern eher einer Stelle aus dem Psalm 102: „Sie werden vergehen, du aber bleibst; / sie alle zerfallen wie ein Gewand; / du wechselst sie wie ein Kleid; / und sie schwinden dahin.“ (Psalm 102, 27; zitiert nach Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift: Die Bibel).
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Effekt von sinnlicher Eindrücklichkeit entsteht aus der Suggestion eines wie natürlichen, wie zwangsläufigen Verlaufs, einer scheinbar höchst einfachen Folge von Ursache und Wirkung. Eine letzte ironische Brechung liegt in dem Wörtchen „kaum“: die Tragbarkeit des Gesichts wird nicht ganz verneint, sondern nur beinahe. Es ist also doch nicht vollständig, und das heißt: nicht ‚wirklich‘ unmöglich geworden, das Gesicht zu tragen. Es verhält sich doch wie mit den nicht mehr tragbaren Kleidern auch: man wird sie weiter tragen, denn sie sind ja nicht im Ernst durchgetragen. Auch die Gesichter sind nicht wirklich schon alt, sie scheinen „nur manchmal“ so. Mit der Einschränkung „kaum“ läßt der Satz eine Möglichkeit offen, die übertragene Redeweise nicht ganz aufzugeben. Doch ob die Gesichter nun wirklich abgetragene Hüllen geworden sind oder nicht: fest steht, daß die Mädchen sich mit ihnen „traurig und lächerlich“ gemacht haben. In dieser Konsequenz nimmt der Vergleich die weibliche Sorge um Äußerlichkeiten trotz aller Ironisierung ernst. Man muß auf sein Gesicht achten, denn es gibt nichts anderes, das an die Stelle treten könnte. Es gibt kein Dahinter, keine schöne Seele, die die verlorene äußere Schönheit ersetzen und die Vergänglichkeit überdauern könnte. In diesem Sinne trifft die Metapher vom „Maskenanzug“ endlich zu. Das Gesicht ist kein Ort des Ausdrucks von Innerlichkeit: dies bleibt von der Semantik der Maske. Die Abwesenheit eines Innen ist jedoch nicht gleichbedeutend mit purer Oberflächlichkeit und Leere. Letzteres schlägt Joseph Vogl vor, der Kafkas Text in der Perspektive einer Entwicklung anthropomorpher Nachahmung liest, welche mit dem schönen Körper und seiner Beschreibung die Frage nach dem Verhältnis von Natur und Kunst reflektiere.40 Die Hüllenhaftigkeit ohne Kern ist für Vogl das literarhistorische Novum im Bild des schönen Körpers bei Kafka. „Auf eigentümliche Weise hat Kafka damit – ähnlich wie Sacher-Masoch – einen beseelten Leib ohne Seele und ohne Geheimnis dargestellt: sprechende Hülle, die nichts als die Hülle selbst vorzeigt.“41 So gelesen, wird Kleider zur Illustration der 40
41
J. Vogl, a.a.O., Kap. I: Pseudomimesis/Schöne Körper, S. 32-53. Kleider beschreibt laut Vogl einen Prozeß von „Naturalisierung der Kleidung und Konfektionierung des Körpers“. Diese Überblendung zeige den Körper nicht mehr als „Ausdruck eines inneren Wesens“, sondern als „Ikone“, „ähnlich mit sich nur in einem endlosen Übergang von Hülle zu Hülle, [...] in einem äußeren Transfer, der Deckschicht mit Deckschicht amalgamiert.“ „Die Schönheit dieser ‚schönen Körper‘ ist Effekt eines Scheins, der die Kleidung auf die Nacktheit und die Nackheit auf den Ausdruck hin durchsichtig macht und damit die Schauseite, jenes Angesehenwerden als die eigentliche Geschichte des Körpers begreift, als eine Geschichte jedoch, in der er sich entfaltet, der er verfällt und in deren Verlauf er unansehnlich und als nature morte sich selbst schließlich unähnlich wird.“ (J. Vogl, a.a.O, S. 39f.). - Mark Anderson konstatiert ebenfalls die Abwesenheit eines Innen, münzt dies jedoch ohne genauere Analyse in eine Moral der Geschichte um: „The body is only its ‚clothing‘, only a dirty, ornamental surface; and the feminine psyche is vacant.“ (M. Anderson, a.a.O., S. 32). J. Vogl, a.a.O., S. 39.
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dekonstruktionistischen Prämisse von Vogls Erörterung: Kleider macht die Konstruiertheit des schönen Körpers gleichsam durchsichtig. Diese Interpretation als leere, maskenhafte Hülle ist zu einseitig, denn aus der Kleider-Ähnlichkeit des Gesichts ergibt sich eine Konsequenz, die letztlich doch noch ein Innen in den Text hineinbringt. Ein Rest von Person, ihrem Schicksal und ihrer Tragik liegt darin, daß sie sich mit einem abgetragenen Gesicht „traurig und lächerlich“ machen wird, wie es der erste Satz voraussagt. Die Oberfläche des Gesichts ist also nicht bloß „die Hülle selbst“ (Vogl), sondern der Ort, der zwischen Innen und Außen vermittelt. Die Doppelbödigkeit des Vergleichs führt dazu, daß sein Gehalt nicht wieder in die Gegensatzpaare aufgelöst werden kann, aus denen er sich entfaltet. Im Bild des gealterten Maskenanzugs verschränken sich Sinnebenen und vielfach gespiegelte Blicke. Das Gesicht ist die Maske, die von anderen angesehen und im Spiegel betrachtet wird, die vorzeigbar sein muß. Leider aber ist dieses Gesicht Natur und damit vergänglich. Doch die Sterblichkeit des Natürlichen und die Vergänglichkeit der Schönheit sind wiederum als Prozesse imaginiert, die sich im Gesellschaftlichen vollziehen. Das Gesicht nützt sich durch das AngesehenWerden ab und nicht, weil es Natur ist, die sterben muß. Diese mehrgleisige Verschränkung überkreuzt Natürlichkeit und Künstlichkeit auf eine Weise, die es unmöglich macht, die Maske als leere Hülle oder die Schönheit des Gesichts als bloße Augentäuschung zu interpretieren. Indem das Gleichnis einander widersprechende Übertragungswege in einem scheinlogischen Argumentationsprozeß miteinander in Verbindung bringt, verweigert es die Übersetzung in Bedeutung. Die Pointe dieses Verfahrens liegt darin, daß es die natürlichen Verhältnisse beibehält, weil es an keiner Stelle verleugnet, daß die Maske ein Gesicht aus Haut, kein Stück Stoff oder Leder ist. Warum der Vorgang des Zeigens und Gesehen-Werdens unweigerlich zur Abnutzung führen muß, geht aus einer Logik der Anschauung zwingend hervor. Daher erscheint der Vergleich unabweisbar, bleibt aber in seinem Gleichnischarakter undurchsichtig. Dies bedeutet jedoch weder, daß der ganze Vergleichsvorgang selbst nichts als (literarische) Täuschung sei, noch, daß das Gleichnis nichts mitteile. Wenn die im ersten Satz implizierte Verhaltensregel mit dem letzten Satz in ihr Recht gesetzt wird, dann erhebt der Text einen Schuldvorwurf. Der an den Vanitas-Topos geknüpfte Gestus der Mahnung wird in eine Anklage verwandelt und auf die Mädchen bezogen. Wenn diese am Ende ihr zerstörtes Gesicht im Spiegel sehen, dann bestätigen sie die implizit vorausgesetzte Behauptung des Erzählers, daß sie an diesem Ergebnis selbst schuld seien, da sie ja täglich in „diesem einen natürlichen Maskenanzug“ erscheinen „wollten“. Zugleich aber ist deutlich, daß sie dafür nicht verantwortlich sind, weil sie ja gar nicht anders hätten handeln können. Die Schuldzuweisung bleibt also unbeantwortbar und dennoch unabweisbar.
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Da der Leser die Entfaltung dieser ineinander verschränkten Positionen mitvollzogen hat, vermittelt ihr Widerstreit ihm auch die Verzweiflung, die die Mädchen beim Anblick ihres Spiegelbildes fühlen müssen. In diesem Effekt der Vermittlung eines Gefühls, in der Suggestion eines schicksalhaften Versäumnisses, für das doch niemand verantwortlich zu machen wäre, liegt meiner Ansicht nach die Leistung von Kafkas sprachlichem Verfahren. Die in den Text hineingespiegelten Blicke und Bewußtseinshorizonte vermitteln die Erfahrung, lesend zu erleben, wie das Gesicht zur Maske wird. Der Leser trägt mit der von den Aussparungen und Andeutungen des Textes provozierten Arbeit seiner Imagination dazu bei, den Prozeß ablaufen zu lassen, in welchem sich das Gesicht in eine Hülle aus Haut verwandelt. 2.3 Schluß Zusammenfassend läßt sich Kafkas Verfahren folgendermaßen beschreiben: Er kombiniert literarische Topoi mit Versatzstücken von Redeweisen und Bildvorstellungen, indem er leichte Verschiebungen in sie einführt, und gewinnt auf diese Weise einen anderen, neuen Sinn aus ihnen. Im Übereinanderschreiben von Assoziationen erreicht er es, daß dieser Sinn unmittelbar anschaulich wird, daß aber andererseits die solcherart zum Gleichnis gewordene Anschauung sich nicht in einer Aussage fassen läßt. Der alte Vergleich, der das Altern der sterblichen Hülle des Körpers mit dem Abtragen von Kleidern verbindet, erhält auf diese Weise eine neue, schwer bestimmbare Bedeutung. Walter Benjamin hat am Beispiel von Kafkas späten Texten, die Mythen und Sagen reformulieren, ein ähnliches Verfahren beschrieben: „Märchen für Dialektiker schrieb Kafka, wenn er sich Sagen vornahm. Er setzte kleine Tricks in sie hinein; dann las er aus ihnen den Beweis davon, ‚daß auch unzulängliche, ja kindische Mittel zur Rettung dienen können.‘ “42 Mit diesem Zitat können die Dimensionen einer Auseinandersetzung mit der Gleichnishaftigkeit von Kafkas Prosa nur angedeutet werden. Im Rahmen meiner Analyse der Erzählverfahren sind vor allem die Techniken und Kunstgriffe des „Hineinsetzens“ von Interesse, die „kleinen Tricks“, nicht die Ansprüche auf Bedeutung, die damit unterlaufen, umgangen und doch wieder aufgerufen werden. Die Leistung dieser Verfahren ist Verwandlung. Kleider ist eine Sprach- und Textbewegung, die auf dem Weg über die Metapher des „natürlichen Maskenanzugs“ ein Gesicht in etwas verwandelt, das man trägt und abträgt wie ein Kleid. Der Vergleich arbeitet dabei wie ein Zauberspiegel. Er wirft zum 42
Walter Benjamin: „Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.2, hrsg. v. R. Tiedemann und H. Schweppenhäuser, Frankfurt/M. 1977, S. 409-438, Zitat S. 415.
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Schluß ein anderes Bild zurück, als es das Gesicht war, das in ihn hineingesehen hat. Seine Übertragungsarbeit besteht darin, die gedankliche Verbindung in sinnliche Anschauung zu überführen und umgekehrt. Die sprachlichen Verfahren erzeugen einen Reflexionsvorgang, der sich im Bild vollzieht. Dieses Denken folgt einer Logik der Anschauung. Sie ist nicht allein bildlich, sondern wesentlich zeitlich. Die „Betrachtung“ kann nur im Nacheinander der sprachlichen Tauschund Verschiebungsbewegungen entstehen, als fortschreitender und ständig leicht sinnwidrig auf seine eigenen Setzungen und Implikationen zurückgreifender, daraus neue Assoziationen und Bilder erzeugender Sprachprozeß. Weil das Gleichnis nur aus dieser Verschiebungs- und Verwandlungsbewegung besteht, ist sein Sinn nicht außerhalb seiner selbst, d.h. außerhalb des Bildes faßbar. In der irreduziblen Anschauung, die bei aller Selbstverständlichkeit auf eine nicht genau zu benennende Weise ‚bodenlos‘ geworden ist, liegt ein phantastisches Moment. Das Verfahren der Verwandlung selbst ist durchaus nicht phantastisch. Seine Kunstgriffe sind Listen und Taschenspielertricks; advokatorische „Winkelzüge“, wie Kafka an Felice Bauer geschrieben hatte, und rhetorische Kniffe. Allen voran steht die Vermischung von verschiedenen Ebenen und Modi der Rede: als Zitat, als uneigentliche Rede oder als indirekte Gedankenwiedergabe verwischt sie den Standpunkt des Erzählers und vermeidet Festlegungen. Sie spiegelt Sichtweisen in die Perspektive des Erzählers hinein, die sich widersprechen und wertend kommentieren. Der Ort des Erzählers liegt schwer definierbar zwischen dem am Schluß fast voyeurhaften Nachvollzug dieser Blickweisen und dem männlichen Blick des erotischen Begehrens, dem die Mädchen ihre schönen Gesichter, Kleider und Körper vorführen. Gegen diese Verführungsmacht setzt der Text ironische Zitatstrategien, die die Macht der Schönheit auf Alltägliches zurückführen. Zugleich bewirkt dieselbe Zitattechnik, daß in der Sorge um das Alltägliche die Klage um die Vergänglichkeit der Schönheit und die Sterblichkeit des Natürlichen als Grundierung sichtbar wird. Mit seinen sprachlichen Techniken schließt der Text Kleider an die Verfahren aus der Beschreibung eines Kampfes an. Der Kunstgriff, eine Bild- und GedankenVerkettung mit dem Anschein eines logischen Zusammenhangs entstehen zu lassen, begegnete bereits in der „Seekrankheits“-Passage der Beschreibung eines Kampfes. Aus den Verschiebungsbewegungen zwischen Sinn und Anschauung, die in dieser Passage das Taumeln der „Seekrankheit“ vorführen, geht in Kleider ein Moment der Balance hervor. Die Verschiebungsbewegung ist hier in sich selbst zurückgewendet und aufgehoben, wie auch in Die Bäume. Kleider unternimmt dieselbe ironisierende Umwendung des Alltäglichen ins Staunenswerte wie die Beschreibung eines Kampfes. Die Verdrehung ist hier jedoch kein Selbstzweck. Die neue, verkehrte Beziehung zwischen Sprache und Anschauung, die in der Beschreibung sprachreflexiv verhandelt wurde, wird mit Prosastücken wie Kleider gleichsam praktisch. Die Rede löst sich von der Reflexion auf ihre sprachliche Verfaßtheit. Stattdessen treten die sprachlichen Techniken in den Dienst einer
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Auseinandersetzung mit dem Sichtbaren. Der Reflexionsvorgang in der Betrachtung über schöne Kleider und schöne Mädchen bezieht sich nicht nur auf das, was der Betrachter sieht, und zielt nicht allein auf den Sinn, der darin liegt. Der Text reflektiert auch das Sehen selbst, weil er das Sehen und GesehenWerden zum Thema hat, und weil er aus dem Spiel mit Perspektiven, mit Sichtund Sehweisen, mit der Suggestion von Anschauung entsteht. Diese Form der Beschäftigung mit dem Sehen und dem Sichtbaren werden die folgenden Lektüren von Texten der Betrachtung weiter verfolgen.
3. Der Kaufmann In vielen Stücken der Betrachtung von 1908 ist das Sichtbare Ausgangspunkt der Reflexion. Nicht so im Kaufmann. Der Text beginnt mit räsonierenden Betrachtungen. Ein Kaufmann schildert seinen Alltag als täglich sich wiederholenden Ablauf von Geschäftsstunden, Nachhauseweg und Feierabend. Für die Dauer einer Fahrt im Aufzug wird dieser Ablauf von einer phantasierenden Rede unterbrochen. Der Kaufmann entwirft traumartige Bilder, die sich zu Ansichten einer Stadtlandschaft verdichten. Als imaginäre Betrachtungen stehen sie im Zentrum des Textes. Vorstellungsbilder treten damit an die Stelle des Sichtbaren, die Betrachtung wird zur Phantasmagorie. In der leeren Zwischenzeit, die Arbeit und Feierabend trennt, hebt sie die alltägliche Routine auf und verwandelt den Moment unmittelbar vor der Ankunft zu Hause in einen ‚anderen Zustand‘ (Musil). Die imaginative Erweiterung der Betrachtung verbindet den Kaufmann mit den Stücken Die Abweisung und Der Nachhauseweg. Im Rahmen der Sammlung Betrachtung von 1908 steht diese Gruppe jenen Texten gegenüber, die vom Sehen ausgehen oder das Sehen zentral thematisieren (Zerstreutes Hinausschaun, Die Vorüberlaufenden, Kleider, Der Fahrgast, Die Bäume). Diesen beiden Formen von Betrachtung liegt eine gemeinsame Struktur zugrunde. Sehen und Imaginieren haben in Betrachtung den gleichen phantasmagorischen Grundzug. Momente, in denen das Alltägliche plötzlich durchsichtig wird auf eine andere Erfahrung hin, bilden den Kern jeder einzelnen der Betrachtungen von 1908. Der Augenblick, in dem der Kaufmann den Aufzug betritt, findet etwa in Kleider seine strukturelle Entsprechung in der aus der Wiederholung herausgehobenen Situation abends allein vor dem Spiegel, in dem ein schönes Gesicht verstaubt und abgetragen aussieht. Die Aufladung des Moments zwischen Wahrnehmungs-Augenblick und imaginativer Erweiterung läßt sich bis zu Kafkas literarischen Anfängen zurückverfolgen. In einem Brief an Oskar Pollak, der das Stück Die Abweisung vorwegzunehmen scheint, zitiert Kafka 1904 eines seiner Textfragmente:
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Irgendwo hab ich einmal die Frechheit aufgeschrieben, daß ich rasch lebe, mit diesem Beweis: „Ich sehe einem Mädchen in die Augen und es war eine sehr lange Liebesgeschichte mit Donner und Küssen und Blitz“ [...]. So wie ein Kind mit Bilderbüchern hinter einem verhängten Fenster. Manchmal erhascht es etwas von der Gasse durch eine Ritze und schon ist es wieder in seinen kostbaren Bilderbüchern.43
Das Bilderbuch ist ein Bereich des Imaginären, in den die Phantasie nach dem kurzen Blick durchs Fenster eintaucht („in seinen Bilderbüchern“), so, wie sie aus dem kurzen Blick in die Augen einen ganzen Roman dichtet. Es ist ein Bereich intensiven, gesteigerten Erlebens, dramatisch und „kostbar“. Der Augenblick des Kontakts mit der Realität wird im Eintauchen in die imaginäre Welt hinein ausgedehnt: während in Wirklichkeit nur ein Moment vergangen ist, hat der phantasierende Betrachter eine „sehr lange“ Geschichte erlebt. Diese Verwandlungs-Augenblicke werden in den folgenden Abschnitten zum Thema. Am Beispiel der Prosastücke Der Kaufmann, Der Fahrgast und Die Vorüberlaufenden untersuche ich, wie Kafka die herausgehobenen Augenblicks-Erfahrungen gestaltet, wie er Momente inszeniert und welche Erzählformen und -verfahren dabei zum Einsatz kommen. Am Anfang steht die Analyse des Kaufmanns, die in einigen Punkten an die Beschreibung eines Kampfes anschließt und zeigt, wie von den Experimenten des phantasierenden Entwerfens von Erzählwirklichkeiten aus ein neues Erzählmodell entsteht. 3.1 Die Betrachtung der Kaufmannsexistenz 3.1.1 Mitleiden und Mitfühlen: Integration des Lesers Es ist möglich, daß einige Leute Mitleid mit mir haben, aber ich spüre nichts davon. Mein kleines Geschäft erfüllt mich mit Sorgen, die mich innen an Stirne und Schläfen schmerzen, aber ohne mir Zufriedenheit in Aussicht zu stellen, denn mein Geschäft ist klein. Für Stunden im voraus muß ich Bestimmungen treffen, das Gedächtnis des Hausdieners wachhalten, vor befürchteten Fehlern warnen und in einer Jahreszeit die Moden der folgenden berechnen, nicht wie sie unter Leuten meines Kreises herrschen werden, sondern bei unzugänglichen Bevölkerungen auf dem Lande. Mein Geld haben fremde Leute; ihre Verhältnisse können mir nicht deutlich sein; das Unglück, das sie treffen könnte, ahne ich nicht; wie könnte ich es abwehren! Vielleicht sind sie verschwenderisch geworden und geben ein Fest in einem Wirtshausgarten und andere halten sich für ein Weilchen auf der Flucht nach Amerika bei diesem Feste auf.44 43 44
Brief vom 10./11. 1. 1904, KKA: Briefe 1900-1912, S. 35. Beginn des Prosastücks Der Kaufmann, B 21 - B 22, Z. 11.
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Der Kaufmann beginnt seine Betrachtungen mit einem fremden Blick. Als Hypothese entwirft er die Sicht anderer auf sein Leben: „Es ist möglich, daß einige Leute Mitleid mit mir haben ...“. Dieses Gefühl wird im zweiten Teil des Satzes mit seinem eigenen Empfinden konfrontiert: „... aber ich spüre nichts davon“. Eine eigentümliche Logik liegt in dieser Verbindung: als müßte es die Intention des Mitgefühls sein, spürbar, fühlbar zu werden für den, dem es gilt – und als könnte es überhaupt nur dann sinnvoll sein. Das mögliche Mitleid der „Leute“ erscheint daher fragwürdig; möglich aber bleibt es, denn es kann eben auch vorhanden sein, ohne daß der damit Gemeinte es spürt. Und diese Möglichkeit ist sehr wohl von Bedeutung. Denn das Urteil über das Leben des Kaufmanns, das in dem Satz ausgesprochen wird, d.h. die Sichtweise jener „Leute“, die ihn bemitleidenswert finden könnten, wird keineswegs abgelehnt. Daß der Kaufmann nichts von ihrem Mitleid merkt, suggeriert zugleich: es wäre Grund zum Mitleid nicht nur möglicherweise, sondern jedenfalls vorhanden. Allein aus einem als bloße Möglichkeit entworfenen, mitleidigen Blick entsteht so die implizite Behauptung, ein solches Mitleid sei berechtigt. Damit findet sich der Leser in eine Perspektivierung hineingesetzt, die seine Sicht auf das Leben des Kaufmanns bestimmen wird. Es ist die Perspektive jener „Leute“, der fremde Blick, der nur möglicherweise existiert und doch durch diesen Kunstgriff bereits seinen ersten Vertreter gefunden hat. Die Gründe, mit ihm Mitleid zu haben, entfaltet der Erzähler in den folgenden Abschnitten. Seine Existenz als Kaufmann ist bestimmt von „Sorgen“, die ihn „erfüllen“. Die Redensart ‚von Sorge erfüllt sein‘ wird wörtlich genommen und als Zustand imaginiert, als wäre das Ich angefüllt mit etwas Gegenständlichem. Die Sorgen, „die mich innen an Stirne und Schläfen schmerzen“, sind (grammatische) Subjekte, deren Tätigkeit das „Schmerzen“ ist. Es sind also keine abstrakten Sorgen, die Kopfschmerzen machen, sondern die Schmerzen werden von ihnen hervorgerufen, als säßen sie als körperhafte Wesen innen im Schädel, statt nur im Bewußtsein. Diese Bildvorstellung überblendet das körperliche Gefühl von an die Schädeldecke ‚hämmernden‘ Kopfschmerzen mit deren geistigen Ursachen. Die Anschaulichkeit dieser Verbindung macht den Zustand des Kaufmanns zur nachvollziehbaren Erfahrung. Die Tätigkeit des Kaufmanns besteht allein darin, sich Sorgen zu machen. Seine Gedanken gehen unaufhörlich in die Zukunft. Er sieht „Stunden im voraus“ und richtet seine Aufmerksamkeit auf alles, was möglicherweise eintreten könnte: Fehler, Vergeßlichkeit, ein Unglück. Diese in den unendlichen Möglichkeitsraum vorauseilenden Sorgen gelten offenbar einem kleinen Modegeschäft, dessen Existenz davon abhängt, ob das Kommende richtig vorhergesehen worden ist. Dies ist jedoch kaum möglich, denn das Zukünftige ist so unvorhersehbar wie die neuen Moden unberechenbar. Aber nicht nur die Zukunft ist undurchsichtig. Auch die Kundschaft sowie diejenigen, die „mein Geld haben“ (vielleicht Zwischenhändler oder Kreditgeber), sind „fremde Leute“,
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„unzugänglich“ und damit Quelle unausdenkbaren, immer möglichen Unglücks. Je undurchsichtiger und damit bedrohlicher aber die Zukunft, desto wahrscheinlicher erscheint das Unglück, und desto größer wird die Sorge, die sich auf diese Weise selbst immer neu hervorbringt. Sie braucht keinen konkreten Gegenstand mehr, um zu existieren, ja sie intensiviert sich, je nebelhafter ihr Bezug wird. „Das Unglück, das sie treffen könnte, ahne ich nicht; wie könnte ich es abwehren!“ Der Versuch, das Nicht-Erkennbare vorauszusehen, muß notwendig scheitern. Die Sorge des Kaufmanns ist eine Falle, die ihn unglücklich machen muß und der er nie entkommen kann. Daß diese Situation zu niemals auflösbaren Sorgen Anlaß geben muß, leuchtet unmittelbar ein. So erscheint er wahrhaft bemitleidenswert, obwohl dafür immer noch kein Grund genannt worden ist. Wie im ersten Satz der Grund für das Mitleid aus einer bloßen Möglichkeit entstanden war, so entsteht hier der Grund für die Sorge aus der Unmöglichkeit, zukünftige Möglichkeiten vorauszusehen. Trotz – oder gerade wegen – dieser inhaltlichen Leere werden die sorgenvollen Kopfschmerzen des Kaufmanns geradezu ‚schmerzlich‘ deutlich. Die Konstruktion der Zwangslage macht sie eindringlich und nachfühlbar; die bildhaft-personalisierende Konkretion der Sorgen macht diese als Wirkliches vorstellbar. Durch suggestive Techniken wird der Leser in das Innere des Kaufmanns hineingezogen. Dieses Ausgreifen auf die Imagination des Lesers ist mit einem Satz des Beters in der Beschreibung eines Kampfes vergleichbar: „Mein Unglück ist ein schwankendes Unglück, ein auf einer dünnen Spitze schwankendes Unglück, und wenn man es berührt, so fällt es auf den Frager.“45 Die Sorgen sind so anschaulich vorstellbar und eben deswegen so ansteckendübertragbar wie das Unglück. Sie verwandeln den mitleidigen Blick in Mitgefühl. 3.1.2 Das Entstehen der Erzählbewegung aus imaginierten Bewegungen Die Sorge entfaltet eine hysterisierende Dynamik, die sich fast wie von selbst weiter steigert. Aus dieser Entwicklung entsteht eine neue Erzählbewegung. Von seinen Befürchtungen ausgehend, stellt sich der Kaufmann vor, wie jene „fremde[n] Leute“ sein Geld ausgeben könnten. Aus der Bewegung seiner Gedanken, die ständig in die nicht faßbare Zukunft vorauseilen, entwickelt sich eine Geschichte, die mit ihnen wegläuft. Das imaginierte Fest zieht noch weitere „Leute“ herbei, die offensichtlich schon Konkurs gemacht haben und nun bereits auf der Flucht sind. Mit der Imagination von Fluchten nimmt der Kaufmann eine Technik aus der Beschreibung eines Kampfes auf. Die Entfaltung einer Textbewegung im Weitererzählen imaginierter Möglichkeiten hat hier jedoch nicht den Übergang 45
BK 88.
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in neue Text-Wirklichkeiten zum Ziel. Der dynamische Prozeß entsteht als Gedanken-Bewegung, folgt den inneren Zuständen des Kaufmanns und entfaltet sich in der bildhaften Beschreibung dieser Zustände: Wenn nun am Abend eines Werketages das Geschäft gesperrt wird und ich plötzlich Stunden vor mir sehe, in denen ich für die ununterbrochenen Bedürfnisse meines Geschäftes nichts werde arbeiten können, dann wirft sich meine am Morgen weit vorausgeschickte Aufregung in mich, wie eine zurückkehrende Flut, hält es aber in mir nicht aus und ohne Ziel reißt sie mich mit. Und doch kann ich diese Laune gar nicht benützen und kann nur nach Hause gehn, denn ich habe Gesicht und Hände schmutzig und verschwitzt, das Kleid fleckig und staubig, die Geschäftsmütze auf dem Kopfe und von Kistennägeln zerkratzte Stiefel. Ich gehe dann wie auf Wellen, klappere mit den Fingern beider Hände und mir entgegenkommenden Kindern fahre ich über das Haar.46
Der Einsatz „Wenn nun ...“ markiert einen genauen Zeitpunkt, das Ende des Arbeitstages. In diesem Moment ändert sich der innere Zustand des Kaufmanns. Seine Gedanken richten sich zwar immer noch in die Zukunft, aber sie laufen leer. Die Bewegung seiner Gedanken und die der „ununterbrochen“ fortgesetzten „Bedürfnisse“, auf die sie gerichtet waren, entkoppeln sich, wenn der Feierabend beginnt. Der zweite Satzteil entwirft die Konsequenz, die daraus folgt: „... dann wirft sich meine am Morgen weit vorausgeschickte Aufregung in mich, wie eine zurückkehrende Flut, hält es aber in mir nicht aus und ohne Ziel reißt sie mich mit.“ Diese Imagination eines Geschehens spinnt die Bewegung der in die Zukunft vorauslaufenden Sorgen in der Logik des Bildes weiter. Die Energie der „Sorge“, die „Aufregung“, hat sich an der Unterbrechung durch „Wenn nun ...“, die den Feierabend markiert, gleichsam aufgestaut. Der Satz inszeniert diesen Moment als Gipfel- und Wendepunkt, an dem aus der „vorausgeschickten“ die „zurückkehrende“ Aufregung wird. Mit dem Bild der „Flut“ vermittelt sich eine gesteigerte Wucht als Folge dieser Umwendung. Von diesem Bild her entwickelt sich die Beschreibung eines inneren Vorgangs zu einem dramatischen Geschehen. Die Gefühlsregung erscheint, grammatisch subjektiviert, als Naturgewalt, die unabhängig vom Ich agiert: die Aufregung „wirft sich [...] in mich“, „hält es aber in mir nicht aus“ und „reißt [...] mich mit“. Die Psychologie des Ich, das ‚es nicht aushält‘, geht auf die somit personalisierte Aufregung über. Im Zuge dessen wird aus der sprachlichen Formulierung des Gefühls, ‚mitgenommen‘ oder ‚aufgewühlt‘ zu sein, die Erfindung eines gestischen Geschehens, eines Werfens und Reißens, dem das Ich ausgesetzt ist, so daß am Ende seine eigenen inneren Zustände als Flutwelle über ihm zusammenbrechen. Die Redeweise, die die Zustände vom Ich trennt, sie zu personalen Wesen und Mächten und das Ich zu ihrem Opfer macht, erzeugt eine Vertauschung von Innen und Außen. Die Personifikation der „Aufregung“ setzt die der „Sorgen“ 46
B 22, Z. 12-25.
Der Kaufmann
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fort und zeigt den Zustand des Ich als eine gespaltene Situation: Zum einen machen die Sorgen seine Existenz aus; zum anderen sind sie ihm als fast eigenständige Wesen entfremdet. Er lebt nur in ihnen und ist dabei ständig ‚außer sich‘. Und es ist gerade der Versuch, seiner Situation Herr zu werden, sie durch die ungeheure Anstrengung der „Sorge“ zu meistern, der das Ich wie einen Spielball seinen eigenen Sorgen und Aufregungen ausliefert. Diesen Umschlag leistet das Bild. Es zeigt mit logisch erscheinender Konsequenz, wie aus dem Bemühen um Beherrschung der Zukunft hilflose Abhängigkeit wird. Seine Funktion geht daher über die szenische Veranschaulichung hinaus. Die Sorgen des Ich werden hier nicht nur anschaulich vorgeführt; sie werden zu Akteuren eines Geschehens, das aus der Logik der Bilder allererst entsteht, und in dem dieses Ich sein Schicksal erleidet. Indem er die Schilderung innerer Zustände mit der Entfaltung von Vorstellungsbildern verschränkt, erreicht Kafka in dem Prosastück Der Kaufmann eine neuartige Leistung. Dieser Text erzählt, während die Beschreibung eines Kampfes Vorstellungen aus einander entwickelt. In dieser neuen Form des Erzählens wird die Verschränkung von Textbewegung und Erzählvorgang aus der Beschreibung beibehalten. In der Verkettung und Dynamisierung der Bildvorstellungen zu sich aus einander entwickelnden Vorgängen entsteht die Erzählbewegung. Mit den Sätzen, in denen der Kaufmann die Zusammenballungen und Auflösungen seiner Gefühle beschreibt, stellt sich eine textuelle Dynamik her, eine Abfolge von Steigerung, Stauung, Aufgipfelung und Umwendung. Der Text baut also nicht nur Bilder auf, sondern mit und in ihnen dynamische Energien. Das Ich selbst – nicht das Geschäft – befindet sich am Ende dieses Prozesses in einer höchst prekären Lage. Durch die Vertauschung von Innen und Außen vollzieht sich zwischen Kaufmann und Geschäft ein Eigenschaftstausch. Auf Kosten des Kaufmanns, der nur für sein Geschäft lebt, gewinnt das Geschäft andeutungsweise personale Züge; seine „ununterbrochenen Bedürfnisse“ erscheinen als das eigentlich Lebendige. Am Kaufmann dagegen ist nach Ladenschluß nicht mehr viel Leben übrig. Er ist gezeichnet von Arbeit, so daß er „nur nach Hause gehn“ kann. Aus dem „nur“ spricht das Bedauern, nutzlos geworden zu sein; die Arbeitsspuren auf Gesicht und Kleidern lassen ihn als etwas Verbrauchtes erscheinen. Der Nachhauseweg bildet den letzten Ausläufer der textuellen ‚Flutwelle‘ und zeigt den Kaufmann erschüttert und zerfahren. Ein Rest der Aufregungs-Energie lebt noch in seiner „Laune“, vom Bild der Flut bleibt noch sein unsicherer Gang „wie auf Wellen“; die ziellos gewordene Bewegung setzt sich fort in seinen nervösen Gesten.
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II Betrachtung
3.2 Imaginäre Betrachtung 3.2.1 Die Konstruktion eines Moments Die Imagination von Bildern setzt eine narrative Bewegung in Gang und schafft damit einen Ablauf, d.h. eine zeitliche Struktur. Der nächste Erzählschritt inszeniert den umgekehrten Vorgang: hier wird aus Bewegung Stillstand, aus dem Ablauf ein aus dem Kontinuum herausgehobener Moment. Aber der Weg ist zu kurz. Gleich bin ich in meinem Hause, öffne die Lifttür und trete ein. Ich sehe, daß ich jetzt und plötzlich allein bin. Andere, die über Treppen steigen müssen, ermüden dabei ein wenig, müssen mit eilig atmenden Lungen warten, bis man die Tür der Wohnung öffnen kommt, haben dabei einen Grund für Ärger und Ungeduld, kommen jetzt ins Vorzimmer, wo sie den Hut aufhängen, und erst bis sie durch den Gang an einigen Glastüren vorbei in ihr eigenes Zimmer kommen, sind sie allein. Ich aber bin gleich allein im Lift, und schaue, auf die Knie gestützt, in den schmalen Spiegel.47
Der Nachhauseweg schrumpft auf zwei Worte zusammen: „zu kurz“. Die Aussage dieser zwei Worte macht den Weg noch kürzer, als er in der Abkürzung schon ist: er ist zu kurz. Daraus baut sich in Verbindung mit dem „Aber“ eine neue Spannung auf: ‚zu kurz‘ erschafft einen unbestimmten Rest von etwas, für das der Weg nicht ausgereicht hat, und das als überschüssige Energie übrig bleibt, die sich nun auf die neue, mit „Gleich“ einsetzende Handlung überträgt. Sie beginnt wie vor der Zeit, verfrüht; der Kaufmann tritt in sein Haus ein, als sei er eigentlich noch mit etwas anderem beschäftigt. Dieses ‚Nachhängen‘ kommt erst im Jetzt an, als er sich bereits im Lift befindet und sein Bewußtsein – wie verspätet – registriert: „Ich sehe, daß ich jetzt und plötzlich allein bin.“ Mit diesem Satz ist die textuelle Dynamik an einem Nullpunkt angekommen. Das Ich ist auf sich zurückgeworfen, die Bewegungen seiner Sorgen und seiner Handlungen haben aufgehört. Durch die Spannung zwischen verfrüht und verspätet, zwischen Beschäftigtsein und neuer Fokussierung der Aufmerksamkeit ist eine ziehende und treibende Bewegung entstanden, die in diesem Moment auf einmal zum Stillstand kommt und seine Leere mit Spannung auflädt. Unmittelbar darauf wird dieser Augenblick wieder aufgehoben. Eine Kette von Gedankengängen setzt ein und produziert eine neue Bewegung. Der Kaufmann verliert sich in ein Nachdenken über „Andere, die über Treppen steigen müssen“ und die erst dann allein sind, wenn sie oben ankommen. Ihr Treppensteigen wird ausführlich geschildert, als sei das Treppensteigen, Vor-derTür-Warten, Sich-Ärgern über das Dienstmädchen ein Vorhaben, das sie 47
B 22, Z. 26 - B 23, Z. 10.
Der Kaufmann
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beschäftigt. Ihre Lungen atmen „eilig“, als käme direkt aus ihnen die „Ungeduld“, die die Treppensteiger empfinden. Sie „ermüden“ dabei, als hätten sie wirklich etwas getan. Das Treppensteigen scheint die Illusion von sinnvoller und zielgerichteter Beschäftigung noch ein wenig wachzuhalten, was der automatische Lift nicht tut. Diese Beschäftigung aber ist es, die dem Kaufmann jetzt fehlt. Seine Gedanken laufen den ganzen Weg mit, ähnlich wie zuvor auf der Flucht nach Amerika; wie um die Leere zu füllen, müssen sie die „Anderen“ müde machen, bevor sie wieder ins Erdgeschoß zurückkehren, wo der Erzähler nochmals feststellt: „Ich aber bin gleich allein im Lift.“ Mit dieser Rückkehr wird der Moment der Ankunft im Lift, der Augenblick des Stillstands verdoppelt. Zuerst fast eilig übersprungen, dann in ablenkenden Gedankengängen zerdehnt, ist er jetzt mit einer Spannung aufgeladen, aus der sich der Übergang in einen nächsten Jetzt-Moment der erzählten Zeit fast übergangslos ergibt: „... und schaue, auf die Knie gestützt, in den schmalen Spiegel.“ Wie beiläufig setzt die Handlung wieder ein. Doch die Zeitstruktur hat sich verändert. Nach der zeitlich unbestimmten Schilderung der Kaufmannsexistenz und der wiederholenden immer-wenn-Sequenz des Geschäftsschlusses beginnt jetzt die Erzählung eines einmaligen Geschehens. Der Blick in den Spiegel ist der Ort dieses Umschlags. Er wird zum Beginn einer neuen Erfahrung. 3.2.2 „Ich sehe“: Imaginierte Blicke (I) Der Blick in den Spiegel während der kurzen Zeitspanne, in der der Lift zwischen Haustür und Wohnungstür nach oben schwebt, scheint alles, wovon bisher die Rede war, in Bilder zu verwandeln. Was der Ich-Erzähler im Spiegel sieht, wird dem Leser allerdings nicht mitgeteilt. Stattdessen beginnt der Erzähler eine Ansprache, als sähe er im Spiegel etwas, Personen, die er ansprechen könnte. Ich aber bin gleich allein im Lift, und schaue, auf die Knie gestützt, in den schmalen Spiegel. Als der Lift sich zu heben anfängt, sage ich: „Seid still, tretet zurück, wollt Ihr in den Schatten der Bäume, hinter die Draperien der Fenster, in das Laubengewölbe?“ Ich rede mit den Zähnen und die Treppengeländer gleiten an den Milchglasscheiben hinunter wie stürzendes Wasser. „Flieget weg; Euere Flügel, die ich niemals gesehen habe, mögen Euch ins dörfliche Tal tragen oder nach Paris, wenn es Euch dorthin treibt.“48
Offensichtlich handelt es sich bei dieser Rede um ein Selbstgespräch; zwar spricht der Kaufmann jemanden an, aber wer die Adressaten seiner Rede sein könnten, bleibt ungesagt. Die Rede entwirft sie als Möglichkeit, allein indem sie sich an sie richtet. Diese imaginären Zuhörer sind von derselben Art wie jene vorgestellten 48
B 23, Z. 9-20.
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II Betrachtung
Leute, die möglicherweise Mitleid haben, die „unzugänglichen“ Kunden und undurchsichtigen Händler, wie die imaginierten „Anderen“, die in den Gedanken des Kaufmanns Treppen steigen. Vielleicht sind die Adressaten überhaupt alle anderen, die als solche seinem Alleinsein gegenüberstehen und ihm unerreichbar sind. Ihnen befiehlt er, zu verschwinden – eine paradoxe Anweisung, die so tut, als wäre es nicht schon still und leer um ihn herum. Entsprechend paradox ist ihr Effekt. Indem der Redende die Angesprochenen in die „Schatten“ von Bäumen hinein und hinter „Draperien“ befiehlt, entwirft er eine Szenerie, ein imaginäres Draußen. Dort soll es so still und leer werden, wie es der Innenraum im Lift bereits ist. Aber gerade der Befehl, zu verschwinden, bevölkert die „Laubengewölbe“ und „Fenster“ dieser Szenerie mit Zuhörern und Beobachtern. Als Unsichtbare sind sie jetzt hinter Vorhängen und im Schatten verborgen. In einer besonderen Form des als-ob erfindet die Rede eine (sichtbare) Leere, die (unsichtbare) Augen und Ohren erhält. So entsteht virtuell eine Aufmerksamkeit, die sich zurück auf den Redner richtet. Der Erzähler unterbricht seine Rede mit einer kurzen Schilderung der Redesituation. „Ich rede mit den Zähnen und die Treppengeländer gleiten an den Milchglasscheiben herunter wie stürzendes Wasser.“ Diese und auch die ihr vorangegangenen Benennungen des Sichtbaren spielen damit, zu sagen und doch nicht zu sagen, was der Erzähler sieht. Wenn er sagt, „Ich sehe, daß ich [...] allein bin“, wird nicht erwähnt, daß er diese Erkenntnis wohl beim Anblick seines Spiegelbildes gewonnen hat. Die Existenz des Spiegels wird erst später erwähnt, wenn der Erzähler sagt, „Ich schaue, auf die Knie gestützt, in den schmalen Spiegel ...“; hier aber wird wiederum nicht erwähnt, was er darin sieht. Stattdessen spricht er, als sähe er dort etwas. Wenn er schließlich beschreibt, was er sieht, scheint es eine Ansicht seiner Umgebung zu sein und ist doch wahrscheinlich nur ihr Bild in dem Spiegel, den er vor sich hat; aber auch das wird nicht gesagt. Komplementär dazu ist das, was der Redner vor sich sieht, etwas Undurchsichtiges: Milchglasscheiben, die die Aussicht nach draußen verhindern, welche seine Rede eben entworfen hatte. Sie verwandeln das Sichtbare, die Treppengeländer, in Schemen und Schatten (formlos „stürzendes Wasser“). Das Bild einer „stürzenden“ Bewegung schaltet die Bewegung des Aufzugs zwischen die Bewegungen, die von der Rede evoziert werden, und parallelisiert die beiden Verläufe. Während der Aufzug beginnt, sich zu heben, entwirft der Redner die Bewegung des Zurücktretens und Verschwindens. (Vielleicht spricht er schon hier mit den Schattenbildern auf den Scheiben, die sich mit dem Start des Aufzugs in Bewegung gesetzt haben müssen, vielleicht befiehlt er diesen nicht genannten Schatten das Zurücktreten in den „Schatten der Bäume“?) Dann wird der Blick wieder zurück auf die Bewegung des Aufzugs gelenkt, und an das Verschwinden schließt sich das Bild des nach unten „stürzenden Wassers“. Diese Bewegung wiederum geht in ein Fliegen über, mit dem der nächste Satz der Rede anhebt. Der Befehl „Flieget weg“ könnte erneut an das Wahrnehmungsbild
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anschließen, als wende der Erzähler sich jetzt an die sich schnell nach unten bewegenden Schatten. „Flieget weg“ würde dann, im imaginativen Anschluß an das Wahrgenommene, dessen Verhältnisse umkehren: die Geländer verschwinden ja nach unten, weil der Beobachtende ‚fliegend‘/schwebend in die Luft emporsteigt. Der nächste Satz verneint die Bindung an Gesehenes, hält dabei aber an der Vorstellung des Fliegens fest: „Euere Flügel, die ich niemals gesehen habe, mögen Euch ins dörfliche Tal tragen oder nach Paris, wenn es Euch dorthin treibt.“ (Hervorhebungen von mir). Die Rede des Kaufmanns spielt im Entwurf von Adressaten, Handlungen und Szenerien mit Möglichkeiten und Verneinungen, mit vorgestellten und gesehenen Bildern und ihren imaginativen Verwandlungen. Das Wahrnehmungsbild des „stürzenden Wassers“ überkreuzt die gesehenen und imaginierten Bilder und assoziiert ihnen weitere. Aus dem Stürzen geht die Vorstellung des Fliegens hervor und daraus die Flügel, die wiederum eine Assoziation an die ‚Flügel der Gedanken‘ hervorrufen können und damit an jene Sorgen erinnern mögen, die der Kaufmann in die Zukunft vorausgeschickt hatte, vielleicht auch an schwarze Sorgen-Vögel, die Bedrohliches ankündigen. In dem konjunktivischen Entwurf einer fliegenden Sehnsuchtsbewegung „ins dörfliche Tal“ klingen auch Bildvorstellungen aus dem Volkslied an: „Wenn ich ein Vöglein wär‘...“. Zugleich evoziert diese Bewegung die Flügel der Phantasie, die sich über die Wirklichkeit aufschwingt und Möglichkeitsräume entwirft, wie der Kaufmann in seiner Rede. Weitere Bilder gruppieren sich als metonymisch verschobene Anklänge an früher entworfene Bildvorstellungen um die Erscheinung der Treppengeländer: die „zurückkehrende Flut“ der Aufregung kehrt als „stürzendes Wasser“ wieder, aus den „Wirtshausgärten“ sind „Laubengewölbe“ geworden, aus dem fernen Amerika das Sehnsuchtsziel Paris, aus der Flucht das „Flieget weg“. Aus der Isolation hinter den durchscheinenden, aber undurchsichtigen Milchglasscheiben entsteht in einem Wechselspiel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit der Entwurf eines Draußen, bewohnt von anderen. Die Benennungen des Sichtbaren umgehen den Spiegel und machen ihn damit zum blinden Fleck. Der Text erzeugt eine Instanz, die unsichtbar bleibt, auf die sich aber alle Blicke beziehen und von der alle Bilder ausgehen. Er nutzt den Spiegel wie einen Zauberspiegel. Der Spiegel, in den der Leser nie hineinblicken darf – oder in den er nur hineinblicken darf, wenn er nicht weiß, daß er in den Spiegel blickt –, zeigt die Umgebung, aber nur als opake, von Bewegung durchzogene Oberfläche; in anderen Momenten zeigt er Ansichten nie gesehener Gegenden. Von Gedanken und Assoziationen bewegt, ruft er weitere Bilder hervor. Aus dem Blick in den Spiegel entsteht der Entwurf einer Welt als Phantasmagorie. Die einzelnen Elemente dieser Phantasmagorie erscheinen nur vage zusammenhängend; sie etablieren keine kohärente Gegenwelt. Der Sinn des phantasierenden Entwerfens scheint eher darin zu liegen, diese Welt in der
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Erfindungsbewegung gleich wieder aufzulösen und erneut einer Leere zuzustreben. Alles, was als Sichtbares angesprochen wird: die nicht im Spiegel gesehenen Bilder, die sich verbergenden Zuschauer, die „nie gesehenen“ Flügel, hat teil an der Bewegung des Verschwindens, mit der die Schatten der Treppengeländer an den Scheiben hinabgleiten. Dieses Weggleiten, das die Verben „fliegen“, „tragen“ und „treiben“ weiterführen, zielt auf eine Dynamik ähnlich jener kurzen Geschichte von der Flucht, die die Gedanken mit sich nimmt. Mit seiner Rede tritt der Kaufmann aus seinem Alltag heraus. Während er im Aufzug schwebt, in der leeren, beschäftigungslosen Zeit, träumt er sich weg und hinaus.49 Das Laufen der Gedankengänge wird abgelöst von einem Übertritt in imaginäre Welten, wie es auch in der Beschreibung eines Kampfes geschieht. Genau genommen aber träumt der Kaufmann nicht sich hinaus. Er träumt die anderen weg, indem er das Leben der Anderen träumt, und zwar als seine Veranstaltung. Mit der Rede des Erzählers wird das Verfahren des ersten Textteils, Vorgänge der Innenwelt als bildhafte Vorstellungen zu inszenieren, abgelöst von einem imaginierenden Erzählen von Bildfolgen, einem vorstellenden Entwerfen von Szenerien. Dies ermöglicht dem Ich einen neuen Standpunkt: Im nächsten Schritt wird es zum Betrachter des imaginären Draußen. Die phantasmagorische Bilderwelt, die aus dem Blick in den Spiegel hervorgeht, steht wie ein Scharnier am Übergang zu dieser neuen Erzählbewegung. Während der Gegenstand der reflektierenden Betrachtung im ersten Teil etwas Unsichtbares war – die Sorgen des Kaufmanns –, lenkt der Kaufmann die Betrachtung jetzt von sich weg auf Stadtansichten hin, auf Sichtbares also, das er jedoch im Sprechen erst entwirft. Aus der Abhängigkeit von den undurchsichtigen Möglichkeiten der Zukunft wird der selbstherrliche Entwurf eines Möglichkeitsraumes.
49
Dieser Gegensatz zwischen Phantasie und Alltag wird für viele Interpretationen des Kaufmanns zum Ansatzpunkt. Mark Anderson etwa verbindet den Alltag des Kaufmanns mit Herrmann Kafkas Galanteriewarengeschäft, das Schweben im Lift mit dem sich dieser Sphäre entziehenden Ästhetentum des Schriftsteller-Sohnes Franz Kafka. In ihrer Wörtlichkeit wird Andersons Lektüre unvermittelt allegorisch: „The two modes of ‚Verkehr‘ are simultaneously opposed and intertwined, the lift working as a literal ‚vehicle‘ of the imagination, raising the anxious tradesman from the ground of commercial exchanges into the space of language, poetic fantasy, metaphor.“ (M. Anderson, a.a.O., S. 29). - James Rolleston akzentuiert den Gegensatz zwischen Alltagswelt und Träumerei umgekehrt: Der Kaufmann sei ein „Musterbild des im marxistischen Sinne entfremdeten, vom Unmöglichen beherrschten Menschen“, die Phantasmagorie zeige die „Verfremdung der Sprache vom Ich“ und sei eine gewollte Parodie auf den Text Kinder auf der Landstraße. (James Rolleston: „Betrachtung - Landschaften der Doppelgänger“, in: Der junge Kafka, a.a.O., S. 184-199, Zitate S. 196-198).
Der Kaufmann
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3.2.3 „Genießet die Aussicht des Fensters“: Imaginierte Blicke (II) Mit einem Wechsel des Standpunktes setzt die Rede neu ein. Von einem imaginären Fenster aus entwirft der Redner Ansichten einer Stadt. Weiterhin wendet er sich in Imperativen an ein Publikum. Sein Befehl soll es dazu bringen, selbst den Beobachter-Standpunkt einzunehmen und das Geschehen zu betrachten, so wie er es ihm vorschlägt: „Doch genießet die Aussicht des Fensters, wenn die Prozessionen aus allen drei Straßen kommen, einander nicht ausweichen, durcheinander gehn und zwischen ihren letzten Reihen den freien Platz wieder entstehen lassen. Winket mit den Tüchern, seid entsetzt, seid gerührt, lobet die schöne Dame, die vorüberfährt. Geht über den Bach auf der hölzernen Brücke, nickt den badenden Kindern zu und staunet über das Hurra der tausend Matrosen auf dem fernen Panzerschiff. Verfolget nur den unscheinbaren Mann und wenn Ihr ihn in einen Torweg gestoßen habt, beraubt ihn und seht ihm dann, jeder die Hände in den Taschen, nach, wie er traurig seines Weges in die linke Gasse geht. Die verstreut auf ihren Pferden galoppierende Polizei bändigt die Tiere und drängt Euch zurück. Lasset sie, die leeren Gassen werden sie unglücklich machen, ich weiß es. Schon reiten sie, ich bitte, paarweise weg, langsam um die Straßenecken, fliegend über die Plätze.“50
Die Stadtansichten werden den unsichtbaren Zuschauern und Zuhörern, die der Erzähler anspricht, weniger gezeigt als vielmehr zur Betrachtung befohlen. Der Redner lenkt jedoch nicht nur die Blicke, er schreibt seinen Zuhörern sogar vor, was sie zu tun und zu empfinden haben. Auf diese Weise werden die Adressaten seiner Rede als Akteure Teil des Tableaus, das die Rede entwirft. Sie sind nicht mehr im Schatten verborgen, sie werden sichtbar als ein Corps von Statisten, das der Erzähler durch die Szenerie eines sonntäglichen Bilderbogens einer Stadt am Meer dirigiert, die er Stück für Stück entstehen läßt. Die Imperative nehmen das Geschehen aus der Zeit heraus. Zugleich bestimmen sie eine Gleichzeitigkeit von Beschreibung und Geschehen, als würde das Angesprochene erst mit der Nennung zur Erscheinung kommen. Der Gestus, mit dem der Redner wie ein Regisseur die Spaziergänger an ihre Plätze dirigiert, spricht dieses Panorama als Kulisse an, zugleich aber als etwas, das bereits existiert, bevor er es zeigend benennt (die schöne Dame, der Bach, die hölzerne Brücke usw.). Nach und nach geht die Rede auf diese Weise in die Begleitung eines Geschehens über, das auch ohne ihre Anweisung auskäme. Ähnlich wie in der Beschreibung eines Kampfes entwirft die Phantasmagorie das, was schon der Fall ist, als wollte sie das, was unabhängig vom Ich in der Außenwelt geschieht, zu seinem Entwurf machen, es bestimmen und damit einholen. Dieser Prozeß läßt sich auch umgekehrt beschreiben, als Versuch, den Entwurf allmählich zur 50
B 23, Z. 21 - B 24, Z. 11.
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II Betrachtung
Beschreibung eines Geschehens werden zu lassen. Die Bilder und Handlungen, die der Redner zugleich diktiert und entwirft, werden zusehends selbständiger, emanzipieren sich vom Befehl und werden zu Erzählung („... seht ihm dann, jeder die Hände in den Taschen, nach, wie er traurig seines Weges in die linke Gasse geht. Die verstreut auf ihren Pferden galoppierende Polizei bändigt die Tiere ...“). Vom bloßen Zuschauen über Winken und Spazierengehen zur Verfolgung und Beraubung eines „unscheinbaren Mannes“ wird die den Akteuren anbefohlene Handlung immer bewegter und dramatischer. Ist der Mann eine Spiegelfigur für den Ich-Erzähler, hineingestellt in die von ihm erfundene Szene?51 Dies könnte die Fortsetzung der aus seiner Existenzangst heraus erfundenen Geschichte vom Fest im Wirtshausgarten sein, bei dem sein Geld veruntreut wird. Wieder sind es „Andere“, die rücksichtslos über einen Einzelnen hinweggehen und ihn vernichten; wieder ist er ihnen hilflos ausgeliefert. – Parallel zu dieser Entwicklung der Handlung zur Aggression hin werden die Befehle des Erzähler-Regisseurs immer sanfter. Am Anfang wehrt er die Angeredeten noch drohend ab („wollt Ihr?“). Schon im zweiten Satz wird die Drohung schwächer; dann werden die Befehle zu neutralen Regieanweisungen. Schließlich heißt es höflich: „Verfolget nur [...] Lasset sie [...] ich bitte“; beinahe demütig fordert der Erzähler die Akteure auf, den „unscheinbaren Mann“ zu überfallen. Wenn dieser Mann sein Doppelgänger ist, dann ist dem Redner eine doppelte Vertauschung geglückt: Er hat die Bedrohung, die von den „Anderen“ ausgeht, von sich weg auf seinen Doppelgänger übertragen und kann selbst zum Zuschauer werden. Er ist es, der die Handlungen der anderen kontrolliert – und zwar versteckt in unauffälliger Höflichkeit –, statt sie als Opfer zu erleiden. Die vormals unsichtbaren, bloß als Zuschauer Vorgestellten dagegen sind im Verlauf der Rede zuerst sichtbar, dann von Zuschauern zu Akteuren und schließlich zu Tätern gemacht worden. Diese Vertauschung hat Konsequenzen. Die Haltung des unbeteiligten Mitleidens, in die Zuschauer und Leser im ersten Satz versetzt wurden, ist ihnen jetzt verwehrt. Sie sind schuld an dem Unglück, das den „unscheinbaren Mann“ getroffen hat. Sie sind also Teil der Geschichte geworden, während der Kaufmann sich aus dieser Täter-Opfer-Geschichte hinaus gerettet hat.52 51
52
Vgl. J. Rolleston, a.a.O., S. 198: der „unscheinbare Mann“ als Doppelgänger des Kaufmanns. Rolleston zufolge bildet das Doppelgänger-Motiv die Grundstruktur von Betrachtung. Jedes Erzähler-Ich sei der Doppelgänger für ein Ich, „das Kafka-Ich, das literarisch noch nicht dargestellt werden kann“. (ebd., S. 184). Bernhard Böschenstein benennt in seiner Lektüre von Betrachtung einen ähnlichen Punkt. Als Grundzug der Sammlung bestimmt er, ihr Autor spiele „die Rolle der Souveränität des Ohnmächtigen durch“ (Bernhard Böschenstein: „Nah und fern zugleich: Franz Kafkas ‚Betrachtung‘ und Robert Walsers ‚Berliner Skizzen‘ “ , in: Der junge Kafka, a.a.O., S. 200-212, Zitat S. 208). Zum Kaufmann bemerkt Böschenstein: „An dieser Rolle ist alles Unterlegenheit, die
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3.2.4 Flucht als Erzählmodell Mit den nach Amerika weglaufenden Gedanken des Kaufmanns beginnt eine Bewegung des Fliehens und Verschwindens, die, vermittelt über die Bewegung des Aufzugs und die nach unten gleitenden Treppengeländer, schließlich in das imaginierte Geschehen übergeht, das vor dem Panorama der Stadtlandschaft abläuft. „Tretet zurück“ und „Flieget weg“ muß der Erzähler noch befehlen; zusehends aber verlagert sich die Flucht-Dynamik in Bewegungen, die er nur noch beobachtet. Dieser Übergang beginnt mit der Aussicht aus dem Fenster, „wenn die Prozessionen aus allen drei Straßen kommen, einander nicht ausweichen, durcheinander gehn und zwischen ihren letzten Reihen den freien Platz wieder entstehen lassen.“ Die Beschreibung folgt den Stadien eines bewegten Geschehens, das auf den Moment zuläuft, in dem der „freie Platz“ wieder unter den Darübergegangenen hervorkommt. Es ist eine Bewegung, die dabei ist, eine Leere herzustellen, eine im Bild noch momenthaft eingefangene Dynamik in Richtung eines Weglaufens und Verschwindens. In diesen Momenten löst sich das Geschehen vom Kommando und entwickelt sich in Richtung auf einen erzählten Ablauf hin. Im folgenden wird auch der Antrieb zu solchen Fluchtbewegungen in die erzählte Handlung hineinverlagert. Akteure treten auf, die „verfolgen“, „stoßen“ und „zurückdrängen“. Mit dem Erscheinen der Polizei verselbständigen sich die Regieanweisungen zur Geschichte, entwickelt aus der Bewegung der Reiterstaffel. Auch diese Bewegung zielt auf die Herstellung einer Leere. Nachdem die Polizisten die Straße geräumt haben, reiten sie selbst weg, zu Paaren geordnet, als folgten sie einer Choreographie. Diese aber wird vom Erzähler nicht mehr inszeniert, sondern nur noch kommentierend begleitet. Er hat Einblick in das Innere der Polizisten: „die leeren Gassen werden sie unglücklich machen, ich weiß es“. Wie um dies zu bestätigen, reiten sie tatsächlich weg, fast wie auf sein Stichwort, jedoch nicht mehr auf sein Kommando: „schon reiten sie, ich bitte, ...“. Die Geschichte endet im augenblickshaft eingefangenen und stillgestellten Bild einer Bewegung, die fliehen will: „langsam um die Straßenecken, fliegend über die Plätze.“ Das Bild von Entleerung und Auflösung bei Kafka einen Überblick ermöglichen kann, den hier der Spiegel des Lifts vermittelt.“ Diese Dialektik entwickelt er weiter an Zum Nachdenken für Herrenreiter (Betrachtung 1912): „Den Überblick gibt es nur aus der Sicht des Unterlegenen, da der Überlegene ja die Partei seines eigenen Sieges zu ergreifen versucht ist.“ (beide Zitate ebd., S. 207). Wesentlich für das Zustandekommen der Vertauschungsbewegung zwischen Ausgeliefertsein und Regie scheint mir die Rolle des vom Kaufmann in den Text eingeschriebenen Zuschauers zu sein, den Böschenstein nicht erwähnt. Die gegenläufigen Bewegungen dieses Textes vermitteln sich über den in der Imagination von Blicken einbezogenen Leser, und erst von diesem Akt der Beteiligung und Einschreibung her gewinnt der Kaufmann seine Souveränität, die zugleich Bedingung des Erzählens ist. Mit der Umwendung von Ohnmacht in Allmacht geht es daher m.E. nicht einfach um eine Parteinahme „zugunsten der vom System Ausgeschiedenen“ (ebd., S. 207), sondern um die Inszenierung einer bestimmten Form der erzählenden Rede.
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II Betrachtung
erinnert an das Prosastück Wunsch, Indianer zu werden aus Betrachtung von 1912.53 Auch dort entwickelt sich das Geschehen erst im Erzählen, während bzw. indem es in der Erzählerrede vorgetragen wird. Dieses Erzählen ist nicht mehr Regie, sondern selbst Bewegung, die mit dem erzählten Geschehen zusammenfällt. Die Übertragung der Fluchtbewegung in das Geschehen hinein und die Ablösung dieser Bewegung vom Kommando des Erzählers verläuft synchron mit der Vertauschung der Rollen zwischen Zuschauer und Regisseur, die aus dem Regisseur einen Zuschauer und aus den Zuschauern Täter macht. ‚Flucht‘ liegt als Erzählmodell diesen Transformationen zugrunde. Dem Erzähler gelingt es, aus der Fluchtbewegung des Träumens heraus ein Außen zu erfinden, es dann von sich abzuspalten, seine Gedanken in dieses Außen hinein zu verlagern und als Geschehen selbständig werden zu lassen. Diese Übertragung und die Vertauschung der Positionen sind die Bedingungen dafür, daß er selbst sich dem Geschehen und dessen Bewegung entziehen kann. Indem er seinen Doppelgänger ins Bild bringt, ist er selbst der Verfolgung entkommen. Der Erzähler kann nun aus seiner Geschichte verschwinden: Dann muß ich aussteigen, den Aufzug hinunterlassen, an der Türglocke läuten, und das Mädchen öffnet die Tür, während ich grüße.54
Mit der Rede endet auch die Aufzugfahrt. Die einmalige, undefinierbare Zwischenzeit ist vorbei, und damit ist der Jetzt-Moment der Ankunft und des plötzlichen Alleinseins vergangen. Der alltägliche Rhythmus beginnt wieder. Die Erzählung Der Kaufmann aber hört hier auf. Während der Zeit im Aufzug ist etwas geschehen, das es dem Erzähler ermöglicht, sie abzuschließen. Die Innenwelt des Kaufmanns, in die hinein der Text zu erzählen begonnen hatte, ist jetzt unzugänglich geworden. Der Kaufmann hat sich in jemanden wie den „unscheinbaren Mann“ verwandelt, der im nächsten Moment, d.h. in dem Moment, den der Text schon nicht mehr erzählt, hinter seiner Wohnungstür verschwunden sein wird. Diese Abgeschlossenheit beruht auf der Herstellung einer Leere, die seine Rede geleistet hat. Aus der vorgestellten Außenwelt sind am Ende der Rede wirklich alle anderen verschwunden, wie das Ich es zu Anfang befohlen hatte. Der beraubte Mann ist seines Weges gegangen, die Polizei hat die Zuschauer abgedrängt, die Straßen geräumt und ist selbst weggeritten. Es ist, als wären jetzt alle, nicht nur der Kaufmann, nach Hause gegangen. Die Dynamik des 53
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„Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glattgemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.“ (B 32f.) - Vgl. die Analyse dieses Stückes und seiner Spannung zwischen Dynamik und Stillstand bei Klaus Ramm: Reduktion als Erzählprinzip bei Kafka, Franfurt/M. 1971, S. 16-19. B 24, Z. 12-14.
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Verschwindens und Fliehens ist ins Unendliche weitergelaufen, „langsam um die Straßenecken, fliegend über die Plätze“. Der Text könnte schon an dieser Stelle aufhören, wie jener Wunsch, Indianer zu werden, der sich nur noch als reine Bewegung in der Luft hält, „schon ohne Pferdehals und Pferdekopf“.55 Aber der Kaufmann-Text soll offenbar nicht als Fluchtlinie enden. Er endet mit einem weiteren Schritt. Dieser Schritt setzt die Fluchtbewegung nicht fort, sie überträgt sich nicht mehr auf den nächsten Moment. Der Kaufmann tut den letzten Schritt, nachdem es ihm gelungen ist, der von ihm entfesselten Dynamik zu entkommen. Er tritt aus seiner Geschichte heraus und verschwindet selbst, an der Fluchtlinie vorbei und daher ganz in Ruhe, in seine Wohnung und in die Unsichtbarkeit hinein. 3.3 Schluß Die Rede des Kaufmanns im Aufzug beschreibt den Versuch, zum erfindenden Erzähler zu werden. Es gelingt dem Kaufmann in seiner Rede, seine Sätze mit dem, was sie berichten, zu synchronisieren, bis er schließlich befiehlt, was zugleich schon geschieht. Mit dieser imperativischen Struktur ist er dem Geschehen um einen Augenblick voraus, er kann es vorhersehen und kontrollieren. Damit etabliert die Rede eine Gegenbewegung zu der Veräußerlichung des Innen, die den ersten Teil der Erzählung bestimmt hatte. Während dort das Ich zum Spielball seiner Gefühle geworden war und von ihrer eigenmächtigen Dynamik getrieben wurde, gelingt es dem Kaufmann im Lift, eine Geschichte ins Laufen zu bringen, die von ihm bestimmt wird. Auf der Ebene der sprachlichen Vollzüge ist damit das Ziel seiner in die Zukunft vorauseilenden Sorge erreicht. Wie der erste, geht auch der zweite Teil von der Imagination fremder Blicke aus. Diese bestimmen nach der Betrachtungsweise des Lesers nun den Standpunkt des Erzählers als des betrachtenden Ich. Während die Zuschauer Schritt für Schritt als Akteure in ein Bild hinein erfunden werden, verbleibt der Standpunkt desjenigen Zuschauers, der sie sieht, am Fenster. Seine Perspektive auf das Geschehen ist die eines unbeteiligten Beobachters. Das Gegenstück zu diesem Fensterblick findet sich in dem Text Der Nachhauseweg. Hier ist der Moment der Ankunft zu Hause am Fenster der Augenblick einer nachdenklichen Leere. („Es hilft mir nicht viel, daß ich das Fenster gänzlich öffne und daß in einem Garten die Musik noch spielt.“56) Der Kaufmann dagegen hat den Augenblick des Alleinseins bereits im Aufzug antizipiert und ist beim Eintritt in seine Wohnung schon in seiner täglichen Routine geborgen. Er hat das Alleinsein, 55 56
B 33. B 26. In der Druckreihenfolge von 1908 und 1912 bilden Der Kaufmann, Zerstreutes Hinausschaun und Der Nachhauseweg eine Serie von Fenster-Blicken.
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von dem das andere Ich nach dem Nachhauseweg am Fenster überfallen wird, in eine paradoxe Kommunikation umgewendet. Er ist zwar allein, befindet sich damit aber nicht mehr im Gegensatz zu den geselligen Vergnügungen draußen, weil er den anderen aus diesem Draußen zu verschwinden befohlen hat. Man kann den Text als Beschreibung einer Einsamkeit lesen, als Geschichte eines Menschen, der autistisch eingeschlossen in seinen Sorgen lebt und der sich, wenn diese Beschäftigung wegfällt, in eine Leere geworfen findet und sich im Selbstgespräch aus dem Alleinsein wegträumt. Mich interessiert am Kaufmann jedoch weniger die Schilderung einer psychologischen Situation als vielmehr die Art und Weise, wie Kafka sie entfaltet. Als Perspektiv- und Identifikations-Figur ist der Kaufmann Generator einer Textbewegung. Aus dem Junggesellenleben wird eine Geschichte, die den Leser erst zum mitleidigen Zuschauer macht, um ihn dann die Sorgen des Kaufmanns spüren und die Dynamik seiner Gefühle mitfühlen zu lassen. Anschließend wird dieser Leser-Zuschauer in eine Geschichte hineingeschrieben, die der Kaufmann erfindet. Durch die Imagination fremder Blicke erzeugt der Kaufmann Teilnahme sowohl an seiner eigenen Lebensgeschichte als auch an der Geschichte, mit der er diese Blicke dann von seinem Inneren ablenkt und auf ein Außen dirigiert, das er entwirft und mit dem er das Leben der anderen zu einem von ihm erfundenen macht. Der Kaufmann ist also in einem gewissen Sinne gar nicht allein. Er inszeniert sich als Beobachteten. Aus diesem Beobachtet-Werden heraus entwickelt er Zuschauer, denen er nun ihre Blicke vorschreibt, während er selbst sich ihnen entzieht. Der Erzählvorgang entfaltet sich als Ineinander von imaginativen Prozessen und Sprachbewegung. Dieses Erzählmodell liegt auch der Beschreibung eines Kampfes zugrunde. In den Texten der Betrachtung gewinnt es jedoch eine neue Qualität. Im Kaufmann gelingt es der Erzählerrede, eine Dynamik zu erzeugen, die sich selbst vorantreibt und sich dennoch nicht verläuft. Statt eine immer weiter strebende Flucht-Dynamik zu entfalten wie in der Beschreibung eines Kampfes, kehrt die Erzählbewegung (beinahe) zum Ausgangspunkt zurück. Der Moment des Übergangs in die Phantasmagorie im Zentrum des Textes wird zum Ort einer Umwendung statt zum Beginn einer Serie von Schwellenüberschreitungen. Dieses Zentrum strukturiert eine doppelte Vertauschungsbewegung. Sie bringt zuerst das Innen des Erzählers nach außen und macht es sichtbar, um dann in die Erfindung von Sichtbarem überzugehen, während das Ich unsichtbar wird. Aus solchen Vollzügen entsteht mehr als ein sich selbst erneuernder und reflektierender Sprachprozeß, wie noch in der Beschreibung eines Kampfes. Die Sprachbewegung wird Erzählung. Bedingung dieses Gelingens ist die Konzentration auf einen zentralen Augenblick. Betrachtung ist im Kaufmann nicht als Inhalt einer Reflexion zu fassen, sondern als Erzählen in Bildern. Im Spiel von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit entstehen imaginative Prozesse, die sich an der Scharnierstelle in der Mitte, am ‚Nullpunkt‘ des Textes, als der Kaufmann aus dem Alltag heraustritt, zur
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Phantasmagorie verdichten. Bedeutung oder Bedeutsamkeit erhält das Erzählte vor allem durch die Art und Weise, wie der Moment unmittelbar vor der Ankunft als Übergang in eine nicht-alltägliche Form von Erfahrung gestaltet ist.
4. Der Fahrgast Der Fahrgast gehört zu den Stücken der Sammlung von 1908, die im wörtlichsten Sinne Betrachtung sind. Ein Ich-Erzähler beschreibt, was er sieht, und verbindet damit eine Reflexion. Betrachtung ist hier Auseinandersetzung mit dem Sichtbaren. Die Erkundung von Wahrnehmungs-Augenblicken tritt an die Stelle des Spielens mit Perspektiven und Blickweisen, wie es die Stücke Kleider und Der Kaufmann im spiegelnden Bezug von Bildern und Assoziationen entfalten. Das erzählte Geschehen spielt sich in wenigen Augenblicken ab; die Handlung währt so lange, wie der Blick sie erfaßt. Auch die Stücke Zerstreutes Hinausschaun und Die Vorüberlaufenden gestalten kurze Zeitspannen, in denen ein Ablauf beobachtet wird. In allen drei Texten liegt in der Betrachtung ein Moment der Verwandlung. Das Sehen wird zu einer intensiven Erfahrung, zu einer anderen Sicht auf die Wirklichkeit gesteigert. Die Betrachtung bringt das Verhältnis zwischen Innen und Außen in Bewegung und verschiebt das Sichtbare ins Irreale. Dieser Zug ins Phantastische verbindet die auf das Sehen konzentrierte Betrachtung mit den ins Imaginäre verlängerten, phantasierenden Betrachtungen, die ich am Beispiel des Kaufmanns dargestellt habe. In beiden Fällen ist die ungewöhnliche Erfahrung an den Augenblick gebunden. Die folgenden Analysen werden die Mittel und Verfahren der Konstitution eines solchen Wahrnehmungs-Augenblicks in dem Prosastück Der Fahrgast herausarbeiten. Der Fahrgast Ich stehe auf der Plattform des elektrischen Wagens und bin vollständig unsicher in Rücksicht meiner Stellung in dieser Welt, in dieser Stadt, in meiner Familie. Auch nicht beiläufig könnte ich angeben, welche Ansprüche ich in irgendeiner Richtung mit Recht vorbringen könnte. Ich kann es gar nicht verteidigen, daß ich auf dieser Plattform stehe, mich an dieser Schlinge halte, von diesem Wagen mich tragen lasse, daß Leute dem Wagen ausweichen oder still gehn oder vor den Schaufenstern ruhn. – Niemand verlangt es ja von mir, aber das ist gleichgültig. Der Wagen nähert sich einer Haltestelle, ein Mädchen stellt sich nahe den Stufen, zum Aussteigen bereit. Sie erscheint mir so deutlich, als ob ich sie betastet hätte. Sie ist schwarz gekleidet, die Rockfalten bewegen sich fast nicht, die Bluse ist knapp und hat einen Kragen aus weißer kleinmaschiger Spitze, die linke Hand hält sie flach an die Wand, der Schirm in ihrer Rechten steht auf der zweitobersten Stufe. Ihr Gesicht ist braun, die Nase, an den Seiten schwach gepreßt, schließt rund und breit ab. Sie hat viel braunes Haar und verwehte Härchen an der rechten Schläfe. Ihr kleines Ohr liegt eng an, doch sehe ich, da ich nahe stehe, den ganzen Rücken der rechten Ohrmuschel und den Schatten an der Wurzel.
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Ich fragte mich damals: Wieso kommt es, daß sie nicht über sich verwundert ist, daß sie den Mund geschlossen hält und nichts dergleichen sagt?57
4.1 Haltlosigkeit: Das Verhältnis von Ich und Außenwelt als Bedingung einer paradoxen Aussageform Der Fahrgast beginnt mit einem Vexierspiel zwischen Innen und Außen, das die Position des erzählenden Ich ins Schweben bringt. Der Text setzt ein mit einem Aussagesatz, der den Ort angibt, an dem sich der Erzähler in dem erzählten JetztAugenblick befindet: „Ich stehe auf der Plattform des elektrischen Wagens“. Der Indikativ behauptet Verläßlichkeit. Doch schon der nächste Satzteil formuliert einen radikalen Zweifel an der Standfestigkeit dieses Ich: es fühlt sich „vollständig unsicher in Rücksicht meiner Stellung in dieser Welt“. Das im Indikativ aufgestellte „Stehen“ und die unsichere „Stellung“ werden durch die Wiederholung parallelisiert, so daß sich der aktuelle Standpunkt des Erzählers und der abstrakt-metaphorische Platz des Ich in der Welt überblenden, als handelte es sich in beiden Fällen im gleichen Sinne um Ortsbestimmungen, als gäbe es gar keinen Unterschied zwischen innerer und äußerer „Stellung“. Wenn aber der Platz unter den Füßen als der einzige Ort in der Welt erscheint, den das Ich noch bestimmen kann, dann wird diese Tatsache zum Ausgangspunkt einer ubiquitären Verunsicherung. Auf diese Weise überträgt sich die Unsicherheit vom Innen auf die Außenwelt.58 Der innere Zustand wäre indes auch lesbar als Reflex eines unsicheren, nicht fest an seinem Platz verharrenden Außen. Denn tatsächlich ist die Plattform eines „elektrischen Wagens“ kein fester Boden unter den Füßen, sondern einer, der sich bewegt, und daher ein Ort, an dem es nicht einfach ist, einen festen Halt zu finden. Da die Plattform offen ist, haben die Passagiere die verschiebende Bewegung ständig vor Augen – anders als im Inneren des Wagens sehen sie zugleich das Straßenpflaster, das scheinbar unter ihren Füßen weggezogen wird, und den unbewegten Waggonboden, auf dem sie stehen. Diese Situation wird im Text nicht benannt, sie ist mit der „Plattform“ höchstens angedeutet. Dennoch spielt der Fahrgast-Text mit der Paradoxie, die das Fahrgast-Sein impliziert: sich von der Stelle zu bewegen, ohne daß man sich bewegen muß. Diese Gleichzeitigkeit von festem Stand und Verschiebung nimmt der Eingangssatz mit der Überblendung der inneren Unsicherheit und dem definierten Ort des Ich auf 57 58
B 27f. Vgl. hierzu Klaus Ramm, der seine Studie über „Reduktion als Erzählprinzip“ mit einer Analyse von Der Fahrgast eröffnet. Seine Untersuchung des Satzaufbaus und der stilistischen Mittel arbeitet „Unsicherheit als einen konstitutiven Zug dieser Skizze“ heraus und bestimmt den Text als Formulierung einer Position, „von der aus dem Erzähler gerade die einfachen, alltäglichen Gegebenheiten zum Gegenstand des Fragens werden“. (K. Ramm, a.a.O., S. 7-9, Zitate S. 9).
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und setzt sie in ein Verhältnis der wechselseitigen Haltlosigkeit von Innen und Außen um. Mit der Etablierung dieses Verhältnisses knüpft der Text an die Passage aus der Beschreibung eines Kampfes an, in der die Statue Karls IV. in der Wahrnehmung des Ich-Erzählers zu schwanken beginnt. Der Versuch eines schwankenden Ich, sich an der Außenwelt festen Halt zu verschaffen, geht dort in die Erfahrung über, daß die Außenwelt selbst schwankend ist. Diese Erfahrung der prekären Beziehung von Ich und Welt greift Der Fahrgast auf. Während aber die Passage in der Beschreibung eines Kampfes die Schaukelbewegung in immer neue Drehungen hinein fortsetzt, macht der Erzähler im Fahrgast einen Versuch, den Halt wieder zu gewinnen. An diesem Versuch läßt sich aufweisen, wie sich Kafkas Verfahren in der Ablösung der Beschreibung durch Betrachtung verändern. Die Beschreibung eines Kampfes läuft auf eine sich immer weiter schraubende Drehbewegung hinaus. Die Miniaturen der Betrachtung dagegen entfalten diese Bewegung auf minimalem Raum und entwickeln dabei Verfahren, die über die fortgesetzte Vertauschung hinausgelangen. Voraussetzung dafür ist eben jenes Verhältnis wechselseitiger Haltlosigkeit, das der erste Satz installiert. Im ersten Absatz wird dieses Verhältnis schrittweise entfaltet. In auffällig bürokratisch-juristischen Termini führt der Erzähler aus, warum er seine Beziehung zur Welt als unsicher empfindet. Die Rede ist von „Ansprüchen“, die nicht bestehen; er hat nichts, was er „in Rücksicht meiner Stellung in dieser Welt“ „mit Recht vorbringen könnte“; er kann sich nicht „verteidigen“. Diese Rede vermeidet, den „Ansprüchen“, die nicht behauptet werden können, einen Inhalt zu geben. Indem aber der Satz die nicht vorhandenen Ansprüche und Berechtigungen nicht definiert, erzeugt er die Unsicherheit, von der er spricht. Denn eben weil unklar ist, welche Ansprüche behauptet werden könnten, wird um so deutlicher, daß da nichts ist, das „in irgendeiner Richtung mit Recht“ behauptet werden könnte (Hervorh. v. mir). Der unsichere Bezug zur Welt entsteht somit allein aus der Negation, als Unmöglichkeit der Rechtfertigung. Aus dem Nichts heraus, nur durch die juristischen Formeln, die die Unmöglichkeit einer berechtigten Behauptung etablieren, wird eine Anklagesituation geschaffen, in der sich das Ich verteidigen muß – ohne daß je eine Anklage formuliert worden wäre. Nicht die Frage ist zuerst da, sondern die Tatsache, daß das Ich keine Antwort darauf hat. Diese argumentative Verschiebetaktik zwischen Möglichkeit und Verneinung verfährt ähnlich, wie ich es bereits für den Kaufmann beschrieben habe. Dessen Sorgen gehen einzig und allein aus der Möglichkeit hervor, daß etwas Unvorhersehbares eintreten könnte, was schlechterdings nicht verneint werden kann. Im Fahrgast wird gesagt, daß nichts verteidigt und behauptet werden kann, um mit dieser Aussage doch etwas zu behaupten, nämlich die Suggestion, daß man zur Verteidigung eigentlich in der Lage sein sollte. Beide Techniken spielen mit verkehrt aufeinander bezogenen Modi des Aussagens.
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Die Unmöglichkeit, „Ansprüche“ vorzubringen, organisiert eine Bewegung, die vom Ich ausgehend die Unsicherheit erweitert. Die Haltlosigkeit bezieht sich zunächst allgemein und universell auf die „Welt“. Dann wird ihr Bezug konkreter. Er verengt sich auf die Stadt, die Familie. Schließlich kann noch nicht einmal das Kleinste und Faßbarste, „daß ich auf dieser Plattform stehe“, gerechtfertigt werden. Damit ist der Punkt höchster Verunsicherung erreicht. Hier springt die ‚Verteidigung‘ in einen anderen Bereich über. Wie um einen Halt zu suchen, wandert der Blick von der Plattform aus nach außen. Ein vielteiliger Relativsatz vollzieht seinen Weg nach und überträgt dabei den virtuellen Anspruch bzw. die Unmöglichkeit, „zu verteidigen, daß ...“, Schritt für Schritt auf alles Wahrgenommene: vom Straßenbahnwagen über die Straße unmittelbar vor dem Waggon mit den ihm ausweichenden Leuten bis schließlich zum Gehweg und den unbeteiligten Passanten. Der Anspruch auf Rechtfertigung wird so auf die Außenwelt ausgedehnt und damit auf einen Bereich, der gar nicht in demselben Sinne „verteidigt“ werden kann wie die „Stellung“ des Ich gegenüber den Instanzen der „Welt“, Stadt/Gesellschaft und Familie. Mit dem Ausweiten des Blicks unter der Maßgabe, „verteidigen“ zu müssen, aber nicht zu können, wird auch das, was außerhalb des unsicheren Ich liegt, in die Haltlosigkeit hineingezogen. Durch die Satzform wird die vom Ich unabhängige, sichere Außenwelt zum Grund für die Unsicherheit des Ich umdeklariert. Die Unsicherheit geht jetzt vom Greifbaren aus, und zwar, weil sich gerade dieses nicht verteidigen läßt und also keinen festen Halt gewährt. In dem Versuch, außen einen Halt zu finden, wird die Beziehung von Welt und Ich erst recht prekär. Diese Verschiebung setzt bei der Paradoxie an, daß der Ich-Erzähler etwas versucht, was notwendigerweise mißlingen muß. Die Vorgänge in der Außenwelt sind ja tatsächlich nicht vom Ich zu verantworten. Der Versuch, es dennoch zu tun, setzt eine verkehrte Relation von Ich und Welt voraus; sein Scheitern wiederum stellt einfach die natürlichen Verhältnisse wieder her, wäre also eigentlich kein Grund zur Beunruhigung. Der abschließende Satz „Niemand verlangt es ja von mir, aber das ist gleichgültig“ greift diesen Einwand auf – mit einem Gestus, als hätte soeben jemand die Frage gestellt – und räumt ein, daß es gar keine Anklage gibt, die das Ich zu einer solchen Verteidigung zwänge. Das heißt aber nicht, daß der Satz die Anklage zurücknähme. Die Frage nach den berechtigten Ansprüchen bleibt nach wie vor bestehen, denn sie kann nicht beantwortet werden. Es ist eben tatsächlich unmöglich, „zu verteidigen, daß [...] Leute dem Wagen ausweichen“, unabhängig davon, ob es jemand verlangt. Daher ist es „gleichgültig“ und mitnichten beruhigend, daß in Wirklichkeit überhaupt niemand die „Ansprüche“ des Ich in Frage stellt. – Durch diese vorgestellte Kommunikation des Erzählers mit dem „Niemand“, der die Verteidigung verlangt, entsteht eine dialogische Situation, die der Unterhaltung zwischen der Sicht des Erzählers und der ‚normalen‘ Sicht (der Mädchen und des Lesers) in Kleider
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ähnelt. Die scheinlogische Argumentationsstruktur des Dialogs verkehrt die Relation von Ursache und Wirkung, so daß, wer sich einmal auf diese Logik eingelassen hat, die von niemandem gestellten Fragen nicht mehr beantworten kann. Die sprachliche Akrobatik zwischen Möglichkeit und Verneinung bringt das Ich in eine unsichere „Stellung“, in die Position des Unterlegenen. Dies ist allerdings zugleich eine Stellung, die es dem Ich erlaubt, sich als Subjekt einer erzählenden Rede einzusetzen. Der Satz, mit dem der Ich-Erzähler aussagt, das Dasein der Welt nicht rechtfertigen zu können, unterstellt alle folgenden Vorgänge der Verantwortung des Erzählers, die dieser zugleich verneint. Unmittelbar darauf behaupten die „daß“-Sätze ihrerseits eine Aussage, diesmal eine positive. Indem der Erzähler benennt, „daß Leute dem Wagen ausweichen oder still gehn oder vor den Schaufenstern ruhn“, behauptet er, daß sie existieren. Aus den Beispielen für die Unsicherheit des Ich, die zu einer Reihe addiert werden, ergibt sich das Bild der Situation. Dem Blick folgend, beschreiben sie eine Abfolge von Vorgängen: stehen, sich halten, sich tragen lassen, ausweichen, still gehen, vor den Schaufenstern ruhen. Der deiktische Gestus, mit dem die Dinge der Außenwelt angesprochen werden (diese Schlinge, dieser Wagen), benennt diese Welt als vorhandene und entwirft sie zugleich, in ein und demselben Erzählvorgang. Wie schon im Kaufmann, so erweckt auch hier die paradoxe Konstruktion der Aussageform den Eindruck, als ob das, was ohne Ich geschieht, sein Werk wäre. Dies ist eine Technik, die es ermöglicht, dieses Verhältnis auf der textuellen Ebene wirklich zu erreichen. Indem das Ich Verantwortung für etwas übernimmt, das sowieso nicht von ihm zu verteidigen wäre, und zugleich erklärt, ihr nicht genügen zu können, wird ein Sprechen möglich, das vom Ich aus die Welt entwirft. Die Ich-Figur ist in ihrer Eigenschaft als Erzähler sehr wohl für die Existenz dieser Welt verantwortlich, da diese auf ihre zeigende Benennung hin entsteht. Die Verdrehung von Möglichkeit und Negation kehrt das Verhältnis von Behauptung und Behauptetem um, so daß das Sprechen das zu Bezeichnende allererst ins Dasein holt, es entwirft und regiert. So wird die Haltlosigkeit im Verhältnis von Ich und Welt, als paradoxe Aussageform gestaltet, zur Bedingung des Erzählens. 4.2 Fixierende Blicke Dem Fahrgast-Ich gelingt es ebensowenig wie dem Erzähler der Beschreibung, sich am Außen festzuhalten. Anders als jener verläßt der Fahrgast-Erzähler jedoch das Sprachspiel, um Halt – bzw. eine neue Position – zu gewinnen. Im zweiten Absatz des Textes wird die paradoxe Aussageform von einer ungebrochen erzählenden Rede abgelöst. Das Ich gibt hier die reflektierenden Betrachtungen
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auf und geht zur anschauenden Betrachtung über. Zugleich wendet es sich von der Aussicht ab und der unmittelbaren Umgebung zu. Der Betrachter widmet sich der Beschreibung eines Mädchens, das sich zum Aussteigen bereitmacht. Er zeichnet ihren Anblick minutiös nach. Sein Blick erinnert an den taktilen Zugriff bei der Beschreibung eines schönen Mädchengesichts in Kleider. Er wird explizit als haptischer bezeichnet: „Sie erscheint mir so deutlich, als ob ich sie betastet hätte.“ Angesichts der Detailgenauigkeit seiner Beschreibung scheint dieser Kommentar berechtigt; bei näherem Hinsehen erweist er sich jedoch als irreführend. Hier sieht ein Auge und nicht der Ersatz für eine Hand. Das Auge registriert fotografisch genau, was zu sehen ist, nicht das, was sich fühlen ließe. Der Erzähler beschreibt Oberflächen, besonders ausführlich die Kleidung; Körperformen werden (bis auf die Nase) nicht benannt. Mit der Kleidung beginnend, fährt die Beschreibung mit der Stellung des Mädchens nahe den Stufen fort, um schließlich einzelne Partien des Gesichts zu fokussieren. Aus den Details setzt sich nach und nach ein Bild zusammen. Es vermittelt den Eindruck von Festigkeit und tadelloser Haltung. Das Mädchen verhält sich als Fahrgast geradezu vorschriftsmäßig. Der Erzähler stellt besonders ausführlich dar, wie sie sich festhält: mit der linken Hand an der Wagenwand, mit der rechten am Knauf ihres Schirms; er gibt sogar an, auf welcher Stufe sie diesen Schirm abgestützt hat. Ihre Rockfalten bewegen sich kaum, so gut hat sie sich der Bewegung des Wagens angepaßt. Sie beherrscht das Gefahren-Werden offenbar perfekt. Im Gegensatz zu ihm, der sich nur an einer Halteschlinge festhält, steht sie sicher. – Die Adjektive „knapp“, „kleinmaschig“, „klein“, „eng anliegend“, die Details von Kleidung und Körper charakterisieren, unterstreichen den Eindruck eines deutlich abgegrenzten, in sich gehaltenen Körpers, den die „rund und breit“ abschließende Nase zu einem Bild der Festigkeit ergänzt. Damit kontrastieren „verwehte Härchen an der rechten Schläfe“, die nicht in dieses perfekte Äußere passen wollen. Sie rufen die Assoziation gelösten Haares wach und geben dem Bild eine erotische Dimension, welche auch die knapp sitzende Bluse andeutet. In der Spannung zwischen gehalten und gelöst, klassischer Kleidung und körperkonturierenden Details wird aus dem Widerspruch zwischen dem fotografisch distanzierenden Blick auf die Oberflächen und dem Konjunktiv, „als ob ich sie betastet hätte“, ein erotischer Wunsch. Diese erotische Dimension entsteht gerade daraus, daß der Blick nur den Oberflächen gilt und nicht dem Körper unter der Kleidung. Er versucht nicht etwa, eine Ahnung von unsichtbar Verhülltem zu entdecken; sein ‚Abtasten‘ widmet sich den Falten des Rocks, den Maschen der Kragenspitze, den Härchen an der Schläfe. Schließlich erreicht er „den ganzen Rücken der rechten Ohrmuschel und den Schatten an der Wurzel“ und damit die größtmögliche Nähe. Der Blick heftet sich mit solcher Schärfe auf das Sichtbare, daß er zudringlich wird. Von den Kleidern über die Nase, dann Schläfenhärchen und
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Ohr dringt er in immer privatere Zonen vor. Beim „Schatten an der Wurzel“ wirkt der Blick fast obszön; er ruht auf einem hinter dem Ohr versteckten und durch den Schatten zusätzlich geheimnisvoll gemachten Winkel des Körpers, den bei normaler Distanz niemand sehen kann. Die Überschreitung, die dieser Blick vollzieht, wird betont, indem das Ohr als ein eng anliegendes beschrieben wird, das dem Blick das Eindringen in seinen Winkel verwehrt. Vielleicht rührt die Obszönität auch daher, daß der Schatten hinter dem Ohr ein Punkt ist, den das Mädchen selbst niemals zu Gesicht bekommt und den sie, ohne davon zu wissen, den Blicken in ihrem Rücken aussetzt, von denen sie ebenfalls nichts weiß, so daß sich hier fast eine voyeuristische Schlüsselloch-Situation ergibt. Ein direkter Blickkontakt fehlt; die Augen des Mädchens werden nicht erwähnt. – Diese extreme Nähe erzeugt eine erotische Spannung, die sich daraus speist, daß solche Nähe normalerweise nur in intimen Situationen erlaubt ist. Der Erzähler übersetzt diese Spannung in eine imaginierte Berührung, die er seiner Beschreibung voranstellt, als sei diese aus dem Haptischen hervorgegangen. Aber es ist erst der Blick, der diese Handlung vollzieht, indem er die sichtbaren Oberflächen abtastet. Aus der Nähe geht die Deutlichkeit der Beschreibung hervor. „Da ich nahe stehe“ ist der Grund dafür, daß das Mädchen „erscheint“, „als ob ich sie betastet hätte“: sie steht zum Anfassen nahe. Durch die Nahsicht wird die visuelle Wahrnehmung übersteigert. Die Details sind mit äußerster Deutlichkeit wiedergegeben, ihren Kontext blendet der Blick dagegen weitgehend aus. So scheint sich das Bild des Mädchens vor einem undeutlichen Hintergrund um so schärfer abzuheben. Sie wird zur Erscheinung, die ‚wirklicher‘ wirkt als das Wirkliche. Der Fahrgast ist, so weit ich sehe, der erste Text, in dem Kafka dieses Verfahren anwendet.59 Detailgenauigkeit wird später zum bestimmenden Merkmal seiner Prosa.60 Kafka selbst hat sie mit jener überwirklichen Präsenz in Verbindung gebracht, die einzelne Bestandteile von Träumen gewinnen können.61 59
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Allerdings steht schon in den frühen Ansätzen zu dem Roman Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande die Erfassung des Sichtbaren im Zentrum. Dabei treten ebenfalls isolierte Details in den Vordergrund; bestimmender als die Detailgenauigkeit scheint mir jedoch eine Geste des Verwischens, Verunklarens zu sein. In beiden Formen der Darstellung liegt eine Irrealisierung des Wahrgenommenen. - Vgl. zur visuellen Wahrnehmung in den Hochzeitsvorbereitungen Norbert Miller: „Traum- und Fluchtlandschaften. Zur Topographie des jungen Kafka. Mit einem Exkurs über die Träume in der ‚Schwarzen Romantik‘ “, in: Möglichkeitssinn. Phantasie und Phantastik in der Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Gerhard Bauer u. Robert Stockhammer, Wiesbaden 2000, S. 63-102, v.a. S. 74-77. Vgl. hierzu u.a. David H. Miles: „Pleats, Pockets, Buckles, and Buttons: Kafka's New Literalism and the Poetics of the Fragment“, in: Probleme der Moderne. Studien zur deutschen Literatur von Nietzsche bis Brecht. Festschrift für Walter H. Sokel, hrsg. v. B. Bennett, A. Kaes, W.J. Lillyman, Tübingen 1983, S. 331-342. Verwiesen sei hier nur auf die mit ihrer schmerzlichen Deutlichkeit quälenden Einzelheiten eines Stierkämpfer-Kostüms in einem (Tag-)Traum des Josef K. (KKA: Der Proceß, S. 349f.) Vgl. auch die Tagebucheintragung vom 22.3. 1922 über die „Grenze zwischen dem gewöhnlichen Leben und dem scheinbar wirklicherem Schrecken“ der Träume (KKAT, S. 913).
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Auf eine solche gesteigerte, halluzinatorische Präsenz läßt sich das Bild des Mädchens im Fahrgast beziehen. Es wird durch die Beschreibung zu einer Erscheinung, die ‚wie zum Anfassen‘ deutlich dem Leser vor Augen gestellt wird. Er bekommt also nicht etwa den Eindruck, als ob er sie betastet hätte, sondern: als ob er sie betasten könnte. So suggeriert der Text einen Eindruck und zugleich einen Wunsch, wie ihn auch die Visionen des Traums hervorrufen.62 Die Beschreibung des Mädchens stellt einen Gegensatz zum ersten Teil des Textes her. So wenig Konkretes man sich im ersten Abschnitt unter den an den Erzähler gestellten „Ansprüchen“ vorstellen konnte, so deutlich erscheint umgekehrt die visuelle Vorstellung im zweiten Teil. Für dieses Mädchen muß niemand mehr verantwortlich sein oder ihr Dasein verteidigen; sie ist das Gegenbild des haltlosen Ich. Im Gegenzug dazu hat sich die unsichere „Stellung“ des Beobachters im Verlauf der Betrachtung ihrerseits verändert. Je intimer der Blick, desto eindeutiger wird auch der Blickwinkel bestimmbar und damit der Standpunkt des Betrachters. Satz für Satz wird klarer, daß der Blick von der Seite kommen muß, genauer: von der rechten, ungefähr auf gleicher Höhe, und zwar halb von hinten. Das Fokussieren ist die Gegenbewegung zu dem Ausweiten des Blicks nach draußen, auf immer entferntere Gegenstände. Im Festhalten der Details wird der Betrachter selbst an seinen Platz zurückverwiesen. Er hat also einen Halt gefunden: sein Blick fixiert das Mädchen und auf diesem Umweg ihn selbst. Das ‚Betasten‘, das diesem Blick unterlegt ist, wäre demnach auch der Versuch, sich an dem Mädchen festzuhalten, um dem Schaukeln der Halteschlinge und des eigenen Selbstgefühls zu entkommen. Indem der Betrachter diesen Wunsch durch seine Blickregie inszeniert, erschafft er sich den festen Bezugspunkt und zugleich ein erotisches Objekt, dem gegenüber er sich als Mann behaupten kann. Sein Platz in der Welt ist nun genau definiert. 4.3 Betrachtung als Verschiebung von Standpunkten und Sichtweisen Die Betrachtung endet mit einem Satz, der als dritter Teil vom Rest des Textes abgesetzt und betont wird. In der Funktion einer ‚Moral der Geschichte‘ schließt er eine Reflexion über das Gesehene an die Beschreibung des Mädchens an und greift dabei auf die Betrachtung über Unsicherheit aus dem ersten Absatz zurück. 62
Die Technik der Beschreibung ließe sich im Sinne von Roland Barthes als ‚Hypotypose‘ bezeichnen: „le fantasme [institutionnalisé] sous le nom d'une figure particulière [...], chargée de ‚mettre les choses sous les yeux de l'auditeur‘, non point d'une façon neutre, constative, mais en laissant à la représentation tout l'éclat du désir [...].“ Die realistische Beschreibung dagegen verweigert sich Barthes zufolge einer solchen „activité fantasmatique“. Vgl. Roland Barthes: „L'effet de réel“, in: R. Barthes, L. Bersani, Ph. Hamon, M. Riffaterre, I. Watt: Littérature et réalité, Paris 1982, S. 81-90, Zitat S. 86.
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Die Fragwürdigkeit des Selbstverständlichen wird erneut zum Thema. Statt auf seine eigene Stellung richtet sich die Frage des Ich-Erzählers jetzt auf die Sichtweise des Mädchens: „Wieso kommt es, daß sie nicht über sich verwundert ist [...]?“ Diese Frage variiert das in der Beschreibung eines Kampfes geäußerte Staunen über die Selbstverständlichkeit, mit der sich zwei Frauen an einem Sommertag unterhalten („Ich jause im Grünen“, vgl. Kap. I).63 Ähnlich wie die JausenGeschichte, inszeniert der Fahrgast einen Moment zwischen Alltäglichkeit und Verwunderung, einen Augenblick des Aufwachens in der zur Vision gesteigerten Wahrnehmung. Das Erstaunen des schwankenden Ich der Beschreibung über „die Festigkeit, mit der die Menschen das Leben zu tragen wissen“, über die Selbstverständlichkeit, mit der sie „so tun, als wäre das etwas Natürliches“, und agieren, „als müßte es jeder erwartet haben“, ist dennoch nicht deckungsgleich mit der Frage des Fahrgast-Ich.64 Der Akzent ist leicht verschoben: Der IchErzähler fragt nicht, warum das Mädchen so unangefochten ‚tut, als ob‘, um ihre Festigkeit als gespielt zu inszenieren. Ihre Sicherheit ist kein ‚als-ob‘, sondern echt, und erst hier setzt die Verwunderung ein. Die Verfremdung des Natürlichen geht noch einen Schritt weiter als in der Beschreibung eines Kampfes und dreht sich zugleich wieder in die Normalität zurück. Diese Operation vollendet den Gedankengang der Betrachtung. Der Erzähler fragt in die Perspektive des Mädchens hinein und legt ihr seine Frage dabei in den Mund: „(wieso kommt es), daß sie den Mund geschlossen hält und nichts dergleichen sagt?“ Er fragt, als sei das Geschlossen-Halten die eigentliche Anstrengung und nicht das Sprechen, das der Erzähler zu erwarten scheint und in der Formulierung dieser Erwartung auch gleich schon vollzieht. Er selbst stellt die Frage, die sie eigentlich äußern sollte. Damit insinuiert der Frager, daß das Mädchen Grund hätte, zu staunen. Doch auf eine Diskussion darüber, welcher Grund dies sein könnte, läßt er sich nicht ein. Er spricht allein über seine Verwunderung und knüpft diese daran, daß sie sich nicht wundert. Zum zweiten Mal entwirft der Text hier eine vorgestellte Kommunikation und spielt mit einer nicht gestellten Frage. Diese verdreht ihre eigenen Voraussetzungen genauso wie die nicht gewußte Antwort im ersten Absatz. Der Erzähler spricht das Nicht-Verwundert-Sein nicht als das Normale an, sondern als Negation des Normalen. Der Umstand, daß das Mädchen sich nichts fragt, ihre Selbstsicherheit also, wird damit ins Gegenteil verkehrt. Nicht ihre Sicherheit wird zum Ausgangspunkt einer Frage (wieso kommt es, daß sie so sicher ist?), sondern ihre Sicherheit wird umgemünzt in eine Frage, die nichts anderes formuliert als die Tatsache, daß sie ihrer selbst sicher ist. Damit wird die Fraglosigkeit 63 64
So auch bei K. Ramm, a.a.O., S. 10. Zitate aus KKA: Briefe 1900-1912, S. 40; BK 59 u. 92.
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selbst zum Anlaß der Frage und auf diesem Wege zum Staunenswerten, also nicht mehr Fraglosen. Diese Argumentation macht ihre eigene Voraussetzung zur Begründung. Doch trotz des logischen Fehlers ist sie nicht ohne weiteres aus den Angeln zu heben. Denn auf die Frage „wieso kommt es, daß sie nicht über sich verwundert ist?“ gibt es keine Antwort. Tatsächlich kann niemand sagen, ‚wieso es kommt‘, daß sie nicht verwundert ist, sich also ganz ‚normal‘ verhält. Darin, daß niemand eine Antwort auf diese Frage nach dem Grund des Selbstverständlichen hat, liegt die Unsicherheit des Normalen. Die Frage nach der Verwunderung setzt den impliziten Dialog mit dem Leser bzw. der alltäglichen Sichtweise fort, die mit der ersten, ebenso falsch gestellten Existenz-Frage begonnen hatte, und treibt die Vertauschung einen Schritt weiter. Die Existenzfrage wird nicht mehr an den Erzähler gestellt, sondern dieser stellt sie jetzt selbst. Das Ich antwortet auf die Frage, die niemand gestellt hat, mit einer Frage, auf die niemand antworten kann. Daraus ergibt sich für den Leser eine weitere Frage, nämlich warum das Mädchen sich überhaupt wundern sollte. Die Antwort darauf muß er selbst ergänzen. Dafür wiederum hält der Text eine passende Möglichkeit bereit. Denn die Erscheinung des Mädchens war schon im voraufgehenden Absatz als etwas Staunenswertes inszeniert worden. Verfremdung ist bereits eingeschrieben in das Bild der Festigkeit.65 An diese Ambivalenz knüpft die Frage des Erzählers an, die die Fraglosigkeit der Stellung des Mädchens „in dieser Welt“, „auf dieser Plattform“ zu etwas Besonderem macht. Umgekehrt wird das Sichtbare, das Bild des Mädchens, zum Beweis, daß das Erstaunen des Erzählers darüber berechtigt ist. Im Zuge dieser Operation wird der Ausgangspunkt der Betrachtung um eine Position verschoben. Die Beziehung von Festigkeit und Unsicherheit, die der erste Satz als vertauschte angelegt hatte, erscheint jetzt gerechtfertigt, und zwar gerade weil die Sicherheit des Mädchens als echt anerkannt wird. Denn in diese Anerkennung selbst ist der Zweifel eingelegt. Der feste Bezugspunkt steht damit selbst zur Disposition – allerdings erst, und das ist wesentlich, nachdem der IchErzähler männliche Standfestigkeit gewonnen hat.66 Es geht in diesem Text nicht 65
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Auf diesen Bezug weist auch Shimon Sandbank hin: „Now, why should she be amazed at herself? There is nothing extraordinary about her - or is there? Her description, with all its minuteness, strikes an unreal note.“ (Shimon Sandbank: „Uncertainty as Style: Kafka's ‚Betrachtung‘ “, in: GLL 34/1981, S. 385-397, Zitat S. 388.) Mit dem Verweis auf die Verfremdung allein wird die Beziehung zwischen Festigkeit und Verwunderung jedoch zu einseitig gefaßt. Die Leistung von Kafkas Verfahren liegt gerade darin, in das Bild ein zwischen real und irreal, Halt und Bodenlosigkeit unentscheidbares Changieren einzuschreiben. Dieses Changieren, nicht schon die Verwunderung des Erzählers ist es, die der Festigkeit schließlich die Selbstverständlichkeit entzieht. Dieser Aspekt des männlichen Blicks, der sein weibliches Gegenüber zum Objekt macht, läßt sich auf Reinhard Baumgarts Lesart beziehen: „Dieses ‚Nichts fehlt ihnen‘ scheint tatsächlich die bündigste Formel für jene Mischung aus Staunen, Bewunderung und stummem Vorwurf, mit der Kafkas frühe Prosa Frauen zuhört [...] oder sie anschaut [...]. [...] Unbedenklichkeit im Wortsinn,
Der Fahrgast
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darum, zu beweisen, daß der Erzähler mit seiner anfänglichen Unsicherheit recht gehabt habe. Das Ziel der Operation ist vielmehr ein Tauschgeschäft: der Beobachter gewinnt Selbstgewißheit, während und indem er den Anblick des Mädchens als Bild der Festigkeit inszeniert, um dann dem festen Halt wieder den Boden zu entziehen. Mit der Stellung des Ich-Erzählers in der bzw. zur Welt verändert sich im Verlauf der Beschreibung daher auch die jeweilige Gegenposition. Die „Stellung“ des Mädchens erweist sich als nur scheinbar sicher. Sie wird vom normalen Fahrgast zur überrealen Erscheinung, so daß sie sich von der Normalität loslöst, die sie doch verkörpern soll. In diesem Vertauschen der Standpunkte liegt ein Angriff gegen den festen Halt, dem das Mädchen vertraut. Die Standfestigkeit ist ja nur ihrer Angepaßtheit an die Fahrgast-Situation zu verdanken; sie hält sich vorschriftsmäßig an den Wänden des Gefährts fest und wackelt deshalb nicht. Ihre Festigkeit ist keine Selbst-Gewißheit, keine innere Stabilität. Ihr Standpunkt ist, so gesehen, erst recht prekär, da er nur durch die Auslieferung an die Bedingungen und Zumutungen des Transportiertwerdens zu erlangen ist. Die Verunsicherung der Festigkeit wirkt im dritten Absatz nicht wieder auf die „Stellung“ des Ich zurück. Mit seiner letzten Frage hat sich das Ich dem verdrehenden Dialog bereits entzogen, denn der Satz beginnt mit der Einleitung „Ich fragte mich damals“, die im Unterschied zu allen vorigen im Präteritum steht, zusätzlich unterstrichen durch „damals“. Auf einmal ist die erzählte Handlung, die eben noch im Augenblick der Gegenwart stattfand, in eine lange schon abgeschlossene Vergangenheit gerückt. Dadurch wird das „wieso kommt es?“ vom Übrigen abgetrennt und bedeutsam gemacht. „Damals“ legt außerdem eine Distanz zwischen Ich und Geschehen. Es entfernt das Ich aus der Geschichte, bevor sie zu Ende ist. Der Erzähler verläßt die erzählte Zeit, wie es auch der Kaufmann getan hatte, denn das Präteritum ermöglicht ihm, plötzlich aus souveräner zeitlicher Distanz zu sprechen. Er steigt gleichsam vor dem Mädchen aus der Straßenbahn aus, die die Haltestelle nie erreichen wird, und läßt den erzählten Augenblick für immer in der Schwebe. Der Zeitausschnitt bleibt ohne Ende, so daß er sich ins Unabsehbare dehnt und zugleich in dem Bild des Mädchens als Momentaufnahme zusammenzieht.
eine glückliche und dumpfe Abwesenheit also jeder Selbstreflexion oder auch nur Selbstwahrnehmung, ein subjektloses Jenseits von Glück und Unglück wird sanft und denunziativ in das Frauenbild eingezeichnet.“ (R. Baumgart, a.a.O., S. 192f.). Anstelle der Irrealisierung akzentuiert diese Interpretation das Fraglose. Tatsächlich scheint die Identifizierung von Weiblichkeit und Natürlichkeit, in dem von Baumgart skizzierten, denunziativen Sinne verstanden, der einzig ‚feste Halt‘ in der ambivalenten Struktur des Textes zu sein. Das Spiel der Verunsicherung durch Verwunderung läßt also mit der polaren Differenz der Geschlechter zumindest eine der aufgerufenen Antithesen intakt und macht sie durch die Festlegung des Blicks zur Voraussetzung der Betrachtung.
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II Betrachtung
4.4 Schluß: Zum Verhältnis von Sichtbarem und Phantastischem Der Fahrgast konzentriert sich ausschließlich und emphatisch auf das Sichtbare. In genauester Beschreibung inszeniert der Text einen Augenblick gesteigerter Wahrnehmung, der mit Bedeutsamkeit aufgeladen scheint, ohne daß doch festlegbar wäre, was seine Bedeutung sei. In der Konstitution dieses Augenblicks vollzieht sich ein Prozeß der Irrealisierung. Aus der Verschränkung von Betrachtung und Reflexion entsteht eine Bewegung, in deren Verlauf aus der kurzen Straßenbahnfahrt eine Verschiebung der Standpunkte und Sichtweisen in und gegenüber „dieser Welt“ entsteht. Diesen Prozeß möchte ich als einen Vorgang der Verwandlung bezeichnen. Alltägliche Vorgänge werden in solcher Betrachtung zum Ausgangspunkt eines veränderten Weltbezugs. Ähnliche Verdrehungen der Perspektive finden sich bereits in der Beschreibung eines Kampfes, etwa in der Auseinandersetzung des Ich-Erzählers mit der Mondlandschaft, die am Ende gerade deshalb als kulissenhaft erscheint, weil der Mond auf ganz natürliche Weise am Himmel aufsteigt. Anders als die Beschreibung, bedient sich der Fahrgast nicht irrealisierender Redeweisen, sondern entfaltet den Effekt der Verdrehung aus einer Beschreibung des Sichtbaren, die sich allein an das Wirkliche und Faßbare hält. Von der Betrachtung geht die Verschiebungsbewegung aus und kehrt auch wieder in sie zurück. Die Wahrnehmung der mitnichten phantastischen Wirklichkeit wird so zu einer traumhaften Erfahrung, die zugleich bestätigt, daß die Verwunderung des Erzählers über die Wirklichkeit berechtigt ist. In der Vermittlung dieser Erfahrung an den Leser entfalten die Wahrnehmungs-Augenblicke der Betrachtung eine irritierende Wirkung. Wesentlich dafür ist die Rolle des erzählenden Ich. Der Betrachter ist eine Perspektivfigur, die den Leser zu einer Sicht auf die Wirklichkeit verführt, welche nichts anderes als eine Alltagserfahrung zum Gegenstand hat und doch „nicht aufhört, unannehmbar zu erscheinen“. So entsprechen die Betrachtungen des FahrgastErzählers zumindest dem hiermit verkürzt zitierten Rest von Tzvetan Todorovs Definition der Phantastik bei Kafka.67 Das Phantastische entsteht im Fahrgast aus dem Alltäglichsten heraus, als das Produkt einer neuen Beziehung zwischen Sprache, Wirklichkeit und Bild, deren Poetik Kafkas Frühwerk experimentell erprobt.Kafkas Beschäftigung mit dem Sehen und dem Sichtbaren beginnt nicht erst mit den Stücken der Betrachtung. Doch dieses Unternehmen hat seit den ersten Ansätzen in den Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande neue Dimensionen gewonnen. Vor dem Beginn der systematischen Beobachtungsprotokolle in den 67
Vgl. Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur, München 1972, S. 153: „In diesem Sinne beruhen Kafkas Erzählungen gleichzeitig auf dem Wunderbaren und dem Unheimlichen, sie sind die Koinzidenz der beiden offensichtlich unvereinbaren Gattungen. Das Übernatürliche ist nicht von der Hand zu weisen und hört doch nicht auf, uns unannehmbar zu erscheinen.“
Der Fahrgast
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Tagebüchern stellen die „Betrachtungen“ einen Versuch dar, die Beschreibung des Sichtbaren zusammenzubringen mit den logisch-semantischen Dreh- und Tausch-Bewegungen der Beschreibung eines Kampfes. Die kurzen Prosastücke führen das Projekt fort, aus solchen Vertauschungsoperationen die Erzählbewegung entstehen zu lassen, indem sie die Beziehung zwischen Ich und Welt zum Ausgangspunkt und zur Bedingung des Erzählens machen. In der Spannung zwischen textueller ‚Verantwortung‘ und ‚Haltlosigkeit‘ entfaltet der Fahrgast das Erzählen als erfindenden Entwurf. Nach dem Wechsel zu eher konventionellrealistischer Beschreibung setzt der Text die Verschiebung der Standpunkte im Zeichen jener phantastischen Wirklichkeitserfahrung fort, die der Beter zuerst formuliert hatte. Dabei gelangt die „Betrachtung“ über die Schaukelbewegung zwischen Ich und Welt hinaus. Im Moment gesteigerter Wahrnehmung gelingt es dem Erzähler, das Wechselverhältnis als Balance zu etablieren. Die Balance ist zeitlich konstituiert. Im Aufbau und Vergehen des Wahrnehmungs-Augenblicks entsteht das Erzählen als Sprachbewegung, die sich entfaltet und wieder aufhebt. Auch andere Stücke der Betrachtung gestalten solche Momente. Sie sind immer an eine Bewegung gebunden.68 Miniatur-Reisen zwischen zwei Straßenbahnhaltestellen wie im Fahrgast oder auch in Der Kaufmann, als Reise im Lift zwischen Haus- und Wohnungstür, werden ergänzt von einer Gegenbewegung in den Texten Die Vorüberlaufenden, Die Abweisung und Zerstreutes Hinausschaun. Diese erzählen vom unbewegten Betrachter-Ich aus das „Vorüberlaufen“ anderer, das der Blick im transitorischen Moment auffängt. Beide Bewegungen, die ‚Reise‘ und das ‚Vorüberlaufen‘, gehen mit konstanter Geschwindigkeit innerhalb einer sehr kurzen Zeitspanne vorbei. Im Inneren der Augenblicks-Bewegungen findet jedoch zugleich eine merkwürdige Dehnung statt. Der Augenblick wird mitten im dynamischen Ablauf einen Moment zu lange angehalten. Diesen transitorischen Moment hält das Bild fest.
5. Die Vorüberlaufenden In dem Text Die Vorüberlaufenden wird das Sehen auf neue Weise zum Thema. Es geht hier, im Gegensatz zu den bisher besprochenen Betrachtungen, nicht um die Inszenierung beobachtender Blicke, sondern um die Vermeidung und Leugnung 68
Die Verbindung von Augenblickshaftigkeit und Bewegung unterscheidet die vermutlich nach (oder neben) der Beschreibung eines Kampfes entstandenen Stücke der Betrachtung (1908) von den Gleichnissen Die Bäume und Kleider, die Kafka aus dem Manuskript der „Novelle“ entnommen hatte. Allerdings kann ein Vorher oder Nachher mangels genauer Datierung nicht befriedigend geklärt werden. Doch von der neuen Form aus, die die Beschäftigung mit dem Sichtbaren in diesen Stücken gewinnt, läßt sich eine Linie ziehen zu den Exerzitien im Beschreiben und Beobachten, die Kafka von 1909 an im Tagebuch verzeichnet (vgl. Kap. III).
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eines Sehens. An die Stelle des konzentrierten Hinsehens im Fahrgast tritt ein Wegsehen. Der Erzähler beobachtet zwei „Vorüberlaufende“ und wird dabei Zeuge eines Geschehens, das eine Verfolgungsjagd sein könnte. Doch bevor noch feststeht, um was es sich handelt, flüchtet er sich in Ausreden, bis die Läufer vorübergelaufen sind und es zum Eingreifen zu spät ist. Mit diesem Thema wird die Verantwortung des Subjekts der Betrachtung, des Augenzeugen, zum Gegenstand der Betrachtung. Die betrachtende Reflexion wendet sich also auf sich selbst zurück. Daher eignet sich dieser Text besonders, um ein Résumé meiner bisherigen Überlegungen zu Betrachtung zu formulieren. Mit dem Motiv der Verantwortung variiert Die Vorüberlaufenden ein Thema, das auch in anderen Texten der Betrachtung verhandelt wird. In Der Nachhauseweg erklärt der Ich-Erzähler: „Ich bin mit Recht verantwortlich für alle Schläge gegen Türen, auf die Platten der Tische, für alle Trinksprüche, für die Liebespaare in ihren Betten ...“ usw.69 Das Ich dehnt sich in übersteigertem Selbstgefühl auf die Außenwelt aus und imaginiert sich als deren Regisseur, wobei jedoch deutlich bleibt, daß dies eine Anmaßung darstellt, weil sich die Verantwortung auf Vorgänge bezieht, die unabhängig vom Ich stattfinden. Das Erklären seiner Verantwortlichkeit aber schafft dem Ich eine Position als textuelle Instanz, von der aus es dieses Verhältnis umkehren und die Welt als erzählte aus seiner Rede hervorgehen lassen kann. Diese Rede behauptet das, was geschieht, als Veranstaltung des Erzählers, so daß die erzählte Welt aus seinem Sprechen als Entwurf entsteht. Diese Möglichkeit zu sprechen erprobt auch der Kaufmann, der das, was ohne ihn geschieht, durch seinen Befehl regieren will. Der Fahrgast unterstellt das erzählte Geschehen ebenfalls der Verantwortung des IchErzählers, der diese aber zugleich verneint und auf diese Weise die Möglichkeit gewinnt, im Benennen die Welt entstehen zu lassen. Die Vorüberlaufenden nimmt diese Verschränkung des erzählten Geschehens mit der Behauptungsstruktur der Erzählerrede auf und kehrt sie um. ‚Verantwortung‘ wird als Thema in das erzählte Geschehen hineingenommen, und zwar in verneinter Form. Der Beobachter lehnt gegenüber den „Vorüberlaufenden“ jegliche Verantwortung ab und zieht sich auf die Position des Unbeteiligten zurück, der nicht hineingezogen werden möchte. Im Gegenzug radikalisiert das Erzählverfahren die behauptende Rede. Das Geschehen entsteht als Entwurf aus der Rede des Erzählers. Daher ist sein Sprechen tatsächlich verantwortlich für das, was es anspricht und als Wirklichkeit setzt. Die Verantwortung, die das Ich als Beobachter abstreitet, behauptet es als Erzähler um so umfassender. Mit diesem Erzählmodell setzt Kafka den Versuch aus der Beschreibung eines Kampfes fort, das zu Erzählende auf das Kommando des Erzählers hin als Phantasmagorie entstehen zu lassen. Zugleich wird hier schon 69
B 25.
Die Vorüberlaufenden
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ein Ansatz für die Entwicklung des erfindend-phantasierenden Schreibvorgangs in den Tagebüchern sichtbar. 5.1 Entwurf einer möglichen Wirklichkeit 5.1.1 Zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit: „Uncertainty as Style“? Wenn man in der Nacht durch eine Gasse spazieren geht, und ein Mann, von weitem schon sichtbar – denn die Gasse vor uns steigt an und es ist Vollmond – uns entgegenläuft, so werden wir ihn nicht anpacken, selbst wenn er schwach und zerlumpt ist, selbst wenn jemand hinter ihm läuft und schreit, sondern wir werden ihn weiter laufen lassen.70
Der Text beginnt als Entwurf einer Möglichkeit. Das erste Wort stellt alles Folgende unter eine Bedingung. Von hier aus entwickelt der Satz ein Gedankenspiel, das die Bedingung zu einer Reihe von Folgen erweitert. Entgegen dem Anschein von Folgerichtigkeit etabliert das „wenn“ allerdings weder eine temporale noch eine konditionale Bedingung, und es zieht auch nicht eigentlich Folgen nach sich. Die Folgen, die es entwirft, sind weder Konsequenzen im logischen Sinn, die sich aus der initialen Bedingung ergeben. Noch sind es zukünftige Ereignisse, die unter dieser Bedingung eintreten werden. Das „wenn“ etabliert im Sinne von ‚angenommen, daß... ‘ nur eine hypothetische Setzung, die um immer neue Annahmen erweitert wird. Diese Hypothesen werden nun nicht im Konjunktiv eines nur gedachten, irrealen ‚was-wäre-wenn‘, sondern im Indikativ präsentiert, als würde ein allgemeingültiger, gesetzmäßiger Verlauf beschrieben. So wird die Willkürlichkeit der Setzung zugunsten der Suggestion verdeckt, es handele sich um eine ebenso exemplarische wie folgerichtige Entwicklung. Ohne etwas zu behaupten, kann diese Redeweise die Situation als mögliche vorstellen und zugleich als tatsächlich bestehende setzen. Diese Operation auf der Grenze zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit bestimmt die Struktur des ganzen Textes. In seinem Aufsatz „Uncertainty as Style“ hat Shimon Sandbank den zwischen diesen beiden Alternativen unentscheidbaren Status der Aussage als grundlegende Struktur von Betrachtung benannt. Charakteristisch für die Stücke der Betrachtung sei die Ablehnung von Festlegungen, ihre Erzählformen seien „stylistic manifestations of uncertainty“.71 Sandbanks Untersuchung richtet sich auf die sprachlichen Techniken, die zur Vermeidung von „factual commitment“ eingesetzt werden. Er beschreibt, wie Satzformen der Behauptung ausweichen, 70 71
Beginn von Die Vorüberlaufenden, B 26, Z. 5-11. Zitate aus S. Sandbank, „Uncertainty as Style“, a.a.O., S. 385, 387, 391, 391, 387, 393, 388, 394.
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etwa im Gebrauch von „logical instead of factual sentences“; Bedingungssätze z.B. sprechen „about the connection between the antecedent and consequent, not about the existence of either“. Diese Tendenz zur hypothetischen, theoretischen Aussageform bezeichnet Sandbank als „meditation“, also als die eigentliche „Betrachtungs“-Form, und stellt fest, daß sie mit einem „will to narrate“ in Konflikt gerate. Als Beispiel führt er Wendungen aus Zum Nachdenken für Herrenreiter an: „ ‚Nichts kann‘, ‚wenn man es überlegt‘, ‚zu stark, als daß‘, ‚der Neid muß‘ are all structures, not of narration, but of meditation“. Der Gegenstand der Narration müsse vom Leser erst erschlossen werden. Diese Form des verunsicherten Erzählens führt Sandbank auf die in der Beschreibung eines Kampfes formulierte Erkenntniskritik sowie auf „Kafka's anxiety“ zurück. Poetologisch gewendet, führt diese Interpretation zu der Feststellung: „To a writer who has lost his grasp on reality, language is the means both of expressing this loss and of making up for it, however deceptively.“ Obwohl ich mit Sandbanks Analyse der sprachlichen Techniken grundsätzlich übereinstimme, werde ich in der folgenden Untersuchung dafür argumentieren, daß nicht literarischer Realitätsverlust, sondern eine neue Beziehung zwischen Sprache und Wirklichkeit, deren Poetik ich im I. Kapitel herausgearbeitet habe, der Betrachtung zugrundeliegt. Skepsis und Verunsicherung bilden hier allererst die Voraussetzung des Erzählens, d.h. des Erschaffens einer erzählten Realität. Als vorsichtig-vermutendes Räsonieren ist dieses Erzählen nun allerdings nicht in der Lage, Wirklichkeit ‚in den Griff‘ („grasp on reality“) zu bekommen. Das Erzählen in Betrachtung geht statt von Wirklichkeitsdarstellung von einem „phantastischen und experimentierenden Einsatz“ aus, es wird vom „ ‚Was wäre wenn‘ des Tagtraums provoziert“, wie Reinhard Baumgart formuliert hat.72 ‚Wirklichkeit‘ entsteht hier als Phantasmagorie, als imaginative Veranstaltung. Von diesem Ansatz aus werde ich zeigen, daß die „meditative“, theoretische Form der Aussage keineswegs mit dem narrativen Impetus in Konflikt gerät, sondern daß umgekehrt diese Form allererst Voraussetzung des Erzählens ist. „Uncertainty“ ist in den Stücken der Betrachtung die Bedingung der Möglichkeit von Aussagen, nicht eine Methode ihrer Verhinderung. Mit dieser These ist zugleich behauptet, daß es in Betrachtung um mehr als den Ausdruck von 72
Vgl. R. Baumgart, a.a.O., S. 175. Den experimentellen Charakter der Stücke aus Betrachtung setzt Baumgart in Beziehung zu der ängstlichen Vorsichtigkeit, die diese Texte auszeichnet: „...alle diese von der Dialektik zwischen Außen und Innen bestimmten Prosastücke müssen allerdings, ganz gleich ob spröde Reduktion oder eine Entgrenzung ins Unsichtbare ihre Bewegungstendenz ist, das Formgesetz der Miniatur halten. Das zähmt ihren Schrecken wie ihre Kühnheit, das macht noch ihre Radikalität vorsichtig. Es ist eine Prosa auf Probe. Das ‚Was wäre wenn‘ des Tagtraums provoziert, wie in fast allen späteren Erzählwerken Kafkas auch, ihren phantastischen und experimentierenden Einsatz. Doch wird die damit einsetzende Sprach- und Bildbewegung hier immer noch rechtzeitig abgefangen, gegängelt, gesteuert, um in einem nahen Abschluß stillgelegt zu werden [...].“
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Verunsicherung geht. Die Verunsicherung wird umgewendet, um auf eine nichtaffirmative Weise Aussagen zu etablieren, um also erst recht zu behaupten – wenn auch auf eine Art und Weise, die keine ‚Verantwortung‘ für solche Behauptungen mehr greifbar macht. Die folgenden Lektüren sollen zeigen, wie Die Vorüberlaufenden eine solche Narration Satz für Satz entfaltet. 5.1.2 Formen der entwerfend-erzählenden Rede 5.1.2.1 Leser-Ansprache Der erste Teil des Eingangssatzes von Die Vorüberlaufenden positioniert ein unbestimmtes Subjekt („man“) in einer Rahmensituation, die sich als allgemein nachvollziehbare Erfahrung präsentiert („Wenn man in der Nacht durch eine Gasse spazieren geht...“). Im folgenden Satzteil wird der Rahmen erweitert um ein konkretes Geschehen. Ein laufender Mann kommt entgegen, und zwar „uns“: aus dem unpersönlichen Subjekt wird eine den impliziten Leser mit umgreifende erste Person Plural. Diese Form der Leser-Ansprache im ‚pluralis modestiae‘ läßt die Person des Erzählers zurücktreten, oder eher: gar nicht erst auftauchen.73 Stattdessen wird der Leser in das Geschehen einbezogen, an den vom Erzähler definierten Beobachterstandpunkt gestellt und zum Nachvollzug dessen angeregt, was ihm als Aussicht vorgeschrieben wird. Mit der Beschreibung dieser Aussicht verläßt der Satz den Entwurf der exemplarischen Situation in Richtung einer aktuellen, die sich nicht in jeder beliebigen Gasse so abspielen könnte, sondern in einer bestimmten Gasse stattfindet. Der als Begründung eingeschobene Teilsatz „denn die Gasse vor uns steigt an und es ist Vollmond“ ist schon Behauptung einer fiktionalen Wirklichkeit; nur die grammatische Zugehörigkeit zum Bedingungssatz stellt diese noch unter die Kautele des Möglichen. Aus der Annahme heraus hat damit die Erzählung eines Geschehens begonnen. In dieses wird der Leser nun stärker integriert, indem der Erzähler entwirft, was „wir“ tun werden. Die imaginierte Aktion ist jedoch durchgestrichen, „wir werden ihn nicht anpacken“. So wird der
73
Dieses Verfahren verbindet Die Vorüberlaufenden mit Zerstreutes Hinausschaun und Die Bäume, während die übrigen Betrachtungen von 1908 ein Ich sprechen lassen. Auch diese Texte entwickeln aber Techniken der Leser-Ansprache, die das Ziel haben, den Leser mit der Perspektivfigur zu identifizieren, wie ich am Beispiel des Kaufmanns gezeigt habe.
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Leser in die Handlung einbezogen und zu einer Figur des Textes gemacht, ohne jedoch zu handeln. Er wird Zuschauer.74 Ungeachtet ihres hypothetischen Modus, hat die Rede des Erzählers verpflichtenden Appellcharakter. Die Futur-Form beschreibt nicht eigentlich, was geschehen wird bzw. würde, sondern sie schreibt vor, was getan werden sollte. „Wir werden“ fordert Einverständnis, ohne den Angesprochenen noch zu fragen. Davon ausgehend stellt sich jedoch eine weitere Frage: nämlich warum „wir“ überhaupt hätten tun sollen, was uns der Erzähler soeben verboten hat, wie „wir“ überhaupt in die Lage kommen, jemanden „anzupacken“ oder auch nicht. Statt einer Antwort schließt der Satz zwei verschärfende Bedingungen an das Verbot an: „(wir werden ihn nicht anpacken), selbst wenn er schwach und zerlumpt ist, selbst wenn jemand hinter ihm läuft und schreit“. Sie erzählen das Geschehen weiter, ohne die Hypothese zu verlassen. Indirekt läßt sich aus ihnen schließen, welchen Grund es hätte geben können, den Vorüberlaufenden anzuhalten: es scheint sich um einen Bettler oder Dieb zu handeln, den offenbar jemand verfolgt. Daß bzw. ob dies angenommen werden muß, läßt der Satz jedoch offen. Wir erfahren zwar, daß der hinter dem ersten Mann laufende Zweite „schreit“, doch dieser Schrei bleibt stumm: ob er ‚Haltet den Dieb!‘ ruft, wird uns nicht mitgeteilt. Dadurch wird die Verunsicherung der Aussage durch die Möglichkeitsform noch gesteigert. Nicht genug damit, daß alles nur möglicherweise geschieht; es ist auch unklar, was da eigentlich möglicherweise geschieht. So bleibt der Text in der Balance zwischen der Imagination von möglichem Geschehen und der Möglichkeit, daß sich daraus eine Verfolgungsjagd entwickelt. 5.1.2.2 Improvisierender Entwurf Die Konstruktion des Satzgefüges von der Bedingung aus ist eine Form des erfindenden, phantasierenden Erzählens. In Der Kaufmann und Der Fahrgast wird dieses Erzählen durch eine paradoxe Als-Ob-Konstruktion der Rede ermöglicht, die ich mit den Modellen der ‚Verantwortung‘ und des ‚Befehls‘ beschrieben habe. Das zwischen Möglichkeiten und Behauptungen changierende „Wenn“ etabliert ebenfalls einen Modus des Als-Ob. Die Leistungen dieser Form umfassen mehrere Aspekte. Das „wenn“ ermöglicht – wie bereits erwähnt – die Darstellung eines Geschehens als Kette von immer weiter gesponnenen An74
Im folgenden werde ich die Erzähler und impliziten Leser umgreifende „Wir“-Position als den Beobachter bezeichnen. - Die Beteiligung des nicht-handelnden Zuschauers an der Handlung ist das Gegenstück zu dem Verfahren des Kaufmanns, der den Zuschauern befiehlt, wie sie zu handeln haben, und dabei doch nur das zu kommentieren scheint, was auch ohne sein Kommando geschieht.
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nahmen, die sich wie eine logische Folge aneinander schließen und in der Vorschrift des Erzählers „wir werden ihn weiter laufen lassen“ wie in einem Fazit auslaufen. Des weiteren kann diese Form des Als-Ob die Aussage so organisieren, daß nicht behauptet wird, was geschieht. Das Offenhalten des Möglichkeitsspielraums hat wiederum eine Funktion: es läßt Fragen entstehen, ohne sie zu stellen. Mit ihnen kommuniziert der Text mit dem aktuellen Leser: Dieser muß sich fragen, welche Gründe es geben könnte, den entgegenkommenden Mann anzuhalten, und er wird gezwungen, die Antwort selbst zu erschließen. Zugleich muß der Leser sich auch die entgegengesetzte Frage stellen: nämlich welche Gründe es geben könnte, dem Appell des Erzählers zu folgen und den Mann nicht anzuhalten. Schließlich macht die erfindend-entwerfende Rede das Erzählte zu einer augenblickshaften Veranstaltung. Diese Leistung der hypothetischen Konstruktion wird deutlich, wenn man den ersten Satz in einen stärker behauptenden Aussagemodus umformt: ‚(Angenommen,) wir gehen des Nachts in einer Gasse spazieren, es ist Vollmond und die Gasse vor uns steigt an, so daß wir schon von weitem einen Mann sehen können, der uns entgegenläuft, aber wir packen ihn nicht an, obwohl er schwach und zerlumpt ist und obwohl jemand hinter ihm läuft und schreit, sondern wir lassen ihn weiterlaufen ... ‘. Diesem Satz fehlen Präsenz und Beweglichkeit, wie sie Kafkas Formulierung vermittelt. Durch die Verwendung des unter eine Bedingung gestellten Futur kann der Erzähler das, was erzählt wird, in dem Augenblick ins Dasein holen, in dem er es anspricht. In einem solchen Entwurf gibt es keine Begebenheit vor dem Erzählen, während in der Aussagen behauptenden Redeweise das Geschehen als ein dem Benennen Vorgängiges bereits vorausgesetzt ist. Vom „wenn“ aus entworfen, entsteht die erzählte Situation aus dem Stegreif, ähnlich wie die Landschaft in der Beschreibung eines Kampfes. Der Erzähler scheint zu improvisieren, genauer: er inszeniert die Situation vor den Augen des Lesers als improvisierend erfundene. In der Erweiterung der Ausgangsmöglichkeit ins Erzählen deckt er mit jedem neu gesetzten Jetzt-Moment eine Karte nach der anderen auf: den Mann, den Vollmond, das zerlumpte Aussehen, den Verfolger. Erfinden und Erzählen sind identisch, sind momentane, performative Rede, die das, worüber sie spricht, allererst ins Dasein holt. Indem sie dieses Dasein einerseits benennt, andererseits aber als Möglichkeit in der Schwebe läßt, erzeugt die hypothetische Redeweise eine Spannung, die in der Tatsachenbehauptung verloren ginge. Darüber hinaus zwingt sie den Leser zur imaginativen Teilnahme an diesem Konstruktionsprozeß, da dieser das, was er für das Geschehen hält, aus den angedeuteten Möglichkeiten erst erschließen muß.
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5.1.2.3 Die Zeitstruktur des Erzählvorgangs als Mimesis eines Wahrnehmungsvorgangs Bei genauerer Untersuchung zeigt sich, daß die Folge von Augenblicken, welche die Struktur des Satzes bestimmt, sich genau an der zeitlichen Ordnung der Wahrnehmung des gedachten Beobachters orientiert. „Von weitem schon sichtbar“ definiert den Blick und den Raum, den der Blick überschaut. Es rückt den Entgegenkommenden aber auch zeitlich in eine Ferne, denn es wird jetzt einige Zeit dauern, bis er beim Betrachter angekommen ist – und zwar genau die Erzählzeit, die von der Beschreibung des Bildes ausgefüllt wird, welches sich dem Betrachter bietet: „denn die Gasse vor uns steigt an und es ist Vollmond“. Dieser Einschub trennt den Hauptsatz in zwei Teile und verwandelt die räumliche Entfernung in Zeit, indem er die Erzählzeit staut und die Weiterentwicklung des Geschehens verzögert. Mit dem Blick auf die ansteigende Gasse, der nachgetragen wird, während der Mann schon sichtbar ist, wird die logische Reihenfolge verdreht (die Gasse im Vollmond steigt an, und deswegen kommt der Mann schon von ferne in den Blick). So kann der Erzählvorgang dem Handlungsverlauf synchron folgen, bzw. den Zeitablauf imitieren oder simulieren, ihn virtuell erzeugen. Damit exerziert der Text dem Leser-Zuschauer dessen eigene Wahrnehmung vor. Erst der jetzt noch angehängte Rest des Hauptsatzes berichtet, daß der Mann „uns entgegenläuft“. Ins Blickfeld geraten – „von weitem schon sichtbar“ – war er schon vor dem Einschub, erst jetzt aber kommt er näher. Zu Beginn des nächsten Teilsatzes („so werden wir ihn nicht anpacken“) ist er beinahe schon da, so nah nämlich, daß wir ihn „anpacken“ könnten. Durch die Futur-Form „werden wir“ wird er aber noch einen Moment in der Zukunft gehalten; ganz in der Gegenwart angekommen ist der Laufende noch nicht, „wir“ wägen noch ab, was „wir“ tun „werden“. Der nächste Einschub zögert das Noch-Nicht weiter hinaus: „selbst wenn er schwach und zerlumpt ist“ gewährt einen Moment Pause, um den Mann überhaupt aus der jetzt erreichten Nähe betrachten zu können. Einen Augenblick später, beim nächsten „selbst wenn“, taucht der hinter dem ersten Mann laufende Zweite in der Wahrnehmung auf, gleichsam als käme er eben erst über den Gipfelkamm der ansteigenden Gasse. Die beiden SelbstWenn-Einschübe halten die Bewegung des Läufers für einen Moment lang auf. Es ist genau der Moment, in dem der Beobachter die Situation begreift, während er schon überlegt, ob er den Fliehenden aufhalten soll. Das Futur „werden wir“ hält das Geschehen um eben diesen Moment des Abwägens in der Zukunft, die Einschübe verzögern es, indem sie jetzt erst, nachträglich, benennen, worüber man überhaupt nachdenken sollte. In dem Intervall zwischen den beiden Blicken aber ist der erste Mann mit dem nächsten Satzteil – „wir werden ihn weiter laufen lassen“ – beinahe schon an uns vorbeigelaufen, außer Reichweite geraten, förmlich losgelassen, laufen gelassen.
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5.1.2.4 Gestisches Sprechen Der Text erreicht hier eine Qualität, die ich ‚gestisch‘ nennen möchte. Er läuft, hält fest, läßt los: das heißt, er führt das gestische Geschehen, von dem er spricht, als Sprachbewegung vor. Indem er die Bewegung der Laufenden und ineins damit ihre Wahrnehmung inszeniert, organisiert er sein eigenes Voranschreiten, Retardieren, Weitergehen. Weil die Erzählzeit die erzählte Zeit des Verlaufs imitiert, werden Textbewegung und erzählte Bewegung zu einem einzigen pantomimischen Vorgang. Dieser Synchronismus geht über die mimetische Abbildung von Jetzt-Momenten hinaus; der Sprechakt selbst wird zum gestischen Handeln.75 – Ähnliche Verfahren habe ich auch im Kaufmann am Beispiel der imaginativen Erzeugung einer textuellen ‚Flutwelle‘ beschrieben. Die Inszenierung von gestischer Bewegung in der Satzform gehört zu Kafkas typischen Stilmerkmalen. Die pantomimisch-gestische Qualität seiner Texte ist in der Forschungsliteratur entsprechend ausführlich besprochen worden. Sie wird 75
Mit der Bezeichung ‚gestisch‘ bzw. ‚pantomimisch‘ für eine solche Rede knüpfe ich an Friedhelm Kemps Charakterisierung des Prosagedichts an, zu dessen Gattung er auch Betrachtung zählt. Das Prosagedicht sei eine „kaleidoskopische Konfiguration“, in der „Bewegung, Wendigkeit, Gliederung, ganz allgemein das Choreographische und Pantomimische der Sprache im freien, gleichsam improvisierten Vortrag und Vollzug“ den Eindruck vermitteln, „daß für diese kurze Zeit, auf diesem engen Raum alles stimmt, aber nicht more geometrico, sondern, wie gesagt: pantomimisch“. (F. Kemp, a.a.O., S. 55). - Zum anderen bezieht sich mein Begriff des ‚gestischen Sprechens‘ auf ein Beispiel aus Bertolt Brechts Essay „Über reimlose Lyrik in unregelmäßigen Rhythmen“, wiewohl der dort entworfene Begriff des Gestischen sich von dem von mir vorgeschlagenen unterscheidet. Das Gestische definiert Brecht nicht von der Geste her, sondern als Sprechhaltung (Gestus). Als Beispiel für ein solches Sprechen führt er einen Satz aus Luthers Bibel-Übersetzung an, in dem der Gestus besonders klar ausgeprägt ist und der auch von einer Geste spricht: „Der Satz der Bibel ‚Reiße das Auge aus, das dich ärgert‘ hat einen Gestus unterlegt, den des Befehls, aber er ist doch nicht rein gestisch ausgedrückt, da ‚das dich ärgert‘ eigentlich noch einen anderen Gestus hat, der nicht zum Ausdruck kommt, nämlich den einer Begründung. Rein gestisch ausgedrückt, heißt der Satz (und Luther, der ‚dem Volk aufs Maul sah‘, formt ihn auch so): ‚Wenn dich dein Auge ärgert: reiß es aus!‘ Man sieht wohl auf den ersten Blick, daß diese Formulierung gestisch viel reicher und reiner ist. Der erste Satz enthält eine Annahme, und das Eigentümliche, Besondere an ihr kann im Tonfall voll ausgedrückt werden. Dann kommt eine kleine Pause der Ratlosigkeit und dann erst der verblüffende Rat.“ (Bertolt Brecht, „Über reimlose Lyrik in unregelmäßigen Rhythmen“ (1938), in: ders., Über Lyrik. Frankfurt/M. 1964, S. 77-88, Zitat S. 81.) Daß man diesen Unterschied „auf den ersten Blick“ sieht, ist nicht zuletzt - so möchte ich behaupten - darin begründet, daß der Luther-Satz ein besonderes Verhältnis mimetischer Abbildung herstellt. Mit der zum Auge hinleitenden Überlegung, quasi dem ‚Griff‘ an das Auge am Anfang, dem die Aktion folgt („reiß es“) und darauf das „aus“, das Ergebnis der Handlung am Ende, ist die Geste der Hand nachgebildet. Daher wirkt der Satz so eindrücklich, und zwar „auf den ersten Blick“: weil er die Geste, von der er spricht, zugleich vorführt. - Den Begriff des Gestischen brachte zuerst Walter Benjamin mit Kafka in Verbindung. Dazu sowie zu einem Vergleich von Kafka und Brecht im Hinblick auf die Darstellung und Verwendung von Gestik vgl. Carrie Asman: „Die Rückbindung des Zeichens an den Körper: Benjamins Begriff der Geste in der Vermittlung von Brecht und Kafka“, in: The Brecht Yearbook/Das Brecht-Jahrbuch 18/1993, S. 105-119.
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jedoch zumeist nicht von der Satzform her gesehen, sondern auf die Darstellung von Gestik bezogen.76 Die Mimesis von Gestik sei, so die einhellige Meinung, erst im Urteil und im Heizer vollkommen ausgeprägt. Daher kommen die gestischen Qualitäten der frühen Texte nicht in den Blick – und damit auch nicht der Ausgangspunkt für die Entwicklung von Verfahren, die Kafkas Schreibweise auch in der Darstellung von Gestik prägen werden (siehe dazu Kap. IV). Mit der Technik des gestischen Sprechens führen Die Vorüberlaufenden ein Projekt weiter, das aus der Beschreibung eines Kampfes stammt. Es ist der Versuch, Handlungsentwicklung und Erzählbewegung zu synchronisieren. In der Beschreibung steht dieser Versuch noch im Zeichen des Traums. Die Vorüberlaufenden bietet ein erstes Beispiel für ein pantomimisch-gestisches Sprechen, das eine Handlung entfaltet, indem es das erzählte Laufen und das Laufen des Textes zu einer Bewegung verschmilzt. Die Zeitstruktur des Bedingungssatzes läßt dieses Laufen als Geschehen vor den Augen des Lesers entstehen, wobei ‚jetzt‘ der Moment des Lesens ist. Die Geschwindigkeit, mit der die „Vorüberlaufenden“ sich am Beobachter vorbei bewegen, ist keine andere als die Lesegeschwindigkeit. Damit inszeniert der Text ein nicht-nachträgliches Erzählen; statt Abbildung intendiert er Performanz. 5.2 Geleugnetes Sehen: Möglichkeiten der Verneinung 5.2.1 Komplementäre Erzählmodelle: ‚Flucht‘ und ‚Verantwortung‘ Der zweite Absatz führt das Entwerfen von Möglichkeiten fort, jedoch von einer anderen Position aus als der erste. Die Beschreibung eines möglichen Geschehens wird abgelöst von möglichen Beschreibungen dieses Geschehens. Denn es ist Nacht, und wir können nicht dafür, daß die Gasse im Vollmond vor uns aufsteigt, und überdies, vielleicht haben diese zwei die Hetze zu ihrer Unterhaltung veranstaltet, vielleicht verfolgen beide einen dritten, vielleicht wird der erste unschuldig verfolgt, vielleicht will der zweite morden, und wir würden Mitschuldige des Mordes, vielleicht wissen die zwei nichts von einander, und es läuft nur jeder auf eigene
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Die Entdeckung des Gestischen wird oft mit Kafkas Entdeckung des jiddischen Theaters in Verbindung gebracht. Mit den Tagebuchberichten über die Auftritte der Schauspieltruppe um Jichzak Löwy im September 1911 habe sich sein Interesse an der Darstellung von Mimik, Gestik und Körperlichkeit herausgebildet. (Vgl. zu dieser These grundlegend: Evelyn Torton Beck: Kafka and the Yiddish Theater. Madison, Milwaukee, London 1971). Ich werde im III. Kapitel zeigen, daß dieses Interesse Kafkas Tagebuchaufzeichnungen schon lange vor der Begegnung mit dem jiddischen Theater prägt.
Die Vorüberlaufenden
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Verantwortung in sein Bett, vielleicht sind es Nachtwandler, vielleicht hat der erste Waffen.77
Die Anweisung, den Läufer nicht anzuhalten, mit welcher der erste Absatz schließt, läßt die Frage offen, warum dies angeraten sei. Mit „Denn“ beginnt eine Reihe von möglichen Begründungen, die auf diese Frage antworten. Zugleich antworten sie auf die umgekehrte Frage: hätte man den Mann nicht vielmehr anhalten müssen? Schließlich scheint einiges dafür zu sprechen, daß er ein Verbrecher ist. Diese zweite Frage wird zwar nicht gestellt, auch wird ja nicht behauptet, daß es sich um eine Verfolgungsjagd handelt. Dennoch ist der ganze Absatz von dieser Frage bestimmt, als ob sie dem Beobachter gestellt worden wäre. Im moralischen Vokabular klingt eine abgestrittene Verpflichtung an: „wir können nicht dafür“, verteidigt sich der Beobachter, der nicht zum „Mitschuldige[n]“ werden möchte, die „Verantwortung“ auf die beiden Läufer abschiebt und als Entschuldigung geltend macht, müde sein zu „dürfen“. Die Verteidigungsstrategie des als „wir“ imaginierten Beobachters besteht zunächst darin, die im vorigen Satz entworfene Situation aufzugreifen: „Denn es ist Nacht“. Implizit wird damit darauf hingewiesen, daß man in der Nacht, im Dunkeln also, genausogut auch gar nichts hätte sehen können. Der Mann war ja „sichtbar“ geworden, weil die Gasse im Vollmond – und damit, wie man ergänzen muß, beleuchtet –, vor den Augen des Betrachters liegt. Diese Kausalbeziehung wird nun umgekehrt und als Rechtfertigung benannt: „und wir können nicht dafür, daß die Gasse im Vollmond vor uns aufsteigt“. So ist der Entschuldigungsgrund nicht mehr auszuhebeln, weil es ja tatsächlich zutrifft, daß der Beobachter die Lage der Gasse nicht zu vertreten hat. Die Verantwortung des Beobachters für sein Sehen wird damit eskamotiert und auf die Außenwelt verschoben. Dabei wird die Tatsache, gesehen zu haben, gar nicht geleugnet. Der Beobachter benutzt dieses Zugeständnis, um der Außenwelt gegenüber so wenig Zugeständnisse wie möglich machen zu müssen. Damit stiehlt sich der Augenzeuge aus der Verantwortung. Die Strategie dieses Erzählers bildet die komplementäre Figur zum Fahrgast, dessen Erzähler alles Geschehen seiner Verantwortung unterstellen will, ihr aber nicht genügen kann. Wie dort die Erzählbewegung aus der Ausweitung der Verantwortlichkeit entsteht, so entsteht sie hier umgekehrt aus dem Abstreiten von Verantwortlichkeit. In beiden Fällen ist der Punkt, von dem diese Bewegung ausgeht, die Suggestion einer Schuldzuweisung. Daraus, daß verteidigt wird, daß etwas nicht stattgefunden hat, als ob daraus ein Vorwurf gemacht worden wäre, entsteht eine Anklage: aus Möglichkeit und Negation, aus lauter Nichts also. Wie auch der Fahrgast, arbeitet dieser Text mit Antworten auf nicht gestellte Fragen, die er verschränkt mit Fragen, auf die er keine Antwort gibt. 77
B 26, Z. 12-21.
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Von der virtuellen Anklage aus vervielfältigt der Erzähler der Vorüberlaufenden die möglichen Begründungen zu einer ganzen Kette von Entschuldigungen. Jede von ihnen entwirft eine neue Möglichkeit, das Gesehene anders zu erklären, als es den Anschein hat. An diesen Alternativen kann man – in der Umkehrung – ablesen, daß sie genau an dem nicht formulierten Vorwurf vorbei erfunden sind: „vielleicht hat der erste Waffen“; ihn anzuhalten, würde ‚uns‘ in Gefahr bringen, ‚wir‘ müssen ihn also nicht anhalten – das heißt, ex negativo: eigentlich aber müßten ‚wir‘ ihn anhalten. Die Überlegungen versuchen von allen Seiten zu verneinen, daß man Zeit genug gehabt hätte und keine Gefahr gelaufen wäre (da der erste nur „schwach und zerlumpt“ ist), daß man also verpflichtet gewesen wäre, einzugreifen und ihn aufzuhalten. Aus dieser Negativ-Struktur ergibt sich eine doppelte Perspektivierung: Je vollständiger der Beobachter nachweist, daß er in jedem nur möglichen Fall mit seiner Weigerung im Recht ist, desto stärker wird der Leser zu der Vermutung gedrängt, daß tatsächlich Grund zum Eingreifen vorhanden wäre, während die „Vorüberlaufenden“ vorbeilaufen und ‚wir‘ uns heraushalten. Mit der Begründungskette entwickelt der zweite Absatz eine eigene Dynamik. Die Erzählbewegung läuft nicht mehr im erfindenden Ausweiten einer hypothetischen Situation mit dem ersten Läufer mit, sondern sie wechselt von einer hypothetischen Situation zur nächsten, von „vielleicht“ zu „vielleicht“. Damit trennen sich die Erzählbewegung und die erzählte Bewegung. Während im ersten Absatz die Bewegung des erzählten Laufes und die des Erzählens identisch waren, müssen die „Vorüberlaufenden“ jetzt alleine weiter laufen. Der Erzähler wendet sich in der Beschäftigung mit den alternativen Deutungsmöglichkeiten vom Geschehen ab, nach innen. Über den Anblick der „Vorüberlaufenden“ wird nichts mehr berichtet. Stattdessen wägt der Beobachter mögliche Interpretationen ihres Anblicks. Er entwirft Geschichten, um nicht in die eine Geschichte hineingezogen zu werden, die er selbst allererst angestoßen hat. Immer noch sind aber Lauf und Erzählerrede synchron und gehen aus einander hervor, nur genau anders herum als zuvor. Während im ersten Satz der Läufer so lange läuft, wie das Erzählen dauert, weil er erst im Erzählen erfunden wird, muß hier das Nachdenken so lange dauern, wie die Läufer noch laufen. Der Übergang vollzieht sich nur von einer Möglichkeitsform in eine andere. So bietet keiner der beiden Sätze eine Tatsachen behauptende Beschreibung eines als wirklich vorausgesetzten Anblicks gemäß der narrativen Konvention. Im Zuge dieses Übergangs zwischen Möglichkeitsformen findet zugleich ein Wechsel zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit statt. Die im ersten Satz als Hypothese entworfene Voraussetzung – daß es Nacht ist und daß die Gasse ansteigt – wird jetzt als Begründung eingesetzt und auf diese Weise nachträglich und indirekt als Tatsache behauptet. Die „Vorüberlaufenden“ verwandeln sich von der Denkmöglichkeit in eine im Erzählen bereits vorausgesetzte Wirklichkeit. Dem Zugriff dieser Wirklichkeit versuchen sich die Gedanken über die Möglichkeiten alternativer Interpretation zu entziehen. Sie lösen das Geschehen aber
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wiederum nicht vollständig in Zweifel auf.78 Im Gegenteil: je länger die Überlegungen dauern, um so wirklicher wird der im ersten Absatz noch bloß hypothetische Lauf. Der ‚Stafettenwechsel‘ bietet also die Möglichkeit, nach wie vor nichts festzulegen und dennoch weiterzuerzählen. Aus dem Weglaufen der Gedanken entsteht außerdem der zweite Läufer als der unsichtbare Verfolger. Er verkörpert den unausgesprochenen Vorwurf an den untätigen Beobachter, indem er so lange anwesend ist, wie der Beobachter Ausreden als Antwort auf ihn erfindet. Diese aussagenlogische Struktur vermeidet die Festlegung, die sie zugleich vollzieht. Dazu tritt eine weitere Funktion: Die Häufung von unentscheidbaren Möglichkeiten verschafft Zeit. Bis auf weiteres kann nicht festgestellt werden, ob es darum gegangen wäre, einen Dieb zu halten oder nicht. Bis alle Vorbehalte entkräftet sein könnten, wird der kritische Moment jedenfalls vorbei sein. Der Beobachter muß so lange Ausreden erfinden, bis die beiden Laufenden endlich vorübergelaufen sind, um auf keinen Fall mit dem Überlegen fertig zu sein, bevor es zum Handeln zu spät ist. Die Zeit, die der Beobachter gewinnt, wird sich, da der Zweite sich ja – im Gegensatz zum unbewegten Beobachter – weiterbewegt, zu Raum werden, d.h. von neuem eine Distanz ermöglichen. Während sich im ersten Satz die Raum-Distanz in Erzählzeit verwandelte, um dem Beobachter Zeit zum Betrachten zu lassen, verwandelt sich hier die Erzählzeit in Räumlichkeit zurück. Die Strategie des Erzählers in den Vorüberlaufenden zielt demnach darauf, das von ihm in Gang gesetzte Geschehen von seiner Regie abzukoppeln und daraus zu verschwinden wie der Erzähler des Kaufmanns. „Wir würden Mitschuldige“ beschreibt einen Zustand, der in beiden Fällen vermieden werden muß. Die Position des „Mitschuldigen“ ist die des Erzählers in der Beschreibung eines Kampfes, der seine Phantasiewelt nur solange aufrecht erhalten kann, wie er sie bewußt gestaltet. Diese textuelle Verantwortung versucht der Erzähler der Vorüberlaufenden zu vermeiden. Seine Fluchtbewegung entzieht sich ihr und schafft es doch zugleich, die Selbst-Auflösung der erzählten Wirklichkeit zu verhindern, wogegen in der Beschreibung das Nachlassen der Aufmerksamkeit, d.h. der Erzähler-Verantwortung, den Einsturz der Traum-Wirklichkeit zur Folge hat. Die Vorüberlaufenden laufen „auf eigene Verantwortung“, als ein Geschehen, das nicht mehr den Erzähler braucht, um stattzufinden.
78
So aber: S. Sandbank, a.a.O., S. 387: Das siebenfache „vielleicht“ sei Ausdruck der Zweideutigkeit des Erzählten und führe zu einer Lähmung.
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5.2.2 Behauptungsstruktur und Zeitlichkeit: Die Konstitution einer vergangenen Gegenwart Und endlich, dürfen wir nicht müde sein, haben wir nicht soviel Wein getrunken? Wir sind froh, daß wir auch den zweiten nicht mehr sehn.79
Der letzte Absatz führt das Spiel der Möglichkeiten zu Ende, indem er ein letztes Mal eine Mischung zwischen Hypothese und Tatsachenbehauptung herstellt. Aus rhetorischen Fragen wird noch einmal eine Entschuldigung erfunden („dürfen wir nicht müde sein, haben wir nicht soviel Wein getrunken?“). Sie kehrt zum Subjekt der Betrachtung zurück und leitet das Gedankenspiel wieder in die erzählte Handlung über, die der letzte Satz aufnimmt und abschließt. Dieser Satz unterscheidet sich von allen vorherigen, denn er verläßt den nur als Möglichkeit gedachten Entwurf zugunsten einer behauptenden Aussageform. Am Ende des Textes gibt der Erzähler das Improvisieren auf, um zu erzählen. Diese Umwendung konstituiert den Moment der Betrachtung. Der letzte Satz des Textes steht im Indikativ und wird eindeutig behauptet. Der Erzähler beansprucht ganz direkt, das Gefühl des Beobachters und des mitgemeinten Lesers auszudrücken: „Wir sind froh“. Eine zweite Aussage ist dem als begründende Explikation nachgesetzt: „daß wir auch den zweiten nicht mehr sehn“. Die Ursache wird somit in (grammatischer) Abhängigkeit von ihrer Wirkung präsentiert. Aus dieser Abhängigkeit heraus behauptet der Relativsatz die Tatsächlichkeit dessen, was nie wirklich gewesen ist. Denn „daß wir auch den zweiten nicht mehr sehn“, setzt voraus, daß wir ihn zuvor gesehen haben, was an keiner Stelle gesagt worden ist. Darüber hinaus behauptet der Satz – impliziert im „auch“ –, daß wir zuvor schon konstatiert hätten, daß der erste bereits nicht mehr zu sehen und also vorübergelaufen ist. Beide Behauptungen ergeben sich indirekt aus der negierten Aussage; sie werden allein davon gestützt, daß etwas nicht stattfindet. Diese Konstruktion beruht darauf, daß das Nicht-Sehen, der Kern der Behauptung, zu einem Nicht-Mehr-Sehen verzeitlicht ist. Es entsteht ein Nachhinein, von dem aus etwas vorbei ist. Damit aber kann es als wirklich Gewesenes angesprochen werden. So wird die nachträgliche Zeitlichkeit zur Voraussetzung dafür, daß auf der Negation eine Behauptung aufbauen kann. Mit diesem Kunstgriff wird das als Möglichkeit Imaginierte in ein Wirkliches verwandelt – wenn es auch ‚wirklich‘ erst in dem Moment wird, als es bereits vergangen ist. Diese Operation der Verwandlung konstituiert den Moment der Betrachtung als Relation von zwei auf einander verweisenden Augenblicken. „Wir sind froh“, die eindeutige Behauptung, benennt den Moment des Jetzt. Dieser Moment ist zugleich ein Danach: jetzt ist man der Situation entronnen, die zum Eingreifen 79
B 26, Z. 22 - B 27, Z. 2.
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nötigte. Indem die Erleichterung sich darauf bezieht, daß etwas vergangen ist, konstituiert sie einen zweiten Moment, eben den vergangenen. Die Beziehung dieser beiden Momente ist chiastisch strukturiert. In dem gegenwärtigen Moment des Danach, des Nicht-Mehr, ist Mögliches in Wirkliches verwandelt worden, ‚wirklich‘ aber nur als die Tatsache, daß etwas – ein Davor – vergangen ist. Das Gewahrwerden dessen benennt „wir sind froh“ als Erleichterung und schafft so den Effekt von etwas, das präsent war. Und tatsächlich hat dieser Ausdruck der Entlastung von etwas jetzt Vergangenem einen Gegenstand: nämlich das Schuldgefühl, das dem Beobachter während der ganzen Szene suggeriert worden war, und das im Gefühl der Befreiung aufgehoben ist. Der Umschlag aus der Verteidigungshaltung in Erleichterung tritt an die Stelle des Umschlags zwischen der unmittelbar bevorstehenden Ankunft des ersten Läufers und dem bereits vergangenen Vorüberlaufen. Der Scheitelpunkt zwischen Noch-Nicht und Nicht-Mehr wäre der Moment gewesen, in dem sich die beiden Text-Instanzen Beobachter und Läufer hätten begegnen können; es wäre der Moment eines emphatischen ‚Jetzt‘ gewesen. Dieser transitorische Moment bleibt ausgespart. Zerdehnt in Reflexionen, ist er nicht zu fassen, nicht „anzupacken“, anzuhalten. Im Gegenteil: Alle Bemühung gilt dem Versuch, ihm zu entkommen. Denn dieser Moment nötigt zu allem: Ansprechbar-Sein, Teilnahme, Eingreifen, Handeln, Verantwortung tragen. Hier ist man zu „packen“ allein schon am Blick. Dies muß unbedingt verhindert werden. Daher zielt die Strategie des Erzählers darauf, der Gegenwart zu entfliehen; es gilt, zeitliche Modi zu entdecken, um an dem Moment des Jetzt vorbei zu kommen. Hier setzt der Erzähler auf die Vergänglichkeit der Gegenwart selbst. Er steigt für einen Moment aus, überspringt ihn, hält gleichsam die Luft an, während die Welt weiterläuft. Aus zwei gegeneinander gesetzten Zeitpunkten, zwischen NochNicht und Nicht-Mehr, inszeniert er eine Eklipse des Augenblicks.80 Die Dimension der Flucht vor Verantwortung gegenüber den „Vorüberlaufenden“ ist also wesentlich zeitlich, nicht räumlich, wie es die Metapher von der Flucht nahelegt. Der Erzähler verschwindet für einen Moment aus der Zeit, um dann einen anderen Zeitpunkt zu erreichen, den Punkt, an dem das Ich als Beobachter nicht mehr faßbar, als Subjekt der Aussage aber ganz bei sich ist in der Erleichterung darüber, daß es vorbei ist: „Wir sind froh“. Gerade durch seine eindeutige Aussageform zieht dieses Ende gewissermaßen „den dünnen schwarzen Strich“ in die Geschichte ein, „der sie [...] vom Boden trennt“, wie es in der Beschreibung eines Kampfes heißt.81 „Daß wir ihn nicht mehr sehn“ benennt die Realität eines Gewesenen, also zugleich dessen Irrealität. 80
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Eine Alternative dazu wäre, auf die reine Gegenwart zu setzen und als sich selbst antreibende Auflösungsbewegung zu enden wie in Wunsch, Indianer zu werden, wo sich Erzählinstanz und erzählte Welt im momentanen Entwurf gegenseitig zum Verschwinden bringen. BK 103.
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5.2.3 Verneinung als produktive Strategie Um zu verdeutlichen, was die Strategie der Verneinung leistet, möchte ich das Erzählmodell der ‚Flucht vor Verantwortung‘ mit dem Konzept der „Fluchtlinie“ von Gilles Deleuze und Félix Guattari in Verbindung bringen.82 „Fluchtlinie“ benennt eine Dynamik, die laut Deleuze und Guattari Kafkas Erzählungen und Romanen zugrundeliegt. Damit ist ein produktives Prinzip gemeint, das die Texte als Prozesse organisiert. Die „Fluchtlinie“ bringe ein Werden hervor, das nichts als sich selbst zum Ziel habe, etwa das „Tier-Werden“ („devenir-animal“) in Erzählungen wie der Verwandlung. In dieser Erzählung, aber auch in anderen Texten, sei die Verwandlung ins Tier als Flucht zu begreifen, weil sie sich hierarchischen Ordnungen entziehe und die Mechanismen der Sinnproduktion unterlaufe.83 Diese Flucht ist jedoch das Gegenteil einer Befreiungsbewegung, und ihre Dimension ist nicht räumlich: „[la fuite est] récusée [...] comme mouvement inutile dans l'espace, mouvement trompeur de la liberté; elle est en revanche affirmée comme fuite sur place, fuite en intensité“.84 Im Sinne dieses Konzepts ist Die Vorüberlaufenden als ein Beispiel für die Herstellung einer textuellen Fluchtlinie beschreibbar, als Sprachbewegung, die vom benennenden Behaupten weg in den Möglichkeitsraum, ins Virtuelle verläuft, eine „fuite sur place“ in die Zeit. Folge und Bedingung von Kafkas Fluchtlinien sei, so Deleuze und Guattari, die gegenseitige Annihilation des Ausgesagten und des Subjekts der Aussage. Eine Instanz der Sinnproduktion werde ebensowenig aufrecht erhalten wie die Fiktion einer sprachlichen Referenz auf Gegenstände.85 Diese Konsequenzen kann ich nicht übernehmen. Das Erzählmodell der ‚Flucht vor Verantwortung‘ ist produktiv, und zwar über das insignifikante „Werden“ und die letztlich ungreifbare „Intensität“ hinaus, die Deleuze und Guattari vorschlagen. Die Flucht vor Verantwortung etabliert eine Instanz der Aussage und vermittelt eine bestimmte Erfahrung, aller Auflösung von Behauptungsstrukturen zum Trotz. Denn dem Erzähler der Vorüberlaufenden geht es letztlich nicht darum, sich aufzulösen, zu verschwinden und unwahrnehmbar zu werden, wie es die beiden Autoren als Strategie einer „Kleinen Literatur“ beschreiben. Die Leistung der Erzählerrede ist 82 83
84 85
Gilles Deleuze/Félix Guattari: Kafka - Pour une littérature mineure, Paris 1975. „Devenir animal, c'est précisément faire le mouvement, tracer la ligne de fuite dans toute sa positivité, franchir un seuil, atteindre à un continuum d'intensités qui ne valent plus que pour elles-mêmes, trouver un monde d'intensités pures, où toutes les formes se défont, toutes les significations aussi, signifiants et signifiés, au profit d'une matière non formée, de flux déterritorialisés, de signes asignifiants.“ G. Deleuze/F. Guattari, a.a.O., S. 24. G. Deleuze/F. Guattari, a.a.O., S. 25, Hervorh. v. mir. „C'est une ligne de fuite créatrice qui ne veut rien dire d'autre qu'elle-même. A la différence des lettres, le devenir-animal ne laisse rien subsister de la dualité d'un sujet d'énonciation et d'un sujet d'énoncé, mais constitue un seul et même procès, un seul et même processus qui remplace la subjectivité.“ (G. Deleuze/F. Guattari, a.a.O., S. 65, vgl. auch S. 41).
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es, die Fluchtlinie zu inszenieren, entlang derer das Geschehen verläuft, um es „weiter laufen“ zu lassen. Dieser Akt der Inszenierung ist selbst keine Flucht. Zwar läuft die erfindende Inszenierung darauf hinaus, eine Leere herzustellen, wo eben noch etwas war. Doch diese Verneinung muß als Funktion gelesen werden, nicht als Intention, wie ich bereits am Beispiel des Prosastückes Der Kaufmann gezeigt habe. Mit der Herstellung einer Leere und der Flucht vor Verantwortung ist erst das Verfahren, nicht schon das Ziel dieser Erzählstrategie benannt. Letzteres soll abschließend genauer definiert werden. In der Herstellung einer Leere gelingt es dem Erzähler der Vorüberlaufenden, die Zeit der Geschichte und die Zeit des aktuellen Lesers zu verschmelzen. Das reale Vorüberlaufen der Erzählung beim Lesen und die erzählten Vorüberlaufenden sind beide im selben Moment vorbei. Mit diesem Zusammenfallen der Zeiten innerhalb und außerhalb des Textes wird der als Beobachter eingesetzte, implizite Leser durch den aktuellen Leser ersetzt. Dieser hat am Ende tatsächlich erlebt, daß etwas vergangen ist, nämlich der imaginative Prozeß in seinem eigenen Kopf, der während seiner Lektüre „vorübergelaufen“ ist. So wird der aktuelle Leser zum Subjekt der Erfahrung, die der Erzähler ihm vorgeschrieben hat. Im Gegenzug kann der Erzähler aus dem „wir“ verschwinden, für das jetzt der aktuelle Leser einsteht. Mit dieser Vertauschung, die ihn der Verantwortung enthebt, ist der Erzähler gleichwohl Subjekt einer Aussage, nämlich eben jener, die dem Leser als dessen eigene Erfahrung vermittelt wird. Der Erzähler hat also eine souveräne Regie-Position gewonnen, ohne daß er mit einer Behauptung dingfest zu machen wäre. Es kann daher keineswegs die Rede davon sein, daß sich mit dem Unterlaufen der Behauptungsstruktur die Position des Subjekts der Aussage auflöse. Gerade weil dieses Subjekt verschwindet, kann es sich behaupten. Diese Wendung bedeutet, daß die Leugnung der Verantwortung und die Verunsicherung von Aussagen selbst kein Leerlauf ist. Die auf Leerstellen beruhende Behauptungsstruktur des Textes führt zur Herstellung einer Leere und darüber hinaus. Der letzte Satz benennt ein Nichts, und zugleich entsteht aus der Verneinung eine Wirklichkeit. In Verbindung mit der nachträglichen Zeitstruktur erzeugt die Verneinung Wirklichkeit als Effekt, als Eindruck, daß etwas da gewesen sei. Die Vorüberlaufenden werden strenggenommen nicht ‚wirklich‘, sondern erst recht irrealisiert, insofern sie ‚wirklich‘ nur als Suggestion eines Vergangenen sind. Als diese Suggestion aber gewinnt der Moment des Danach im Bewußtsein des Lesers die Präsenz einer erlebten Erfahrung. Verneinung wird somit zur Voraussetzung dafür, daß da überhaupt etwas ist, vom dem erzählt werden kann, und das als solches in der Imagination des Lesers wirklich werden, d.h. Präsenz gewinnen kann. Narratologisch gewendet, heißt das: Die NegativStruktur der sprachlichen Form des Textes, die nicht behauptet, was geschieht, ist die Voraussetzung dafür, daß eine Geschichte erzählt werden kann. Angetrieben wird sie vom Verstehenswunsch des Lesers, der das Unausgesprochene zum
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Handlungsablauf ‚Verfolgungsjagd‘ zusammensetzt. So bringt der Text wie ein ‚perpetuum mobile‘ seine eigene Bewegung hervor. Er ist ein Generator, eine Art Zaubermaschine, die Mögliches in Wirkliches verwandelt und dabei das Erzählen ineins mit dem zu Erzählenden erfindet.86 Dieses Erzählen erreicht eine Balance zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, die nicht länger andauern kann als einen gedehnten Augenblick. In den wenigen Zeilen einer Miniatur, auf engstem Raum entsteht ein Moment der Betrachtung. Es ist ein verlorener Moment, der Moment einer Gegenwart, die erst retrospektiv als virtueller Effekt zustande kommt, als in der vorüberlaufenden Bewegung schon verflogene Zeit. Weil dies der Augenblick ist, in dem alles hätte stattfinden sollen, wird er mit Bedeutung aufgeladen. – Einige Jahre später wird aus einer solchen Eklipse des Augenblicks der initiale Impuls für einen sehr viel längeren Text hervorgehen: Kafkas erster Roman Der Verschollene (vgl. Kap. IV). Die Betrachtung aber geht nicht über den einen Moment hinaus; ihre Bewegung führt in sich selbst zurück. 5.3 Schluß: Betrachtung und Phantasmagorie Die Behauptungsstruktur der Vorüberlaufenden ist mehrfach gebrochen. Die Brechungen vollziehen sich als Wechsel zwischen möglich und wirklich, Behauptung und Verneinung. Jede einzelne bezieht sich auf das Sehen, das Thema der Betrachtung ist. Der Text baut zunächst ein Sehen auf, indem er ein sichtbar werdendes Geschehen gemäß der zeitlichen Ordnung einer Wahrnehmung entstehen läßt. Zugleich aber leugnet der Text dieses Sehen, indem er sich weigert, zu sagen, was geschieht. Darauf folgt wiederum die Affirmation des Sehens, allerdings in einer indirekten, durch die Negation vermittelten Form: die Tatsache, gesehen zu haben, wird nicht geleugnet, wohl aber die Verantwortung dafür. Die Ausweitung dieses Leugnens wiederum führt zu vielfachen Möglichkeiten der Beschreibung des Gesehenen. Der Lauf selbst taucht darin nicht mehr auf. Der Text verweigert es also dem Leser, sich ein Bild 86
Klaus Ramm gelangt mit seiner Analyse von Wunsch, Indianer zu werden zu einem ähnlichen Ergebnis. Er beschreibt die Entfaltung dieses Textes als Bewegung fortschreitender sprachlicher Reduktion, die doch zugleich „so etwas wie Wirklichkeit [...] episch realisiert“. In dieser Struktur sieht er ein Erzählprinzip, das Kafkas Texten insgesamt zugrundeliege. „Der Rückzug auf den ‚innersten Kreis‘, ‚die vier Wände‘ ist [...] deshalb von so grundlegender Bedeutung, weil eben von diesem Ort aus der Rückzug auf ihn selbst erst möglich wird. Deshalb ist die Reduktion nicht als einschränkende Negation zu fassen, denn nur in diesem Rückzug ist der Ort, der Punkt zu erreichen, von dem aus überhaupt erst Zugang zur Wahrheit gefunden werden könnte.“ (K. Ramm, a.a.O, S. 17 u. 35). Ich möchte über diese Produktivität der Negation noch einen Schritt hinausgehen und zeigen, daß sie zur Voraussetzung einer Form des Behauptens wird, die jenseits der Verunsicherung liegt, aus der sie hervorgeht, weil sie es ermöglicht, den Leser selbst zum Akteur des Textes zu machen.
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des Geschehens zu machen, indem er mögliche Beschreibungen, mögliche Bilder häuft. Dadurch aber zwingt er den Leser, sich ein eigenes Bild aus bloßen Konjekturen zusammenzusetzen: er läßt ein virtuelles Nachbild der „Vorüberlaufenden“ entstehen. Der Erzähler-Beobachter dagegen ‚sieht weg‘, d.h. er tut so, als sähe er nicht. Erst mit dem letzten Satz sieht er wieder hin. Dieser aber ist der Satz, der mitteilt, „daß wir [...] nicht mehr sehn.“ Mit dieser Verneinung des Sehens endet die Geschichte. Was bleibt, ist höchstens der Anblick der leeren Gasse im Mondschein, der zweimal geschildert wurde. Die zweite Beschreibung steht wohl nicht zufällig genau an der Stelle im Text, wo der erste Läufer vermutlich vorbeiliefe und „wir“ ihn „anpacken“ könnten bzw. müßten. Die Ansicht der Gasse bleibt der einzige Zeuge jenes zeitenthobenen Moments, welcher der Augenblick der Begegnung hätte sein sollen. Es ist der Moment, in dem der Beobachter, der nicht zum Augenzeugen werden will, die ‚Verantwortung‘ auf die Außenwelt abschiebt und sich aus ihr verabschiedet. Aus dem Thema des Sehens entwickelt der Text ein Sprechen, das etwas setzt, ohne zu sagen, was es war. Im Wechsel von Hinsehen und Wegsehen, Aussage und Verneinung kommt die erzählende Rede am Behaupten vorbei. Zugleich aber ist die Flucht vor der Verantwortung die Voraussetzung dafür, daß überhaupt erzählt werden kann. Jede Verneinung einer Aussage ist zugleich auch die Suggestion einer anderen; jedes Leugnen impliziert zugleich eine Setzung, jedes Wegsehen setzt einen Anblick voraus. Die Häufung von Ausreden produziert den Verfolger, die Flucht vor der Verantwortung macht möglich, daß die Geschichte weiter läuft, und der Übergang in neue Möglichkeiten setzt eine Wirklichkeit. Diese Konstruktionen sind ausgesprochen artistische Balanceakte. Artistische Sensation ist jedoch meiner Ansicht nach nicht schon das Ziel solcher Veranstaltung. In Die Vorüberlaufenden kommt es nicht zuerst auf das Vorführen von Kunstfertigkeit an und auch nicht auf eine virtuos inszenierte SelbstVerunsicherung des Sprechens. Der Text bringt keineswegs Aporien des Sprechens zur Aufführung, sondern er inszeniert ein Sprechen, das eine Geschichte zur Aufführung bringt. Seine Sprachspiele sind kein Selbstzweck, denn sie machen das Sprechen allererst möglich. Auch dies ist allerdings ein literarischer Selbstzweck. Ihm gegenüber sind die Konstruktionen aber nur Mittel. Sie inszenieren den Text, d.h. das Auftreten der „Vorüberlaufenden“, nicht ihr eigenes; sie erzählen eine Geschichte, die im Fortschreiten des Textes entsteht. Das Verfahren dieser Aufführung möchte ich mit einer Metapher bezeichnen, die Théophile Gautier 1836 auf die phantastischen Erzählungen E.T.A. Hoffmanns bezogen hat: „Jean-Paul Richter [...] a dit que ses ouvrages [d.i. Hoffmanns Werke] produisaient l'effet d'une chambre noire, et que l'on voyait s'y agiter un microcosme vivant et complet. Ce sentiment profond de la vie [...] est
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un des grands mérites d'Hoffmann [...].“87 Gautiers Anmerkung zur „chambre noire“ (camera obscura) als ‚black box‘ der Imagination, die Bilder zur Erscheinung bringt, läßt sich auf eine Jahrmarkts-Sensation beziehen, die Ende des 18. Jahrhunderts unter dem Namen ‚fantasmagorie‘ Furore machte. Es handelt sich um eine erweiterte ‚camera‘, ein technisches Verfahren, das die optische Illusion von Geistererscheinungen produziert. Mithilfe von mobilen Spiegeln konnte dieser ‚fantascope‘ genannte Apparat Bilder erzeugen, die sich vor einem schwarzen Hintergrund schwebend durch den Raum zu bewegen schienen.88 Ein solches Bild sind auch die „Vorüberlaufenden“. Sie existieren allein als Nachbild, als Spiegelung im Auge des Betrachters bzw. in der Imagination des Lesers. Dieses Bild zur Erscheinung zu bringen, ist die Leistung eines Erzählens, das am Behaupten vorbei eine Geschichte entstehen läßt. Als ‚optischer‘ Effekt, als Schein, hat es eine suggestive Kraft, die fasziniert, weil dieser Schein wirklicher wirkt als das Wirkliche. So reizen auch die Figuren, die Gautier in der „chambre noire“ der Hoffmannschen Geschichten sich bewegen sieht, durch ihre ins Irreale gesteigerte Lebendigkeit. Der schwarze Hintergrund ist die Voraussetzung für diese Erscheinung, die Irrealität ist nachgerade Bedingung für ihre ‚Wirklichkeit‘, d.h. ihre gesteigerte Präsenz, weil sie sich nur im Möglichkeitsraum des ‚als-ob‘, im Raum der Einbildungskraft produzieren kann. Daher ist der Wirklichkeitseindruck, den diese Figuren vermitteln, zugleich das Phantastische an ihnen. In dieser Hinsicht sind Hoffmanns und Kafkas Geschichten vergleichbar: für den Wirklichkeitseffekt, den sie erzeugen, muß es ihnen gelingen, auf die Imagination des Lesers überzugreifen. Hoffmanns wie Kafkas Texte wirken nur deswegen so eindrücklich, weil die „chambre noire“, in der sie als gespiegelte Projektionen entstehen, der Kopf des Lesers ist.
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Théophile Gautier: „Contes d'Hoffmann“, in: La Chronique de Paris, Nouvelle Série, Bd. 3, 14.8. 1836 (Nr. 9), S. 133-135, Zitat S. 134. Vgl. Max Milner: La fantasmagorie. Essai sur l'optique fantastique, Paris 1982. Das ‚fantascope‘ war demnach ein Verfahren „[de] créer par la magie de l'ombre et de la lumière, du reflet, de l'image réelle ou virtuelle, un espace comparable à celui du rêve“ (S. 21). Einen solchen Traum-Raum entwirft auch Kafkas Text, und zwar, wie ich meine, ganz ohne Rückgriff auf die technischen Mittel des visualisierten Imaginären, d.h. die Nachfolger des ‚fantascope‘, vor allem das Kino (wie immer wieder behauptet worden ist). Die Bewegungen der Einbildungskraft des Betrachters bilden das ‚fantascope‘ dieses Textes, nicht die Techniken eines kinematographischen Erzählens in Bildern. Als literarische Phantasmagorie stehen die Vorüberlaufenden vor allem in Konkurrenz zum Traum-Kino im eigenen Kopf. Möglich ist immerhin, daß der Text damit auch in Konkurrenz zu den bewegten Bildern auf der Leinwand treten will, von denen Kafka fasziniert war. - Die Diskussion um Kafkas (angeblich) kinematographisches Erzählen konzentriert sich seit Wolfgang Jahns Studie vor allem auf den Verschollenen (Wolfgang Jahn: „Kafka und die Anfänge des Kinos“, in: JDSG 6/1962, S. 353-368; vgl. dazu u.a. auch den Beitrag von Mark Anderson, a.a.O., Kap. 4: „America: Kafka's cinematic narrative“). Zum Verhältnis von literarischer Imagination und Kino-Erfahrung vgl. Hanns Zischler: Kafka geht ins Kino, Reinbek bei Hamburg 1998.
Die Vorüberlaufenden
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Die Vorüberlaufenden führt Betrachtung als Phantasmagorie vor. Mit der Inszenierung solcher Spiegelungen des Sehens ist die Betrachtung selbstreflexiv geworden. Als augenblickshafte Balance zwischen Entwurf und Erzählung erreicht sie für einen Moment den Punkt, von dem das erfindende Schreiben in den Tagebüchern ausgeht. Wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, entwickelt sich in den Schreibexperimenten des Tagebuchs das produktive Prinzip einer aus dem Entwurf einer Möglichkeit entstehenden Erzählbewegung zum phantastischen Erzählen. Die Techniken, mit denen Die Vorüberlaufenden einen Imaginationsprozeß aus Möglichkeit und Verneinung inszeniert, weisen darauf bereits voraus.
6. Schluß: Verwandlung als Verfahren 6.1 „Lichtblicke“ und „Verwirrung“ Die frühesten unter dem Titel Betrachtung veröffentlichten Prosastücke verhandeln die Beziehung zwischen Ich und Welt in der Vermittlung durch das Sehen. Die Ich- und Erzähler-Figuren sind Zuschauer.89 Von dieser Position aus werden das Sichtbare und der Blick zum Gegenstand der betrachtenden Reflexion. „Zerstreutes Hinausschaun“, der Titel eines dieser frühen Stücke, beschreibt den in unwesentlichen Zwischenzeiten abgelenkten Bewußtseinszustand der Betrachtenden, abends vor dem Spiegel oder in der Straßenbahn zwischen zwei Haltestellen. Sie schauen hinaus oder nur gegen eine Milchglasscheibe, auf der imaginierte Stadtansichten wie im Panorama vorbeiziehen; sie schauen schöne Mädchen und deren Kleider an und berichten, wie diese Mädchen sich selbst im Spiegel sehen; sie beobachten zwei Vorüberlaufende im Mondlicht und schauen weg, wenn daraus eine Verfolgungsjagd zu werden droht; sie schauen mit einem Blick, der sich manchmal wie absichtslos an den Oberflächen festsaugt, manchmal konzentriert ins Unsichtbare vorzudringen sucht. In den Momenten der Kontemplation entfaltet sich „Betrachtung“ als Bewegung zwischen Anschauung und Reflexion, als Kommunikation zwischen Innen und Außen, Betrachter und Objekt. In dieser Bewegung wird das Sichtbare zum Ausgangs- oder Endpunkt von unbeantwortbaren Fragen. Der Fahrgast etwa entfaltet eine Diskussion um die Verläßlichkeit des Wirklichen, in deren Verlauf sich die Schilderung einer alltäglichen Tatsache zum Beweis dessen wandelt, daß 89
Die Zuschauer-Position findet sich auch noch in den später entstandenen Stücken der Buchveröffentlichung Betrachtung von 1912; die meisten dieser Betrachtungen widmen sich jedoch den Innenräumen des erzählenden Ich (etwa Der plötzliche Spaziergang, Entschlüsse, Unglücklichsein).
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II Betrachtung
die Verwunderung des Ich über die Alltäglichkeit berechtigt ist. Als Ergebnis der Betrachtung bleibt ein Augenblick gesteigerter Wahrnehmung. Solche Wahrnehmungs-Augenblicke stehen im Zentrum jedes der vier behandelten Texte. Im Kaufmann ist es die Bildvorstellung der an den Milchglasscheiben eines Aufzugs wie stürzendes Wasser hinuntergleitenden, schattenhaften Treppengeländer, die eine Folge visionärer Bilder auslöst; in Kleider das Bild der Mädchenschönheit im Spiegel, ein Gesicht, zugleich Haut und Maske, „von allen schon gesehn und kaum mehr tragbar“; in Die Vorüberlaufenden schließlich verursacht ein nicht behauptetes Bild die ebenso zweifellose wie verwirrende Empfindung, es sei etwas geschehen – ohne daß man sagen könnte, was es war. Nach jeder Lektüre bleibt etwas Ungreifbares zurück, obwohl Beschreibung und Betrachtung ganz beim Konkreten, sinnlich Erfahrbaren, im Sicht- und Fühlbaren verblieben sind. So sind die Betrachtungen, nach den Worten ihres Autors „Lichtblicke in eine unendliche Verwirrung hinein“, immer Lichtblick und Verwirrung zugleich.90 6.2 Sprache: Verfahren der Verwandlung Mit der Analyse der sprachlichen Verfahren habe ich gezeigt, wie die herausgehobenen Betrachtungs-Momente zustande kommen. In jedem Text verläuft dieser Prozeß auf andere Weise, so daß sich die Ergebnisse nicht auf einen Nenner bringen lassen. Doch haben sich eine Reihe von Verfahren herauskristallisiert, die in je spezifischer Weise „Verwirrung“ und „Lichtblick“ verschränken. Der Verg le ich wird zum Mittel der Vertauschung und Verwandlung. Vielschichtige Assoziationsbezüge werden durch eine besondere Technik des Vergleichs in einem auf den ersten Blick einfach scheinenden Bild unauflöslich zusammengezogen, wie in dem Gleichnis Kleider, dessen Bestandteile durch zwei einander widersprechende ‚tertii comparationis‘ verbunden sind. Zwischen den beiden Ebenen wechselt der Text je nach Bedarf der Argumentation hin und her. Aus der Reflexionsbewegung ergibt sich in der Entfaltung des Vergleichsbildes eine Verbindung zwischen Sinn und Anschauung, die jenseits von Metaphorizität liegt und einen Effekt von Verwandlung vermittelt. Ein bereits in der Beschreibung eines Kampfes beobachtetes Verfahren ist die P e r s o ni f i ka t i o n von Vorstellungen und die A nt hr op o m o r p h is ie r u n g von unbelebten Dingen. Durch diese Techniken gewinnen die Gegenstände der Rede plastische Lebendigkeit und sogar haptische Qualität. In diesen 90
Briefe an Felice, Brief vom 29./30.12. 1912, S. 218. „Es ist ja wirklich eine heillose Unordnung darin oder vielmehr: es sind Lichtblicke in eine unendliche Verwirrung hinein und man muß schon sehr nahe herantreten, um etwas zu sehn.“
Schluß: Verwandlung als Verfahren
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Zusammenhang gehört auch das Verfahren des Wörtlichnehmens. Diese Techniken führen oft eine verkehrte Kausalitätsrelation ein, etwa im Kaufmann, wo die Personifikation Innen und Außen vertauscht und dabei das Ich zum Opfer seiner eigenen Zustände werden läßt. Die Personifikation ist ein Stilmerkmal Kafkas, das in den frühesten Texten, d.h. in den Briefen und der Beschreibung eines Kampfes, besonders auffällig ist. Im Gegensatz dazu wird dieses Mittel in der Betrachtung eher unauffällig eingesetzt. Die Wirkung ist um so stärker, weil der Leser zur imaginativen Teilnahme am Geschehen angeregt wird. Als Urform aller Verwandlung ist die Personifikation vielleicht das wichtigste Verfahren des phantastischen Erzählens in Kafkas frühen Texten. Durch einen einfachen Kunstgriff kann hier Unbelebtes lebendig werden, Geistiges erscheint körperlich. Vergleich und Personifikation sind im weitesten Sinne Techniken der Metaphorisierung. Diese sind in der Perspektive der vorliegenden Arbeit als Bilder erzeugende, imaginative Verfahren von Interesse, nicht als symbolisierende, d.h. Bedeutung erzeugende. – Eine zweite Gruppe von Verwirrungs- und Vertauschungstechniken berührt den Realitätsstatus des Erzählten. Grammatische Konstruktionen halten das Ausgesagte zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit in der Schwebe. Die hy p ot he t i s c he K o nst r u k t i o n wird hergestellt durch den Gebrauch des Irrealis, oft auch nur mit „vielleicht“ angedeutet. Damit verwandt ist die k o nd i t i ona le K o nstr u kt ion, die als Struktur vieler Stücke der Betrachtung besonders auffällt. Immer wieder leitet ein „wenn“ die Reflexion ein. Es steht als Bedingung für die Emanzipation des Erzählens vom Erzählten (d.h. eines außerhalb des Erzählvorgangs als wirklich Vorgestellten). Als Gedankenexperiment bleiben z.B. die Vorüberlaufenden unverbindlich, da alle Realität von der Erfüllung der initialen Bedingung abhängt – bis das Geschehen schließlich in dem Moment, in dem es endgültig vorüber ist, doch wirklich gewesen zu sein scheint. Analog zu der Verwandlung von Geistigem in Körperliches durch die Personifikation verwandelt sich Mögliches in Wirkliches. Ein ähnliches Verwirrspiel zwischen Etwas oder Nichts setzen die Ne gat ivkonstr u kt ione n in Gang. Durchgängig arbeiten die Texte mit Negativ-Folien, die das zu Erzählende aussparen, um zu erzählen, was nicht da ist, so daß der Leser gezwungen wird, die Handlung aus angedeuteten Möglichkeiten selbst herzustellen. Ähnlich auch in dem 1912 in Betrachtung veröffentlichten Text Der Ausflug ins Gebirge: „Ich würde ganz gern – warum denn nicht – einen Ausflug mit einer Gesellschaft von lauter Niemand machen ...“. Am Ende dieses erfunden-erschriebenen Ausflugs steht die Aussage: „Es ist ein Wunder, daß wir nicht singen.“91 Das Wunder wäre doch gewesen, so steht zu vermuten, wenn eine 91
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Gesellschaft von „lauter Niemand“ zu singen begonnen hätte. Sie singen aber nicht, bleiben also im Bereich des logisch Möglichen – doch das wiederum „ist“ – im Indikativ – „ein Wunder“, also ‚eigentlich‘ nicht möglich. Diese Tricks mit den Möglichkeiten der Negation inszenieren logisch-semantische Verwirrspiele und schließen sich damit an die Verweigerung der behauptenden Aussage durch den Irrealis an. Auch die Wirkung dieser grammatischen Konstruktionen ist Verwandlung, verstanden als Vertauschung von Ursache und Wirkung, eine Figur des HysteronProteron. – Zu diesen rhetorischen Verwandlungsverfahren treten schließlich noch im engeren Sinne rhetorische Verfahren, d.h. die Verwendung von rhetorischen Fragen und ähnlichen Suggestivtechniken. Ein gemeinsames Kennzeichen der untersuchten Texte ist die Verwendung von r het or i sc he n Fra gen. Sie werden nicht immer direkt gestellt, sondern auch verneint oder nur auf indirektem Wege durch die Aussparungen im Ausgesagten und das Vermeiden von Festlegungen erzeugt. Der Fahrgast und Die Vorüberlaufenden arbeiten mit Antworten auf nicht gestellte Fragen, die sie verschränken mit Fragen, auf die es keine Antwort gibt. Diese Technik, eine dialogische Struktur zu erzeugen, beruht immer auf demselben Kunstgriff: Alle vier Texte stellen die Frage nach der Schuld.92 Dadurch erzeugen sie AnklageSituationen und Rechtfertigungszwänge, denen die fortgesetzte Erweiterung der Rede begegnet. – Die Wirkung dieser Suggestivtechniken ist eine Verwandlung der Blickweise. In die gestellten und nicht gestellten Fragen ist eine Perspektivierung eingeschrieben, die das Verhältnis von Selbstverständlichkeit und Verwunderung vertauscht, wie z.B. in Kleider und Der Fahrgast. In diese Verschiebung des Blicks, in das Spiel von Sichtweisen und Bewußtseinshorizonten, von Erwartungen und Suggestionen wird der Leser in gezieltem Rekurs auf seine Interpretationsleistung hineingezogen. Die Texte führen damit den Beweis, daß die verschobenen Sichtweisen nicht nur eine relative Frage des Blicks sind, den zu ändern uns freistünde. Daher sind auch die rhetorischen Fragen Verfahren phantastischen Erzählens, insofern ihre Effekte darauf zielen, den Leser von einer anderen Sicht auf die Wirklichkeit zu überzeugen. Alle diese Kunstmittel konstituieren das Verhältnis von Anschauung und Reflexion in der Betrachtung als ein Verhältnis von Alltäglichem und Unwirk-
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Eine Verbindung zum Thema der Schuld im Proceß kann hier nur angedeutet werden. Vor aller Metaphorisierung von Schuld und Gericht geht es in Betrachtung um rhetorische Tricks, um advokatorische Winkelzüge, um eine Schuldfrage zu erzeugen oder zu bestreiten. Von der Schuldzuweisung werden die Texte in ähnlicher Weise in Bewegung gesetzt wie der ProceßRoman von der universellen Verdächtigung, die sein erster Satz erzeugt: „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ (KKA: Der Proceß, S. 7).
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lichem. Daher sind die Verfahren der Verwandlung Verfahren eines phantastischen Erzählens. 6.3 Erzählformen in Betrachtung Die Verfahren der Verwandlung sind im Sinne der Beschreibung eines Kampfes Techniken der ‚Sprachverwirrung‘. Die sprachlichen Mittel gestalten eine neue Beziehung von Sprache und Wirklichkeit, in der sie Autonomie gegenüber dem Darzustellenden gewinnen. Sie bringen das zu Erzählende hervor, wenn z.B. die personifizierende Redeweise aus der Logik des Bildes heraus ein Geschehen inszeniert, oder wenn die konditionale Konstruktion eine Handlung als Gedankenspiel entwirft. Von der Beschreibung zur Betrachtung vollzieht sich eine wesentliche Veränderung in der Funktion dieser sprachlichen Handlungen. Die Erzählerfiguren der Betrachtung berichten nicht mehr von einem Akt der erfindenden Setzung wie die Ich-Figur der Beschreibung; sie vollziehen ihn. Ihr Sprechen entwirft das zu Erzählende als Phantasmagorie. Das wichtigste Strukturmerkmal dieser neuen Form des phantasmagorischen Erzählens ist das Erzählmodell der ‚Verantwortung‘. ‚Verantwortung‘ bezieht sich sowohl auf das Verhältnis zwischen Ich und Welt als auch auf das Verhältnis der Rede zum Behaupteten. Sie umfaßt somit die beiden wichtigsten Themen der Beschreibung eines Kampfes und wird zum neuen Ausgangspunkt des Erzählens. Indem der Erzähler das, was geschieht, seiner Verantwortung unterstellt, gewinnt er eine Position, die es ermöglicht, die Welt aus seiner Rede hervorgehen zu lassen. Komplementär dazu entwickeln die Betrachtungen ein Sprechen, das nicht behauptet, was geschieht. Dieses Erzählmodell der Flucht gehört notwendig zum Erzählen als Verantwortung. Die Befehle, mit denen der Erzähler die Welt als seine Erfindung deklariert, müssen wieder verneint, die Behauptungen wieder geleugnet werden. Denn nur so kann es dem Erzähler gelingen, vor dem Behaupten davonzukommen und doch nicht nichts zu sagen. An die Stelle einer fortgesetzten Schwellenüberschreitung zwischen Traum und Wirklichkeit treten hier logisch-semantische Operationen auf der Grenze zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit. Diese sprachliche Technik löst die Sprachreflexivität der Beschreibung ab. Während dort das Erzählen permanent auf seine Sprachlichkeit hinweisen mußte und daher auch immer wieder nur auf sich selbst zurückverwiesen war, gelingt es der Sprachbewegung hier, Geschichten zur Aufführung zu bringen. Wesentlich für die Entfaltung eines narrativen Prozesses ist eine neue Entdeckung in Betrachtung: die der Zeit. Das erfindend-entwerfende Erzählen ist gekennzeichnet von dem Synchronismus von Erzählzeit und erzählter Zeit. Das zu Erzählende kommt in dem Moment ins Dasein, in dem der Erzähler es anspricht. Das Fortschreiten des Textes wird auf diese Weise eng verbunden mit dem Fortschreiten der erzählten Handlung, ja zu ein und derselben Bewegung
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verschmolzen. Die Erzählbewegung erzeugt dynamische Energien, welche sie wiederum weitertreiben. Diese Spannung dauert so lange wie die Rede. Sie kann nur als momentane aufrecht erhalten werden, als in jedem Augenblick prekäre Balance. Solche Balance-Momente finden sich bereits in einigen Passagen der Beschreibung. Die neue Leistung der Betrachtungs-Miniaturen ist es, diese Augenblicke um eine winzige Zeitspanne zu verlängern. Die Betrachtungen dehnen den transitorischen Moment zwischen ‚noch-nicht‘ und ‚nicht-mehr‘ und lassen alles in der Zeit dazwischen stattfinden. Auf diese Weise gelangen sie über die Beschreibung eines Kampfes hinaus. Die Beschreibung hatte die Erzählbewegung nur durch die Verlängerung im Weiterschrauben aufrecht erhalten können. Den Betrachtungen dagegen gelingt ein in sich abgeschlossener, narrativer Verlauf; sie sind kleinste Erzählungen, Miniatur-Geschichten. Von diesen Ergebnissen her lassen sich die Beschreibung eines Kampfes und Betrachtung auf ein ihnen gemeinsam zugrundeliegendes Erzählprojekt beziehen. Beide gestalten Möglichkeiten eines phantastischen Erzählens. So gegensätzlich die kompositorisch wie sprachlich ausufernde, traumhaft-phantastische „Novelle“ und die knappen und nüchternen Zeilen der Prosaskizzen auch erscheinen: die phantastische Signatur der Beschreibung läßt sich auch in der so gar nicht phantastischen Betrachtung wiederfinden. Das Phantastische der Betrachtung liegt in der Sprache, in einer Sprache, die nur scheinbar einfach und selbstverständlich auftritt und dabei in jedem Satz Unwägbarkeiten und Rätsel erzeugt. 6.4 Das Betrachter-Ich: Erzähler und Perspektivfigur Die Betrachtung geht vom wahrnehmenden Ich aus. Standpunkt und Blickweise des Subjekts der Betrachtung bestimmen sowohl das Bild als auch die Reflexion darüber. Dieses Ich hat sich seit der Beschreibung eines Kampfes kaum verändert. „Es ist ein bißchen Laforgue und der Franzose hätte es überschrieben: Beklagung des Junggesellen und Kafka sagt: ‚sich im Aussehen und Benehmen nach ein oder zwei Junggesellen der Jugenderinnerungen auszubilden.‘ “, schrieb Kurt Tucholsky zu Kafkas Buch Betrachtung.93 Der Junggeselle stiftet den Zusammenhang der Miniaturen. Die Betrachterfiguren – der Kaufmann, der Spaziergänger, der Fahrgast, der Einsame am Gassenfenster usw. – sind seine Figurationen, Doubles einer literarischen ‚persona‘. Dieses Junggesellen-Ich ist nicht auf ein Autor-
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K. Tucholsky: „Drei neue Bücher“, a.a.O., S. 20.
Schluß: Verwandlung als Verfahren
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Subjekt zurückzuführen; es ist bestimmt als Funktion im Text.94 Die Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande, die Beschreibung eines Kampfes und die Betrachtung umkreisen die Junggesellen-Figur als eine Position am Rande des normalen Lebens.95 Von diesem exzentrischen Standpunkt aus setzen sie den Hebel an, um eine Erfahrung zu formulieren, die die alltägliche Weltsicht verschiebt. Die Junggesellenfigur bestimmt die Position, von der aus das Erzählen möglich wird. Diese Position ist keine, die als Ort eines ästhetischen Subjekts emphatisch behauptet werden könnte. Aus der prekären Selbstbehauptung als Papierwesen in der Beschreibung eines Kampfes sind in Betrachtung „Randbemerkungen eines verschwindensbereiten, unauffindbaren Zimmerherrn und Aftermieters des Lebens“ geworden, wie Albert Ehrenstein in seiner Rezension zu Betrachtung schrieb.96 Dieses Verschwinden hat eine Funktion: es macht einem Anderen Platz. Das Betrachter-Ich ist ein Stellvertreter, eine Perspektivfigur, die eine Stelle für die imaginative Identifikation freihält, um den Leser in die Geschichte zu integrieren. Durch den kalkulierten Rekurs auf seine Einbildungskraft wird der Leser dazu gebracht, die Betrachtung zu imaginieren, d.h. seinen Blick in sie hineinzulesen. Aus diesem Grund sind wir nicht frei, die BetrachtungsPerspektive zu wechseln: weil es unsere eigene ist, weil wir selbst es sind, die aus dem nur Angedeuteten Fragen und Antworten machen, ja sogar machen müssen. Diese Form der Kommunikation zwischen Text und Leser etabliert Betrachtung zum ersten Mal. Der Dialog innerhalb des Textes, den die Beschreibung eines Kampfes zwischen diversen Figurenpaaren inszeniert, wird hier abgelöst von einer dialogischen Struktur der erzählenden Rede, die den Leser einbezieht und zu einer Figur des Textes macht. Obwohl also das Junggesellen-Ich vor dem identifizierenden Zugriff verschwindet, ist das ästhetische Subjekt, das sich in und hinter dieser Konstruktion versteckt, damit keineswegs annihiliert. Es wird zum ungreifbaren Subjekt der Aussage, die der Leser interpretierend herstellt, die ihm also als seine eigene Erfahrung suggeriert, ja geradezu vorgeschrieben wird. Im Ausgreifen des Textes auf die Imagination des Lesers liegt ein Anspruch auf Geltung, der in den 94
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Die Junggesellen sind also nicht als „Personifikationen des Dichters“ anzusehen, wie Kafkas Bekannter und Rezensent Otto Pick zuerst vorgeschlagen hat, und worin ihm viele Interpreten gefolgt sind, z.B. James Rolleston, der in ihnen Doppelgänger sieht für ein „Kafka-Ich, das literarisch noch nicht dargestellt werden kann“ (vgl. O. Pick: „Franz Kafka ‚Betrachtung‘ “, a.a.O., S. 23, sowie J. Rolleston: „Betrachtung“, a.a.O., S. 184). Die Deutungen von Kafkas Schreiben als „Junggesellenkunst“ sind so zahlreich, daß sie hier nicht behandelt werden können. Verwiesen sei nur auf H. Politzer, a.a.O., Kap. II: „Juvenilia Der Junggeselle als Grundfigur“, S.45-80. Den viel zitierten Begriff „Junggesellenkunst“ prägte Paul Friedrich in seiner Rezension zu Betrachtung (Paul Friedrich: „Gleichnisse und Betrachtungen“ (1913), in: Franz Kafka. Kritik und Rezeption, a.a.O., S. 32-34, Zitat S. 33); Kafka hat ihn in einem Brief an Felice Bauer aufgegriffen (vgl. Briefe an Felice, Brief vom 14.8. 1913, S. 445). A. Ehrenstein, a.a.O., S. 29.
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II Betrachtung
Prosastücken der Betrachtung zwar noch unauffällig, aber nicht harmlos ist. Die Betrachtungen stellen ein intrikates Verhältnis von Oberfläche und Hintergrund her und etablieren damit zum ersten Mal jene irritierende Gleichzeitigkeit von größter Einfachheit und rätselhafter Unauflöslichkeit, die Kafkas Leser fasziniert wie ein Spiegel, der sie an ihren eigenen Blicken gefangen hält.97 6.5 Der Zusammenhang der Sammlung Betrachtung: Variation als Prinzip Die vorstehenden Überlegungen könnten über die vier untersuchten Texte von 1908 hinaus auf die übrigen Stücke der Betrachtung erweitert werden. Als Variationen auf einen gemeinsamen Grundstock von Motiven und Szenen erproben die Betrachtungen je unterschiedliche Verfahren. Erst aus der Zusammenschau der Einzelmomente wird ihr gemeinsames Projekt sichtbar. Jedes der Stücke nimmt Themen und Verfahren eines anderen wieder auf, um sie in verändernder Variation weiterzuentwickeln, wie es z.B. an den verschiedenen Möglichkeiten des „wenn“ erprobt wird.98 Über die bereits festgestellten Verwandtschaftsbeziehungen hinaus lassen sich z.B. folgende Linien ziehen: Kleider und Die Bäume sind gleichnishafte Sinnbilder. In ihnen steckt der Sinn im Bild; die Denkbewegung umkreist ihn und dreht sich dabei wieder in die Anschauung zurück. Diese Reflexion erweist das Sichtbare als Täuschung, ohne dabei die Oberfläche des Bildes je zu verlassen („Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.“).99 Die Vorüberlaufenden und der Ausflug ins Gebirge entstehen als Erzählbewegung aus lauter Unwahrscheinlichkeiten, erfunden aus dem Nichts. Beide entwickeln sich aus dem Sprachspiel von Möglichkeit und Negation. Der Ausflug ins Gebirge mit „lauter niemand“ und der Wunsch, Indianer zu werden sind ihrerseits verbunden als Textentwicklungen aus den Möglichkeiten des Konjunktivs: bei diesen beiden ist die Energie, die die virtuelle Bewegung an- und vorantreibt, der Wunsch. Bewegung ist auch das verbindende Element der chiastisch aufeinander bezogenen Stücke Zerstreutes Hinausschaun und Die Abweisung. Die gegenläufige Bewegung zweier aneinander vorüber gehender Passanten, die sich gegenseitig betrachten, findet sich gespiegelt im Überkreuzen der Blicke der hintereinander Gehenden. Der Moment reiner Betrachtung, in dem 97
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In der Arbeit an diesen imaginierten und gespiegelten Blicken und in der verschobenen Sicht, die sie vermitteln, ist Kafkas Erzählen dem phantastischen Erzählen E.T.A. Hoffmanns verwandt. Auch bei Hoffmann gehen die Verwandlungen von einer Wirklichkeit in die andere aus den Verschiebungen des Blicks hervor, die einem als „günstiger Leser“ angesprochenen Adressaten vorgeschrieben werden, den der Erzähler „hineinverlockt in das fremde Gebiet“ (E.T.A. Hoffmann: Die Serapions-Brüder, in: ders., Sämtliche Werke, München 1960-65, Bd.3, S. 254.). Vgl. zu den Bezügen zwischen den Texten und ihrer zyklischen Anordnung in der Betrachtung von 1912: G. Kurz, „Lichtblicke“, a.a.O., § II, S. 53-58. B 33.
Schluß: Verwandlung als Verfahren
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das Licht auf einem sich nach hinten umschauenden Gesicht zu Schatten wird, kurz bevor der hinten Gehende überholen wird, entspricht dem Moment, in welchem im anderen Stück die Passanten aneinander vorübergehen, ohne sich anzusehen. Diese Choreographie der Blicke und der gegenläufigen Bewegung verbindet Die Abweisung wiederum mit Die Vorüberlaufenden. Das Aufrufen der gegenseitigen Traumwelten – wie es sein könnte, aber nicht ist – im Moment des Nicht-Treffens hier ähnelt der Flucht in die imaginativen Möglichkeiten dort. Dazu treten die Ähnlichkeiten von Motiven wie z.B. das Reiten in Wunsch, Indianer zu werden und Zum Nachdenken für Herrenreiter; die immer wieder ähnlichen Straßenszenen, das Thema ‚Im Zimmer‘, der Weg nach Hause etc. Man könnte dieses immer neue Durchwürfeln immer ähnlicher Bestandteile mit der Metapher des Kaleidoskops beschreiben, das bei jeder Drehung eine neue Miniatur erzeugt. Jede dieser Miniaturen ist Variante einer anderen und auch Variation einer zugrundeliegenden Konstellation: jener Spannung zwischen Wirklichem und Überwirklichem, die ich als Signatur von Kafkas phantastischem Erzählen bezeichnet habe. Phantastik ist hier nicht an wunderbare Ereignisse oder an phantastische Verwandlungen des Wirklichen gebunden. Das Phantastische entsteht in der Bewegung der Sprache, in der Art und Weise, wie sie Bilder und Geschichten hervorbringt. Die Wahrnehmungs-Augenblicke der Betrachtung zeigen diese Sprachund Imaginationsbewegung in einer auf den Moment konzentrierten, auf engsten Raum reduzierten Form. In ihrer Kürze bilden sie die Urform des „Dahinbalancieren[s] auf der Schneide zwischen Wirklichkeit und Überwirklichkeit“, das Heinz Politzer als grundlegend für Kafkas Erzählkunst herausgearbeitet hat.100 Das „Dahinbalancieren“ trägt allerdings nicht weit. Es gelingt nur als Ergebnis einer je spezifischen Verwandlungs- und Vertauschungsbewegung. Die Durchführung je eines Verfahrens in einem Bild ist an das Momentane gebunden. Über eine längere Strecke als ein paar Zeilen können und sollen diese in sich selbst zurückgedrehten Bewegungen nicht aufrechterhalten werden. An die Stelle des Erzählmodells der Beschreibung eines Kampfes, die eine Grundkonstellation in fortlaufender Veränderung variiert und daraus eine „Novelle“ zu entwickeln sucht, tritt somit die Häufung von Miniatur-Variationen. Auf den ersten Blick scheint hier das Erzählen schon im Ansatz stecken zu bleiben. Dennoch ist Betrachtung wegweisend für die weitere Entwicklung von Kafkas Erzählen. Die kurzen Prosastücke, nicht die lange „Novelle“, können als Ansatzpunkt für die Entwicklung weiter ausgreifender Erzählbewegungen gelten, wie im folgenden Kapitel gezeigt wird. Denn das Augenblickshafte bleibt auch für die späteren Texte Kafkas bestimmend. Ich werde mit der anschließenden Erweiterung dieser Überlegungen zeigen, wie die Weiterentwicklung von Kafkas Schreibweise in den Tagebüchern von den momenthaften Denkbildern der Betrachtung ausgeht. 100
H. Politzer, a.a.O., S. 28.
III Tagebücher 1909 – 1911 1. Einleitung Kafkas Tagebuch ist mehr als ein Tagebuch. Als alltägliches Notizheft ist es zugleich Diarium und Ort literarischer Produktion. Aufzeichnungen von Erlebnissen stehen neben Ansätzen zu Erzählungen. Die beiden Funktionen sind zudem bis zur Ununterscheidbarkeit miteinander verzahnt. Jede diaristische Eintragung ist auch ein Stück Literatur; die fiktionalen Textansätze wiederum stehen oft in enger Beziehung zum Leben des Autors. Diese Tagebuch- und Arbeitshefte sind eine faszinierende Lektüre, weil sie Literatur ‚in statu nascendi‘ zeigen, indem sie nachvollziehbar machen, wie aus der diaristischen Aufzeichnungsarbeit Literarisches entsteht. Aufgrund ihres literarischen Charakters sind Kafkas Tagebücher in der Forschung vielfach als Zentrum seines Werks betrachtet worden. Die einschlägigen Arbeiten gehen meist von der These aus, daß Schreiben und Leben bei Kafka in besonderer Weise aufeinander bezogen seien, und daß das Tagebuch als Ort der Transformation von Leben in Schrift die Keimzelle dieser Verbindung bilde. Das Tagebuch wurde sowohl als eigenes, autobiographisches Werk wie auch als poetologischer Kommentar des literarischen Werks gelesen. Als Ort der Selbstbefragung und -auskunft des Schreibenden, oder sogar als der Ort, von dem aus jener Schreibende erst als ein Autor sprechen kann, wurden Kafkas Tagebücher zum privilegierten Ausgangspunkt vieler Interpretationsansätze.1 1
Daß sich in Kafkas Tagebüchern ein enger Zusammenhang von Leben und Schreiben dokumentiere, ist ein Topos der Kafka-Forschung. Trotz ihrer zentralen Bedeutung werden die Tagebücher allerdings oft nur als Steinbruch für Zitate genutzt. Genauere Analysen zu Kafkas Tagebüchern finden sich z.B. bei: Hartmut Binder: Kafka in neuer Sicht. Mimik, Gestik und Personengefüge als Darstellungsformen des Autobiographischen, Stuttgart 1976, S. 35-114; Waldemar Fromm: Artistisches Schreiben. Franz Kafkas Poetik zwischen „Proceß“ und „Schloß“, München 1998 (Kap. I: Ästhetische Existenz als Poetik in den Tagebüchern); Rüdiger Görner: Das Tagebuch. Eine Einführung, München u. Zürich 1986 (zu Kafka Kap. II: Die Literarisierung des Privaten); Gerhard Guntermann: Vom Fremdwerden der Dinge beim Schreiben. Kafkas Tagebücher als literarische Physiognomie des Autors, Tübingen 1991; Manfred Hornschuh: Die Tagebücher Franz Kafkas. Funktionen, Formen, Kontraste, Frankfurt/M., Bern u.a. 1987; Manfred Jurgensen: Das fiktionale Ich. Untersuchungen zum Tagebuch, Bern u. München 1979, S. 134-201; Hermann Korte: „SchreibArbeit. Literarische Autorschaft in Kafkas Tagebüchern“, in: Text und Kritik, Sonderband: Franz Kafka, VII/1994, hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold, S. 254-271; Detlef Kremer: Kafka. Die Erotik des Schreibens. Schreiben als Lebensentzug, Frankfurt/M. 1989; Anne Rother: „Vielleicht sind es Tenöre“: Kafkas literarische Erfindungen in den frühen Tagebüchern, Bielefeld 1995; Günter Samuel: „Vom Ab-
Einleitung
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Die folgenden Lektüren schlagen einen anderen Weg ein. Sie untersuchen die Entstehung des Literarischen aus den Tagebuchaufzeichnungen im Hinblick auf die Entwicklung von Schreibweisen, d.h. von sprachlichen Formen und Techniken. Das Tagebuch interessiert hier als literarische Werkstatt, als Ort der Übung und der experimentellen Erprobung von Schreibverfahren.2 Unter dieser Prämisse treten Fragen nach dem Leben und dessen Literarisierung, nach dem Ich und der Positionsbestimmung eines ästhetischen Subjekts in den Hintergrund. Stattdessen gilt das vorliegende Kapitel den Schreibstrategien in Kafkas frühen Tagebüchern. Eine solche Analyse wurde bisher nur in Ansätzen geleistet. Die Tagebuchaufzeichnungen wurden hauptsächlich um biographische und poetologische Auskunft befragt; ihre sprachlich-stilistischen Formen wurden dabei nur selten berücksichtigt.3 Dies gilt insbesondere für die frühen Tagebücher.4 In der Tat scheinen die frühen Hefte für eine Analyse von Schreibweisen zunächst wenig ergiebig. Abreißende Textanfänge, in Sackgassen getriebene Erzählbewegungen, aus Verzweiflung über Schreibkrisen improvisierte Experimente oder gewissen-
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Schreiben des Körpers in der Schrift. Kafkas Literatur der Schreiberfahrung“, in: Die literarische Moderne in Europa, hrsg. v. Hans Jürgen Piechotta, Bd.1, Opladen 1994, S. 452-473; Ralph Rainer Wuthenow: Europäische Tagebücher. Eigenart, Formen, Entwicklung, Darmstadt 1990, S. 219-221. Die sehr detaillierte Arbeit von Florence Bancaud: Le Journal de Kafka ou l’écriture en procès, Paris 2001, ist leider erst nach Fertigstellung der vorliegenden Studie erschienen, so daß ich ihre Ergebnisse nicht mehr berücksichtigen konnte. Bancaud untersucht die Tagebuchhefte mit dem methodischen Handwerkszeug der „critique génétique“, um herauszuarbeiten, wie sich Kafkas Schreibweise und seine Themen in den Tagebuchaufzeichnungen konstituieren. Ihr Vorhaben beschreibt sie als „l’examen de cette littérature en marche, qui [...] ne cesse de se chercher, de s’experimenter et de se remettre en question“ (a.a.O., S. 37). Die Arbeit unterscheidet sich von der sonstigen Forschung zu Kafkas Tagebüchern insofern, als sie das Tagebuch nicht als biographisches Dokument oder Spiegel des Autor-Ich betrachten will, sondern die Aufzeichnungen als literarisches Werk eigenen Ranges ernst nimmt. Vgl. zur Funktion von Tagebüchern als „Werkstatt des Schriftstellers“ Peter Boerner: Tagebuch, Stuttgart 1969, S. 23-25, sowie F. Bancaud, a.a.O., S. 35-37. Vgl. hierzu die Analysen bei H. Binder, Kafka in neuer Sicht, a.a.O.; weitgehend unergiebig: M. Hornschuh, a.a.O., Kap. II.9: Stilmittel des Tagebuchs, S. 33-60. Auch die Arbeit von Florence Bancaud, die meines Erachtens die erste umfassende Untersuchung der Tagebuchhefte als literarischer Werkstatt des Autors Franz Kafkas darstellt, trägt im Hinblick auf die Entwicklung von Schreibverfahren und Stilmitteln nicht sehr viel Neues bei. Die „Ausarbeitung einer Schreibweise“ analysiert Bancaud zwar in großer Ausführlichkeit und Genauigkeit. Doch sind ihr unter den Elementen der „écriture“ bzw. Schreibweise weniger die erzähltechnischen Verfahren wichtig als vielmehr thematische, motivische und strukturelle Elemente wie z.B. Figurenkonstellationen oder Bildwelten. Die Fragen der Schreibweise werden zudem im Sinne der „critique génétique“ stark auf Fragen der Textentstehung hin fokussiert. Da die Autorin Kafkas Texte durchgehend in französischer Übersetzung behandelt, ist eine Wort für Wort vorgehende Analyse sprachlicher Verfahren, wie sie in der vorliegenden Studie praktiziert wird, von vornherein ausgeschlossen. Stattdessen legt Bancaud großes Gewicht auf poetologische Fragestellungen: Das Tagebuchschreiben sei für Kafka ein „processus d’élaboration d’une réflexion essentielle sur la création poétique, ses fondements, sa justification et son but“ (a.a.O., S. 73). Einige genauere Lektüren von Texten aus den frühen Tagebüchern finden sich bei A. Rother, a.a.O., sowie bei F. Bancaud, a.a.O.
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III Tagebücher 1909 – 1911
hafte Beschreibungs-Exerzitien bieten offensichtlich nicht den Ertrag, den sich ihr Autor vom Tagebuchschreiben erhoffte. Dennoch müssen diese Texte nicht notwendig unter der Prämisse eines Ungenügens betrachtet werden. Allen Unzulänglichkeiten zum Trotz sind sie Dokumente einer literarischen Arbeit. Die folgenden Analysen sollen diese Arbeit sichtbar machen. Sie werden zeigen, was in den Tagebuchtexten erprobt wird, welche Experimente und Verfahrensweisen Erfolg bringen oder zum Scheitern führen, wie diese Projekte weitergeführt werden und welche neuen Entwicklungen hinzukommen. Dabei wird die Herausbildung von Schreibweisen sichtbar, die Kafkas „imaginative Schreibart“ (Höllerer) konstituieren. Die Darstellung dieser Entwicklung geht von der Frage aus, auf welchen Wegen die Schreibübungen im Tagebuch Methoden finden und erfinden, um den Schreibvorgang über die Miniaturen der Sammlung Betrachtung hinaus zu verlängern. Dabei folgen meine Lektüren den Prozessen der experimentierenden Textentwicklung Schritt für Schritt, teilweise Wort für Wort. Denn die Analyse der Tagebücher als einer literarischen Werkstatt kann nur sinnvoll sein, wenn der Weg der Übung nachvollzogen wird. Diese Übungen sind als Mischung zwischen ästhetischem Experiment und handwerklichem Training angelegt. Als skizzenhafte Erprobungen zielen sie nicht direkt auf einen Ertrag; sie sind vielmehr Teil eines Prozesses, in dem Ziel und Ertrag der Übung allererst zu finden wären. Die Textnähe ermöglicht es, die Fragestellungen und Probleme dieser Suchbewegungen in den Blick zu bekommen, sowie die Lösungen bzw. Aporien genau zu bezeichnen, zu denen sie jeweils gelangen. Die Auswahl der behandelten Texte folgt der Chronologie der Aufzeichnungen im ersten Tagebuchheft. Dies ermöglicht einen gewissen Überblick, denn das erste Heft umfaßt Einträge vom Beginn des Tagebuchschreibens im Frühsommer 1909 bis in den Herbst 1911 hinein.5 Zudem bietet
5
Im Frühjahr 1909 begann Kafka, Einfälle, Beobachtungen und Erzählfragmente in einem Schreibheft zu notieren („Heft 1“). Die Eintragungen waren zunächst spärlich und brachen während der Arbeit an der zweiten Fassung der Beschreibung eines Kampfes im Herbst 1909 ganz ab. Im November 1909 legte Kafka ein zweites Heft an, das für die Ausarbeitung fiktionaler Texte bestimmt war. Die Eintragungen in diesem Heft beginnen mit der Erzählung Unglücklichsein und Fragmenten zur Fortsetzung der Beschreibung eines Kampfes. Die Trennung der Hefte nach Funktionen bestand nicht lange. Im ersten Heft finden sich ab Frühsommer 1910 wieder Notizen und auch Erzählansätze. Kurze Zeit später gab Kafka dieses Heft auf und benutzte bis Frühjahr 1911 das zweite Heft. Etwa von der Jahreswende 1910/11 an entwickelte sich hier allmählich das für alle folgenden Tagebuchhefte charakteristische Ineinander von literarischen und diaristischen Einträgen. Ab März 1911 setzte Kafka die Aufzeichnungen bis zum Herbst des Jahres wiederum im ersten Heft fort. Das erste Heft umfaßt daher den Zeitraum von Kafkas ersten Tagebucheintragungen bis zu seiner Begegnung mit dem jiddischen Theater (Oktober 1911), die einen wichtigen Einschnitt markiert. Vgl. Hans-Gerd Koch: „Nachbemerkung“ zu Franz Kafka: Tagebücher 1909-1912 (KKA/TB, Band 9), Frankfurt/M. 1994, S. 350-353.
Einleitung
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das erste Heft eine breite Palette von Schreibübungen: Ansätze zu fiktionalen Texten entstehen aus Beschreibungen innerer Zustände oder aus der Imagination von Bildern. Nach dem Sommer 1911 treten Beobachtungs- und Erlebnisprotokolle hinzu. Im folgenden soll die Entwicklung dieser beiden Stränge an Beispielen erarbeitet werden (III.2 und III.3). Daran schließt sich die Frage an, wie die protokollierende Aufzeichnungsarbeit und die Imagination von Fiktionen in Zusammenhang gebracht werden können (III.4). Diese Überlegungen münden in die Analyse einer Traum-Nacherzählung (III.5). Den Rahmen der Untersuchung bildet nach wie vor der Begriff des phantastischen Erzählens, wobei die Frage nach der Phantastik zugunsten der Frage nach der Entstehung der „imaginativen Schreibart“ in den Hintergrund tritt. Die Darstellung dieser Entwicklung bereitet die Analyse des Heizers im IV. Kapitel vor, in der gezeigt wird, wie das zwischen 1909 und 1911 entwickelte Repertoire von Schreibweisen und Verfahren Kafkas phantastisches Erzählen konstituiert.
2. Übungen im Erfinden 2.1 Träumen und Phantasieren: Die Tänzerin Eduardowa Die ersten Seiten des ersten Tagebuchheftes enthalten vier Aufzeichnungen über die Tänzerin Jewgenja Eduardowa.6 Sie sind wahrscheinlich im Mai 1909 entstanden, im Anschluß an ein Prager Gastspiel des „Petersburger kaiserlichrussischen Balletts“, über das Kafka später an Felice Bauer schrieb: „Ich habe [...] Monate davon geträumt, besonders von einer ganz wilden Tänzerin Eduardowa.“7 Über das Tanz-Erlebnis berichtet der Tagebucheintrag nichts, wohl aber über die Träume. Kafka notiert zwei Traumausschnitte und schließt daran zwei kurze Erzähltexte an, die offensichtlich Versuche darstellen, das intensive, monatelange Träumen ins Schreiben hinein zu verlängern. Wie Tagträume dichten diese Texte die Eduardowa-Phantasien weiter. Man könnte fast meinen,
6 7
Aufgrund der teilweisen Parallelität von erstem und zweitem Heft werden im folgenden auch Einträge behandelt, die im zweiten Tagebuchheft stehen. Die Faksimile-Ausgabe der beiden Tagebuchhefte, die von Roland Reuß und Peter Staengle ediert wurde, stand mir leider zum Zeitpunkt der Arbeit an der vorliegenden Studie noch nicht zur Verfügung (Franz Kafka: Oxforder Quarthefte 1&2, Faksimile-Edition im Rahmen der Historisch-Kritischen Franz KafkaAusgabe (FKA) sämtlicher Handschriften, Drucke und Typoskripte, hrsg v. Roland Reuß u. Peter Staengle, Franfurt/M., Basel 2001). Undatierter Tagebucheintrag, KKAT, S. 10-11. Brief vom 17./18.1. 1913, Briefe an Felice, S. 254. Das Gastspiel des „Petersburger kaiserlichrussischen Balletts“ in Prag fand am 24. und 25. Mai 1909 statt (KKAT, Kommentarband, S. 11f.).
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III Tagebücher 1909 – 1911
Kafka habe Freuds Aufsatz „Der Dichter und das Phantasieren“ als Handlungsanleitung benutzt – hatte Freud doch behauptet, daß die literarische Erfindung als Ausspinnen von Wunschträumen verstanden werden könne.8 Mit dieser Strategie knüpfen die Eduardowa-Phantasien an das Projekt an, vom Traum bzw. vom Träumen her erzählend zu erfinden, der in der Beschreibung eines Kampfes zum ersten Mal sichtbar wurde. Ich bat im Traum die Tänzerin Eduardowa, sie möchte doch den Czardas noch einmal tanzen. Sie hatte einen breiten Streifen Schatten oder Licht mitten im Gesicht zwischen dem untern Stirnrand und der Mitte des Kinns. Gerade kam jemand mit den ekelhaften Bewegungen des unbewußten Intriganten, um ihr zu sagen, der Zug fahre gleich. Durch die Art wie sie die Meldung anhörte, wurde mir schrecklich klar, daß sie nicht mehr tanzen werde. „Ich bin ein böses schlechtes Weib nicht wahr?“ sagte sie. Oh nein sagte ich das nicht und wandte mich in eine beliebige Richtung zum Gehn.9
Die erste Aufzeichnung bietet eine kurze Dialogszene zwischen dem Träumer und der Tänzerin. Sie deutet ein phantasmatisches ‚setting‘ an. Die Distanz zwischen Bühne und Zuschauerraum ist aufgehoben; der Verehrer bittet seinen Star, jenen Czardas für ihn noch einmal zu tanzen, der die Faszination der „ganz wilden Tänzerin Eduardowa“ ausgemacht haben muß.10 Der situative Rahmen dieses Dialogs wird ebensowenig beschrieben wie die Tänzerin selbst. Als visuelles Bild wird allein ein „breiter Streifen Schatten oder Licht“ benannt, welcher der Tänzerin quer über das Gesicht geht; eigentlich kein Bild, sondern etwas, das zwischen zwei genau bezeichneten Anhaltspunkten, „dem untern Stirnrand und der Mitte des Kinns“, nicht zu sehen ist. Die einander ausschließenden Gegensätze „Schatten oder Licht“ machen die Erscheinung zu etwas nicht Faßbarem, einem blinden Fleck. Dieser Entzug von Sichtbarkeit korrespondiert mit dem Inhalt des Traums. Ein ‚tête-à-tête‘ zwischen Verehrer und Tänzerin kann unter solchen Bedingungen nicht zustande kommen. Die Störung durch den „Intriganten“ vereitelt vollends, daß die WunscherfüllungsPhantasie ins Laufen kommt. Es wird „klar, daß sie nicht mehr tanzen werde“. Dem träumenden Ich vermittelt sich diese Enttäuschung „durch die Art wie sie die Meldung anhörte“. Diese „Art“ bleibt ebenso vage wie die Art der Bewegungen, an denen der Träumer den „unbewußten Intriganten“ erkennt. Die Gebärden werden nicht geschildert, sondern allein durch ihre Gefühlswirkung 8
9 10
Sigmund Freud: „Der Dichter und das Phantasieren“ (1908), in: ders., Studienausgabe, Bd. 10, Frankfurt/M. 1969, S. 169-179. Freud zufolge ist der Traum bzw. die schöpferische Tätigkeit der Einbildungskraft in den Zuständen des tagträumenden Phantasierens eine jedem Menschen zugängliche Form der poetischen Erfindung. Fiktionale Texte und Phantasien entstehen nach Freud aus dem Wunsch und imaginieren Möglichkeiten von dessen Erfüllung. KKAT, S. 10, Z. 1-11. Vgl. oben: „Ich habe [...] Monate davon geträumt, besonders von einer ganz wilden Tänzerin Eduardowa.“ (Briefe an Felice, S. 254). Auch Robert Walser schwärmte von der „Wildheit“, deren „Sinnlich-Schöne[s]“ die Eduardowa „hinreißend“ verkörpere. Vgl. Robert Walser: „Über das russische Ballett“, in: Kunst und Künstler, Heft 9/Juni 1909, zitiert nach KKAT, Kommentarband, S. 11.
Übungen im Erfinden
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(„schrecklich“, „ekelhaft“) charakterisiert. Diese Sicherheit des Wissens, die nach dem Aufwachen übrigbleibt, während die Bilder, die sie begründet haben, verschwunden oder undarstellbar sind, ist ein typischer Zug von Traumerinnerungen. Ihrem Leser vermitteln sie, wie in Kafkas EduardowaAufzeichnung, das Traumerlebnis nur im Gefühl des Sich-Entziehens. Die Traumaufzeichnung läßt erkennen, daß ihrem Autor nicht nur am notierenden Festhalten des Geträumten gelegen war, sondern auch an dessen Literarisierung. Der leere Fleck und die vagen Gesten sind so genau wie möglich erfaßt, so daß sie das Gefühl des Entzugs noch steigern. Die Beschreibung ist als narrativer Ablauf organisiert: Der Weg führt vom Wunsch des Träumers über die Bedrohung und Enttäuschung bis zum endgültigen Abwenden und formt sich zu einer kleinen Geschichte. Ihre Struktur ist gekennzeichnet von abrupten Wendungen, ihre Zeitlichkeit wird vom drängenden Augenblick bestimmt („Gerade kam jemand“ / „der Zug fahre gleich“). Die Intensität des Begehrens aber, aus dem sich für den Träumer die emotionale Spannung dieser Geschichte ergibt, wird für den Leser nicht nachvollziehbar. Die Leidenschaft, die der ungesehene Czardas hervorgerufen hätte, wäre er noch einmal getanzt worden, vermittelt die Traumaufzeichnung nicht. Die beiden fiktionalen Textansätze, die auf die Traumaufzeichnungen folgen, verlängern die geträumten Phantasien über die Eduardowa ins Erfinden von Geschichten. Auch sie widmen sich der Faszination der Tänzerin, die im nacherzählten Traum unfaßbar blieb. Das Phantasieren über die Erfüllung des Wunsches, sie noch einmal tanzen zu sehen, treiben diese Texte allerdings nicht weiter: Der Erzähler bittet nicht mehr um einen Auftritt, sondern er selbst ist es, der die Tänzerin auftreten läßt. Beide Texte entstehen als Imaginationsspiele, die von einem Einfall aus das ‚was-wäre-wenn‘ entwerfen. Der erste Text inszeniert die Tänzerin, indem er sie aus der Bühnendekoration in den Alltag einer Straßenbahn versetzt.11 Die Ballettprinzessin läßt sich von Violinen begleiten, als könne sie sich auch in der „Elektrischen“ nicht anders als zu Musik bewegen. Die Konfrontation von Märchen und Alltag verwandelt die Straßenbahn in einen Ausflugswaggon, in dem schließlich alle Fahrgäste dem Fazit des Erzählers zustimmen: „bei voller Fahrt, starkem Luftzug und stiller Gasse klingt es hübsch“. – Der zweite Text nimmt den entgegengesetzten Weg zu dieser Ausfahrt ins Märchen. Er versucht, ans Ende der Faszination zu kommen, und imaginiert die Eduardowa „im 11
„Die Tänzerin Eduardowa, eine Liebhaberin der Musik fährt wie überall so auch in der Elektrischen in Begleitung zweier Violinisten, die sie häufig spielen läßt. Denn es besteht kein Verbot, warum in der Elektrischen nicht gespielt werden dürfte, wenn das Spiel gut, den Mitfahrenden angenehm ist und nichts kostet d.h. wenn nachher nicht eingesammelt wird. Es ist allerdings im Anfang ein wenig überraschend und ein Weilchen lang findet jeder, es sei unpassend. Aber bei voller Fahrt, starkem Luftzug und stiller Gasse klingt es hübsch.“ (KKAT, S. 10, Z. 18 - S. 11, Z.4).
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III Tagebücher 1909 – 1911
Freien“.12 Auch dieses Imaginationsspiel inszeniert eine Verwandlung. Ausgehend von der Feststellung, draußen sei sie „nicht so hübsch wie auf der Bühne“, wird die gefeierte Tänzerin unter dem gnadenlosen Blick des Erzählers zu einer ältlichen, unerotischen Frau. Ihre häßliche Nase gibt Anlaß zu einer Bild- und Ideenfolge, in deren Verlauf die Anziehungskraft der Eduardowa demontiert wird. „Die große Nase, die sich wie aus einer Vertiefung erhebt“, wird durch das Vergleichsbild noch monströser und gibt dem Beobachter den spielerischen Einfall ein, wie es wäre, sie anzufassen. Zwar wird dieser Greifreflex über eine Verneinung eingeführt – man kann mit ihr „keine Späße machen“ –, aber im Schutze dessen spinnt der Erzähler seine Idee dann doch aus: Späße treiben, „wie die Härte der Spitze prüfen oder sie am Nasenrücken leicht fassen und hin und her ziehn wobei man sagt ‚jetzt aber kommst Du mit‘ “, könne man nicht. Im Sprachspiel ersetzt die Nase die Person: man kann die unnahbare Tänzerin, indem man sich über ihre Nase lustig macht, anfassen und duzen. Beide Erzählbewegungen werden mit den sprachlichen Mitteln entwickelt, auf die ich schon in der Analyse der Betrachtung hingewiesen habe: Aus Negationen und Möglichkeiten, die auf einander aufbauen („Denn es besteht kein Verbot, warum in der Elektrischen nicht gespielt werden dürfte, wenn ...“) und sich zu Satzgefügen aufplustern („da ist wirklich nichts, was zum Schwärmen Staunen oder auch nur zur Achtung Anlaß gäbe“ – Hervorh. v. mir); aus der Erfindung von szenischem Geschehen durch personifizierende Redeweisen und aus den Gedankenspielen und Phantasien, die sie weiterführen. Die Schreibübungen erproben Sprechhaltungen und Sichtweisen – etwa die des jungen Mannes, der die körperliche Erscheinung der Tänzerin abschätzig begutachtet – und gewinnen daraus komische Effekte. Diese phantasierende Inszenierung narrativer Verläufe geht aus der Konfrontation von Bühne und Alltag hervor. Die Spannung zwischen den Gegensätzen ist allerdings nicht sehr groß, denn die Anziehungskraft der Eduardowa und ihrer Bühnenwelt wird bloß vorausgesetzt, nicht dargestellt. Zu mehr als einer einzigen Verwandlungsbewegung von Bühne in Alltag (oder umgekehrt) reicht die produktive Energie dieser Konstellation nicht aus. 12
„Die Tänzerin Eduardowa ist im Freien nicht so hübsch wie auf der Bühne. Die bleiche Farbe, diese Wangenknochen, welche die Haut so spannen, daß im Gesicht kaum eine stärkere Bewegung ist, die große Nase - die sich wie aus einer Vertiefung erhebt -, mit der man keine Späße machen kann, wie die Härte der Spitze prüfen oder sie am Nasenrücken leicht fassen und hin und her ziehn wobei man sagt ‚jetzt aber kommst Du mit‘, die breite Gestalt mit hoher Taille in allzu faltigen Röcken, wem kann das gefallen - sie sieht fast einer meiner Tanten einer ältlichen Dame ähnlich, viele ältere Tanten vieler Leute sehn ähnlich aus. Für diese Nachteile aber findet sich bei der Eduardowa im Freien außer den ganz guten Füßen, eigentlich kein Ersatz, da ist wirklich nichts, was zum Schwärmen Staunen oder auch nur zur Achtung Anlaß gäbe. Und so habe ich auch die Eduardowa sehr oft mit einer Gleichgültigkeit behandelt gesehn, die selbst sonst sehr gewandte, sehr korrekte Herren nicht verbergen konnten, obwohl sie sich natürlich viele Mühe in dieser Richtung gaben einer solchen bekannten Tänzerin gegenüber, wie es die Eduardowa immerhin war.“ (KKAT, S. 11, Z. 5-25).
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Dennoch lassen sich von hier aus erste Ergebnisse formulieren. Die Lektüre der Eduardowa-Aufzeichnungen zeigt: Im Erzählen phantasierend vom Traum auszugehen, ist nicht gleichbedeutend damit, Freuds Wunscherfüllungstheorie zu folgen. Das phantasmatische ‚setting‘ im ersten Traum scheint zwar der Freud'schen Theorie zu ähneln. Doch die Erfüllung seines Wunsches ist dem Erzähler-Träumer nicht beschieden, und erst hier beginnen die Geschichten. Sie lassen den Wunsch und den Czardas hinter sich, um eigene Interessen zu entwickeln. Das Erzählen als Entwerfen von Phantasien zielt hier nicht mehr direkt auf Wunscherfüllung. Wohl aber geht es von einem Wunsch aus, nämlich dem Wunsch, die Faszination der Eduardowa als Antrieb für das Erfinden von Geschichten zu nutzen. Dafür erweist sich die russische Tänzerin jedoch als ungeeignet. Denn das Gedankenspiel, das auf direktem Weg von der Literarisierung des im Traum Erlebten in die literarische Erfindung überzugehen versucht, verläuft sich nach einigen Zeilen. Von hier aus zieht sich durch die Tagebücher die Suche nach einem Antrieb, der geeignet wäre, eine erfindend-entwerfende Textbewegung, ein ‚phantasierendes Schreiben‘ in Gang zu setzen und zu verlängern. Im folgenden soll gezeigt werden, welche Ausgangspunkte der Textkonstitution dabei erprobt werden. 2.2 Sprach-Artistik: „The Mitsutas“ Am Anfang des ersten Tagebuchheftes liegen oft große Zeitabstände zwischen den Eintragungen. Der erste längere Eintrag nach den Eduardowa-Ansätzen ergibt sich direkt aus einer solchen Unterbrechung: „Endlich nach fünf Monaten meines Lebens, in denen ich nichts schreiben konnte ...“.13 Der Text kommentiert eine Schaffenskrise und versucht zugleich, sie zu überwinden. Diesen Versuch wiederum kommentiert eine Zeichnung, die den Eintrag illustriert. Sie zeigt eine Akrobatik-Nummer, die im Text zuvor beschrieben wurde. Eine Figur liegt auf dem Rücken, die Füße in die Luft gestreckt. Auf den Fußsohlen balanciert sie eine Leiter, auf deren Stufen eine zweite Figur eine Ballettarabeske vollführt. Staunende Gesichter, im Halbkreis angeordnet, umgeben die beiden als Publikum. Zeichnung und Text beziehen sich auf den Auftritt einer Gruppe von japanischen Äquilibristen, die als „The Mitsutas“ im November 1909 in Prag zu sehen
13
Undatierter Tagebucheintrag, KKAT, S. 13. Die Eintragung muß zwischen November 1909 und Mai 1910 entstanden sein, der Zeitpunkt ist jedoch nicht genauer bestimmbar. Vgl. KKAT, Kommentarband, S. 12f., sowie Hans-Gerd Koch: „The first two quarto notebooks of Franz Kafka's diaries: thoughts on their genesis and date of origin“, in: Fictions of Culture. Essays in Honor of W.H. Sokel, hrsg. v. Steven Taubeneck, New York, San Francisco, Bern, Frankfurt/M. u.a., 1991, S. 182-197.
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waren.14 Ihre Kunststücke dienen dem Tagebuchschreiber als Bild, in dem er sein Schreiben spiegelt, und dessen Entfaltung er als sprach-artistische Akrobatik gestaltet. Die folgende Analyse widmet sich zunächst den Verfahren dieser Schreibübung, um anschließend danach zu fragen, inwiefern das Artistenbild als poetologische Metapher gelesen werden kann.15 2.2.1 Die Unfähigkeit zu schreiben als produktives Prinzip Endlich nach fünf Monaten meines Lebens, in denen ich nichts schreiben konnte womit ich zufrieden gewesen wäre und die mir keine Macht ersetzen wird trotzdem alle dazu verpflichtet wären, komme ich auf den Einfall wieder einmal mich anzusprechen. Darauf antwortete ich noch immer, wenn ich mich wirklich fragte, hier war noch immer etwas aus mir herauszuschlagen, aus diesem Strohhaufen, der ich seit fünf Monaten bin und dessen Schicksal es zu sein scheint, im Sommer angezündet zu werden und zu verbrennen, rascher als der Zuschauer mit den Augen blinzelt.16
Der Text geht von einem Negativum aus: die Unfähigkeit zu schreiben wird zum Thema eines Versuchs, dennoch zu schreiben. Wie der Baron Münchhausen zieht sich der Schreibende mit diesem Trick gleichsam an den eigenen Haaren aus der Bredouille. Diese Konstruktion beginnt mit einem „Einfall“, der weniger Einfall, d.h. Idee für ein Thema, als vielmehr ein Verfahren ist. Es ist die Möglichkeit, „mich anzusprechen“. Durch die Selbstansprache wird das schreibende Ich in ein sprechendes und einen Adressaten verdoppelt. Zugleich wird mit diesem Verfahren Zeitlichkeit ins Spiel gebracht: „wieder einmal“ greift der Schreibende auf dieses Hilfsmittel zurück, es wurde also schon öfter angewendet. Davon wiederum kann berichtet werden: „Darauf antwortete ich noch immer, wenn ich mich wirklich fragte, hier war noch immer etwas aus mir herauszuschlagen ...“. Durch die Inversion von Frage und Antwort wird das so Herbeigewünschte als Ergebnis bereits vorausgesetzt – ohne daß dabei jene Frage formuliert worden wäre, die das Schreiben als Antwort möglich machen soll. Vor Beginn der Selbstbefragung wird ihr Erfolg beschworen. Doch unter der Hand hat sich dieses „etwas“, die ersehnte Antwort, der Einfall, schon eingestellt. In dem Ausdruck „aus mir herauszuschlagen“ liegt eine gestische Vorstellung, die zu dem 14 15
16
Text und Zeichnung KKAT, S. 13-15. Über die „Mitsutas“: KKAT, Kommentarband, S. 12. Metaphern aus dem Bildfeld von Zirkus und Artistik stehen in Kafkas Texten immer wieder mit der Selbstreflexion als Schriftsteller in Verbindung. Vgl. Walter Bauer-Wabnegg, Zirkus und Artisten in Franz Kafkas Werk: Ein Beitrag über Körper und Literatur im Zeitalter der Technik, Erlangen 1986, zu den „Mitsutas“ insbesondere S. 39f.; Hartmut Binder: „ ‚...Wie die ‚Planeten‘ auf dem Weihnachtsmarkt‘: Prag in Bildvorstellungen Kafkas, unter besonderer Berücksichtigung seines Traumes vom 7./8. November 1911“, in: Franz Kafka und die Prager deutsche Literatur. Deutungen und Wirkungen, hrsg. v. Hartmut Binder, Bonn 1988, S. 11-54, hier S. 37-44; zu Artistik und Poetologie W. Fromm, a.a.O. KKAT, S. 13, Z. 9 - S. 14, Z. 2.
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Bild des „Strohhaufens“ führt – und damit die Hoffnung auf ein Resultat gleich wieder enttäuscht, weil aus diesem Strohhaufen bereits alles (Korn) herausgedroschen ist. Doch immerhin ist dabei die Metapher ‚herausgeschlagen‘ worden. Von hier aus führt die Assoziation weiter und macht aus dem ausgedroschenen, aufgehäuften Stroh ein Feuer. Aus dem fortgeführten Bild wird eine kurze Geschichte. Diese imaginativen Verwandlungen des Abstrakten in bildhaft-sinnliche Vorstellung bleiben, wie schon öfter gezeigt, nie bei einer einfachen Drehung stehen. Die Metapher des Strohhaufens, anschauliche Darstellung der Unproduktivität des Autors, weist mit dieser Verwandlungsoperation auch schon über sich hinaus und vollzieht einen nächsten Schritt. Sie kommentiert sich selbst, indem sie ihre Implikationen weiterverfolgt. Das Feuer, das den Strohhaufen vernichtet, macht die Aussage der Metapher wahr: die Nichtigkeit dieses Schreibens wird bestätigt. Dadurch aber behauptet es sich doch. Denn diese Vernichtung ist eben eine Leistung des Bildes, also ein Ergebnis, das die behauptete Unproduktivität performativ widerlegt. Diese Figur des Sich-Selbst-Durchstreichens und -Behauptens führt wiederum zu einem weiteren Schritt. Das Bild des Strohfeuers, welches sprichwörtlich schnell verbrennt, weil es eben nur aus leerem, trockenen Stroh besteht, wird hyperbolisch gesteigert: „rascher als der Zuschauer mit den Augen blinzelt“, ist es schon vorbei. Noch nicht einmal ein Feuer zu nähren, taugt dieses Stroh. Das Feuer, eben noch zur Vermittlung einer negierenden Aussage genutzt, wird damit selbst wieder durchgestrichen: es kann kaum lange brennen, weil es eben – Logik des Bildes – ein Strohfeuer ist. Der Münchhausen'sche Trick, der hier angewendet wird, um dem Schreiben vom Nichts aus einen Gegenstand zu geben, besteht also darin, ein Etwas und ein Nichts zugleich zu behaupten. Das Bild des Strohhaufens wird dem Leser vor Augen gestellt und entfernt sich einen Moment später schon wieder, vernichtet durch seine eigene Bildlogik. Dieses Verschwinden wiederum bringt die Imagination eines „Zuschauers“ hervor, der aber nichts sehen kann, da alles bereits vorbei ist, „schneller als der Zuschauer mit den Augen blinzelt“. Der Leser dagegen hat bereits eine ganze Szene nebst Zuschauern zu ‚sehen‘ bekommen, die der Text im Spiel von virtuellen An- und Abwesenheiten entwickelt. Diese Vorführung aber ist eine Leistung der Schrift, deren Unproduktivität hier zugleich vorgeführt und widerlegt wird. Indem das Verfahren der Verwandlung von der Veranschaulichung aus in der imaginativen Entwicklung zu einem Filibustieren wird, das zwischen den Assoziationsmöglichkeiten von Stroh und Feuer hin und her spielt und dabei die wörtliche und bildliche Aussageebene ständig neu verknüpft, wird es produktiv. Die anschauliche Versinnlichung ist eines von mehreren Mitteln, um die Textproduktion anzutreiben und die Assoziationskette um weitere Schritte zu vermehren. Der Wunsch „Wollte das doch nur mit mir geschehn!“ überträgt das
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Bild, das der Schreibende erst aus der Beschreibung dessen hervorgebracht hat, „der ich seit fünf Monaten bin“, wieder zurück auf ihn selbst und läßt dabei ein neues Verhältnis von Vergangenheit und Zukunft entstehen. Die in der Vorstellung bereits abgeschlossene Handlung wird als erst noch zu erwartende in die Zukunft projiziert und eröffnet einen neuen Zeitraum, in welchem der Vernichtungswunsch weiter ausgesponnen und begründet werden kann. Daran schließt ein Versuch an, den Zustand dieses Ich zu benennen, der sich zu einer Aufzählung dessen fortschreibt, was nicht beschrieben werden kann. Mein Zustand ist nicht Unglück, aber er ist auch nicht Glück, nicht Gleichgültigkeit nicht Schwäche, nicht Ermüdung, nicht anderes Interesse, also was ist er denn? Daß ich das nicht weiß hängt wohl mit meiner Unfähigkeit zu schreiben zusammen. Und diese glaube ich zu verstehn, ohne ihren Grund zu kennen. Alle Dinge nämlich die mir einfallen, fallen mir nicht von der Wurzel aus ein, sondern erst irgendwo gegen ihre Mitte. Versuche sie dann jemand zu halten, versuche jemand ein Gras und sich an ihm zu halten das erst in der Mitte des Stengels zu wachsen anfängt.17
Der Text behauptet, aus der Selbstbefragung des Ich hervorzugehen („mich anzusprechen“), und entfaltet diese Befragung in der Auseinandersetzung mit den inneren Zuständen des Ich. Dabei handelt es sich keinesfalls um eine autobiographische Äußerung. Wenn das Ich sich selbst nach seinem Zustand fragt, den es nicht definieren, aber zum Weiterschreiben nutzen kann, dann gibt es diesen Zustand offenbar gar nicht außer als Gegenstand der Frage, d.h. außerhalb des Satzes.18 ‚Schreiben‘ und ‚Ich‘ sind zwei textuelle Instanzen, die sich gegenseitig zur Existenz bringen. Dieses Schreibspiel wird angetrieben von der immer erneuerten Unzufriedenheit des Schreibenden mit den jeweils erreichten Resultaten. Seine Bedingung ist eine prekäre Konstruktion. Der Schreibende betreibt die Herstellung eines Autor-Ich als Subjekt einer Textproduktion, die von der Selbstvernichtung des Autors ausgeht. Angesichts der Tatsache, daß die Möglichkeit dieses Ich aufs engste mit seiner „Unfähigkeit“ zusammenhängt, ist dies keine Position, die emphatisch behauptet werden könnte. Das sich schreibend inszenierende Ich und seine Unfähigkeit zu schreiben etablieren eine Bewegung der gegenseitigen Hervorbringung, die eben deshalb den Versuch des Ich, sich als schreibendes zu setzen, immer wieder hintertreiben muß. Peter-André Alt hat diesen Zirkel der Selbstbezüglichkeit als charakteristisches Merkmal von Kafkas Schreib-Experimenten bezeichnet. Die Versuche, „eine eigene Sprache zu finden und gleichzeitig deren Unmöglichkeit zu reflektieren“, seien nicht als Paradoxien, sondern als „Bedingungen
17 18
KKAT, S. 14, Z. 7-15. Ähnlich auch H. Korte, a.a.O., S. 256: „Was ein Seismograph für eigene ‚Seelendeutungen‘ sein könnte [...]: das Tagebuch als Selbstdokumentation, erweist sich für Kafka als bloße SchreibFigur.“
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literarischer Produktion“ zu verstehen.19 Der junge Kafka erprobe mit der Thematisierung von Sprachzweifeln Strategien einer „doppelten Schrift“, die „vordergründig ihre eigene Unmöglichkeit beklagt und auf einer höheren Ebene diese Klage durchstreicht, indem sie sie als bloßen Anlaß für ihr Fortschreiten begreift. Die doppelte Schrift will den Eindruck unmittelbarer Verzweiflung über sich selbst erwecken, aber sie ist zugleich eine kunstvolle Inszenierung solcher Spontaneität unter dem Mantel der Sprachnot.“ Diesem Gedanken liegt ein dialektisches Modell zugrunde, demzufolge das Gegeneinander von produktiven und destruktiven Strategien in einem Dritten aufgehoben wäre: in der Tatsache nämlich, daß dabei immerhin Text produziert wird. Mit dieser Textproduktion, so Alt, nähere sich der Autor seinem eigentlichen Schreibideal an, insofern die inszenierte Rede „künstlerische Impulse“ freisetzen könne, die schließlich, dichterische Inspiration vorausgesetzt, ein anderes, „geschlossenes“ Schreiben „im Bann der künstlerischen Einheit des Schaffensprozesses“ ermöglichten. Welche Impulse und Strategien allerdings den selbstbezüglichen Zirkel überwinden könnten, benennt Alt nicht. Die oben dargestellten Ergebnisse meiner Analyse bestätigen Alts Betonung der sprachspielerischen Produktivität. Fragwürdig erscheint mir jedoch die Leichtigkeit, mit der Alt über das Ungenügen hinweggeht, das diese Schreibspiele bezeugen. Das dialektische Modell, in dem die artikulierte Unzufriedenheit als durch den Akt der Artikulation bereits aufgehobene gedacht ist, berücksichtigt nicht, daß die Klage über die Unzulänglichkeit des Schreibens immer wieder ihre eigene Berechtigung bestätigt, ihrer Text produzierenden Funktion zum Trotz, eben weil sie deren notwendige Bedingung ist. Die Schreibübung ist tatsächlich und nicht nur scheinbar ungenügend; sie ist und bleibt bloße Hilfskonstruktion. Dennoch ist sie nicht nutzlos, und sie ist mehr als eine bloße Geläufigkeitsübung. Dies zeigt sich allerdings erst, wenn man die Strategien des Textes im einzelnen analysiert, statt Negativität und Selbstbezüglichkeit als Strukturmatrix zu hypostasieren. Inwiefern die Übung durchaus noch anderen Ertrag als eine sich selbst weitertreibende Textbewegung zeitigt, werde ich im folgenden zeigen.
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Peter-André Alt: „Doppelte Schrift, Unterbrechung und Grenze: Franz Kafkas Poetik des Unsagbaren im Kontext der Sprachskepsis um 1900“, in: JDSG 29/1985, S. 455-490, Zitat S. 458. Die folgenden Zitate S. 457 u. 459. Vgl. eine analoge Argumentation bei H. Korte, a.a.O., S. 259, sowie F. Bancaud, a.a.O., S. 74-80, über die Unfähigkeit zu schreiben als konstantes Thema in Kafkas Tagebüchern.
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2.2.2 Effekte und Wirkungen: Die Unmöglichkeit zu schreiben vorstellbar machen An der zuletzt zitierten Stelle erfindet der Schreibende einen Weg des Weiterschreibens, aus dem sich, neben dem Weiterschreiben selbst, auch ein thematisches Moment ergibt. Aus der Beschreibung seiner „Unfähigkeit zu schreiben“ gewinnt er eine bildliche Vorstellung: „Alle Dinge nämlich die mir einfallen, fallen mir nicht von der Wurzel aus ein, sondern erst irgendwo gegen ihre Mitte“. Genau genommen ist hier allerdings nur die Redeweise bildhaft; die Vorstellung selbst ist kaum bildlich, denn das Aussehen von „Dingen“, die einem „irgendwo gegen ihre Mitte“ einfallen, ist kaum konkret vorstellbar. Eine vage Idee von etwas Pflanzenartigem wird durch die „Wurzel“ aufgerufen und in der Nennung sofort wieder durchgestrichen. Was sich dagegen plastisch vorstellen läßt, ist die Folge, die der Satz imaginiert, daß man nämlich solche Einfälle nicht „halten“ könne: denn wie sollte dies möglich sein? Mit dem Wort „halten“ wird aus der Bildvorstellung eine gestische Aktion. Diese Verwandlung hat ihre eigene Logik. Der „Grund“ für die Unfähigkeit ist nicht bekannt, und es scheint, als hätten eben deswegen die „Dinge [...], die mir einfallen“, keine Wurzel. Aus der Pflanzen-Idee „Wurzel“ heraus entwickelt sich die konkretere Bildvorstellung eines Grashalms, der allerdings „erst in der Mitte des Stengels zu wachsen anfängt.“ Mit diesem Grashalm wird die Vorstellung des NichtFesthalten-Könnens noch einmal wiederholt, den anschaulichen Effekt verstärkend. Dabei entsteht eine leichte Verschiebung. Statt den Einfall/Grashalm festzuhalten, fordert das Ich jetzt zu dem Versuch auf, „sich an ihm zu halten“. Es wäre ja durchaus nicht unmöglich, einen Grashalm festzuhalten, auch wenn er nur halb in der Luft hängt, z.B. einen gepflückten Halm. Diese Vorstellung wird jedoch vermieden, indem sie in die Idee von einem letzten (Stroh?)Halm überblendet wird, an dem sich der ganze Körper des Ich halten soll. Dies muß unmöglich erscheinen. Zwischen „(fest)halten“ zu „sich (fest)halten“ liegt nur eine minimale Verschiebung, die jedoch die ganze Bildvorstellung umkehrt. Zu dem dinghaft gewordenen Einfall tritt der Körper des Ich hinzu, so daß die beiden Instanzen als zwei Gegenstände dargestellt werden können und ihre Interaktion zur Szene wird. Die Leistung dieser Operation liegt in der Verschiebung der KörperVerhältnisse, die bei der Vergegenständlichung des Ungreifbaren vor sich geht. Das Ungreifbare, der nicht zu fassende Einfall, wird gegenständlich. Doch wird er dabei nicht zu etwas Greifbarem. Im Gegenteil: die Bilderfindung macht unmittelbar einsichtig, daß er ungreifbar ist. Durch die Vergegenständlichung als Grashalm wird also nicht eigentlich der Einfall zu etwas Faßlichem, sondern die Unmöglichkeit, ihn zu fassen. Damit aber wird ein Negativum, das Gefühl einer Abwesenheit, eines Unvermögens, als vergebliche Geste (nach-)fühlbar. In diesem Effekt sehe ich die besondere Leistung dieses Bildes. Die Technik, eine
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Unmöglichkeit durch ihre imaginative Inszenierung einsichtig werden zu lassen, gelangt über die bisher praktizierte Häufung von Abwesenheiten hinaus, weil sie den negativen Zustand, das Fehlen selbst zu einer Erfahrung werden läßt. Dieses Verfahren wird später zu einem der wichtigsten Kunstmittel des Heizers. 2.2.3 Grund- und haltlose Akrobatik: „The Mitsutas“ als poetologische Metapher? Die Verkettung der Assoziationen, gewonnen aus der Unmöglichkeit zu schreiben, schließt mit einem Bild, das dieses Schreiben in der Möglichkeitsform einer anderen Kunst spiegelt und kommentiert. Damit erhält die selbstreferentielle Beschreibung des Schreibens die Dimension einer poetologischen Selbstdefinition. [...] versuche jemand ein Gras und sich an ihm zu halten, das erst in der Mitte des Stengels zu wachsen anfängt. Das können wohl einzelne z.B. japanische Gaukler, die auf einer Leiter klettern, die nicht auf dem Boden aufliegt, sondern auf den emporgehaltenen Sohlen eines halb Liegenden und die nicht an der Wand lehnt sondern nur in die Luft hinaufgeht. Ich kann es nicht, abgesehen davon daß meiner Leiter nicht einmal jene Sohlen zur Verfügung stehn.20
Ist dieses Bild das Inbild jener Kunst, die das schreibende Ich zu beherrschen wünscht? Die Assoziations-Akrobatik, in der die einander ablösenden Bildvorstellungen jeweils so überblendet werden, daß aus der neuen Wendung heraus ein Weitertreiben der Verkettungs-Geschichte möglich ist (vom halben Einfall zum Grashalm zur Leiter), kann sich durchaus mit dem Turnen auf einer fast in der Luft schwebenden Leiter messen. Dieses sprachliche Luftturnen fährt fort, indem es die vergleichende Spiegelung wieder durchstreicht – „Ich kann es nicht“ – und dann auch noch die Fußsohlen entfernt, von denen die ArtistenLeiter gehalten wird. Die Vergleichbarkeit der akrobatischen Kunststücke mit dem eigenen Schreiben wird also negiert. Zugleich führt diese Negation die sprachliche Äquilibristik, den ständigen Wechsel zwischen Behaupten und Durchstreichen fort und beraubt das auf „meiner Leiter“ imaginierte Ich dabei noch des letzten Halts. Das Autor-Ich kann keine Balance halten und wird nicht gehalten. Es ist also zugleich zutreffend und unmöglich, die Kunst der japanischen Artisten als Inbild seines Schreibens zu lesen. Die Mitsutas sind nicht mehr und nicht weniger Inbild als der Strohhaufen, in welchem sich dieses Schreiben sein Bild erschafft, damit aber zugleich seine Nichtigkeit behauptet. Das Schreiben, das diese Bilder als szenischen Aufbau vorführt, ist ein Kunstturnen und ein Filibustieren. Allerdings sind diese Metaphern nicht ohne weiteres in poetologische Aussagen umzumünzen, denn gerade als diese 20
KKAT, S. 14, Z. 13-21.
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Akrobatik ist das Schreiben nicht das ‚Wahre‘, sondern nur Strohfeuer und Luftnummer. Es besteht nicht als echte artistische Leistung, sondern nur als ein Trick. Resigniert kommentiert das sich schreibend selbst befragende Ich: „Es ist das natürlich nicht alles, und eine solche Anfrage bringt mich noch nicht zum Reden.“21 Auch dieser Satz ist ein Trick, der aus der Negation eine neue Rede entfaltet, die die Möglichkeit entwirft, wie anders gesprochen werden könnte. Dabei wird das Bild der Leiter noch einmal aufgegriffen; diesmal, um das gelingende Schreiben zu bezeichnen. Aber jeden Tag soll zumindest eine Zeile gegen mich gerichtet werden wie man die Fernrohre jetzt gegen den Kometen richtet. Und wenn ich dann einmal vor jenem Satze erscheinen würde, hergelockt von jenem Satze, so wie ich z.B. letzte Weihnachten gewesen bin und wo ich so weit war, daß ich mich nur noch gerade fassen konnte und wo ich wirklich auf der letzten Stufe meiner Leiter schien, die aber ruhig auf dem Boden stand und an der Wand. Aber was für ein Boden! was für eine Wand! Und doch fiel jene Leiter nicht, so drückten sie meine Füße an den Boden, so hoben sie meine Füße an die Wand.22
Auch die Beschreibung des gelingenden Schreibens zeigt ein Luftturnen, das jedoch genau entgegengesetzt aufgebaut ist wie das der japanischen Akrobaten. Im schnellen Wechsel von Behauptung und Verneinung erhält die Leiter Boden und Wand als Stützpunkte, die sofort wieder ins Wanken gebracht werden. Doch der imminente Fall wird wiederum aufgehalten, weil die Füße selbst, die eigentlich von der Leiter getragen werden sollten, diese in der Luft erhalten. Indem sie die Leiter zugleich nach unten drücken und nach oben heben, leisten diese Füße dasselbe wie die zwei Fußpaare der Mitsutas: der Liegende drückt die Leiter mit seinen Fußsohlen nach oben, der oben Stehende drückt sie nach unten, dazwischen entsteht die Balance. Mit nur einem Paar Füße aber ist diese Balance nicht nur schwierig, sondern überhaupt nicht zu halten. Die Anforderungen an die artistische Kunstfertigkeit haben sich also, auf dem Weg über die schrittweise Reduktion zum Harmlosen durch die Einführung von Boden und Wand, ins Unmögliche gesteigert. Damit wird die Kunstfertigkeit selbst überflüssig. Diese Balance ist keine Sache der Fertigkeit mehr. Der Schreibende erscheint so nicht als Akrobat, sondern als Münchhausen, der sich Treppenstufen in die Luft baut, und dessen Füße den Boden erschaffen, auf dem er stehen will. Diese Figur bezeichnet den Punkt, von dem das wirkliche Schreiben erst auszugehen hätte. Zugleich ist der virtuelle Ausgangspunkt aber der Endpunkt der ‚Übung im Erfinden‘; der Text bricht mit dem Entwurf des unmöglichen Schwebens ab. Das Herbeigewünschte bleibt unerreicht. Auch diese Selbstbeschreibung taugt also nicht zur Behauptung einer Autor-Position oder
21 22
KKAT, S. 14, Z. 21-23. KKAT, S. 14, Z. 23 - S. 15, Z. 7 (Ende der Eintragung).
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eines Künstlerbildes, das es mit den japanischen Gauklern aufnehmen könnte.23 Zudem bleibt die Sehnsucht nach einem Schreiben, das jenseits der luftigen Tricks, mit einem anderen Ernst erst beginnen würde, selbst Ergebnis der sprachlichen Tricks aus Möglichkeit und Verneinung, bleibt also einem Schreiben verhaftet, das sich nur mit künstlicher Mühe auf der „Leiter“ erhält. Das Wunschbild kann daher nicht ohne weiteres in eine autopoetologische Aussage übersetzt werden. Eine Annäherung an das darin formulierte Schreibideal ist nur auf dem Weg über die Analyse dessen möglich, was das Bild leistet. Immerhin ist auch dieses ‚künstliche‘ Schweben ein Kunststück. Doch geht es dabei nicht darum, das Kunststück als solches vorzuführen, das Ziel ist nicht die artistische Sensation. Dies scheint mir der wesentliche Punkt, in dem das sprachliche Luftturnen sich von dem der Mitsutas unterscheidet. Die Sätze inszenieren zwar eine Äquilibristik, doch nicht zum Zweck der Zurschaustellung dieses Tuns. Der Sinn dieses textuellen Balancierens ist, das zu Erzählende zu erfinden und ineins damit zur Erscheinung zu bringen. Die Sätze produzieren Bilder und Geschichten, sie bauen assoziative Verkettungen auf und gewinnen aus jeder neuen Wendung den Ansatz für die nächste, sich zur Handlung ausspinnende Sequenz. Dieses Hervorbringen wird immer wieder aufs neue beschrieben und dabei zugleich auch schon vollzogen. Als letztes Beispiel für dieses Verfahren sei der Satz zitiert, mit dem sich der Schreibende dieses Schreiben als tägliche Übung vor-schreibt: Aber jeden Tag soll zumindest eine Zeile gegen mich gerichtet werden wie man die Fernrohre jetzt gegen den Kometen richtet.24
Wie schon zu Beginn des Textes, so enthält auch hier die Formulierung des guten Vorsatzes bereits einen Teil des damit herbeigewünschten Ertrags. Aus der Selbstansprache wird ein Angriff, der die „Zeilen“, das vergegenständlichte Geschriebene, in ein körperliches Verhältnis zum Ich bringt und beide einander szenisch gegenüberstellt. Aus der Geste des Gegen-Richtens entwickelt sich der Vergleich der Zeilen mit Fernrohren und daraus die absurde, Ursache und Wirkung vertauschende Vorstellung, der Komet, auf dessen Erscheinen die Menschen mit ihren Ferngläsern gespannt warten, käme eben endlich, weil die Fernrohre auf ihn gerichtet sind. Er tritt wie ein Schauspieler auf der Bühne auf, auf die aller Augen schon gerichtet sind. Genau dies soll dem Ich geschehen: es 23
24
So aber H. Binder: „ ‚Wie die Planeten...‘ “, a.a.O., S. 39, der in dem Bild eine einfache Analogiebildung sieht, die das Grundthema von Kafkas Schriftstellerdasein als „Existenz ohne Bodenhaftung“ veranschaulichen solle. In der Forschungsliteratur wird dieser Satz immer wieder als Beleg für ein „Gerichtsverfahren“ zitiert, das der Autor im Tagebuch gegen sich selbst führe. Vgl. insbesondere Gerhart Baumann: „Schreiben - der endlose Prozeß im Tagebuch von Franz Kafka“, in: Études Germaniques 39/1984, Nr. 2, S. 163-174, S. 163: „Er weiß, daß alles, was er für sich schreibt, gegen ihn verwendet werden kann, und er selbst verurteilt sich zu diesem Auftrag“; eine allegorisierende Interpretation, die meines Erachtens den Sinn der Schreibübung verfehlt.
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soll „vor jenem Satze erscheinen [...], hergelockt von jenem Satze ...“. Damit ist es schon da: der soeben zitierte Satz, der einen anderen, gewünschten Satz entwirft und dabei das Ich als Person anspricht, läßt es vor den Augen des Lesers erscheinen, dessen Vorstellungskraft auf diese Figur ‚gerichtet‘ wird. Jener andere Satz, der dies eigentlich hätte leisten sollen, ist noch überhaupt nicht geschrieben worden und hat doch in der Formulierung seiner Möglichkeit das Ich bereits „hergelockt“. Das „Herlocken“ beschreibt die Tätigkeit dieses Schreibens und präsentiert sich zugleich als deren Ergebnis. Denn das Wort „hergelockt“ bzw. die bildhafte Vorstellung davon, die das Ich zur Erscheinung bringt, ist ja selbst hergelockt worden, indem der imaginierende Schreiber die Bildvorstellung des Kometen fortgeführt hat. Die Sätze, die er schreibt, tun also etwas, sie handeln. Dies ist die einzige poetologisch relevante Aussage, die der Schreibübung entnommen werden kann. Vom Ergebnis der Selbstansprache her läßt sich dieses Schreiben als eine sprachliche Handlung begreifen, die das zu Erzählende allererst herstellt, indem sie es zur Erscheinung bringt. Dieses Tun aber kann nicht in einer poetologischen Metapher, etwa als grund- und haltloser Balanceakt gefaßt werden, denn die Bilder, die das Schreiben für sich erfindet, beschreiben immer nur dieses Tun. Sie sind Mittel dieses Schreibens, kein poetologisches Programm. Die Tricks sind nicht schon das Ziel der Übung, und der Lügenbaron ist nicht das gewünschte Autor-Ich. Die Selbstbeschreibung dient als Hilfskonstruktion, um ein Schreiben einzuüben und zu praktizieren, das sich im erfindenden Phantasieren selbst vorantreibt und erfindet. Möglicherweise aber läßt sich das Wunschbild dieses Schreibens, aller Ablehnung von autopoetologischer Metaphorik zum Trotz, nicht anders als eben in seinen Notbehelfen fassen. Auch für die erbärmliche Figur auf der Leiter gilt, was Hermann Korte für das schreibende Ich in Kafkas Tagebüchern summarisch festgestellt hat: „Dieses Subjekt [...] bringt sich mit nichts anderem als mit Schreiben und daher mit sich selbst beschäftigt ständig selbst hervor“ und suggeriert dabei „eine Autor-Existenz, [...] die in sich selbst und auf sich selbst ruht – und von der ihr Erfinder weiß, daß es sie so wenig gibt wie eine allmähliche Selbstverwandlung in beschriftetes Papier.“25 Nur eingedenk dieses immanenten Widerspruchs kann das Bild des beim Errichten der Luft-Leiter scheiternden Münchhausen auch als „ein exzeptionelles Dichterbild“ (Korte) gelesen werden. Es zeigt einen Wunsch zu schreiben, der „den Schreibenden für Momente [...] zu einem ganz und gar vom Schreiben besessenen, mit diesem emporsteigenden und scheiternden Ich“ erheben würde. Positiv behaupten aber läßt sich dieses Wunsch-Ich ebensowenig, wie es mit künstlichen Tricks herbeigeschrieben werden kann.
25
H. Korte, a.a.O, S. 269. Die folgenden Zitate S. 268.
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2.3 Einen Vorwurf zum Thema machen: Der kleine Ruinenbewohner Der Vorsatz des Tagebuchschreibers, „jeden Tag [...] zumindest eine Zeile“ gegen sich zu richten, bleibt lange folgenlos.26 „Habe ich nicht einmal die Entschlossenheit, diesen Federhalter, dieses Stück Holz täglich in die Hand zu nehmen“, fragt sich der Ankläger seiner selbst am 29. Mai 1910, die Antwort vorwegnehmend.27 Erst Wochen später findet sich im Tagebuch ein Dokument neuer „Entschlossenheit“: sechs Ansätze zu einem autobiographischen Text, für den im zweiten, den Reinschriften vorbehaltenen Tagebuchheft der Titel „Der kleine Ruinenbewohner.“ vorgesehen war.28 Aus den sechs Textfragmenten, die das erste Heft enthält, ist allerdings kein Text geworden, der dort hätte eingetragen werden können. Doch an den gescheiterten Vorarbeiten läßt sich ablesen, welche neuen Möglichkeiten Kafka mit seinen ‚Übungen im Erfinden‘ entwickelt.29 Alle sechs Textansätze heben mit dem Vorwurf an, die Erziehung habe dem Ich geschadet: „in mancher Richtung“, „sehr“, „schrecklich“, „mehr [...] als ich es verstehen kann“, „mehr [...] als alle Leute, die ich kenne und mehr als ich begreife“.30 Jeder neue Ansatz schreibt die vorangegangenen fort, steigert die Anklage, variiert die Wendungen der Gedanken, verändert ihre Richtung und verlängert den Lauf. Dieser Gedankenlauf soll niedergeschrieben werden, „ohne mich einzumischen“31, als sei es das Programm des Autors, die surrealistische ‚écriture automatique‘ vorwegzunehmen. Doch sind, wie sich bei näherem Hinsehen zeigt, die herbeigeschriebenen Textfolgen nicht als ungesteuerte Notate, sondern aus höchst kontrollierter Arbeit entstanden. Aus den immer wieder neu einsetzenden und ihre Vorgänger überschreibenden Textbewegungen ergibt sich ein Arsenal von Bildvorstellungen, das fortlaufend erweitert und um neue Einfälle bereichert wird. Diese Arbeit an der Erfindung ist eine sprachliche. Die Fragmente zum „Kleinen Ruinenbewohner“ sind erste Beispiele für eine Schreibweise, die den Erfindungs- und den Schreibvorgang im ‚phantasierenden Schreiben‘ zusammenbringt. An den sechs Textansätzen läßt sich die Herausbildung dieser ‚écriture‘ verfolgen.
26 27 28
29
30 31
KKAT, S. 14. KKAT, S. 17. Text: Erstes Heft, KKAT, S. 17-28, Überschrift: Zweites Heft, KKAT, S. 112; beide Eintragungen sind vermutlich zwischen Mitte und Ende Juni 1910 zu datieren. Zwei neuere Arbeiten zu Kafkas Tagebüchern gehen auf die „Ruinenbewohner“-Fragmente ein, um an ihnen das Projekt der Tagebücher zu bestimmen. Vgl. A. Rother, a.a.O., S. 7-12; sehr ausführlich, aber dennoch wenig ergiebig G. Guntermann, a.a.O., S. 193-225. Vgl. außerdem F. Bancaud, a.a.O., S. 254-265, die die Thematik der Erziehung in den Vordergrund stellt. KKAT, S. 17, 18, 20, 23, 27. KKAT, S. 20.
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2.3.1 Text 1. Der kleine Ruinenbewohner: Entwurf einer nie gelebten Biographie Der erste Textansatz beginnt als Imagination jenes „Kleinen Ruinenbewohners“, der die Titelfigur des zu schreibenden Textes hätte abgeben sollen. Wenn ich es bedenke, so muß ich sagen, daß mir meine Erziehung in mancher Richtung sehr geschadet hat. Ich bin ja nicht irgendwo abseits, vielleicht in einer Ruine in den Bergen erzogen worden, dagegen könnte ich ja kein Wort des Vorwurfes herausbringen. Auf die Gefahr hin, daß die ganze Reihe meiner vergangenen Lehrer dies nicht begreifen kann, gerne und am liebsten wäre ich jener kleine Ruinenbewohner gewesen, abgebrannt von der Sonne, die da zwischen den Trümmern von allen Seiten auf den lauen Epheu mir geschienen hätte, wenn ich auch im Anfang schwach gewesen wäre unter dem Druck meiner guten Eigenschaften, die mit der Macht des Unkrauts in mir emporgewachsen wären32
Ähnlich wie der Eintrag über die Mitsutas, entsteht dieser Text aus der Selbstbefragung eines Ich. Sein Gegenstand – und der aller folgenden Textansätze – ist die Rückschau des Ich auf seine Erziehung, auf sein eigenes Werden also. Die Reflexion darüber wird als Bedingung eingeführt („wenn ich es bedenke“), die die Möglichkeit des Sprechens begründet: „so muß ich sagen ...“. Diese Ankündigung, sprechen zu müssen, schafft allererst den Ausgangspunkt für die Äußerung der Proposition: „daß mir meine Erziehung in mancher Richtung sehr geschadet hat“. Dieser Satz behauptet eine Aussage; diese ist jedoch, wie so oft, die Behauptung eines bloß Negativen, des Schadens. Um die leere Anklage herum bauen sich dieser und die folgenden Textansätze in immer weiter gesponnenen Arabesken auf. Diese Konstruktion ermöglicht das Sprechen des Ich – und damit die Entstehung des Textes – als ein Sprechen, das ein Ich umkreist, das es nie gegeben hat, das nur gewesen wäre, hätte die Erziehung ihm nicht „in mancherlei Hinsicht“ geschadet. Der erste Textansatz gewinnt auf diesem Weg die Vorstellung einer Alternativ-Erziehung. Sie entsteht aus einer paradox strukturierten Rede, in der das Ich die Umstände entwirft, unter denen es „kein Wort des Vorwurfes“ hätte aussprechen können. Das Sprechen vollzieht sich also als Sprechen über die Bedingungen, die es unmöglich gemacht hätten, während es über das, worüber es zu sprechen hätte – den Erziehungsschaden – schweigt. Es ist ein rhetorisches Sprechen: es bedient sich mündlicher Redeformen (z.B. der wiederholten Interjektion „ja“, die etwas als anerkannt voraussetzt und damit ein Gegenüber impliziert) und wendet sich mit dem Gestus der Ansprache an eine Gruppe von Adressaten, die ehemaligen Lehrer. Die Rhetorizität als Bedingung von Aussagen nutzend, in Abstoßung von einer weiteren Negation – „daß die ganze Reihe meiner vergangenen Lehrer dies nicht begreifen kann“ (Hervorh. v. mir) –, trägt das Ich seine Phantasie einer Jugend als „jener kleine Ruinenbewohner“ vor. 32
KKAT, S. 17, Z. 9-21.
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Die Tatsache, nicht „irgendwo abseits“ erzogen worden zu sein, wird zum Anlaß, diese soeben aus dem „nicht“ erfundene Situation auszumalen. Das „Abseits“ wird dabei zu einem Naturbild erweitert, aus dem wiederum der Entwurf einer natürlichen Erziehung hervorgeht: die „guten Eigenschaften“ wären hier „mit der Macht des Unkrauts in mir emporgewachsen“. Was die leere Behauptung des Schadens vermissen läßt, ersetzt die Imagination der möglichen guten Eigenschaften durch Fülle; die Behauptung von Mängeln schlägt in die eines kraftvollen Wachstums um. Diesen Umschlag leistet eine doppelte Negativkonstruktion. Der Satz setzt an die Stelle der Fehler der Erziehung das Fehlen, die Abwesenheit von Erziehung, um von diesem neuen Negativum aus die Behauptung zu etablieren, daß gerade das Fehlen reiche Erfolge gehabt hätte. Ineins mit dem Entwurf dieser Möglichkeit von Erfolgen wird zugleich der Beweis herbeigeschrieben, daß sie mit Sicherheit eingetreten wären. Vermittelt über das Unkraut-Bild, wird der Zusammenhang von fehlender Erziehung und kraftvollem Wachstum unmittelbar einsichtig, da ja das Unkraut eben in die Höhe schießt, sobald nicht gejätet wird. Die Abwesenheit von Erziehung führt daher scheinbar zwangsläufig, eben mit der hier vorgeführten Naturgewalt, zur Entfaltung von guten Eigenschaften. So verwandelt sich die aus lauter Nichts entwickelte Behauptungs-Akrobatik in die Erfindung eines quasi naturgesetzlichen Zusammenhangs, der den ganzen Vorgang zu stützen und zu beweisen scheint. Die sinnfällige Überzeugungskraft des Bildes beruht auf einer leicht sinnwidrigen Überkreuzung von Bildbereichen. Das sprichwörtlich strotzende Gedeihen des Unkrauts eignet sich wohl als Inbild der Naturmacht, aber eigentlich nicht als Bild der „guten Eigenschaften“. Denn das Unkraut wächst ja – der hier angedeuteten Redensart zufolge, etwas ‚wachse wie Unkraut‘ – nur deshalb so stark, weil es eben Unkraut ist und nichts Wertvolles. Diese kausale Logik wird in der Überblendung von guten und unkrautähnlichen Eigenschaften umgekehrt und für eine andere Gedankenverbindung ausgenutzt. Das verdrehtrousseauistische Wildwuchs-Ideal etabliert eine neue kausale Verbindung, die sich als Evidenz behauptet. Sie bringt das Gedeihen und die Güte der Eigenschaften zusammen, als würde das eine das andere bedingen, als käme die Kraft des Guten daher, daß man es wie Unkraut wuchern läßt. Mit derselben Scheinlogik, die ich bereits in Betrachtung beschrieben habe, d.h. einer Logik, die Anschaulichkeit an die Stelle von gedanklicher Stringenz setzt, um eine neue Gedankenverbindung herzustellen, überblendet das Bild die beiden Vergleichsebenen zu einer unmittelbar einleuchtend wirkenden Aussage. – Mit diesem Bild ist das Gedankenspiel des Entwerfens einer imaginären, nie gelebten Biographie zunächst beendet. Doch das Verfahren des in sich beweglichen Vergleichs ist auch für die weiteren Textansätze von Bedeutung. Sie arbeiten daran, diesen Kunstgriff als Vehikel der Texterzeugung weiter auszunutzen.
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2.3.2 Text 2. Die Erfindung des Vorwurfs als Waffe Auch dieser Text geht von dem Schaden am Ich aus, den die Erziehung verursacht haben soll. Er erprobt eine neue Strategie, die alle folgenden Texte weiterführen werden. Nach dem mit der ersten Version identischen Eingangssatz baut ein zweiter Satz eine Folge auf, indem er die Proposition des ersten als „Vorwurf“ bezeichnet. Damit wird es möglich, einen Kreis von Adressaten zu imaginieren. Wenn ich es bedenke, so muß ich sagen, daß mir meine Erziehung in mancher Richtung sehr geschadet hat. Dieser Vorwurf trifft eine Menge Leute nämlich meine Eltern, einige Verwandte, einzelne Besucher unseres Hauses, verschiedene Schriftsteller, eine ganz bestimmte Köchin, die mich ein Jahr lang zur Schule führte, einen Haufen Lehrer, (die ich in meiner Erinnerung eng zusammendrücken muß, sonst entfällt mir hie und da einer da ich sie aber so zusammengedrängt habe bröckelt wieder das ganze stellenweise ab) ein Schulinspektor langsam gehende Passanten kurz dieser Vorwurf windet sich wie ein Dolch durch die Gesellschaft.33
Diese Textbewegung greift auf eine Bildvorstellung zurück, die schon im ersten Text enthalten war. Aus der „ganze[n] Reihe meiner vergangenen Lehrer“ sind „eine Menge Leute“ geworden, die jetzt der Reihe nach aufgezählt werden. Was der Schaden „in mancher Richtung“ offen läßt, wird in alle möglichen Richtungen umgewendet und zum Vorwurf gemacht. Als Angeklagte werden die Angesprochenen herbeizitiert, ohne daß ihr Anteil an der Schuld bezeichnet würde. Daß sie eine Rolle in der Erziehung gespielt hätten, wird durch Zusätze, die „verschiedene Schriftsteller“ und „einige Verwandte“ bestimmen, nur suggeriert; es bleibt jedoch unklar, welche Schäden etwa „eine ganz bestimmte Köchin, die mich ein Jahr lang zur Schule führte“, bewirkt haben sollte (Hervorh. v. mir). Aus den Lebenszeugnissen des Autors ließe sich zur Bedeutung von Köchin und Schulweg zwar einiges ergänzen.34 Dies ginge jedoch am Witz des Verfahrens vorbei, der eben darin besteht, eine Bedeutung anzudeuten, die entscheidenden Informationen aber wegzulassen. Dieser Text spielt damit, Autobiographie zu schreiben, während er sich diesem Vorhaben gleichzeitig verweigert.35 Mit der Nennung von „langsam gehenden Passanten“, die wohl kaum im Ernst für die schädliche Erziehung verantwortlich gemacht werden können, wird 33 34
35
KKAT, S. 18, Z. 1-12. Vgl. die Schilderung des Schulwegs in einem Brief an Milena Jesenská vom 21.6. 1920 (Franz Kafka: Briefe an Milena, hrsg. v. Jürgen Born und Michael Müller, Frankfurt 1983, S. 71). Georg Guntermanns Lektüre der Passage berücksichtigt diese Strategie nicht und geht von der Prämisse des Autobiographischen aus. Die „Ruinenbewohner“-Texte seien „die erste erhaltene literarische Auseinandersetzung des Autors mit seiner Familie“ (G. Guntermann, a.a.O., S. 193). Eine Annäherung an die eigene Vergangenheit auf dem Weg der „Literarisierung des Lebens“ bleibe diesem Autor aber versagt: „Das Fragment [...] ist Ausdruck dieser verbotenen Annäherung, des verwehrten Selbstbezugs, und bietet nur negativ, in der Verneinung eines Zusammenhangs, dem Leser das Abbild der Wahrheit über das Leben desjenigen, der so schreibt.“ (ebd., S. 192).
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dieses Verfahren schließlich ins Absurde gesteigert. In der beliebigen Ausweitung der Anklage führt die Rede vor, daß sie es gar nicht nötig hat, einen plausiblen Biographie-Entwurf anzubieten, daß sie sich gerade im Verschweigen von Gründen behauptet. Diese Sprechhaltung ähnelt in ihrem selbstbewußten Behauptungswillen der „Geschwätzigkeit des Dr. [Robert] Kafka“, die Kafka an anderer Stelle im Tagebuch beschreibt. Als Beispiel für die halb erlittene, halb bewunderte rhetorische Technik seines Verwandten notiert er: „nebensächliches, an das niemand denken würde, wird zuerst erwähnt, dann nebensächlich genannt und bei Seite geschoben (‚ein Mann, wie er heißt, ist Nebensache‘-)“.36 Mit derselben ausdauernden Genauigkeit wird hier am Thema vorbeigeredet, als käme alles darauf an, nur das Wort zu haben und zu behalten. Denn diese Worte ermöglichen Macht. Die „Vorwürfe“ sprechen die Allmachtsphantasie eines trotzigen Kindes aus, das die Erwachsenen allesamt, „langsam gehende Passanten“ eingeschlossen, ihrer Befehls- und Urteilsmacht entkleiden und unter Anklage stellen möchte. Vorwürfe zu machen, ist eine Technik, um ein sich behauptendes Sprechen zu ermöglichen. Die Idee, den Vorwurf als das zu erfinden, was das Ich „sagen muß“ („... so muß ich sagen“), verdankt sich derselben Rückwendung der Rede auf sich selbst wie im ersten Text. Die Frage ist allerdings, wie diese Rede über die Aufzählung von Beschuldigten hinaus weitergehen kann. Der vorliegende Text versucht die Fortführung aus Verdinglichung und Veranschaulichung zu gewinnen. Eine Gruppe der Angeklagten, die Lehrer, wird summarisch als „Haufen“ bezeichnet, woraufhin der Sprecher dies wörtlich nimmt und die Lehrer als Anhäufung in eine dinghafte Masse verwandelt. Mit ihr kann das Ich in eine handgreifliche Auseinandersetzung eintreten: es muß sie „in der Erinnerung eng zusammendrücken“, damit ihm niemand „entfällt“ – auch die Metapher für das Vergessen wird wörtlich genommen und bildhaft als Hinausfallen imaginiert. Dieses Sprachspiel verfährt ähnlich wie der Versuch, die Tänzerin Eduardowa an der Nase zu fassen. In der abwechselnden Folge von Handlungen und Vorgängen – Zusammendrücken, Entfallen, Zusammendrängen, Abbröckeln – schreiben die Sätze die Entwicklung der Vorstellungsbilder wie aufzeichnend mit und treiben sie zugleich weiter voran. Dabei entsteht ein zeitlicher, ein narrativer Verlauf – wenn auch nur für die kurze Strecke weniger Zeilen. Eine andere Technik der Übersetzung ins Bild erprobt der Autor in einem Vergleich, der die Aufzählung abschließt und in der Imagination einer 36
Tagebucheintrag vom 13.10. 1911, KKAT S. 76-79, Zitat S. 78f. Die Aufzeichnung steigert die Verzweiflung des wider seinen Willen festgehaltenen Zuhörers, dem der Redner keine Lücke im Satz bietet, um sich zu verabschieden, zu einer grotesk-komischen Situation: „... darauf erklärt er, warum das so sein muß das Gericht ist überbürdet, warum und wieso, gut ich muß weg, nun ist aber der Kassationshof besser und der Verwaltungsgerichtshof noch viel besser und warum und wieso, endlich bin ich nicht mehr zu halten, nun versucht er es mit meinen eigenen Angelegenheiten, ...“ usw. (KKAT, S. 78).
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universellen Gegnerschaft zusammenfaßt: „kurz dieser Vorwurf windet sich wie ein Dolch durch die Gesellschaft“. Die Bilderfindung macht den Vorwurf zur Waffe, die sich allerdings nicht, wie es der Verwendung von „Dolch“ und „Vorwurf“ gleichermaßen entspräche, gegen die Gesellschaft richtet, sondern sich durch sie hindurch „windet“ – eine Bewegungsart, die eigentlich weder Dolchen noch Vorwürfen eigen ist. Die Erfindung dieser Bewegung im Vergleich „wie ein Dolch“ folgt einer anschaulichen Logik, mit deren Hilfe es gelingt, die Bilder zu einer Kette zu verklammern. Der Satz geht von der bildhaften Vorstellung einer Bewegung aus: „dieser Vorwurf windet sich ...“. Als zweites Element tritt der Vergleich „wie ein Dolch“ hinzu. Er assoziiert mit dem Zusatz „durch die Gesellschaft“ die Vorstellung einer eng gedrängten Menschenmenge, durch deren Zwischenräume sich nur etwas Flaches und Biegsames – wie eben ein Dolch – „winden“ kann. Der „wie“-Vergleich dient als Vehikel, um aus der Bildübertragung eine Entwicklungsreihe von Vorstellungen zu entfalten und diese zu einem gestischen Vorgang zusammenzuschließen. Dies wird möglich, weil der Vergleich das neue Bildelement in die erste Bildvorstellung integriert, statt eine zweite Bildebene zu eröffnen. Der Vorwurf windet sich nicht wie ein Dolch – im vergleichenden Sinne von: ‚wie eine Schlange‘ –, er windet sich als Dolch durch die Menge der Schuldigen. Diese Überblendung vergleicht nicht, sie verwandelt den Vorwurf im Zuge des Bildaufbaus in einen Dolch.37 Zugleich stellt sich die Suggestion eines bewegten Geschehens, einer Fortbewegung her (‚sich-richten‘ dagegen hätte eine starre Konfrontation erzeugt). Diese Operation greift nicht auf das Vorwurf und Dolch gemeinsame ‚tertium comparationis‘ des Angriffs zurück, nimmt jedoch die Konnotation des Aggressiven auf. Durch die Verwandlung in einen heimtückischen Dolch wird der Vorwurf bedrohlich. Obwohl über den Inhalt des Vorwurfs immer noch nichts gesagt worden ist, ist jetzt schon sehr viel gesagt worden. Die Rede des Ich läßt den Vorwurf sich aus dem Nichts eine Gegnerschaft erschaffen und führt zur Imagination szenischer Konfrontationen. Im nächsten Schritt versucht der Sprecher, die Rede weiter zu treiben, indem er ihr eine mögliche Gegenrede gegenüberstellt und zugleich ablehnt, sich damit zu beschäftigen: „Auf diesen Vorwurf will ich keine Widerrede hören, da ich schon zu viele gehört habe ...“.38 Aus diesem Widerspruch gewinnt die Rede erneut die Möglichkeit des Weitersprechens. Die Widerlegung wird nicht etwa kategorisch verneint, sondern zugestanden, aber gerade dies wird wiederum zum Grund umfunktioniert, sie nicht zuzulassen und die „Widerlegungen“ stattdessen in den Vorwurf zu inkorporieren: „ich [...] erkläre nun meine Erziehung und diese Widerlegung haben mir in mancherlei Richtung sehr geschadet“. Diese Technik setzt die beliebige Ausweitung des Vorwurfs fort. Er ist nun so allgemein, daß er auf alles ausgedehnt werden kann, 37
38
Vgl. zu diesen Anschauungs-Verwandlungen die Metapher vom „natürlichen Maskenanzug“ in Kleider (Kap. II). Dieses und das folgende Zitat: KKAT, S. 18, Z. 12-18.
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denn von allem kann gesagt werden, es habe dem Ich „geschadet“. An diesem Punkt aber läßt sich das Spiel nicht mehr verlängern, denn jetzt gibt es keinen Widerstand mehr, an dem entlang die Rede weitergetrieben werden könnte. Die geschwätzige Rede, die sich in diesem Textansatz aus dem Erheben von Vorwürfen behauptet, ist trotz der Leere der Vorwürfe selbst kein Leerlauf. Die Fingerübung will nicht auf bloße Geläufigkeit im Weiterspielen von bildhaften Assoziationen und verneinten Möglichkeiten hinaus. Einzelne dieser verkehrt überlagerten Bilder erzeugen bewegliche Anschauungs- und Denkfiguren, welche sich durchaus mit den ausgeklügelten Beziehungen zwischen Denken, Sprache und Bild in Betrachtung vergleichen lassen. Diese Bewegungen sind hier allerdings sehr viel weniger komplex. Sie dienen einem anderen Zweck: Sie sind Vehikel der Texterzeugung, Schritte auf dem Weg des imaginativen Entwickelns von narrativen Verläufen. An einzelnen Stellen – in dem Bild der wie Unkraut gedeihenden guten Eigenschaften oder bei der Verwandlung des Vorwurfs in einen Dolch – gelangt dieses Verfahren über das geschwätzige Sprachspiel hinaus zu eindrücklichen Effekten. Um solche Erfolge herauszuarbeiten, müssen auch Passagen berücksichtigt werden, die in den Leerlauf führen, denn schon der nächste Textansatz wird Möglichkeiten erfinden, aus ihnen neue, produktive Wendungen zu konstruieren. Die sechs Anläufe zu einer Anti-Biographie des „Kleinen Ruinenbewohners“ sind Skizzen ohne Ergebnis. An ihnen läßt sich nicht das Entstehen einer Geschichte studieren, wohl aber die allmähliche Entwicklung einer Schreibweise, eines künstlerischen Verfahrens. Sie sind Beispiele für ein Entwerfen im Entstehen, für einen phantasierenden Schreibvorgang, in dem sich von Einfall zu Einfall das vollzieht, was in der Beschreibung eines Kampfes noch als Handlung geschildert worden war: das Erfinden dessen, wovon erzählt werden soll. Im Tagebuch ist dieser Versuch des im Schreiben improvisierten Entwurfs zum Projekt einer Schreibübung geworden. Hier geht es zunächst einfach nur darum, das Schreiben zu verlängern, weiterzuschreiben, Sätze zu finden, aus denen sich wiederum ein nächster Satz erfinden läßt. Diese Schreibarbeit beruht auf Konstruktionen, die an vielen Stellen als bloße Mechanik sichtbar werden. Dennoch ist die Erfindungsarbeit, die sich an ihnen übt, kein rein mechanisches Training. In jeder neu konstruierten Wendung steckt eine Leistung, die sich nicht von jener unterscheidet, die im erfindenden Erzählen zu vollbringen wäre.
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2.3.3 Text 3. Überschreibungen und Erweiterungen Verlebendigung des Erziehungspersonals Der dritte Entwurf bezieht die Tatsache, daß es sich um einen bereits mehrfach wiederholten Versuch handelt, schon in seinen Ansatz mit ein: „Oft überlege ich es und immer muß ich dann sagen ...“.39 Im Anschluß daran greift der Schreibende auf den im zweiten Text angewandten Kunstgriff zurück, die Adressaten seines Vorwurfs als Gegenüber vorzustellen. Dieses Bild muß jetzt nicht mehr entwickelt werden, die noch gar nicht Angesprochenen sind schon da: „Dieser Vorwurf geht gegen eine Menge Leute, allerdings sie stehn hier beisammen ...“. Statt der Aufzählung wird das Vorstellungsbild aus dem letzten Text nun vergleichend als Foto imaginiert: die „Leute [...] wissen wie auf alten Gruppenbildern nichts miteinander anzufangen, die Augen niederzuschlagen fällt ihnen gerade nicht ein und zu lächeln wagen sie vor Erwartung nicht“.40 In der Beschreibung dieses ‚Fotos‘ werden die Abgebildeten wieder verlebendigt. Aus lauter Negativa (sie wissen nichts anzufangen; es fällt ihnen nicht ein) entsteht ein psychologisches Porträt der Gruppe vor dem Fotografen. In der sich jetzt anschließenden Aufzählung treten die Personen einzeln aus dem Bild hervor: „Es sind da meine Eltern, einige Verwandte ...“ usw.41 Die Ansprache nimmt hier also einen anderen Weg. Anstelle der Verdinglichung zum „Haufen“, mit dem gestisch verfahren werden kann, setzt sie auf Verlebendigung des Erziehungspersonals. Diese Figuren können als Gegenüber angesprochen werden, bzw. die Rede kann als Kommunikation mit ihnen entworfen werden: „ihnen allen gegenüber spreche ich meinen Vorwurf aus, mache sie auf diese Weise miteinander bekannt, dulde aber keine Widerrede“.42 Auch die Aufzählung selbst hat ihr Verfahren gegenüber dem voraufgegangenen Text verändert. Sie radikalisiert die dort bereits angelegte Übertreibung und steigert sich von den bereits bekannten Akteuren aus schrittweise ins Absurde: [...] ein Schulinspektor, dann einige denen ich nur einmal auf der Gasse begegnet bin und andere, an die ich mich gerade nicht erinnern kann und solche, an die ich mich niemals mehr erinnern werde und solche endlich, deren Unterricht ich irgendwie damals abgelenkt überhaupt nicht bemerkt habe, kurz es sind soviele daß man acht geben muß einen nicht zweimal zu nennen.43
In paradoxem Spiel mit der Negation benennt der Sprecher Existenzen, die nur als sprachliche möglich sind. Die Rede von den Personen seiner Erinnerung geht über auf Personen, die diese Erinnerung überhaupt nicht enthält bzw. nicht 39 40 41 42 43
KKAT, S. 18, Z. 19. Hervorh. v. mir. Die beiden letzten Zitate ebd., Z. 21-25. KKAT, S. 18, Z. 25f. KKAT, S. 19, Z. 10-13. KKAT, S. 19, Z. 3-10.
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enthalten soll. Gleichwohl können sie existiert haben, ohne daß „ich“ es „damals [...] bemerkt habe“. Auch die nicht erinnerten Leute, „lauter Niemand“, können so als Angeklagte gezählt werden.44 Durch diesen sprachlichen Trick werden die, „an die ich mich nicht erinnere“, als Schattenwesen aufgerufen und dabei gleichzeitig aus der Erinnerung verbannt. Sie erscheinen als Leerformen auf dem Vorstellungsbild, soweit man hier überhaupt von ‚erscheinen‘ sprechen kann. Mit der Begründung des Vorwurfs können diese Niemand nichts mehr zu tun haben, da sie für das Ich überhaupt nie eine Bedeutung besessen haben. Doch diese Grundlosigkeit schadet der Universalität des Vorwurfs jetzt – im Gegensatz zum vorigen Textentwurf – nicht mehr. Er entfaltet seine aggressive Dynamik, die sich am Ende gegen alle überhaupt richtet, unabhängig davon, ob sie ihm je geschadet haben könnten. Es kommt einzig und allein darauf an, den Vorwurf erheben zu können. – Auch diesem Text gelingt es jedoch nicht, nach der Integration der „Widerreden“ diese Möglichkeit noch zu erweitern. Stattdessen schließt er als Gegenbewegung die „Ruinenbewohner“-Phantasie aus dem ersten Textstück an. Meine Eltern und ihr Gefolge waren bis jetzt von meinem Vorwurf bedeckt und grau; nun schieben sie ihn leicht beiseite und lächeln, weil ich meine Hände von ihnen weg an meine Stirn gezogen habe und denke: Ich hätte der kleine Ruinenbewohner sein sollen ...45
Der Übergang zwischen den Textteilen zum Vorwurf und zum Ruinenbewohner entsteht erneut aus der Rückwendung des Sprechens auf sich selbst, in diesem Fall als Bezug auf die aktuelle Schreibsituation inszeniert. Diese wird als Geschehen vorgestellt, das – in Fortführung der Verlebendigung des Fotos – aus der Interaktion des Schreibenden mit den Figuren entsteht. Die Figuren kommen hinter dem dinghaften Vorwurf hervor, sie treten gleichsam aus dem Schreibpapier heraus, während und weil der Schreibende sich von ihnen abgewendet hat. Diese Verselbständigung beruht auf demselben Trick, der selbst diejenigen, „an die ich mich gerade nicht erinnern kann“, ins – sprachliche – Dasein geholt hat. Die als „meine Eltern“ Benannten können, einen entsprechenden Satz vorausgesetzt, agieren, als wären sie wirklich die Eltern und nicht nur ein Vorstellungsbild (wie im zweiten Text), welches das Ich „zusammendrücken“ kann. Damit tritt das sprechende Ich auf die Ebene der von ihm imaginierten Figuren. Durch die kausale Verknüpfung ergibt sich aus dem Ebenenwechsel eine Miniatur-Geschichte, die erzählt, wie die Figuren selbständig werden, weil der Autor nicht mehr auf sie achtet. Die Geste der Schreibhände interagiert mit der Geste des Beiseite-Schiebens und verknüpft den Übergang des Schreibens zu einem anderen Thema mit dem Handeln der Figuren.
44 45
„lauter Niemand“: das Personal in Ausflug ins Gebirge (1912 in Betrachtung veröffentlicht, B 20). KKAT, S. 19, Z. 22-27.
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Die Wörtlichnahme des Schreibakts ist ebenso wie die Beschreibung des Nicht-Schreiben-Könnens in der Aufzeichnung über die Mitsutas eine Hilfskonstruktion. Es ist ein Mittel, das Schreiben weiterzutreiben, und nicht schon sein Ziel. Die Beschreibung eines Kampfes hatte dieses Verfahren von der Selbstbeschreibung des Träumens aus entwickelt und als fiktionsironischen Verfremdungseffekt eingesetzt. In den besprochenen Tagebuchtexten dagegen ist die Selbstreflexion nicht als solche von Interesse. Sie dient dazu, Situationen herzustellen, von denen möglicherweise erzählt werden kann. 2.3.4 Text 4. Der Vorwurf als Beschwörungsformel Jeder neue Eingangssatz steigert die beschwörende Anrufung der Überlegungen und Gedanken, die den Erzählbeginn ermöglichen soll. Doch kein Weg wird in dieser sich in der Rückwendung erweiternden und fortschreibenden Textbewegung zweimal gegangen. Zwar kommt es in allen Texten darauf an, den Vorwurf zu erheben und ihn mit allen Mitteln aufrecht zu erhalten und zu erweitern. Doch der Ertrag, den dieses Verfahren bringt, ist damit noch nicht bezeichnet. Wie die Mittel, so sind auch ihre Effekte jedesmal andere. Im vierten Textansatz ist es eine witzige Improvisation über den prekären Realitätsstatus der Erinnerungsgestalten, die der Vorwurf zur Existenz gebracht hat. Damit problematisiert die anklagende Anrufung jetzt ihr eigenes Verfahren. Sie stellt die Frage, welchen Erfolg ihr Vorwurf haben könne, „gar in diesem Falle, wenn er sich gegen vergangene Personen richtet“: Diese Personen mögen mit einer vergessenen Energie in der Erinnerung festgehalten werden, einen Fußboden werden sie kaum mehr unter sich haben und selbst ihre Beine werden schon Rauch sein. Und Leuten in solchem Zustand soll man nun mit irgendeinem Nutzen Fehler vorwerfen, die sie in früheren Zeiten einmal bei der Erziehung eines Jungen gemacht haben der ihnen jetzt so unbegreiflich ist wie sie uns.46
Der „Nutzen“, der sich aus dem Vorwurf von „Fehlern“ ergibt, liegt zum einen in der heraufbeschwörenden Verkörperung der Erinnerungs-Figuren, zum anderen darin, daß angesichts ihres „Zustands“ unmittelbar sinnfällig wird, daß Vorwürfe hier keinen „Nutzen“ bringen können. Der Kunstgriff, der eindringlich vorstellbar macht, warum etwas nicht möglich ist, ist bereits aus dem Text über die Mitsutas bekannt. Aus der in Körperverhältnisse verwandelten Unmöglichkeit entstehen hier komische Szenen. Ihr Witz liegt in der Wörtlichnahme der lückenhaften Erinnerung, die sich in unvollständige Erinnerungsgestalten übersetzt. Dieses Verfahren nimmt den umgekehrten Weg wie die Verlebendigung des Fotos, die aus der sprachlichen Referenz an die gemeinten Personen Gestalten gemacht hatte. Hier werden die Erinnerten als „vergangene Personen“ selbst zu 46
KKAT, S. 21, Z. 1-9.
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der Vorstellung, die das Ich von ihnen hat, sie werden zu nurmehr halb vorhandenen Geistwesen. Negativität ist die Voraussetzung dieses Verfahrens; es erfindet die Erinnerung als nicht mehr vollständige, als beinahe überhaupt nicht vorhandene. Nur in dieser paradoxen Figur kann sie zur Erscheinung kommen.47 Negativität ist die Konstruktionsvorschrift der Sprach- und ImaginationsMaschine, die hier in Gang gesetzt wird. Mit der Metapher der Maschine sei jedoch nicht behauptet, daß im bloß maschinellen Laufen der Sinn der Übung läge. Die unmöglichen Figuren mit ihren halb verrauchten Beinen sind mehr als Maschinenprodukte. Wie den „lauter Niemand“ auf einem „Ausflug ins Gebirge“ eignet ihnen ein absurder Charme; außerdem eine komische Evidenz, da jeder aus seiner eigenen Erinnerung solche Schemen kennt. Als Denkfiguren haben sie eine auf sich beharrende und sich behauptende Logik. Mit dem prekären Realitätsstatus dieser Geisterwesen spielt der Text, indem er die Unmöglichkeit der Kommunikation mit ihnen in immer neuen Wendungen ausführt: „... kein Mensch kann sie dazu zwingen, aber offenbar kann man gar nicht von zwingen reden, denn höchstwahrscheinlich hören sie gar nicht die Worte.“48 Die möglichen – und, wie immer, negativen – Antworten, die sie vielleicht dennoch geben könnten, muß der Fragende also ebenfalls an ihrer Stelle imaginieren. Darüber hinaus begründet er noch die Ablehnung dieser Fragen mit ebenso komisch wie plausibel wirkender Psychologie: „Und wenn auch [...] die Toten gerade sehr unparteiisch wären, so könnten sie es auch dann niemals billigen, daß man mit unbeweisbaren Vorwürfen sie stört.“49 Die Berechtigung dieser Haltung leuchtet ein, denn der Satz enthält mit dem Wort „unbeweisbar“ bereits die Voraussetzungen seines Arguments. Dieses wiederum kann nun wie zwangsläufig weitergesponnen werden: Denn solche Vorwürfe sind schon von Mensch zu Mensch unbeweisbar. Weder das Dasein von vergangenen Fehlern in der Erziehung ist zu beweisen wie erst die Urheberschaft. Und nun zeige man den Vorwurf, der sich in solcher Lage nicht in einen Seufzer verwandelte.50
Das allmähliche Hineinschrauben in eine Kasuistik der Unmöglichkeit gehört zu den typischen Merkmalen von Kafkas Schreibweise.51 Interessant ist im vorliegenden Fall das Ergebnis der Reduktion zu Nichts: der „Vorwurf, der sich in solcher Lage nicht in einen Seufzer“ verwandelt. Dieser Vorwurf ist der Behauptung zum Trotz nicht Nichts, sondern ein Seufzer; von ihm kann immer 47
48 49 50 51
Daher kann ich Anne Rothers These nicht folgen, daß das Scheitern der Vorwurfs-Konstruktion in der Schwäche dieser Erinnerungsgestalten liege, deren Energie nicht ausreiche, „sie zu Bildobjekten zu stabilisieren“ (A. Rother, a.a.O., S. 8). KKAT, S. 21. KKAT, S. 21f. KKAT, S. 22, Z. 3-8. Ein frühes Beispiel dafür findet sich bereits im „Gespräch mit dem Betrunkenen“ (Beschreibung eines Kampfes), der sich mit Hilfe einer selbst betrunkenen Logik nach und nach jeden Haltes beraubt.
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noch erzählt werden. Eben dies tut der Satz, der von der Verwandlung berichtet. Seiner Aufforderung „man [zeige] den Vorwurf“ leistet er selbst Folge und führt die Verwandlung sozusagen auf offener Bühne vor. Dies wäre nicht möglich gewesen, hätte der Satz etwa gelautet: „ ... man zeige den Vorwurf, der sich in solcher Lage noch behaupten könnte“. Dieser Vorwurf wäre tatsächlich vernichtet gewesen. Von dem „Seufzer“ dagegen kann auch weiterhin gesprochen werden: „Dies ist der Vorwurf, den ich zu erheben habe“. Es ist also nicht gleichgültig, mit welcher Art von Verneinung die Drehung ins Nichts hinein beschlossen wird, wenn das Ende der Spirale den Ansatz für eine neue Textentwicklung bilden soll. Für den luftigen Bau dieser Textentwicklung habe ich bereits im vorigen Abschnitt die Münchhausen-Treppe als Beschreibungsmodell vorgeschlagen. Georg Guntermann hat in seiner Analyse des „Kleinen Ruinenbewohners“ ebenfalls die Treppen-Metapher verwendet.52 Die Verwendung solcher Metaphern ist problematisch. So sehr Kafkas Texte dazu einladen, sie in Figuren zu fassen, so wenig ist letzten Endes damit gesagt. Das Bild von der Münchhausiade als Treppenbau faßt zwar einen wichtigen Aspekt der Struktur, löst dabei aber das, was diese Struktur erst hervorbringt, in Leichtigkeit auf – ganz so, als ginge es nur darum, einen Stufen-Schritt, einen Satz an den anderen zu hängen. Daß dem nicht so ist, zeigen Kafkas Texte: in dem Augenblick, in dem das Schreiben nur noch sprachliche Lufttreppen produziert, ist es auch schon zu Ende. So etwa in dem späten Text Fürsprecher (1922), der als sich selbst hervorbringende TraumErzählung eine ähnliche Bewegung beschreibt bzw. sich aus ihr hervorzieht. Wie die Treppen in Piranesis Carceri d'invenzione wachsen hier imaginäre Stufen in die unendlich dehnbare, innere Höhe eines Gebäudes: Hast Du also einen Weg begonnen, setze ihn fort, unter allen Umständen, Du kannst nur gewinnen, Du läufst keine Gefahr, vielleicht wirst Du am Ende abstürzen, hättest Du aber schon nach den ersten Schritten Dich zurückgewendet und wärest die Treppe hinuntergelaufen, wärest Du gleich am Anfang abgestürzt und nicht vielleicht sondern ganz gewiß. Findest Du also nichts hier auf den Gängen, öffne die Türen, findest Du nichts hinter diesen Türen, gibt es neue Stockwerke, findest Du oben nichts, es ist keine Not, schwinge Dich neue Treppen hinauf, solange Du nicht zu steigen aufhörst, hören die Stufen nicht auf, unter Deinen steigenden Füßen, wachsen sie aufwärts.53
Damit ist der Text allerdings zu Ende. Dem beschwörenden Zuspruch zum Trotz führen die Stufen ins Weiße genau in dem Moment, in dem sie benannt werden, wie es bei vielen Texten in Kafkas späteren Tagebüchern zu beobachten ist, die ihren eigenen Entstehungsprozeß zu beschreiben scheinen und dabei nicht in 52
53
Vgl. G. Guntermann, a.a.O., S. 214-218: „Das ruhelose Schreiben: unendliche Reihung von Stufen“. Guntermann gibt hier einen Überblick über verschiedene Kafka-Lektüren, angefangen mit Kurt Tucholsky und Walter Benjamin, die den Treppenbau als Stilprinzip dargestellt haben. E 391.
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eine Geschichte hineinführen, sondern ins Vage auslaufen. Schon der Versuch im Eintrag über die Mitsutas, eine Leiter zu erklimmen und auf ihr in der Luft zu schweben, endet ähnlich. Wenn die Konstruktionen – Leiter, Treppen – nur noch ihre eigene Produktivität beschreiben, aber nichts Thematisches mehr hervorbringen, werden sie untauglich. Die Kunst des Treppenbaus liegt in der Verkettung der Bilder. Der Sprachund Imaginationsprozeß, der scheinbar so leicht eins aus dem anderen hervorgehen läßt, ist das Ergebnis einer Arbeit, die diese Leichtigkeit allererst herstellen muß, um die Fortsetzung zu ermöglichen. Aus diesem Grund gilt mein Interesse dem je besonderen Trick, der das bereits Geschriebene zu einer Stufe macht, d.h. zu einem Ausgangspunkt, der das Weiterschreiben ermöglicht. Der Kunstgriff, der die Stufe herstellt, ist immer wieder erst zu erfinden. Es steht kein Arsenal an Verfahrensweisen zur Verfügung, aus dem der geläufige Schreiber nur noch auswählen müßte. Zwar wiederholen sich eine Reihe von bekannten Techniken. Doch sind sie keine im Sinne eines Zwecks zu handhabende Werkzeuge, sondern eher typische Signaturen dieser Erfindungsarbeit. Jeder dieser Schritte entscheidet über die Fortführung des ganzen Unternehmens. Daher hängt alles am je einzelnen Satz. In den Fingerübungen zum „Kleinen Ruinenbewohner“ haben diese Sätze etwas Spielerisches und Geschwätziges. Sie erreichen an keiner Stelle jene Intensität, die Kafkas spätere Texte auszeichnet. Doch der Grund für diese Intensität liegt in eben jenem Verfahren, das hier in immer neuen Ansätzen erweitert und erprobt wird: in dem phantasierenden Fortschreiben von Satz zu Satz, dessen Gelingen mit jeder Wendung aufs neue gefährdet ist. Um diese Entwicklung zu entdecken, muß man über die summarische Feststellung hinausgehen, daß diese Texte sich nach Münchhausen-Manier ins Nichts hinein erfinden. Stattdessen ist zu zeigen, wie sie es tun. 2.3.5 Text 5. Das beschädigte Ich: Von der Verkörperung der Selbstverhältnisse zur Abschweifung in die Außenwelt Die „Ruinenbewohner“-Strategie erfährt im fünften Textansatz eine grundlegende Veränderung. Schon der Einleitungssatz ist leicht abgewandelt. Die Feststellung, „verdorben“ worden zu sein, ist zusätzlich umschlossen von der Hyperbel „mehr [...] als ich es verstehen kann“, die die Aussage zu einer paradoxen Figur steigert und jede erinnernde Aufarbeitung unmöglich macht.54 Damit ist die Grundstruktur der Ruinenbewohner-Texte, das paradoxe Verhältnis von Behauptung und Verweigerung der Aussage, bezeichnet und zugleich noch eine Drehung weiter getrieben. – Von der Unmöglichkeit aus, den Schaden zu 54
KKAT, S. 23.
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verstehen, unternimmt dieser Text als einziger eine Beschreibung des Schadens, statt aus ihm einen Vorwurf zu machen. Benannt wird er als „Unvollkommenheit“, wiederum als Negativum also, welches die Rede ebenso ausführlich umkreist wie zuvor.55 Diese Rede geht nach wie vor aus der Selbstansprache des Ich hervor. In dessen Beziehung zu sich selbst soll der Schaden stattgefunden haben: Denn wie jeder habe ich auch von Geburt aus meinen Schwerpunkt in mir, den auch die närrischeste Erziehung nicht verrücken konnte. Diesen guten Schwerpunkt habe ich noch aber gewissermaßen nicht mehr den zugehörigen Körper. Und ein Schwerpunkt, der nichts zu arbeiten hat, wird zu Blei und steckt im Leib wie eine Flintenkugel.56
Dieser Gedankengang baut eine Reihe von Verwandlungen von Körpern und Körpermetaphern auf, an deren Ende aus dem metaphorischen „Schwerpunkt“ eine „Flintenkugel“ geworden ist, die in einem anderen „Leib“ steckt als jenem, der einmal zu dem „guten Schwerpunkt“ gehört hatte. Das Ich vervielfacht sich in der Beschreibung seines gestörten Selbstverhältnisses in mehrere Körper, deren Beziehungen zu einander so verquer sind wie die des Ich zu seinem Inneren. Zurück bleibt die Idee eines Außen-Innen-Verhältnisses, die von fern auf jene erste Ruinenbewohner-Phantasie zurückgreift, die das Ich als Behältnis seiner guten Eigenschaften gezeigt hatte. Als ein solches Gefäß bleibt das Ich wie ein sich selbst entfremdeter Rest übrig und zieht nun seine Kraft – und damit weiteren Text – daraus, aus dem Innen heraus wiederum Kräfte zu imaginieren: „Was ich jetzt noch bin, wird mir am deutlichsten in der Kraft mit der die Vorwürfe aus mir herauswollen.“57 Die fünfte Textpassage ist die längste von allen, und sie ist am reichsten an Ideenverkettungen, szenischen Situationsentwürfen und Miniatur-Geschichten. Dennoch unterbricht das schreibende Ich nach drei Textseiten die Selbstbefragung und wendet sich der Außenwelt zu: Aber darüber hinaus noch bin ich selbst ich der jetzt die Feder weggelegt hat, um das Fenster zu öffnen, vielleicht die beste Hilfskraft meiner Angreifer. [...] Überkommt mich Lust zu Vorwürfen, schaue ich aus dem Fenster. Wer leugnet es, daß dort in ihren Booten die Angler sitzen, wie Schüler, die man aus der Schule auf den Fluß getragen hat; gut, ihr Stillehalten ist oft unverständlich wie jenes der Fliegen auf der Fensterscheiben [sic]. Und über die Brücke fahren natürlich die Elektrischen wie immer mit vergröbertem Windesrauschen und läuten wie verdorbene Uhren, kein Zweifel, 55
56 57
„Wenn mir aber hier die Oberlippe, dort die Ohrmuschel, hier eine Rippe, dort ein Finger fehlte, wenn ich auf dem Kopf haarlose Flecke und Pockennarben im Gesichte hätte, es wäre noch kein genügendes Gegenstück meiner innern Unvollkommenheit.“ KKAT, S. 23, Z. 18-23. KKAT, S. 23, Z. 24 - S. 24, Z. 6. KKAT, S. 25, Z. 9f. - Anne Rothers Lektüre des „Kleinen Ruinenbewohners“ geht von diesem Verhältnis der Selbstentfremdung aus und stellt fest, die Texte handelten „vom Zerfall des Ichs“ (A. Rother, a..a.O., S. 7). Diese Argumentation scheint mir nicht schlüssig, weil sie einen Ausgangspunkt bestimmt, der im Text nicht als solcher gegeben, sondern selbst Ergebnis der textuellen Verfahren ist. Entfremdung ist zugleich Konsequenz und Bedingung des Sprachspiels.
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daß der Polizeimann schwarz von unten bis hinauf mit dem gelben Licht der Medaille auf der Brust an nichts anderes als an die Hölle erinnert und nun mit Gedanken ähnlich den meinen einen Angler betrachtet, der sich plötzlich, weint er hat er eine Erscheinung oder zuckt der Kork, zum Bootsrand bückt. Das alles ist richtig aber zu seiner Zeit jetzt sind nur die Vorwürfe richtig.58
Nach diesem Ordnungsruf beginnt wieder die Übung: „Sie gehn gegen eine Menge Leute ...“ usw. – Die Abschweifung wiederholt die Inszenierung der Schreibsituation aus dem dritten Entwurf und weitet sie auf eine Beschreibung der Außenwelt aus. Damit kommt ein alternatives Thema des Schreibens zur Sprache. Die Entfaltung dieses Themas ist zugleich eine Diskussion über Möglichkeiten des Sprechens. Die Wendungen, mit denen das Ich seine Sätze einführt – „Wer leugnet es daß, .../ Und über die Brücke fahren natürlich .../ kein Zweifel, daß ...“ – bestätigen die Außenwelt (wenn auch nur indirekt über die Negation) als unleugbar und unbezweifelbar; zugleich aber präsentieren sie diese in Abhängigkeit von der Affirmation durch die Rede. Darüber hinaus entfernt sich die Rede von der Außenwelt, indem sie in kühnen Vergleichen Möglichkeiten ihrer Beschreibung entwirft. Auch auf diese sprachlichen Leistungen kann sich die Bestätigung beziehen, so daß die beschriebene Wirklichkeit schließlich gar nicht mehr als solche gemeint wäre. In der Arbeit am Vergleich deutet sich die Möglichkeit einer anderen Schreibübung an, eine andere Methode als die Rückwendung des Ich auf sich selbst und seine nie gelebte Biographie. Die Beschreibung arbeitet in auffälliger Weise mit „wie“-Vergleichen, die das Gesehene mit Assoziationsbildern in Verbindung bringen. Es entsteht eine merkwürdige Ansicht der Wirklichkeit. Durch die wörtlich genommene Bildübertragung erhält die Stadtszenerie „aus der Schule auf den Fluß getragen[e]“ Schüler und stillsitzende Fliegen; sie wird um „verdorbene“ Uhren und Höllenwächter vermehrt. Diese Verlängerung der Beschreibung des Sichtbaren in das Gedankenspiel der Assoziation hinein erzeugt einerseits eine irrealisierende Verschiebung, verfährt andererseits aber nicht willkürlich. Die Vergleiche erfassen die Art und Weise, wie die Angler sitzen, wie die Straßenbahn läutet und wie der Polizist dem Betrachter erscheint; sie dienen der Beschreibung eines Wirklichkeitseindrucks. Mit etwas Phantasie lassen sie sich indessen ebensogut als Spiegelung des Innenraums diesseits der Fensterscheiben lesen: sie könnten das Bild eines Schülers (des „erzogenen“ Ich?) in seiner Bank ergeben, der auf die Fliege an der Fensterscheibe starrt, sehnsüchtig auf das Geräusch der Schulklingel und auf das Ende dieser Hölle der Langeweile wartet. So gelesen, wäre der Blick aus dem Fenster womöglich kein Abbild der Wirklichkeit, sondern der Tagtraum des Ich, das nicht zu seiner Schreibübung zurückkehren will. Die wieder aufgenommene Übung bricht bald nach den erneuerten Vorwürfen und Anklagelisten ab. Ein sechster Versuch unternimmt noch einen 58
KKAT, S. 25, Z. 27 - S. 26, Z. 2 und Z. 6-20.
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letzten Anlauf, vom Äußeren des Ich aus den dort nicht sichtbaren Schaden umschreibend, endet aber schon nach wenigen Zeilen.59 Von der Abschweifung aus führt kein Weg zurück, das Projekt der Vorwürfe mit neuem Schwung zu beleben. 2.3.6 Phantasierendes Schreiben: Das Ziel der Übung Das Schreibprojekt, das sich aus dem Nichts einen Vorwurf – Vorwurf im doppelten Sinne von Anklage und Thema – erfindet, gelangt insgesamt nicht über den geschwätzigen Leerlauf hinaus. Im Hinblick auf eine zu erfindende „Ruinenbewohner“-Geschichte bleibt die Übung fruchtlos. Die Frage ist, ob dieses Scheitern der Methode anzulasten wäre. Fehlt hier einfach ein Thema? Dieses Urteil wäre wohl zu einfach, scheint das Fehlen eines Themas doch geradezu Programm zu sein. Offenbar kann und soll nicht von etwas erzählt werden, das schon vorhanden wäre, wie z.B. die Biographie des Autors, von der dieser Text ja zu sprechen vorgibt. Die Texte um den „Kleinen Ruinenbewohner“ verweigern sich sogar der Möglichkeit, eine Biographie zu erfinden. Sie sind der Versuch, eine Textbewegung in Gang zu setzen, die mit jedem ersten Satz weiter vom Ich und seiner Geschichte wegführt. Es ist eine Biographie als Fluchtbewegung, die mit der Wunschphantasie zum Ort im „Abseits“ hin beginnt. Der in immer neuen Ansätzen fortgeschriebene Text zielt darauf, in der phantasierenden Erfindung etwas zu erreichen, das jenseits von dem läge, was schon ‚da‘ ist, und das von dort aus Geschichten erzählbar werden ließe. Auch wenn die Textansätze diesen Ort – oder Zustand – nicht erreichen, bringt das Projekt doch einen Ertrag, nämlich eine künstlerische Verfahrensweise. Die Ansätze zum „Kleinen Ruinenbewohner“ zeigen, wie der Text sich im Fortspinnen der Assoziationen und Bildvorstellungen zu einem ‚phantasierenden Schreibvorgang‘ ausweitet. Von den Phantasien über die „Tänzerin Eduardowa“ aus gesehen, ist hier eine neue Qualität erreicht. Es ist ein Verfahren geschaffen worden, in dem Erfinden bzw. Phantasieren und Schreiben zusammenkommen. Die Tagebuchaufzeichnungen sind nicht mehr, aber auch nicht weniger als experimentierende Übungen, die dieses Verfahren entwickeln und seine Möglichkeiten fortlaufend erproben. Das Ich und seine Biographie sind für diese Übungen nur ein ‚Vorwurf‘, kein Thema. Über das Ich, das die Aufzeichnungen über die Mitsutas und den „Ruinenbewohner“ befragen und mit der Imagination von Fernrohren, akrobatischen Kunststücken oder Biographien zur Erscheinung bringen wollen, wird nichts gesagt. Es wird nur benutzt, um eine Übung daran vorbeizuschreiben. Das Ziel dieser Übung ist daher weder Selbsterkenntnis noch Selbstbehauptung. 59
KKAT, S. 27f.
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Hier geht es um die Erprobung und Einübung eines Verfahrens des erfindenden Schreibens, um die Entdeckung von Mitteln und Wegen, einen Schreibvorgang zu verlängern, der sich selbst zugleich mit dem zu Schreibenden hervorbringen soll. Mit diesen Thesen wende ich mich gegen die in der Kafka-Forschung verbreitete Fixierung auf das Ich. Ob als quasi-biographische „Physiognomie des Autors“ (Guntermann) oder als textuell produziertes Autor-Ich gefaßt (Rother): immer steht das Ich des Schreibenden im Zentrum der Analysen.60 Georg Guntermann zufolge ist das Projekt des „Kleinen Ruinenbewohners“ (wie des Tagebuchs überhaupt) die „Herstellung des Ich [...] als sich selbst in Szene setzende Literatur, die [...] dem Ich eine andere, zweite, seine wahre Existenz verschafft“.61 Anne Rother bestimmt als Projekt der Schreibübung „das Verfahren, mittels einer Konstruktion die Ausgangssituation der Entfremdung (also des Zerfalls der Innenwelt) fruchtbar zu machen für die Identitätsherstellung“.62 Dieses Projekt habe Kafka in seinen späteren Texten weitergeführt, „Identitätsherstellung aus den Bruchstücken der Innenwelt“ bilde die Grundfigur seines Werks. Beiden Lektüren des „Kleinen Ruinenbewohners“ kann ich nicht folgen, da mir nicht deutlich ist, welche Identität der „Ruinenbewohner“ hätte herstellen wollen oder können. Mir scheint das Ziel dieser Textfigur eher die Vermeidung von Identität zu sein. Das aus dem Erziehungsschaden hervorgehende Ich besteht nur aus Mängeln. Identität oder überhaupt Existenz gewinnt es nur, insofern es ihm gelingt, sich als Subjekt der Rede einzusetzen. Daher wäre eher Hermann Kortes Feststellung zuzustimmen: „Die Tagebücher dokumentieren [...] keine Lebensgeschichte und formen sich zu keinem Zeitpunkt zur authentischen Autobiographie, weil das einzige Authentische nur im Augenblick des Niederschreibens durchscheint und sich im Moment der Schreib-Arbeit, präziser: des kinästhetischen Aufschreib-Aktes bereits fast ohne Rest aufzehrt. Die Fakten des Tagebuchs liefern nur den dürren Biographie-Stoff, während das fast ununterbrochene Schreiben über das Schreiben die eigene Autorschaft ad infinitum zugleich reflektiert, problematisiert und manifestiert.“63 Korte zieht den Schluß, die Selbstbehauptung als Autor in der „Autopoesis des Schreibens“ sei in den Tagebüchern „Anspruch, Weg und Ziel zugleich“. Diese Schlußfolgerung ist allerdings problematisch. Die Lektüre der „Ruinenbewohner“-Fragmente zeigt, daß der Rede- bzw. Schreibfluß zu versiegen droht, sobald das Ich sich nur noch mit sich selbst bzw. mit seinem Schreiben beschäftigt. Es kann also nicht davon die Rede sein, die Selbstreferentialität der Schrift sei bereits ihr Ziel. Vielmehr erweist sich diese Methode, dem Schreiben ‚Vorwürfe‘ zu erfinden, als eher unfruchtbar. 60
61 62 63
Auch für Florence Bancaud sind die Texte zum „Kleinen Ruinenbewohner“ „un document essentiel sur la personnalité de Kafka“ (F. Bancaud, a.a.O., S. 254). G. Guntermann, a.a.O., S. 224. A. Rother, a.a.O., S. 8. Das folgende Zitat S. 9. H. Korte, a.a.O., S. 258. Das folgende Zitat S. 264.
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Sobald man den Blick über die „Ruinenbewohner“-Texte hinaus erweitert, läßt sich zeigen, daß das Ich im Tagebuch durchaus nicht so ausschließlich mit sich selbst beschäftigt ist, wie es die zitierten Autoren behaupten. Dies gilt jedenfalls für die frühen Tagebücher. Bald nach den „Ruinenbewohner“Fragmenten verlassen die Schreibübungen die Ich-Ansprachen und -Befragungen und wenden sich anderen Themen zu. Eines dieser Themen ist die Beschreibung von Beobachtungen und Erlebnissen, deren Verfahren der zweite Teil dieses Kapitels darstellen wird. 2.3.7 Epilog. Vom Nichts aus das zu Erzählende erfinden: Die städtische Welt Die Leistungen der ‚Übungen im Erfinden‘ werden in den Experimenten des Tagebuchs von 1909/1910 nur an einzelnen Stellen sichtbar. An dem etwas später entstandenen Textfragment Die städtische Welt lassen sie sich deutlicher aufweisen.64 Hier zeigt sich, daß das Fehlen eines ‚Vorwurfs‘ nicht notwendig problematisch sein muß. Mit derselben Negativ-Technik, wie sie die Überlegungen zur schädlichen Erziehung vorführen, entwickelt sich diese Erzählung als Umkreisen einer Leerstelle. Die Funktion des Vorwurfs übernimmt hier eine geniale Idee, die der Held Oskar M., „ein älterer Student“, seinem Vater nicht erzählen will, während er zugleich verspricht, daß sie alle Probleme lösen werde.65 Das Verschweigen der Idee stellt die Bedingung dar, damit die Erzählbewegung sich als Auseinandersetzung zwischen Vater und Sohn entfalten und fortsetzen kann. Aus dem Streit zwischen den beiden entsteht zugleich eine Innenansicht der familiären Beziehungen. Die neue Qualität dieses Erzählfragments sehe ich darin, daß es im Verlauf des Disputs zwischen Vater und Sohn Spannungen erzeugt, die im Lesen nachvollziehbar werden. Aus Rede und Gegenrede, im „Kleinen Ruinenbewohner“ bloßes Spiel zwischen Vorwurf und Widersprüchen, entsteht ein Konflikt. Dabei kommen unter anderem die an den Mitsutas und dem „Ruinenbewohner“ entwickelten Verfahren zum Einsatz. Etwa, wenn Oskar gegenüber seinem Vater das Verschweigen der rettenden Idee mit dem Argument begründet: Bitte Vater laß doch die Zukunft noch schlafen, wie sie es verdient. Wenn man sie nämlich vorzeitig weckt, bekommt man dann eine verschlafene Gegenwart.66
Diese Argumentation ist in sich vollkommen schlüssig und von derselben sinnfälligen Evidenz wie die Scheinlogik, die das zwangsläufige Wachsen der guten Eigenschaften mit dem des Unkrauts verbindet – nur geht diese 64
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Niederschrift im zweiten Tagebuchheft zwischen Mitte Februar und Mitte März 1911, KKAT, S. 151-158. KKAT, S. 151. KKAT, S. 155.
Übungen im Erfinden
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Überzeugungskraft hier zu Lasten dessen, der mit diesem Argument überzeugen will. Denn Oskars bauernschlaue Logik macht unmittelbar einsichtig, warum sein Vater ihm nicht glauben kann. Es ist die Logik des Langschläfers, der sich um die Verantwortung herumreden will. In der Verbindung von Zeit und Schlaf, die sein Argument begründet, liest man allen Grund für die Verzweiflung des Vaters über seinen faulen Sohn. Damit kehren sich Oskars eigene Worte gegen ihn. Je nachdrücklicher er seinen guten Willen zeigen will, desto aussichtsloser wird sein Bemühen. Dadurch aber wird nicht nur der Unwillen des Vaters, sondern auch Oskars Not nachvollziehbar, der gegen einen Vater, der immer schon im Recht ist, zwangsläufig unterliegen muß. Aus solchen gegenläufigen Tendenzen ergibt sich – immerhin im Ansatz – eine Spannung, die bereits auf die Vater-SohnGeschichte des Urteils vorausweist.
3. Übungen im Beschreiben 3.1 Einleitung Die anti-biographische Phantasie um den „Kleinen Ruinenbewohner“ endet mit einem Blick aus dem Fenster. Für die Tagebucheinträge in der zweiten Jahreshälfte 1910 ist diese veränderte Richtung der Aufmerksamkeit nicht symptomatisch. Sie erlauben sich kaum einen Blick nach draußen. Es dominieren die Versuche, die Beschreibung eines Kampfes fortzusetzen („Du, sagte ich“Fragmente). Hinzu kommen weitere Ansätze zu fiktionalen Texten und einige Selbstgespräche, in denen der Autor die Mißerfolge seines Schreibens reflektiert. Über alltägliche Erlebnisse des Tagebuchschreibers ist nichts zu erfahren.67 Einige Berichte über Besuche bei Lesungen, Theateraufführungen und Vorträgen machen eine Ausnahme. Wie die Notizen und Exzerpte zu Lektüren, die sich im zweiten Tagebuchheft finden, wurden sie offenbar aufgrund ihres Bezugs zur Literatur für aufzeichnenswert befunden. Die Erlebnisse und Beobachtungen, die Kafka anläßlich dieser Veranstaltungen notierte, betreffen allerdings durchaus nicht immer die dort besprochenen Dichtungen. Consul Claudel, Glanz in den Augen, den das breite Gesicht aufnimmt und widerstrahlt, er will sich immerfort verabschieden, es gelingt ihm auch im einzelnen, im all-
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Dies ist vermutlich darin begründet, daß die Einträge zwischen Sommer 1910 und Februar 1911 ausschließlich im zweiten, für literarische Arbeiten vorgesehenen Heft stehen. In dem eigentlich diaristischen, ersten Heft finden sich – bis auf einige Notizen zu einer Paris-Reise vom Oktober 1910 – in diesem Zeitraum keine Aufzeichnungen.
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III Tagebücher 1909 – 1911
gemeinen aber nicht, denn wenn er einen verabschiedet, steht ein neuer da, an den sich der schon verabschiedete wieder anreiht.68
Lärm im Vortragssaal, das Schmatzen der Vortragenden, die gezierte Eleganz, die „junge schwarzgekleidete Leute eines französischen Cirkels“ zur Schau stellen – statt über den Inhalt der „Conférence einer Madame Chenu über Musset“ zu berichten, gibt der Tagebuch-Chronist genaueste Beschreibungen dessen, was er beobachtet. Augenblickshaft erfaßte Details und Situationen gestaltet er zu Szenen und kurzen Erzählabläufen aus und formt sie auf Pointen hin. Es entstehen halb reportageartige, halb anekdotische Geschichten. Auf dem Weg über die literarischen Veranstaltungen dringt Außenwelt allmählich ins Tagebuch ein. Im Laufe des Sommers 1911 werden die Beschreibungen zahlreicher und widmen sich auch nicht direkt auf Literatur bezogenen Anlässen. Beobachtungen im Kaffeehaus, Erlebnisse in der Familie oder im Büro, Gespräche mit Bekannten werden zum Thema. Läßt sich daraus der Schluß ziehen, der Tagebuchschreiber habe zu der Überzeugung gefunden, solche Beschreibungen für ‚literaturwürdig‘ zu halten? In jedem Fall sind Kafkas Notizen selbst Literatur und verfolgen einen literarischen Zweck. Die Literarisierung des Erlebten dient der Entwicklung von künstlerischen Verfahren. ‚Übungen im Beschreiben‘ treten neben die ‚Übungen im Erfinden‘ und gehen mit ihnen allmählich eine enge Verbindung ein. Diese Entwicklung geht von den Reisetagebüchern aus, die Kafka im Laufe des Jahres 1911 systematisch zu führen beginnt. Auf zwei Geschäftsreisen im Januar und Februar sowie einer Ferienreise im Spätsommer 1911 entsteht eine große Anzahl teils wie mitstenographiert wirkender, teils – wohl im Nachhinein – ausführlich ausformulierter Notizen;69 darunter z.B. die „Automobilgeschichte“, eine tragikomische, in ihren Mitteln dem Slapstick ähnliche Schilderung eines Verkehrsunfalls in Paris.70 Zur Bedeutung der Reisetagebücher als BeschreibungsHefte bemerkt ihr Herausgeber Hans-Gerd Koch: „Deutlicher noch als im eigentlichen Tagebuch tritt in den Reiseaufzeichnungen Kafkas besondere Art und Weise der Wahrnehmung und der Beschreibung des Wahrgenommenen hervor, zumal die Perspektive eine andere ist: Während im Tagebuch die Innenschau des Schreibenden vorherrschend ist, richtet sich in den Reisetagebüchern der Blick auf die jenseits des Gewohnten liegende Außenwelt. Auf Reisen tritt deutlich Kafkas Gabe hervor, sich in der Darstellung des Beobachteten auf das
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Tagebucheintrag vom 6.11. 1910, KKAT, S. 120-121, Zitat S. 121. Dort auch das im folgenden Absatz Zitierte. Zu Kafkas Praxis der nachträglichen Ausarbeitung von Reisenotizen vgl. Hans-Gerd Koch: „Nachbemerkung“ zu Franz Kafka: Reisetagebücher (KKA/TB, Band 12), Frankfurt/M. 1994, S. 246-250, v.a. S. 246. Tagebucheintrag vom 11.9. 1911, KKAT, S. 1012-1017. „Meine kleine Automobilgeschichte“: Kafkas Bezeichnung in einer Notiz über eine Lesung dieser Geschichte (zwischen 5. u. 7.11. 1911, KKAT, S. 226).
Übungen im Beschreiben
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Besondere zu konzentrieren und es in literarischer Ausformung nachvollziehbar zu machen.“71 Die Exerzitien am Vorfindlichen werden für Kafka im Sommer 1911 zu einer auch im eigentlichen Tagebuch immer häufiger genutzten Möglichkeit, Auffassungsgabe und Ausdrucksvermögen zu trainieren. Von einem neuen ästhetischen Programm kann dabei allerdings keine Rede sein. Kafka qualifiziert die Aufzeichnungs-Arbeit abwertend; an einer Stelle heißt es: „Zum erstenmal seit einigen Tagen wieder Unruhe selbst vor diesem Schreiben“.72 Solches Schreiben dient als Fingerübung, ohne daß dadurch das eigentliche Schreiben erreichbar würde, wie aus einer Eintragung vom Sommer 1911 hervorgeht: „Ich habe den unglücklichen Glauben daß ich nicht zur geringsten guten Arbeit Zeit habe, denn ich habe wirklich nicht Zeit für eine Geschichte mich in alle Weltrichtungen auszubreiten, wie ich es müßte. Dann aber glaube ich wieder, daß meine Reise besser ausfallen wird, daß ich besser auffassen werde, wenn ich durch ein wenig Schreiben gelockert bin und so versuche ich es wieder.“73 Kafkas Beschäftigung mit den literarischen Techniken der Beschreibung und mit dem Thema der Wahrnehmung beginnt nicht erst mit den TagebuchExerzitien von 1911. Bereits in der Beschreibung eines Kampfes vollzieht sich eine Auseinandersetzung zwischen der Wahrnehmung der Ich-Figur und der Prager Stadtszenerie. In den Fragmenten des frühen Romanversuchs Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande wird die Beschreibung der visuellen Eindrücke des Helden zum bevorzugten Mittel der Darstellung.74 Das Bemühen um die minutiöse Schilderung des Sichtbaren geht auf Kafkas Vorbild Flaubert zurück, wie Klaus Pape zuletzt gezeigt hat.75 Flauberts Reiseaufzeichnungen sind entsprechend das Modell, an dem sich Kafkas und Brods Reisetagebücher mit ihren Exerzitien im Beschreiben und Beobachten orientieren.76 Von dieser Legitimationsinstanz erhalten die Übungen literarische Würde. Den Anfang der systematischen Beobachtungsprotokolle macht Kafkas literarische Reportage Die Aeroplane in Brescia. Im Sommer 1909 im Wettstreit mit Max Brod entstanden, war sie als Mittel gedacht, um eine Schreibkrise zu
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Hans-Gerd Koch: „Nachbemerkung“ zu Franz Kafka: Reisetagebücher, a.a.O., S. 249. Tagebucheintrag vom 5.10. 1911, KKAT, S. 57, Hervorh. v. mir. Tagebucheintrag vom 20.8. 1911, KKAT, S. 37. Vgl. z.B. folgende Passage: „Gleich als der Wagen an Raban vorüber war verstellte irgend eine Stange den Anblick des Handpferdes dieses Wagens, dann wurde irgend ein Kutscher - der trug einen großen Cylinderhut - auf einem ungewöhnlich hohen Bock vor die Damen geschoben das war schon viel weiter - dann fuhr ihr Wagen selbst um die Ecke eines kleinen Hauses, das jetzt auffallend wurde und verschwand dem Blick.“ (KKA: Nachgelassene Schriften I, S. 20). Klaus Pape: Sprachkunst und Kunstsprache bei Flaubert und Kafka, St. Ingbert 1996. Vgl. auch Hans Christoph Buch: „Ut pictura poesis“. Die Beschreibungsliteratur und ihre Kritiker von Lessing bis Lukács, München 1972, S. 222-226: Kafka als ‚beschreibender Autor‘. Vgl. Hannelore Rodlauer: „Die Paralleltagebücher Kafka - Brod und das Modell Flaubert“, in: Arcadia XX/1985, S. 47-60.
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III Tagebücher 1909 – 1911
überwinden.77 Alles, was Kafkas spätere Texte auszeichnet, ist hier, noch vor allen Reise- und Tagebuchaufzeichnungen, bereits vorhanden: die Ausgestaltung zu Szenen, die Situationskomik, Bewegung und gestische Interaktion, die sich mit dem Fortgang des Satzes entwickeln, die genaueste Bezeichnung des Wahrnehmbaren in der Erfindung von sinnlich-eindrücklichen, mehrschichtigen Vergleichen. Ein Arbeiter faßt den einen Flügel der Schraube um sie anzudrehn, er reißt an ihr, es gibt auch einen Ruck, man hört etwas wie den Atemzug eines starken Mannes im Schlaf; aber die Schraube rührt sich nicht weiter. Noch einmal wird es versucht, zehnmal wird es versucht, manchmal bleibt die Schraube gleich stehn, manchmal gibt sie sich für ein paar Wendungen her. Es liegt am Motor.78
Die Aeroplane an den Anfang einer Reihe von Übungen im Beschreiben und Beobachten zu stellen, kann also nicht den Sinn haben, zu behaupten, daß hier eine Fertigkeit erst entwickelt werden müßte. Das Beschreiben als solches muß nicht mehr geübt werden. ‚Übung‘ bezeichnet vielmehr den untergeordneten Status dieser Texte. Denn die Reportage entspricht offenbar nicht dem Ziel, das Kafka anstrebte. Anders wäre es jedenfalls kaum zu erklären, wieso die Beschäftigung mit dem Sehen und dem Sichtbaren zunächst keine Fortsetzung in den 1909 begonnenen Tagebüchern findet. Weder die Reportage noch das „Zerstreute Hinausschaun“ der Betrachtung von 1908 werden hier weitergeführt. Stattdessen geht der Weg von der Betrachtung aus zur Sprachbewegung und zur Selbstreflexion.79 Die frühen Tagebucheinträge von 1909/10 zielen, wie gezeigt, auf das phantasierend-erfindende Entwerfen von Geschichten. Die um ihrer selbst willen angelegte Beschreibung wird erst nach und nach in diese literarische Werkstatt integriert. Erst mit dem seit Herbst 1911 verfolgten Plan zu einem Reise-Aufzeichnungs-Roman „Richard und Samuel. Eine kleine Reise durch mitteleuropäische Gegenden“, den Kafka und Brod gemeinsam verfassen wollten, wird Beschreibung schließlich zum eigenen literarischen Projekt.80 Mit den folgenden Lektüren einiger Beschreibungsübungen möchte ich exemplarisch zeigen, unter welchen Vorzeichen die Darstellung von Erlebtem und Beobachtetem Eingang ins Tagebuch findet. Kafkas Aufzeichnungen zu Rudolf Steiners Prager Aufenthalt (1911) stehen am Beginn dieser Ausführungen und bilden zugleich das Bindeglied zu dem vorangegangenen Teil des Kapitels. 77
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Auch das Tagebuchführen, mit dem Kafka im Frühsommer desselben Jahres 1909 begann, ging auf Brods Anregung zurück, des weiteren die in den folgenden Jahren - wieder in Konkurrenz zu Brod - verfaßten Reiseaufzeichnungen. Franz Kafka: Die Aeroplane in Brescia, in KKA: Drucke zu Lebzeiten, S. 405f. Auch die nach den Betrachtungen von 1908 enstandenen Prosastücke, die in den Band Betrachtung von 1912 eingegangen sind, wenden sich in stärkerem Maße den Innenansichten und der reflektierenden Betrachtung zu (vgl. z.B. Der plötzliche Spaziergang und Entschlüsse). Das Romanprojekt gelangte nicht über das erste Kapitel („Die erste lange Eisenbahnfahrt (PragZürich)“) hinaus, das 1912 in den „Herderblättern“ publiziert wurde; vgl. Erstes Kapitel des Buches „Richard und Samuel“ von Max Brod und Franz Kafka, in KKA: Drucke zu Lebzeiten, S. 419-440.
Übungen im Beschreiben
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Sie ermöglichen erste Antworten auf die Frage, welchen Sinn der Wechsel der Schreibstrategie im Tagebuch haben kann, d.h. wie die ‚Übungen im Beschreiben‘ mit den ‚Übungen im Erfinden‘ in Zusammenhang gebracht werden können. 3.2 Vertauschung von Körper und Geist: Kafkas Aufzeichnungen zu Rudolf Steiner 3.2.1 Literarische Phantasie und ‚Höhere Welten‘ Novalis hat in einer Notiz zur „Theorie der Fantasie“ diese als das „Vermögen des Plastisirens“ bezeichnet.81 Die Einbildungskraft bildet Vorstellungen. Ihr Verfahren ist die Figuration: Sie erfindet Bilder für Unkörperliches, sie versinnlicht Ideen, sie verwandelt das Geistige in Greifbares. Umgekehrt transformiert sie Körperliches in Geistiges, wenn sie an den Dingen der sinnlichen Welt Bedeutung entdeckt oder sie ihnen verleiht. Seit der Romantik gilt die Imagination als das Vermögen der Poesie. Sie ist Medium der Erkenntnis, weil sie Einblicke in eine geistige, höhere Welt vermittelt, die ihr allein erreichbar ist, und sie ist zugleich die schöpferische Kraft, die in der sprachlichen Gestaltung dieser Einblicke wirksam wird. Die romantische Idee einer höheren (Kunst-)Wirklichkeit bezieht sich vielfach auf esoterische Theorien, etwa den Mesmerismus. Beides, romantische Kunst-Ideen wie esoterische Transzendenzvorstellungen, hat Rudolf Steiner ein Jahrhundert nach den Romantikern wörtlich genommen. Um 1900 entwickelte er aus seinen Lektüren deutscher Dichter sowie aus verschiedenen Strömungen des Okkultismus eine neue Form der „Theosophie“, die er später in „Anthroposophie“ umbenannte.82 Dieses Konzept bietet eine Theorie der Zusammenhänge zwischen Geist und Materie, in der die plastische Figuration von geistigen Wesenheiten und die Bildhaftigkeit der „Seelenwelt“ und des „Geisterlandes“ eine große Rolle spielen. Imagination, Inspiration und Intuition bilden die drei „Stufen der Einweihung“, auf denen der „Geheimschüler“ zur „Erkenntnis der höheren Welten“ gelangen kann.83 „Es schlummern in jedem Menschen 81
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Novalis (Friedrich von Hardenberg): Das Allgemeine Brouillon, Nr. 698: „Theorie der Fantasie. Sie ist das Vermögen des Plastisirens.“ Zitiert nach Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs, hrsg. v. Paul Kluckhohn u. Richard Samuel, Bd. 3: Das philosophische Werk, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz (3)1983, S. 401. Vgl. hierzu Karlheinz Barck: Poesie und Imagination. Studien zu ihrer Reflexionsgeschichte zwischen Aufklärung und Moderne, Stuttgart u. Weimar 1993, S. 111. Die „Theosophische Gesellschaft“ wurde 1875 von Helena Blavatsky gegründet; Steiner wurde 1902 Generalsekretär der deutschen Sektion und formte 1913 aus einer Abspaltung die „Anthroposophische Gesellschaft“. Rudolf Steiner: Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung (1904), Dornach 1962.
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III Tagebücher 1909 – 1911
Fähigkeiten, durch die er sich Erkenntnisse über höhere Welten erwerben kann. Der Mystiker, der Gnostiker, der Theosoph sprachen stets von einer Seelen- und einer Geisterwelt, die für sie ebenso vorhanden sind wie diejenige, die man mit physischen Augen sehen, mit physischen Händen betasten kann.“84 Kafkas Aufzeichnungen zu Rudolf Steiner dokumentieren sein Zusammentreffen mit diesen transzendenten Wirklichkeiten.85 An seinen Notizen läßt sich allerdings weniger ein okkultes als vielmehr ein literarisches Interesse ablesen. Die Begegnung mit Rudolf Steiner wird in Kafkas Tagebuch zum Anlaß einiger Einträge, deren Thema die Beziehung von Körper und Geist gemäß der theosophischen Lehre ist, während zugleich die Verwandlung von Geistigem in Körperliches das Verfahren bildet. Diesen Verfahren der literarischen Phantasie, der Tätigkeit des ‚Plastisirens‘ oder der Figuration, werden die folgenden Analysen nachgehen. Steiner besuchte Prag im März 1911, um dort einen Zyklus von Vorträgen über Theosophie und „Okkulte Physiologie“ zu halten. Kafkas Aufzeichnungen beschäftigen sich an zwei Stellen mit Steiners Prager Aufenthalt. Der erste Eintrag vom 26. März 1911, eine Notiz über Steiners Rhetorik, bezieht sich auf zwei öffentliche Vorträge Steiners. Ein Eintrag vom 28. März gibt Gesprächsfetzen aus einer Unterhaltung wieder, deren Thema Steiner und seine Lehre sind. Daran schließt eine ausführliche Aufzeichnung an, in der Kafka eine Audienz bei Steiner beschreibt.86 Die Eintragungen anläßlich von Rudolf Steiners Prag-Aufenthalt sind ein Beispiel für die Notizen, die Kafka sich über Lektüren und Vorträge machte. Diese Aufzeichnungen waren offenbar als systematische Übung gedacht. Ursprünglich war wohl das zweite Tagebuchheft dafür vorgesehen, das neben eigenen literarischen Versuchen auch bewundernde und kritisierende Kommentare zu Leistungen anderer enthält. Kafka notierte, was ihm bemerkenswert erschien, und nutzte die Aufzeichnung zugleich als eigene literarische Arbeit. In der Herausarbeitung seiner Schreibweisen und Verfahren tritt der Tagebuchschreiber in ein Konkurrenzverhältnis zu den von ihm besprochenen Autoren.
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Rudolf Steiner: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten? (1904/05), Dornach (2)1963, S. 11. Die Aufarbeitung von Kafkas Beziehungen zu zeitgenössischen kulturellen Strömungen kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden. Zu den Beziehungen zwischen Esoterik und Literatur um 1900 vgl. Marianne Wünsch: Die Fantastische Literatur der Frühen Moderne 1890-1930, München 1983. KKAT, S. 159 und S. 30-35. Zu den Daten und Kontext von Kafkas Begegnung mit Steiner vgl. KKAT, Kommentarband, S. 16-19.
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3.2.2 Rhetorische Wirkung und die Körperhaftigkeit der Rede Kafkas erste Eintragung zu Rudolf Steiner ist nicht den theosophischen Inhalten von Steiners Vortrag, sondern dessen Rhetorik gewidmet. Teosophische Vorträge des Dr. Rudolf Steiner Berlin. Retorische Wirkung: Behagliche Besprechung der Einwände der Gegner, der Zuhörer staunt über diese starke Gegnerschaft, weitere Ausführung und Belobung dieser Einwände, der Zuhörer geräth in Sorge, völlige Versenkung in diese Einwände als gebe es sonst nichts, der Zuhörer hält jetzt eine Widerlegung überhaupt für unmöglich und ist mit einer flüchtigen Beschreibung der Verteidigungsmöglichkeiten mehr als zufriedengestellt. Dieser rhetorische Effekt entspricht übrigens der Vorschrift der devotionellen Stimmung. – Dauerndes Anschauen der Fläche der vorgehaltenen Hand. – Auslassen des Schlußpunktes. Im allgemeinen fängt der gesprochene Satz mit seinem großen Anfangsbuchstaben beim Redner an, biegt sich in seinem Verlaufe so weit er kann zu den Zuhörern hinaus und kehrt mit dem Schlußpunkt zu dem Redner zurück. Wird aber der Punkt ausgelassen, dann weht der nicht mehr gehaltene Satz unmittelbar mit ganzem Atem den Zuhörer an.87
Der erste Absatz beschreibt Steiners Technik, Einwände vorwegzunehmen und sie zu verstärken, bis eine Verteidigung der eigenen Sache „überhaupt [...] unmöglich“ erscheint. So wird ein Punkt erreicht, an dem schon die bloße Möglichkeit einer Verteidigung ausreicht, um eine überschießende Reaktion auszulösen, die den Zuhörer „mehr als zufriedengestellt“ zurückläßt. Dieser rhetorische Trick beruht darauf, die Erwartung des Zuhörers zu täuschen und durch das Lob der Einwände die eigene Glaubwürdigkeit zu erhöhen. So kann der Kredit, der in die Verteidigung der Gegenseite investiert wurde, auf die eigene Position übertragen werden, und zwar zusätzlich erhöht dadurch, daß das Umschlagen nur durch eine minimale Andeutung bewirkt wird. Die Zuhörer müssen glauben, daß sich die Berechtigung der Position nur noch stärker bestätigen werde, wenn der Redner mit der wirklichen Verteidigung begönne; sie sind also schon vor jeder Argumentation „mehr als“ überzeugt. Dieser Effekt ist, genau genommen, nicht die Leistung von Steiners Rhetorik, sondern von Kafkas Bericht. Kafkas Rhetorik führt Steiners Rhetorik vor. In sorgfältiger Steigerung arbeitet sein Satz auf den Punkt hin, an dem sich Unmöglichkeit in Möglichkeit verwandelt. Dafür braucht es nur die Wiederholung eines Wortes, vom Negativ ins Positiv gewendet. Dieser Kunstgriff läßt die Wirkung von Steiners Rede evident werden, weil der Umschlag von dem Wort „unmöglich“ ins Wort „(Verteidigungs-)Möglichkeit“ durch die minimale Differenz zwischen den beiden Wörtern so leicht erscheint. In der Beschreibung der Rede eines anderen entwickelt Kafkas Schreibweise also eigene Mittel, um die rhetorischen Wirkungen nachvollziehend zu wiederholen, d.h. sie dem Leser so 87
Tagebucheintrag vom 26.3. 1911, KKAT, S. 159.
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III Tagebücher 1909 – 1911
zu vermitteln, daß er ihren Effekt nacherleben kann. Darin läßt sich ein doppeltes Ziel der Schreibübung erkennen. Zum einen gilt sie der Analyse einer als beeindruckend anerkannten Leistung; zum anderen konkurriert sie mit diesem Vorbild um den Effekt, den sie als ihren eigenen erzielen will. Der zweite Teil des Eintrags widmet sich Steiners sprachlichem Gestus, den klanglichen und körperlichen Qualitäten seiner Sprache. Erneut gerät die Rechenschaft über die Methode des anderen zur Ausarbeitung der eigenen Verfahren. Der rhetorische Gestus, der Steiners Rede wirkungsvoll macht, ist das „Auslassen des Schlußpunktes“, eine Technik der Betonung. Kafka analysiert diese Technik, indem er zwei Beispielsätze entwirft. Der erste stellt den Normalfall dar, einen Satz mit Schlußpunkt, gegen den sich im zweiten Schritt Steiners besondere Betonung abhebt. Die lautliche Formation der beiden Beispielsätze beschreibt Kafka, ohne von Ton oder Melodie zu sprechen. Der erste Beispielsatz wird als Gebilde aus Worten dargestellt, die zu Buchstaben verdinglicht werden. Diese Beschreibung transformiert das, was man hört, in die Laute nur noch Bezeichnendes. Ineins damit werden die unsichtbaren Töne und die ebensowenig sichtbaren Buchstaben als körperliche Gebilde materialisiert. Von diesen dinghaften Wesen geht eine Handlung aus: Der Beispielsatz, den Kafkas Satz zum grammatischen Subjekt macht, „biegt sich“ hinaus und „kehrt“ dann „zurück“. Schließlich wird dem sich autonom bewegenden Sprach- bzw. Wortmaterial sogar eine Art personaler Wille zugesprochen: Der Satz biegt sich hinaus, „so weit er kann“. Er handelt also intentional, er ‚will‘ den Zuhörern so nahe kommen wie möglich, will sie in einem ganz wörtlichen Sinne erreichen. Auf diese Weise wird die rhetorische Wirkungsabsicht in die Bewegung eines zu Eigenleben erwachten Satzes übersetzt. Der Redner selbst erscheint gegenüber diesem Satz wie ein Dompteur, der seinen Stellvertreter in die Welt schickt und zu dem der Satz am Ende seiner Mission, „mit dem Schlußpunkt“ zurückkehrt. Die Leistung dieses sprachlichen Verfahrens ist zunächst einfach Veranschaulichung: die unsichtbare Satzmelodie wird sichtbar gemacht.88 Das Bild erfindet eine kurvenartige Bewegung, die sich auf den Melodiebogen der Betonung bezieht. Doch dessen Kurve, d.h. die Modulation zwischen Höhen und Tiefen der Stimme, wird durch Kafkas Bild in die Horizontale verlegt. Dabei erhält der Bogen eine Spannung auf ein Ziel hin, die dem Melodiebogen fehlt (dieser hat allenfalls einen Höhepunkt). Der Satz wird zu einem zwischen Anfang und Ende gespannten Bogen, der seine Dynamik auf den Zuhörer richtet. In dieser Umsetzung der intentionalen Richtung in eine Bewegung wird der Gestus, den der Satz transportiert, szenisch vorgeführt. Die Verwandlung des 88
Eine solche Veranschaulichung durch die Verwandlung von Unkörperlichem in Dinghaftes findet sich bereits in einem der ersten Tagebucheinträge: „ ‚Wenn er mich immer frägt‘ das ä losgelöst vom Satz flog dahin wie ein Ball auf der Wiese.“ (Zweiter Eintrag im Tagebuch (Frühsommer 1909), KKAT, S. 9). Was hier auf dem Weg über einen expliziten Vergleich geschieht, erreicht der Schlußpunkt-Satz durch eine metaphorisierende Redeweise.
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Unsichtbaren in Sichtbares vollbringt also zwei Verwandlungen: erstens die der Melodie in einen szenischen Gestus, der – zweitens – die Intention des Redners veranschaulicht. Die wichtigste Leistung dieses Kunstgriffs ist, daß er auch den „Schlußpunkt“ zum Gegenstand und damit darstellbar macht. Dadurch wird es möglich, an die Stelle einer Beschreibung der Stimme, die am Schlußpunkt gesenkt wird bzw. ohne Abschluß oben bleibt, eine Beziehung von Anwesenheit versus Abwesenheit zu setzen. Auf diesen Gegensatz konzentriert sich die Gegenüberstellung von Beispielsatz und Steiner-Satz, um daraus zu entfalten, warum das Dasein oder Fehlen des Schlußpunkts von entscheidender Bedeutung ist. Als anwesender wird der Schlußpunkt in der Funktion vorgestellt, den Spannungsbogen zu halten und seine Dynamik zurückzubinden. Seine Abwesenheit hat entsprechende Konsequenzen. Wenn der Satz nicht am Schlußpunkt wieder zum Redner zurückgeholt wird, dann muß er, einmal losgelassen, seine Dynamik in Richtung Ziel, d.h. auf das Gegenüber hin entfalten. „Wird aber der Punkt ausgelassen, dann weht der nicht mehr gehaltene Satz unmittelbar mit ganzem Atem den Zuhörer an.“ Erst durch die voraufgegangene Imagination einer ordnungsgemäß wieder geschlossenen Kurvenbahn kann sich dieser Effekt entfalten. So erschafft Kafkas Bericht eine Relation von Ursache und Wirkung zwischen den beiden Beispielsätzen, um daraus ein Geschehen zu entwickeln, das als zwangsläufige Abfolge vorstellbar wird. Am Schluß des zitierten Satzes tritt eine dritte Verwandlung hinzu, die den Erfolg der rhetorischen Wirkung vorführt. Der Steiner-Satz „weht [...] unmittelbar mit ganzem Atem den Zuhörer an“. Die personale Wesenhaftigkeit des Buchstabengebildes steigert sich hier zu Körperlichkeit; in metonymischer Verschiebung übernimmt die Äußerung die Körperfunktionen des Redners. So gelingt es ihr, körperlichen Kontakt herzustellen, also den Zuhörer in wörtlichem Sinne zu erreichen. In Kafkas Formulierung dieses Vorgangs treffen sich die Intention des Redners und das Rezeptionserlebnis des Zuhörers. Dieser erlebt in Steiners Vortrag eine unmittelbare Ansprache durch den Ton der Rede. Kafkas Satz verwandelt diese Ansprache in Atem, der bis zum Zuhörer gelangt und ihn anhaucht. Die Wirkung von Kafkas Satz wie von Steiners Rede geht aus einer Beziehung zwischen dem Wort und dem Körper hervor. Steiners rhetorischer Gestus findet einen geraden Weg zum Zuhörer, und Kafka gelingt es, diesen direkten Weg zu seinem Leser herzustellen. Wenn Steiner seine Zuhörer körperlich ergreift, so faßt Kafka mit seiner Rhetorik die Leser imaginativ, indem er sie zwingt, sich die Rede als körperhafte vorzustellen. Indem Kafkas Worte aus Steiners Worten Körperdinge machen, die sich mit eigener Dynamik im Raum bewegen und sogar Körperfunktionen übernehmen, stellen sie einen Kommunikationsprozeß her, der Körperliches und Geistiges ebenso direkt verbindet wie der bei Steiner bewunderte. Kafkas Sätze erzeugen eine Vorstellung
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von sich bewegender, atmender Körperlichkeit. Dabei arbeiten sie mit Bildern, mit metaphorischen und metonymischen Redeweisen, so wie Steiner mit den körperhaften Qualitäten der Rede, mit seiner Stimme arbeitet. Kafkas vergleichende Redeweise erfindet ein Szenario, in dem sich der beschriebene Effekt unmittelbar und sinnlich einleuchtend vermittelt. Erzähltechnisch betrachtet, hat dieses Verfahren noch einen weiteren Nutzen: es macht aus der Beschreibung einen erzählbaren Ablauf, eine Geschichte. Die Transformation ins Bild inszeniert die Gegenüberstellung der beiden Sätze als Stufenfolge, in der die erste Verwandlung eine zweite mit sich zieht. Aus dieser wiederum geht die nächste Bildvorstellung als Konsequenz hervor. Auf welchen Wegen die Errungenschaften dieser Schreibübungen später in Kafkas fiktionale Texte eingehen, werde ich im IV. Kapitel (Der Heizer) am Beispiel der Rhetorik des Onkels zeigen. 3.2.3 „Okkulte Physiologie“ 3.2.3.1 Physiologie: Körper und Komik Eine Auseinandersetzung mit Steiners Denken gehörte offensichtlich nicht zu dem, was Kafka aufzeichnenswert erschien. Inhalte und Begriffe der theosophischen Lehre erwähnt er nur indirekt, als Zitat in einem Bericht über einen Abend in Gesellschaft von Steiner-Anhängern.89 In diesem Eintrag vom 28. März 1911 notiert Kafka in stenographischer Kürze Gesprächsfetzen und mitgehörte Geschichten. Er verzichtet darauf, sie in einen erzählenden Bericht einzubetten, und stellt sie als anekdotische Details unvermittelt nebeneinander. – Er stand Christus sehr nahe. – Er führte in München sein Teaterstück auf. („Da kannst Du es ein Jahr lang studieren und verstehst es nicht“) die Kleider hat er gezeichnet, die Musik geschrieben. – Einen Chemiker hat er belehrt. – Löwy Simon Seidenhändler in Paris Quai Moncey hat von ihm die besten geschäftlichen Ratschläge bekommen. Er hat seine Werke ins Französische übersetzt. Die Hofrätin hatte daher in ihrem Notizbuch stehn „Wie erlangt man die Erkenntnis höherer Welten? bei S. Löwy in Paris.“ – In der Wiener Loge ist ein Theosoph 65 Jahre alt, riesig stark, früher ein großer Trinker mit dickem Kopf, der immerfort glaubt und immerfort Zweifel hat. Es soll sehr lustig gewesen sein, wie er einmal bei einem Kongreß in Budapest bei einem Nachtmahl auf dem Blocksberg an einem Mondscheinabend, als unerwartet Dr. Steiner in die Gesellschaft kam, vor Schrecken mit seinem Krügel hinter einem Bierfaß sich versteckte (trotzdem Dr. Steiner darüber nicht böse gewesen wäre) – Er ist vielleicht nicht der größte gegenwärtige Geistesforscher, aber 89
„Atlantische Weltuntergang, lemurische Untergang und jetzt der durch Egoismus. - Wir leben in einer entscheidenden Zeit. Der Versuch des Dr. Steiner wird gelingen, wenn nur die arrhimanischen Kräfte nicht überhand nehmen.“ (KKAT, S. 32).
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er allein hat die Aufgabe bekommen die Theosophie mit der Wissenschaft zu vereinigen. Daher weiß er auch alles. [...] – Ein Münchener Arzt heilt mit Farben, die Dr. Steiner bestimmt. Er schickt auch Kranke in die Pinakothek mit der Vorschrift vor einem bestimmten Bild eine halbe Stunde oder länger sich zu koncentrieren. [...] – Er ißt zwei Liter Mandelmilch und Früchte, die in der Höhe wachsen. [...] – Frau Fanta: Ich habe ein schlechtes Gedächtnis. Dr. St. Essen Sie keine Eier.90
Es entsteht ein Bild der Theosophie als eines ‚mixtum compositum‘, das die unterschiedlichsten Elemente zusammenbringt. Doch so disparat diese Bruchstücke sind, so ähnlich sind sie sich in der aberwitzigen Kombination von banalen Alltäglichkeiten mit übersinnlicher, geistiger Bedeutung. Diese Gemeinsamkeit wird durch das scheinbar absichts- und kunstlose Nebeneinander deutlich herausgestellt. Nahezu jeder Gesprächsfetzen stellt eine Mischung dar, in der sich das Geistige der höheren Sphären mit dem Körperlichen der diesseitigen Welt auf abstruse Weise vereinigt, oft mit witzigem Effekt. Ein typisches Beispiel für die komische Zusammenstellung von Alltag und Übersinnlichem ist die Notiz der Hofrätin. Sie verkürzt die Tatsache, daß ein Pariser Seidenhändler Steiners Werk „Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?“ ins Französische übersetzt hatte, zu dem Ergebnis: „Wie erlangt man Erkenntnis höherer Welten? Bei S Löwy in Paris“, als könne man die Weisheit dort bestellen wie einen Ballen Seide. Die Komik der folgenden Anekdote speist sich aus einem ebenso unpassenden Zusammentreffen. Der beleibte Theosophie-Adept, der den übersinnlichen Genüssen bei Mondschein den Genuß geistiger Getränke vorzieht, ist schon ein Witz für sich, den er durch das schuldbewußte Versteckspiel hinter dem Bierfaß verdoppelt. Diese Anekdote wird bereits von Steiners Anhängern als Witz kolportiert. Der Witz von Kafkas Aufzeichnung besteht darin, sich ihrem Lachen nicht anzuschließen, sondern es mit sachlichem Ernst wiederzugeben. Jede eigene Wertung wird durch den bereits mitgelieferten Kommentar „es soll sehr lustig gewesen sein“ ersetzt. Direkt daneben aber stellt Kafka mit dem gleichen Ernst die Weisheiten des Meisters, die sich in ihren Kombinationen von Sinnlichem und Übersinnlichem in nichts von den als Witz berichteten Geschichten unterscheiden. Daß die „Früchte, die in der Höhe wachsen“, ganz natürlich Geistesnahrung des zu Höherem Berufenen sind, ist Steiners Anhängern selbstverständlich. Sie finden diesen magischen Analogieschluß keineswegs komisch, obwohl er um nichts weniger simpel ist als die Hoffnung, die Weisheit in Paris bestellen zu können. Für Steiners Anhänger besteht eine direkte Verbindung zwischen Konkretem und Transzendenz. Die Existenz dieser ‚Direktverbindung‘ von dieser Welt in die andere ist ihnen in der Person Steiners garantiert. Seine Wirkungen auf die Körperwelt, ob Wunderheilungen durch spezielle Farben oder Medikamente oder Belehrungen für einen Chemiker, die allkräftige Beherrschung 90
Tagebucheintrag vom 28.3. 1911, KKAT, S. 31, Z.4 - S. 32, Z. 23.
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der Künste oder die Vereinigung von Theosophie und Wissenschaft, sind vermittelt durch ein Wissen um die ‚andere Seite‘ der Dinge, die Verbindungen, die sie zur höheren Welt unterhalten. Steiners höheres Wissen besteht eben darin, „die besten geschäftlichen Ratschläge“ für den Seidenhändler und die ‚Höheren Welten‘ in übernatürlicher Synthese zu erkennen, weil seine Geisteskraft es ihm erlaubt, die Gegensätze von Körper und Geist in der Erkenntnis ihrer höheren Einheit zu transzendieren. Durch das Nebeneinanderstellen der Wunder und der Witze fällt diese höhere Einheit von Geist- und Körperwelt wieder auseinander. So erscheint die geglaubte Direktverbindung von den Dingen zur Geisteswelt als ein komisches Wörtlichnehmen, ein naives Mißverständnis. Diesen Effekt erreicht Kafka, indem er die Haltung der Steiner-Anhänger kopiert. Er übernimmt die kindlich-naive Art, wie die noch nicht ganz Erleuchteten („Da kannst Du es ein Jahr lang studieren und verstehst es nicht“) sich auf das Sichtbare und Wörtliche konzentrieren. Statt an die geistigen Höhenflüge des Meisters halten sie sich an Anekdoten, Geschichten, konkrete Details. In diesen Geschichten haben sie die Weisheit zum Anfassen – oder eben das, was von ihr dann noch übrig ist („Frau Fanta: Ich habe ein schlechtes Gedächtnis. Dr. St. Essen Sie keine Eier“). Indem die Aufzeichnung diese Geschichten unkommentiert wiedergibt, nimmt sie das, was die Sprecher verstanden haben, noch einmal wörtlich. Durch diese Wörtlichkeit spricht Kafkas Schilderung zum einen mit jenem Ernst, mit dem Kinder auffassen; zum anderen ist sie ständig latent komisch. So muß Kafka den naiven Glauben nicht in einem höheren ironischen Bewußtsein kommentieren.91 Zwar ist seine Schilderung teilweise sehr pointiert auf das Zusammentreffen des Unvereinbaren hin angelegt. Aber im Kippen zwischen Komik und Ernst macht er die Theosophie nicht absichtsvoll lächerlich. Der Bericht verläßt an keiner Stelle die Perspektive der theosophischen Gesellschaft. Sein Witz ergibt sich allein aus der Zusammenstellung der Notizen, die dabei wie von selbst, unfreiwillig, ihre komischen Züge enthüllen.92 Das Festhalten am Wörtlichen, das eine direkte Verbindung zwischen Körper und Geistigem herstellt, gehört zu Kafkas ältesten Verfahren. Am Beispiel der Theosophie-Aufzeichnungen läßt es sich besonders gut zeigen, weil es dem naiven Denken der Steiner-Adepten, oberflächlich betrachtet, sehr ähnlich 91
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Dies unterscheidet Kafkas Bericht von Max Brods Feuilleton zu Steiners Prager Vorträgen: „Höhere Welten“, veröffentlicht im Juni-Heft der Zeitschrift „Pan“ (16.6. 1911) sowie in Brods Essay-Sammlung Über die Schönheit häßlicher Bilder (Leipzig 1913, S. 144-157). Auffallend ist, daß Brod sich ebenfalls, jedoch mit deutlich vorgetragener Absicht, an das Diesseitige hält, um die ‚Höheren Welten‘ zu ironisieren. Mit der gleichen Technik berichtet Kafka ein halbes Jahr später über die Vorstellungen der von ihm bewunderten jiddischen Theatertruppe. Auch dort entsteht die unfreiwillige Komik der Akteure aus dem Unbeabsichtigten, das mit größtem Ernst geschildert wird. Mit diesem Ernst gelingt es Kafka, die Würde der Schauspieler und die Sympathie für sie zu wahren und auf diese Weise einen Kontrast herzustellen, ohne den die Slapstick-Aktion nicht komisch wäre.
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scheint, jedoch einen ganz anderen Effekt aus der Naivität gewinnt. Aus der Direktverbindung zwischen Körper und Geist, die für die Theosophen geglaubte Wahrheit ist, bezieht Kafka Witz und Anschaulichkeit seiner Formulierung. Wenn er das Körperliche als etwas Geistiges, Personhaftes anspricht, dann lebt diese Vorstellung daraus, daß die Übertragung noch als solche kenntlich bleibt und dennoch höchst treffend wirken kann: Wie soll das schwache Herz, das mich in der letzten Zeit öfters gestochen hat, das Blut über die ganze Länge dieser Beine hin stoßen können. Bis zum Knie wäre genug Arbeit, dann aber wird es nur noch mit Greisenkraft in die kalten Unterschenkel gespült. Nun ist es aber schon wieder oben nötig, man wartet darauf, während es sich unten verzettelt.93
Fast könnte man sich diesen Eintrag als aus Steiners Prager Physiologie-Vortrag – „Das Blut als Ausdruck und Werkzeug des menschlichen Ich“94 – hervorgegangen denken. Gegen das unbotmäßige Verhalten des Blutes, das sich säumig „unten verzettelt“, während „man“ auf seine Rückkehr wartet, gegen Durchblutungsstörungen also, empfiehlt die auf Steiners Lehre basierende anthroposophische Medizin einen Badezusatz aus Kastanienextrakten: „Gemäß der anthroposophischen Menschen- und Naturerkenntnis regt der Extrakt aus der Roßkastanie den venösen Blut- und Lymphstrom an und wirkt so den Schwerkräften – die vom Blutkreislauf immer überwunden werden müssen – entgegen.“95 Hier wie dort beruht die Vorstellung auf einem Kurzschluß. Kafka spricht seine Körpervorgänge als etwas von eigenem Geist und Willen Beseeltes an und erfindet aus dem Zusammenhang zwischen Körpergröße und Durchblutung ein Geschehen, das zwar medizinisch haltlos ist, aber in seiner Handgreiflichkeit unmittelbar einleuchtet. Dagegen nimmt der anthroposophische Werbetext das Naturgesetz der Schwerkraft auf naive Weise wörtlich, als könnte man die Erdanziehung tatsächlich mit Händen greifen bzw. mit Kastanienextrakten überwinden; er nimmt also eine geistige Beziehung zwischen den Wirkungsmechanismen der Natur an. Hier ist der Kurzschluß ernsthafte Überzeugung, während er bei Kafka ein Verfahren der Rede ist. Einander gegenübergestellt, scheint das anthroposophische Heilungsangebot daher auf absurde Weise zu Kafkas Problembeschreibung zu passen.
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Tagebucheintrag vom 22.11. 1911, KKAT, S. 263-264. Nach KKAT, Kommentarband, S. 17. Kastanien-Bad der Weleda AG Schwäbisch Gmünd. Den Verweis auf dieses Produkt verdanke ich Ladislaw Pirker (Die Zeit Nr. 40, 28.9. 2000).
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3.2.3.2 Okkultismus: Geister und Witz Zwischen den theosophischen Überzeugungen, die Kafka beschreibt, und dem Verfahren dieser Beschreibung besteht eine besondere Beziehung. Beide arbeiten mit dem Gedanken einer direkten Verbindung des Körperlichen zum Geistigen. Diese Richtung läßt sich auch umkehren: – Dr. Steiner wird so sehr von seinen abwesenden Schülern in Anspruch genommen – Beim Vortrag drängen sich die Toten so sehr an ihn. Wißbegierde? Haben sie es aber eigentlich nötig? Offenbar doch.96
Das Geistige nimmt in „Geistern“ körperliche Gestalt an; abstrakte „Denkformen“, durch die Steiner mit seinen Schülern kommuniziert, gewinnen stoffliche Qualitäten: „Sie nützen sich aber bald ab und Dr. Steiner muß sie wieder herstellen.“ Auch diese Verwandlung ähnelt Kafkas poetischem Verfahren. Literarische Phantasie und Theosophie scheinen sich darin nahe zu kommen, daß für beide Geistiges etwas Körperliches ist. Mit Max Brod könnte man diese Ähnlichkeit auf Kafkas naive Vorstellungsart zurückführen: „Mit Kafka über abstrakte Dinge zu reden, war fast unmöglich. Er dachte in Bildern und er sprach in Bildern.“97 Diese Erklärung bemüht vor allem Hartmut Binder immer wieder, um Kafkas Bild-Erfindungen zu charakterisieren.98 Meiner Ansicht nach greift eine solche Rückführung poetischer Verfahren auf die angebliche Naivität des Autors zu kurz. Zwar ähnelt die Naivität der Steiner-Adepten durchaus der kindlich-staunenden Haltung in Kafkas Texten. Die Steiner-Schüler wundern sich etwa darüber, daß die in den höheren Welten wohnenden Geister trotz der ihnen eigenen Übersinnlichkeit noch Theosophie-Vorträge hören wollen: „Haben sie es aber eigentlich nötig? Offenbar doch“. Wörtlicher und greifbarer sind auch Kafkas Gespenster nicht, von denen es in der Erzählung Unglücklichsein heißt: „Diese Gespenster scheinen über ihre Existenz mehr im Zweifel zu sein, als wir, was übrigens bei ihrer Hinfälligkeit kein Wunder ist.“99 Diese existenzphilosophischen Gespenster sind ebenso komisch wie die bildungshungrigen Geistwesen. Doch Steiners Schülern ist die Komik, die in ihren Vorstellungen liegt, nicht bewußt – im Gegensatz zu dem Autor, der ihre Verwunderung notiert und sie auf die Pointe hin zuspitzt. Seine Aufzeichnung nimmt das von den Steiner-Anhängern wörtlich Genommene als wirklich
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KKAT, S. 30-31; die folgende Zitate S. 32. Max Brod: Franz Kafka. Eine Biographie, New York 1946, S. 36. Vgl. z.B. H. Binder: „ ‚Wie die Planeten...‘ “, a.a.O., S. 38: „Da weiterführende Überlegungen zu einem Sachverhalt für Kafka vor allem an sinnlich vorstellbare Objekte gebunden sind, die als Vehikel der Argumentation übliche Allgemeinbegriffe ersetzen, müssen diese Denkhilfen solange verändert werden, bis sie das Gemeinte plastisch vorstellbar machen, auch wenn das Ergebnis dann Lebenserfahrung und Sinneswahrnehmungen widerspricht.“ E 24. Unglücklichsein ist bereits 1909 entstanden; der Schluß, aus dem der zitierte Satz stammt, wurde allerdings erst später angefügt (zwischen 1909 und 1911).
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Existierendes ernst. Die Komik, die sich darin vermittelt, entsteht also als Effekt sprachlicher Gestaltung, nicht einfach aus einer naiven Denkweise. Erst recht gilt dies von Kafkas selbst erfundenen Gespenstern. Sie sind keine Produkte einer kindlichen Einbildungskraft, sondern Sprach-Witze. Wenn die oben zitierten Spukwesen ihre eigene Existenz in Frage stellen, nehmen sie ihre Irrealität wörtlich. Sie richten die Behauptung ihrer Nicht-Existenz gegen sich selbst und lösen sich auf, nachdem sie festgestellt haben, daß sie gar nicht wirklich sind. Dabei weiß jedes Kind, daß der Satz ‚Gespenster gibt es nicht‘ noch niemals gegen dieselben geholfen hat. Kafkas Satz – „Diese Gespenster scheinen über ihre Existenz mehr im Zweifel zu sein, als wir“ – dreht diese Beziehung um. Indem der Glaube an sie in die Gespenster selbst hineinverlegt wird, können sie ihrer eigenen Existenz unsicher werden. Dieser Effekt entsteht aus einem sprachlichen Trick: Die Zweifel werden nicht als die der Gespenster behauptet, sondern nur als Mutmaßung des Erzählers vorgetragen („Diese Gespenster scheinen über ihre Existenz mehr im Zweifel zu sein, als wir ...“). Darauf folgt die Begründung für diese Vermutung – „... was übrigens bei ihrer Hinfälligkeit kein Wunder ist“ –, die plötzlich ein Wissen über Geisterwesen als anerkannt voraussetzt und ihre Existenz als Tatsache behauptet. Es ist allerdings eine Existenz, die bloß aus „Hinfälligkeit“ besteht. – Im Zuge dieser sprachlichen Auflösungsbewegung entstehen die Gespenster erst recht. Gerade in ihrem zweifelnden Nachdenken handeln sie gleichsam menschlich, sie werden personhaft. Die Besonderheit von Kafkas Schreibweise liegt demnach nicht schon im Wörtlichnehmen, in der Verwandlung von Geistigem in Körperliches. Sie liegt darin, was in dieser Verwandlungsoperation geschieht. Durch die naiv anmutende Redeweise entsteht ein witzig-verkehrtes Verhältnis zwischen Realität und Irrealität des Ausgesagten, das den Glauben an Gespenster und ihre Existenz in eine neue Beziehung bringt. 3.2.3.3 Die Erzählung Unglücklichsein: „Aber wie, wenn man überhaupt nicht an Gespenster glaubt?“ Im Anschluß an diese Beschäftigung mit dem theosophischen Okkultismus ließe sich die Erzählung Unglücklichsein (1909-1911) als eine verkehrte Séance beschreiben.100 Der Text ist eine literarische Geisterbeschwörung, die das Gespenst und die Geschichte, die davon erzählt, zugleich entstehen läßt. „Als es schon unerträglich geworden war – einmal gegen Abend im November – ...“ beginnt ein Erzähler-Ich, sich ein Gegenüber herbeizuschreiben, das „als kleines Gespenst“, ein Kind, in seinem Zimmer auftaucht.101 Im Dialog mit dem Erzähler 100
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E 20-25. Das Zitat „Aber wie...?“ E 24. - Zu Unglücklichsein vgl. ausführlich Sonja Dierks: Es gibt Gespenster. Betrachtungen zu Kafkas Erzählung, Würzburg 2003, v.a. S. 44f. E 20.
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entsteht das „Gespenst“ als rein sprachliche Realität, allein in Rede und Gegenrede zweier Akteure, die beide ihren Text vergessen zu haben scheinen und ihre Sätze aus denen des Gesprächspartners improvisieren müssen („Dann kommen Sie weiter ins Zimmer herein, ich möchte die Tür schließen.“ – „Die Tür habe ich jetzt gerade geschlossen. Machen Sie sich keine Mühe. Beruhigen Sie sich überhaupt.“ – „Reden Sie nicht von Mühe [...]“).102 Wer das Gespenst ist, bleibt unklar. Das Gespräch spinnt sich als Spiel um seine Identität weiter: vielleicht ist es der Erzähler selbst, als Kind? Vielleicht auch ein weibliches Wesen? Über diesem Spiel wird die Frage, ob es das Gespenst überhaupt gibt, vergessen, schließlich auch das Gespenst selbst. Der Erzähler verläßt das Zimmer. Draußen beginnt ein zweiter Dialog, diesmal mit einem Bekannten des Erzählers. Dieses Gespräch, das sich erneut dem Gespenst widmet, geht vom Zweifel an seiner Existenz aus. In einem aberwitzigen GegeneinanderAufschaukeln von Behauptungen über die Existenz von und den Glauben an Gespenster läßt die Unterhaltung den geisterhaften Besuch immer wirklicher werden („Ja meinen Sie denn, ich glaube an Gespenster? Was hilft mir aber dieses Nichtglauben?“).103 Wenn die Gesprächspartner über die Möglichkeiten diskutieren, es „aufzufüttern“, was immer ‚es‘ auch sei, dann tun ihre Sätze genau dies: Von der Behauptung aus, ein Gespenst im Zimmer gehabt zu haben, spielt die Vermutungs-Akrobatik so lange zwischen Glauben und Zweifel hin und her, bis das Gespenst im Sprach-Witz erst recht ‚lebendig‘ geworden ist. Allerdings nur als etwas, das sich im gegen die Gespenster gekehrten Gespensterglauben in „Hinfälligkeit“ aufgelöst hat. Nachdem auch dieses Spiel zu Ende ist, fühlt der Erzähler sich so verlassen, als ob es das Gespenst wirklich gegeben hätte. Der Séance ist die Geisterbeschwörung also gelungen. Das Gespenst ist durch die Sprach-Arbeit der Sätze erschienen, die ihre Voraussetzungen nicht behaupten, während sie sie weiterspinnen. Es konnte jedoch nur zur Erscheinung kommen, indem es ein Rätsel blieb, denn nur aus diesem Rätsel kann sich das Sprachspiel weiter entwickeln, das die Erscheinung herbeiholt. Dieses Gespenst hat nichts über die ‚Höheren Welten‘ berichten können, aus denen es womöglich kam. „Sie haben offenbar noch niemals mit Gespenstern gesprochen. Aus denen kann man ja niemals eine klare Auskunft bekommen. Das ist ein Hinundher.“104 Diese redselige Verschwiegenheit teilt das Gespenst aus Unglücklichsein mit allen phantastischen Sprachwesen in Kafkas Erzählungen.
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E 21. E 24. E 24.
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3.2.4 „Mein Besuch bei Dr. Steiner“: Inspiration und Theosophie Dem Unterschied zwischen Sprach-Gespenstern und theosophischen „Denkformen“ zum Trotz, scheint Kafkas Interesse an Steiners Lehre darin begründet zu sein, daß literarische Phantasie und Theosophie sich auf ‚höhere‘, andere Wirklichkeiten beziehen. Für Kafka sind dies Bereiche, die in Momenten der dichterischen Inspiration erreichbar werden. Dies geht aus der dritten Aufzeichnung hervor, die über eine Audienz bei Rudolf Steiner berichtet. Auch in diesem Eintrag findet keine Auseinandersetzung mit der Theosophie statt. Kafka notiert nur, was unmittelbar Bezug zu Literatur hat bzw. schon Literatur ist: eine genaue Beschreibung von Steiners Hotelzimmer, daran anschließend die vorformulierte Rede, in der er sein Anliegen erklärte: Mein Glück, meine Fähigkeiten und jede Möglichkeit irgendwie zu nützen liegen seit jeher im Litterarischen. Und hier habe ich allerdings Zustände erlebt (nicht viele) die meiner Meinung nach den von Ihnen Herr Doktor beschriebenen hellseherischen Zuständen sehr nahestehen, in welchen ich ganz und gar in jedem Einfall wohnte, aber jeden Einfall auch erfüllte und in welchen ich mich nicht nur an meinen Grenzen fühlte, sondern an den Grenzen des Menschlichen überhaupt. Nur die Ruhe der Begeisterung, wie sie dem Hellseher wahrscheinlich eigen ist, fehlte doch jenen Zuständen, wenn auch nicht ganz. Ich schließe dies daraus, daß ich das Beste meiner Arbeiten nicht in jenen Zuständen geschrieben habe.105
Kafka konsultiert Steiner als Spezialisten für den ‚anderen Zustand‘. An diesen richtet er die Frage, ob die Theosophie in der Lage sei, den Konflikt zu lösen, der zwischen seinem Drang zum „Litterarischen“ und seinem Brotberuf herrsche. Er äußert die Befürchtung, eine Hinwendung zur Theosophie werde das Problem nur verschlimmern, und schließt mit der Aufforderung, darüber beruhigt zu werden: „denn ich ahne, daß, wenn Sie mich dessen für fähig halten, ich es auch wirklich auf mich nehmen kann.“106 Ob und was Steiner hierauf geantwortet hat, verschweigt der Bericht. Es bleibt daher der Spekulation überlassen, wie der Zusammenhang zwischen den ‚Höheren Welten‘ und den Transzendenzerfahrungen der poetischen Inspiration zu denken wäre. Auffallend ist, daß Kafka seine „Zustände“ zwar mit dem Hellsehen vergleicht, die Inspiration jedoch nicht als Sehen, als visionäres Erleben beschreibt, sondern als Körpergefühl. Mit dem inspirierten „Einfall“ tritt der Schreibende in ein körperliches Verhältnis, er „bewohnt“ und „erfüllt“ ihn. In dieser Vorstellung wird der Einfall selbst zu einer Art Körper, d.h. zu etwas räumlich Ausgedehntem. Er bietet dem Ich Raum, als etwas dem Ich Äußerliches, zugleich ist der Einfall aber auch das Ich selbst, das ihn mit sich erfüllt. Dieses Verhältnis erlaubt dem Schreibenden, in einen anderen, zweiten Körper überzugehen. Der Einfall erscheint wie eine Haut, die dem Ich erlaubt, seine 105 106
KKAT, S. 34, Z. 6-19. KKAT, S. 35.
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Ausdehnung zu erweitern bis zu seinen „Grenzen“ und „den Grenzen des Menschlichen überhaupt“. Zugleich vervielfacht sich das Ich, indem es „jeden“ der Einfälle „ganz und gar“ einnimmt. Auch in anderen Tagebucheinträgen wird das Verhältnis zwischen Ich und Schreiben als ein körperhaftes vorgestellt und mit Körpermetaphern bezeichnet. In dem Eintrag über die Mitsutas etwa ist das Schreiben eine körperliche Arbeit. Das Autor-Ich wird als ein Körper imaginiert, der sich wiederum an dem anderen Körper, dem Einfall, festhalten will. Das Schreiben dient hier ebensowohl dem Fixieren des Themas wie der Fixierung des Ich. Auf das Problem des Schreibenkönnens bezogen, hieße das, daß das inspirierte Schreiben von dem Zustandekommen einer körperlichen Beziehung des Autor-Ich zu seinen Produktionen abhinge. Waldemar Fromm hat daher die These aufgestellt, daß das gelingende Schreiben sich für Kafka als Körpergefühl ausweisen müsse.107 Anne Rother hat von einem ähnlichen Gedanken her ein Programm für die Entwicklung von erzähltechnischen Verfahren formuliert. Um ein Schreiben zu ermöglichen, das es dem Ich erlaube, mit dem Geschriebenen in ein körperliches Verhältnis zu treten, müsse der Text selbst körperhafte Qualitäten gewinnen.108 Dementsprechend analysiert Rother die Textbewegungen als Figurationen von Körpervorgängen. Wenn etwa in einem Tagebucheintrag die Rede von einer Verdauungsstörung sei, so inszeniere diese Rede die Verstopfung, von der sie spreche, und versuche so, die Hemmung des Schreibens aufzulösen und aus den abbrechenden Schreibversuchen einen fließenden Text zu machen. Diesen fließenden Schreibvorgang beschreibt Rother mit der Metapher des Atems. Die Entwicklung der Erzählverfahren in Kafkas frühen Tagebüchern sei als der Prozeß beschreibbar, wie Kafka erlerne, den Schreib-Atem strömen zu lassen.109 Mir erscheint an diesen Reflexionen über Körper und Schrift die Idee der Figuration problematisch, insbesondere bei Anne Rother. Ihre Lesart bildet Schrift und Körper allzu direkt aufeinander ab, indem sie den Text als Körper figuriert, um daraus wiederum die Körperhaftigkeit des Schreibens abzulesen. Ich bin dagegen der Meinung, daß die Textbewegungen nichts figurieren, sondern Dynamiken und Spannungszustände erzeugen. In diesem Zusammenhang ist ‚Körperhaftigkeit‘ in der Tat ein wichtiger Gesichtspunkt. Sie läßt sich sowohl auf
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W. Fromm, a.a.O., S. 40; vgl. auch S. 35: „Das Schreiben wird quasi-organisch verstanden.“ A. Rother, a.a.O., S. 15. A. Rother, a.a.O., S. 15-21. Rother untersucht die Abfolge der Einträge in Kafkas ersten Tagebüchern und sieht darin eine Entwicklung, die von abgehackten, kurzen Notaten zu längeren Schreib- und Textbewegungen führt. Diese Entwicklung beschreibt sie mit Metaphern des Theaters. Der Autor gleiche einem Schauspielschüler, der vor dem Sprechen zunächst das Atmen lernen müsse. Erst dann könne es ihm gelingen, in der Inszenierung szenischer Abläufe Bühnenwirklichkeiten entstehen zu lassen, auf denen sich schließlich das Autor-Ich selbst in Szene setze. Beginn und Grundlage dieser Arbeit des textuellen Inszenierens ist für Rother der Körper.
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das plastisch-veranschaulichende Verfahren der Verkörperung beziehen, als auch auf die gestische Qualität von Textbewegungen. Im übrigen macht Kafkas Aufzeichnung über die „hellseherischen Zustände“ ganz direkt deutlich, daß das gelingende Schreiben nicht ausschließlich an körperlich empfundene Elevations-Zustände gebunden werden kann: „dies schließe ich daraus, daß ich das Beste meiner Arbeiten nicht in jenen Zuständen geschrieben habe“.110 Um das gelingende Schreiben zu erreichen, bleibt also nach wie vor nur die Übung an der Form. Diese Arbeit nimmt in dem Eintrag über Steiner zwei unterschiedliche Richtungen. Die Aufzeichnung widmet sich zum einen der Wiedergabe der sorgfältig „vorbereiteten Ansprache“, zum anderen der genauen Notation des Beobachteten. Im ersten Fall, der Ansprache, gilt die Arbeit der Literarisierung der Darstellung des abstrakten Konflikts zwischen Literatur und Beruf sowie der Schilderung der inneren Vorgänge mit den Mitteln der verkörpernd-verlebendigen Redeweise. Die „Verwirrung“ zwischen Literatur und Beruf wird als Eifersuchtsdrama inszeniert; mit dem Hinzutreten der Theosophie wird diese szenische Imagination zu einer Geschichte ausgesponnen. Am Ende steht das Ich als Anführer von drei ineinander verhakten Bestrebungen mit seiner Frage vor Steiner. An der Form dieser sorgfältig „vorbereiteten Ansprache“ läßt sich zeigen, daß der ‚strömende‘ Ablauf der Rede weniger auf eine wie immer geartete Körperhaftigkeit des Textes zurückzuführen ist, als vielmehr auf die Art und Weise, wie Vorstellungen entwickelt und zu einem narrativen Ablauf verbunden werden. Die fortschreitende Entwicklung von Bild- und Gedanken-Verkettungen ist die Grundlage für jene Qualität des Schreibens, die Kafkas spätere Texte ‚atmen‘ läßt. Dieser ‚Atem‘ sollte nicht als Körpervorgang, sondern als literarische Technik verstanden werden. Sprachliche Prozesse bauen die Vorstellungsbilder Schritt für Schritt auf und entwickeln die Sätze wie in einem Atemzug, so daß der Leser mitgezogen und keinen Moment aus der imaginativen Dynamik entlassen wird. Körperhaft sind solche Texte, insofern die Satzformen an einem Ideal der Vortragbarkeit, d.h. an Stimme und Melodie ausgerichtet sind. Es sind Texte, die ‚mit dem Ohr‘ geschrieben wurden, wie Malcolm Pasley gezeigt hat, und die fürs Zuhören gemacht sind.111 Ihre Bewegung ist die eines progressiven Erfindens und Phantasierens, kein Körpervorgang.
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Vgl. einen Tagebucheintrag vom 15.11. 1911, KKAT, S. 250f.: „Es liegt natürlich zum großen Teil daran, daß ich frei vom Papier nur in der Zeit der Erhebung [...] Gutes erfinde, daß dann aber die Fülle so groß ist, daß ich verzichten muß, blindlings also nehme nur dem Zufall nach, aus der Strömung heraus, griffweise, so daß diese Erwerbung beim überlegten Niederschreiben nichts ist im Vergleich zur Fülle, in der sie lebte, unfähig ist, diese Fülle herbeizubringen und daher schlecht und störend ist, weil sie nutzlos lockt.“ Malcolm Pasley: „Schreiben mit dem Ohr: Kafkas Interpunktion“, in: ders., „Die Schrift ist unveränderlich...“: Essays zu Kafka, Frankfurt/M. 1995, S. 121-144.
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Neben der Wiedergabe der „Ansprache“ beschäftigt sich die Aufzeichnung ausführlich mit dem Sichtbaren. Der Bericht registriert Details, die der Besucher in Steiners Hotelzimmer und an seiner Erscheinung entdeckt. Ein scharfer Blick erfaßt die ‚andere Seite‘ des erleuchteten Meisters: nicht die mystische, sondern die alltägliche. Der Anzug ist „staubig und sogar fleckig“, die Publikationen mit seinen übersinnlichen Erkenntnissen liegen auf einem „kleinen Haufen Bücher, die auch sonst herumzuliegen scheinen“. Von der Aura des beeindruckenden Redners bleibt nichts übrig; auch sein Blick, der den Besucher „zu halten“ versucht, hat keine Wirkung. Der Schreibende scheint diese Entzauberung geradezu absichtsvoll zu betreiben. In scharfem Kontrast zu den Hoffnungen, die seine Rede äußert, setzt er nach dem Ende dieser Rede, an eben die Stelle, an der Steiners Antwort stehen müßte, eine Beschreibung des Meisters beim Zuhören. Auch sie verbleibt ganz beim Äußerlichen: Er hörte äußerst aufmerksam zu, ohne mich offenbar im geringsten zu beobachten, ganz meinen Worten hingegeben. Er nickte von Zeit zu Zeit, was er scheinbar für ein Hilfsmittel einer starken Koncentration hält. Am Anfang störte ihn ein stiller Schnupfen, es rann ihm aus der Nase, immerfort arbeitete er mit dem Taschentuch bis tief in die Nase hinein, einen Finger an jedem Nasenloch112
Schritt für Schritt wandelt sich die Beschreibung der Aufmerksamkeit des Zuhörers zur Beobachtung seiner Körperlichkeit. Am Anfang kann die Hoffnung des Ratsuchenden sich noch an das genaue Zuhören halten, doch in der Folge wird aus der Konzentration nur noch Kopfnicken, und mit dem Naseputzen wird die Hoffnung auf eine Antwort schließlich enttäuscht. Zugleich, beinahe wie aus Rache, wird Steiner mit diesem peinlich berührenden Schlußtableau endgültig lächerlich gemacht. Das Auseinanderfallen von Geistigem und Körperlichem zeigt sich damit ein letztes Mal als die typische Signatur der SteinerAufzeichnungen. Jede von ihnen beschreibt eine Doppelbewegung: zwischen ‚Höheren Welten‘ und diesseitiger Komik, zwischen Alltag und Weisheit, zwischen Inspiration und nüchterner Beschreibung. 3.2.5 Ausblick An Kafkas Aufzeichnungen zu Rudolf Steiners Prager Aufenthalt läßt sich zeigen, was die diaristischen Notizen mit den Entwürfen für fiktionale Texte verbindet: In den Beschreibungsübungen ist ebensoviel Phantasie-Arbeit zu beobachten wie in den ‚Übungen im Erfinden‘. In der literarisierenden Aufzeichnung kommen dieselben imaginativen Verfahren zum Einsatz, die ich im ersten Teil dieses Kapitels als ‚Techniken des Erfindens‘, als Mittel der phantasierenden Texterzeugung beschrieben habe. Die Analyse dieser Verfahren ist im Falle von 112
KKAT, S. 35, Z. 19-26. Die Eintragung bricht hier ab.
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Kafkas Auseinandersetzung mit der Theosophie besonders aufschlußreich, weil die theosophische Lehre die Beziehung von Körper und Geist betrifft, während die Verwandlung von Geistigem in Körperliches, die ‚plastisirende‘ Figuration, das Beschreibungsverfahren bildet. In dieser Konstellation entsteht eine Überkreuz-Lage von höheren und diesseitigen Welten, zwischen der Beschreibung von Transzendenzerfahrungen in der dichterischen Inspiration und der banalsten Alltäglichkeit. In dieser Verquickung wird sichtbar, wie Phantasie und Phantastik sich zu einander verhalten können. Vermittelt über die Erzählung Unglücklichsein, eignen sich die ‚Höheren Welten‘ des theosophischen Okkultismus, um die Verbindung zu den Metamorphosen des phantastischen Erzählens seit der Beschreibung eines Kampfes herzustellen. Auch die Schreibübungen des Tagebuchs haben also an der Weiterentwicklung eines phantastischen Erzählens teil, obwohl Phantastik hier kein bewußt verfolgtes Ziel ist. Die Steiner-Aufzeichnungen sind ein Beispiel, an dem sich nachvollziehen läßt, unter welchen Vorzeichen die Arbeit an der Beschreibung Eingang in das Tagebuch findet. Die Techniken des Beschreibens stehen hier noch nicht im Vordergrund. Die Beschreibung interessiert den Tagebuchschreiber im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit Steiner nicht als solche; sie ist einfach das, was von der Beschäftigung mit den ‚Höheren Welten‘ übrigbleibt. In Fortsetzung dieser Richtung auf das Diesseitige hin werde ich mich in den folgenden Abschnitten Kafkas literarischer Arbeit an der Beschreibung zuwenden. 3.3 Postkutschen-Perspektive und Augenblicksbeobachtung: Reflexionen über Schreiben und Sehen bei der Lektüre von Goethes Reisetagebüchern 3.3.1 Die Postkutschenfahrt oder: Wie Bewegung in den Satz kommt In Kafkas „Besuch bei Dr. Steiner“ gerät die Beschreibung von Steiners äußerer Erscheinung wie unabsichtlich, als Ersatz für eine inhaltliche Auseinandersetzung hinein. Einige Monate später wird die Beschreibung des Sichtbaren selbst zum
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Gegenstand einer Auseinandersetzung im Tagebuch. Beobachtung ist das Thema einer Aufzeichnung vom 29. September 1911 über einen Reisebericht Goethes.113 Reisebeobachtungen Goethes anders als die heutigen, weil sie aus einer Postkutsche gemacht mit den langsamen Veränderungen des Geländes sich einfacher entwickeln und viel leichter selbst von demjenigen verfolgt werden können, der jene Gegenden nicht kennt. Ein ruhiges förmlich landschaftliches Denken tritt ein. Da die Gegend unbeschädigt in ihrem eingeborenen Charakter dem Insassen des Wagens sich darbietet und auch die Landstraßen das Land viel natürlicher schneiden als die Eisenbahnstrecken, zu denen sie vielleicht im gleichen Verhältnisse stehn wie Flüsse zu Kanälen, so braucht es auch beim Beschauer keine Gewalttätigkeiten und er kann ohne große Mühe systematisch sehn. Augenblicksbeobachtungen gibt es daher wenige, meist nur in Innenräumen wo bestimmte Menschen gleich grenzenlos einem vor den Augen aufbrausen z.B. österreichische Officiere in Heidelberg, dagegen ist die Stelle von den Männern in Wiesenheim der Landschaft näher „sie tragen blaue Röcke und mit gewirkten Blumen verzierte weiße Westen“ (nach dem Gedächtnis citiert). Viel über den Rheinfall bei Schaffhausen niedergeschrieben mitten drin in größeren Buchstaben „Erregte Ideen“114
Kafka liest aus Goethes Aufzeichnungen eine Art zu sehen. Diese führt er auf das Verkehrsmittel zurück, das den Reisenden transportiert. Goethes Reisebeschreibung wird so zum Anlaß, über die Beziehung zwischen Bewegung und Blick nachzudenken. Kafka beschreibt sie als Kausalverbindung: Die langsame Fahrt in der Postkutsche bedinge ein Sehen, das sich allmählich entwickele; die so entstandene Landschaftsschilderung wiederum mache es dem Leser leicht, die Beobachtungen des Reisenden nachzuvollziehen. Im Hinblick auf die sprachlichen Mittel dieser Reflexion scheint mir vor allem die Art und Weise interessant, wie Kafka die Kausalverbindung etabliert.
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Kafka bezieht sich auf Goethes Reise in die Schweiz von 1797, die über Frankfurt, Heidelberg, Stuttgart und Tübingen führte. - Die Beschäftigung mit Goethes autobiographischen Schriften dient Kafka wiederholt zur Spiegelung des eigenen Tagebuchschreibens. Die Aufzeichnung von 1911 geht von einer Reflexion dieser Beziehung aus und bringt die Position des Lesers eines Tagebuches mit dem Führen eines eigenen Tagebuchs in Zusammenhang. („29. IX 11 Goethes Tagebücher: Ein Mensch, der kein Tagebuch hat, ist einem Tagebuch gegenüber in einer falschen Position. Wenn er z.B. in Goethes Tagebüchern liest, ‚11.1 1797 den ganzen Tag zuhause mit verschiedenen Anordnungen beschäftigt‘ so scheint es ihm, er selbst hätte noch niemals an einem Tag so wenig gemacht.“ KKAT, S. 42). - Im Dezember 1910 verzeichnet Kafka eine Reflexion zur Lektüre von Goethes „Tagebüchern“ und korrigiert sie tags darauf (19. u. 20.12. 1910, KKAT, S. 135). 1911/12 thematisieren mehrere Einträge Kafkas Lektüreerfahrungen mit „Dichtung und Wahrheit“ (26. u. 29.12. 1911, 5. u. 8.2. 1912.) - Kafkas Auseinandersetzung mit anderen Schriften Goethes ist ebenfalls im Tagebuch dokumentiert. Vgl. M. Jurgensen, a.a.O., S. 149f. u. S. 164-169, der die „entscheidende Begegnung mit Goethe“ als „zentrale literarische Auseinandersetzung“ bewertet (S. 150); außerdem G. Guntermann, a.a.O., S. 127-131; Bert Nagel, Kafka und die Weltliteratur: Zusammenhänge und Wechselwirkungen, München 1983, S. 170-208, sowie F. Bancaud, S. 128 u. 167-193 (Goethe, Flaubert, Kleist u.a. als Modelle für die Auseinandersetzung mit dem eigenen Schreiben). KKAT, S. 42, Z. 19 - S. 43, Z.15.
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Die Bewegung der Postkutsche verursacht die allmähliche Entwicklung der Beobachtungen. Die Bewegung aber, die Kafkas Satz benennt, ist nicht die des Gefährts, sondern die der Landschaft vor dem Fenster: die „langsamen Veränderungen des Geländes“ (Hervorh. v. mir). Kafkas Beschreibung von Goethes Reisebeschreibung nimmt die Perspektive des „Insassen“ der Kutsche ein, dem draußen die Aussicht vorüberzieht. An deren Veränderung koppelt die Präposition „mit“ die Wahrnehmungen des Beobachters, die sich ihrerseits in einem beweglichen Prozeß befinden: sie „entwickeln“ sich. Die Bewegung der Fahrt wird also in zwei neuen Bewegungen gespiegelt, in den Veränderungen der Aussicht und in der Entwicklung der Gedanken. Diese beiden Bewegungen bringt der Satz in ein Interdependenz-Verhältnis: „Veränderung“ und „sich [...] entwickeln“ werden synchron und zugleich kausal verknüpft, vor allem durch die Epitheta, welche die „langsamen“ Umgestaltungen mit der „einfacher[en]“ Entwicklung der Beobachtung verbinden. Weil die „Reisebeobachtungen“ Subjekt des Satzes sind, kann ihre Bewegung – und nicht die der Postkutsche – mit einem Verb (sich entwickeln) und damit als eine Form von Handlung bezeichnet werden. An diese Handlung schließt sich eine weitere an. Die allmählich sich bildenden Beobachtungen werden von einem imaginierten Leser „verfolgt“. Mittels der Bewegungsverben setzt sich die Übertragung von der Postkutschen-Bewegung auf die Gedanken des reisenden Beobachters (sich entwickeln) in die Gedanken der lesend nachvollziehenden Figur hinein fort (verfolgen). Unterstützt wird dieser Übergang durch die Spiegelung „einfacher – leichter“, die erneut ein Kausalitätsverhältnis herstellt. Der lesende Nachvollzug gestaltet sich um so „viel leichter“, wie die langsame Veränderung der Landschaft die Entwicklung der Beobachtung „einfacher“ gemacht hat. Aus der grammatischen Konstruktion geht auf diese Weise eine Kette synchronisierter Abläufe hervor. Diese Verkettung gestaltet die Kausalverbindung, von der die Rede ist, als Folge von sich aus einander ergebenden Handlungen. Sie temporalisiert und dynamisiert die Goethesche „Beobachtung“ und erzählt sie als Geschichte einer Wahrnehmung. Zugleich imaginiert sie den Prozeß einer Lektüre dieser Reisebeobachtungen als Bewegung. Auf diesen Ablauf folgt ein Resultat: „Ein ruhiges förmlich landschaftliches Denken tritt ein.“ Das neue Satz-Subjekt „Denken“ umgreift die Wahrnehmung des Reisenden und die des vorgestellten Lesers. Innen und Außen vertauschend, werden diesem Denken die Qualitäten der Landschaft zugeschrieben, die es betrachtet. Diese Verwandlung des Denkens in Landschaft geht auf die ruhige und allmähliche Bewegung der Veränderung zurück, die den ganzen Ablauf durchzieht. Die Qualität der Ruhe schließt „Denken“ und „Gelände“ in wechselseitiger Spiegelung von Außen und Innen zur „landschaftlichen“ Wahrnehmung zusammen. Die Wendung „tritt ein“ verstärkt den Eindruck einer sich wie von selbst ergebenden Konsequenz. – Auf ähnliche Weise inszenieren die folgenden Sätze eine zweite Kette von wie natürlich aneinander geschlossenen
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Folgen. Das Verhältnis der Landstraßen zur „Gegend“ wird mit dem Charakter der Beobachtung in Verbindung gebracht und als natürliches dem gewaltsamen Eingriff der Eisenbahnstrecken entgegengestellt. Die Verben (sich darbieten, schneiden) übertragen die Handlung auf Straßen und Gegend, als wären sie es, die sich bewegen, nicht die fahrende Kutsche. Durch eine Reihe von überkreuz aufeinander bezogenen Kennzeichnungen („unbeschädigt“, „eingeboren“, „viel natürlicher“, „keine Gewalttätigkeiten“, „ohne große Mühe“), unterstützt von dem Vergleich „wie Flüsse zu Kanälen“, werden die Bewegungen der Streckenführung mit der Wahrnehmung verbunden. So ergibt sich aus dem natürlichen Verhältnis der Landstraßen zur Landschaft wie von selbst ein ebenso natürlicher Bezug des Sehens zur Landschaft. Kafkas ‚Beschreibung der Beschreibung‘ ist mehr als eine theoretische Reflexion der Beziehung zwischen Transportvehikel und Wahrnehmung. Die Verbindung von Bewegung und Beobachtung wird hier nicht nur behauptet, sie wird hergestellt und vorgeführt. Die Beschreibung wird dabei zum mimetischen Abbild des Vorgangs selbst: Sie stellt für Kafkas Leser die Postkutschenfahrt wieder her. Dies leistet sie, ohne eigentlich die Fahrt, die Goetheschen Beobachtungen oder die Landschaft zu beschreiben. Nicht über die Mimesis des Fahrens wird Bewegung in den Satz geholt, sondern allein vermittelt über die allmähliche Entfaltung von Bildfolgen und Satzgefügen, d.h. durch einen Vorgang, in dem sich die beschriebene Entwicklung der Landschaft und des Sehens mit der allmählichen Entwicklung der Beschreibung selbst verknüpft. Die Reflexion über Goethes Reisebeobachtung dient der Fixierung eines Gedankens und zugleich dessen literarisierender Inszenierung. Die Formulierung der Lektüre-Erfahrung wird zur Ausarbeitung der eigenen sprachlichen Techniken.115 Diese haben allerdings mit Goethes Verfahren nichts gemein. Ebensowenig mit der Beschreibung von Sichtbarem. Beschrieben wird hier keine Wahrnehmung, sondern eine andere Beschreibung, nichts Gesehenes, sondern eine Lektüre. Dennoch lassen sich von dieser Schreibübung aus Verbindungen zu Kafkas Beschreibungen des Sichtbaren ziehen. Wenn Kafka die Goethe-Perspektive, in der Ich und Natur einander harmonisch antworten, auf die Vermittler und Vehikel der Wahrnehmung zurückführt, benennt er eine Beziehung, die auch für seine eigenen Texte wichtig ist. Wie an den Prosastücken Der Kaufmann und Der Fahrgast gezeigt, geraten in der technisch vermittelten Transportbewegung die Kategorien der Anschauung, Zeit und Raum, selbst in Bewegung. In jeder Art 115
Ähnliche Phänomene finden sich in Kafkas Lektürenotizen und Rezensionen immer wieder. Diese Texte gehen meistens von einem Lese-Eindruck aus, der als Geschichte erzählt und in Bildern beschrieben wird, welche den Inhalt des Gelesenen ineins mit der Rezeptionserfahrung darstellen. In Kafkas Rezension zu Max Brods Roman Jüdinnen etwa wird die Lektüre des Romans als ein Karussell-Tanz der Hauptfiguren inszeniert, wobei zugleich Struktur und Wirkungsabsicht des Buches zur Anschauung gebracht werden (undatierte Tagebucheintragung nach dem 26.3. 1911, KKAT, S. 159f.).
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von Reise, ob in der Postkutsche, der Straßenbahn oder im Aufzug gemacht, verschieben sich die Ordnungen von Innen und Außen. Der Goethe-Eintrag reflektiert diese Beziehung, indem er das Mittel der Fortbewegung als ein optisches Medium beschreibt. Die Postkutsche wird von Kafkas Satz als Perspektive und als Perspektiv benutzt, als wäre sie ein Augenglas, durch das gesehen die „Gegend“ sich in (ästhetische) „Landschaft“ verwandelt, und das eine harmonische Korrespondenz und Kommunikation zwischen Ich und Außenwelt erzeugt. Dieser scheinbar natürliche Zusammenhang ist ein Gegenbild zum Auseinanderfallen von Wirklichkeit und subjektiver Wahrnehmung, wie sie das Rathausplatz-Erlebnis des Beters in der Beschreibung eines Kampfes darstellt. In einer anderen Hinsicht aber ähnelt Kafka die beiden Wahrnehmungsweisen einander an. Sowohl für den von Kafka beschriebenen Goethe als auch für den Beter – und auch, wie noch zu zeigen sein wird, für das in Kafkas Tagebuch beobachtende Ich – ist das Sehen der Wirklichkeit vom Ich abhängig, organisiert die subjektive Wahrnehmung das Wahrgenommene als Kommunikation zwischen Innen und Außen, als „Betrachtung“. 3.3.2 Die Augenblicksbeobachtung oder: Wie das Flüchtige ins Bild kommt Dem Postkutschen-Ideal eines „systematischen“, von selbst geordneten, natürlichen Sehens stellt Kafka eine Art des Sehens gegenüber, die er bei Goethe nur in vereinzelten Beispielen findet: „Augenblicksbeobachtungen“. Ihr Gegenstand sind nicht Landschaften, sondern Menschen, die – Kafkas Beschreibung seines Lektüreeindrucks zufolge – „gleich grenzenlos einem vor Augen aufbrausen“. Diese Augenblicksbeobachtungen sind punktuell statt ausgedehnt, gewaltsam statt naturhaft, überwältigend statt distanzierend. Sie entstehen „meist nur in Innenräumen“, wo dem Betrachter weder Raum noch – im Augenblick – Zeit bleibt, um einen Überblick zu gewinnen. Nur im Mikroskopischen einer Westenstickerei kann sich hier noch jenes „der Landschaft näher[e]“, ausgebreitete Sehen entfalten. Die „Augenblicksbeobachtungen“ und ihr Korrelat, die Details erfassende Nahsicht, können – in Fortsetzung von Kafkas Reflexion über die Bedingtheit der Wahrnehmung – als eine Betrachtungsweise bezeichnet werden, die statt der Postkutschenära dem modernen Eisenbahnzeitalter entspricht, das nur abgerissene, unzusammenhängende und flüchtige Wahrnehmungen zuläßt. Kafkas Interesse an dieser Art des Sehens bei Goethe ist durch die eigene Praxis motiviert. Hanns Zischler hat auf den Zusammenhang des GoetheEintrags zu Kafkas eigenen Reisebeobachtungen aus dem Pariser Tagebuch hingewiesen: „Wenige Tage nach Beendigung der Reise [...] denkt Kafka bei der Lektüre von Goethes Tagebüchern über die von Technik, Geschwindigkeit und der begradigten Landschaft bewirkte Veränderung der Wahrnehmung beim
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Reisen nach. [...] Die Lektüre kommt wie gerufen, um die Beschreibung des gestrichelten und zu Einzelheiten zerfallenden Paris nachträglich zu legitimieren und zu bekräftigen.“116 Paris ist in Kafkas Reisetagebuch von 1911 eine Ansammlung von „Augenblicksbeobachtungen“. Zischler nähert diese Wahrnehmungsweise metaphorisch den modernen Bildmedien Fotografie und Kino an, er bemerkt „Einzelbilder“, „Sekundenbilder“, ein „Schreiben wie unter Blitzlicht“.117 Die moderne Großstadt mit ihrem beschleunigten Verkehr macht eine zusammenhängende, in allmählicher Entwicklung ausgebreitete Betrachtung unmöglich. In der Beschäftigung mit einer Wahrnehmung, die gewaltsam und ohne Distanz auf den Betrachter eindringt, reflektiert Kafka also implizit die Bedingungen seines eigenen Schreibens. Diese Reflexion geht über den von Zischler benannten Versuch hinaus, das Auseinanderfallen der Paris-Aufzeichnungen ‚e contrario‘ zu legitimieren. Die „Augenblicksbeobachtungen“, die Kafka bei Goethe findet, taugen nicht nur zur Spiegelung der eigenen Praxis, sondern auch dazu, eine gültige Form für dieses augenblickshafte Schreiben zu finden. Diese Dimension von Kafkas Beschäftigung mit Goethes Reisebeobachtungen wird in einem kurzen Nachtrag zu der oben zitierten Eintragung sichtbar. zu Goethe: [...] Die vereinzelte Augenblicksbeobachtung „Kastagnettenrhythmus der Kinder in Holzschuhen“ hat eine solche Wirkung gemacht, ist so allgemein angenommen, daß es undenkbar ist, daß jemand, wenn er auch diese Bemerkung niemals gelesen hätte, diese Beobachtung als eigene Originalidee fühlen könnte.118
Die Augenblicksbeobachtung ist nicht nur eine Wahrnehmungsweise, sondern auch eine sprachliche Form. Goethes Wort faßt das Wahrgenommene in verkürzter und verdichteter Formulierung als momenthaftes Bild. Die Qualität dieses Sprachbilds zeigt sich für Kafka in seiner Wirkung. Das Vergleichsbild „Kastagnettenrhythmus“ ist so überzeugend, daß es als immer schon bekannt, als nahezu sprichwörtlich erscheinen kann. Dieser Effekt beruht auf einer besonders engen Verbindung der beiden Vergleichsglieder. „Kastagnettenrhythmus“ und „Holzschuhe“ sind unmittelbar zusammengeschlossen, gekürzt um die Nennung des Geräuschs und der Handlung, welche die Grundlage des Vergleichs ausmachen. Laufen und Klappern werden nicht mehr eigens bezeichnet, sondern allein durch den Bezug des „Rhythmus“ auf die „Kinder“ gesetzt. Diese kurzgeschlossene Verbindung wirkt prägnant und eindrücklich. Darüber hinaus führt der Vergleich die Verbindung von Holz-Schuhen und Holz-Klappern auch als lautliche Assoziation vor. Das lautmalerische „Kastagnetten“ und die
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Hanns Zischler: Kafka geht ins Kino, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 75f. Das ‚gestrichelte‘ Paris ist ein Zitat aus Kafkas Reisetagebuch. H. Zischler, a.a.O., S. 76 u. 78. Tagebucheintragung vom 1.10. 1911, KKAT, S. 49.
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alliterierenden K-Laute (Kastagnetten/Kinder) ergeben den auditiven Eindruck, von dem die Rede ist.119 Diese Direktverbindungen, in denen die Beziehungen zwischen den Vergleichsebenen zugleich sinn- und sinnenfällig werden, so daß sich die beiden Ebenen gar nicht mehr voneinander ablösen lassen, sind für Kafkas Sprachbilder von großer Bedeutung. Seine mehrschichtigen Vergleiche verbinden die Bildbereiche in einer so anschaulich wirkenden wie folgerichtig erscheinenden Überblendung, als würde eine Vorstellung die andere wie von selbst nach sich ziehen. Das zitierte Goethe-Beispiel zeigt eine solche Überblendungstechnik als Beschreibungsverfahren. Goethes Formulierung etabliert eine augenblicksweise, gleichsam in einem Griff zusammengezogene Verbindung zwischen dem objektiven Geschehen und seiner Spiegelung in der subjektiven Wahrnehmung. Die Augenblicksbeobachtung wird dadurch doppelseitig. Sie beschreibt im momenthaften Bild zugleich einen Sachverhalt und den Wahrnehmungseindruck des Beobachters, dem das Wahrgenommene in charakteristischer Weise zu Bewußtsein kommt. Ähnlich ‚doppelseitige‘ Formen der Beobachtung entwickeln Kafkas Beschreibungsübungen im Tagebuch. Die Auseinandersetzung mit Goethe ist Teil dieses Prozesses. An ihr ist keine allein gültige Form der Augenblicksbeobachtung ablesbar. Sie zeigt bestimmte Momente von Verwandtschaft, eine Annäherung von Verfahren in der Spiegelung des Eigenen im Anderen. Goethe hat weder am Anfang der Entwicklung von Techniken der Beschreibung und Beobachtung in Kafkas Schreiben gestanden, noch wird er von Kafka als Vorbild in Anspruch genommen. Dies wäre schon allein deshalb kaum möglich, weil der Eintrag die Goethesche Wendung als unwiederholbar bezeichnet. Unbeschadet dessen werden in der Bewunderung ästhetische Maßstäbe sichtbar. Die von Kafka hervorgehobene, unnachahmliche Qualität des Goethe-Wortes beruht – Kafka zufolge – nicht auf Originalität, sondern auf Eindrücklichkeit und Wirkungsmacht, auf der Tatsache, daß die Vergleichsidee sprichwörtlich werden kann. Weil sie so naheliegend und zugleich so treffend erscheint, kann sie sich der Sprache und dem allgemeinen Bewußtsein einprägen und zum kollektiven déjà-vu werden. Diese sprachprägende Kraft kann ebensowenig nachgeahmt werden wie das treffende Wort. Insofern taugt Goethes Vorbild nicht als Handlungsanleitung, zumal für einen Autor wie Kafka, der sich bewußt ist, nurmehr eine Sprache aus
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Die Augenblicksbeobachtung ist, wie dieses Beispiel zeigt, nicht notwendig eine visuelle Wahrnehmung. In Kafkas Tagebüchern finden sich viele Notizen, die akustische Eindrücke erfassen. Dies ist in der Forschungsliteratur zur Wahrnehmung bei Kafka, die vom Primat des Sehens ausgeht, kaum beachtet worden. Das Ohr bietet in viel stärkerem Maße als das Auge die Möglichkeit einer simultanen Erfassung von Eindrücken, was von großer Bedeutung für Kafkas Darstellungstechnik ist (vgl. dazu Kap. IV).
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zweiter Hand zur Verfügung zu haben.120 Dennoch ist Kafkas Verfahren dem bei Goethe bewunderten durchaus ähnlich. Denn seine Vergleiche gehen genau den umgekehrten Weg. Sie gehen vom Sprichwort aus und benutzen das déjà-vu des Klischees, um es mit präzise erfaßter Anschauung zu verbinden. Auf diese Weise entstehen neue Bilder, die ihre Eindrücklichkeit daraus gewinnen, daß sie auf bereits bekannte Vorstellungen rekurrieren. In Anklängen an Gemeinplätze, Redensarten oder Embleme werden Assoziationen wachgerufen, um deren Sinndimensionen der Leser das Bild ergänzt, ohne dies überhaupt zu bemerken. 3.3.3 Augenblicksbeobachtungen in Kafkas Tagebuch Im Sommer 1911, vor und nach der Reise nach Italien und Paris, nehmen die „Augenblicksbeobachtungen“ im Tagebuch deutlich zu. Nicht nur im Reisetagebuch, auch zu Hause notiert Kafka immer häufiger Gesehenes und Gehörtes. Diese Funktion des Tagebuchs als Notizheft ist neu. Im Vergleich mit den Reiseaufzeichnungen sind die Notizen im Tagebuch weniger bruchstückhaft. Obgleich auch sie von momenthaften Bildern und isoliert erfaßten Details ausgehen, ist die Formulierung der Beobachtungen oft sorgfältiger und breiter ausgeführt. Der Vergleich, dessen Wahrnehmung und Eindruck zusammengreifende Leistung an Goethes Beispiel vorgeführt wurde, ist eine der am häufigsten eingesetzten Gestaltungsmöglichkeiten solcher Augenblicksbeobachtung. Er findet sich selbst in ihrer einfachsten, scheinbar kunstlosen Fom, den stenogrammartigen Notaten: „Altneusynagoge gestern. Kolnidre. Gedämpftes Börsengemurmel. Im Vorraum Büchse mit der Aufschrift: ‚Milde Gaben im Stillen, besänftigen den Unwillen.‘ Kirchenmäßiges Innere. Drei fromme offenbar östliche Juden. In Socken.“121 Die vergleichende Schilderung der Geräuschkulisse als „Börsengemurmel“ deutet einen Gedanken an, der jüdische Religiosität und Geschäftssinn assoziiert, weitergeführt mit der Nennung der Spendenbüchse. Doch statt sich in Richtung 120
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Am eindringlichsten formuliert in dem bekannten Brief an Max Brod über Karl Kraus und das „Mauscheldeutsch“ (Juni 1921, in: BKB, Bd. 2, S. 358-360). Vgl. auch Kafkas Bemerkung über die literarische Goethe-Nachfolge: „Goethe hält durch die Macht seiner Werke die Entwicklung der deutschen Sprache wahrscheinlich zurück. Wenn sich auch die Prosa in der Zwischenzeit öfters von ihm entfernt, so ist sie doch schließlich, wie gerade gegenwärtig mit verstärkter Sehnsucht zu ihm zurückgekehrt und hat sich selbst alte bei Goethe vorfindliche sonst aber mit ihm nicht zusammenhängende Wendungen angeeignet, um sich an dem vervollständigten Anblick ihrer grenzenlosen Abhängigkeit zu erfreuen.“ (Tagebucheintrag vom 25.12. 1911, KKAT, S. 318). - Zum Sprachmaterial Kafkas und dessen Prägung durch die Sprach-Insel Prag vgl. Klaus Wagenbach: Franz Kafka. Eine Biographie seiner Jugend 1883-1912, Berlin 1958, S. 84-98; zum Thema der ‚Sprache aus zweiter Hand‘ Hartmut Binder: „Geflügelte Bildreden. Zu Kafkas Umgang mit sprachlicher Fertigware“, in: Wirkendes Wort 42/1992, S. 440-468. Tagebucheintrag vom 1.10. 1911, KKAT, S. 47.
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auf eine Reflexion von dem Beschriebenen abzulösen, verbleibt der Vergleich beim Konkreten. „Börsengemurmel“ transportiert neben allen weitergehenden Assoziationen vor allem eine atmosphärisch dichte Beschreibung der akustischen Situation. – Ähnliche Verfahren kennzeichnen auch die Augenblicksbeobachtungen in Kafkas Pariser Reisetagebuch. Assoziativ herbeigezogene Bildvorstellungen erweitern die Beobachtungen, wobei diese Erweiterung nicht auf die Form eines ausgeführten Vergleichs beschränkt ist. Als verkürzte Version kann die vergleichende Überblendung auch die Form einer personalisierenden Redeweise annehmen, wie in der Beschreibung von zwei Pariser Straßen: „Ich lasse Max besonders einsam bei einer Grenadine im Dunkel am Rande eines halb leeren Kaffeegartens, wo nahe eine Straße vorübergeht, die wieder von einer andern unbekannten förmlich flüchtig gekreuzt wird.“122 Das Wort „förmlich“ leitet eine vergleichende Vorstellung ein, in der sich die räumliche Situation in eine Bewegung übersetzt: als würde die Straße, indem sie jene kreuzt, die „vorübergeht“, sich wörtlich ‚wie im Vorübergehen‘, „förmlich flüchtig“ an Kreuzung und Kaffeegarten vorbei bewegen, um sich in einen von diesem Ort aus unabsehbaren, „unbekannten“ Raum hinein zu verlaufen. Durch die verlebendigende Redeweise wird die Straße in ihrem quasi-personalen Verhalten als Bewegte inszeniert und die Beobachtung als eine aus dem Augenblick hervorgegangene. Diese „Augenblicksbeobachtung“ bezieht ihren momenthaften Charakter also nicht eigentlich von einer flüchtigen Wahrnehmung – der Beobachter ist ja unbewegt und betrachtet Unbewegtes –, sondern von der Suggestion einer Bewegung, die im Augenblick ihres Vorübergehens vom Blick nur gerade noch erfaßt werden kann.123 Dadurch wird die Schilderung einer Straßenkreuzung zu einem mit Unbestimmtem aufgeladenen Erlebnisaugenblick. Solche Darstellung von Atmosphärischem zeichnet Kafkas Reiseaufzeichnungen gegenüber dem von Max Brod parallel geführten Paris-Tagebuch aus, wie HansGerd Koch bemerkt hat: „Wo [...] Max Brod bemüht ist, ein getreues Bild des Wahrgenommenen und Erlebten zu liefern, vermag Kafka eine Stimmung wiederzugeben, die im Zusammenhang mit wenigen, präzise beschriebenen Details ein Bild entstehen läßt und es ermöglicht, sich in die Szenerie hineinzuversetzen.“124 122 123
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KKAT, S. 1011 (Hervorh. v. mir). Für solche Suggestionen von Bewegung in Form von quasi-personalem Verhalten wären im Tagebuch unzählige Beispiele zu finden; vgl. z.B. einen Tagebucheintrag vom 29.10. 1911: „Der Anblick von Stiegen ergreift mich heute so. Schon früh und mehrere Male seitdem freute ich mich an dem von meinem Fenster aus sichtbaren dreieckigen Ausschnitt des steinernen Geländers jener Treppe die rechts von der Cechbrücke zum Quaiplateau hinunter führt. Sehr geneigt, als gebe sie nur eine rasche Andeutung.“ (KKAT, S. 208). Hans-Gerd Koch: „Nachbemerkung“ zu Franz Kafka: Reisetagebücher, a.a.O., S. 249f. - Ein genauerer Vergleich wäre lohnend, denn eine ähnliche Suche nach treffenden Vergleichsbildern und verlebendigenden, personalisierenden Redeweisen läßt sich auch in den parallel geführten Reisetagebüchern von Max Brod beobachten. Vgl. BKB, Bd. 1: Reiseaufzeichnungen.
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Augenblicksbeobachtungen sind auch die Skizzen, die in wenigen Zügen, stichwortartig, das äußere Erscheinungsbild von Passanten oder Gesprächspartnern festhalten: „Mächtige halbe Halswendung eines starken Mädchens“ oder: „Kubin selbst: sehr stark, aber etwas einförmig bewegtes Gesicht, mit der gleichen Muskelanspannung beschreibt er die verschiedensten Sachen. Sieht verschieden alt, groß und stark aus, je nachdem er sitzt, aufsteht, bloßen Anzug oder Überzieher hat“.125 Die Beobachtungsübungen schulen die Aufmerksamkeit für das Detail: „Der schöne große Knopf schön angebracht unten auf dem Ärmel eines Mädchenkleides“. Von der punktuellen Wahrnehmung aus erweitert sich die Augenblicksbeobachtung und geht anschließend in Reflexionen über: „Das Kleid auch schön getragen über amerikanischen Stiefeln schwebend. Wie selten gelingt mir etwas Schönes und diesem unbeachteten Knopf und seiner unwissenden Schneiderin gelingts.“ Auch die Augenblicksbeobachtung „Alter Mann mit locker hängenden Hosen auf dem Belvedere“ wird zu einer Miniatur-Geschichte: „Er pfeift; wenn ich ihn anschaue, hört er auf; schaue ich weg, fängt er wieder an; endlich pfeift er auch wenn ich ihn anschaue.“126 Aus einer solchen Augenblicksbeobachtung, die um die Schilderung von Vorgängen erweitert wird, entsteht eine an die Prosastücke der Betrachtung erinnernde Schilderung einer dicken „Frau am Nebentisch“ im Kaffeehaus.127 Im Tagebuch zeigt sich eine deutliche Tendenz, über die vereinzelten Beobachtungen hinauszugelangen. Die Beschreibungen werden immer länger; es treten Inhaltsangaben von Gesprächen, bald auch Nacherzählungen von Träumen hinzu; schließlich, im Oktober 1911, die Beschreibungen der jiddischen Schauspieler, die von unzähligen Augenblicksbeobachtungen ihrer Gestik und Mimik durchsetzt sind. Aus den Schauspieler-Eintragungen spricht die Faszination, die das jiddische Theater auf Kafka ausgeübt hat. Die Aufzeichnungsarbeit im Tagebuch ist von dem Wunsch motiviert, dieses Erlebnis so genau wie möglich festzuhalten. Dies gilt für die vorausgehenden Aufzeichnungen nicht im gleichen Maße. Im Tagebuch zwischen September und Oktober 1911 gibt es noch kein solches Thema, aber auch keine Pariser Erlebnisse mehr (die um ihrer selbst willen zu notieren wären). Die Prager Einträge aus diesem Zeitraum versuchen also, aus dem Alltäglichen literarisches Kapital zu schlagen. Ein Beispiel für diese Form der Schreibübung soll nun genauer untersucht werden.
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Tagebucheinträge vom 27. bzw. 26.9. 1911, KKAT, S. 42 u. 41. Vgl. auch die oben bereits zitierte Beschreibung von Rudolf Steiner vom März 1911. Alle Zitate aus dem Tagebucheintrag vom 27.9. 1911, KKAT, S. 41f. Tagebucheintrag vom 24.8. 1911, KKAT, S. 39.
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3.4 Das Sichtbare erzählbar machen: „Gegen Abend im Dunkel in meinem Zimmer auf dem Kanapee“ Wenige Tage nach der Reflexion über das Sehen bei Goethe findet sich im Tagebuch eine systematische Übung im Beschreiben von Wahrnehmungen. Der Tagebuchautor widmet sich zuerst seinen inneren Zuständen („Ich bin unruhig und giftig. Gestern vor dem Einschlafen hatte ich links oben im Kopf ein flackerndes kühles Flämmchen ...“128), dann wendet er sich der Außenwelt zu, genauer: dem, was von ihr im Zimmer des Schreibenden zu sehen ist, nämlich das künstliche Licht, das von außen hineindringt. Der Text schildert die verschiedenen Formen, die dieses Licht annimmt, wenn es an den Flächen und Gegenständen des Zimmers widerscheint: Farbe, Schatten, Reflexe. Auf dieser flüchtigen Grenze der Erscheinung als ganz unmaterieller „Schein“ und „Glanz“ hält sich der Blick des beobachtend Schreibenden auf; ihn interessiert – um hier noch einmal an Goethe anzuknüpfen – der ‚farbige Abglanz‘.129 3.4.1 Ursachenforschung: Das Sichtbare beschreiben Gegen Abend im Dunkel in meinem Zimmer auf dem Kanapee. Warum braucht man längere Zeit um eine Farbe zu erkennen wird dann aber nach der entscheidenden Biegung des Verständnisses rasch immer überzeugter von der Farbe. Wirkt auf die Glastür von außenher das Licht des Vorzimmers und jenes der Küche gleichzeitig, so gießt sich grünliches oder besser um den sichern Eindruck nicht zu entwerten, grünes Licht die Scheiben fast ganz hinab. Wird das Licht im Vorzimmer abgedreht und bleibt nur das Küchenlicht, so wird die der Küche nähere Seite tiefblau, die andere weißlich blau so weißlich, daß sich die ganze Zeichnung auf dem Mattglas (stilisierte Mohnköpfe, Ranken, verschiedene Vierecke und Blätter) auflöst.130
Das Beobachtungsprotokoll nähert sich den Phänomenen wie eine wissenschaftliche Analyse. Die Beschreibung geht von einer Frage nach der Farberkennung im Dunkeln aus und schildert dann die Entstehung verschiedenfarbiger Reflexe auf der Mattglasscheibe der Zimmertür. Nach dem Modell einer Versuchsanordnung wird das Zustandekommen dieser Effekte in Abhängigkeit von dem einstrahlenden Licht beschrieben. Die konsekutive Satzkonstruktion setzt die Lichtquelle (als Ursache) zur Erscheinung auf der Türverglasung (als Wirkung) in Beziehung. Das Licht ist grammatisches Subjekt, so daß die Aufeinanderfolge von Ursache und Wirkung als Vorgang darstellbar wird: das Licht „wirkt [...] von außenher“ und „gießt sich [...] die Scheiben [...] hinab“. Die 128 129
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Tagebucheintrag vom 4.10. 1911, KKAT, S. 54. „Schein“, „Glanz“: Zitate aus den folgenden Abschnitten des Tagebucheintrags, vgl. den unten wiedergegebenen Text. - Johann Wolfgang von Goethe: Faust II, 1. Akt, Vs. 4727: „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben“. Tagebucheintrag vom 4.10. 1911, KKAT, S. 55, Z. 16 - S. 56, Z. 3.
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metaphorische Redeweise „gießen“ materialisiert das Licht als etwas Flüssiges und erzählt den Vorgang als Bewegung. Auf diese Weise wird der Weg des einstrahlenden Lichts, der eigentlich gar nicht wahrnehmbar ist, wie ein Prozeß erzählt, dem man zusehen könnte. Die unsichtbare Ursache der Wahrnehmung wird in die Darstellung des Sichtbaren integriert und macht dadurch das Sichtbare in Form eines zeitlichen Verlaufs darstellbar – und das heißt: erzählbar. Dieser erzählte Vorgang verbindet sich mit dem allmählichen Zustandekommen des Wahrnehmungseindrucks im Betrachter. Er notiert die Herausbildung seines „Verständnisses“ der Farbe als sich im Augenblick des Beschreibens vollziehende („... grünliches oder besser um den sichern Eindruck nicht zu entwerten grünes Licht ...“). Diese Entwicklung wird mit der Bewegung des Lichts, die den Einschub einklammert, zu ein und demselben Verlauf synchronisiert („gießt sich grünliches [...] Licht die Scheiben fast ganz hinab“ (Hervorh. v. mir)). – Der nächste Satz erzählt diese Handlung mit den gleichen Mitteln weiter. Von der Benennung einer Ursache ausgehend – das Auslöschen des Lichtes – wird eine Wirkung beschrieben, die Veränderung der Farbe auf dem Glas. Auch diese Veränderung wird im Nachvollzug einer Bewegung des Sehens dynamisiert. Mit dem Wandern des Auges von einer Glasscheibe zur anderen wandelt sich die Farbe schrittweise von „tiefblau“ zu „weißlich blau“, dann zu „weißlich“. Dieser Prozeß der Auflösung bildet das Gegenstück zu der allmählichen Verfestigung des Erkennens von „grün“. Schließlich wird die Bewegung im Verb „auflösen“ aufgenommen und geht auf die in das Mattglas gravierte Zeichnung über. Die Beschreibung inszeniert das Wechselspiel von Lichtverhältnissen und Farberscheinung durch die Herstellung einer Beziehung von Ursache und Wirkung wie eine Filmvorführung. Als ein Lichtspiel im Wortsinne vollzieht sich das Erscheinen von Farben und die Auflösung von Formen auf der Projektionsfläche des Türglases. Die Temporalisierung von Wahrnehmungen und ihre Ausformung zu narrativen Verläufen, bekannt aus dem Eintrag über Goethe, wird hier zum Mittel, um das Sichtbare erzählbar zu machen. Die Beschreibungen erzeugen Bewegung, indem sie Ursachen in Vorgänge übersetzen und die Entwicklung dieser Vorgänge mit der allmählichen Verfertigung ihrer Wahrnehmung überblenden. Dieses Verfahren erweitert der Tagebuchschreiber in mehreren Schritten, wobei er jedesmal einen neuen Kunstgriff erfindet, um das beobachtend-protokollierende Schreiben zu verlängern. 3.4.2 Abstraktion: Die Autonomie der Lichteffekte Die von dem elektrischen Licht auf der Straße und Brücke unten auf die Wände und die Decke geworfenen Lichter und Schatten sind ungeordnet zum Teil verdorben einander überdeckend und schwer zu überprüfen. Es wurde eben bei der Aufstellung der
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elektrischen Bogenlampen unten keine hausfraumäßige Rücksicht darauf genommen, wie mein Zimmer zu dieser Stunde vom Kanapee aus ohne eigene Zimmerbeleuchtung aussehn wird. – Der von der unten fahrenden Elektrischen an die Decke emporgeworfene Glanz fährt weißlich, schleierhaft und mechanisch stockend die eine Wand und Decke, in der Kante gebrochen, entlang.131
Mit der Betrachtung der Lichteffekte an der Zimmerdecke erweitert sich die Wahrnehmungsübung zur systematischen Bestandsaufnahme der Beleuchtungsverhältnisse im dunklen Zimmer. Der erste Satz stellt erneut eine Beziehung her zwischen dem Licht von außen und den „Lichtern und Schatten“, die an den Flächen innen sichtbar werden. Deren Aussehen läßt sich allerdings nicht mehr mithilfe einer Kausalitätsverbindung beschreiben. Die Reflexe sind auf nichts zurückführbar, das Ursache ihrer Formen wäre. Mit dieser Feststellung aber spinnt sich die Beschreibung dennoch weiter. In dem vergeblichen Versuch, sie zu lokalisieren, werden die formlosen Flecken als „ungeordnet zum Teil verdorben einander überdeckend und schwer zu überprüfen“ beschreibbar. Von hier aus läßt sich nun eine neue Ursache-Wirkung-Relation bestimmen, wenn auch nur in der Negation. Die Unordnung der Lichteffekte ist darauf zurückzuführen, daß die Einrichtung des Zimmers und die Position der Straßenlaternen nicht zusammenpassen. Diese nicht bestehende Beziehung stellt der Betrachter als nicht vollzogene Handlung vor. In witzigem Vergleich zur „hausfraumäßigen“ Gestaltung von Innenräumen imaginiert er die „Rücksicht“, die nötig gewesen wäre, um die Straßenlaternen passend zur Zimmereinrichtung aufzustellen; er erfindet ein Arrangieren der Laternen, wie es sonst mit Möbeln geschieht. Die Ablösung der Lichteffekte von ihren Ursachen wird also gerade dadurch beschreibbar, daß diese Ablösung benannt und umschrieben wird, so daß sich virtuell doch eine Kausalverbindung und damit wieder ein narrativer Verlauf herstellen läßt. Das Thema dieser Beschreibung ist abstrakt. Die Lichtspiele bieten keine Farbe mehr und auch keine bezeichenbaren Formen. Der Beobachter „ohne eigene Zimmerbeleuchtung“ befindet sich in einem Raum zwischen Innen und Außen: nicht innen, da der Innenraum von den Lichtern der Außenwelt durchzogen wird; nicht außen, da die verwirrten Reflexe keine Schattenbilder dieses Außen auf die Wände malen. Die Beschreibung nutzt die Ablösung der Lichtreflexe von ihren Ursachen, um von ihnen als autonom gewordenen Phänomenen zu sprechen. Von diesen ausgehend, erzählt sie wiederum konkrete, bildhafte Geschichten. Diese Doppelbewegung zeigt der auf den Spiegelstrich folgende Satz noch deutlicher. Der „Glanz“, der von der Beleuchtung einer Straßenbahn ausgeht, „fährt“ als ihr Stellvertreter an Wand und Decke, die ihm ihrerseits einen Knick mitgeben. Zuerst wird die Lichterscheinung aus ihren Ursachen hergeleitet; dann aber verselbständigt sie sich durch das Verb, das sich auf das Licht und nicht auf die Bahn bezieht, zum eigenmächtig bewegten 131
KKAT, S. 56, Z. 3-15.
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Gebilde und dreht damit das Kausalitätsverhältnis um. Der Glanz fährt jetzt anstelle der Straßenbahn, und zwar im Zimmer; nicht mehr in Schienen, sondern an der Deckenkante entlang. Er hat, „weißlich“ und „schleierhaft“, keine Form, ist also kein Abbild der Bahn; seine „mechanisch stockend[e]“ Bewegung allerdings verweist wieder auf die der Straßenbahn zurück. Durch diese Verschiebung gewinnt die Beschreibung den Ansatz für eine Handlung, die das Licht ausführt. Je distanzierter der Betrachter über die Aktionen des Lichts auf den Wänden seines Zimmers berichtet, desto mehr Spielraum gewinnt er diesen Erscheinungen gegenüber. Das Geschehen löst sich vom Subjekt der Beobachtung ab und entfaltet eine Eigendynamik, die wiederum den Protokollanten zum Zuschauer eines kleinen Theaterstücks werden läßt, als der er reagieren und kommentieren kann. Aus dem Vorgang wird so ein Geschehen, aus dem Aufzeichnen Erzählen. Die Beziehung von Ursache und Wirkung wird in jedem Satz deutlich benannt; jede Beobachtung stellt eine andere Kausalitätsrelation dar, eine neue Lichterscheinung an einer anderen Oberfläche, auf die das Licht trifft und an der es sich zeigt. Diese Beschreibungs-Anstrengung zielt darauf, sowohl die Beziehung zwischen Lichtquelle und Reflektor als auch den Weg vom Reflektor ins Auge des Betrachters zu erfassen, also den objektiven Vorgang der Reflektion mit dem subjektiven der Perzeption zusammenzubringen. 3.4.3 Dynamisierung: Handlungen des Lichts Der Globus steht im ersten frischen vollen Widerschein der Straßenbeleuchtung auf dem oben grünlich rein überleuchteten Wäschekasten, hat einen Glanzpunkt auf seiner Rundung und ein Aussehn, als sei ihm der Schein doch zu stark, trotzdem das Licht an seiner Glätte vorüberfährt und ihn eher bräunlich, lederapfelartig zurückläßt. – Das Licht aus dem Vorzimmer bringt einen großflächigen Glanz an der Wand über dem Bett hervor, der in einer geschwungenen Linie vom Kopfende des Bettes aus begrenzt wird, das Bett im Anblick niederdrückt, die dunklen Bettpfosten verbreitert, die Zimmerdecke über dem Bette hebt132
Von den verselbständigten Lichteffekten aus erzählen die letzten beiden Abschnitte die Geschichte der Begegnung des Lichts mit den Gegenständen des Zimmers. Die Welt draußen wird nicht mehr erwähnt. – Der erste Satz beschreibt die Wirkung des Lichtscheins auf einem Globus. Dies geschieht nicht, wie zuvor, von einer Handlung bzw. Bewegung des Lichtes her, sondern im umgekehrten Verfahren. Der Globus ist Subjekt des Satzes, von ihm geht das erzählte Geschehen aus. Zwar kann man zunächst nicht eigentlich von einem Geschehen sprechen („der Globus steht [...] auf dem [...] Wäschekasten“). Doch die grammatische Konstruktion vermittelt eine personalisierende Färbung, die den Globus beinahe zu einer handelnden Figur macht. Er „steht“ auf dem 132
KKAT, S. 56, Z. 16-27 (die Eintragung bricht nach „hebt“ ab).
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Wäschekasten „im ersten frischen vollen Widerschein der Straßenbeleuchtung“, als stünde er diesem eindringenden Licht gegenüber, er „hat“ einen Lichtpunkt auf „seiner“ Rundung, als gehörte ihm beides: Rundung und Glanz. Fast wirkt er wie ein rundlicher General, der von seinem Feldherrnhügel-Schrank aus der Invasion des Straßenlichts entgegentritt. Dazu vermenschlicht ihn das „Aussehn, als sei ihm der Schein doch zu stark“ in aberwitzig pychologisierender Weise. In diesem „Aussehn“ liegt auch die Suggestion eines Verhaltens, der Eindruck eines Zurückweichens. Auf das „erste frische volle“ Licht, in dem sich der Globus präsentiert hat, folgt ein verzagtes „doch zu stark“. Wie in Reaktion auf dieses Zurückweichen übernimmt das Licht als Subjekt des nächsten Satzteils die Aktion; es „fährt“ vorüber und „läßt“ den Globus zurück. Diese Bewegung des Lichts kontrastiert mit dem statischen Gegenstand. Dadurch entsteht der Eindruck, als sei die Dynamik des Lichts während der Beschreibung des Globus von diesem aufgehalten worden, und als habe er jetzt nachgegeben. Die Textbewegung inszeniert diesen Stau und seine Auflösung als gestischen Vorgang. Die Bewegung, mit der das Licht „vorüberfährt“, ist eine andere als die des an der Decke fahrenden Straßenbahn-Glanzes. Es ist die Bewegung, mit der die Lichtstrahlen ins Zimmer eindringen, auf die runde Oberfläche des Globus treffen, an ihr abgleiten und ihn schließlich zurücklassen. Er erscheint jetzt „bräunlich, lederapfelartig“, also vielleicht undurchdringlicher, matter, jedenfalls dunkel. Die Geschichte des Beschienen-Werdens ist offenbar zugleich die Geschichte des Blicks, der der Bahn der Lichtstrahlen folgt und zum Schluß auf der unbeleuchteten, der ‚Nachtseite‘ der Kugel ankommt. Diese Wahrnehmung wird wie ein vom Betrachter unabhängiger Verlauf erzählt. Als ein solcher Ablauf in der Zeit ist die Bewegung eines Lichtstrahls allerdings realiter überhaupt nicht wahrnehmbar. ‚Eigentlich‘ müßten Lichtstrahl und glänzende Oberfläche im Auge des Betrachters zu einem momentanen Eindruck verschmelzen. Stattdessen wird ihr Aufeinandertreffen verzeitlicht. Die Personalisierung von Globus und Lichtschein als Protagonisten dieser Begegnung erlaubt darüber hinaus, dem Geschehen Gefühlswerte zu verleihen. So wird aus der Beschreibung eines Gegenstandes im Licht der Straßenlaterne ein etwas feindseliges, flüchtiges Rencontre. Im Zuge der Entwicklung der Beschreibung zur Geschichte gewinnt das Licht an Eigenständigkeit. Zunächst als von einer Lichtquelle ausgehende Bewegung imaginiert, hat es sich in der Begegnung mit dem Globus bereits verselbständigt, um im letzten Teil des Eintrags sogar als etwas körperähnlich Agierendes angesprochen zu werden. Ein großflächiger „Glanz“ sorgt für Wirkungen „im Anblick“, die als seine Handlungen benannt werden: er „drückt“ das Bett nieder, „verbreitert“ die Bettpfosten, „hebt“ die Zimmerdecke. Die Wirkung ist hier selbst zur Ursache geworden, hat sich von ihrer Quelle, den Straßenlampen draußen, emanzipiert und ist ins Zimmer eingezogen. Der Glanz
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ist nicht mehr Widerschein eines Außen, sondern schon Teil des Innenraums, in dem er sich ausbreitet wie etwas Körperliches. – Die Eintragung bricht damit unvermittelt ab. Vielleicht hatten sich die Möglichkeiten der Weiterentwicklung der Beschreibung als Geschichte an dieser Stelle erschöpft. 3.4.4 Die Verwandlung des Sichtbaren in Erzählbares Die Schreibübung erprobt Möglichkeiten, die Lichtreflexe als zeitlichen Verlauf zu beschreiben. Sie sucht immer neue Ansätze, um eine Wahrnehmung in Handlung zu verwandeln und auf diese Weise das Sichtbare erzählbar zu machen. Mit dieser Technik gelingt es ihr, den flüchtigen Lichtschein einzufangen. 133 Durch die Verwandlung in eine Geschichte werden die Lichteffekte so beschrieben, als könne man ihrem Entstehen, ihrer Ausbreitung und ihren Wirkungen zusehen. Der Text macht den Leser zum Zuschauer eines Schauspiels. In der Verzeitlichung von visuellen Eindrücken zu Prozessen und der Verlebendigung dieser Abläufe zu Handlungen wird ihm eine Folge bewegten Geschehens vorgeführt. Diese Lichtspiel-Vorführung besteht allerdings nicht, wie es im Kino der Fall wäre, aus abgefilmten – bzw. mitstenographierten – Bewegungen, die vor dem Auge der Kamera bzw. des protokollierenden Betrachters stattfänden. Kafkas Lichtspiele entstehen aus der Suggestion von Anschauung. Es werden Vorgänge erzählt, denen man in der erzählten Wirklichkeit gar nicht zusehen kann; sei es, weil sie nicht wahrnehmbar sind, wie die Bahn des Lichts, sei es, weil sie nicht stattfinden, wie das Aufstellen der Straßenlaternen. Der Eindruck, daß man dem Lichtspiel zusehen könnte, ist also ein virtueller Effekt: es scheint, als ob man zusehen könnte. Dieser Effekt entsteht auf dem Umweg über die Imagination des Lesers, der den Film-Eindruck eines bewegten Geschehens allererst herstellen muß, indem er den Blickwegen und Handlungsabläufen folgt, die der Text inszeniert. Die Lichtspiele sind also, der Metapher zum Trotz, keine Nachahmung von Kinematographie.134 Kafkas Schreibweise kopiert nicht das filmische Erzählen in Bildern, sondern sie erzeugt eine textuelle Bewegung, indem sie Bilder aufbaut und erzählend erweitert. Das Kino kann zwar als Metapher für den Eindruck des Bewegten, d.h. des zeitlichen Ablaufs in der Veränderung von Bildern dienen. Als Metapher für die Verfahren dieses Erzählens taugt es nicht. Wie die Metapher des Traums und auch die des 133
134
Kafkas Beschreibung könnte also mit Lessing - aber gegen Lessings Intention - als Beispiel für die Fähigkeit der Literatur gelten, von Begebenheiten und Handlungen zu erzählen, im Gegensatz zu der Zeitlosigkeit der auf das Sichtbare beschränkten Malerei (Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen von Malerei und Poesie, Stuttgart 1998 (zuerst Berlin 1766)). Damit wende ich mich gegen die verbreitete These, Kafkas Schreiben sei vom Film beeinflußt und verfahre kinematographisch. Vgl. hierzu H. Zischler, a.a.O.
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Theaters beschreibt der Vergleich mit dem Kino einen Rezeptionseffekt und verdeckt dabei, was diesen Effekt allererst zustande bringt: die sprachlichen Verfahren. Sie erzeugen nicht kinematographische Bilderfolgen, sondern imaginative Prozesse. Die Wahrnehmungs-Geschichten bringen Bild und Bewegung zusammen und im gleichen Prozeß auch Objektives und Subjektives: Beobachtungen und Vorgestelltes, Assoziationen und Ursachenforschung. Indem sie Unsichtbares in die Beschreibung des Sichtbaren integrieren und erfundene Handlungen in die Wiedergabe des Realen hineinholen, leisten sie mehr als eine Beschreibung der beobachteten Lichtwirkungen. Die Wahrnehmung als Geschichte zu erzählen, erlaubt ein Zusammengreifen von Vorgängen und Eindrücken, ein verdichtendes Ineinander des fast nicht Wahrnehmbaren und des – ohnehin unsichtbaren – Erlebens. Dabei geht es nicht um die Wiedergabe von Impressionen. Die Wahrnehmungen des Ich sind „Erkenntnis“, die beansprucht, das Licht als Ursache bzw. Wirkung zu erfassen. Aber die mit Assoziationsmöglichkeiten angereicherten Vorstellungen, die in die Beschreibung hineingeraten – wie die des dicken Globus auf dem Wäschekasten oder der schlafenden Halbkugel, der Rückseite des Tages –, vermitteln doch etwas von der Atmosphäre in einem dunklen, von Lichtreflexen durchzogenen Zimmer. Im Zusammengreifen dieser Ebenen gewinnt die Schilderung von Wahrnehmungen anschauliche Dichte. Die Verfahren dieser Wahrnehmungs- und Schreibübung sind mit der Beschreibung des Sturms auf dem Altstädter Ring aus der Beschreibung eines Kampfes verwandt, die ich im I. Kapitel analysiert habe. Der Ich-Erzähler beschreibt dort die Häuser und Menschen, wie sie sich ihm zeigen.135 Seine verrückt-verschobene Perspektive macht keinen Unterschied mehr zwischen Innen und Außen; ihm sind die Wahrnehmungseindrücke Vorgänge der Außenwelt und Handlungen der Dinge. Aus ihrer phantastischen Verlebendigung ergibt sich eine märchenhafte Irrealisierung des Geschehens, zugleich aber eine höchst anschauliche Darstellung des Sturms. Diese Übersetzung des Innen ins Außen und die Erweiterung der Wirklichkeit ins Irreale findet sich in der Beschreibung der Lichtspiele wieder, jedoch nur noch unauffällig, in Vergleichen und Redeweisen versteckt. Hier zeigt sich kein doppelter Boden mehr im Realen; die Sprache erzählt nicht mehr von traumhaft-halluzinierten Wirklichkeiten. In der Beschreibungsübung geht es um die genaue Erfassung des Wirklichen. Diese Erfassung aber bedient sich genau wie die Beschreibung eines Kampfes des Umwegs über das Irreale, d.h. der Imagination von Vorstellungsbildern und der Erfindung von Vorgängen.
135
BK, S. 93f.
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3.4.5 Schreiben als Sehen Die Verwandlung der Lichtspiele in ein Schauspiel verweist auf eine Möglichkeit, wie die Arbeit am Sichtbaren über die Schreibübung hinaus für das Erzählen fruchtbar zu machen wäre. Zwar sind die narrativen Verläufe, die hier entwickelt werden, keine Geschichten im eigentlichen Sinne. Sie entstehen aus Kunstgriffen und Tricks, die es ermöglichen sollen, das zu Beschreibende als eine Handlung vorzustellen, über die geschrieben werden kann. An diesen Übungen aber ist ablesbar, daß – und wie – das Sichtbare inszeniert werden muß, um es zu erzählen. Kafkas Beobachtungsprotokolle synchronisieren den Prozeß des Sehens mit dem des Erscheinens, die Bewegung des Lichtstrahls mit der des Blicks. Die sprachlichen Techniken bringen Zeit und Bewegung in die Sätze und bilden Ansätze heraus für ein Schreiben, das die allmähliche Entwicklung des Sehens im Vorgang des Beschreibens allererst herstellt. Dem Blick zu folgen und seine Bahn als Geschichte zu erzählen, ist bereits das Verfahren von Kafkas literarischer Reportage Die Aeroplane in Brescia (1909): [...] kaum sieht man hin, schon fliegt er von uns weg, fliegt über die Ebene, die sich vor ihm vergrößert, zu den Wäldern in der Ferne, die jetzt erst aufzusteigen scheinen. Lange geht sein Flug über jene Wälder, er verschwindet, wir sehen die Wälder an, nicht ihn. Hinter Häusern, Gott weiß wo, kommt er in gleicher Höhe wie früher hervor, jagt gegen uns zu; steigt er, dann sieht man die unteren Flächen des Biplans dunkel sich neigen, sinkt er, dann glänzen die oberen Flächen in der Sonne. Er kommt um den Signalmast herum und wendet, gleichgültig gegen den Lärm der Begrüßung, geradeaus dorthin, von wo er gekommen ist, um nur schnell wieder klein und einsam zu werden.136
„Das Schreiben ist [...] ein Sehen, [...] ein absichtsloses, auf kein erwartetes Ereignis hinzielendes, Unterbrechungen erfassendes Sehen“, hat Reinhard Lettau in seinem Nachwort zu einer Edition der Aeroplane geschrieben. „Das Schreiben ist bei Kafka nicht die Exekution von etwas vorher Bekanntem, sondern die Erprobung des Materials, das es dabei herstellt.“ Es sei „Beispiel eines lügenlosen, riskanten, höchst disziplinierten Schreibens, bei dem die Ereignisse im Moment des über die Seite gehenden Bleistifts unentschieden sind.“137 Im Anschluß an Lettaus Bemerkungen lassen sich die Möglichkeiten andeuten, die das Verfahren der Beobachtungsprotokolle für die Entwicklung fiktionaler Texte bietet. Denn das ‚Schreiben als Sehen‘ ist nicht als Abbildungsverfahren zu verstehen, das die Bahn des Blicks bloß notierend begleiten müßte. Die ‚Lichtspiele‘ zeigen, daß auch die scheinbar bloß vom Sichtbaren abgeschriebene Notiz zuerst so geformt werden muß, daß sich Blickbahnen als Verläufe erzählen lassen. Das Sichtbare muß in einen Vorgang verwandelt werden, dem der Blick und damit der Satz 136 137
KKA: Drucke zu Lebzeiten, S. 409. Reinhard Lettau: Nachwort zu Franz Kafka, Die Aeroplane in Brescia und andere Texte, zusammengestellt von Kurt Beck, Frankfurt/M. 1977, S. 135-143, Zitat S. 142f.
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folgen können. Diese Abläufe sind also nicht das Produkt eines Sehens, sondern das Produkt einer Spracharbeit, die diese Blicke erzeugt. Aus einem solchen ‚Schreiben als Sehen‘ können narrative Verläufe entstehen, indem die Imagination von Wegen des Blicks erweitert wird zu Abfolgen von Handlungen und Vorstellungen. In der allmählichen Entwicklung der Beschreibung durch die Temporalisierung von Wahrnehmungen, im Herstellen von Verläufen im Hinblick auf ein ‚Schreiben als Sehen‘ ist das notierende Beobachten mit dem phantasierenden Entwickeln von Geschichten verwandt. Wenn die Wirkungen des Lichts als Abfolge von Handlungen erzählt werden, entstehen dieselben Verkettungen, wie sie die ‚Übungen im Erfinden‘ im Ausspinnen von Bildvorstellungen aneinanderreihen. Die beiden von ihren Themen her so entgegengesetzten Richtungen der Schreibübungen, das phantasierende Erfinden und das an der Anschauung orientierte Beschreiben von Beobachtungen, sind also Bestandteile ein und desselben Schreibprojekts. Sie kommen in dem Versuch überein, Bilder und Vorstellungen zu Folgen zusammenzuschließen, in der Verbindung von sprachlicher und bildlicher Logik Verkettungen von Ursachen und Wirkungen herzustellen und Sprachbewegung und Satzverlauf in gestischer Bewegung zu überblenden. Diese Schreibweise zielt darauf ab, das Erzählen als imaginativen Prozeß in Gang zu setzen, in dessen Verlauf das zu Erzählende entstehen kann; d.h. einen Vorgang herzustellen, in dem – wie Lettau schreibt – „die Ereignisse im Moment des über die Seite gehenden Bleistifts unentschieden sind“. Dabei soll das im Schreiben Entworfene zugleich sinnlich-plastische Eindrücklichkeit gewinnen, es soll vor den Augen – bzw. in der Einbildungskraft – des Lesers Gestalt annehmen. 3.4.6 Abbildung von Licht Die Beschreibung der Lichtreflexe läßt sich noch in einer zweiten Hinsicht auf die ‚Übungen im Erfinden‘ beziehen. Dieser Anknüpfungspunkt ist das Verfahren der imaginativen Erweiterung des Sichtbaren, mithilfe dessen es Kafka gelingt, die flüchtigen Phänomene darzustellen. Das Spiel des Lichts abzubilden, ist für die Malerei eine besondere Herausforderung. Kafkas Beschreibung widmet sich derselben Aufgabe mit literarischen Mitteln. Um das immaterielle Phänomen der Lichterscheinung zu fassen, das auf der Grenze von Innen- und Außenraum entsteht und sich vom Bezug auf Gegenstände löst, inszeniert die Beschreibung selbst ein Spiel zwischen Innen und Außen. Um das Außen, das Sichtbare zu zeigen, bedient sie sich der Vorstellungen, die nur innen im Kopf des Lesers existieren. Ihre Anschaulichkeit beruht auf der Imagination von Unsichtbarem und Irrealem; sie ist daher um so eindrücklicher, je besser es gelingt, die Phantasie des Lesers anzusprechen. Nicht
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nur die Lichteffekte, auch die Effekte der Beschreibung selbst sind, so gesehen, ein Schein.138 Er ließe sich, mit einem zweckentfremdeten Begriff von Roland Barthes, als ‚Wirklichkeitseffekt‘ bezeichnen.139 Grundlage dieser Abbildung und Herstellung von Effekten ist die Überlagerung verschiedener Bildbereiche durch den Vergleich. In der Beschreibung der Lichtspiele finden sich zwar keine expliziten Vergleiche, aber stattdessen verlebendigende, andeutungsweise metaphorische Redeweisen, die das Sichtbare mit anderen Bildvorstellungen überblenden. In anderen Einträgen steht dagegen das Vergleichsbild im Vordergrund. Als Beispiel sei eine Schilderung von Lichteffekten zitiert, die für die Suggestion von Anschauung einen expliziten Vergleich erfindet. Spaziergang mit Löwy unten am Fluß. Der eine Pfeiler des auf der Elisabethbrücke sich erhebenden innen von einer elektr. Lampe beleuchteten Bogens sah als dunkle Masse zwischen seitlich hervorströmendem Licht wie ein Fabrikskamin aus und der über ihm zum Himmel sich ausspannende dunkle Schattenkeil war wie steigender Rauch. Die scharf begrenzten grünlichen Lichtflächen zur Seite der Brücke.140
Das Beispiel zeigt die Erweiterung des Sichtbaren durch die Assoziation von Vergleichsvorstellungen („wie ein Fabrikskamin“, „wie steigender Rauch“). Damit ist Kafkas Verfahren allerdings nur unvollständig bezeichnet, denn es gilt schließlich für jeden Vergleich, daß er dem Beschriebenen etwas hinzufügt. Die Besonderheit von Kafkas Vergleichen liegt in der Art und Weise, wie die Vergleichsverbindung das gesehene und das erfundene Bild aufeinander bezieht und daraus eine Suggestion von Anschauung erzeugt. Die Assoziationen an „Fabrikskamin“ und „Rauch“ benennen die Form des Bogenpfeilers und zugleich sein Aussehen in einer bestimmten Beleuchtungssituation. Es entsteht eine 138
139
140
Es wäre zu untersuchen, ob Kafkas Beschreibungen sich überhaupt mit Vorliebe solchen Effekten und Wirkungen widmen. Möglicherweise bietet sich hier ein Anknüpfungspunkt für einen Vergleich mit der Darstellung des elektrischen Lichts und seiner Effekte in der (expressionistischen) Malerei. Die Einführung der elektrischen Straßenlaternen brachte eine Fülle neuer malerischer Sujets hervor; ihre - im Gegensatz zur Gasbeleuchtung - scharf umrissenen, dunklen Schatten wurden als neuer Bereich des Unheimlichen entdeckt. Roland Barthes: „L'effet de réel“, in: R. Barthes, L. Bersani, Ph. Hamon, M. Riffaterre, I. Watt: Littérature et réalité, Paris 1982, S. 81-90. Barthes faßt mit ‚effet de réel‘ nicht das Verfahren, das ich analysiert habe, sondern eine Strategie des realistischen Romans (insbesondere in Flauberts Madame Bovary), die darauf abzielt, durch die Integration von „insignifikanten“, d.h. funktional überschüssigen Details das Dargestellte als Wirklichkeit zu authentifizieren und so eine „illusion réferentielle“ zu schaffen (R. Barthes, a.a.O., S. 89). Meine Verwendung des Begriffs „Wirklichkeitseffekt“ hat mit dem von Barthes geprägten „Realitätseffekt“ (so die Übersetzung bei Matias Martinez u. Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München (3) 2002., S. 117) allerdings nur die Betonung des Effekt-Charakters, d.h. eines durch Kunstmittel hergestellten Eindrucks gemein. In dieser Hinsicht scheint mir der Begriff „Wirklichkeitseffekt“ geeignet, um die Doppelbödigkeit der nicht realistisch zu nennenden Anschaulichkeit von Kafkas Beschreibungen zu fassen. Darüber hinaus wäre es eine eigene Studie wert, den Stellenwert des „insignifikanten“ Details, also des „Realitätseffektes“ im Sinne von Roland Barthes, in Kafkas so überaus detailreichen, an Flaubert geschulten Beschreibungen zu untersuchen. Tagebucheintrag nach dem 14.12. 1911, KKAT, S. 293f.
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bildhafte Vorstellung, die den schwarzen Fabrikskamin mit seinem Rauch an die Stelle des Pfeilers und seines Schattens setzt, so daß das Vergleichsbild sich in das beschriebene Bild integriert (wie bereits am Beispiel des „Kleinen Ruinenbewohners“ bei der Verwandlung des Vorwurfs in einen Dolch gezeigt). So wird das Sichtbare um Bestandteile erweitert, die die dargestellte Wirklichkeit gar nicht enthält; gerade durch diese Erweiterung ins Irreale aber erscheint es um so anschaulicher und daher ‚wirklicher‘. Diese Technik ist durchaus nicht die einzige Verwendungsweise des Vergleichs in Kafkas Beschreibungen. In jedem Text nehmen die Bilder überdies eine andere Funktion ein. Was sie verbindet, ist allein, daß in jeder dieser Vergleichsoperationen etwas verschoben und verwandelt wird. Insofern solche Bilder und Bildzusammenhänge für jede Beschreibung allererst gefunden werden müssen, ist auch die Beschreibung des Sichtbaren eine ‚Übung im Erfinden‘. – Ein Jahr später zeigt ein Blick vom Balkon des Karl Rossmann, wohin diese Übungen führen können. Aus der Erweiterung des Sichtbaren im Rekurs auf imaginierte Gegenstände oder Vorgänge entsteht eine ins Phantasmagorische gesteigerte Ansicht von New York: Und morgen wie abend und in den Träumen der Nacht vollzog sich auf dieser Straße ein immer drängender Verkehr, der von oben gesehn sich als eine aus immer neuen Anfängen ineinandergestreute Mischung von verzerrten menschlichen Figuren und von Dächern der Fuhrwerke aller Art darstellte, von der aus sich noch eine neue vervielfältigte wildere Mischung von Lärm, Staub und Gerüchen erhob, und alles dieses wurde erfaßt und durchdrungen von einem mächtigen Licht, das immer wieder von der Menge der Gegenstände zerstreut, fortgetragen und wieder eifrig herbeigebracht wurde und das dem betörten Auge so körperlich erschien, als werde über dieser Straße eine alles bedeckende Glasscheibe jeden Augenblick immer wieder mit aller Kraft zerschlagen.“141
3.5 Bild-Erfindungen zur Vermittlung von Gefühlen: „Beim Diktieren einer größern Anzeige“ Ich habe mich bisher den ‚Übungen im Beschreiben‘ unter dem Gesichtspunkt der „Betrachtung“, d.h. der visuellen Wahrnehmung genähert. Um die Beschäftigung mit den Beschreibungsübungen abzuschließen, wende ich mich nun einem Eintrag zu, der keine Beobachtungen zum Inhalt hat, der aber die Herstellung von Anschaulichkeit besonders eindrucksvoll vorführt. Dieses Verfahren ist als solches nicht an die Darstellung von Anschauung gebunden,
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Franz Kafka: Der Verschollene, zitiert nach der Niederschrift im Tagebuch (KKAT, S. 190, Z. 17 S. 191, Z. 4).
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sondern an die Bildhaftigkeit des Sprechens.142 Kafkas Texte zeichnen sich durch eine Vielzahl von Vergleichsbildern und damit verwandten Verfahren der Übertragung aus, wie personalisierende, verlebendigende oder verkörpernde Redeweisen. In den bisher besprochenen Beispielen geht aus solchen Techniken die Imagination von Bewegungen und Blicken hervor, die das Sichtbare erzählbar werden lassen. Dieses Verfahren kann sich ebensogut auf Unsichtbares beziehen. In Kafkas Analyse von Rudolf Steiners Rhetorik verwandeln Vergleiche die auditiven Eindrücke in Gegenständliches, von dessen Handlungen berichtet werden kann, als seien sie dem Aufzeichnenden sichtbar gegenwärtig. Der hier in Frage stehende Tagebucheintrag überschreitet in dieser Hinsicht eine Grenze. In der vergleichenden Umschreibung wird das Beschriebene in etwas Körperliches verwandelt und mit einem Gefühl verbunden, das sich dem Empfinden des Lesers mitteilt. Mit der Metapher der Körperlichkeit – anstelle der visuellen Metapher von Anschauung – führt die Analyse dieses Textes zu den Verwandlungsoperationen zwischen Geistigem und Körperlichem in Kafkas Berichten über Rudolf Steiner zurück, von denen die Überlegungen zu den ‚Übungen im Beschreiben‘ ihren Ausgang genommen haben. 3.5.1 Peinliche Situationen: Die Beschreibung von Gefühlen durch Bildzitat und Bild-Erfindung Beim Diktieren einer größern Anzeige an eine Bezirkshauptmannschaft im Bureau. Im Schluß, der sich aufschwingen sollte, blieb ich stecken und konnte nichts als das Maschinenfräulein Kaiser ansehn, die nach ihrer Gewohnheit besonders lebhaft wurde, ihren Sessel rückte hustete, auf dem Tisch herumtipte und so das ganze Zimmer auf mein Unglück aufmerksam machte. Der gesuchte Einfall bekommt jetzt auch den Wert, daß er sie ruhig machen wird, und läßt sich je wertvoller er wird desto schwerer finden. Endlich habe ich das Wort „brandmarken“ und den dazu gehörigen Satz, halte aber alles noch im Mund mit einem Ekel und Schamgefühl, wie wenn es rohes Fleisch, aus mir geschnittenes Fleisch wäre (solche Mühe hat es mich gekostet). Endlich sage ich es, behalte aber den großen Schrecken, daß zu einer dichterischen Arbeit alles in mir bereit ist und eine solche Arbeit eine himmlische Auflösung und ein wirkliches Lebendigwerden für mich wäre, während ich hier im Bureau um eines so elenden Aktenstückes willen einen solchen Glückes fähigen Körper um ein Stück seines Fleisches berauben muß143
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Im Falle der Beschreibung von Wahrgenommenem scheinen beide Funktionen ineins zu fallen, da es ja eben die Anschauung ist, die wiedergegeben werden soll und zu diesem Zweck anschaulich vorstellbar gemacht wird. Statt angesichts dieser Anschaulichkeit von ‚realistischer‘ oder ‚naturalistischer‘ Darstellung zu sprechen, wie es in der Kafka-Literatur verbreitet ist, habe ich oben den Begriff des „Wirklichkeitseffekts“ vorgeschlagen, um der Differenz zwischen den beschriebenen Ansichten und der Bildhaftigkeit der Beschreibung Rechnung zu tragen. Tagebucheintrag vom 3.10. 1911, KKAT S. 53, Z. 18 - S. 54, Z. 15. Der Eintrag bricht hier ab.
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Der Bericht über ein Erlebnis im Büro ist zu einer anekdotischen Erzählung geformt. In dramatischer Steigerung baut sich ein Spannungsbogen auf, der in dem gesuchten Einfall gipfelt. Der Druck der peinlichen Situation wächst, je unruhiger das „Maschinenfräulein“ wird, das die innere Unruhe des Erzählers antreibt und diese zugleich der Außenwelt anzeigt, was den Druck wiederum verstärkt. Um so größer ist der Effekt, als der endlich gefundene Einfall keine Erlösung bringt, weil das Aussprechen des gefundenen Wortes sich als neue, noch viel schlimmere Peinlichkeit erweist. Kafkas Tagebuch ist reich an Schilderungen von peinlichen Situationen. So findet sich z.B. am Anfang des ersten Heftes der Bericht über eine Lesung, die allmählich zur Katastrophe wird (dazu s.u.). In ständigem Kippen zwischen Verzweiflung und Komik vermittelt dieser Text sowohl das Empfinden des Vortragenden als auch das Lachbedürfnis eines – gleichwohl mitleidenden – Zuhörers. Aus diesem Gegeneinander entsteht eine Spannung, die an Szenen aus dem Variété oder dem Stummfilm erinnert, deren Komik sich aus der Verzweiflung eines clownesken Helden speist. Voraussetzung dieser Spannung ist die Beteiligung des Zuschauers: Er muß die Verzweiflung des Helden mitfühlen, um den komischen Kontrast zwischen Wollen und Wirklichkeit herzustellen. An Kafkas Aufzeichnung über sein Erlebnis im Büro läßt sich besonders gut zeigen, mit welchen Mitteln er die Übertragung des Gefühls von Verzweiflung auf den Leser erreicht, die für das tragikomische Kippen notwendig ist. Am Anfang steht auch hier die Peinlichkeits-Komik angesichts des nervösen Maschinenfräuleins. Dann aber schlägt dieses Gefühl in ein anderes, nicht mehr im Lachen zu distanzierendes um. Der Moment dieses Umschlags wird mit einer Körpermetapher bezeichnet: „Endlich habe ich das Wort ‚brandmarken‘ und den dazu gehörigen Satz, halte alles aber noch im Mund mit einem Ekel und Schamgefühl wie wenn es rohes Fleisch, aus mir geschnittenes Fleisch wäre (solche Mühe hat es mich gekostet).“ „Wort“ und „Satz“ werden durch den Vergleich verdinglicht zu etwas, das sich als realer Gegenstand, nicht nur metaphorisch im Mund befindet. Aus dem, was in übertragener Rede ‚auf der Zunge liegt‘, wird in der Wörtlichnahme dieses Bildes ein Stück Fleisch. Auf der Zunge liegt nicht mehr ein Satz, sondern ein Bissen. In diese Vorstellung kreuzt der Vergleich die Assoziation zu einer anderen, verwandten Redensart ein: die Vorstellung, man müsse sich ‚auf die Zunge beißen‘, um etwas nicht zu sagen. Das Eßbare im Mund wird dadurch – andeutungsweise – ein Stück des eigenen Körpers. Als ein Stück „rohes Fleisch“ ist es beinahe eine zweite Zunge. Daß das Fleischstück im Mund „roh“ ist, macht die Vorstellung besonders ekelhaft, worauf die den Ekel noch verstärkende Fortsetzung folgt, es sei „aus mir geschnittenes Fleisch“.144 Am Ende der 144
Dieser konkretisierende Zusatz wurde eingefügt, nachdem der Satz mit „wäre“ schon abgeschlossen war, wie um die Kraft des Bildes noch zu steigern (vgl. KKAT, Apparatband, S. 177).
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schrittweisen Entwicklung dieses Bildes bleibt der Eindruck zurück, es sei dem Erzähler die Zunge abgeschnitten worden, und als hätte er es selbst getan, um sich am Reden zu hindern. Zugleich ist dieses Stück Fleisch eben das Wort, das mithilfe dieser Zunge hätte ausgesprochen werden sollen, und das nicht preisgegeben werden darf, weil es das Eigenste ist. Der Vergleich erzeugt also eine doppelte metonymische Verschiebung zwischen Wort und Fleisch. Grundlage dieser Verschiebung ist eine mehrfache Verwandlung von Geistigem in Körperliches. Der erste Teil des Satzes („halte alles aber noch im Mund“) inszeniert zunächst die Suspension der Spannung, eine kurze Zeitspanne der Verzögerung, in der Wort und Satz Zeit haben, im Mund, also auf dem Weg zwischen Einfall und Äußerung, auf der Grenze zwischen Körper und Geist, zu verweilen. Der Satz ist hier schon nicht mehr als immaterielle Idee vorgestellt, sondern als etwas, das sich bereits konkretisiert hat, das schon aus dem Geist des Ich hervorgegangen ist, aber den Körper noch nicht verlassen hat. Dieses ‚aufder-Zunge-Liegen‘ ist natürlich selbst eine geistige Vorstellung, die jedoch wörtlich genommen wird. Dadurch werden Satz und Wort als etwas Körperliches angesprochen. Sie „im Mund [zu] halten“, beschreibt eine beinahe gestische Handlung, etwas zu „halten“, bedeutet, es zu berühren. Aus diesem körperlichen Verhältnis zum Satz im Mund leitet sich der aus zwei Empfindungen gemischte Zustand von „Ekel und Schamgefühl“ her. Er wird im nächsten Schritt mit dem Vergleich illustriert und begründet, „wie wenn es rohes Fleisch, aus mir geschnittenes Fleisch wäre“. In diesem Bild findet eine Überkreuzung von zwei starken Gefühlen statt, die in ihrer Widersprüchlichkeit das Ich gleichsam nach zwei Seiten ziehen. Die Emotion, die das Ich beherrscht, ist doppelseitig: der „Ekel“ richtet sich nach innen, die „Scham“ nach außen. Dieses Gefühl gibt eine doppelte Antwort auf die Frage, warum der Sprecher den Satz nicht aussprechen kann bzw. will. Er behält ihn im Mund, weil er sich schämt – und ekelt sich, weil er ihn im Mund behält. Beide Gefühle sind durch das Bild des „rohen Fleisches“ komplementär aufeinander bezogen. Dieses Bild greift die Doppelseitigkeit des gemischten Gefühls als gegenstrebige Fügung zusammen; es ist ein Vexierbild, das als Übertragungsoperation nach zwei Seiten zugleich funktioniert. Dieser Metapher ist es zu verdanken, daß die Situation verzweifelt ausweglos erscheint: denn weder Ausspucken noch Herunterschlucken ist möglich. So wird der verlängerte Zwischen-Augenblick des ImMund-Behaltens zur Tortur. Auf die Vorstellung von dem rohen Zustand des Fleisches folgt der konkretisierende Zusatz, es sei „aus mir geschnitten“. Dieses Bild des Schneidens illustriert nicht mehr das Ekelgefühl des Ich – wiewohl es geeignet ist, dieses Gefühl beim Leser zu verstärken –, sondern es bezeichnet das Gewaltsame der Anstrengung („solche Mühe hat es mich gekostet“). Zugrunde liegt die Redensart, man müsse sich einen Einfall oder ein Wort mühevoll ‚entreißen‘ (und auch die Vorstellung, etwas nur widerwillig herzugeben; ‚man kann ihm kein Wort
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entreißen‘). Diese Rede aber bezieht sich üblicherweise auf den schwerfälligen Kopf, dem Ideen zu entreißen wären. Das von Kafka gesetzte Herausschneiden betont demgegenüber die Verstümmelung und Verarmung des Körpers. Das Wort, das gefunden werden mußte, wurde vom Körper des Autors abgeschnitten und liegt jetzt auf seiner Zunge. Seine Preisgabe bedeutet einen Verlust, der aber auch durch Verschweigen nicht mehr zu verhindern ist, da das Wort ja bereits abgetrennt wurde und die Zerstörung damit schon stattgefunden hat. 3.5.2 Unästhetische Wirkungen und Grenzüberschreitung: Die Einbeziehung des Lesers Beim Lesen von Kafkas Bericht wird mit sinnlicher Eindrücklichkeit erfahrbar, daß – und warum – das Finden des gesuchten Wortes für das Ich Ekel, Scham und Qual bedeutet. Dies ist die Leistung des beweglichen Vergleichsbildes, das den inneren Vorgang nachvollzieht, indem es sich schrittweise vom „im Mund halten“ des Wortes bis zum „aus mir geschnittenen Fleisch“ entwickelt. Andeutungsweise, in der Kombination von Bildzitat und Bilderfindung, verwandelt sich das auf der Zunge liegende Wort in eine abgeschnittene Zunge, die man im Mund behält. Dieser Vorgang löst ein Gefühl des Ekels im Leser aus. Der Vergleich leistet also nicht allein die Veranschaulichung der Gefühle des Ich, sondern er erzeugt sie beim Leser. Vermittelt über die Suggestion eines tastsinnlichen Eindrucks, wird das Empfinden des Ich vorstellbar und sogar nachfühlbar. „[...] und nun setzt sich diese komplizierte Maschinerie langsam in Bewegung, die Nadeln schreiben, und aus kleinen Kannülen [sic] spritzt Wasser das Blut fort – als ich so weit gelesen hatte, schluckte ich einen faden Blutgeschmack herunter und suchte nach einer Entschuldigung und dachte: Allegorie ...“, schrieb Kurt Tucholsky in seiner Rezension zu Kafkas Erzählung In der Strafkolonie.145 In der Art und Weise, wie Kafkas Texte zur Imagination des Lesers sprechen, liegt eine Wirkungsabsicht, die sich auf eine gefühlsmäßige, quasi somatische Beteiligung richtet und in Grenzfällen bis zur Suggestion eines „Blutgeschmacks“ gehen kann. Aus den Sprachbildern ergibt sich ein Appell an das Empfinden des Lesers. Dessen Wirkung kann in der Stärke des Gefühls variieren. Während in dem Eintrag über die Mitsutas die Entwicklung einer Bildvorstellung dazu führt, daß ein Gefühl der Verzweiflung nachvollziehbar wird, überschreitet der Eintrag über das Diktat im Büro die Grenze zum Ekel, d.h. zur körperlichen Ansprache des Lesers. 145
Kurt Tucholsky: „In der Strafkolonie“ (1920), in: Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten (1912-1924), hrsg. v. Jürgen Born u.a., Frankfurt/M. 1979, S. 93-96, Zitat S. 94; weiter heißt es: „Aber dieses Kunstwerk ist so groß, daß es keiner Entschuldigung bedarf, und eine Allegorie ist erst recht nicht vonnöten.“
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Die Thematisierung von Verzweiflung, Ekel und Beklemmung gehört zu den typischen Merkmalen von Kafkas Texten.146 Winfried Menninghaus hat in seiner Studie zum Ekel als Grenzphänomen des Ästhetischen Kafkas Strategie in der Entfaltung von Ekel-Bildern als ästhetisierend-anästhesierend bezeichnet. Kafka beschreibe die widerlichsten Vorgänge mit kühler Distanz und neutralem Blick, gleichsam als hinter Glas unschädlich gemachte. „Kafkas Kunst besteht [...] darin, die Präsenz und die starken Reizwerte eines Ekelhaften, das sie gleichwohl offen darbietet, fast völlig unsichtbar, unfühlbar zu machen.“147 Aus diesem scheinbar unschuldigen Zugriff auf Tabuisiertes bezögen Kafkas Texte eine Quelle von Lust.148 Dieser Lesart kann ich nicht vollständig zustimmen. Zwar ist die Neutralität des Blicks auf ekelhafte und schmerzliche Vorgänge in der Tat ein auffälliges Merkmal von Kafkas Beschreibungen. Zugleich aber scheint mir diese Teilnahmslosigkeit durchaus ambivalent zu sein. Der scheinbar kühle Blick erzeugt starke Spannungen und widersprüchliche Gefühlslagen. In der Erzeugung, nicht in der anästhesierenden Betäubung solcher Spannungen sehe ich die Bedeutung der Büroszene und ähnlicher Tagebucheinträge für Kafkas literarische Texte. An der Büro-Aufzeichnung läßt sich die Art und Weise analysieren, wie Ambivalenzen im Text hervorgebracht werden, und wie ihre Spannung auf den Leser übertragen wird: im Ausgreifen auf die Vorstellungskraft des Lesers, der zur imaginativen Beteiligung an dem Gedankenspiel mit ZungenFleisch und Messer aufgerufen wird. Aus diesem Spiel entstehen keine durch Ästhetisierung „unfühlbar“ gemachten Empfindungen, sondern durchaus fühlbare und äußerst unästhetische Wirkungen. Sie verwehren es dem Leser, sich dem Text gegenüber frei zu verhalten. Kafkas Texte wollen ihren Leser unmittelbar erreichen und ergreifen, sie wollen ähnliche ‚Direktverbindungen‘ herstellen und damit womöglich ähnlich körperliche Wirkungen erzielen, wie sie Kafka beispielsweise an der Rhetorik 146
147
148
Kafka selbst hat seine Erzählung In der Strafkolonie, seinem Verleger Kurt Wolff gegenüber, als peinlich bezeichnet: „Ihr Aussetzen des Peinlichen trifft ganz mit meiner Meinung zusammen, die ich allerdings in dieser Art fast gegenüber allem habe, was bisher von mir vorliegt. Bemerken Sie, wie wenig in dieser oder jener Form von diesem Peinlichen frei ist! Zur Erklärung dieser letzten Erzählung füge ich nur hinzu, daß nicht nur sie peinlich ist, daß vielmehr unsere allgemeine und meine besondere Zeit gleichfalls sehr peinlich war und ist und meine besondere sogar noch länger peinlich als die allgemeine.“ Brief an Kurt Wolff vom 11.10. 1916, zitiert nach: Franz Kafka: In der Strafkolonie. Eine Geschichte aus dem Jahre 1914. Mit Quellen, Chronik und Anmerkungen hrsg. v. Klaus Wagenbach, Berlin 1995, S. 63. Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt/M. 1999, zu Kafka Kap. VII: Der Engel des Ekels - Kafkas Poetik des ‚unschuldigen‘ Genießens ‚schwefliger‘ Lüste, S. 333-484, Zitat S. 333. Diese Angst-Lust an ekelhaften und gewaltsamen Vorstellungen zeigt sich in vielen Eintragungen des Tagebuchs, in denen das Ich z.B. den gierigen Verzehr des Inhalts eines schmierigen Wurstgeschäfts imaginiert oder die Phantasie entwickelt, von seinem Körper würden mit einem Messer seitlich feine Scheiben abgetrennt (Tagebucheinträge vom 30.10. 1911, KKAT, S. 210, und 4.5. 1913, KKAT, S. 560). Vgl. dazu ausführlich W. Menninghaus, a.a.O., S. 405-427: Poetik des Essens und Erbrechens.
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Rudolf Steiners bewunderte. Winfried Menninghaus benennt diese Qualität der Büroszene ebenfalls. Er führt sie jedoch nicht auf die sprachliche Form der Sätze zurück, sondern bezieht die Fleisch-Metaphorik auf ein poetologisches Programm, das sich an rhetorischen Traditionen orientiere: „[Ein Stichomythem] ist in emphatischem Sinn ein treffendes Wort, treffend als eine stechende und schneidende Waffe. Kafkas Poetik des Messers bezieht sich im Modus radikaler Literarisierung auf diese Kategorie des treffenden, weil erfolgreich stechenden und schneidenden Wortes.“149 Dieser Hinweis ist einleuchtend. Dennoch scheint er mir zugleich etwas irreführend, denn er entfernt sich von den Sätzen des Tagebuchs, um stattdessen eine Poetologie jener Sätze zu entwerfen, die von dem Autor zu einem anderen Zeitpunkt erst zu schreiben wären. Dabei gerät aus dem Blick, daß bereits die Sätze über das Büro-Erlebnis jenen ‚treffend-schneidenden‘ Erfolg erreichen, den Menninghaus als Ideal beschreibt. Sie sind nicht nur poetologische Äußerung, sondern zugleich immer schon Teil einer poetischen Praxis. Wie verhält diese Praxis sich zur poetologischen Dimension des Textes? Ähnlich wie im Falle der Audienz bei Rudolf Steiner, schildert Kafka in der Büro-Aufzeichnung einen Moment der Inspiration als ein körperliches Erlebnis. Während in der Steiner-Eintragung das Verhältnis des Ich zu seinen Einfällen als ein körperliches beschrieben worden war, sind hier die Wörter selbst ein Teil seines Körpers, „Fleisch“, um das er diesen Körper berauben muß. Das Verhältnis des Autors zu seiner „dichterischen Arbeit“ wird als eine Beziehung beschrieben, in der sein Ich sich auflöst und auf eine andere, als „wirklich“ gekennzeichnete Weise lebendig würde. Es ist eine Auferstehungs- oder Wiedergeburtsvorstellung: die Auflösung wäre „himmlisch“, die Wiedergeburt „wirklich“. Dieser chiastischen Vertauschung der Epitheta entsprechend, ist dieser Zustand keine Vergeistigung, sondern der Zustand „eines solchen Glückes fähigen Körper[s]“. Es ist offenbar ein ‚eigentlicheres‘ Leben, das eines zweiten Körpers, der aus Worten besteht bzw. mit und in ihnen lebt und im WörterFinden und -Schreiben „eines solchen Glückes“ fähig ist. Dieses Glück ist, Winfried Menninghaus zufolge, in jenem Einfall verwirklicht, den sich das Autor-Ich im Büro entreißt. Daher liest Menninghaus die Szene als „Urszene dichterischer Spracherfindung“. Das Wort als „aus mir geschnitten[es]“, rohes Fleisch sei kein „Indiz des Scheiterns“, sondern es „krönt vielmehr die Suche, besiegelt sie als Analogon ‚dichterischer Arbeit‘ “. Erwartet werde von dem Gesuchten „nicht so sehr ein Sinn, sondern eine performative Leistung: eine qualvolle Spannung vermöge einer Kraft des Treffens zu lösen. Und für diese Kraft des Treffens steht eben der Schnitt ins (eigene) Fleisch ein.“150 Diese Feststellung kann für das Wort „brandmarken“ zutreffen. Das Fleisch-Bild selbst aber, das in dem zitierten Eintrag für diese Sprach-Erfindungs149 150
W. Menninghaus, a.a.O., S. 436f. W. Menninghaus, a.a.O., Zitate S. 438 u. 437.
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Erfahrung steht und zugleich Ergebnis einer Spracherfindung ist, löst die „qualvolle Spannung“ nicht, im Gegenteil. Es ist und bleibt ambivalent, und diese Spannung verleiht der ganzen Szene eine eindringlich-ekelhafte Note. Das Ziel dieser Tagebuchaufzeichnung ist also nicht allein die Rechenschaft über einen Moment dichterischer Erfindung und die poetologische Reflexion desselben. Es kommt ihrem Autor offenbar darauf an, dem im Tagebuch Geschriebenen selbst eine Intensität zu verleihen, die derjenigen vergleichbar wäre, die er beim Diktieren im Büro erfahren hatte. Jener Satz, den das gesuchte Wort „brandmarken“ erlösend komplettierte, wird noch nicht einmal zitiert. Stattdessen versuchen die Sätze des Tagebuchs, jenes Gefühl wieder zu beleben, das sich an die Suche nach dem passenden Wort geknüpft hatte. Die Vermittlung dieses Gefühls ist die performative Leistung, die mir an diesem Eintrag interessant erscheint. Hier ist das ‚Schneiden‘ oder ‚Treffen‘, das die Spracherfindung leisten kann, nicht als poetologische Theorie, sondern als poetische Praxis zu beobachten. Diese Beobachtung erlaubt Antworten auf die Frage, wie, auf welche Weise es Kafkas Sätzen gelingt, ‚treffend‘ zu werden, d.h. den Leser unmittelbar zu erreichen. Näher an eine Antwort darauf führt ein Diktum von Theodor W. Adorno, der die Qualität von Kafkas Sätzen benennt, indem er deren Wirkungen metaphorisch einem Medium annähert, in welchem die Wirkungsabsicht des ‚Treffens‘, der unmittelbaren, quasi-körperlichen Ansprache, als Wirklichkeitseffekt beschreibbar ist: „Unter den Voraussetzungen Kafkas ist nicht die geringfügigste, daß das kontemplative Verhältnis von Text und Leser von Grund auf gestört ist. Seine Texte sind darauf angelegt, daß nicht zwischen ihnen und ihrem Opfer ein konstanter Abstand bleibt, sondern daß sie seine Affekte derart aufrühren, daß er fürchten muß, das Erzählte käme auf ihn los wie Lokomotiven aufs Publikum in der jüngsten, dreidimensionalen Filmtechnik.“151 Adornos Feststellung verweist darauf, daß die treffende Eindrücklichkeit von Kafkas Darstellungsweise, welche das Dargestellte ähnlich ‚wirklich‘ oder ‚lebendig‘ wirken läßt wie die scheinbar aus der Leinwand hervorbrechende Lokomotive, mit dem Ausgreifen des Textes auf die Gefühle des Lesers verbunden ist. Meine Analysen haben gezeigt, daß der Wirklichkeitseffekt und das „Aufrühren“ der Affekte ihren gemeinsamen Ursprung im Rekurs auf die Imagination des Lesers haben. Der Text appelliert an das Mitfühlen des Lesers, und zwar nicht in einem moralischen, sondern in einem somatischen Sinne, indem er „Ekel und Schamgefühl“ imaginativ nachvollziehbar werden läßt. Diese Gefühlswirkungen, die performative Qualität des Textes, läßt Menninghaus‘ Lektüre außer acht. Sie sind jedoch als im Sprechen je schon vollzogene Probe 151
Theodor W. Adorno: „Aufzeichnungen zu Kafka“, in: ders., Prismen. Schriften 10/1, Frankfurt/M. 1977, S. 248-281, Zitat S. 256. Im Hinblick auf die Beziehungen zwischen der Kino-Metapher und den Rezeptionseffekten, die sie beschreibt, verweise ich auf meine obigen Ausführungen zum „Wirklichkeitseffekt“.
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aufs Exempel ein wesentlicher Bestandteil der poetologischen Reflexion. Die Rede vom Wort als Körper ist hier nicht nur als Metapher zu verstehen, sondern zugleich Teil des damit bezeichneten Projekts, d.h. selbst schon ein Schritt auf das Ziel hin, die Sprache körperlich werden zu lassen, bzw. mit der Schrift körperhafte Wirkungen zu erreichen. Dabei sei mit ‚körperhaft‘ die somatische Intensität dieser Texte bezeichnet, die das Beschriebene in unmittelbar-sinnlicher Präsenz erfahrbar werden lassen. Dies ist eine poetische Praxis, die der von Menninghaus diagnostizierten Anästhesierung zuwiderläuft. Es ist die Frage, ob der Rückgriff auf die Imagination des Lesers eine gezielt kalkulierte Strategie darstellt, d.h. ob Kafka seine Vergleichsbilder absichtsvoll konstruierte, um Phantasie und Affekte des Lesers in Gang zu setzen. Diese Frage betrifft den Schaffensprozeß und kann daher höchstens spekulativ beantwortet werden. Immerhin enthält die zitierte Eintragung aber einige Anhaltspunkte für solche Spekulationen. Möglicherweise wäre ein körperliches Empfinden beim Schreiben ein Indikator dafür, ob ein Bild, ein Satz oder eine Erzählung gelungen ist, d.h. ob eine Intensität erreicht wird, die in der Lage ist, diese Gefühle auszulösen. Der erste Leser des Textes, der Autor selbst, wäre dann eine Kontrollinstanz, an deren (somatischen) Reaktionen sich die Qualität des Geschriebenen zeigen müßte.152 Die Wirkungsabsicht könnte also als ein durchaus bewußt verfolgtes Ziel bezeichnet werden. Ob dies zutrifft, kann für die Zwecke meiner Argumentation allerdings dahingestellt bleiben. Das wie bewußt auch immer verfolgte Ziel wäre in jedem Fall nicht auf dem Wege einer zweckgerichtet handhabbaren Kombinatorik von Verfahren zu erreichen. Das gelingende Schreiben bleibt auf die experimentelle Erprobung angewiesen; die Schreibarbeit muß ihre Mittel in jedem Satz aufs neue erfinden und deren Gültigkeit an ihrer Wirkung erweisen.
152
Vgl. hierzu Waldemar Fromms Lektüre der Passage (W. Fromm, a.a.O., S. 35). Fromm zufolge muß Kafkas Schreiben „quasi-organisch verstanden“ werden. Als solches garantiere es die ästhetische Existenz des Autors, das ‚wirkliche Lebendigwerden‘ (Kafka), in der „Körperlichkeit der Sprache“ und der „Sprachlichkeit des Körpers“ (W. Fromm, a.a.O., S. 39). Fromm stellt fest: „Als Zustand kann die Schreiberfahrung [...] leibhaftig werden. Sie zeigt sich am Körper und verdankt sich einer Äquilibristik, deren ‚Schwerpunkt‘ Kafka nicht bezweifelt, hat er sich als vollkommener Schreibzustand am Leib doch ausgewiesen.“ (ebd., S. 40). - Vgl. ebenfalls die an poststrukturalistischen Zeichentheorien orientierte Interpretation des Verhältnisses von Körper und Schrift bei Günter Samuel („Vom Ab-schreiben des Körpers in der Schrift. Kafkas Literatur der Schreiberfahrung“, a.a.O.). Mir erscheint Samuels Interpretation problematisch, da in ihr ‚Körper‘ und ‚Schrift‘ zu metaphorischen Funktionen werden (vgl. S. 471: „Das Streben nach dem ‚wahren Wort‘ wie nach dem verwandelten Körper, dem das zölibatäre Schreiben unterliegt, entkommt letztlich nicht dem testamentarischen Charakter einer Schrift, die den gefundenen Namen dem verschwundenen Körper nachträgt.“).
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3.5.3 Bild-Erfindung als Verfahren des imaginativen Schreibens Die Bild-Erfindungen im Vergleich sind das wichtigste Kunstmittel der untersuchten ‚Übungen im Beschreiben‘. Die Besonderheit dieser Vergleiche ist ihre Mehrschichtigkeit und die Beweglichkeit in der Verbindung der Ebenen. Mit einer spezifischen, eher bildlich als gedanklich stimmigen Logik führt die Überblendung von Bildbereichen die Abstraktionsleistung des Vergleichs wieder in die Anschauung zurück. Im Gegenzug erweitert das Vergleichsbild die Anschauung um Elemente, die in ihr ursprünglich nicht enthalten waren. Dieses assoziative Verfahren wechselt mit der Übertragung nicht in den Bereich einer anderen, d.h. der vergleichsweise herangezogenen Vorstellung, sondern es erweitert die Ausgangsvorstellung. Der Vergleich fügt dem Pfeiler den Fabrikskamin hinzu und dem auf der Zunge liegenden Wort das Stück Fleisch. Norbert Miller hat dieses Kunstmittel als „Scheinmetapher“ bezeichnet. Diese „setzt nicht zwei Bilder oder Vorgänge in eins, wobei das zweite in der Ersetzung das erste erläutert, sondern ein unverständlicher Vorgang fordert, um mindestens in seiner Rätselhaftigkeit Ausdruck zu finden, einen so nicht in der Erfahrung enthaltenen Alternativ-Vorgang“.153 Das in der Anschauung verharrende, vergleichend-assoziierende Verfahren habe ich bereits in der Beschreibung eines Kampfes am Beispiel der Erweiterung des Bildes einer schwankenden Pappel gezeigt. Die Erweiterung des Bildbereichs kann auch komplexere Situationen betreffen, zu denen ganze Handlungsverläufe hinzuerfunden werden. Dies ist der Fall bei dem eingangs bereits erwähnten Bericht von einer Lesung des Schriftstellers Bernhard Kellermann. Kafka stellt die Peinlichkeit der Situation dar, indem er vergleichsweise erfundene, hypothetische Situationen einfügt: [...] aus Langeweile über die Art des Vorlesens giengen die Leute trotz schlechter Spannungen der Geschichte immerfort einzeln weg mit einem Eifer, als ob nebenan vorgelesen werde. [...] Als er fertig war, stand alles auf, es gab etwas Beifall, der so klang als wäre mitten unter allen den stehenden Menschen einer sitzen geblieben und klatschte für sich. [...] Einige blieben noch, worauf er ein Märchen vorlas, das Stellen hatte, die jeden berechtigt hätten, von der äußersten Stelle des Saales mitten durch und über alle Zuhörer hinauszurennen.154
Durch die imaginierten Handlungen wird die Lesung als eine peinlich-komische Groteske vorgeführt, wobei die Entwicklung der „als-ob“-Situationen eine Steigerung inszeniert, in der sich die Veranstaltung zur Katastrophe entwickelt. In den Vergleichs-Erfindungen wird das Erleben des Betrachters als supplementier153
154
Norbert Miller: „Traum- und Fluchtlandschaften. Zur Topographie des jungen Kafka. Mit einem Exkurs über die Träume in der ‚Schwarzen Romantik‘ “, in: Möglichkeitssinn. Phantasie und Phantastik in der Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Gerhard Bauer u. Robert Stockhammer, Wiesbaden 2000, S. 63-102, Zitat S. 99. Tagebucheintrag vom 27.11. 1910, KKAT, S. 127f., Hervorh. v. mir.
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tes Geschehen erzählt. Sein Eindruck davon, mit welchem Eifer die Zuhörer weggehen, wie sich der Beifall anhört, welches Empfinden die vorgelesenen „Stellen“ auslösen, wird übersetzt in Handlungen und damit zum Teil des berichteten Verlaufs. Diese Darstellungsform umgreift Innen- und Außenansicht der Lesung in ein und derselben szenischen Veranstaltung. So kann beides, der Ablauf des Geschehens und die Spiegelung im Empfinden des Betrachters, mit dem gleichen, distanzierten Ernst berichtet werden. In ihrer Doppelseitigkeit kippt die Beschreibung ständig zwischen der Verzweiflung, die der Verlauf des Abends bei dem Vorlesenden und seinen gequälten Zuhörern auslöst, und der Komik, die sich durch die Imagination des Ganzen als Groteske vermittelt. Norbert Miller hat gezeigt, wie das reale und das imaginierte Geschehen jeweils genau verschränkt sind. „Das in seinem Witz kaum überbietbare ‚mit einem Eifer, als ob nebenan vorgelesen werde‘ unterschiebt dieser verlegenen Flucht den für die Bewertung des literarischen Abends vernichtenden Grund, sie hätten sich zu Kellermann verlaufen und wollten jetzt in aller Hast zu Kellermanns Lesung eilen. Das Bild der Besucher, die Angst vor dem falschen Saal und vor dem Zuspätkommen haben, wird substituiert zur Erklärung für die ungeduldigen Zuhörer, die aus Versehen am rechten Ort sind. Beide Bilder haben ihre Indizienschärfe um sich, beide arbeiten mit einem ganzen Mondhof der Aussparungen, zusammen ergeben sie ein Ganzes, das aber nicht sich in eins setzen läßt wie die Metapher.“155 Die „Schreibgesetzmäßigkeit“ dieser Texte sei es, die Beobachtung als Indiz festzuhalten und zugleich „im Gestus des Als-ob oder Wie-einer fortzuspinnen“.156 In wechselseitiger Bezüglichkeit verbinden sich die Rückversicherung am real Gegenwärtigen und die imaginative Erweiterung. Diese Struktur bringt Miller mit dem Traum in Verbindung: „Wer immer einen dieser Texte aufschlägt [...], begegnet solchen Als-ob-Figuren auf Schritt und Tritt. Sie führen über das Indiz hinaus, sie machen es erst zum Schlüssel eines teilweisen Traum- und Wirklichkeitsverständnisses.“ Dieser Gedanke läßt sich mit den Ergebnissen meiner Analyse der Beschreibungsübungen verbinden. Insofern aus den imaginativen Erweiterungen, d.h. aus dem Irrealen, in der vorfindlichen Welt überhaupt nicht Vorhandenen, der anschauliche Wirklichkeitseffekt der Kafkaschen ‚Übungen im Beschreiben‘ hervorgeht, können auch diese Übungen auf ein ‚Erzählen im Zeichen des Traums‘ bezogen werden. Die Bild-Erfindung als Mittel der Beschreibung wird zum Verfahren einer „imaginativen Schreibart“.
155 156
N. Miller, a.a.O., S. 99. N. Miller, a.a.O., S. 98. Das folgende Zitat S. 99.
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3.6 Ergebnisse: Die Konvergenz der Schreibstrategien ‚Erfinden‘ und ‚Beschreiben‘ In den vorstehenden Abschnitten habe ich Techniken des Erfindens und Techniken des Beschreibens untersucht, um herauszuarbeiten, welche sprachlichen Verfahren Kafka im ersten Tagebuchheft zwischen 1909 und 1911 erprobt. Diese Beispiele können als Stationen in der Entwicklung einer Schreibweise verstanden werden. Von den letzten Etappen dieser Entwicklungsgeschichte aus wird sichtbar, daß die verschiedenen Strategien, die sich im ersten Tagebuchheft aufweisen lassen, einen Zusammenhang bilden. Kafkas Aufzeichnungen von Beobachtungen und Erlebnissen im Tagebuch zeigen eine literarisierende Arbeit. Das Alltägliche wird zum Stoff einer Schreibübung, in welcher der Autor seine Auffassungs- und Beobachtungsgabe schult und seine sprachlichen Techniken entwickelt. Neben Einträgen, die ihr Thema von der Beschreibung der vorfindlichen Situation aus entwickeln – etwa die Lichtspiele auf der Zimmertür –, finden sich im Tagebuch aus dem Gedächtnis verfertigte Beschreibungen von Erlebtem und Beobachtetem. Diese Beschreibungsarbeit ist in zweifacher Hinsicht eine Tätigkeit der Imagination. Zum einen als Vergegenwärtigung des Erlebten und Beobachteten in der Vorstellungskraft, zum anderen als die Erfindung einer Formulierung, die den Eindruck erfaßt und ihn anschaulich werden läßt. Die ‚Übungen im Beschreiben‘ inszenieren das Beschriebene als Geschichte. Dabei kann es sich um nacherzähltes Geschehen handeln, das eine narrative Dramaturgie erhält, oder um Beobachtungen, die durch die Temporalisierung und Dynamisierung des Wahrnehmungsvorgangs allererst in narrative Abläufe verwandelt werden. In beiden Fällen arbeitet Kafka in der literarisierenden Aufzeichnung daran, den Eindruck eines unmittelbar vom Sichtbaren Abgeschriebenen, in direktem Zugriff Erfaßten herzustellen, bzw. das Beschriebene als lebendiges, bewegtes Geschehen zu präsentieren. Die Bandbreite solcher Beschreibungen reicht von einem notierenden Festhalten, das das Wahrgenommene wie mitstenographiert darbietet, bis hin zu Erzählverläufen, die Erlebnisse zu kleinen Geschichten ausformen. Von den Überlegungen zur Augenblicksbeobachtung ausgehend, ist das wichtigste Verfahren der Kafkaschen Beschreibung die Erweiterung des Wahrgenommenen durch hinzutretende Assoziationen und semantische Übertragungen. Die Erweiterung kann in der bloßen Andeutung einer metaphorischen Rede bestehen, sie kann aber auch bis zur hypothetischen Setzung eines imaginierten Geschehens gehen, das im Rahmen eines Vergleichs der Schilderung hinzugefügt wird. Diese Mittel treten in den Dienst einer Beschreibungsanstrengung, die das Wahrgenommene – das Objektive, Vorhandene – und den subjektiven Wahrnehmungseindruck in einem Bild zusammenbringt. Durch diese Doppelseitigkeit in der Überblendung von Subjektivem und Objektivem
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erreichen Kafkas Beschreibungen eine starke Eindrücklichkeit. Sie stellen nicht nur dar, was zu sehen ist, sondern zeigen zugleich, was nur empfunden werden kann: Stimmungen, Atmosphärisches, Gefühle. Die Spiegelung des Wahrgenommenen in der subjektiven Assoziation geschieht dabei nicht durch die Benennung des Gefühls, das der Betrachter mit dem Erlebnis verbindet. Stattdessen verlegt die Beschreibung dieses Gefühl durch die Erfindung von Vergleichsbildern in ihre Gegenstände. Vermittelt durch solche Vergleiche, geraten in das Außen Momente von imaginierter Anschauung hinein, in denen sich abbildet, wie etwas wahrgenommen und empfunden wird. Vorbild für diese Beschreibungs-Kunst ist die sinnliche Einheit von Wahrnehmungseindruck und Assoziationsleistung, die Goethes Augenblicksbeobachtung („Kastagnettenrhythmus der Kinder in Holzschuhen“) auszeichnet. Die Techniken der assoziierenden Erweiterung sind vielfältig. In den Tagebuchtexten finden sich immer neue Varianten, zwei Bilder, Vorstellungen oder Wörter zu Nachbarn zu machen (z.B. durch die Wörtlichnahme von Redensarten, die Erzeugung und Überblendung von Bildvorstellungen, aber auch über den Klang, etwa per Alliteration usw.). Diese Arbeit am Vergleich zielt immer darauf, in der gesuchten Annäherung eine wirkliche Verbindung zu finden bzw. zu erfinden, etwas zu treffen, das die beiden Vergleichsebenen im Moment zu einer verschmelzen läßt. Diese Verschmelzung habe ich als ‚Direktverbindung‘ bezeichnet. Sie funktioniert immer unter Weglassung oder Verschiebung eines entscheidenden Verbindungsgliedes und nähert die beiden Vergleichsebenen mit sinnlich-bildlicher Logik einander an. Charakteristisch an Kafkas Vergleichen ist die Beweglichkeit in dieser Verbindung. Sie entfaltet ihre Assoziationsleistung auf mehreren Wegen, wobei sie bekannte und erfundene Bild- und Sinn-Logiken vertauscht. Daraus ergibt sich ein déjà-vu-Effekt, der die überraschenden Neukombinationen von Vorstellungen unmittelbar einleuchtend erscheinen läßt. Ein Grundzug dieser ‚Direktverbindungen‘ im Vergleich ist die Vertauschung von Körperlichem und Geistigem, wie sie zuerst in den Aufzeichnungen über Rudolf Steiner sichtbar wurde. Diese Vergleichs- oder Verwandlungs-Operation erscheint mir wesentlich für die körperhaften Qualitäten der Kafka'schen Beschreibung, wobei mit ‚körperhaft‘ die somatische Intensität dieser Texte bezeichnet werden soll, die das Beschriebene in unmittelbar-sinnlicher Präsenz erfahrbar werden lassen. Mit ihren assoziativen Erweiterungen, die das Beschriebene anschaulich vorstellbar machen, appelliert die Beschreibung an die Einbildungskraft des Lesers. Der Eindruck von Wirklichkeit und Lebendigkeit, die atmosphärische Dichte der Anschauung, die sich in den Tagebuchberichten vermittelt, ist daher nicht einer realistisch zu nennenden Abschilderung von Wirklichkeit geschuldet. Die sinnlich-plastische Qualität der Darstellung ist ein Effekt, der durch das Ausgreifen des Textes auf die Imagination des Lesers zustandekommt und seine Wirkung unter dessen Mitwirkung entfaltet. Die Schreibart, die in diesen
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Übungen erprobt und entworfen wird, ist eine imaginative, insofern sie die Präsenz des Darzustellenden durch die Suggestion einer Anschauung erreicht, die über das tatsächlich Wahrnehmbare hinausgeht und es ins Irreale verlängert. Die imaginative Arbeit an den Vorstellungen verbindet die Beschreibungsübungen mit jener Gruppe von Einträgen, die ich als ‚Übungen im Erfinden‘ bezeichnet habe. Auch die Exerzitien am Vorfindlichen sind ‚Übungen im Erfinden‘, insofern die Arbeit am treffenden Vergleich keine andere ist als die an den Bild-Erfindungen, aus denen fiktionale Textansätze hervorgehen sollen. Die Beobachtungsprotokolle erzählen die Entfaltung dieser Bilder als Geschichte und stellen von bild- und sprachlogischen Verkettungen aus narrative Abläufe her. Auch darin sind sie den erfindend-entwerfenden Prozessen des ‚phantasierenden Schreibens‘ verwandt. In beiden Fällen entstehen die Texte als Sprachbewegungen und treiben ihren Aufbau durch semantische Kunstgriffe und logische Tricks voran. Die Verfahren, die ich an den beiden Strängen der Schreibübungen im Tagebuch herausgearbeitet habe, zeigen sich somit als doppelgesichtig. Sie dienen immer zugleich der Herstellung von Anschaulichkeit und dem Vorantreiben eines Erzählvorgangs. Dies gilt sowohl für das phantasierende Schreiben, welches das zu Erzählende erst erfinden muß, als auch für die Beobachtungsprotokolle, die das Vorhandene erzählbar machen und in Geschichten verwandeln. Es gibt also, vom Schreibverfahren her gesehen, gar keinen prinzipiellen Unterschied zwischen den als Phantasie entstehenden und den vom Sichtbaren abgeschriebenen – bzw. als Abschriften inszenierten – Textverläufen. Mit den gleichen Mitteln, mit denen die ‚Übungen im Erfinden‘ von der Bilderfindung aus im Ausspinnen von Assoziationen den Schreibvorgang zum phantasierenden Erzählen auszuweiten suchen, läßt sich die Beschreibung von Vorfindlichem an den Strom der Erfindung von Bildern koppeln. Das ‚Schreiben als Sehen‘ und das phantasierende Entwerfen nähern sich einander an. Beschreiben und Erfinden sind zunächst nicht mehr als zwei Methoden, einen Schreibstrom in Gang zu setzen und ihn zu verlängern. Doch beide gehen über das reine Geläufigkeitstraining hinaus. Die ‚Übungen im Erfinden‘ und die ‚Übungen im Beschreiben‘ sind, zumindest ansatzweise, ‚Übungen im Erzählen‘. In dieser Hinsicht besteht allerdings ein Unterschied zwischen den beiden Strategien. Den Übungen im phantasierenden Schreiben gelingt es letztlich nicht, eine Narration in Gang zu bringen, die sich vom Imaginations- und Sprachspiel lösen und eine selbständige, fiktionale Wirklichkeit entfalten könnte. In Richtung auf das Erzählen hin erreichen die Beschreibungsübungen mehr. Sie erzählen Geschichten, in denen das Beschriebene zu einem im Lesen anschaulich nachvollziehbaren, eindrücklichen Erlebnis wird. Diese Qualität ist es, die Kafkas später entstandene, literarische Texte auszeichnet. Insofern sind die Beschreibungsübungen mehr als ein Hilfsmittel zur Überwindung von Schreibkrisen und können nicht auf einen bloß handwerklich-mechanischen Aspekt reduziert werden. Sie
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sind ein genuiner Beitrag zur Entwicklung der „imaginativen Schreibart“, die sich in der literarischen Werkstatt der Tagebücher vollzieht. Wie läßt sich diese „imaginative Schreibart“ bestimmen? Die Konvergenz der Schreib-Modelle führt zu einer doppelten Definition. Das Ziel der Übungen ist es einerseits, einen Schreibfluß in Gang zu setzen, der das zu Erzählende im phantasierenden Entwerfen allererst herstellt. Andererseits soll das Geschriebene eine sinnlich-anschauliche Qualität erreichen. Es soll im Verlauf des Erzählens vor den Augen des Lesers heraufbeschworen werden und dabei Wirkungen entfalten und Spannungen erzeugen, die beinahe körperlich empfunden werden können. Anders gesagt: die „imaginative Schreibart“ ist eine Schreibweise, die darauf abzielt, den Text als einen imaginativen Prozeß entstehen zu lassen, der sich für den Leser ähnlich bildhaft und schrittweise entwickelt wie ein Traum, der genauso überdeutlich wirklich erscheint und genauso unmittelbar zur Empfindung spricht. Inwiefern der Traum tatsächlich ein Modell darstellt, in welchem die Übungen im Beschreiben und Beobachten mit dem imaginativen Entwerfen von Bildvorstellungen zusammenkommen können, werde ich zum Abschluß dieses Kapitels an einem der letzten Einträge des ersten Heftes zeigen.
4. Traumaufzeichnung als Modell eines phantasierenden Schreibvorgangs Traumaufzeichnungen stehen am Beginn und am Ende meiner Untersuchungen zur Entwicklung der Schreibverfahren in Kafkas frühen Tagebüchern. Mit den Eduardowa-Träumen beginnend, habe ich die Herausbildung eines phantasierenden Schreibens verfolgt. Dieses Projekt mündet gegen Ende des ersten Heftes wieder in das Aufschreiben von Träumen. Die letzten Eintragungen im ersten Heft reichen bis in den Herbst 1911. Sie bilden den Anfang einer Periode intensiven Tagebuchschreibens, die von Kafkas Begegnung mit einer ostjüdischen Theatergruppe Ende September 1911 ausging. Innerhalb weniger Tage verbrauchte Kafka mit ausführlichen Berichten über die Aufführungen dieses jiddischen Theaters die letzten Seiten des ersten Heftes. Allein die Einträge von vier Wochen (Oktober/November 1911) füllen das folgende, dritte Heft. In den gleichen Zeitraum fallen die ersten detaillierten Traumaufzeichnungen. Traumaufzeichnung und Theater-Nacherzählung sind Formen der Schreibübung, in denen die Beschreibungs- und Erfindungsarbeit von einer vorhandenen Geschichte und von bereits gesehenen, nicht erst zu erfindenden Bildern ausgehen kann. Aus der Erinnerung rekonstruiert Kafka die Bilderfolgen der Träume oder die szenischen Abläufe der Stücke und inszeniert sie aufs neue als Geschichten. Mit diesen Nacherzählungen gelingt ihm die angestrebte Verlängerung des Schreibvorgangs. In Kafkas Traumaufzeichnungen wird
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darüber hinaus ein neues Verfahren des phantasierenden Schreibens sichtbar. Im Hinblick auf dieses Verfahren unterscheidet sich die Rekonstruktion von Träumen von den Theatererlebnissen. Wie wird in diesen Traum-Texten erzählt, wie wird der Traum geschrieben?157 4.1 Genaueres Hinsehen und allmähliche Verfertigung Vor 1911 tauchen Traumaufzeichnungen in Kafkas Tagebüchern und Briefen nur sporadisch auf.158 Erst im Zuge des intensivierten Tagebuchführens werden Träume häufiger zum Material seiner Aufzeichnungen; desgleichen Berichte über schlaflose Nächte und Wachtraum-Zustände. Allein zwischen Oktober und Dezember 1911 finden sich im Tagebuch acht ausführliche Traumprotokolle.159 Besonderes Interesse zeigt der Tagebuchschreiber Kafka an den Bilderfindungen, die seine träumende Einbildungskraft hervorbringt.160 Neben der ausführlichen 157
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Diese Fragen sind in der Kafka-Forschung bislang nur selten gestellt worden. Im allgemeinen werden Kafkas Traumaufzeichnungen häufig zitiert und wenig untersucht; hauptsächlich interessiert ihre Rolle als Inspirationsquelle und Bildreservoir für literarische Texte. Die meisten Arbeiten, die auf Kafkas Traumnachschriften eingehen, widmen sich nicht den literarischen Verfahrensweisen dieser Texte, sondern dem Nachweis von Traumstrukturen, wobei sie sich überwiegend an Freuds Terminologie orientieren (vgl. am ausführlichsten: Friedrich Altenhöner: Der Traum und die Traumstruktur im Werk Franz Kafkas, Münster 1964; außerdem Selma Fraiberg: „Kafka and the Dream“, in: Partisan Review, Jg. 23, Nr. 1 (1956), S. 47-69; A.P. Foulkes: „Dream Pictures in Kafka's Writings“, in: The Germanic Review 40/1965, S. 17-30). Eine Ausnahme bildet der Beitrag von Manfred Engel: „Literarische Träume und traumhaftes Schreiben bei Franz Kafka. Ein Beitrag zur Oneiropoetik der Moderne“, in: Träumungen. Traumerzählung in Film und Literatur, hrsg. v. Bernard Dieterle, St. Augustin 1998, S. 233-262. Dieser Aufsatz bietet eine sehr ergiebige Auseinandersetzung mit Kafkas Traumaufzeichnungen, die unter dem Gesichtspunkt einer „Poetik des Traums“ untersucht werden. Engel bestimmt Kafkas „Traumstil“ anhand von Phantasiestruktur, Motiven und Semantik seiner Träume und stellt fest, daß dieser Stil sich nicht kategorisch von dem seines wachen Schreibens unterscheide. Im Traum sieht Engel ein Vorbild für eine intuitive, automatische Produktion, die Kafka angestrebt habe, sowie ein Modell für anti-mimetische Schreibweisen. - Vgl. auch die nach Abfassung dieser Studie erschienene Arbeit von Florence Bancaud zu Kafkas Tagebüchern mit ihren ausführlichen Überlegungen zum Zusammenhang von Traum und literarischer Schöpfung. An einigen Traumaufzeichnungen untersucht sie, wie Kafka den nacherzählten Träumen die Form einer Erzählung gibt, so daß diese zu „véritables ébauches littéraires“ werden (F. Bancaud, a.a.O., S. 319-355, Zitat S. 322). Vgl. außer den „Eduardowa“-Träumen von 1909 den Traum-Brief über Paris vom 20.10. 1910 (KKA: Briefe 1909-1912, S. 127f.). KKAT, S. 50f., 70-73, 205-207, 239-241, 253-258, 258f., 284f., 296f. Vgl. außerdem KKAT, S. 44 („auf dem Rande des Halbschlafs“), S. 49f. („Schlaflose Nacht“), S. 52f. („Die gleiche Nacht, nur noch schwerer eingeschlafen“). - In einer von Gaspare Giudice zusammengestellten Anthologie sind Kafkas Äußerungen über Schlafen, Wachen und Träumen, seine Traumprotokolle sowie traumähnliche Texte versammelt (Franz Kafka: Träume, hrsg. v. Gaspare Giudice und Michael Müller, Frankfurt/M. 1993). Vgl. z.B.: „Traum eines Bildes, angeblich von Ingres“ (20.11. 1911, KKAT, S. 258f.), oder „Heute habe ich im Traum ein neues Verkehrsmittel für einen abschüssigen Park erfunden“ (21.7. 1913, KKAT, S. 567).
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Beschreibung solcher Bilder werden aber auch ganze Traum-Geschichten im Tagebuch nacherzählt. Eines der frühesten Beispiele ist ein Eintrag vom 9. Oktober 1911, der ein Bordell-Abenteuer mit Max Brod zum Inhalt hat.161 Der Schreibende versucht, den Traum erinnernd nachzuvollziehen, indem er sich in die Perspektive des Träumers hineinversetzt und die Abfolge des Traums berichtet. An verschiedenen Stellen des Berichts über den Bordell-Traum ist die Mühe ablesbar, welche die Beschreibung der nur noch vage zu fassenden Bilder dem rekapitulierenden Erzähler macht. Es waren vielleicht lauter Zimmer mit Betten, durch die ich kam. Es ist mir ein typisches Bett in der Erinnerung geblieben, das seitwärts links von mir an der dunklen oder schmutzigen vielleicht dachbodenartig schiefen Wand steht, einen niedrigen Aufbau von Bettwäsche hat und dessen Decke, eigentlich nur ein grobes Leintuch, zusammengetreten von den Füßen dessen, der hier geschlafen hat, in einem Zipfel hinunterhängt.162
Die suchende Vergegenwärtigung eines Bildes ist in dieser Passage als Geschichte eines Blicks beschrieben. Aus dem Präteritum der Erinnerung („ich kam“) wird dabei das Präsens einer Wahrnehmung („steht“, „hat“ etc.). Diese vollzieht sich als stufenweise Fokussierung immer kleinerer Ausschnitte. Aus der unsicheren Reihe „vielleicht lauter Zimmer mit Betten“ wird im ersten Schritt ein einzelnes Bett vor einer Wand herausgehoben. Dann wird wiederum vor dem ungenauen Hintergrund von Wand und Bettwäsche die Bettdecke genauer beschrieben. Diese Beschreibung endet schließlich mit einem noch kleineren Ausschnitt, dem herunterhängenden Zipfel der Decke. Der Blick geht vom Unklaren aus und verengt sich immer konzentrierter, bis er ein Einzelnes scharf erfaßt. Dieses Verfahren macht aus dem Erinnerungsvorgang einen Wahrnehmungsvorgang, der sich als ‚genaueres Hinsehen‘ beschreiben läßt. Die Wahrnehmungs-Anstrengung besteht jedoch nicht nur im Fokussieren immer kleinerer Ausschnitte. Das genauere Hinsehen beginnt schon beim vagen Hintergrund, den die Beschreibung in der suchenden Korrektur durch „oder“ und „vielleicht“ zu erfassen sucht. Dieses Bemühen vollzieht sich als ständig fortschreitende Wandlung in allmählicher Annäherung an einen deutlicheren visuellen Eindruck: die Wand, die zuerst nur „dunkel“, also kaum zu sehen ist, wird immerhin „schmutzig“ und außerdem vielleicht „schief“. Die Bilder verändern sich auch im weiteren Fortgang des Traums, je nachdem, für was das Auge sie ansieht bzw. als was der Erzähler sie benennt. Dieser Erzähler beschreibt offenbar kein Bild, das ihm fertig vor Augen steht. Doch beschreibt er andererseits auch kein Bild, das einfach nur undeutlich ist und bleibt. Durch die 161
162
Tagebucheintrag vom 9.10. 1911, KKAT, S. 70-73. Vgl. eine Analyse dieses Traumes bei Manfred Engel, a.a.O., S. 239-244. Engel geht hauptsächlich auf die Verfremdungen der Realität sowie auf Aspekte von Motivik und Semantik des Traumgeschehens ein und bietet insofern eine Ergänzung zu meiner Lektüre, in der diese Aspekte vernachlässigt werden. KKAT, S. 70, Z. 17-24.
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fortschreitende Fokussierung des Blicks und in der fortgesetzten Wandlung des Erkennens bzw. Benennens, im genaueren Hinsehen wird das Bild zusehends deutlicher. Die allmähliche Verfertigung der Beschreibung ist zugleich die allmähliche Verfertigung ihres Gegenstands. Die Bezeichnung „allmähliche Verfertigung“ für die Struktur dieser Beschreibung entleihe ich von Kleist.163 So wie Kleist zufolge die Gedanken sich erst im Sprechen formieren, können offenbar auch die Gegenstände der Beschreibung, d.h. die gesehenen Bilder, nicht einfach aus der Erinnerung hervorgeholt werden, in der sie vollständig gespeichert, auf Abruf zur Verfügung stünden. Sie sind nicht auf einen Blick, im Überblick zu erfassen, sondern nur nach und nach, mit dem Fortschreiten eines bewegten Blickes, der von einem zum nächsten geht. Dies ist jedenfalls die Methode, die der Erzähler seines Traums gewählt hat, um diesen wiederzugewinnen. Der Traum muß im Wieder-Erinnern noch einmal neu erlebt, neu geträumt werden. Im genaueren Hinsehen vollzieht sich die imaginative Vergegenwärtigung, der Vorgang des Sich-Erinnerns, als sähe der sich schreibend Erinnernde die Bilder in diesem Moment zum ersten Mal. Genauer: als sähe er etwas, das im Moment vor seinem Erscheinen im Bewußtsein noch gar nicht existierte. In einer Vertauschung von Ursache und Wirkung erzeugt der Blick allererst seinen Gegenstand. An diesem Blick entlang entsteht außer den Bildern auch die Position des Betrachters, d.h. der die Perspektive bestimmende Standpunkt („links von mir“), und darüber hinaus eine kleine Geschichte, wenn die fokussierende Bewegung des Blicks parallel verläuft mit der vorgestellten Bewegung der Füße, die die Bettdecke zum Haufen am Ende des Bettes zusammengetreten haben. Wie ein Träumer beim Betreten des Raums, weiß der Berichtende am Anfang des Satzes noch nicht, was ihm begegnen wird bzw. was er beschreiben will. Dies wird besonders deutlich, wenn der Träumer schließlich das Bordell betritt: Die der Tür durch die ich eintrat gegenüberliegende Wand, also die letzte Wand der Häuserreihe war entweder aus Glas oder überhaupt durchbrochen und ich wäre beim Weitergehn hinuntergefallen. Es ist sogar wahrscheinlicher, daß sie durchbrochen war, denn es lagen gegen den Rand des Fußbodens die Dirnen, klar waren mir zwei, auf der Erde, der einen hieng der Kopf ein wenig über die Kante hinaus in die freie Luft hinunter.164
Erneut ist die vergegenwärtigende Erinnerung als Geschichte eines Blicks erzählt, vor dem die Bilder in zunehmender Fokussierung entstehen. Von der Wand, bzw. der leeren Fläche, die sich noch unentschieden von „Glas“ zu der Möglichkeit, „überhaupt durchbrochen“ zu sein, entwickelt, wird der Blick verengt zum Fußboden hin, wo Dirnen liegen, insbesondere zwei, von denen wiederum nur eine einen Kopf hat, der im letzten Bild und als kleinstes Detail dem 163
164
Heinrich von Kleist: „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. v. Helmut Sembdner, Bd. 2, München (7)1987, S. 319-324. KKAT, S. 71, Z. 14-22.
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„herunterhängenden Zipfel“ entsprechend, über die Fußbodenkante in die Luft hinausragt. Erst hier ist die Wand nicht mehr da, sondern „Luft“ geworden. Dieses Wissen hat der Schreibende am Anfang des Satzes noch nicht: denn woher sonst die Korrektur „es ist sogar wahrscheinlicher“? Erst am Schluß, im Lichte der sich bis dahin vollziehenden Beobachtung, wird klar, daß es nicht nur „wahrscheinlicher“, sondern sicher ist, daß keine Wand vorhanden ist. Solange aber der Träumer nicht bei diesem überhängenden Kopf angekommen ist, ist die Wand „aus Glas oder überhaupt durchbrochen“. Durch das Schreiben am Sehen, an der Bahn des bewegten Blickes entlang ergibt sich eine Verkettung der zusehends deutlicher werdenden Bilder als Abfolge. Die fokussierende Verfertigung eines visuellen Eindrucks stiftet einen Zusammenhang, der den Traum als eine Art Geschichte erzählbar – und auch lesbar – werden läßt. Auch andere Träume Kafkas sind nach ähnlichen Entwicklungslogiken aufgebaut (die nicht immer Logiken des Sehens sein müssen), so daß ihre Abläufe Dynamik gewinnen und zu Geschichten werden. Diese Qualität unterscheidet Kafkas Traumaufzeichnungen von anderen Traumberichten, die oft spannungslos einem Und-Dann-Schema folgen, dessen Stationen unverbunden bleiben. Das ‚Schreiben als Sehen‘ hatte Kafka, wie gezeigt, bereits in seinen Beobachtungsprotokollen entwickelt. Die Traumaufzeichnungen unterscheiden sich von solchen Protokollen insofern, als hier nicht etwas Vorhandenes beschrieben wird, sondern in der tastenden Annäherung der Beschreibung die Gegenstände selbst erst in dem Moment zu existieren beginnen, in dem der Träumende sie wahrnimmt bzw. in dem der Erzähler seines Traums sie beschreibt. Die Details entstehen aus einem unscharfen, beinahe leeren Hintergrund heraus, und ihre Umgebung bleibt vage. Dadurch vermittelt sich ein erstaunlich authentischer Eindruck des Traumhaften. Es scheint, als könne man lesend dem Traum im Entstehen zusehen.165 Das Verfahren, den Traum erinnernd als Geschichte eines Blicks auszuformulieren, ihn also im Aufschreiben noch einmal nachzuträumen, läßt sich als ein geregeltes Phantasieren beschreiben – geregelt, da ja die Bilder nicht vollständig neu erfunden werden müssen, sondern bereits, wenn auch vage, in der Erinnerung vorhanden sind. Daher scheint die Nacherzählung von Träumen als Schreibübung besonders geeignet. Ein Tagebucheintrag vom Dezember 1911 (der im Hinblick auf die Bedeutung des Autobiographischen für Kafka in der 165
Damit soll nicht behauptet werden, daß die Traumaufzeichnungen für mögliche Leser geschrieben worden seien. Reinhard Baumgart hat zu Recht auf den Unterschied zwischen den Traumprotokollen im Tagebuch und den auf einen Adressaten bezogenen TraumNacherzählungen in Kafkas Briefen hingewiesen, die „ungleich sorgfältiger, vielleicht auch vorsichtiger aufgeschrieben und strukturiert“ seien. (Reinhard Baumgart: „Kafka träumt. Eine Skizze“, unveröffentliches Manuskript, Berlin 1998, S. 6. Ich danke dem Autor für die Überlassung des Manuskripts.)
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Forschung oft zitiert wird), bezeichnet die Traumaufzeichnung ebenso wie das Schreiben einer Autobiographie als einfachste Form des Schreibens: Meinem Verlangen eine Selbstbiographie zu schreiben, würde ich jedenfalls in dem Augenblick, der mich vom Bureau befreite, sofort nachkommen. [...] Dann aber wäre das Schreiben einer Selbstbiographie eine große Freude, da es so leicht vor sich gienge, wie die Niederschrift von Träumen [...].166
Der Eintrag entwirft die Wunschvorstellung eines Schreibens, das „im Augenblick [...] sofort [...] so leicht“, d.h. wie von selbst vor sich gehen soll. Dieses Schreiben ist im Falle der Träume vermutlich deshalb so einfach zu erreichen, weil es ein Nacherzählen ist; dies nämlich haben Träume und „Selbstbiographie“ gemeinsam. In beiden Fällen ist im Gedächtnis bereits das Ausgangsmaterial dessen vorhanden, was sonst, in der freien Erfindung, erst hervorgebracht werden muß: Bilder und ihre Verkettung zu einer Handlung. Das Nacherzählen von Träumen wäre also gleichsam ein ‚Erfinden mit Geländer‘, ein imaginierendes Entwerfen, das zwar von Moment zu Moment ins Ungewisse fortschreitet, dabei aber auf ein ungefähres Handlungsgerüst zurückgreifen kann. Wie „leicht“ das Aufschreiben der nachgeträumten Erinnerung „vor sich gieng[e]“, läßt sich auch daran ablesen, daß die Traumaufzeichnungen kaum Korrekturen aufweisen, also offenbar ohne Absetzen niedergeschrieben wurden.167 Nur an einzelnen Stellen führen nachträgliche Veränderungen den am Text ablesbaren Vorgang der allmählichen Verfertigung des Bildes im Schreiben fort: aus „Flecken“ werden z.B. „Kreise“. Insbesondere die Kartoffelsuppe am Schluß des Traums macht Beschreibungs-Schwierigkeiten: Dann stand ich dort und sah besorgt zu, wie Max ohne Angst in diesem Lokal eine Kartoffelsuppe aß, aus der die Kartoffeln als große Kugeln heraussahen, hauptsächlich eine. Er drückte sie mit dem Löffel, vielleicht mit 2 Löffeln in die Suppe hinein oder wälzte sie bloß.168
Im Korrekturvorgang wird die Beschreibung zum Detail verengt, indem „hauptsächlich eine“ eingefügt wird. Im nächsten Satz drückt die Max-Figur die Kartoffel erst „hi[nein]“, dann „zurü[ck]“, dann dann wieder „hinein“, worauf Kafka, nachdem er den abschließenden Punkt und einen den Eintrag beendenden Querstrich schon gesetzt hatte, noch hinzufügte „oder wälzte sie bloss.“, um den offenbar unbefriedigenden Eindruck noch einmal zu korrigieren.169
166 167
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Tagebucheintrag vom 17.12. 1911, KKAT, S. 298. Vgl. die Darstellung der Korrekturvorgänge in KKAT, Apparatband, S. 183-184. Sie betreffen hauptsächlich Rechtschreibfehler. Nur an einer modal etwas schwierigen Stelle wurde die Wortstellung verändert; ansonsten blieben die Worte in der aufgeschriebenen Reihenfolge, selten durch Einfügungen wie „noch“, „doch gerade“ verstärkend ergänzt. KKAT, S. 72, Z. 27 - S. 73, Z. 6 (Ende der Eintragung). KKAT, Apparatband, S. 184.
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4.2 Nachklappen der Wahrnehmung Der Autor des Traumnotats wird zu einem zweiten Träumer, der seinen Traum im Nacherzählen neu erschafft, ihn nachträumend nachdichtet. In diesem Sinne mag er dem Tagträumer aus dem eingangs dieses Kapitels zitierten Aufsatz von Sigmund Freud über den „Dichter und das Phantasieren“ ähnlich scheinen, der träumend dichtet, wenn er sich eine Fiktionswelt als Wunschvorstellung entwirft. Und doch auch wieder nicht: Wenn der Autor der Traum-Nacherzählung sich in den Träumer hineinversetzt, der er war, dann wird er dadurch nicht zum Regisseur seines Traums. Zu Recht hat Manfred Engel darauf hingewiesen, daß der träumende Autor Beobachter bleibt; ein Beobachter zwar, der über alles Wissen und Reflexionsvermögen seines Wachseins verfügt, dem aber das, was er sieht, doch ohne Vorauswissen zustößt.170 Diese Beziehung zwischen dem Traum und seinem Erzähler ist doppelseitig strukturiert. Das Nichtwissen des Erzählers bildet die Voraussetzung für den Vorgang des nachträumenden Imaginierens im genaueren Hinsehen. Andererseits bestimmt das Nichtwissen bereits die Position des Träumers, zu dem sich der Erzähler, nachträglich schreibend, ins Verhältnis setzt. Dies zeigt sich besonders deutlich in einer Passage, in der der Träumer erfährt, daß er das Geschehen, das vor seinem Blick entsteht, nicht kontrollieren kann. Ich hatte hauptsächlich mit der Dirne zu tun, deren Kopf herabhieng, Max mit der links neben ihr liegenden. Ich betastete ihre Beine und blieb dann dabei, ihre Oberschenkel regelmäßig zu drücken. Mein Vergnügen dabei war so groß, daß ich mich wunderte, daß man für diese Unterhaltung, welche doch gerade die schönste war, noch nichts zahlen müsse. Ich war überzeugt daß ich und ich allein die Welt betrüge. Dann erhob die Dirne bei ruhenden Beinen ihren Oberleib und wandte mir den Rücken zu, der zu meinem Schrecken mit großen siegellackroten Kreisen mit erblassenden Rändern und dazwischen versprengten roten Spritzern bedeckt war. Jetzt bemerkte ich, daß ihr ganzer Körper davon voll war, daß ich meinen Daumen auf ihren Schenkeln in solchen Flecken hielt und daß auch auf meinen Fingern diese roten Partikelchen wie von einem zerschlagenen Siegel lagen.171
Im Gegensatz zur allmählichen Verengung des Blicks im genaueren Hinsehen steht hier das plötzliche Nachklappen der Wahrnehmung, ein Sehen auf den zweiten Blick, als eine Art umgekehrtes déjà-vu.172 Nicht allmählich, sondern schlagartig kommt dabei ein neu gesehenes Detail in den Blick. Von der verspäteten, nachträglichen Nahsicht aus weitet sich der Blick auf den ganzen
170 171 172
Vgl. M. Engel, a.a.O., S. 244. KKAT, S. 71, Z. 27 - S. 72, Z. 16. Vgl. zu diesem Traum-Phänomen des ‚Nachklappens‘ als literarische Technik Norbert Miller: „E.T.A. Hoffmanns doppelte Wirklichkeit. Zum Motiv der Schwellenüberschreitung in seinen Märchen“, in: Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie. Festschrift für Wilhelm Emrich, hrsg. v. Helmut Arntzen u.a., Berlin/New York 1975, S. 357-372, hier S. 367-369.
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Körper der Frau und auch den Körper des Träumers selbst, wobei jetzt erst sichtbar wird, daß auch er schon längst mit Flecken infiziert ist. Auch die Geschichte dieser Entdeckung vollzieht sich am Blick entlang. Doch ist dieser Blick nicht mehr der erzeugende, zudringliche Blick des genaueren Hinsehens, mit dem der Erzähler seinen Traum zu erfassen versucht hatte. Es ist der verspätet und plötzlich gewahr werdende Blick des Träumers, der dem Geschehen ausgeliefert ist. Beide Phänomene gehören komplementär zusammen, denn in beiden Wahrnehmungen entsteht das, was gesehen wird, erst durch den Blick. Bevor der Träumer nicht hingesehen hat, hat es die Flecken nicht gegeben. Dann aber waren sie schon längst vorhanden. Dieses plötzliche Nachklappen der Wahrnehmung manifestiert sich auch in anderen Traumaufzeichnungen Kafkas in der stereotypen Formel „Jetzt bemerkte ich auch ...“. Der zweite Blick zeigt die paradox strukturierte Beziehung von Wirklichkeit und Wahrnehmung im Traum. Einerseits bringt der Blick den Traum zur Erscheinung, als erschaffe er ihn am Sehen entlang, andererseits aber stößt das Traumgeschehen dem seiner zu spät gewahr werdenden Träumer zu. Die Traumaufzeichnung folgt diesem Erleben des Träumers in seiner Doppelseitigkeit. Einerseits identifiziert sich der den Traum Nachschreibende mit dem erzeugend-imaginierenden Blick des Träumers, als träume er selbst; andererseits ist er diesem Blick voraus und setzt ihn bewußt als Organisationsprinzip seiner Niederschrift ein. Die Entdeckung der Flecken ist als Blick-Geschichte, die auf den Moment des plötzlichen Umschlags zuläuft, dramaturgisch gestaltet. Der Erzähler schreibt hier offensichtlich nicht in sein eigenes Nichtwissen hinein, sondern er inszeniert die Überraschung des Träumers. Aus dem wie unbewußten Verfolgen des Blicks wird eine bewußt kontrollierte Strategie. Statt vom träumenden Nicht-Vorherwissen ist sie von einem traum-analogen Nicht-Vorherwissen-Wollen geleitet. Diese willentliche Unwissenheit unterscheidet das Verfahren der Traumaufzeichnung von dem Modell des willkürlichen Entwerfens, wie es in der Beschreibung eines Kampfes das ‚Erzählen im Zeichen des Traums‘ bestimmt. Auch dort findet sich bereits das Traum-Modell der wechselseitigen Abhängigkeit von Blick und Wirklichkeit, wenn die phantasmagorischen Landschaften vom Blick des Erzählers gezeugt werden, und einstürzen, sobald er nicht mehr hinsieht. Weil alles Ich ist, kann nichts ohne Ich geschehen. Von diesem Wechselverhältnis ausgehend, formulieren die phantastischen Erzähl- und Traum-Experimente der Beschreibung den Wunsch, das Traum-Verhältnis zwischen Ich und Wirklichkeit auf die Beziehung zwischen Erzählvorgang und erzähltem Geschehen zu übertragen. Die Miniaturen der Betrachtung setzen diese Experimente fort mit dem Ziel, die Wirklichkeit als erzählte aus der Rede hervorgehen zu lassen. Um dem zu Erzählenden zugleich voraus und hinterher zu sein, entwickeln sie Erzählmodelle, die es ermöglichen, in der Spannung zwischen ‚Flucht‘ und ‚Verantwortung‘ der Wirklichkeit benennend zuvorzukommen und ihr doch nur abschreibend
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nachzufolgen. Zwischen dem Befehl dessen, was ohnehin geschieht, und dem Erfinden des Vorhandenen ist die Erzählerrede gegenüber dem Erzählten sowohl voraus als auch verspätet. Die Traum-Nacherzählung ermöglicht es, dieses Verhältnis herzustellen und dabei das willentliche, gezwungene Moment zu umgehen. Diese neue Entdeckung der Traumaufzeichnungen geht auf eine Beobachtungs- und Schreibhaltung zurück, die Reinhard Baumgart folgendermaßen beschrieben hat: „[...] immer zeigt sich der Protokollant Kafka bemüht, als Autor keine Herrschaft über den Traum zu gewinnen, keine Autorität, sondern sich von ihm führen zu lassen, auch in und über Risse, Sprünge, Schwarzstellen im Film. Das ist schwierig, letztlich unmöglich, denn genau genommen setzt ein Traum, in dem ja Urheber, Hauptdarsteller, Täter, Opfer, ja sogar Leiden und Aktion miteinander verschmelzen, unsere sprachliche Subjekt-Objekt-Prädikat-Logik außer Kraft. Träumt der Träumer den Traum oder nicht vielmehr der Traum den Träumer? Sollte die schöne und genaue Wendung ‚Es träumte mir‘ womöglich genauer, wenn auch unschön heißen: ‚Es träumte mich‘?“173 4.3 Das Aufzeichnen von Träumen als phantasierender Schreibvorgang Die Traumaufzeichnung ermöglicht es, eine Form jenes träumenden Erzählens zu realisieren, an dem Kafka seit der Beschreibung eines Kampfes arbeitete. Diese Feststellung ist allerdings nahezu tautologisch, insofern das träumende Erzählen eben dem Modell des Traumes folgt.174 Die Form des Traumberichtes von 1911 erscheint mir jedoch auch aus anderen Gründen bemerkenswert. In der Doppelseitigkeit von Erzeugen und Wahrnehmen wird die Traum-Nacherzählung zu einer Form der Aufzeichnungsarbeit, in der die beiden Richtungen der Schreibübungen im Tagebuch zusammenkommen können. In der Nacherzählung des Bordell-Traums gehen erfindendes Entwerfen und beobachtendes Protokollieren eine Synthese ein. Die Traumaufzeichnung zeigt modellhaft einen Schreibvorgang, in dessen Verlauf nicht allein das zu Erzählende erst erfunden wird – wie in den ‚Übungen im Erfinden‘ –, sondern in dem zugleich am Blick entlang eine Wahrnehmung als Geschichte erzählt wird, die eine Verkettung von Bildern vor den Augen des Lesers entstehen läßt – wie in den ‚Übungen im Beschreiben‘. Diese Konvergenz beruht auf der besonderen Erinnerungsleistung, die der Traumaufzeichnung eigen ist. Im Vergleich zum während des Tages Erlebten und 173 174
R. Baumgart, „Kafka träumt“, a.a.O., S. 7. Vgl. M. Engel, a.a.O., S. 245: die Parallele zwischen der Aufzeichnung von Träumen und Kafkas übrigen Texten habe „die Frage nach einer Oneiropoetik eher beschwert als beantwortet, da sie zu einer Henne-Ei-Frage zu werden droht: Träumt Kafka, wie er schreibt - oder schreibt er, wie er träumt?“
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Beobachteten läßt sich geträumtes Geschehen ungleich schwieriger in die Vorstellungskraft zurückrufen. So nimmt die Traumaufzeichnung eine Zwischenstellung zwischen Erfinden und Beobachten ein. Erinnerte Bilder sind noch vorhanden, müssen aber im Zuge des Ausformulierens erst rekonstruiert bzw. neu konstruiert werden. Einen Traum aufzuschreiben, ist nicht mehr Beschreiben von Erlebtem und Wahrgenommenem und noch nicht ganz Erfindung. Daher kann das Verfahren der Traumaufzeichnung, in der die Beschreibung und ihr Gegenstand gleichzeitig verfertigt werden, als Vorstufe und Modell eines phantasierenden Schreibvorgangs gelten. Ich habe für das Verfahren der Traum-Nacherzählung den Begriff der allmählichen Verfertigung eingeführt. Mit diesem Begriff könnten auch die bereits in den vorigen Abschnitten analysierten Verfahren bezeichnet werden. Sowohl die schrittweise Herausbildung des zu Erzählenden in den ‚Übungen im Erfinden‘ als auch die Entwicklung von Blick und Bewegung in den ‚Übungen im Beschreiben‘ können mit demselben Recht als Verfertigungs-Prozesse angesprochen werden. Doch scheint mir der Begriff erst für die Traumaufzeichnung wirklich aussagekräftig zu werden, weil es in diesem Fall – anders als in den Beobachtungsprotokollen – das zu Erzählende zuvor noch nicht gegeben hat, da es erst erinnernd hergestellt bzw. erfunden werden muß, und weil hier – anders als in den Erfindungs-Übungen – ein Gegenstand der Beschreibung verfertigt wird, d.h. etwas, von dem erzählt wird, nicht nur eine Textbewegung. Aufgrund dieser Konstellation wird das Verfahren der allmählichen Verfertigung für die Entwicklung fiktionaler Texte interessant. Hier scheint ein Weg gefunden, sowohl über das Abschreiben von Vorfindlichem als auch über das leerlaufende Phantasieren hinauszugelangen und beide Verfahren zu einem produktiven Prozeß zu verbinden, in dem Erzählungen entstehen können. Ob dies tatsächlich der Weg war, auf dem sich die Entwicklung von Kafkas Schreiben vollzogen hat, muß dahingestellt bleiben, da keine Quellen existieren, die darüber Auskunft geben könnten. Immerhin aber läßt sich dieses Schreibmodell sinnvoll auf die Ergebnisse beziehen, die Malcolm Pasleys Analyse von Kafkas Manuskripten erbracht hat. Pasley hat den Begriff der allmählichen Verfertigung zuerst auf Kafkas Texte angewendet, um einen Prozeß zu kennzeichnen, den er bei der Lektüre der Handschriften entdeckte: die „allmähliche Verfertigung der Geschichte beim Schreiben“.175 Kafkas Schreibideal sei, so Pasley, die „restlose Verkoppelung von Erfindung und Niederschrift, das gleichzeitige Zustandekommen von Werk und Text“.176 Dieses Ideal habe Kafka erstmals bei der Niederschrift der Erzählung Das Urteil verwirklicht gesehen, die – wie der Autor im Tagebuch vermerkte – ohne Konzept und „in einem Zug“, während 175
176
Malcolm Pasley: „Der Schreibakt und das Geschriebene. Zur Frage der Entstehung von Kafkas Texten“, in: ders., „Die Schrift ist unveränderlich...“: Essays zu Kafka, Frankfurt/M. 1995, S. 99-120, hier S. 106. M. Pasley, a.a.O., S. 109.
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einer einzigen Nacht entstand.177 Pasley führt anhand der Manuskripte zum ProceßRoman vor, daß auch dieser Text ohne vorherige Überlegung beim Schreiben entstanden ist.178 Diesen Befund untermauert er mit Analysen der Textstruktur, die zeigen sollen, daß die Erzählung von einem initialen Gedanken aus während des Schreibvorgangs zum linearen Erzählverlauf ausgeweitet worden sei. – Von meiner Lektüre der Traumaufzeichnung aus läßt sich zeigen, daß Kafkas Schreiben das Ideal des „Schreibens in einem Zug“, im rein technischen Sinne einer Arbeitsweise verstanden, schon lange vor der Niederschrift des Urteils erreichte. Allerdings kamen bei diesen Schreibübungen keine Erzählungen zustande. Die Aufzeichnung von Träumen ist nicht mehr als ein Modell des phantasierenden Schreibvorgangs und nicht mit dem gelingenden Schreiben zu verwechseln. Dennoch stellt sich die Frage, welche Bedeutung die Feststellung hat, daß das phantasierend-entwerfende „Schreiben in einem Zug“ in der Aufzeichnung von Träumen erstmals möglich wird. Läßt sich das Träumen als Verfahren über seinen Modellcharakter hinaus auf das Erzählen beziehen? Dies würde bedeuten, daß das Erzählen ein träumendes werden müßte, daß der Schreibende, um Geschichten zu erfinden, wie ein Träumer verfahren könnte: letztlich also, daß das Schreiben wie ein Träumen vor sich ginge? Die Annäherung von Erzählen und Traum im Hinblick auf die Herausbildung einer „imaginativen Schreibart“ betreibt die vorliegende Arbeit von ihrem ersten Kapitel an. Dabei habe ich jedoch immer wieder darauf hingewiesen, daß Erzählen und Träumen nicht einfach aufeinander abzubilden sind. Welchen genauen Sinn diese Annäherung haben kann, muß in einer differenzierenden Betrachtung geklärt werden. 4.4 Traum und Erzählung Ist die Traumaufzeichnung als Vorform eines Erzählens zu sehen, das wie der Traum verfährt? Ganz offenkundig besteht eine enge Beziehung zwischen den Traum-Nacherzählungen und Kafkas „traum-analogem Erzählen“ (Baumgart).179 Zugleich bezeichnet diese Verwandtschaft genau den heiklen Punkt, an dem zwischen Träumen und Dichten zu unterscheiden ist. In der zitierten Traumaufzeichnung scheinen die allmähliche Entstehung des Traums, d.h. das Träumen selbst, und die Verfertigung der Traumbeschreibung identisch zu sein. 177 178
179
Vgl. den Tagebucheintrag vom 23.9. 1912, KKAT, S. 460. Vgl. Malcolm Pasley: „Wie der Roman entstand“, in: Nach erneuter Lektüre: Franz Kafkas ‚Der Proceß‘, hrsg. v. Hans-Dieter Zimmermann, Würzburg 1992, S. 11-33. „Kafkas traum-analoges Erzählen“: R. Baumgart, „Kafka träumt“, a.a.O., S. 2. Vgl. auch ebd., S. 3: „Wir müssen also versuchen, die kategoriale Grenze zwischen literarischem Traumtext und mühseligem Traumprotokoll dicht zu halten, wie Kafka. Die Frage ist, wie er das und ob er das erreicht.“
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III Tagebücher 1909 – 1911
Wenn aber das nachträumende Aufzeichnen beinahe ein träumendes Erfinden ist, dann, so scheint es, müßte der Autor, der eine Geschichte schreiben will, nur die Träume notieren, die ihm seine Phantasie diktiert bzw. die er phantasierend herbeiträumt. Diese Vorstellung wird von Kafkas Tagebucheintragungen gestützt – zumindest auf den ersten Blick. Kafka war nicht nur ein ausgesprochen produktiver Träumer, sondern auch ein Tagträumer, der seine „Halbschlafphantasien“180 in Erzähltexte hinein verlängerte, der seine Wachträume protokollierte und im Notieren in kunstvoll gestaltete, literarische Träume verwandelte. HansGerd Koch hat Kafkas träumerisches „Schreibtisch- und Kanapeeleben“ – wie Kafka es gegenüber Felice Bauer nannte181 – wohl zutreffend beschrieben: „Trotz aller Klagen über die schlaflos verbrachten Stunden: Das Bett und das Kanapee sind für Kafka Stätten der Ruhe und Konzentration, die besten Orte ‚für Trauer und Nachdenklichkeit‘ [F 55]. Hier denkt er über sein Unglück nach, ‚über Ausdem-Fenster-springen‘ [KKAT 397], hier werden Briefe ‚im Kopf gekocht‘ [KKAT 583]; im ‚Jammer im Bett‘ fällt ihm die ‚Verwandlung‘ ein [F 102] und nach ‚der schönsten Mannigfaltigkeit von Schlaf, Dusel, Träumerei und zweifellosem Wachsein‘ begibt er sich vom Bett an den Schreibtisch, um sich einiges für den ‚Verschollenen‘ zu notieren, das ihn ‚mit Macht im Bett angefallen hat‘ [F 280]. Auch im Tagebuch finden sich immer wieder offenbar in ähnlicher Weise entstandene Eintragungen, Beschreibungen sowohl von echten Träumen als auch von – vor allem am Nachmittag auf dem Kanapee entwickelten – ‚Halbschlafphantasien‘. Zwischen Schlaf und Schlaflosigkeit, ‚Dusel‘ und ‚zweifellosem Wachsein‘ stellt sich regelmäßig ein Zustand ein, der Kafkas Phantasie freien Raum läßt, in dem er in kontrollierten Wachträumen seinen Vorstellungen nachgeht, sich Erlebnisse aus seiner Vergangenheit vergegenwärtigt oder antizipierend Themen und Szenen seiner Texte mit Leben erfüllt.“182 Aufgrund der Verwandtschaft von Tagtraum und literarischem Schaffen haben sich Kafka-Leser und -Forscher schon früh für die autobiographischen Texte interessiert, in denen Kafka Träume notierte. Willy Haas z.B. sah in den Aufzeichnungen über jene Träume, die von Kafkas Beziehung zu Milena Jesenská handeln, „etwas durch eine gleichnishafte Erzählung gesagt, was sich anders überhaupt nicht ausdrücken läßt – nicht etwa schlechter oder weniger genau, sondern einfach überhaupt nicht“. Diese Aussageweise bezeichnet er als eine symbolische Struktur, die Kafkas Werken ähnlich sei, und sieht darin „den überzeugendsten Beweis für meine Meinung [...]: daß Kafka seine Werke mindestens im Keime ‚träumte‘, das heißt, daß sein Genie funktionell, in seinem spezifischen Traum-Realismus, seiner spezifischen Traum-Dichte, seiner Traum180 181 182
Tagebucheintrag vom 26.2. 1922: „Deine Halbschlafphantasien in letzter Zeit.“ (KKAT, S. 909). Briefe an Felice, S. 362. Hans-Gerd Koch, „ ‚Ringkämpfe jede Nacht‘ - Franz Kafkas ‚Schreibtisch- und Kanapeeleben‘“. Nachwort zu F. Kafka: Träume, a.a.O., S. 93-104, Zitat S. 94f. (Sigle F = Briefe an Felice).
Traumaufzeichnung als Modell eines phantasierenden Schreibvorgangs
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Logik und sogar in seiner ganzen Architektur oder Textur wesentlich in der Art des Traumes arbeitete [...]“.183 Was es aber heißen kann, daß Kafkas „Genie [...] wesentlich in der Art des Traumes arbeitete“, erweist sich als schwer bestimmbar, will man Träumen und Dichten nicht einfach ineins setzen. Haas spricht die Beziehung zwischen Träumen und Schreiben immerhin als eine literarisch vermittelte an und macht zwischen dem „Genie“ des Autors und seinen Träumen einen Unterschied. Diese Differenz wird in der späteren Kafka-Forschung kaum mehr reflektiert. Die Verwandtschaft von Träumen und Schreiben ist hier längst zum Gemeinplatz geworden. Immer wieder beruft man sich dabei auf Kafkas wohl am häufigsten zitierte Tagebucheintragung: Von der Litteratur aus gesehen ist mein Schicksal sehr einfach. Der Sinn für die Darstellung meines traumhaften innern Lebens hat alles andere ins Nebensächliche gerückt und es ist in einer schrecklichen Weise verkümmert und hört nicht auf zu verkümmern. Nichts anderes kann mich jemals zufrieden stellen.184
Diese Äußerung wird, angefangen mit Friedrich Beißners Vortrag „Der Erzähler Franz Kafka“ (1952), im allgemeinen dahingehend interpretiert, daß Kafkas Werke Ausdruck dessen seien, was in seinem „traumhaften innern Leben“ vor sich ging.185 Die Literatur als Darstellung einer Traumwelt: in dieser Kurzformel wird der Traum zum Modell für Kafkas Schreiben überhaupt. Diese direkte Beziehung von Träumen und Schreiben wird oft durch folgende Tagebucheintragung belegt: „Die ungeheure Welt, die ich im Kopfe habe. Aber wie mich befreien und sie befreien ohne zu zerreißen. Und tausendmal lieber zerreißen, als sie in mir zurückhalten oder begraben. Dazu bin ich ja hier, das ist mir ganz klar.“186 Die direkte Herleitung von Kafkas Werken aus Traum- und Innenwelten erscheint mir problematisch. Allzu leicht wird von Kafkas Äußerungen zur „Darstellung meines traumhaften innern Lebens“ auf eine Praxis des quasi automatischen Protokollierens von psychischen Vorgängen geschlossen, wie sie etwa Hartmut Binder vorschwebt, der sich Kafka vorstellt, „wenn er daran ging, seine ihn bedrängenden traumhaften inneren Gesichte zu Papier zu bringen“.187 Diese Vorstellung suggeriert eine Instanz hinter dem Autor – sein Unbewußtes oder was immer als Quelle der Träume und Phantasien angenommen wird –, die durch seine Vermittlung hindurch Text geworden sei. Dem Autor bleibt die Rolle 183
184
185
186 187
Willy Haas: „Nachwort“ zu Franz Kafka: Gesammelte Werke, hrsg. v. Max Brod, Band 4: Briefe an Milena, S. 277. Tagebucheintrag vom 6.8. 1914, KKAT, S. 546. Der Eintrag entstand einige Tage nach dem Beginn der Arbeit am Proceß-Roman. Vgl. Friedrich Beißner: Der Erzähler Franz Kafka. Ein Vortrag, Stuttgart (4)1961, S. 30: „Kafka bringt hier das Wesen seiner Kunst auf eine einfache Formel [...]. Das ist sein Erzählen in der Tat: Darstellung seines traumhaften innern Lebens.“ Undatierter Tagebucheintrag nach dem 21.6. 1913, KKAT, S. 562. Hartmut Binder: Kafka. Der Schaffensprozeß, Frankfurt/M. 1983, S. 9. Entsprechend schreibt Binder: „Die von Freud vorgenommene ‚Gleichstellung des Dichters mit dem Tagträumer‘ scheint haltbar, wenn man an die Gegebenheiten denkt, die Kafkas Erzählwelt und den Traum gleichermaßen auszeichnen.“ (ebd., S. 49).
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einer automatischen Schreibmaschine, die dem Diktat des „traumhaften innern Lebens“ unterworfen ist, oder allenfalls die Funktion einer Instanz, die Träume auf ungeklärte Weise in Literatur verwandelt. Ich werde im folgenden zeigen, daß die Ergebnisse meiner bisherigen Analyse einer solchen Sichtweise auf Kafkas Schreiben und auf seine Texte widersprechen. Dabei kann ich auf die ausgesprochen verzweigte Diskussion um Traum und Erzählung bei Kafka nicht im einzelnen eingehen (vgl. hierzu auch Kap. IV).188 Stattdessen werde ich von der Traumaufzeichnung her versuchen, die Kategorien zu bestimmen, in denen hier von einer Annäherung zwischen Träumen und Schreiben gesprochen werden kann. Die Analyse der Traumaufzeichnung zeigt, wie leicht es ist, in eine Konfusion zu geraten, in der die Erzählverfahren des Traums selbst (d.h. die Gesetze seiner narrativen Entwicklung), die Verfahren von Kafkas Nacherzählen von Träumen und schließlich die Verfahren von Kafkas Erzählen ununterscheidbar werden. Es kann der Eindruck entstehen, als sei das Traumprotokoll eine Zauberformel für Kafkas Erzählen. Doch vom Traum aus können ebensowenig Geschichten erfunden werden, wie Beobachtungen einfach vom Sichtbaren abgeschrieben werden können. Auch die Traum-Nacherzählung ist eine Inszenierung, eine literarisierende Arbeit, die der Autor allererst leisten muß. Daß daß Dichten nicht einfach wie ein Träumen, d.h. wie das von Freud angenommene Phantasieren funktionieren kann, hatte der Tagebuchschreiber bereits mit der allerersten Traumaufzeichnung über die Tänzerin Eduardowa erkennen können. Von diesem ersten Versuch aus, das Träumen ins Schreiben hinein zu verlängern, haben die Experimente des Tagebuchs das Phantasieren als Spracharbeit entdeckt. Erst auf der Grundlage dieser Arbeit werden Kafkas Traumaufzeichnungen zu bildhaft sich entwickelnden, als Geschichten zu lesenden, literarischen Texten. Während der Eduardowa-Traum noch vage bleibt, sind die Traumaufzeichnungen des Jahres 1911 durch die Übungen im Beschreiben und Beobachten geschult. Ein Schreiben als Sehen, das die Bewegung des Blicks nachvollzieht bzw. hervorbringt, verbunden mit einer dramaturgisch geschickten Inszenierung von Spannungszuständen zwischen ambivalenten Gefühlen, läßt die Traumaufzeichnungen allererst wie überraschend echte Dokumente von Traumprozessen wirken.189 Der Eindruck, man könne dem Traum beim Entstehen zusehen, ist ein Effekt, der den literarischen Verfahren seiner Vergegenwärtigung geschuldet ist. 188
189
Vgl. den Literaturbericht von Hartmut Binder in: Kafka-Handbuch, hrsg. v. Hartmut Binder, Stuttgart 1979, Bd. 2, S. 48-52. Im Vergleich des Eduardowa-Traums mit einem Traum von 1913 („Ich sitze im Garten eines Sanatoriums...“, 24.11. 1913, KKAT, S. 597f.) wird die neue Qualität der Traumnachschrift deutlich. Der Sanatoriums-Traum entspinnt sich, wie der Traum von der Tänzerin, aus fortwährender Verhinderung, baut aber im Widerstreit von Erwartung und Enttäuschung eine Spannung auf, die dem Eduardowa-Traum fehlt.
Traumaufzeichnung als Modell eines phantasierenden Schreibvorgangs
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In ihren sprachlichen Mitteln ist die Traumaufzeichnung wesentlich simpler als andere Texte im Tagebuch. Hier werden weder Beschreibungstechniken erprobt noch phantasierende Sprachbewegungen entfaltet. Die TraumNacherzählung ist zunächst schlicht ein Vehikel, das es einfacher macht, eine flüssige Textentwicklung zu erreichen. Träume sind Vorlagen, die dafür besser geeignet scheinen als andere. Während also die Niederschrift von Träumen im Hinblick auf ein phantasierendes Schreiben ein Fortschritt ist, fallen die Traumnotate in einer anderen Hinsicht hinter das zurück, was die Schreibübungen bis dahin erreicht hatten. In der Traumaufzeichnung ist es nicht die Sprache, die die Bilder hervorbringt. Die sinnlich-logischen Bildverkettungen der anderen Tagebuchtexte, die imaginative Spracharbeit findet sich hier nicht wieder. Die Traumaufzeichnung taugt also nur als ein Modell eines phantasierenden Schreibvorgangs, nicht aber als ein Beispiel für eine imaginative Schreibweise, für ein phantasierendes Erzählen. Letzteres findet sich in eben jenen TagebuchExperimenten, die jenseits der nächtlichen Träume, in der Schreibarbeit zwischen anschaulicher Darstellung und imaginativer Texterzeugung, Möglichkeiten des Erzählens erproben. Allerdings ist die imaginative Schreibart mit dem Traum verwandt, weil sie aus der Arbeit der Einbildungskraft hervorgeht. Das Verfahren eines träumendphantasierenden Schreibens, das sich in allmählicher Verfertigung entwickelt, ist daran angelehnt, wie ein Traum sich bildet. Die sprach- und sinnlogischen Operationen bringen Verkettungen von Bildern hervor, so wie die Phantasie des Träumers Bilderfolgen entstehen läßt. Was in den Schreibübungen aus dem Phantasieren und Protokollieren entsteht, aus den Sätzen, die Vorstellungen herbeizwingen, wäre also womöglich mit größerem Recht ein Traum zu nennen, als es die Traumaufzeichnungen sind. Es sind Träume, die nicht das Unbewußte dem Autor diktiert, der sie nur mitschreiben müßte, sondern Träume – Imaginationsprozesse –, die von den Wörtern und Sätzen hervorgebracht werden, die er schreibend erfindet. Das Herbeiziehen von Träumen ist, auf Kafkas literarische Verfahren bezogen, nicht die Tätigkeit des tagträumenden Autors, sondern die Tätigkeit seiner Sätze.190 Diese sprachlichen Handlungen sind bei jeder Lektüre aufs neue zu erleben. Es öffnete sich die Tür und es kam, gut im Saft, an den Seiten üppig gerundet, fußlos mit der ganzen Unterseite sich vorschiebend der grüne Drache ins Zimmer hinein. Formelle Begrüßung. Ich bat ihn völlig einzutreten. Er bedauerte dies nicht tun zu können, da er zu lang sei. Die Tür mußte also offen bleiben, was recht peinlich war. Er lächelte halb verlegen, halb tückisch und begann:
190
Diese Differenz übersieht auch Manfred Engel in seiner ansonsten sehr sorgfältigen Argumentation. Vgl. M. Engel, a.a.O., S. 238: Der Traum sei für Kafka ein Vorbild für eine „intuitive“ und „automatische“ Produktion.
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Durch Deine Sehnsucht herangezogen, schiebe ich mich von weither heran, bin unten schon ganz wundgescheuert. Aber ich tue es gerne. Gerne komme ich, gerne biete ich mich Dir an.191
Den Traum zu schreiben, ist die Arbeit der literarischen Phantasie, nicht die des Unbewußten. Das Traumhafte ist keine fertige Struktur, die man den Träumen – oder den Traumnotaten – abziehen könnte, um sie den zu erfindenden Geschichten zugrunde zu legen; es ist ein poetisches Prinzip. Wenn Kafka literarische Texte schreibt, dann schreibt er nicht Träume nach, die sein „inneres Leben“ ihm diktiert. So wenig, wie die nächtlichen Träume als Material zur Verfügung stehen, das nur noch abgeschrieben werden müßte, so wenig sind Kafkas literarische Texte als Traumprotokolle zu verstehen. Es sind traumähnliche Texte, in denen die Wörter und Sätze das zu Erzählende allererst erfinden; Texte, die das, wovon sie erzählen, ihrerseits der Einbildungskraft diktieren, nämlich der des Lesers; Texte, die zur Imagination sprechen und vor den Augen des Lesers eine Folge von Bildern entstehen lassen. Der wesentliche Beitrag der Traumaufzeichnungen im Tagebuch zur Entwicklung dieses traum-analogen Erzählens ist die Haltung des Protokollanten, die einen zugleich willentlich vorangetriebenen und unwillkürlich sich entwickelnden Schreibvorgang ermöglicht, d.h. eine Gleichzeitigkeit von ‚Laufenlassen‘ und ‚Voraus-sein‘. Diese neue Entdeckung ist im Falle der Traumaufzeichnungen nicht, wie in den bisher besprochenen Schreibübungen, einer sprachlichen Technik zu verdanken. Sie geht auf ein strukturelles Merkmal zurück: die Doppelseitigkeit von erzeugender und wahrnehmender Funktion des Blicks. Das Auge des Träumers, das den Traum zugleich projiziert und erlebt, bestimmt die Position, von der aus der gewesene Träumer und jetzige Autor seinen Traum erinnernd nacherfindet. Diese Struktur ermöglicht ein Erzählen ins Weiße hinein, offen auf das erst noch zu Träumende und zu Erzählende hin.
191
KKA: Nachgelassene Schriften und Fragmente II, S. 547f.
IV Der Heizer 1. Einleitung Mit seinen Veröffentlichungen Das Urteil und Der Heizer trat Kafka im Jahr 1913 als Erzähler in Erscheinung.1 Die beiden unmittelbar nacheinander entstandenen Werke markieren einen Wendepunkt in seiner schriftstellerischen Entwicklung. Sie überwinden die kleine Form der Betrachtung, beenden die Phase des experimentierenden Frühwerks und bilden eine Erzählweise heraus, die prägend für Kafkas Romane werden wird. Mit diesen Erzählungen beginnt der ‚klassische‘ Kafka. Aus diesem Grund gilt die Nacht vom 22. auf den 23. September 1912, in der Kafka die Erzählung Das Urteil schrieb, als das wichtigste Datum in der Geschichte seines Werks. An diesen sogenannten „Durchbruch“2 schloß sich eine äußerst produktive Schaffensphase an. Wenige Tage danach begann Kafka mit der Niederschrift seines ersten Romans Der Verschollene. Anfang Oktober hatte er das erste Kapitel mit dem Titel Der Heizer vollendet; bis Ende Januar 1913 entstanden fünf weitere Kapitel sowie die Erzählung Die Verwandlung.3 Die Leistungen und Voraussetzungen des „Durchbruchs“ sind in der KafkaForschung bereits in vielerlei Hinsichten beleuchtet worden. Mit den unterschiedlichsten Ansätzen hat man versucht, die Metamorphose eines Autors zu erklären, der jahrelang nur wenige Texte fertiggestellt und noch weniger publiziert hatte und nun plötzlich gleich mehrere vollkommene Erzählungen präsentierte. Diese Rekonstruktionen kreisen meist um zwei neue Konstellationen, die Kafkas Schreibsituation im Herbst 1912 grundlegend verändert haben. Zum einen eine private: Im September 1912 begann Kafka den Briefwechsel mit seiner späteren Verlobten Felice Bauer. Zum anderen eine literarische: Im Urteil etabliert Kafka zum ersten Mal einen Konflikt zwischen Vater und Sohn. (In beiden Fällen lassen 1
2
3
Das Urteil: Erstdruck in Arcadia. Ein Jahrbuch für Dichtkunst, 1913; Der Heizer. Ein Fragment, Kurt Wolff Verlag, Leipzig 1913. In der Forschung wird die Niederschrift des Urteils allgemein als Kafkas literarischer „Durchbruch“ bezeichnet. Oft wird auch behauptet, Kafka selbst habe diesen Ausdruck gebraucht (so etwa bei Michael Müller: Franz Kafka: Das Urteil. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 1995, S. 110). Mit Ausnahme des Heizers wurden die Kapitel des unvollendet gebliebenen Romans erst 1927 von Max Brod in einer von ihm redigierten Version unter dem Titel Amerika veröffentlicht. Die Verwandlung entstand im November/Dezember 1912 und erschien 1915 in der Zeitschrift „Die weißen Blätter“.
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IV Der Heizer
sich private und literarische Dimension allerdings kaum trennen.) – Warum die „Entdeckung des Vaters“ für Kafkas Erzählen den „Durchbruch“ bedeutete, hat Reinhard Baumgart am Beispiel des Heizers beschrieben: „Weder Raban noch der Icherzähler der ‚Beschreibung eines Kampfes‘ hatten sich als Söhne zu erkennen gegeben, waren als Junggesellen außerhalb aller familiaren, ja sozialen Bindungen nie in ein erzählerisch ergiebiges Spannungsfeld geraten, hatten also mit ihrem richtungslosen Taumeln die Erzählbewegung schließlich erlahmen lassen. Erst im Sohn und in dem auf ihm lastenden Autoritäts-, Verantwortungs-, Schulddruck hat Kafka das Konfliktpotential entdeckt, das seine erzählende Prosa über längere Strecken in Atem halten kann. Ab jetzt gilt, was er später an den Vater schreiben wird: ‚Mein Schreiben handelte von Dir ...‘ “4 Auch für die Entwicklung der Erzählverfahren und -techniken bedeuten Das Urteil und Der Heizer einen Wendepunkt. Worin die im Herbst 1912 erreichte, neue Qualität seines Schreibens bestand, hat Kafka mehrfach reflektiert. Mit dem Urteil sei ihm die erzählende Entwicklung einer Geschichte „in einem Zug“ gelungen, notierte er am Tag nach der nächtlichen Niederschrift: Diese Geschichte „das Urteil“ habe ich in der Nacht vom 22 zum 23 von 10 Uhr abends bis 6 Uhr früh in einem Zug geschrieben. [...] Die fürchterliche Anstrengung und Freude, wie sich die Geschichte vor mir entwickelte wie ich in einem Gewässer vorwärtskam. Mehrmals in dieser Nacht trug ich mein Gewicht auf dem Rücken. Wie alles gewagt werden kann, wie für alle, für die fremdesten Einfälle ein großes Feuer bereitet ist, in dem sie vergehn und auferstehn. [...] Nur so kann geschrieben werden, nur in einem solchen Zusammenhang, mit solcher vollständigen Öffnung des Leibes und der Seele.5
Diese Schreiberfahrung hat Kafka später mit der Metapher bezeichnet, die Erzählung sei „wie eine regelrechte Geburt [...] aus mir herausgekommen“.6 Der Akt der Hervorbringung habe sich ohne Absicht und Kontrolle vollzogen: „Als ich mich zum Schreiben niedersetzte, wollte ich [...] einen Krieg beschreiben, ein junger Mann sollte aus seinem Fenster eine Menschenmenge über die Brücke herankommen sehn, dann aber drehte sich mir alles unter den Händen.“7 Malcolm Pasley hat in dieser Schreiberfahrung die eigentliche Bedeutung des „Durchbruchs“ gesehen. „Die restlose Verkoppelung von Erfindung und Niederschrift, das gleichzeitige Zustandekommen von Werk und Text“ sei Kafkas neue Entdeckung, mit der er erstmals zu jener Form des fortlaufenden, nicht
4
5 6 7
Reinhard Baumgart: Selbstvergessenheit. Drei Wege zum Werk: Thomas Mann, Franz Kafka, Bertolt Brecht. Frankfurt/M. 1989, S. 212. Vgl. ebd. das Kapitel „Die Entdeckung des Vaters“, S. 219230. Tagebucheintrag vom 23.9. 1912, KKAT, S. 460f. Tagebucheintrag vom 11.2. 1913, KKAT, S. 491. Brief an Felice Bauer vom 2.6. 1913, Briefe an Felice, S. 394.
Einleitung
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festgelegten Schreibens gefunden habe, die für ihn die Bedingung seiner Produktivität gewesen sei.8 Mit dem Erlebnis eines selbstvergessenen, hingerissenen Schreibens erreichte Kafka jenen nachtwandlerischen, quasi träumenden Zustand des erfindenden Erzählens, den unzählige Einträge im Tagebuch herbeizuschreiben versucht hatten. Der Versuch, diesen Erfolg im Text des Heizers nachzuweisen, bildet den Abschluß meiner Untersuchungen zu Kafkas Frühwerk. Weil hier ein Erzählen gelingt, das sich von der Prosa der früheren Jahre grundsätzlich unterscheidet, verspricht der Vergleich mit dem Vorangegangenen neue Antworten auf die Fragen, welche die vorliegende Arbeit leiten. Warum – und wie – gelingt jetzt das imaginative, phantasierend-träumende Schreiben? Was charakterisiert Kafkas neue Erzählweise? In welcher Form manifestiert sich in ihr der Ertrag einer jahrelangen Reihe von literarischen Probeläufen? Diese Analyse wird eine werkgeschichtliche Kontinuität sichtbar machen, die bis zu den ErzählExperimenten der Beschreibung eines Kampfes zurückreicht. Statt von der Vorstellung eines „Durchbruchs“ aus alles Frühere als bloße Vorbereitung, als unreife und unvollkommene Frühstadien zu kennzeichnen, zeigt sie die Logik, die den frühen Experimenten innewohnt und die Richtung ihrer Entwicklung bestimmt. Von der Entwicklungsgeschichte des Frühwerks her läßt sich die Frage danach, welche neuen Entdeckungen Kafkas literarischen „Durchbruch“ möglich gemacht haben, neu beantworten. Meine Antwort setzt an bei der Verbindung von Traum und Erzählen, die sich als Schreibideal von der Beschreibung eines Kampfes an in Kafkas Werk nachweisen läßt. Am Schluß des III. Kapitels habe ich gezeigt, daß die Nacherzählung von Träumen erstmals eine traum-analoge, gewollt-unkontrollierte Form der Niederschrift ermöglichte. Diese neue Form für das Erfinden und Erzählen von Geschichten nutzbar zu machen, ist die große Entdeckung der „Durchbruchs“-Texte. Im folgenden werde ich diese These von verschiedenen Ansatzpunkten her darlegen. Den Anfang macht eine Analyse des Satzes, mit dem Der Heizer – und damit der Roman Der Verschollene – beginnt. Dieser Satz etabliert die Grundfigur, die das Erzählen möglich macht. Sie läßt sich in direkter Linie von den Miniaturen der Betrachtung herleiten. Auf diese Grundlegung folgt die Verlängerung des Betrachtungs-Momentes in das Erzählen einer Geschichte. Das Weitertreiben und Fortentwickeln eines phantasierenden Schreibvorgangs schließt an die Schreibübungen im Tagebuch an. Dabei entsteht eine neue Form des ‚Erzählens im Zeichen des Traums‘, eine Annäherung von Träumen und Schreiben, wie sie Kafka seit der Beschreibung eines Kampfes verfolgt hatte. Dies betrifft die träumend-phantasierende Sprachbewegung ebenso wie die Rezeption des Textes. Die im Heizer ausgebildete „imaginative Schreibart“ bringt einen Text hervor, der in seiner Intensität und Unentrinnbarkeit den Leser die 8
Malcolm Pasley: „Der Schreibakt und das Geschriebene. Zur Frage der Entstehung von Kafkas Texten“, in: ders., „Die Schrift ist unveränderlich...“: Essays zu Kafka, Frankfurt/M. 1995, S. 99-120, hier S. 109.
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IV Der Heizer
Erfahrung eines Alptraums erleben läßt. Mit der Frage nach dem Verhältnis von Sprache, Traum und Phantastik kehrt die Arbeit schließlich zu ihrem Ausgangspunkt zurück.
2. Ein Moment „Betrachtung“: Der erste Satz Der Heizer ist als erstes Kapitel von Kafkas erstem Roman entstanden. Veröffentlicht wurde der Text jedoch als selbständige Erzählung. Die folgende Analyse beschränkt sich auf die Erzählung, als folge diesem Text nichts nach. Doch gerade in Bezug auf den ersten Satz des Textes ist dies kaum durchzuhalten. Der Erzähleingang des Heizers ist der Anfang eines Romans. Er ist die Grundlegung für ein Erzählprojekt, das sehr viel weiter tragen soll als etwa Das Urteil: „Die Geschichte, die ich schreibe und die allerdings ins Endlose angelegt ist, heißt [...] ‚Der Verschollene‘ und handelt ausschließlich in den Vereinigten Staaten von Nordamerika. Vorläufig sind 5 Kapitel fertig, das 6te fast. [...] Es ist die erste größere Arbeit, in der ich mich nach 15jähriger, bis auf Augenblicke trostloser Plage seit 1½ Monaten geborgen fühle [...]“9, schrieb Kafka an seine Briefpartnerin Felice Bauer. Erste Ansätze zu einem Amerika-Roman hatte er wahrscheinlich schon im Winter 1911/12 entworfen.10 Aber erst die Niederschrift des Urteils Ende September 1912 wurde zum Anlaß, die Arbeit an dem großen Projekt Roman neu zu beginnen. Unter welche Vorzeichen das erste Kapitel, ja schon der erste Satz dieses Unternehmen stellt, sollen die folgenden Analysen deutlich machen. 2.1 Erzählen aus dem Augenblick Es passiert jetzt. Dies ist die Entdeckung, welche die Erzählung Der Heizer von allen ihr voraufgehenden Texten unterscheidet. Das Erzählen des Augenblicks, die Entfaltung des Erzählvorgangs aus dem Moment heraus, die mit den Prosaminiaturen der Betrachtung beginnt und sich mit der Augenblicksbeobachtung im Tagebuch weiter entwickelt, erreicht im Heizer eine neue Qualität. Hier wird die augenblickshafte Zeitstruktur zur Voraussetzung des Erzählens. Der Augenblick wird zum Thema der Narration, welche die Aufmerksamkeit immer wieder auf den Jetzt-Moment hin spannt. Dieser Moment der Gegenwart aber ist es, der dem Bewußtsein des Helden ständig entgeht: jetzt
9 10
Brief an Felice Bauer vom 11.11. 1912, Briefe an Felice, S. 86. Vgl. Chronik, S. 77.
Ein Moment „Betrachtung“: Der erste Satz
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ist immer zu spät. „Auf der Spitze des Augenblicks“ balancierend (Adorno11), zwischen Dehnung und Eklipse der Zeit, hält die Erzählung ihre Spannung über den letzten Satz hinaus. Der erste Satz des Heizers ist ein Modell dieser präsentischen Zeitlichkeit. Er konstituiert den allerersten Augenblick und zugleich die initiale Spannung, aus der sich alle folgenden Jetzt-Momente ergeben werden. Der erste Satz ist das ‚incipit‘, mit dem das Erzählen einsetzt und sich möglich macht, mit dem es die Fiktion und das Interesse an ihr begründet und sich selbst als die beides produzierende Rede behauptet. Die Bedingung dieses Aktes ist im Heizer der Augenblick. Es gibt keine Instanz, die ihm übergeordnet wäre, keinen Plan und keine Logik, die den Augenblick des Beginns bestimmen könnten.12 Der erste Satz ist seine eigene Ursache und zugleich die ‚raison d'être‘ des Romans. Er legt das Fundament eines Erzählens, welches das zu Erzählende im Augenblick der Rede allererst hervorbringt. Es ist ein Anfang, wie ihn sich jemand, der um das „Schreiben in einem Fluß“ ringt, der sich den über das Papier jagenden Zauberstift wünscht, welcher die Geschichte gleichzeitig aufschreibt und erfindet, eigentlich nur – erträumen kann.13 Doch nicht die schöpferischen Energien des Traums, sondern die sprachlichen Kunstgriffe sind es, die diesen Augenblick des Beginns – und damit die Möglichkeit des Romans – konstituieren. Als der 17jährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von Newyork
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Theodor W. Adorno: „Aufzeichnungen zu Kafka“, in: ders., Prismen. Schriften 10/1, Frankfurt/M. 1977, S. 248-281, Zitat S. 264: „Was auf der Spitze des Augenblicks balanciert wie ein Pferd auf den Hinterbeinen, wird geknipst, als solle die Pose für immer währen.“ Vgl. zur Korrelation von ‚incipit‘ und Augenblick als Charakteristikum des modernen Romans Walter Höllerer: „Die Bedeutung des Augenblicks im modernen Romananfang“, in: Romananfänge, hrsg. v. Norbert Miller, Berlin 1965, S. 344-377. Zu Kafka vgl. S. 362f., jedoch ohne Berücksichtigung des Heizers: „Protokollierender Beobachtungsstil, Traumstenogramm und Sentenzeneinschub bei der Augenblicksdarstellung: das war der Ansatzpunkt Franz Kafkas, daraus entwickelte er mit Virtuosität sein eigenes, parabelhaftes Erzählmodell.“ - Vgl. zur Bedeutung des Augenblicks für die Geburt des Romans außerdem Gerhard Neumann: „Der Zauber des Anfangs und das ‚Zögern vor der Geburt‘. Kafkas Poetologie des ‚riskantesten Augenblicks‘ “, in: Nach erneuter Lektüre: Franz Kafkas ‚Der Proceß‘, hrsg. v. Hans-Dieter Zimmermann, Würzburg 1992, S. 121-142. Neumann verbindet den Geburts-Augenblick des Helden in Kafkas Romanen mit der Frage nach der Identität des Subjekts: „Kafkas Romane proben Anfänge. Sie zeigen das Subjekt in seinen Versuchen, sich der Welt in ihrer räumlichen wie ihrer sozialen Dimension zu vergewissern; und alle drei Romane zeigen das Stocken solcher Anfänge, das Zerbröckeln der Ortung und der Zeitigung des Selbst: ‚Mein Leben ist das Zögern vor der Geburt‘ (T 24.1.1922).“ (G. Neumann, a.a.O., S. 122). Zu diesem Wunschtraum vgl. die Ausführungen in Kapitel III zu Kafkas Versuchen, im Tagebuch einen Schreibfluß herzustellen, der sich im phantasierenden Entwerfen des zu Erzählenden selbst vorantreibt. Den Zauberstift, dessen Schrift von keiner Hand geleitet wird, während er über den Grabstein des Erzählers dahinjagt, träumt Josef K. (Ein Traum, E 248-250).
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IV Der Heizer
einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht.14
Der erste Satz des Amerika-Romans führt in medias res. Er berichtet von der Ankunft des Helden in der Neuen Welt. Die Ankunft gehört, wie der Aufbruch, zu den Topoi des Romananfangs. Die Aussicht auf die Freiheitsstatue bei der Einfahrt in den Hafen von New York, die der erste Satz mit dem ersten Blick des Helden entwirft, ist ebenfalls ein klassisches Bild. Es markiert eine Initiation, eine Schwellenüberschreitung. Mit der Erzählung von der Ankunft und der Erscheinung, die sie begleitet, initiiert die Narration den Helden und zugleich sich selbst, ihre eigene Ankunft bzw. ihren Beginn, ihr Erscheinen.15 Ein geradezu idealtypischer Romananfang – der die zitierten Topoi benutzt, um alles andere als eine konventionelle Erzählung zu installieren. Der eigene Weg dieser Erzählung beginnt damit, daß sie mit der Ankunft des Helden nicht beginnt. Die Handlung setzt mit einem unvermittelten „Als...“ spannungsvoll ein und bleibt gleich nach diesem ersten Wort wieder stehen. Statt das Geschehen beginnen zu lassen, stellt der Erzähler seinen Protagonisten vor, holt dann zu einem Relativsatz aus, der die Vorgeschichte zusammenfaßt, beschreibt noch den Ort der Handlung, bevor er schließlich zum Bericht darüber zurückkehrt, was der Held in diesem ersten Augenblick erlebt. Dies alles ist in den ersten vier Zeilen in äußerster Knappheit zusammengefaßt. Zugleich ist die gedrängte Mitteilung merkwürdig ausführlich, fast geschwätzig. Die Geschichte von dem Dienstmädchen, das Karl „verführt“ hatte, von seinen „armen“ Eltern, die ihn deswegen nach Amerika schickten, gibt durch ihre Wortwahl mehr Fragen auf, als hier beantwortet werden (können): Warum sind die Eltern „arm“ zu nennen? Was ist das für ein Dienstmädchen, das den Sohn des Hauses „verführt“, wieso wird daraufhin er, und nicht sie, aus dem Haus gewiesen, und warum wird er sogar nach Amerika verschifft? Doch diesen Fragen gegenüber bleibt der mit dem ersten Wort gesetzte Augenblick ständig präsent. Aus dem Kontrast von Knappheit und Überschuß resultieren zwei gegenläufige LeseBewegungen. Sie erzeugen eine Spannung, die dazu drängt, die Gedankenflut einzudämmen, den Umweg zu beenden. Wie sich im weiteren Verlauf zeigen wird, ist diese Doppelbewegung die Grundstruktur des Heizers: Wir sind immer auf einem Umweg, und deswegen müssen wir uns beeilen. Aus der Ablenkung der Handlung von einem gerade erst gesetzten Ziel entsteht ein Zeit- und
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KKAT, S. 464. Zitiert nach der Niederschrift des ersten Romankapitels im sechsten Tagebuchheft (KKAT, S. 464-488), die nach dem Ende dieses Heftes auf den noch leeren Seiten des zweiten Heftes fortgesetzt wurde (KKAT, S. 168-189). „Narration“: Ich verwende den Begriff im Sinne der Definition von Gérard Genette, der mit Narration den die Erzählung produzierenden „narrativen Akt“ bezeichnet, d.h. die Produktionsinstanz des narrativen Diskurses (im Unterschied zu „Erzählung/récit“, dem narrativen Diskurs selbst, und „Geschichte/histoire“, dem narrativen Inhalt; vgl. Gérard Genette: Die Erzählung, München 1994, S. 16 u. 152).
Ein Moment „Betrachtung“: Der erste Satz
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Spannungsdruck, der die Handlung vorantreibt. Dabei gerät sie mit jedem neuen Schritt auf einen neuen Umweg. Die Technik, ein zwischen dem Augenblick und dessen Aufhebung gespanntes Zeitverhältnis zu konstituieren, wiederholt sich im ersten Satz mehrfach („Als der 17jährige Karl Roßmann, der von seinen armen Eltern nach Amerika geschickt worden war, weil ihn ein Dienstmädchen verführt und ein Kind von ihm bekommen hatte, in dem schon langsam gewordenen Schiff in den Hafen von Newyork einfuhr, erblickte er ...“ (Hervorh. v. mir)). In den Erzählvorgang wird unmittelbar nach dem ersten ein zweiter Rückblick eingeschaltet: das Schiff ist „schon langsam geworden[en]“. Mit diesem Einschub wird nach der weiter zurückliegenden nun die unmittelbare Vorgeschichte des Jetzt nachgeholt. Mit der kurzen Erinnerung an ein vergangenes Geschehen beschreibt die Erzählbewegung gleichsam eine Rückwärtsschlaufe. Der „Als...“-Augenblick des Beginns wird dabei in zweifacher Hinsicht ausgesetzt: auf der Ebene der erzählten Zeit durch den Rückblick, auf der Ebene der Erzählzeit durch die Stauung im Satzverlauf. Dennoch bleibt der Satz auf die Freiheitsstatue hin ausgerichtet. Das Wort „schon“ weist in die Zukunft; es pointiert die beinahe stillstehende Bewegung auf den prekären Moment des Unmittelbar-Davor hin. – Die Besonderheit dieser retardierenden Technik zeigt sich, wenn man Kafkas Text mit dem Reisebericht „Amerika heute und morgen“ von Arthur Holitscher vergleicht, der Kafka vermutlich als Vorlage gedient hat.16 Holitscher beschreibt die Ankunftsszene ebenfalls von einem sich langsam nähernden Schiff aus: Man sieht jetzt mehr Schiffe [...] Häuser werden sichtbar [...] Und nun steigt auch schon [...] ein fester, durchsichtiger Rauch in die Höhe, eine Nebelfestung [...] Der ‚Moltke‘ der Hamburg-Amerika-Linie fährt an uns vorbei [...] Eine kleine Insel gleitet näher [...] auf uns zu [...] Wir stehen still [...] Ich fahre jetzt, wir fahren auf die Riesenstadt zu [...] Es wächst, wächst am Horizont, höher, schaut jetzt aus wie eine Hand [...] Wie eine Hand, wahrhaftig, kommt Manhattan aus dem Meer in die Höhe gestiegen [...] Wir fahren jetzt langsam, langsam.17
Holitschers Text illusioniert die allmähliche Annäherung des Schiffes an den Hafen als einen spannungsvollen Prozeß, indem er im Reportagestil immer neue Anblicke hintereinander reiht. Gegen Ende schaffen die Wiederholungen eine noch dichtere Abfolge und nähern damit die Satzbewegung der erzählten Zeit an, während sie zugleich die Spannung steigern. Die abschließende geminatio „langsam, langsam“ vollzieht das Abbremsen des Schiffes mimetisch nach. – Beide Darstellungen zeigen ein augenblickshaft gegenwärtiges Geschehen. Doch 16
17
Arthur Holitscher: Amerika heute und morgen. Reiseerlebnisse von Arthur Holitscher. Berlin: S. Fischer 1912. Vgl. zu dieser Quelle Hartmut Binder: Kafka-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen, München 1975, Bd. 2, S. 85. A. Holitscher, a.a.O., S. 38f. Im Original erstreckt sich die hier zitierte Passage über zwei Seiten und beschreibt das allmähliche Sichtbarwerden von Manhattans Wolkenkratzern und der Hafenszenerie während der Annäherung des Schiffes. Ich habe den Text stark gekürzt, um die Zeitstruktur deutlich hervortreten zu lassen.
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IV Der Heizer
die Funktion des Jetzt-Momentes ist bei Holitscher eine andere als bei Kafka. Holitscher berichtet von einem langsamer werdenden Schiff, Kafka von einem „langsam gewordenen“. An die Stelle einer sich von Augenblick zu Augenblick vollziehenden Bewegung als Serie von Gegenwartsmomenten setzt Kafka einen einzigen Moment der Gegenwart, der durch die ergänzenden Einschübe aus- und zurückgesetzt wird. Dieser Moment hat mit dem Einsetzen des Erzählens schon begonnen und wird doch immer noch hinausgeschoben. Dadurch wird ein Zustand unmittelbar vor dem Eintreten des Jetzt geschaffen, den der Satz permanent verlängert und den er immer aufs neue mit der Spannung des Beinahe auflädt. Holitscher erzeugt Spannung durch die mimetische, quasi filmische Abbildung einer Bewegung, die auf einen Höhepunkt zuläuft; Kafka gewinnt sie aus dem Anhalten der Bewegung, indem er einen irrealen Moment zwischen zwei Augenblicken ausdehnt. Dieser Zwischenzustand wird durch den anschließenden, zweiten Hauptsatz noch weiter verlängert: „Als der 17jährige Karl Roßmann [...] in den Hafen von Newyork einfuhr, erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin ...“ (Hervorh. v. mir). Unmittelbar bevor der Satz bei der Nennung der „Freiheitsgöttin“ angekommen ist, schiebt sich wieder eine Erweiterung dazwischen, die mitteilt, daß Karl die Statue „schon längst beobachtet[e]“ habe. Karls Blick wird durch den Einschub in die Vorgeschichte zurückverlängert. Diese Ergänzung ist parallel zu der vorigen konstruiert (schon langsam geworden – schon längst beobachtet), doch stellt das zweite „schon“ im Gegensatz zum ersten keine gespannte Erwartung her. „Schon längst“ nimmt das Ziel vorweg, bevor es erreicht wird. Dennoch bleibt auch hier die Handlung (beobachten) auf das Ziel hin gerichtet. „Schon langsam – schon längst“: die beiden Einschübe scheinen semantisch benachbart; tatsächlich ist es aber ihre lautliche Ähnlichkeit, die dafür sorgt, daß sie sich überlagern. Dabei parallelisieren sie Bewegung und Zeit. In demselben Vorgang überkreuzen die beiden Instanzen ihre Richtungen: statt Annäherung wird Verlangsamung geschildert, statt gespannt-erwartungsvoll wird „schon längst“ beobachtet. Durch diese zugleich vor und zurück verlaufenden Sprachbewegungen schafft der Satz eine Simultaneität von einander widerstrebenden Handlungs- und Zeit-Richtungen, eine chiastische Figur, die den prekären Zustand unmittelbar vor dem Jetzt weiter dehnt und seine innere Spannung erhöht. Erst nach diesen drei Rückwärtsschleifen erreicht der Satz schließlich jenen Punkt, auf den er seit dem initialen „Als...“ zusteuert, den Punkt, an dem der gerade noch hinausgeschobene Augenblick zum Jetzt wird. Es ist der Moment, in dem die Freiheitsstatue im Blick der Perspektivfigur erscheint. Mit der Nennung des Wortes „Freiheitsgöttin“ kommen Satz, Schiff und Held gleichzeitig in dem Jetzt an, welches das „Als...“ des Anfangs als Bezugspunkt bestimmt. Fast könnte man sagen, der Satz sei selbst das Schiff: denn ersetzt er nicht dieses, wenn er, dessen Bewegung nachvollziehend, den Helden an den Punkt transportiert, der
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diesen Anblick freigibt? Die Sprachbewegung und die erzählte Bewegung des Schiffes überlagern sich, so daß der Satz zum gestischen Vorgang wird. Das Sprechen vollzieht den Transport, von dem die Rede ist. Diese sprachliche Handlung bezieht auch den Leser mit ein. Während ihm berichtet wird, was geschieht, während er also mit Schiff und Perspektivfigur in den Hafen einfährt, wird er durch die eingeschobenen Informationen über die Vergangenheit schrittweise in die Lage bzw. in das Bewußtsein des Helden Karl versetzt. In der Entgegensetzung zu Holitschers sprachlicher Technik wird die Leistung von Kafkas gestischem Verfahren deutlich. Holitscher stellt eine mimetische Abbildung des Vorgangs her, indem er die Zeitstruktur seiner Sätze einer Illusionierung der von Moment zu Moment vergehenden Zeit annähert. Kafka treibt das Jetzt auf die Spitze, indem er den zeitlichen Bezugspunkt ständig ein wenig verwischt. Lesend erleben wir einmal den Prozeß eines Zeitverlaufs, das andere Mal die Dauer eines um eine Winzigkeit zurückverlängerten und damit eine Idee länger als möglich ausgehaltenen Moments. Dieser Moment umfaßt alles, was Karls Situation zu diesem Zeitpunkt ausmacht. Es ist der Moment des Bewußtseins, das heißt: der Gegenwart, in die immer noch Reste des gerade Vergangenen hineinragen und die sich zugleich immer schon in die Zukunft vorausbewegt. Dies ist ein Moment, den kein ‚jetzt ... und jetzt‘ je zu fassen bekommen kann. Diesen Moment des gegenwärtigen Bewußtseins als einen transitorischen Zustand herzustellen, ist die Leistung von Kafkas Verfahren. Holitschers Text dagegen zeichnet sich durch die realistische Qualität der Abbildung aus, die wesentlich anschaulicher wirkt als Kafkas Darstellung. Doch kann dieses Verfahren die Schwellenüberschreitung, auf die seine Dynamik zielt, nur vorbereiten. Kafkas Satz aber kann den Schritt über die Schwelle zum Jetzt vollziehen. 2.2 Der Erzählaugenblick als Moment der Schwellenüberschreitung Der Schritt über die Schwelle zum Jetzt ist mit der Nennung des Wortes „Freiheitsgöttin“ noch nicht getan. Der Umschlagpunkt, an dem die gespannt gehaltene Dauer in ein Jetzt kippt, wird erst im letzten Satzteil erreicht: „... erblickte er die schon längst beobachtete Statue der Freiheitsgöttin wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht.“ (Hervorh. v. mir). „Plötzlich“ löst endlich die Spannung ein, die von dem initialen „Als...“ ausgeht. Die beiden ZeitMarkierungen sind jedoch nicht symmetrisch auf die beiden Hauptsätze mit ihren zeitlich parallelen Vollzügen (einfuhr – erblickte) verteilt. Das Wort „plötzlich“ steht erst in dem an den zweiten Hauptsatz angehängten Vergleich. Daher tritt der Moment des Jetzt, den der veränderte Anblick markiert, erst mit dem Wort „Sonnenlicht“ ein, das ganz am Ende des Satzes steht. Erst hier ist der Gipfelund Endpunkt der Bewegung erreicht. Es entsteht der Effekt, als erschiene die
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IV Der Heizer
Statue jetzt erst, mit dem Strahlen des plötzlich verstärkten Lichtes, vor dem Hintergrund des Hafens. Dieser Lichteffekt ist gleichsam eine optische Fanfare, die Karls Eintreffen in der Neuen Welt verkündet – bzw. umgekehrt: mit der die Neue Welt in Karls Bewußtsein eintrifft. Wesentlich für diesen Effekt ist die Tatsache, daß das „plötzlich“ über das „Als...“ des Moments hinaus noch einen weiteren zeitlichen Bezugspunkt hat, nämlich das unmittelbar zuvor eingeschobene „schon längst“. Dieser Bezug eröffnet einen zweiten Spannungsbogen. Durch die eingeschobene Information, Karl habe die Statue „schon längst beobachtet“, unmittelbar bevor dann ihr jetzt neuer, veränderter Anblick beschrieben wird, werden zwei Blicke hintereinander geschaltet, von denen der zweite den ersten desavouiert. Unterstützt durch den chiastischen, phonetischen Bezug des „plötzlich stärkeren“ Lichts zu der „(schon) längst (beobachteten) Göttin“, produziert diese Blickregie einen paradoxen Effekt: auf den zweiten Blick wirkt die Freiheitsstatue wie zum ersten Mal gesehen. Die Statue erscheint Karl auf einmal neu, als hätte er jetzt erst richtig die Augen geöffnet. Weil er sie aber bereits die ganze Zeit im Blick hatte, kommt der plötzliche neue Anblick um so überraschender. Dieses Erlebnis streicht alles durch, was Karl „schon längst beobachtet“ hatte. Die plötzliche Transformation des Wahrgenommenen hat etwas Traumhaftes. Sie erinnert an das Phänomen des Nachklappens eines zweiten Blickes, mit dem der Träumer gewahr wird, daß die Wirklichkeit sich verwandelt hat (vgl. Kap. III). Als eine Art umgekehrtes ‚déjà-vu‘ zeigt sich auf einmal ein neuer Anblick, den der erste Blick auf die Statue nicht bemerkt hatte. Mit diesem Effekt entsteht der Jetzt-Moment. Zugleich entsteht ein Moment davor, der bisher nicht existierte, ein Zeitpunkt zwischen dem ersten und dem zweiten Blick. Zwischen „schon längst“ und „plötzlich“ muß etwas geschehen sein, das den veränderten Anblick bewirkt hat, denn das Sonnenlicht ist auf den zweiten Blick bereits „stärker geworden“. Mit diesem Partizip-Perfekt-Einschub wird nach dem „schon langsam gewordenen“ Schiff und der „schon längst beobachtete[n]“ Freiheitsstatue zum dritten Mal die unmittelbare Vergangenheit nachgeholt. Doch im Gegensatz zu den beiden vorigen Einschüben, die die erzählte Zeit um eine minimale Schlaufe nach hinten verlängert hatten, wird hier ein Stückchen Zeit verschluckt. Das Sonnenlicht ist auf einmal „stärker geworden“, als hätte Karl einen Moment lang nicht hingesehen. Der Jetzt-Moment, den das „plötzlich“ markiert, wird durch diesen Einschub wieder ein wenig verwischt. Das Sonnenlicht gehört schon nicht mehr ganz ins Jetzt, denn das Ereignis seines Eintretens ist schon vergangen. Die Plötzlichkeit betrifft nicht dieses Ereignis, sondern den zweiten Blick, der gegenüber der Transformation des Sichtbaren verspätet ist. Das Jetzt des Gewahrwerdens liegt schon in einem Danach. Das Erreichen des Jetzt-Moments ist im selben Augenblick fast schon vorbei. Mit diesem Wechsel hat der Satz den Schritt über die Schwelle vollzogen.
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Mit dem Moment zwischen „schon längst“ und „plötzlich“ ist nicht nur ein Stück Zeit verschluckt worden, sondern auch die Antwort darauf, was währenddessen passiert ist. Über die Ursache der Erscheinung erfahren wir nichts. Anscheinend ist weder das Sonnenlicht wirklich stärker geworden – die Statue erscheint Karl ja nur „wie in einem...“, nicht in einem „stärker gewordenen Sonnenlicht“ –, noch hat eine Veränderung in Karls Aufmerksamkeit stattgefunden. Sein Blick war „schon längst“ auf die Statue gerichtet, und nicht dieser Blick verändert sich „plötzlich“, sondern der Anblick. Eindeutig bestätigt der Satz nur, daß der Moment, in dem die Statue plötzlich verändert erscheint, der Moment der Einfahrt in den Hafen ist. In diesem Moment befindet sich der Schiffspassagier möglicherweise auf gleicher Höhe mit der Statue, er stünde ihr also direkt gegenüber und würde der kolossalen Plastik aus größtmöglicher Nähe begegnen. Doch eine solche Situation ist im Text nicht beschrieben. Die Begegnung findet allein im Blick statt, dem die Statue wörtlich ‚in neuem Licht‘ erscheint. Der Moment gesteigerter Wahrnehmung steht für sich, gespiegelt in einer plötzlichen Lichterscheinung, von der nicht zu sagen ist, wo sie ihren Ursprung hat. Statt auf den Moment der Einfahrt in den Hafen rückführbar zu sein, wird der Augenblick vom Kontext eines Geschehens gelöst und allein aus sich heraus bedeutungsvoll. Mangels benennbarer Ursachen ließe sich die Lichterscheinung allenfalls noch als Karls Einbildung erklären. Sein subjektives Empfinden, sein Überwältigtsein könnte sich im Außen gespiegelt wiederfinden; die Freiheitsstatue würde also nicht in einem wirklich „stärker gewordenen Sonnenlicht“ erstrahlen, sondern erst die Projektion von Karls intensiviertem Erleben ließe sie so erscheinen. Diese Lesart wird durch die Vergleichspartikel „wie“ nahegelegt, die den Anblick präsentiert. Mit diesem „wie“ berichtet der Erzähler aus der Perspektive des Helden. Statt eines Bildes vom Objekt beschreibt er dessen Erscheinen im Auge des Betrachters. Doch die einfache Konstruktion des Satzes birgt Unwägbarkeiten. Zuerst berichtet der Erzähler von einem objektiven Standpunkt aus einen Vorgang, der stattgefunden hat: „Karl erblickte die Statue der Freiheitsgöttin“. Das anschließende „wie“ markiert einen Bruch. Zwar bleibt die Perspektive dieselbe, aber der Modus der Wahrnehmung – und damit der Realitätsstatus des Wahrgenommenen – ändert sich. Hier berichtet der Erzähler nicht mehr, was Karl erblickt, sondern wie die Statue Karl erscheint: „wie in einem plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht“. Doch der Satz sagt nicht ‚Karl erschien die Freiheitsstatue wie...‘, sondern: ‚Karl erblickte sie wie... ‘. In die ungebrochene Wahrnehmung fügt das „wie“ einen Index des Scheins ein, der die Aussage von „erblickte“ durchstreicht. Ähnliche Überkreuzungen von Blickweisen und Bewußtseinshorizonten innerhalb der scheinbar gesicherten und einheitlichen Erzählperspektive habe ich bereits in den Stücken der Betrachtung gezeigt. Neu ist im Heizer die Beziehung von Erzähler und Figur in der personalen Erzählhaltung. Diese Konstruktion läßt sich
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IV Der Heizer
nur auflösen, wenn man in der auf Karl fokussierten Perspektive die Verschränkung von zwei Blicken erkennt. Der Blick des Erzählers auf das Geschehen in der Außenwelt ist mit Karls Blick überkreuzt. Das „wie“ ist Teil einer indirekten Rede, die Karls Gedanken bzw. Bewußtseinsinhalte wiedergibt, ähnlich wie der ‚discours indirect libre‘ bei Flaubert.18 Es gehört nicht in das distanziert-objektivierende Bewußtsein des Erzählers, dessen Rede „Karl erblickte“ ist, sondern in Karls Denken hinein, dem das, was er erblickt, subjektiv vorkommt „wie...“. Die Rede des Erzählers berichtet, was vorhanden ist, und versucht zugleich, Karls Wahrnehmungseindruck treu zu bleiben. Da beide Perspektiven aber ineins fallen, ist zwischen subjektivem Eindruck und objektivem Ereignis nicht zu unterscheiden. Durch die umgangssprachliche Unschärfe, die mit „erblickte“ und „wie“ zwei inkongruente Logiken in einer scheinbar identischen Perspektive ineinander mogelt, entsteht ein unauflösbares Amalgam von objektivem Bericht und subjektivem Erleben. Dadurch situiert sich der Satz genau auf der Grenze zwischen Wahrnehmung und Erscheinung und hält die Aussage der Erzählerrede zwischen Einbildung und realem Geschehen in der Schwebe. Die Außenwelt gewinnt einerseits den Charakter einer Sinnestäuschung, andererseits ist auch dies nicht eindeutig, da man nicht als gesichert festhalten kann, daß Karl sich das verstärkte Licht nur einbilde. Erzähltechnisch wird alles getan, um die Rückführung auf das Betrachter-Subjekt zu vermeiden. Der Augenblick wird damit vom Kontext eines Geschehens losgelöst und auch von der Funktion befreit, das subjektive Erleben zu spiegeln. Dadurch wird der Lichteffekt ins Immaterielle, Scheinhafte irrealisiert. Er kommt von Nirgendwo, weder von der Sonne noch vom Auge des Betrachters. Das Erscheinen der Freiheitsstatue in dem „plötzlich stärker gewordenen Sonnenlicht“ wird zur traumhaften, halluzinatorischen Apparition. Durch das Ineinanderschleifen von Karls Gedankenrede und der Rede des Erzählers wird nicht nur der Wirklichkeitsstatus des Wahrgenommenen verunsichert, sondern auch die Position des Subjekts der Rede. Es wird unklar, auf welcher Grundlage die Aussagen des Erzählers beruhen. Keine Instanz ist haftbar zu machen für das, was der Satz berichtet. Ebensowenig ist dingfest zu 18
Vgl. dazu Erich Auerbach, der die Beziehung zwischen Erzähler und Figur in Flauberts Madame Bovary am Beispiel einer Szene analysiert, in welcher der Erzähler von Emma Bovary sagt: „tout son malheur lui semblait servi dans son assiette“: „So ist also die Lage nicht einfach als Bild gegeben, sondern zunächst Emma, und durch sie die Lage. Es handelt sich aber doch nicht [...] um einfache Wiedergabe von Emmas Bewußtseinsinhalt, dessen was sie fühlt so wie sie es fühlt. Von ihr geht zwar das Licht aus, durch welches das Bild beleuchtet wird, aber sie ist auch selbst Teil des Bildes, sie steht darin. [...] So aber sieht sie nicht bloß, sondern wird als Sehende selbst gesehen, und dadurch, durch bloße deutliche Bezeichnung ihrer subjektiven Existenz, aus ihren eigenen Empfindungen heraus, gerichtet.“ (Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Bern u. München (4)1967, S. 451). Vgl. zum ‚discours indirect libre‘ auch ausführlich Klaus Pape: Sprachkunst und Kunstsprache bei Flaubert und Kafka, St. Ingbert 1996, S. 217ff.
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machen, was er berichtet. Der Satz schafft den Jetzt-Moment der Schwellenüberschreitung als Augenblick eines Ereignisses, und er verschleiert gleichzeitig, was sich ereignet hat. Das eine ist die Bedingung des anderen. Nur weil unfaßbar bleibt, was geschehen ist, wird der Moment des Gewahrwerdens mit Spannung aufgeladen. Die Verwischung der Wahrnehmung stellt den Hintergrund her für ein unwirkliches Bild der Freiheitsstatue, das stärker strahlt als das Wirkliche. Das Bild wird also – im übertragenen Sinne – tatsächlich stärker beleuchtet. Durch die Irrealisierung gewinnt die Erscheinung eine phantasmagorische Qualität. Wenn man den Satz eindeutiger formulieren würde, wäre sofort auch dieser Effekt verschwunden, Karls Vision bei der Einfahrt in den Hafen von New York wäre nur halb so eindrucksvoll. Mit der Erzeugung dieses Moments vollzieht der Satz den Schritt über die Schwelle zwischen Noch-Nicht und Nicht-Mehr. Die ‚passage‘ ist der Vorgang, in dem die Freiheitsstatue zur Erscheinung kommt bzw. zur Erscheinung wird. Ihr Bild steht an der Stelle des Jetzt-Momentes, den die Narration mit der Beschreibung dieses Bildes in einem einzigen Vorgang konstituiert und übergeht. So entsteht ein transitorischer Zustand zwischen Blick und Erscheinung: ein Moment „Betrachtung“. Wie die Prosaminiaturen von 1908, gestaltet der Romananfang einen Augenblick des Schauens, der Konzentration auf Sichtbares, der aus dem Alltäglichen herausgehoben wirkt. Das Sonnenlicht ist eines von mehreren Elementen im ersten Satz, welche die Statue über das Wirkliche hinausheben. Für Kafka ist die ‚statue of liberty‘ nicht die Statue der Freiheit, sondern die der „Freiheitsgöttin“. Diese Bezeichnung umgibt die Statue mit einer sakralen Aura; sie spricht die allegorische Figur als mythisches Wesen an.19 Als Erscheinung einer Göttin wird die halluzinatorische Apparition zur Epiphanie. Die Initiationserfahrung beim ersten Blickkontakt mit Amerika erhält dadurch eine religiöse Dimension. Dabei geht es jedoch weniger um eine transzendentale Bedeutung dieser Szene, um das Aufscheinen eines Anderen hinter dem Sichtbaren, sondern – jedenfalls zunächst – eher um eine ganz profane Verstärkung des Effekts. Diese Dimension des Textes ist möglicherweise vorgeprägt durch einen weiteren Amerika-Bericht, den Kafka kennen konnte: Ferdinand Kürnbergers Roman „Der Amerika-Müde“ (1855). Theodor W. Adorno führt diesen Text als mögliche Quelle des Heizers an20; ob diese Vermutung beweisbar ist, kann in diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben. Kürnbergers Text soll nur als Folie dienen, um die Besonderheiten von Kafkas Text zu zeigen. In einer Passage, die den gespannten Blick der Passagiere auf den noch fernen Hafen von New York beschreibt, ist bei Kürnberger ebenfalls von einer besonderen Lichtwirkung die Rede: 19
20
Vgl. Hans Christoph Buch: „Ut pictura poesis“. Die Beschreibungsliteratur und ihre Kritiker von Lessing bis Lukács, München 1972, S. 237. Vgl. Th.W. Adorno, a.a.O., S. 279.
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Die Stadt schwimmt in einem milchweißen Fernenlicht, das mattgraue Wolkengehänge des Vordergrunds kontrastiert dazu mit einer schlagenden Wirkung. Wer Neapel in diesem Nimbus gesehen, dürfte sich glücklich preisen. Ein solches Bild mit andern abzuwägen kennzeichnet das Gros der Menschenaugen. Sie sehen die Landschaft nur als wägbare Masse, der beleuchtende Geist entgeht ihnen allzuoft. Unser Ankömmling empfindet ihn voll. Sein Auge ist wie von einem Zauber gefesselt von dieser Lichtwirkung. Es ist ihm, als sähe er in der Neuen Welt ein neues, sich selbst übertreffendes Tageslicht. Und das sinnliche Bild wie ein Symbol deutend, ruft er aus: Ja, nur Amerika hat Tag, Europa das Phosphorlicht seiner faulenden Stoffe!21
Die Nähe dieser Erfahrung zu Karl Roßmanns erstem Blick nach Amerika ist überraschend. Beide Helden sehen eine Erscheinung von verstärktem Licht. Bei Kürnberger ist allerdings deutlich, daß der Wahrnehmungseindruck des Helden nicht auf einer Sinnestäuschung beruht, sondern durch den Hell-Dunkel-Kontrast entsteht. Dies ruft beim Betrachter eine „schlagende Wirkung“, einen „fesselnden Zauber“ hervor sowie den Eindruck, es handele sich um „ein neues, sich selbst übertreffendes Tageslicht“. Dieses neue Licht wird dann als Symbol für die strahlende Verheißung der „Neuen Welt“ gedeutet. Bei Kafka ist der Moment der ersten visuellen Konfrontation mit Amerika – von Kürnberger aus gesehen – um die Ursache der Lichterscheinung gekürzt. Sie leuchtet nur in einem „wie“Vergleich aus subjektiver Perspektive. In diesem „wie“-Satz finden sich die Lichterscheinung und der „beleuchtende Geist“, die Kürnberger getrennt hatte, um sie einander ‚beleuchten‘ zu lassen, in einer Formulierung überblendet. Die Lichtwirkung und ihre Empfindung sind bei Kafka eins. Das Überwältigtsein, die „Verzauberung“ durch den „Nimbus“ wird im Heizer nicht benannt, sondern der „schlagende“ Effekt wird erzeugt. Wo Kürnbergers Text beschwört, wird Kafkas Text performativ. Die transzendente Dimension, die bei Kürnberger der Betrachter dem Anblick verleiht, tritt bei Kafka in den Dienst der Wirkung. Zeigt also Kafkas Text bloßen Nimbus? Diesen Schluß zu ziehen, hieße das Verfahren mit seinem Ergebnis verwechseln. Im Ergebnis ist Kürnbergers ‚geistige Beleuchtung‘ wenig mehr als Effekthascherei. Während sie das Sichtbare durch die Hineindeutung eines sich darin offenbarenden Gehalts überhöht, läßt Kafkas Text das Sichtbare leuchten, ohne daß es dabei eine symbolische Bedeutung aussprechen müßte. Gleichwohl erhält die Lichtwirkung eine transzendente Dimension, jedoch ohne konkret benennbaren Sinn. Das Leuchten spiegelt und vermittelt Karls intensives Empfinden angesichts einer großartigen, wie göttlichen Erscheinung. An diesem Beispiel ist zu erkennen, wie sich Kafkas Erzählverfahren seit der Beschreibung eines Kampfes verändert hat. In dem frühen Text wird von innen erzählt, indem in einer radikalen Innenperspektive sämtliche Wahrnehmungseindrücke des Ich als Ereignisse in der Außenwelt dargestellt werden. In der Betrachtung entdeckt Kafka den transitorischen Moment in der Begegnung 21
Ferdinand Kürnberger: Der Amerika-Müde, Wien, Köln, Graz 1985, S. 11.
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zwischen Blick und Erscheinung und zeichnet das Ineinander von Innen und Außen im Moment des Sich-Zeigens nach. In den Skizzen des Tagebuchs entwickelt sich diese doppelte Spiegelung auf dem Weg über die Beschreibung von Beobachtungen zu einer durch vielschichtige Vergleiche vermittelten Suggestion von Empfinden und Anschauung. Im Heizer nun treten diese Verfahren in den Dienst eines augenblickshaften Erzählens, das sich vom Bewußtsein der Perspektivfigur aus entwickelt. Deren Beobachtungen ist nicht mehr das subjektive ‚Ich sehe‘ eingeschrieben, das die Betrachtungen gekennzeichnet hatte. Durch die Einführung eines Erzählers, der Karls Erleben berichtet, scheint das Geschehen objektiviert, ohne dadurch den Bewußtseinshorizont der Figur zu verlassen. 2.3 Der verdoppelte Erzählbeginn Wie entsteht aus dem Moment „Betrachtung“ ein Roman? Der erste Satz erschafft, wie erinnerlich, nicht nur den Augenblick des Sehens, sondern organisiert auch den Transport in den Hafen. Ein Vorgang im Bewußtsein des Helden – „erblickte“ – und ein Vorgang in der Außenwelt – „einfuhr“ – werden etabliert, als parallele Vollzüge in ein Verhältnis gebracht und in dem Moment des Jetzt verschmolzen. Die Erzählbewegung inszeniert einen Verlauf, der zum Erreichen dieses Moments führt und in eben diesem Moment auch schon über ihn hinweggeht. Damit ist der erste Schritt getan. Der zweite Satz setzt die Erzählbewegung fort, indem er die Betrachtung verlängert: „Ihr Arm mit dem Schwert ragte wie neuerdings empor und um ihre Gestalt wehten die freien Lüfte.“22 Nach der aufs äußerste gespannten Dehnung des Augenblicks beginnt die Zeit mit diesem Satz zu laufen. Die Erscheinung der Freiheitsstatue wird in Vorgänge übersetzt und dadurch temporalisiert. Der Satz spricht die Statue wie einen Körper an („ihr Arm“, „ihre Gestalt“) und verlebendigt sie in einer Suggestion von Bewegung. Das Emporragen ihres Arms erhält durch den Kommentar „wie neuerdings“ eine zeitliche Dimension, die im Zusammenklang mit dem voraufgegangenen „wie ... plötzlich“ den Eindruck suggeriert, es sei soeben etwas geschehen. Dadurch gewinnt die eigentlich starre Haltung des Arms eine beinahe gestische, dynamische Qualität. In Verbindung mit dem Schwert, das Kafka der Statue anstelle ihrer Fackel in die Hand gibt, wird sie zur ehrfurchtge-
22
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bietenden Gebärde.23 Das Wehen der „freien Lüfte“ nimmt diese Bewegtheit auf und umgibt damit die „Gestalt“ (beinahe wie ein wehendes Kleid). Zugleich übernimmt die poetisierende Großartigkeit von „Lüfte“ den erhabenen Gestus, während das Adjektiv „frei“ die Lüfte mit dem symbolischen Gehalt der Statue verbindet. Die Erscheinung der „Freiheitsgöttin“, die im ersten Satz von dem Lichteffekt her mit diffuser Bedeutsamkeit aufgeladen wurde, wird durch dieses Geschehen gleichsam sprechend. Die Allegorie der Freiheit führt ihre Bedeutung vor. Sie spricht durch die Naturerscheinungen, „Sonnenlicht“ und „freie Lüfte“, welche die Göttin ins Licht und in Szene setzen und dem Leser, der diesem Geschehen durch Karls Augen hindurch zusieht, ein Gefühl von Erhabenheit vermitteln. Damit führt Kafkas Text genau die Wirkung der Freiheitsstatue vor, die Arthur Holitscher beschrieben hatte: „Die innere Bai mit der Dame Freiheit, die auch von hier oben herrlich und majestätisch anzuschauen ist, weil sich ein Beg r iff in ihr verbindet mit einem Ge fü hl“.24 Holitscher benennt Eindrücke („herrlich“, „majestätisch“), während Kafka in Szene setzt, wie sich „Begriff und Gefühl“ verbinden. Im Vergleich zu Kürnberger zeigt sich noch eine weitere Dimension dieser Inszenierung. Während bei Kürnberger die erhabene Naturerfahrung durch einen Akt der Deutung zum Zeichen der Freiheit wird, ist es bei Kafka das Freiheitszeichen selbst, das als Naturereignis eine erhabene Erfahrung vermittelt. Das hat Konsequenzen für den Betrachter. Bei Kürnberger kann er, obwohl bezaubert, seine kontemplative Distanz wahren. Dies ist für Karl Roßmann nicht möglich. Wenn Kafka beschreibt, wie Karl Roßmann die Statue der Freiheitsgöttin „erblickte“, wenn sie als Naturereignis und mit erhabener Gebärde in Erscheinung tritt, dann beschreibt er, wie sie ihm in die Augen springt. Der nächste Erzählschritt beginnt im nächsten Satz mit Karls Reaktion auf dieses Erlebnis: „ ‚So hoch‘ sagte er sich ...“.25 Dieser auf zwei Worte verkürzte Ausdruck des Staunens leistet zweierlei: zum einen definiert er Karls Position gegenüber der Statue als eine Relation von unten und oben; zum anderen spiegelt Karls Staunen das zurück, was die Freiheitsstatue ihm mitgeteilt hat. Die in plötzlich verstärktem Sonnenlicht, in „freien Lüften“ strahlende „Freiheitsgöttin“ ruft wohl nicht ‚Brüder, zur Sonne, zur Freiheit‘, und sie verspricht auch nicht den helleren Tag der Neuen Welt wie in Kürnbergers Text. ‚Ich bin groß, du bist klein‘: das sagt Amerika dem 17jährigen Karl Roßmann, als er in den Hafen von New York einfuhr. Die Statue mit dem emporgestreckten Arm erscheint zwar als 23
24 25
Für den Befehl, den diese Gebärde enthält, ist nicht das „neuerdings“, sondern das Schwert verantwortlich. Der Drohgestus kommt schon bei Holitscher vor, der das Auftauchen der Wolkenkratzer von Manhattan beschreibt: „Es wächst, wächst am Horizont, höher, schaut jetzt aus wie eine Hand, die sich schmal und langsam in die Höhe streckt, man weiß nicht zum Willkomm oder wie eine Drohung.“ (A. Holitscher, a.a.O., S. 39). A. Holitscher, a.a.O., S. 57. KKAT, S. 464.
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Inbild der Freiheit; Karls Antwort aber schreibt die Betrachterperspektive in diese Erscheinung ein. Für den Neuankömmling ist die göttliche Freiheit unerreichbar. Die Statue, die ein Schwert statt einer Fackel trägt, hat nicht nur deshalb etwas Bedrohliches. Sie läßt die Aussichten des kleinen Karl Roßmann auf das, was ihm in der Neuen Welt begegnen wird, in ungünstigem Licht erscheinen. Diese Redensart ist durchaus wörtlich zu verstehen. Mit Karls Reaktion wirft die Statue die Beleuchtung, die Karls Blick ihr verliehen hatte, wieder auf ihn selbst zurück. Im Spiegel dieser Erscheinung erhält seine bevorstehende Ankunft ein vage bedrohliches Vorzeichen. Statt eines Versprechens erfährt Karl Überwältigung und Selbstverlust. Damit verwandelt Kafka den schon oft beschriebenen Blick auf die Freiheitsstatue bei der Einfahrt in den Hafen von New York in eine neue Erfahrung. Obwohl aus den bekannten Versatzstücken der Reiseberichte kompiliert, vermittelt Karl Roßmanns Initiation einen neuen, ersten Eindruck. Umgekehrt beruht das Gelingen dieses Kunstgriffes darauf, daß der Satz auf die Vertrautheit des Bildes und seiner Konnotationen zurückgreifen kann. Dieses ‚déjà-vu‘ im Kopf des Lesers ist die Bedingung für seine Umkehrung zu einer Erscheinung in neuem Licht, wie am ersten Tag. Mit der Beschreibung der Freiheitsstatue konstituiert der zweite Satz einen neuen Moment und eine neue Spannung. Diesmal schafft die Beschreibung der „Freiheitsgöttin“ keinen herausgehobenen Augenblick wie das Sonnenlicht im ersten Satz; sie verzeitlicht das Bild zu einem Verlauf. Durch die Bewegung aber, die der Satz inszeniert, gewinnt das Bild höchst anschauliche, sinnliche Präsenz. Damit bekommt das Erzählen des Augenblicks eine neue Dimension. Gegenwart bedeutet im Heizer nicht nur, daß sich alles im Moment des Jetzt ereignet, sondern auch die Anwesenheit, die unmittelbare Gegenwärtigkeit des Dargestellten. Durch diese Präsenz nimmt die Statue Auge und Bewußtsein des Betrachters gefangen. Sie fordert Aufmerksamkeit. Diese Forderung hält den Betrachter und den Leser im Jetzt, das mit dem ersten Satz begonnen hat und sich nun Schritt für Schritt – bzw. Satz für Satz – weiter vorwärts bewegt. Diese Richtung nach vorne entsteht durch die Verwandlung der Freiheits-Allegorie in ein bedrohliches Vorzeichen. Sie erzeugt eine Erwartung, die sich auf das Künftige hin spannt. Aus der Gleichzeitigkeit von Präsenz und Erwartung ergibt sich ein Spannungsverhältnis, das die Lesebewegung zum nächsten Satz und zum nächsten Moment voranzieht. „So hoch“ sagte er sich und wurde, wie er so gar nicht an das Weggehn dachte, von der immer mehr anschwellenden Menge der Gepäckträger, die an ihm vorüberzogen, allmählich bis an das Bordgeländer geschoben. Ein junger Mann, mit dem er während der Fahrt flüchtig bekannt geworden war sagte im Vorübergehn: Ja haben sie denn noch keine Lust auszusteigen?26
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KKAT, S. 464.
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IV Der Heizer
Mit der Fortsetzung des dritten Satzes beginnt ein neuer Vorgang; die Schilderung von bewegten Abläufen geht jedoch nahtlos weiter. Dieser Stafettenwechsel verzahnt den Moment unmittelbar vor der Ankunft mit seinem Gegenstück: dem Moment nach der Ankunft, wenn das Verlassen des Schiffes beginnt. Zwischen Davor und Danach hat – wie sich jetzt zeigt – der Augenblick der Ankunft in Amerika, die angekündigte Schwellenüberschreitung, das eigentliche Jetzt stattgefunden. Mit dem Nachklappen eines zweiten Vorgangs, der sich als Gegenstück zum ersten entpuppt, wiederholt Kafka den Kunstgriff eines aus dem Widerspruch zwischen erstem und zweitem Blick konstituierten Zeitverhältnisses. Nachträglich wird dem Moment „Betrachtung“ ein zweiter Moment untergeschoben, den Karl versäumt hat. Dadurch wird der Erzählbeginn verdoppelt. Während die Narration begonnen hat, hat auch schon ein zweites Geschehen angefangen. Diesem gegenüber ist Karls Bewußtsein verspätet. Dieser Effekt beruht darauf, daß der zweite Strang des Geschehens die Fortsetzung der im ersten Satz begonnenen Erzählung ist. Seitdem Karl „in den Hafen von Newyork einfuhr“, ist diese Handlung jenseits seiner Aufmerksamkeit weiter gelaufen und wird jetzt, nach dem an die Betrachtung verlorenen Moment, wieder aufgenommen. Aus diesem Kunstgriff entsteht die in die Vergangenheit gerichtete Erkenntnis, auf einem Umweg gewesen zu sein, und zugleich ein Impuls in die Zukunft: das Versäumnis mahnt zur Beeilung. Dadurch werden die zeitlichen Modi Vergangenheit und Zukunft genau wie im ersten Satz gegeneinander gespannt, wobei sie den Moment der Gegenwart übergehen. Die Dehnung zwischen ‚unmittelbar bevor‘ und ‚beinahe zu spät‘ mit dem verschluckten Moment des Jetzt in der Mitte bestimmt als synkopische Figur die Zeitstruktur der ganzen Erzählung. Indem die Narration diese Figur des ersten Satzes wiederholt und den Romanbeginn verdoppelt, gelangt sie über die Betrachtung hinaus. Dieser Kunstgriff verkoppelt den Augenblick mit dem Gang des Romans. Eine solche Verbindung herzustellen, ist Kafka mit der Synchronisierung von Textbewegung und erzählter Bewegung bereits in Betrachtung gelungen. Das neue Element, das im Heizer über die in sich selbst zurückgedrehte Bewegung hinausführt, ist die Verbindung der beiden Instanzen mit einer dritten: dem Bewußtsein der Hauptfigur. Karls Bewußtsein konstituiert einen Jetzt-Moment, der in Spannung gerät zum Augenblick des Geschehens. Diese Spannung treibt immer den nächsten Augenblick hervor. Diese Konstellation werde ich in den folgenden Abschnitten eingehend analysieren. Schon der erste Satz des Romans aber erlaubt die Feststellung, daß das Erzählen des Augenblicks darauf beruht, daß der JetztMoment des Bewußtseins durch die synkopische Verzahnung mit dem Geschehen zum ‚momentum‘ gemacht wird, so daß von ihm der Impuls ausgehen kann, der Textbewegung und Handlung in Gang setzt. Dieser Moment des Beginns existiert nicht, bzw. nur der Möglichkeit nach, als der Moment, in dem alles hätte stattfinden sollen.
Ein Moment „Betrachtung“: Der erste Satz
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Der Heizer beginnt, wie so viele von Kafkas Erzählungen, Skizzen und Textansätzen, mit einem Negativum. Der erste Satz ist ein Nicht-Ankommen, ein Vorbeitreffen, etwas immer schon, vom ersten Augenblick an, Verpaßtes, Entglittenes. Dieser Beginn aus dem Negativen, aus dem mit dem ersten Satz gesetzten und gleichzeitig verfehlten Ziel, spannt den Bogen auf, aus dem sich alle folgenden Jetzt-Momente ergeben werden. Die verfehlte Ankunft ist die Bedingung dafür, daß die Geschichte beginnt. Der unmögliche Moment des Jetzt ist die Bedingung der Möglichkeit des Erzählens – und damit der Möglichkeit des Romans. Dieser Erzählbeginn unterscheidet sich grundsätzlich von Romananfängen, die in der Tradition des realistischen Erzählens stehen. Zwar zitiert der erste Satz diese Tradition in täuschend ähnlicher Annäherung.27 Doch zugleich wird das für das realistische Erzählen gültige Verhältnis von Erzählen und Erzähltem umgekehrt. Durch die Einführung eines Erzählers, der das Erleben des Helden als vergangenes in der dritten Person berichtet, scheint das Geschehen objektiviert. Dennoch ist es nicht als etwas vom Erzählen unabhängiges, episch zu Berichtendes faßbar. Das Erzählte ist nicht vor dem Erzählen da, es entsteht erst aus der Erzählerrede.28 Diese wiederum verweigert die Verantwortung für ihre Aussagen. Diese Form der Narration ist – auf dem Weg über Betrachtung und Tagebücher – die Fortsetzung des Projekts, mit dem Kafka in der Beschreibung eines Kampfes begonnen hatte. Es ist der Versuch, das zu Erzählende aus der phantasierenden Rede des Erzählers hervorgehen zu lassen, deren Konstruktion zugleich die Verantwortung für die erzählte Welt unterläuft – also der Versuch, zu erzählen wie ein Träumer, der seinen Traum lenkt, ohne doch darum zu wissen. Dem Heizer gelingt dieses ‚Erzählen im Zeichen des Traums‘. Mit dem ersten Satz kommt Karl Roßmann nicht in Amerika an, sondern in seiner Rolle als Perspektivfigur, von der aus sich eine Traum-Erzählung entfaltet. Der erste Satz 27
28
Vgl. hierzu die Gegenüberstellung der Anfangssätze verschiedener Romane des 19. Jahrhunderts mit dem Erzählbeginn des Urteils bei Hans-Georg Kemper: „Gestörte Kommunikation. Franz Kafka: ‚Das Urteil‘ “, in: Silvio Vietta/Hans-Georg Kemper: Expressionismus, München (2)1983, S. 286-305, hier S. 287. Kemper zeigt, daß der Erzähleingang des Urteils an die Traditionen des literarischen Realismus anknüpft; Gemeinsamkeiten seien etwa „die obligatorischen kalendarischen Informationen, der rasche Sprung ‚in medias res‘, die szenische, tableauhafte Vorstellung des oder der ‚Helden‘ und eines gewohnt bürgerlichen Milieus, die exakte Beschreibung der ‚Topographie‘ und die vorwiegend ‚auktoriale‘ Erzählweise“ (H.-G. Kemper, a.a.O., S. 288). Diese Merkmale bestimmen auch den ersten Satz des Heizers. Für das Verhältnis von Narration und Geschichte gilt also nur eingeschränkt die Fiktion, „daß die erzählte Geschichte dem Erzählen zeitlich vorausliegt“, die Matias Martinez und Michael Scheffel als Idealfall darstellen (vgl. Matias Martinez u. Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, München (3) 2002, S. 18). Zwar berichtet der Erzähler von einem in der Vergangenheit liegenden Geschehen. Doch trotz der grammatischen Vergangenheitsform seiner Rede ist die Struktur der Narration grundsätzlich präsentisch, insofern der Akt des Erzählens und das Zustandekommen des Geschehens jeweils im Moment des „Jetzt“ wechelseitig aufeinander bezogen sind.
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IV Der Heizer
ist ein Anfang, um einen Traum zu induzieren, einen Imaginationsprozeß möglich zu machen, eine Geschichte ins Laufen zu bringen. Sie beginnt mit einem hypnotisierenden Bild. Die Erscheinung der Freiheitsstatue steht nicht nur an der Stelle des Übergangs ins Jetzt, sondern auch anstelle dieser Schwellenüberschreitung. Ihr Anblick verhindert, daß Karl die Schwelle überschreitet, welche die Gangway hinunter in die Vereinigten Staaten führt. Traumverloren in der Betrachtung der Aussicht auf den Möglichkeitsraum seiner Zukunft, vollzieht er eine andere ‚passage‘: den Übergang aus dem Raum vor dem Text zum Beginn des Romans.
3. Erzählstruktur Mit der im ersten Satz etablierten Erzählkonstellation knüpft Der Heizer an die Beschreibung eines Kampfes an. Beide Texte stellen eine Figur ins Zentrum, von deren Bewußtsein aus sie den Erzählvorgang als imaginative Bewegung entfalten. In einem bestimmten Sinne gilt für die Beschreibung wie für den Heizer, daß ihre Protagonisten die Geschichten träumen. Welcher Sinn dies sein kann, soll im folgenden geklärt werden. Dabei greife ich zunächst die Überlegungen des III. Kapitels auf, die gezeigt haben, daß Kafkas Traumaufzeichnungen als Modelle für einen gewollt-unkontrollierten, phantasierenden Schreibvorgang dienen können. Diesen Gedanken weiterführend, stellt sich die Frage, ob die neue Konstellation, die im Heizer das Erzählen möglich macht, ihrerseits vom Traum hergeleitet werden könnte. In welcher Hinsicht kann der Traum als Vorbild von Erzählstrukturen des Heizers bezeichnet werden? An diese eher theoretische Erörterung schließt sich die Frage nach der Praxis an: Wie vollzieht sich das traum-analoge Erzählen? Wie gelangt dieser Text über das im Tagebuch erprobte träumende Phantasieren und die Nacherzählung von Träumen hinaus zum Erzählen einer Geschichte? 3.1 Der Traum als Modell der Erzählstruktur 3.1.1 Zur Beziehung von Traumaufzeichnung und Erzählung Von der Beziehung zwischen Traumaufzeichnung und Erzählung auszugehen, liegt im Falle des Heizers besonders nahe, weil Kafka den Beginn seines Romans vorweg geträumt zu haben scheint. Einige Wochen vor Beginn der Niederschrift des Heizers findet sich im Tagebuch die Aufzeichnung eines Traums, in dem sich der Träumer im Hafen von New York befindet.
Erzählstruktur
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Ein Traum: Ich befand mich auf einer aus Quadern weit ins Meer hineingebauten Landzunge. Irgendjemand oder mehrere Leute waren mit mir, aber das Bewußtsein meiner selbst war so stark, daß ich von ihnen kaum mehr wußte, als daß ich zu ihnen sprach. Erinnerlich sind mir nur die erhobenen Knie eines neben mir Sitzenden. Ich wußte zuerst nicht eigentlich wo ich war, erst als ich mich einmal zufällig erhob, sah ich links vor mir und rechts hinter mir, das weite klar umschriebene Meer mit vielen reihenweise aufgestellten, fest verankerten Kriegsschiffen. Rechts sah man Newyork, wir waren im Hafen von Newyork. Der Himmel war grau aber gleichmäßig hell. Ich drehte mich frei der Luft von allen Seiten ausgesetzt auf meinem Platze hin und her, um alles sehn zu können. Gegen Newyork zu, gieng der Blick ein wenig in die Tiefe, gegen das Meer zu gieng er empor. Nun bemerkte ich auch, daß das Wasser neben uns hohe Wellen schlug und ein ungeheuerer fremdländischer Verkehr sich auf ihm abwickelte. In Erinnerung ist mir nur, daß statt unserer Flöße lange Stämme zu einem riesigen runden Bündel zusammengeschnürt waren, das in der Fahrt immer wieder mit der Schnittfläche je nach der Höhe der Wellen mehr oder weniger auftauchte und dabei auch noch der Länge nach sich in dem Wasser wälzte. Ich setzte mich, zog die Füße an mich, zuckte vor Vergnügen, grub mich vor Behagen förmlich in den Boden ein und sagte: Das ist ja noch interessanter als der Verkehr auf dem Pariser Boulevard.29
Die Nähe dieser Traumaufzeichnung zu der Erzählung Der Heizer ist erstaunlich groß. Mehrere Bilder des Traums vom New Yorker Hafen haben als Vorbild für die Gestaltung der Hafenszenen im Heizer gedient.30 Kafka hat also möglicherweise bei der Niederschrift der Erzählung ein Verfahren wiederholt, das er an seinen Träumen beobachtete. Immer wieder erkannte er in ihnen umgeformte Bilder und Eindrücke des Tages.31 Wie die im Schlaf arbeitende Phantasie, würde also auch die wache Einbildungskraft des Autors gesehene und geträumte Bilder in neue Geschichten verwandeln. Dieses Bild des Schaffensprozesses wird dadurch bestätigt, daß der Befund einer geträumten Urszene nicht nur für den Heizer gilt. „In many instances a dream, a fantasy or a piece of imagery recorded in the notebooks becomes the starting point for a story“, stellt Selma 29 30
31
Tagebucheintrag vom 11.9. 1912, KKAT, S. 436f. Hans-Gerd Koch hat im einzelnen nachgewiesen, welche Traumbilder wie verwandelt in den Heizer eingegangen sind. Neben der (im Traum nur angedeuteten) Freiheitsstatue tauchen die Kriegsschiffe, die Beschreibung des Bootsverkehrs und die sich in den Wellen wälzenden Floßbündel in Karl Roßmanns Blicken aus den Fenstern des Schiffes wieder auf (Hans-Gerd Koch, „ ‚Ringkämpfe jede Nacht‘ - Franz Kafkas ‚Schreibtisch- und Kanapeeleben‘ “. Nachwort zu Franz Kafka: Träume, hrsg. v. Gaspare Giudice und Michael Müller, Frankfurt/M. 1993, S. 93104, Zitat S. 96f.). So führt z.B. eine Traumaufzeichnung vom Oktober 1911 „eine schreckliche Erscheinung [...] heute in der Nacht ein blindes Kind“ auf verschiedene Tageseindrücke zurück: eine „Leitmeritzer Tante“, eine Tochter des Vorgesetzten sowie den merkwürdigen Anblick des Zwickers der Mutter beim Kartenspiel (Tagebucheintrag vom 2.10.1911, KKAT, S. 50f. u. S. 52). - In einem Brief an Grete Bloch bemerkt Kafka über den Zusammenhang zwischen Wachen und Träumen: „Diese Art Schlaf, die ich habe, ist mit oberflächlichen, durchaus nicht phantastischen, sondern das Tagesdenken nur aufgeregter wiederholenden Träumen durchaus wachsamer und anstrengender als das Wachen.“ (Brief vom 11.2. 1914, Briefe an Felice, S. 501).
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IV Der Heizer
Fraiberg als Fazit ihrer Untersuchungen zu Kafkas Traumaufzeichnungen fest.32 Auch die Erforschung jener Bilder und Quellen, die als Material für Kafkas Texterfindungen gedient haben können, stützt dieses Bild des Schaffensprozesses. Aus einer Fülle von assoziativ weitergeträumtem, imaginativ umgeformtem Bildmaterial ergibt sich eine Kette, die vom erinnerten Zeitungsausschnitt über die Halbschlafphantasien und Träume, von den Tagebuchaufzeichnungen bis in die Erzählungen hinein reicht.33 Die Frage ist, wie dieser Befund bewertet werden kann. Der Vergleich der Bilder verwandelnden Einbildungskraft des Autors mit den Träumen weist auf eine Beziehung zwischen Schreiben und Träumen hin, die in der Verwandtschaft von träumender und literarischer Phantasie begründet ist. Doch das Schreiben als verlängertes Träumen zu betrachten, wäre zu einfach, denn in dieser Perspektive erschiene der Text als Produkt des Träumens, nicht als Ergebnis einer künstlerischen Gestaltung: als hätte gleichsam der Traum bzw. die Phantasie selbst zum Stift gegriffen. Im Sinne einer in dieser Weise vereinfachend gedachten ‚écriture automatique‘ wäre es dann nur allzu leicht, auch die Strukturen dieses Träumens, d.h. die Traumlogik bzw. die Prozesse des Unbewußten (Verdichtung und Verschiebung) auf den Text abzubilden und an die Stelle der literarischen Verfahren, der Kunstmittel zu setzen.34 Selma Fraiberg hat schon früh darauf aufmerksam gemacht, daß die Perspektive umgekehrt werden muß: „Kafka's so-called ‚dream technique‘ springs from a conception of the dream as a work of art. Kafka explored the aesthetic properties of the dream. He understood the primary relationship between unconscious mental processes and the form and composition of the dream.“35 Wenn der Traum für Kafka primär ein ästhetisches Vorbild darstellt, dann muß die Untersuchung der Beziehung von Träumen und Schreiben konsequenterweise von den ästhetischen Verfahrensweisen der Texte ausgehen und nicht von ihren möglichen Quellen in den Träumen des Autors. Nicht Kafkas Träumen bestimmt 32
33
34
35
Selma Fraiberg: „Kafka and the Dream“, in: Partisan Review, Jg. 23, Nr. 1 (1956), S. 47-69, Zitat S. 47. Zu dem Prozeß der imaginativen Umformung von vorgefundenem Bildmaterial vgl. Hanns Zischler: Kafka geht ins Kino, Reinbek bei Hamburg 1998, Kapitel „Immer wieder diese weiße Sklavin“. Vgl. hierzu den psychoanalytischen Ansatz von Gerhard Kurz: Traum-Schrecken. Kafkas literarische Existenzanalyse, Stuttgart 1980. Auch viele andere Arbeiten zum traumähnlichen Erzählen bei Kafka basieren auf dem Freud'schen Modell der Traum-Rhetorik. Vgl. etwa Friedrich Altenhöner: Der Traum und die Traumstruktur im Werk Franz Kafkas, Münster 1964; A.P. Foulkes: „Dream Pictures in Kafka's Writings“, in: The Germanic Review 40/1965, S. 17-30; Martin Stern: „Funktionen des Traums in der neueren Dichtung am Beispiel Strindbergs, Trakls und Kafkas“, in: Universitas 39/1984, S. 279-291; Jörgen Egebak: „Die fiktive Wahrheit des Traums: Strategien in Franz Kafkas ‚Durchbruchstexten‘ “, in: Kafka und Prag, hrsg. v. Kurt Krolop u. Hans-Dieter Zimmermann, Berlin u.a. 1994, S. 113-131. - Vgl. außerdem den Literaturbericht von Hartmut Binder zum Thema Traum und Erzählen in: Kafka-Handbuch, hrsg. v. Hartmut Binder, Stuttgart 1979, Bd. 2, S. 48-52. S. Fraiberg, a.a.O., S. 57.
Erzählstruktur
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sein Schreiben – seine Sätze sind es, die die gesehenen Bilder überlagern und zu neuen Bildern verdichten. Dabei verfahren sie ganz nach ihrer eigenen Logik. Diese ist eine sprachlich-bildliche Logik, keine nach dem Freud'schen Modell gedachte Traumrhetorik. Daher möchte ich, um die Frage nach der Beziehung zwischen Traumvorlage und literarischem Text zu beantworten, die Aufmerksamkeit statt auf Inhalt und Bilder des Traums auf seine Struktur, bzw. auf die Struktur der Traum-Nacherzählung richten. Die Frage nach der Erzählstruktur tritt an die Stelle der Frage nach der Traumlogik; sie vermeidet die psychoanalytische Perspektive, die in Traum und Erzählung gleichermaßen ein übergeordnetes, nach psychischen Gesetzen organisiertes Muster am Werk sieht, und ersetzt sie durch eine Betrachtungsweise, die die Struktur des erzählten Traums als eine durch literarische Verfahrensweisen zustande gekommene ernst nimmt. Wie der Bordell-Traum im Tagebuch beschreibt auch der New-York-Traum die Geschichte einer Wahrnehmung bzw. einer Blickbewegung. Der Träumer entdeckt nach und nach seine Umgebung. Zunächst beschreibt er den eigenen Standort, exponiert auf einer „aus Quadern weit ins Meer hineingebauten Landzunge“. Doch das Meer wird erst sichtbar, als er aufsteht, wodurch sich ihm ein Weitblick eröffnet. Er stellt fest, daß am Rande dieses Meeres New York liegt und er sich also im New Yorker Hafen befindet (die „Quadern“ der „Landzunge“ lassen sich jetzt – erst jetzt! – als die einer Kaimauer deuten. Aus ihr und dem Anblick von New York zusammen entsteht die Erkenntnis „wir waren im Hafen von Newyork“, die der Träumende nun gewinnt). Erst jetzt bemerkt er außerdem, daß in diesem Hafen „ein ungeheuerer fremdländischer Verkehr“ im Gange ist. Von dieser Ansicht in Mitteldistanz aus wandert der Blick näher zum Betrachter, wo sich eine einzelne Floßkonstruktion befindet, deren Bewegung detailgenau beschrieben wird. Die Blickfolge vollzieht also – wie schon im Bordell-Traum – eine zunehmende Fokussierung. Am Schluß ist der Beobachter beim zunächst gegenüber Liegenden angekommen, für das er am Anfang blind zu sein schien. Erst nachdem sein Blick vom Horizont zurückgekehrt und in der Nähe angekommen ist, kann der Beobachter das komplette Bild betrachten: „Ich [...] grub mich vor Behagen förmlich in den Boden ein und sagte: Das ist ja noch interessanter als der Verkehr auf dem Pariser Boulevard.“ Jetzt erst kann der Träumer zum Zuschauer werden, d.h. nachdem sein Blick das Panorama, das sich ihm bietet, erschaffen hat. Damit aber ist der Traum – oder zumindest die Erinnerung an ihn bzw. deren Aufzeichnung – zu Ende. Der nacherzählte Traum ist also, wie schon im Fall des Bordell-Traums, nicht einfach die Geschichte der Bilder, die vor dem träumenden Betrachter vorüberziehen. Der Betrachter spielt vielmehr eine aktive Rolle: Die Bewegung seines Blicks bringt die Gegenstände allererst hervor, beziehungsweise zur Erscheinung. Erst indem er sie sieht, kommen die Gegenstände ins Bild, das sie vorher nicht enthalten hat. Das Floß, das ihm auf einmal auffällt – „Nun
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IV Der Heizer
bemerkte ich auch...“ –, muß eigentlich schon vor seinem plötzlich aufmerksamen Blick vorhanden gewesen sein, sogar direkt vor seinen Augen. Warum aber hat er es nicht gesehen, wenn nicht, weil es vor dem Blick noch gar nicht da war? – Als entdeckender Betrachter ist der Träumer Regisseur. Seine Position ist die der Freiheitsstatue.36 Von ihrem exponierten Platz „auf einer aus Quadern weit ins Meer hineingebauten Landzunge“ aus, stehend, also höher als die anderen, hat er den Überblick, „um alles sehn zu können“. „Frei der Luft von allen Seiten ausgesetzt“, ist der Träumer in der Position des Autors seines Traums. Diese Autor-Position und die entgegengesetzte des Zuschauers bilden Anfang und Ende des Traums. Dazwischen vollzieht sich das Erfinden bzw. Erschaffen des Traums, das die Hafenansicht von Blick zu Blick in allmählicher Verfertigung entstehen läßt. Der den Traum einleitende Überblick selbst ist (fast) blind und leer. Wenn Überblick und Freiheit die Position des Regisseurs bzw. Autors kennzeichnen, so hätten das „weite Meer“ und die leere Luft – metaphorisch gesprochen – die Funktion eines weißen, unbeschriebenen Blattes. Mit dem ersten Blick wird ein Rahmen aufgespannt („klar umschrieben“), der alles Mögliche enthalten kann.37 Wenn der Bordell-Traum der Freud'schen Traumdeutung gemäß erfunden zu sein scheint („Der Traum, durch eine Flucht von Zimmern zu gehen, ist ein Bordell- oder Haremstraum“38), so könnte der Traum vom New Yorker Hafen eine Illustration zu Joseph Addisons Diktum über die Träume abgeben. Im Traum, so Addison, sei die Seele des Träumers zugleich das Theater, der Schauspieler und der Zuschauer.39 Als Leser von Kafkas Tagebuchaufzeichnung scheint man diesem Theater zusehen zu können, als ob man in die Seele des Träumers hineinversetzt würde, während sie seinen Traum produziert. Dieser Eindruck ist selbstverständlich wiederum das Werk der Traum-Nacherzählung. Der Träumer erzählt den Traum als Geschichte eines Sehens, als Bahn eines vom Rand zum Zentrum fortschreitenden, bewegten Blickes. So wird nachvollziehbar, wie sich allmählich eine in den Konturen undeutliche, merkwürdig schiefe 36 37
38 39
Vgl. H.-G. Koch, „Ringkämpfe jede Nacht“, S. 96. Der Traum vom New Yorker Hafen erinnert an das romantische Motiv der weißen Leinwand, auf welcher der Maler nur mit den Augen, d.h. mit dem inneren Auge der Einbildungskraft ein Bild erschafft (z.B. in E.T.A. Hoffmann: Der Artushof). Die weiße Leinwand, Projektionsfläche der Phantasie, dient als Metapher eines künstlerischen Schöpfungsaktes, der sich von der Abbildung des Wirklichen entfernt und Zugang zu den poetischen Prozessen des Träumens und Phantasierens sucht. Die weiße Fläche, auf der die phantasmagorischen Bilder erscheinen, ist nicht mit einer Kino-Leinwand zu verwechseln, denn dieses Kino findet - wie in Kafkas Traum allein im Kopf des Betrachters statt. Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Frankfurt/M. 1996, S. 356. Vgl. Joseph Addisons Essay über den Traum in The Spectator, Nr. 487: „What I would here remark, is that wonderful power in the soul, of producing her own company upon these occasions. She converses with numberless Beings of her own creation, and is transported into ten thousand scenes of her own raising. She is herself the Theatre, the Actor, and the Beholder.“ (zitiert nach Joseph Addison: Works, Birmingham 1761, Bd.3, S. 559).
Erzählstruktur
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Meeresfläche aus dem Vagen herausbildet und ihre Unbestimmtheit trotz zunehmender Bevölkerung der Szenerie nicht verliert. Der Reiz der Beschreibung liegt in dieser Bewegung des Sich-Herausbildens, es ist, als wenn die Dinge an den Rändern noch unscharf und die unbeschriebenen Stellen noch weiß wären. Wie im Bordell-Traum, ist der Träumer zwar Regisseur, aber doch nicht Herr über die Erscheinungen. Zwar kommt die Welt unter seinem projizierenden Blick erst zur Erscheinung, doch ist das nur von außen zu erkennen. Dem Träumer selbst begegnet sie als unabhängig existierend. Für ihn ist sein Blick verspätet gegenüber einer Wirklichkeit, die ihm jetzt erst zu Bewußtsein kommt. Die Tatsache, daß es vor seinem Gewahrwerden und von ihm unabhängig keine Wirklichkeit gibt, erlebt der Träumer genau umgekehrt: als Nachträglichkeit seiner Wahrnehmung. Als immer verspätete hinkt sie einer Wirklichkeit hinterher, die immer schon längst besteht. Der Träumer ist also – in einer merkwürdigen Doppelfunktion – genauso Zuschauer wie Autor. Er ist ein Auge, das nach zwei Richtungen zugleich funktioniert: als erzeugend-projizierendes der Realität voraus, wenn diese an der Bahn seines Blicks entlang entsteht – zugleich aber Organ einer Wahrnehmung, die gegenüber den Wandlungen der Realität verspätet erscheint. Die Strukturen des ‚genaueren Hinsehens‘ und des ‚Nachklappens der Wahrnehmung‘ in der Form, die sie in dieser Traumaufzeichnung angenommen haben, lassen sich als Modell nutzen, um die Erzählentwicklung des Heizers zu beschreiben. Der New-York-Traum eignet sich in dieser Hinsicht besser als der Bordell-Traum, weil hier die Funktion des Träumers als projizierendes und doch verspätetes Auge noch deutlicher wird. Als dieses doppelseitige Auge ist der Träumer für Kafkas Erzählen interessant. Ein Auge, das die Geschichte seiner Wahrnehmung erzählt, kann zum Medium werden, von dem aus ein nichtnachträglich erzählender, ein erfindend-phantasierender Schreibvorgang zu organisieren wäre. Was in der Traum-Nacherzählung Notwendigkeit ist, nämlich die Handlung durch Augen und Erleben der Perspektivgestalt zu entwickeln, kann zur Möglichkeit des Erzählens werden. Damit wird die TraumNacherzählung über das Modell eines phantasierenden Schreibvorgangs hinaus zum Modell für die Entwicklung fiktionaler Texte. Diese modellhafte Struktur hat nichts mit jenen Traumphänomenen zu tun, die seit Freud als Traumlogik bezeichnet werden. Es ist eine Zeit- und Wahrnehmungsstruktur. 3.1.2 Das ‚erzählende Auge‘: Traumstruktur und Handlungsentwicklung Die Perspektivfigur Karl Roßmann hat dieselbe produktive Funktion für die Erzählung wie das doppelseitige Auge des Träumers für das Entstehen des Traums. Wie die Blickbahn das Medium ist, an dem entlang die Hafenszenerie entsteht, so ist Karls Laufbahn durch das Schiff das Medium, an dem seine
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Geschichte entsteht. Karl ist das wandernde Auge, das auf den Weg durch das Schiff geschickt wird, und die Geschichte ist der Bericht davon, was ihm dabei begegnet. Zunächst besagt diese These nicht mehr, als daß die Handlungsentwicklung an diesem Faden entlang angeordnet ist und die Geschichte als Kette von Karls Abenteuern berichtet wird. Diese Formulierung setzt allerdings voraus, daß es bereits etwas gibt, das angeordnet und dann erzählt werden könnte. Die Besonderheit von Karls Geschichte ist jedoch, daß sie erst entsteht, während und indem seine Schritte sie hervorbringen. Analog zu der Bahn des Blicks, die im Traum den New Yorker Hafen nach und nach durchzieht und diesen dabei erst zur Erscheinung bringt, wird Karls Suche, die ihn in den Bauch des Schiffes führt, erst im Laufe ihrer Entwicklung zu einer Geschichte. 3.1.2.1 Perspektive und Zeitstruktur Diese Erzählweise manifestiert sich am deutlichsten in der Perspektivstruktur. Die Handlungsentwicklung folgt dem Erleben des Helden. Seine Abenteuer werden von einer subjektiven Position aus erzählt, als befände sich der Erzähler – und damit auch der Leser – in Karls Kopf. In konsequent durchgehaltener ‚vision avec‘ müssen alle Erzählinhalte durch das Bewußtsein dieser Figur hindurch. Was Karl nicht weiß, gibt es nicht. Was geschieht, geschieht ihm. Was er von der Realität sieht und wahrnimmt, ist alles, was von der Realität berichtet wird. Dieses Prinzip wird so radikal durchgeführt, daß die Aussagen des Erzählers immer auf dem augenblicklichen Stand von Karls Wissen sind. Erst wenn Karl gelernt hat, daß der Kapitän der Kapitän ist, benennt der Erzähler ihn auch entsprechend, vorher ist er das, was Karls Augen sehen: „der Herr mit den Orden“.40 Diese konsequent personale Erzählweise ist von Friedrich Beißner zuerst beschrieben und als ‚Einsinnigkeit‘ bezeichnet worden.41 Kafkas Held sei – Friedrich Spielhagens Forderung gemäß – gleichsam das Auge, durch welches der Autor des Romans die Welt sehe.42 Schon Beißner hat diese Struktur mit der Eigenart von Träumen assoziiert. Indem der Erzähler sich in die Hauptgestalt verwandle, sich an ihre Stelle setze, gelinge es dem Autor, sein „traumhaftes inneres Leben“ darzustellen, wie es Kafka in dem bekannten Tagebucheintrag 40 41
42
KKAT, S. 480. Friedrich Beißner: Der Erzähler Franz Kafka. Ein Vortrag, Stuttgart (4)1961, S. 28: „Kafka erzählt, was anscheinend bisher nicht bemerkt worden ist, stets einsinnig, nicht nur in der Ich-Form, sondern auch in der dritten Person. Alles, was in dem Roman ‚Der Verschollene‘ [...] erzählt wird, ist von Karl Roßmann gesehen und empfunden; nichts wird ohne ihn oder gegen ihn, nichts in seiner Abwesenheit erzählt, nur seine Gedanken, ganz ausschließlich Karls Gedanken und keines andern, weiß der Erzähler mitzuteilen.“ Beißner beruft sich auf Friedrich Spielhagens Beiträge zur Theorie und Technik des Romans (1883), vgl. F. Beißner, a.a.O., S. 21.
Erzählstruktur
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beschrieben habe („Der Sinn für die Darstellung meines traumhaften innern Lebens hat alles andere ins Nebensächliche gerückt ...“).43 Traumhaft, so Beißner, seien Kafkas Erzählungen und Romane, weil sie „von innen her erzählt“ seien, eben von jenem „Platz [...] in der Seele seiner Hauptgestalt“.44 Dadurch werde es möglich, inneres Erleben ohne Distanz darzustellen. – Seither ist die ‚Einsinnigkeit‘ der Perspektive noch verschiedentlich auf die Struktur von Träumen bezogen worden. Dorrit Cohn bemerkt etwa: „What is essential for the production of dream-likeness is the strict adherence to a single consciousness on which the events impact as immediate, unaccountable experiences.“45 Ebenso konstatiert Manfred Engel, das einzige Element des Traums, das Kafka adaptiert habe, sei die „besondere Subjekt-Objekt-Struktur“, die ihm „zur Lösung eines ganz spezifischen poetologischen Problems diente [...]: eine Darstellung der ‚inneren Welt‘ jenseits von Realismus und rationaler Psychologie. [...] Der Held steht einer festen und widerständigen Außenwelt gegenüber, die aber zugleich als ganzes die Welt einer Seele ist, Außenwelt einer ganz bestimmten Innenwelt, deren Strukturen sie abbildet, kritisiert, aber auch, ex negativo, auf die eines ganz anderen Verhaltens hin öffnet. Ich halte es für sehr plausibel, daß Kafka diesen fiktionalen Weltentwurf direkt dem Traum abgeschaut hat.“46 Bei diesen Anmerkungen ist das Nachdenken über die Traumähnlichkeit der Perspektivstruktur bisher stehengeblieben. Dagegen wurde Beißners These von der Einsinnigkeit der Perspektive ausführlich kommentiert und an den Texten erprobt.47 Im Verlauf dieser Diskussion wurde die Einsinnigkeit immer stärker auf die Frage nach der Subjektivität des Helden und der Objektivität der ihn umgebenden Welt zugespitzt. Nach diesem Modell der Einsinnigkeit ist Karl das ‚erzählende Auge‘ in dem Sinne, daß er als Perspektivfigur fungiert und seine Geschichte als Geschichte seines Sehens bzw. Erlebens aus dieser Perspektive heraus erzählt wird. Dieses Auge erzeugt eine interpretierend gefärbte Sicht der Wirklichkeit.48 Entsprechend unsicher wird der Status der objektiven 43 44 45
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47
48
Tagebucheintrag vom 6.8. 1914, KKAT, S. 546. F. Beißner, a.a.O., S. 31 u. 29. Dorrit Cohn: „Kafka and Hofmannsthal“, in: Modern Austrian Literature 30/1997, S. 1-19, Zitat S. 11. Manfred Engel: „Literarische Träume und traumhaftes Schreiben bei Franz Kafka. Ein Beitrag zur Oneiropoetik der Moderne“, in: Träumungen. Traumerzählung in Film und Literatur, hrsg. v. Bernard Dieterle, St. Augustin 1998, S. 233-262, Zitat S. 254. Am umfassendsten ist die Darstellung von Jörgen Kobs: Kafka. Untersuchungen zu Bewußtsein und Sprache seiner Gestalten, hrsg. v. Ursula Brech, Bad Homburg 1970, S. 25-55. Dort auch die gründlichste Analyse zum Thema der Perspektivgestaltung im Heizer bzw. im Verschollenen („Die Sehweise der Kafkaischen Hauptgestalten“, ebd.., Teil B, S. 98-531). Diese Position vertritt am nachdrücklichsten Jörgen Kobs, für den Karl ein ‚interpretierendes Auge‘ ist; vgl. z.B.: „Für ihn gibt es buchstäblich keine Sinneseindrücke, sondern bloße Projektionen seiner Subjektivität, die er als scheinbar von außen, von den Gegenständen kommende Affektationen seines Bewußtseins erlebt. Auch in der reinen Beobachtung tritt er nur zu sich selbst ins Verhältnis.“ (J. Kobs, a.a.O., S. 158 f.).
IV Der Heizer
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Gegebenheiten. In dieser Unsicherheit über die Natur der durch Karls Wahrnehmung vermittelten Wirklichkeit liegt, diesem Ansatz zufolge, das Phantastische oder Traumhafte der Erzählung. Ich möchte eine andere Lesart der Perspektivstruktur vorschlagen. Denn in der subjektivistischen Zuspitzung der Einsinnigkeit, die in der skeptischen Frage nach der wahren Wirklichkeit mündet, gerät meines Erachtens genau jener Punkt aus dem Blick, der die Traumähnlichkeit von Kafkas Erzählen begründet. Es ist die epische Produktivität des ‚erzählenden Auges‘. In dieser hervorbringenden Funktion des Helden, nicht in seinem einsinnigen, subjektiv gefärbten Blick, liegt die Verwandtschaft der Erzählstruktur des Heizers mit dem Traum. Karl ist nicht nur ein rezeptives Organ, durch dessen Erleben und Interpretieren gefiltert die Leser Kunde von der Welt erhalten, ohne sich selbst je ein Bild davon machen zu können. Im Gegenteil: Die Art und Weise, wie die Erzählerrede das durch Karls Perspektive Wahrgenommene präsentiert, sorgt dafür, daß der Leser ständig gezwungen wird, sich selbst ein Bild zu machen. So etwa, wenn Karl sich auf der Suche nach seinem Regenschirm in den Gängen des Schiffes verirrt und dabei auf die Kabine des Heizers trifft: In seiner Ratlosigkeit [...] fieng er ohne zu überlegen, an eine beliebige kleine Türe zu schlagen an, bei der er in seinem Herumirren stockte. „Es ist ja offen“ rief es von innen und Karl öffnete mit ehrlichem Aufatmen die Tür. „Warum schlagen sie so verrückt auf die Tür?“ fragte ein riesiger Mann ...“.49
Der hier erzählte Geschehensablauf bildet eine einfache Folge und läßt sich doch nicht vollständig rekonstruieren. Ausgesagt wird, Karl habe begonnen, an die Tür des Heizers zu „schlagen“. Unklar bleibt, ob er laut klopft, eher hämmert oder vielleicht sogar „wie verrückt“ schlägt, wie die Reaktion des Heizers einen Satz später behauptet. Erst mit dieser Antwort wird eine Aussage darüber gemacht, was zuvor geschehen ist: Karl muß wohl, nachdem er einmal damit angefangen hat – nur das wird ja mitgeteilt –, geradezu auf die Tür eingeschlagen haben. Das Geschehen wird also erst im Nachhinein vollständig. Der traumartige Effekt der nachklappenden Wahrnehmung (‚jetzt erst bemerkte ich auch‘) wird damit auf den Leser übertragen. Wir sind so sehr in Karls Bewußtsein gefangen, daß wir auch mit diesem abwesend sind und erst aus der Reaktion seines Gegenübers schließen müssen, was in der Zwischenzeit möglicherweise geschehen ist. Von Einsinnigkeit kann dabei nicht die Rede sein. In dem Erzählerbericht über Karls Erleben spiegeln sich zwei Blicke auf das Geschehen, nämlich der des Erzählers und der des Heizers. Mit dem Wort „schlagen“ nimmt die Rede des Heizers die des Erzählers auf; diese Behauptung des Heizers ist also durch dessen Autorität gestützt. Aus dieser Beziehung muß der Leser den Vorgang zusammensetzen. Ungedeckt bleibt dabei der Zusatz „wie verrückt“. Ob diese Aussage nur eine Übertreibung des gereizten Heizers ist, oder ob sie in Karls 49
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übertriebenem Hämmern eine reale Grundlage hat und der Heizer deshalb gereizt ist, muß der Leser selbst entscheiden. Es trifft also einerseits zu, daß der Leser über alles, was über Karls Bewußtseinshorizont hinausgeht, im Unklaren gelassen wird. Zugleich aber stellen wir als Leser das Geschehen allererst her, vermittelt durch unser Hineinlesen, das die lückenhaften Angaben des Textes zu einem Ablauf ergänzt. Die Erzählweise durch Karls Perspektive und Bewußtsein hindurch ermöglicht es, den Leser an Karls sich allmählich verfertigender, zuerst noch unscharfer Erkenntnis dessen, was ihn umgibt und was ihm geschieht, teilhaben zu lassen, das heißt: die erzählte Wirklichkeit allererst zu erzeugen. Der Leser wird in Karls Erleben auf eine Weise einbezogen, die ihn selbst produktiv werden läßt. Er nimmt durch seine ergänzenden Interpretationen und Konstruktionen immer schon an dem Prozeß teil, in welchem das erzählte Geschehen zustande kommt. Die Perspektiv- bzw. Wahrnehmungsstruktur ist also produktiv nicht in dem Sinne, daß sie ein subjektiv gefärbtes Bild der Wirklichkeit produzieren würde. Sie ist eine produktive Struktur, weil sie uns dazu bringt, ein Bild herzustellen, zu projizieren. In diesem Sinne ist die Perspektivfigur Karl das ‚erzählende Auge‘, das seine Geschichte allererst hervorbringt. Seine Wahrnehmungen erzählen die Geschichte, indem sie für den Leser erlebbar wird, weil sie beim Lesen entsteht. Dieser Prozeß des allmählichen Entstehens aus dem Vagen, Unsicheren heraus vermittelt den Eindruck des Traumhaften. Wesentlich dafür ist das zeitliche Nacheinander, das durch die einsinnige Perspektivierung organisiert wird. Die Entwicklung der Erzählung von der Perspektivfigur aus bedingt eine präsentische Zeitstruktur, die sich am Jetzt-Moment von Karls Bewußtsein ausrichtet. Jenseits davon gibt es die Geschichte noch nicht. Sie entsteht, als würde Karl sie jetzt, in diesem Moment, gerade erst erleben. 3.1.2.2 ‚Allmähliche Verfertigung‘: Improvisierende Handlungsentwicklung Das momentane Erleben, das die personale Erzählweise als Darstellungsprinzip nutzt, ist im Heizer zugleich die Bedingung für die Weiterentwicklung der Handlung und der Narration. Karls Existenz im Moment und sein Nicht-Wissen der Zukunft, noch nicht einmal des nächsten Schrittes, sind die Bedingung dafür, daß diese Geschichte entstehen kann, denn daraus folgt die Notwendigkeit, von jetzt auf gleich zu reagieren, zu improvisieren. Karl ergreift das, was er findet, und macht daraus etwas. Seine momentanen Aktionen und Reaktionen bestimmen den Fortgang der Handlung in solchem Maße, daß die Erfindung der Geschichte stellenweise auf die Figur übergeht. So wird Karl zum Autor seiner Geschichte, wie der Träumer zum – scheinbaren – Regisseur seines Traums. In der improvisierenden Handlungsentwicklung bringt ein Schritt den nächsten hervor. Zugleich erweist sich jeder neue Schritt, von dem im Moment
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IV Der Heizer
zuvor noch nicht vorhersehbar war, in welche Richtung er führen würde, im Nachhinein als Schritt in die richtige Richtung, denn dort wartet die nächste Tür, hinter der wiederum die Fortsetzung von Karls Geschichte bereits darauf wartet, entdeckt zu werden. So findet Karl gleich hinter der ersten Tür, an die er klopft, einen Mann, aus dem er sofort einen Freund macht. Natürlich hat der Heizer auf nichts weniger gewartet als auf Karls Erscheinen, das für ihn unvorhersehbar sein muß. Und doch scheint es fast so, als ob er nur seinetwegen in der Kabine ausharrte – bzw. um des Fortgangs der Geschichte willen. Denn Karl muß diesen Heizer finden, um mit ihm zusammen zum Kapitän zu gelangen und dort seinen reichen Onkel und damit seine weitere Zukunft zu finden. Aus einer Reihe von Zufällen und Augenblicksentscheidungen wird auf diese Weise eine Verkettung, die vom Schluß her gesehen als glückliche Fügung erscheint. In dem Moment aber, in dem Karl an die Tür klopft, gibt es dieses Ziel noch nicht. Dies entspricht zunächst der alltäglichen Erfahrung von Kontingenz. Für jede Geschichte gilt, daß das Spätere, im Nachhinein betrachtet, nie hätte eintreten können, wenn nicht das Frühere gewesen wäre. Das Besondere an Karls Geschichte ist, daß es ihr Ziel am Anfang noch nicht gibt und daß es am Ende so scheint, als hätte sie sich die ganze Zeit wie zwangsläufig darauf zu bewegt. Die Sensation ist, daß Karl am Schluß seinen Onkel findet, der – wie sich jetzt zeigt – dort von Anfang an auf ihn gewartet hat. Das Spätere erscheint so als Voraussetzung des Früheren. Wie die Beschreibung eines Kampfes, ist die Erzählung Der Heizer als System ineinander verschachtelter Erzählteile strukturiert. Einer Matrjoschka-Puppe gleich, umschließt der Erzählbeginn alle weiteren Entwicklungen, die sich jeweils aus einander ergeben. Durch Zufall findet Karl eine Tür, dahinter eine Kabine, darin den Heizer. Dieser erzählt von seinem Problem, daraus entsteht ein Plan, deshalb brechen die beiden auf und gelangen wieder an eine Tür. Dahinter finden sie einen Raum, darin viele Leute, darunter ein bestimmter Mann. In dessen Tasche steckt ein Notizblock, darin ein Brief, darin eine Geschichte: und diese Geschichte ist die des Karl Roßmann, die Geschichte, mit der die Erzählung Der Heizer begonnen hat. Es ist die Vorgeschichte, die der Erzähler bereits im ersten Satz berichtet hat, und als deren Fortsetzung und Einlösung Karls Weg mit dem Heizer nun erscheint. Damit wird der Irrweg zu der Geschichte, wie Karl seinen Onkel findet. Die letzte Matrjoschka ist also auch wieder die erste. Diese Schachtelstruktur beruht nicht etwa darauf, daß der erste Satz schon alle folgenden Schachteln enthielte. Der erste Satz ist ein Reservoir von noch gar nicht existenten Möglichkeiten, die jetzt eine nach der anderen auseinander hervorgezogen werden können. Seine Funktion ist es, eine Kette von momentanen Einfällen, Zufällen, Ereignissen und Entscheidungen in Gang zu bringen. Er macht eine Setzung, die so offen ist, daß sie – wie sich nach und nach zeigt – alles Mögliche enthalten kann, eine Setzung also nicht in Form eines bereits feststehenden, nur noch abzuspulenden Plans, sondern als die Möglichkeit des Erzählens eröffnende. Dieses Erzählen vollzieht sich als Improvisation. Ein
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Schritt erzeugt den nächsten, wie eine Domino-Kette, die erst im Moment des Anstoßens den ersten Stein hervorbringt. Diese Hervorbringung des zu Erzählenden ist die Funktion des ‚erzählenden Auges‘. In dem Moment, in dem Karl Roßmann einfällt, daß er seinen Schirm vergessen hat, gibt es noch keinen Heizer. Und das nicht nur, weil der Heizer nicht auf ihn wartet und Karl nicht vorhat, ihn zu finden. Sondern weil die Tür erst in dem Moment, in dem Karl auf sie trifft, diejenige werden wird, hinter der der Heizer auftaucht. Indem Karl an die Tür klopft, kann hinter der Tür der Heizer als Antwort darauf entstehen. Dieses Klopfen fördert ihn zutage, als eine Möglichkeit, die es bisher noch nicht gegeben hat, aus der sich allerdings jetzt neue Möglichkeiten ergeben können. Auf Karls Klopfen kommt von der anderen Seite der Tür die Antwort „Es ist ja offen“.50 Sie treibt die Handlung weiter, indem sie etwas nachholt, was bereits der Fall ist: die Tür ist schon offen, war es (jetzt erst) schon vor der Frage. Damit vollzieht sie zugleich einen weiteren Schritt. Bevor Karl überhaupt darum gebeten hat, eintreten zu dürfen, wird er durch diese Antwort bereits dazu genötigt. Als ein solches Frage- und Antwort-Spiel, das ständig Ursache und Wirkung vertauscht, indem es Antworten auf nicht gestellte Fragen gibt und das Spätere dem Früheren vorzieht, entwickelt sich die Geschichte. So, wie der Traum erst im Durchgang des Träumers durch die Räume entsteht, so ist auch Karls Geschichte noch nicht vorhanden, bevor Karl nicht durch die nächste Tür gegangen sein wird. – Zu der Frage, ob seine Geschichte aus Erzählstrukturen des Traums hervorgegangen sei, hat Karl Roßmann übrigens selbst das Nötige gesagt. Wenn der Held des Romans sich irgendwann mitten in seiner Geschichte fragt, in welchen dynamischen Prozeß er eigentlich hineingeraten ist, und sich ärgert: „Warum hatte er auf dem Herweg mit dem Heizer nicht einen genauen Kriegsplan besprochen, statt wie sie es in Wirklichkeit getan hatten heillos unvorbereitet einfach dort einzutreten, wo eine Türe war?“51 – dann beschreibt er damit nicht nur die Struktur seiner Geschichte. Er beschreibt auch nicht allein die Struktur eines Traums, auch wenn das Eintreten durch eine Tür nach der anderen an Traumstrukturen erinnert. Der Satz formuliert das Gesetz, nach dem diese Träume und diese Geschichten sich entwickeln: das Eintreten geht der Tür voran. „Dort einzutreten, wo eine Türe war“ beschreibt eine improvisierende Aktion und zugleich die Logik der Improvisation, der die Struktur des Satzes selbst gehorcht. Die Syntax, die die Abfolge von Subjekt und Prädikat verdreht und den Satz tautologisch erscheinen läßt (denn wo sonst sollte man eintreten, wenn nicht da, „wo eine Türe war“?), bildet eine produktive Konstellation. Ein Satz, der mit „dort einzutreten“ beginnt, kann nur mit „wo“ weitergehen. Ursache und Wirkung sind verdreht, so daß das Eintreten die Tür nach sich zieht, so wie jeder 50 51
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Schritt Karls neuen Boden unter seinen Füßen erzeugt, so wie der Blick im Traum seinen Gegenstand entstehen läßt, so wie in Kleists Aufsatz über die „Allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ das Sprechen den Gedanken hervorbringt. Die Geschichte ist, wie der Traum, nicht eine Geschichte von Türen und Räumen, die einander folgen, und durch die der Träumer geht. Diese Räume entstehen erst, indem der Träumer sie betritt. Die allmähliche Verfertigung solcher Geschichten ist keine feste Struktur, die man vom Traum abstrahieren und der Erzählung als Gerüst zugrunde legen könnte, sondern ein produktives Prinzip. Diese dialogische Struktur von zwei Gegenspielern oder Positionen mit ihrem Überspringen von Voraussetzungen, die nicht behauptet, aber gesetzt werden, hat Kafka in den Tagebuch-Ansätzen, in denen er aus der Sprachbewegung heraus eine Geschichte zu erfinden versuchte, immer wieder durchexerziert. Ähnliche Strukturen lassen sich in den Fragmenten um den „Kleinen Ruinenbewohner“, aber auch in Die städtische Welt und im Urteil finden. Was den Heizer von diesen Versuchen und auch vom Urteil unterscheidet, ist die Tatsache, daß Karls Hervorbringen zugleich ein Finden ist, daß seine zufälligen Schritte immer in die richtige Richtung gehen. Die Grundlage eines ‚plots‘ ist also – im Unterschied zum Urteil – bereits vorhanden (nämlich der zu findende Onkel); alles weitere aber müssen Held und Autor zusammen erarbeiten, in allmählicher Verfertigung eines Weges, wie Schritt für Schritt zu einem Handlungsverlauf zu gelangen sei. In diesem Sinne schreibt Karl seine Geschichte selbst oder schreibt doch zumindest an ihr mit. Daß die Geschichte erst zu existieren beginnt, wenn Karl sie erlebt, läßt sich durch eine Umkehrung des produktiven Laufs vielleicht am besten zeigen. Vorwärts, im Verlauf von Karls Weg durch das Schiff, produziert Karl von Moment zu Moment seine Geschichte. Nach rückwärts aber hat sich der Autor wenig Mühe gegeben, den Heizer in Karls Geschichte einzuführen als jemanden, der bereits eine Vorgeschichte hat und nicht erst auf Zuruf hinter der Tür zum Vorschein kommt. Auch Kapitän und Onkel scheinen vor Karls Eintreten in der Endlosschleife ihres Gesprächs zu verharren und beginnen erst in dem Moment zu handeln, als Karl endlich eintritt. Rückwärts imaginiert, gerät die Erzählung an die Grenzen, bis zu denen sie entworfen wurde. Es sind Grenzen wie jene Abbruchkante im Bordell-Traum: dahinter hört die Welt einfach auf, und man wäre „hinuntergefallen“, denn jenseits davon ist es leer und weiß52 – wie in der alten Vorstellung vom Ende jenes Kontinents, den Karl beinahe schon betreten hätte; oder wie die noch nicht gesehenen Stellen im New Yorker HafenPanorama.
52
Tagebucheintrag vom 9.10. 1911, KKAT, S. 71: „Die der Tür durch die ich eintrat gegenüberliegende Wand [...] war entweder aus Glas oder überhaupt durchbrochen und ich wäre beim Weitergehn hinuntergefallen.“
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Alles, was Karl begegnet, hat keine Vorgeschichte und geht in der Folge restlos in seiner Geschichte auf – bis es später einmal wieder hinausfällt, beziehungsweise: bis der Held aus dieser Geschichte wieder hinausläuft.53 Nicht nur der Erzählvorgang, der erzählte Vorgang selbst entsteht also in allmählicher Verfertigung. Das Erzählte ist nicht vor dem Erzählen und unabhängig davon vorhanden. Die Geschichte kann nur erzählt werden, indem der Held die zu erzählende Geschichte hervorbringt. In diesem Sinne ist Der Heizer eine Traumerzählung. 3.1.3 Träumen und Schreiben: Zur Differenz von Arbeitsweise und Schreibweise Ich habe bereits im III. Kapitel darauf hingewiesen, daß die Annäherung von Träumen und Erzählen modellhaften Charakter hat. Die Analogie, die den Träumer und den Helden in ihrer Funktion als ‚erzählendes Auge‘ in Beziehung setzt, ist eine gedankliches Gerüst zur Beschreibung der Erzählstruktur. Wie aber die Praxis des erfindend-phantasierenden Schreibens aussieht, und ob diese Praxis ebenfalls mit dem Träumen verwandt sein könnte, bleibt zu klären. Malcolm Pasley und Jost Schillemeit haben es unternommen, die Praxis dieses Schreibens anhand von Manuskriptbefunden zu rekonstruieren. Am Beispiel der Handschrift des Proceß-Romans hat Pasley gezeigt, daß Kafka keinen vorab entworfenen Handlungsverlauf aufschrieb, sondern daß sich seine Erzählungen erst während des Schreibens formten. Schritt für Schritt wird in diesen Analysen nachvollziehbar, wie sich die Sätze und Erzählverläufe bildeten, während der Stift über die Seite ging. Graphologische Besonderheiten der Handschrift, der Schriftduktus, biographische oder sonstige Begleitumstände der Niederschrift – etwa ein Ereignis während des Schreiben oder die Art des verwendeten Papiers – lassen sich oft direkt auf den Erzählverlauf der geschriebenen Passagen beziehen. Aufgrund dieser Manuskriptbefunde konnte Pasley die Phasen ununterbrochenen Schreibens sowie die Korrekturvorgänge rekonstruieren, in denen der Proceß-Roman entstand.54 Pasley gelangte dabei zu der Überzeugung, daß die Entstehung von Kafkas Werken nicht von der Entstehung der Niederschrift zu trennen sei. Kafkas eigene Bezeichnung seiner literarischen Tätigkeit als „das Schreiben“ müsse beim Wort genommen werden; es sei ein fortlaufendes Protokollieren und Konzipieren, „unmittelbar vom Akt
53
54
Vgl. Klaus Ramm: „Handlungsaufbau und Gedankenführung“, in: Kafka-Handbuch, hrsg. v. Hartmut Binder, Stuttgart 1979, Band 2, S. 93-107, hier S. 106: „... die Figuren [werden] folgenlos aus der Erzählung herausgeschoben, das Erzählte bleibt zurück, die Figuren verlassen es buchstäblich.“ Malcolm Pasley: „Wie der Roman entstand“, in: Nach erneuter Lektüre: Franz Kafkas ‚Der Proceß‘, hrsg. v. Hans-Dieter Zimmermann, Würzburg 1992, S. 11-33.
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der Niederschrift begleitet und von diesem wieder gesteuert.“55 Daher sprach Pasley als erster von der „allmählichen Verfertigung der Geschichten beim Schreiben“. An einer Stelle verweist Pasley, der sonst mit Analogiebildungen zurückhaltend ist, zur Beschreibung dieses Prozesses auf den Traum: „die Art, wie sich Kafkas Fiktionen – übrigens meist nächtlich – in seiner Vorstellung entwickelten, scheint bei aller angestrengten Wachheit seines Bewußtseins während des Schreibakts immerhin mit dem Schaffen eines Träumenden verschwistert zu sein.“56 Kafkas Tagebucheintragungen bestätigen diese Identifikation. Hier erscheint der Autor als Regisseur seiner Phantasien, der sich nachts zum Schreiben setzt, wenn es ihm gelungen ist, sich in einen Zwischenzustand zwischen Wachen und Träumen zu versetzen. Dieser Zustand ermöglicht einen ungesteuerten, ereignishaften Schaffensprozeß, den Kafka gegenüber Max Brod folgendermaßen beschrieben haben soll: „Man muß wie in einem dunklen Tunnel schreiben, ohne daß man weiß, wie sich die Figuren entwickeln werden.“57 An der Handschrift des Heizers läßt sich ablesen, daß dieser Text tatsächlich „wie in einem dunklen Tunnel“ geschrieben worden sein muß, wie Jost Schillemeit gezeigt hat. „Auch hier war das Schreiben [...] im wesentlichen ein Aus-dem-Augenblick-heraus-Produzieren, ein Sich-ins-Dunkle-Vortasten, dem die nächsten Treppenstufen sozusagen jeweils im Weitergehen selbst zuwuchsen.“58 Während einer fast drei Monate andauernden Phase konnte Kafka dieses „Schreiben in einem Zug“ aufrechterhalten. „Kafka in Ekstase, schreibt die Nächte durch“, notierte Max Brod im Herbst 1912.59 Spuren dieser Arbeitsweise sind im Manuskript erhalten: Flüchtigkeitsfehler und Namensunsicherheiten, der Senator, der sich in einen Staatsrat verwandelt, oder auch die Tatsache, daß das „Dienstmädchen“ zu einer „Köchin“ wird, nachdem von ihrer Arbeit in einer Küche die Rede war. Sie vermitteln dem Leser der Manuskriptfassung, wie Jost Schillemeit schreibt, „ein Gefühl der Nähe zum Entstehungsprozeß.“60 Dieses „Gefühl“ nun kann leicht zu dem Schluß verleiten, die Faktur der Erzählung, ihre Traumähnlichkeit, sei eben durch den träumenden Schreibprozeß erklärbar, in welchem sie entstanden sei. Diese Rückführung beruht auf einem 55 56
57 58
59
60
M. Pasley: „Der Schreibakt“, a.a.O., S. 104f. Das folgende Zitat S. 106. Malcolm Pasley: „Kafkas ‚Hinausspringen aus der Totschlägerreihe‘ “, in: ders., „Die Schrift ist unveränderlich...“: Essays zu Kafka, Frankfurt/M. 1995, S. 145-161, Zitat S. 148. Mitteilung Kafkas an Max Brod, zitiert nach M. Pasley: „Der Schreibakt“, a.a.O., S. 111. Jost Schillemeit: „Das unterbrochene Schreiben. Zur Entstehung von Kafkas Roman ‚Der Verschollene‘ “, in: Kafka-Studien. Festschrift für Roman Karst, hrgs. v. B. Elling, New York, Berlin, Frankfurt/M. 1985, S. 137-152, Zitat S. 139. Max Brods Tagebuch verzeichnet am 29.9. 1912: „Kafka in Ekstase, schreibt die Nächte durch. Ein Roman der in Amerika spielt.“; am 1.10.: „Kafka in unglaublicher Ekstase“ (zitiert nach: Chronik, S. 90.) - Vgl. die ausführliche Darstellung zur Entstehung des ersten Romankapitels in KKA: Der Verschollene, Apparatband. Jost Schillemeit: „Nachbemerkung“ zu Franz Kafka: Der Verschollene (KKA/TB, Band 2), Frankfurt/M. 1994, S. 323-327, Zitat S. 327.
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Kategorienfehler, weil sie Schaffensprozeß und Erzählstruktur, Arbeitsweise und Schreibweise ineins setzt. Zur Verdeutlichung der Differenzen sei eine der Passagen aus dem Tagebuch zitiert, in denen Kafka den Wunschtraum seines Schreibideals entwirft. Ich habe über Dickens gelesen. Ist es so schwer und kann es ein Außenstehender begreifen, daß man eine Geschichte von ihrem Anfang in sich erlebt vom fernen Punkt bis zu der heranfahrenden Lokomotive aus Stahl, Kohle und Dampf, sie aber auch jetzt noch nicht verläßt sondern von ihr gejagt sein will und Zeit dazu hat, also von ihr gejagt wird und aus eigenem Schwung vor ihr läuft wohin sie nur stößt und wohin man sie lockt.61
Dieser Eintrag entwirft von der Dickens-Lektüre aus das Ideal eines Schreibvorgangs als einer Bewegung, in welcher der Schreibende von der sich selbst vorwärtstreibenden Geschichte zugleich gezogen und gejagt wird. Diese Bewegung, die der Text beschwört und dabei zugleich zu erzeugen versucht, ist in sich widersprüchlich. Die Wunsch- und Traum-Bewegung entsteht zugleich „gejagt“ und „aus eigenem Schwung“, das Ich läuft vor der herannahenden Lokomotive weg und zieht sie dabei doch erst hinter sich her. Zugleich stellt der Tagebucheintrag diese doppelte Bewegung her, nur umgekehrt: indem er die Lokomotive erst imaginativ heranzieht und dann versucht, selbst von ihrer Dynamik weitergetragen zu werden. Das „Schreiben in einem Zug“ kann also keineswegs einer einmal entfesselten Eigendynamik folgen. Diese Phantasie ist eine der vielen Variationen, in denen der Tagebuchschreiber von einer Geschichte träumt, sie sich schreibend erträumt, die sich von selber schreibt und der der Stift nur noch über die Seite folgen müßte. Es sind Kunstträume, mit bewußter Anstrengung herbeigeschriebene Phantasien.62 Sie sprechen nicht den Wunsch des Autors aus, ins Träumen zu geraten, sondern sie wollen eine bestimmte Qualität der Sätze erreichen. Der Text selbst soll ‚träumen‘, und nur insofern ist der Schreibvorgang, in dem solche Texte zustande kommen, als ein träumender oder phantasierender zu bezeichnen. Ein Schreibprozeß, wie ihn der Dickens-Eintrag herbeiwünscht, kann nicht dadurch entstehen, daß der Autor den Stift improvisierend über die Seite jagt. Die Geschichte selbst soll den Stift jagen, der ihr nur noch hinterherschreiben muß. Sie wird zum Subjekt der improvisierenden Aktion, wie in dem Eintrag über die Entstehung des Urteils: „... dann aber drehte sich mir alles unter den Händen“.63 Von der Schreibweise her verstanden, kann der Prozeß des schrittweisen Erfindens der zu erzählenden Geschichte wiederum der surrealistischen ‚écriture automatique‘ angenähert werden. Automatisch allerdings ist Kafkas Schreiben nicht. Wenn der Autor sich der Dynamik seiner Geschichte überläßt, tritt nicht 61 62
63
Tagebucheintrag nach dem 20.8. 1911, KKAT, S. 38. Weitere Beispiele verzeichnet die bereits erwähnte Sammlung von Kafkas Träumen in einer eigenen Abteilung „Kunstträume“ (Franz Kafka: Träume, a.a.O., S. 63-73). Brief an Felice Bauer vom 2.6. 1913, Briefe an Felice, S. 394.
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das selbstschöpferische Unbewußte an seine Stelle. Die Hervorbringung eines träumenden Erzählens ist eine literarische Arbeit, nämlich eben diejenige Anstrengung, mit welcher der Autor dafür sorgen muß, daß die zu erzählende Geschichte zum Selbstläufer werden kann. Diese Arbeit ist, wie der DickensEintrag zeigt, in jedem einzelnen Satz aufs neue zu leisten. Die Dynamik, die den Imaginationsprozeß voranjagen soll, muß immer zugleich erst herangelockt werden. Die Geschichte, die dabei entsteht, ist kein Zeugnis oder Produkt eines hingerissenen Schreibens, wie es die Flüchtigkeitsfehler sind, die sie noch enthält. Sie ist das Produkt einer Schreibweise, die in höchst kontrollierter Arbeit der Phantasie eine Abfolge von Wörtern und Sätzen gestaltet. Daß sie als ein dynamischer, improvisierter Traumprozeß wirkt, ist allererst das Verdienst dieser Gestaltung. Weil die „imaginative Schreibart“ das Erzählen als phantasierenden Gedankengang organisiert, meint man, bei der Lektüre des Heizers Kafka beim träumenden Schreiben zusehen zu können – so, wie man in der Traum-Nacherzählung scheinbar dem Träumer beim Träumen zusehen kann: weil man erkennen kann, wie sich die Geschichte erfindet und fortzeugt, weil man dabei ist, wenn sie jetzt entsteht. Dieser textuelle Entstehungsprozeß ist bisher noch nicht beschrieben worden. Die zitierten Arbeiten von Pasley und Schillemeit beschränken sich auf das Entstehen des Manuskripts – und identifizieren diesen Prozeß mit der Entstehung des Werkes selbst. In der Tat ist beides schwer zu unterscheiden. Weil Kafkas Erzählungen beim Schreiben entstanden, ist das Zustandekommen des Manuskripts mit der Entfaltung der Geschichte eng verschwistert.64 Wenn man diese Verwandtschaft jedoch allein im Rückgriff auf das Manuskript beschreibt, gerät die sprachliche Verfaßtheit der Texte aus dem Blick. Diese aber, d.h. die Schreibweise, nicht die Arbeitsweise des Autors, läßt sich analysieren, ohne die Handschrift je gesehen zu haben. Die folgenden Lektüren werden zeigen, inwiefern die allmähliche Verfertigung der Geschichte ein Merkmal des Textes selbst ist. Sie sollen die Frage beantworten, wie eine sich selbst erfindende Geschichte verfaßt ist, mit welchen sprachlichen Mitteln ihre Spannung und Bewegung hergestellt wird, das heißt: welche Sätze zu einem solchen Schwung und Zug in der Lage sind, wie sie die Dickens-Eintragung herbeiwünscht. Wie ist die Geschichte geschrieben, die den Stift jagt? Diese Frage ist mit der Analogisierung von Traumaufzeichnung und Erzählstruktur noch nicht erklärt.
64
Diese Verschränkung hat Annette Schütterle in ihrer Studie zu Kafkas Oktavheften auf das Genaueste analysiert (Annette Schütterle: Franz Kafkas Oktavhefte. Ein Schreibprozeß als „System des Teilbaues“, Freiburg i.Br. 2002). Leider ist diese Arbeit erst nach Abfassung der vorliegenden Studie entstanden, so daß ich auf ihre Ergebnisse nicht im Einzelnen eingehen kann.
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3.2 ‚Erzählen im Zeichen des Traums‘ und „imaginative Schreibart“ Seit der Beschreibung eines Kampfes läßt sich in Kafkas Werk das Projekt verfolgen, das Erfinden einer Geschichte beim Schreiben von der Kontrolle des erfindenden Autors abzukoppeln. In dem frühen Erzählexperiment kann das Erzähler-Ich seine Phantasiewelt nur mit bewußter Anstrengung aufrechterhalten, während es zugleich permanent versucht, dieser Mühe und Verantwortung zu entkommen und zur Figur in einer für sich bestehenden Fiktionswelt zu werden. Bereits in diesem Text findet sich das Bestreben, das Phantasieren zu einer Qualität des Textes selbst werden zu lassen, es in die Sprache hereinzuholen. Die Betrachtungen lassen sich dann als Versuchsanordnungen lesen, die eine von der Verantwortung eines Subjekts der Rede gelöste, selbstschöpferische Qualität der erzählenden Rede erreichen sollen. In den „Durchbruchs“-Texten Das Urteil und Der Heizer gelingt dieses Erzählprojekt zum ersten Mal über eine längere Textstrecke. Hier treiben die Sätze die phantasierende Erzählentwicklung selbst voran. Der Text gewinnt eine Eigendynamik, der der Autor – wie in dem oben zitierten Dickens-Eintrag – zugleich vorauseilen und nachlaufen kann. Es ist ein Schreiben, das – wie es Jost Schillemeit formuliert – „im Augenblick des Schreibens selbst seine Basis findet und von hier aus fortschreitet – in eine Zukunft hinein, die zugleich die des Romangeschehens und die des schreibenden Autors selbst ist.“65 Worauf beruht der Erfolg dieses träumenden Schreibens; wie entsteht aus dem phantasierenden Schreibvorgang eine Geschichte? 3.2.1 Antrieb der Erzählbewegung: Der vergessene Schirm Eines der wichtigsten Probleme, die Kafkas Schreibübungen im Tagebuch dokumentieren, ist die Suche nach einem Antrieb für die phantasierend sich fortzeugende Textbewegung. Immer wieder enden die Texte in Sackgassen, verlieren ihre Motivation und erschöpfen ihr Thema, noch bevor sie ins Laufen gekommen sind. Karl Roßmanns Geschichte dagegen findet einen solchen Antrieb. Der Weg zurück in den Bauch des Schiffes – und damit in die Geschichte hinein – beginnt mit dem Einfall Karls, seinen Schirm vergessen zu haben. Mit dieser Mitteilung, er sei abhanden gekommen, taucht der Schirm in der Geschichte auf. Zugleich setzt er sie in Gang: als Vergessener ist er mit dem Imperativ versehen, ihn wiederfinden zu müssen. Damit ist ein Ziel etabliert und ein Weg dorthin eröffnet. Dieser Erzählbeginn entsteht aus einem zweifachen Negativum. Die verneinte Behauptung, daß der Schirm nicht da sei, kommt selbst aus dem Nichts. Wir erfahren erst jetzt, daß Karl überhaupt einmal einen Schirm 65
J. Schillemeit: „Das unterbrochene Schreiben“, a.a.O., S. 147.
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gehabt hat, den er hatte vergessen können. Der Trick, diesen Schirm als vergessenen Karl einfallen zu lassen, ermöglicht es, ihn retrospektiv in die Vorgeschichte hineinzukonstruieren. Rückwirkend wird er zum Bestandteil der Geschichte, die mit diesem Einfall allererst beginnt. Der vergessene Schirm darf jedoch nicht als der Trick durchsichtig werden, der er ist, damit die Erzählung nach wie vor als Bericht über ein Geschehen lesbar bleibt, das man sich als Ablauf tatsächlicher Ereignisse vorstellen kann. Den Schirm, der aus dem Nichts kommt, plausibel in die Geschichte zu integrieren, ist die Leistung des Satzes, der Karls plötzlichen Einfall präsentiert. Ein junger Mann, mit dem er während der Fahrt flüchtig bekannt geworden war sagte im Vorübergehn: Ja haben sie denn noch keine Lust auzusteigen? „Ich bin doch fertig“ sagte Karl ihn anlachend und hob, aus Übermut und weil er ein starker Junge war, den Koffer auf die Achsel. Aber wie er über seinen Bekannten hinsah, der ein wenig seinen Stock schwenkend sich schon mit den andern entfernte, merkte er, daß er seinen Regenschirm unten im Schiff vergessen hatte.66
Es ist nachvollziehbar, daß Karl beim Anblick des Spazierstocks an seinen Regenschirm erinnert wird. Der Einfall entsteht im Verlaufe eines Gedankengangs, in dem eine Idee die nächste wie natürlich nach sich zieht. Dieser Assoziationsweg, den man im Lesen mitgeht, motiviert den Einfall, der ohne diese Herleitung willkürlich gewirkt hätte. Mit Hilfe des Varianten-Apparats der Kritischen Ausgabe läßt sich nachweisen, daß diese Assoziationskette das Ergebnis einer bewußten Gestaltung ist. Daß der Bekannte „ein wenig seinen Stock schwenkend“ an Karl vorbeigeht, ist ein Zusatz, den Kafka erst einfügte, nachdem der Rest des Satzes schon geschrieben war. Der „Stock“ war in der ersten Fassung dieses Nachtrags überdies selbst noch ein „Regenschirm“.67 Der Assoziationsweg verlief also während der Entstehung des Textes genau entgegengesetzt zu der Logik, die der Text beim Lesen herstellt. Von dem vergessenen Regenschirm aus, den der Autor seiner Figur plötzlich in den Kopf kommen läßt, um die Geschichte voranzutreiben, entstand nachträglich der diesem Einfall vorgeschaltete Einschub, daß der Bekannte „seinen Regenschirm schwenkend“ vorübergeht. Dieser Einschub motivierte nun Karls Einfall, seinen eigenen, vergessenen Regenschirm betreffend. In einem zweiten Schritt wurde aus dem ersten Schirm ein Stock, so daß die auffällige Dopplung vermieden werden konnte und der Regenschirm, der Karl einfällt, sich assoziativ aus dem Stock ergab, den er unmittelbar zuvor gesehen hatte. Kafka hatte also beim Schreiben nicht den Stock des Bekannten vor Augen, aus dem er dann den Regenschirm erfand, sondern der Leser sieht den Stock – durch Karls ‚erzählende‘ Augen – und vollzieht Karls daraus hervorgehenden Gedankenweg nach. Die Assoziationslogik, nach der dieser Satz verläuft, ist demnach nicht die eines ad hoc improvisierenden Autors, der eine Idee nach der anderen notiert, wie 66 67
KKAT, S. 464. Vgl. die Darstellung der Korrekturvorgänge in KKAT, Apparatband, S. 293.
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sie ihm seine Phantasie gerade eingibt, sondern die eines Autors, der seinen Text als einen sich assoziativ weiterschraubenden Gedankengang gestaltet. Nur von einer Inszenierung des Einfalls aus kann eine Erzählbewegung entstehen, die aus dem Kunstgriff ihre Energie bezieht und zugleich über diesen Kunstgriff hinausgelangt. Als aus der Not geborene Improvisation eines um einen Einfall verlegenen Autors würde der Schirm das Funktionieren der Erzählkommunikation verhindern, denn der Leser würde sich düpiert vorkommen. Der Trick aber, der diesen Einfall in einen logischen Gedankengang einbettet, macht das Erzählen möglich. Der Erzählvorgang entsteht also nicht aus einer Improvisation, weil der Autor nicht wußte, was er würde schreiben wollen, sondern er entsteht wie improvisierend, weil nur so erzählt werden kann. Der vergessene Schirm ist bereits der zweite Erzählanfang. Mit dem gleichen Recht, mit dem man behaupten muß, Karl Roßmanns Geschichte beginne mit dem ersten Satz, kann man behaupten, die Geschichte beginne mit dem vergessenen Schirm. Tatsächlich beginnt diese Geschichte fast auf jeder Seite wieder von vorn. Jeder neue Ansatz, mit dem eine neue Ablenkung, ein neuer Zufall oder eine neue Idee die Erzähldynamik wieder in Schwung bringen, ist ein neuer Beginn. Klaus Ramm hat dieses Prinzip der Handlungsentwicklung eindrucksvoll beschrieben, indem er einen Text entworfen hat, der sich aus lauter Anfängen immer weiter schraubt.68 Dieser Text kann allerdings nicht klären, wie aus einem solchen Verfahren mehr werden kann als ein sein eigenes Verfahren beschreibender Vorgang. Das aber ist das Kunststück, das dem Heizer gelingt. Der Heizer erzählt, im Gegensatz zu den Tagebuchtexten, die nichts hervorbringen als ihr eigenes Voranschreiten. Die Narration des Heizers gelangt über die Selbstreferentialität hinaus, indem sie Karls Suche immer wieder mit Energie auflädt. Diese Spannung sorgt dafür, daß die Erzählanfänge sich in einer immer weiter schraubenden Wendeltreppen-Bewegung aus einander fortzeugen. Ich habe bereits mit der Analyse des Romananfangs gezeigt, wie aus der gleichzeitigen Setzung von Ziel und Ablenkung die Spannung entsteht, die die Erzählbewegung in Gang setzt. Diese Struktur setzt sich durch die ganze Erzählung fort. Dabei wird nicht nur der Umweg, sondern auch das Ziel immer wieder verändert. Es ergibt sich eine Kette von Zielen, die Karl erst noch erreichen muß, bevor er sein erstes Ziel – das Schiff zu verlassen – verwirklichen kann. Mit jedem neuen Ziel beginnt eine neue Geschichte. Karls Weg entwickelt sich als Reihe von Schwellenüberschreitungen, die jenen ersten, versäumten Übergang nach Amerika fortsetzen, mit dem die Geschichte begonnen hat. Mit der Suche nach dem Schirm überschreitet Karl die Schwelle ins Innere des Schiffes, um dort auf der Türschwelle der Heizer-Kabine in eine neue Geschichte überzutreten, die schließlich an die Schwelle einer dritten führt, welche im Kassenbüro beginnt und mit einem letzten Übergang in ein anderes Boot hinein 68
K. Ramm, a.a.O.
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IV Der Heizer
endet. Die Ablenkung von dem jeweils gesetzten Ziel ist die produktive Kraft, die diese fortgesetzte Schwellenüberschreitung antreibt. Sie ist der Motor der Erzählentwicklung oder auch der Schub der Lokomotive aus jenem Eintrag, der von der Dickens-Lektüre her den Wunschtraum einer sich selbst erzeugenden Schreibdynamik entwirft. Die Kunstgriffe, mittels derer die konstitutive Spannung hergestellt wird, sind in jedem Satz wieder andere. Ihre Variationen zu beschreiben, würde den Rahmen dieser Darstellung überschreiten. Für den Fortgang des Erzählens aber ist jede einzelne Variation wichtig. Wenn jeder Satz die Möglichkeit des Erzählens aufs neue etablieren muß, indem er die Spannung herstellt, die den nächsten Schritt erzwingt, dann steht und fällt das ganze Projekt mit jeder neuen Erfindung. Dies gilt bereits für die Tagebuchtexte. Die Sätze des Heizers unterscheiden sich von denen etwa der Ruinenbewohner-Phantasie jedoch insofern, als es ihnen gelingt, ein Begehren zu produzieren, das sie weitertreibt: nämlich den Wunsch, zum ursprünglichen Ziel zurückzukehren. Die Energie dieses Wunsches lädt die Spannungen auf, während und indem diese ihn wiederum entstehen lassen.69 3.2.2 Dialogische Struktur des Erzählvorgangs: Der vergessene Koffer Die Dynamik des Erzählvorgangs geht, dem Lokomotiven-Modell der DickensEintragung gemäß, nicht allein von einem nach vorne gerichteten Antrieb aus. Sie entsteht aus zwei gegensätzlich gerichteten Bewegungsvektoren. Im Heizer bilden diese beiden Instanzen eine dialogische Struktur. Frage und Antwort ziehen die Geschichte zugleich hervor und treiben sie an: „wohin sie nur stößt und wohin man sie lockt“.70 Der Dynamik, die von dem auf das Ziel hin gerichteten Wunsch angetrieben wird, steht ein ‚Ziehen‘ gegenüber, das Karl auf immer neue Umwege geraten läßt. Diese gegenläufigen Bewegungen werden in Karls Weg in die Kabine und die Geschichte des Heizers hinein besonders deutlich. Nachdem Karl die Schwelle zur Kabine des Heizers übertreten hat, gelangt die Narration an einen Ruhepunkt. Ein Ausruf Karls setzt sie neu in Gang: „Gotteswillen, ich habe ja ganz an meinen Koffer vergessen“.71 Ausgerechnet jetzt, als Karl sich gerade in das Bett des Heizers hineingelegt hat – der Satz 69
70 71
Diese Struktur erinnert an Kafkas Nacherzählung eines Traumes, der im Garten eines Sanatoriums spielt und den Wunsch des Träumers nach einem Brief von Felice zum Inhalt hat. Auch hier entspinnt sich die Handlung als eine Folge fortwährender Verhinderungen. Der Träumer möchte den sehnlich erwarteten Brief lesen und wird davon immer wieder abgehalten. Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß diese Struktur eines immer wieder erneuerten und immer wieder verschobenen Wunsches die ganze Traumgeschichte allererst hervortreibt (Tagebucheintrag vom 24.11. 1913, KKAT, S. 597f.). Vgl. den oben zitierten Tagebucheintrag nach dem 20.8. 1911, KKAT, S. 38. KKAT, S. 466.
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pointiert: „Kaum war er aber drin“72 –, fällt ihm der Koffer ein, an den er in der Zwischenzeit nicht mehr gedacht hatte. Wieder einmal ist er in Rückstand geraten. Aus dem Vergessen ist ein neues Ziel entstanden, das die Suche nach dem Schirm ablöst. – Auch dieser zweite Moment, in dem etwas Vergessenes plötzlich im Bewußtsein auftaucht, ist ein Trick. Denn erst mit Karls Einfall wird der Koffer überhaupt zum Vergessenen. Karl hat seinen Koffer nicht eigentlich vergessen, er hatte ihn vielmehr sorgsam der Obhut des Bekannten anvertraut. Vergessen hat er nur, an ihn zu denken, was auf der Suche nach dem Schirm vorerst auch nicht nötig war. Genau dieser Umstand aber, daß es eine gedankenlose Zwischenzeit gegeben hat, bestätigt nun das Erschrecken: Karl hatte ja wirklich nicht mehr an den Koffer gedacht, ihn also scheinbar ganz vergessen. Dies gilt auch für den Leser, auf den sich Karls Schreck somit überträgt. Im Gegensatz zum vergessenen Schirm wird mit dem vergessenen Koffer kein Gegenstand aus dem Vergessen hervorgeholt, den es im Moment zuvor noch nicht gegeben hat, sondern umgekehrt: Aus dem Gegenstand, der bereits erwähnt wurde, wird durch den Rückgriff ein Vergessen gemacht, das im Augenblick eine neue Spannung entstehen läßt. Durch die Plötzlichkeit des Auftauchens als Vergessenes wird dieses Vergessene bedeutsam. Dadurch erhält der Moment des „Kaum war er aber drin“ einen Impuls, aus dem sich die neue Verspätung, das neue Ziel und auch der nächste Umweg ergeben. Karls Ausruf ist nur der Anstoß für den neuen Wunsch, den Koffer zu suchen, und zugleich der Anlaß für eine Unterhaltung, in deren Verlauf der Heizer ihn von diesem Ziel abbringen und auf einen anderen Weg führen wird. In dieser Verschränkung wird das Bett des Heizers zur Falle. Der Moment, der in Karl den Impuls auslöst, zurückzugehen, bzw. genauer: der Karls Ziel und damit die Wegrichtung ‚zurück‘ überhaupt erst definiert, ist zugleich der Moment, in dem es dafür schon zu spät ist. Darin unterscheidet sich dieser neue Impuls von dem Einfall, den Schirm vergessen zu haben. Karl läuft nicht einfach seiner nächsten Verspätung und damit dem nächsten Ziel hinterher, sondern wird daran gleich wieder gehindert. Es entsteht ein Antrieb zum Anfang der Geschichte zurück und zugleich eine zweite Dynamik, ein ‚Ziehen‘ in Richtung auf eine neue Entwicklung, in die Geschichte des Heizers hinein. Die Struktur der Nachträglichkeit durchzieht den ganzen Text. Jeder Moment, der eine neue Wendung hervorbringt, schafft sich seine Vergangenheit. Erst im Nachhinein wird Karls Schritt in die Kabine des Heizers hinein bereits der erste Schritt in eine neue Geschichte gewesen sein. Diese Erzählkonstruktion läßt sich nur im Futur II beschreiben.73 Wie es für Fallen bezeichnend ist, merkt man erst, daß es eine war, wenn man schon festsitzt. Aus dieser Perspektive des Opfers, das ahnungslos hineinläuft, ist die Erzählung entwickelt. Das wiederum 72 73
KKAT, S. 466. Vgl. hierzu meine Ausführungen zum Nachträglichkeits-Effekt in Die Vorüberlaufenden (Kap. II).
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IV Der Heizer
heißt nicht, daß es vor dem Hineinlaufen schon eine Falle gegeben hätte, welche Karl übersehen hätte. Die Falle entsteht erst, sie entsteht mit der Zeit; daher konnte die spätere Beute vorher nicht anders als ahnungslos sein. Die zeitliche Struktur der Falle ist zugleich eine dialogische. Sie tut sich in der Unterhaltung zwischen Karl und dem Heizer auf, in dessen Verlauf der Heizer immer mehr die Regie über Karls Schritte gewinnt und ihn voran zieht. Gleichzeitig nähert sich Karl seinerseits dem Heizer an. Diese beiden Prozesse bilden in ihrer ineinander verschraubten Bewegung die Verstrickung Karls in die Falle bzw. die neue Geschichte heraus. Der als vergessener wieder aufgetauchte Koffer wirkt dabei gleichsam als Hebel, der Karl in diese Geschichte hinein zwingt. Während Karl noch glaubt, der Koffer sei nicht verloren, weist ihm der Heizer nach, daß kaum noch Hoffnung bestehen kann. Wenn Karl daraufhin den Koffer sofort suchen will, hält ihn der Heizer zurück, bietet aber seine Hilfe an, ohne die der verirrte Karl den Koffer nicht finden könnte. Als Karl sich aber auf den Heizer einzulassen beginnt und diesem rät, seine Beschwerden dem Kapitän vorzutragen, spielt der Heizer nicht mehr mit. Als dann endlich der Koffer gesucht werden könnte, beschließt der Heizer plötzlich, doch zuerst Karls Rat zu folgen und zum Kapitän zu gehen. Damit hat der Heizer die Regie übernommen, und Karl ist an ihn gebunden, ohne jemals eine Möglichkeit gehabt zu haben, dagegen Einspruch zu erheben. Der Anschluß an den Heizer ist nicht mehr rückgängig zu machen, da Karl ohne ihn den Koffer nicht finden kann. Daß aber der Heizer zuerst für seine eigene Sache sorgen will, hat Karl sich selbst zu verdanken. In dieser ironischen Volte liegt der Witz des Aneinander-VorbeiRedens, das den Dialog strukturiert. Karl verstrickt sich mit einer wie von selbst entstehenden Zwangsläufigkeit in die Falle, die durch seine Reaktionen allererst entsteht. Er manövriert sich in etwas hinein, das seinen Zielen genau zuwiderläuft, und hat doch die ganze Zeit nichts anderes getan, als diese Ziele zu verfolgen – während auch der Heizer nichts anderes versucht, als Karl beim Erreichen seines Ziels zu helfen. Diesen Prozeß als ein Hineinziehen zu beschreiben, heißt nicht behaupten, daß der Heizer die Instanz des Ziehens sei. Genausowenig ist festzulegen, wer oder was hier die treibende Kraft bildet. Die ziehende und die antreibende Erzählbewegung sind nicht zu trennen. Jeder neue Schritt entsteht aus der Gleichzeitigkeit von zwei entgegengesetzten Richtungen, um aus ihnen die Spannung neu hervorzubringen. Ziehen und Treiben sind nur perspektivisch zu unterscheiden. Als Antrieb der Erzähldynamik gesehen, erscheint diese Struktur als Bedingung des Erzählens. Der vergessene Schirm generiert eine Narration, die Ablenkung auf Ablenkung häuft und damit nicht aufhören darf, ohne sofort zu Ende zu sein. Nur solange Karl weiter läuft, kann auch die Geschichte weitergehen. Jeder neue Schritt ist ein Erfolg und zugleich die Bedingung für den nächsten. Der vergessene Koffer dagegen inauguriert eine Alptraum-Logik. Hier wird aus jedem neuen Schritt, aus dem Immer-Weiter-Laufen, ein Immer-Tiefer-
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Hineinziehen, das Karl mit unentrinnbarer Zwangsläufigkeit in die Verstrickung führt. Für die Kennzeichnung dieser Dynamik als alptraumhaft ist es unerheblich, daß Karl selbst sich durchaus nicht unwohl fühlt. Er macht sich zwar Vorwürfe darüber, sich mit dem Heizer eingelassen zu haben – „er fand überhaupt, daß er lieber seinen Koffer hätte holen sollen, statt hier Ratschläge zu geben die ja nur für dumm gehalten wurden“74 –, unternimmt aber nichts. Durch die zur Schau gestellte Sorglosigkeit Karls erneuert dieser Satz die permanente Verspätung und damit die Alptraum-Dynamik. Allerdings nicht für Karls Empfinden, sondern für das des Lesers, dem Karls gemütlich-verträumtes Räsonieren als gefährliches Vertrödeln erscheinen muß. Für ihn lesen sich Karls Gedanken als Mahnung, und daß Karl darauf nicht achtet, macht diese Mahnung dringlich. Die eigentliche Alptraum-Dynamik ist diejenige, in die der Leser mit solchen Sätzen hineingezwungen wird. Weil er einer Bewegung folgen muß, die eine fortlaufende Verknappung der Zeit inszeniert, entsteht das alptraumartige Gefühl von Atemlosigkeit und Beklemmung. Jeder Moment, der Karl wieder auf einen neuen Umweg bringt, erzeugt mit Karls Wunsch nach einem neuen Ziel auch einen Wunsch des Lesers, der in Karls Perspektive gefangen ist. Es ist der Wunsch, auszusteigen, aufzuhören, aufzuwachen, einmal in Ruhe alles überprüfen zu können, nicht immer schon überrumpelt und überrannt zu werden. Mit diesem Wunsch überträgt die Erzählung ihre konstitutive Spannung auf den Leser und bezieht ihn in den narrativen Prozeß ein. Die dialogische Struktur, die sich als Gleichzeitigkeit von ziehender und treibender Dynamik jeweils aus dem gerade erreichten Moment entfaltet, bestimmt in immer neuen Variationen den ganzen Text. ‚Vergessen‘ und ‚Hervorholen‘ sind die zwei Seiten dieses Prozesses. Krönung und Abschluß des Hervorholens von Vergessenem bildet das überraschende Auftauchen von Karls Onkel am Schluß der Erzählung. Die Abfolge von Einfallen und Vergessen ist so organisiert, daß das, was plötzlich auftaucht, nie dasselbe ist, was vorher in der Versenkung verschwunden war. Komplementär dazu versinkt das, was da war, von einem Moment zum nächsten in Vergessen – um wie Amerika und der Schirm im Raum der unerledigten Ziele zurückzubleiben, während Karl seine Aufmerksamkeit etwas Neuem zuwendet. In dauernder Latenz sind diese Ziele nach wie vor präsent und erzeugen einen nervösen Druck. Auf diesen wiederum scheint das Gefühl, etwas versäumt zu haben, zu antworten. Durch diese dialogische Bestätigungs-Struktur ist die Behauptung einer Verspätung in jedem Moment gerechtfertigt, obwohl sie in einem jeden solchen Moment durch ein inszeniertes Vergessen oder Hervorholen allererst erzeugt wird.
74
KKAT, S. 471.
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IV Der Heizer
3.2.3 Formen der Erzähllogik 3.2.3.1 Logik des Alptraums Die Gegenüberstellung von zwei Techniken, die dazu dienen, die Erzähldynamik aus einer dialogischen Gegenbewegung von Ziehen und Treiben in Gang zu setzen, führt zu einem Ergebnis, das selbst doppelseitig ist. Erstens: Die Geschichte ist nicht vor dem Erzählen da. Zweitens: Das Erzählen ist nicht ohne den Alptraum möglich. Die Möglichkeit des Erzählens und dessen alptraumhafter Charakter entstehen beide zugleich aus den Verfahren der assoziativen Textentwicklung. Insofern sich der Erzählvorgang aus einer Sprachbewegung entfaltet, für deren Zustandekommen eine fortgesetzte Verstrickung notwendig ist, kann überhaupt nur in der Logik des Alptraums erzählt werden. Diese Erzählstruktur habe ich bisher als Logik des Traums bezeichnet. Von der ‚allmählichen Verfertigung‘ her gesehen, gibt es zwischen Traum und Alptraum keinen Unterschied. Dennoch ist es wesentlich, daß die Erzählentwicklung im Heizer der Logik nicht nur eines Traums, sondern eines Alptraums folgt. Als solcher funktioniert das ‚Erzählen im Zeichen des Traums‘ zum ersten Mal. Jenen Tagebuchtexten nämlich, deren imaginative Entwicklung sich als ein phantasierendes Träumen beschreiben läßt, fehlt die Spannung, die den Heizer auszeichnet. Diese Spannung entsteht erst aus der alptraumhaften Dynamik fortwährender Verhinderung und Verstrickung, weil diese den Wunsch erzeugt, der den Traum – bzw. die Erzählung – weiter treibt. Einen solchen Wunsch als Antrieb für das Erfinden von Geschichten zu nutzen, hatte Kafka mit den an die Traumaufzeichnungen zur Tänzerin Eduardowa anschließenden Phantasien erstmals unternommen. Dieses Phantasieren scheiterte daran, daß die Faszination fehlte, die es hätte weiterlaufen lassen können. Vom Heizer aus läßt sich dieser Feststellung nun hinzufügen: Es fehlte vor allem eine Technik, das Begehren hervorzubringen, das die Erzählbewegung vorantreiben soll. Diese Spannung zu erzeugen, wird hier durch die permanente Verweigerung der Wunsch-Erfüllung möglich, die zugleich diesen Wunsch immer wieder erneuert. 3.2.3.2 Digression als Erzählprinzip Digression ist das Erzählprinzip, das Karl Roßmanns Weg bestimmt. In dieser Hinsicht ist die imaginativ-assoziative Erzählweise mit anderen erzählten Imaginationsprozessen verwandt, wie z.B. den Abschweifungs-Romanen in der Nachfolge von Laurence Sterne. Während in diesen Texten das Erzählen sich gegenüber dem Erzählten verselbständigt und die Erzählerrede sich auf Kosten der Figurenrede und der Handlungsentwicklung zu einer eigenen Erzählform
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ausweitet, ist die Digression im Heizer keine Abschweifung des Erzählers, sondern ein Strukturprinzip der Handlung und zugleich ein Mittel, die Handlung hervorzubringen. Insofern diese Hervorbringung allein eine Leistung der sprachlichen Form der Sätze ist, ist die Verselbständigung des Erzählens radikaler als in der Sterne-Tradition. Die Verselbständigung der Sprache findet sich bereits in Kafkas frühestem Erzählprojekt, der Beschreibung eines Kampfes. Sie steht dort im Kontext eines Erzählens, das im Zeichen des Traums autonome Sprachwirklichkeiten zu etablieren versucht. In diesen Kontext gehören auch die Prosastücke Ausflug ins Gebirge und Wunsch, Indianer zu werden. Sie lösen den Erzählvorgang in die reine Sprachbewegung hinein auf, in der die Gegenstände nach und nach verschwinden und die Dynamik als reiner Spannungsvektor ins Leere hinein ausgehalten wird. Der Heizer kann als Fortsetzung dieses Versuchs gelesen werden. Im Gegensatz zur Beschreibung eines Kampfes orientiert sich die Narration hier jedoch – zumindest vordergründig – am Vorbild des realistischen Romans. Die Eigenmächtigkeit der Sprache thematisiert die Erzählung nicht mehr, obwohl sie – von ihren Verfahren her gesehen – nichts anderes als ein Beweis dieser Eigenmacht ist. Während sich die Handlung der Beschreibung eines Kampfes als dieser Beweis entfaltet, ist im Heizer kein Beweis mehr nötig, um zu erzählen. Zwar konstituiert sich der Erzählvorgang auch hier als Sprachbewegung, ohne aber diese Bewegung durch eine permanente Selbstreflexion erzeugen zu müssen. Die Dynamik entsteht aus einer Spannung, die sich selbst immer wieder aus dem Leeren heraus an- und weitertreibt. Mit dem Wunsch, Indianer zu werden gemein hat sie den Wunsch, der den Vektor der Bewegung aufspannt, und wie dort entstehen Wunsch und Bewegung durch die Handlung der Sätze. Dieser Wunsch aber wird im Heizer nicht in der Form des Irrealis als Hypothese imaginiert, sondern in einer anderen Form des Als-Ob erzeugt: nämlich als ein virtueller Effekt im Leser, eben als der Wunsch, Karl möge endlich seinen Koffer wiederfinden. Aus diesem trivialen Wunsch ergibt sich eine Dynamik, welche die des Wunsches, Indianer zu werden, wenn nicht an Intensität, so doch an Dauer übertrifft. Das Erzählen verselbständigt sich im Heizer nicht in Sternescher Manier auf Kosten der Handlung, aber doch auf Kosten der Hauptfigur. Alle Geschichten, die der Held erlebt, erfinden sich durch ihn hindurch und benutzen ihn dabei als Medium. Das, was Karl findet, zeugt neue Geschichten und zieht ihn in unabsehbare Weiterungen hinein. Zusammen ergeben sie die Erzählung Der Heizer, die an Karl Roßmanns Laufbahn entlang entsteht. Obwohl er es ist, der als ‚erzählendes Auge‘ die Geschichte hervorbringt, wird ihm konsequent verweigert, was der Träumer scheinbar (wenn auch, ohne es zu wissen) in Händen hält: die Regie. So sehr Karl sich auch bemüht, ja sogar je stärker er sich bemüht, desto weniger gelingt es ihm, irgend etwas festzuhalten. Seine Geschichte ist in sehr emphatischem Sinne seine Geschichte, zugleich aber die Geschichte einer permanenten Enteignung.
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IV Der Heizer
3.2.3.3 Ablenkung als Struktur: Verschränkung von Bewußtsein und Zeitlichkeit Karl ist der Dynamik des Geschehens ausgeliefert, aber er partizipiert auch an ihr, weil die präsentische Zeitstruktur sich mit dem Jetzt-Moment seines Bewußtseins deckt. Dieser Zusammenhang zwischen der Zeitstruktur der Erzählung und der Zeitlichkeit von Karls Bewußtsein wird mit dem ersten Satz etabliert. Die Erzählweise durch Karls Bewußtsein hindurch bildet gleichsam die Achse des Drehmoments, das von den gegensätzlichen Bewegungs-Impulsen (‚Ziehen‘ und ‚Treiben‘) erzeugt wird. Auch die Verknüpfung von Zeitlichkeit und Bewußtseinsstruktur läßt sich nach zwei Seiten hin beschreiben. Es ist die Frage, ob der Jetzt-Moment des Bewußtseins die Zeit der Erzählung vorantreibt oder ob die vergehende Zeit das verspätete Bewußtsein jagt. Wenn Digression das Erzählprinzip ist, nach dem diese Geschichte entsteht, dann ist Abgelenkt-Sein die Verfassung des Bewußtseins, von dem aus sie erzählt wird. Karl kann immer nur einen Gedanken gleichzeitig fassen und läßt ihn im nächsten Moment wieder fallen. Er ist in einem nervös-angespannten, höchst irritablen Zustand, der in jedem Moment neue psychische Energien mobilisiert. 75 Ursache dafür sind neben den von außen kommenden Zufällen auch Karls eigene Einfälle und Augenblicksentscheidungen. Selbst seine Gedanken treiben diese Ablenkungslogik voran. In ihrem rastlosen Lauf, dem sich Karl beim Warten in der Kabine des Heizers überläßt, bringt eine Vorstellung die nächste hervor. Jede einzelne wird auf die Spitze getrieben und dann von einer Gegenwendung abgelöst: Nur daß er bis Newyork gekommen war, konnte die Schiffsgesellschaft gerade noch sagen. Leid tat es aber Karl daß er die Sachen im Koffer noch kaum verwendet hatte, trotzdem er es beispielsweise längst nötig gehabt hätte, das Hemd zu wechseln. Da hatte er also am unrichtigen Ort gespart; jetzt wo er es gerade am Beginn seiner Laufbahn nötig haben würde, rein gekleidet aufzutreten [...].76
Diese Gedankengänge nehmen im weiteren Verlauf immer mehr überhand. Nachdem Karl und der Heizer die Schwelle zum Kassenraum überschritten haben, sind es in weiten Teilen der Erzählung Karls Überlegungen und Phantasien, die die Geschichte ‚schreiben‘. An das Ende des eben zitierten Gedankengangs schließt sich wie in einem Stafettenwechsel die Fortsetzung der Handlung an. In der Technik dieses Übergangs liegt ein wichtiger Unterschied zu vielen Textansätzen Kafkas im Tagebuch. Im „Kleinen Ruinenbewohner“ etwa laufen die Gedankengänge sich nach einer bestimmten Zeit tot. Dies geschieht auch Karls Assoziationskette, die mit dem Seufzer „Dieser Butterbaum, wenn er ihn einmal irgendwo treffen 75
76
In der nervösen Spannung, die sich immer mehr auflädt - und auch in der sich daraus ergebenden Situationskomik -, ist der Heizer Kafkas Tagebucheintragungen über peinliche Situationen sehr ähnlich (vgl. Kap. III). KKAT, S. 471, Hervorh. v. mir.
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sollte“,77 an ihren Anfang zurückkehrt und genau in diesem Moment unmittelbar davor ist, vollends zu entschlafen. Die Narration im Heizer aber inszeniert die Assoziations- und Textbewegung als ein allmähliches Einschlafen. Dadurch wird es möglich, Karl wieder zu wecken und die Dynamik neu in Gang zu bringen. Durch solche Umwendungen wird das Bewußtsein immer wieder ins Jetzt geholt und die Aufmerksamkeit auf den fordernden Augenblick hin gespannt. Das Aufrechterhalten der Erzähldynamik erweist sich als eine Frage des präzisen ‚timing‘. In der Verschränkung von Bewußtseins- und Zeitstruktur gelingt es der Narration, immer wieder aufs Neue einen kritischen Moment herzustellen. Der Augenblick des Unmittelbar-Davor, den der erste Satz etabliert hatte, wird auf diese Weise zu einer Serie von einander ablösenden UmschlagMomenten verlängert. Diese Serialisierung verläuft als dialogische Folge von Gegenbewegungen, in der ein Wendepunkt den nächsten hervortreibt. Ablenkungen wechseln sich mit Fortsetzungen ab, auf Hindernisse – wie die Sperre, die Karl den geraden Weg in den Bauch des Schiffes verwehrt – folgen Auswege, wie die Tür des Heizers. Sie hilft Karl aus der Sackgasse, in die er geraten ist, und bringt die Handlung unmittelbar vor dem kritischen Augenblick des völligen Stehenbleibens wieder zum Laufen. Einmal genau zur rechten Zeit, dann wieder just zur Unzeit, auf jeden Fall aber immer unerwartet, sorgen neue Zufälle oder Einfälle jedesmal dafür, daß es weitergeht – in dieser oder jener Richtung, nur nicht geradeaus. Aus der Abwechslung von Ausweg und Hindernis, von neuem Einsetzen der Handlung am tiefsten Punkt der Spannung und ihrer Ablenkung, wenn sie fast den Gipfelpunkt erreicht hat, ergibt sich eine synkopische Struktur, die das Geschehen immer auf der Spitze des kritischen Augenblicks weitertreibt. Wie vollendet diese Zeitstruktur des ‚kritischen Augenblicks‘ bis in die Struktur der Sätze hinein mit Karls Bewußtseinsvorgängen überblendet ist, zeigt sich am Ende von Karls Gedankenkette, als ein neues Ereignis in die Handlung einbricht. In diesem Augenblick ertönten draußen in weiter Ferne in die bisherige vollkommene Ruhe hinein kleine kurze Schläge wie von Kinderfüßen, sie kamen näher mit verstärktem Klang und nun war es ein ruhiger Marsch von Männern. Sie giengen offenbar, wie es in dem schmalen Gang natürlich war, in einer Reihe, man hörte Klirren wie von Waffen. Karl der schon nahe daran gewesen, sich im Bett zu einem von allen Sorgen um Koffer und Slowacken befreiten Schlafe auszustrecken, schreckte auf und stieß den Heizer an um ihn endlich aufmerksam zu machen, denn der Zug schien mit seiner Spitze die Tür gerade erreicht zu haben. „Das ist die Schiffskapelle sagte der Heizer. Die haben oben gespielt und gehn einpacken. Jetzt ist alles fertig und wir können gehn. Kommen Sie.“78
77 78
KKAT, S. 473. KKAT, S. 473f.
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IV Der Heizer
Der Erzähler bleibt in Karls Bewußtsein und gibt den Wahrnehmungseindruck wieder, als würde er Karls Gedanken ausformulieren. Er präsentiert diese jedoch nicht als indirekte Rede, sondern als seine eigene. Vermittelt durch diesen seltsam ortlosen, scheinbar objektiven Erzähler, der zugleich in Karls Bewußtsein sitzt, wird zweierlei gleichzeitig erzählt: eine Handlung und ihre Spiegelung im Bewußtsein dessen, der sie erlebt. In der Durchdringung von Beobachtung und Beschreibung ergänzt die Erzählerrede Karls Höreindruck – „kleine kurze Schläge“ – um den Vergleich „wie von Kinderfüßen“. Zugleich mit der Beschreibung des Geräuschs enthält das Vergleichsbild bereits den Ansatz einer Vermutung, um was es sich handeln könnte. Doch ist das Geräusch – wie eben die Kinderfüße – noch zu ‚klein‘ bzw. zu leise, um genau bestimmt werden zu können. Schon im nächsten Satz sind „Schläge“ und „Kinderfüße“ überblendet, wenn es subjektiviert heißt: „sie kamen näher“. Es entsteht die Vorstellung eines Laufens nicht von Schlägen, sondern eben von Füßen. Gleichzeitig protokolliert die Wahrnehmung „mit verstärktem Klang“. Dann geht der als eine Bewegung und ein akustisches Crescendo zugleich nachvollzogene Höreindruck unvermittelt in ein neues Jetzt über, in dem die Geräusche so nahe gekommen sind, daß der Verstand sie auch begrifflich orten kann: „und nun war es ein ruhiger Marsch von Männern“. Die Beschreibung vollzieht den zeitlichen Prozeß der allmählichen Veränderung des Wahrnehmungseindrucks in der Annäherung des Geräuschs deckungsgleich mit der allmählichen Verfertigung des Erkennens, was da näher kommt. Während das Geräusch lauter wird und näher kommt, wandelt es sich im selben Vollzug der Beschreibung über die Vermittlung des Vergleichs „wie von Kinderfüßen“ und der Rede von „näherkommen“ aus „Schlägen“ in Schritte. Zugleich wachsen die „Kinderfüße“ zu „Männern“, so daß das Lauter-Werden dieser sich nähernden Schritte ineins mit dem perspektivischen Größer-Werden der sich von ferne Nähernden mimetisch nachvollzogen wird. Der Vergleich „wie von Kinderfüßen“ ist als ein verdichtetes Sprachbild der im III. Kapitel zitierten Goetheschen Augenblicksbeobachtung ähnlich („Kastagnettenrhythmus der Kinder in Holzschuhen“). Solche Eindrücke, in denen sich der Vorgang in der Außenwelt zugleich mit seiner Wahrnehmung und Deutung spiegelt, in denen das Innen in der Beschreibung des Außen enthalten ist, sind typisch für die Perspektive des beschreibenden Beobachters, die Kafka in den Tagebuchskizzen entwickelt hat. Es ist eine radikal personale Perspektive, die dennoch nicht ‚einsinnig‘, sondern doppelseitig ist, weil sie sinnlichen Eindruck und gedankliche Assoziation zusammengreift. Sie spiegelt objektive und subjektive Momente des Geschehens ineinander, und zwar auf eine Weise, die es uns ermöglicht, die Herausbildung einer Vorstellung von der Wirklichkeit in Karls Bewußtsein lesend mitzuerleben. Im imaginativen Nachvollzug entsteht der Wahrnehmungsvorgang aus dem schrittweise ausgeführten Vergleichsbild, so daß der auditive Eindruck des Näherkommens erlebbar wird.
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In der Synchronisierung von Vorgang und Wahrnehmung wird die Augenblicksbeobachtung zu einer Miniatur-Geschichte, welche die Erzählbewegung aufnimmt und fortsetzt. Der Vergleich ist also mehr als nur eine Technik der Veranschaulichung. Seine Entfaltung macht den Jetzt-Augenblick des Bewußtseins zur Voraussetzung für den Fortgang der Narration. Solches Sprechen ist ein gestisches Handeln, insofern es die Bewegung, von der es spricht, zugleich auch erzeugt, nämlich als die Bewegung eines narrativen Verlaufs. Dies gilt auch für die folgenden Sätze. Wie in einem Dominospiel scheint ein Satz bzw. Vorgang den nächsten anzustoßen und nach sich zu ziehen: das Geräusch wächst auf Karl zu, erweckt seine Aufmerksamkeit, dieser alarmiert den Heizer, dessen Kommentar macht das Geräusch zum Signal für den Aufbruch in die nächste Handlungssequenz hinein. Die Spannung steigt von Moment zu Moment; ihr Höhepunkt ist in genau dem Augenblick erreicht, als die Sätze synchron mit den Marschierenden an der Tür angekommen sind. Diese Spannung kann nur erreicht werden, weil aus Karls Perspektive berichtet wird, für den alles noch neu ist, der noch nichts einordnen kann und der seine ganze Aufmerksamkeit dem aktuellen Geschehen zuwendet. Erst das überlegene Wissen des Heizers bringt Karls Wahrnehmungen im Nachhinein in einen sinnvollen Zusammenhang. Mit der Verwandlung des bedrohlichen „Klirrens wie von Waffen“ in ein friedliches Blechklappern inszeniert die Antwort des Heizers die Auflösung der Spannung. Zugleich erschafft sie aus der Schiffskapelle einen neuen Wendepunkt, so daß die Handlung nicht an Tempo verliert: nun übernimmt der Heizer das Weitertreiben. Eine solche Inszenierung einer Spannung und ihrer Auflösung durch eine Verkettung von Sprachbildern habe ich bereits in der Analyse des Prosatextes Der Kaufmann gezeigt. Die Technik, eine Dynamik aus dem Aufbau von Konstruktionen zu erzeugen, die unmittelbar vor dem Kippen stehen, läßt sich sogar noch weiter zurückverfolgen, nämlich bis zu dem „auf einer dünnen Spitze schwankenden Unglück“ aus der Beschreibung eines Kampfes. Die Synchronisierung von Satzverlauf und Handlungsablauf erreicht Kafka ebenfalls bereits in der Betrachtung (Die Vorüberlaufenden) – jedoch nur für einen kurzen Moment. Die sprachlichen Verfahren des Heizers sind also durchaus nicht neu. Neu ist, daß sie über die in sich selbst zurückgedrehte Sprachbewegung der Betrachtung hinausgelangen und damit ins Erzählen kommen. Für diesen Erfolg scheint mir die Verschränkung von momentaner Erzählweise und Bewußtseinsstruktur, von subjektivem Erleben und Erzählvorgang wesentlich, die ich am Modell des ‚erzählenden Auges‘ beschrieben habe.
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IV Der Heizer
3.2.4 Der träumende Leser Aus der momentanen und perspektivischen Erzählweise entsteht die etwas unheimliche Ahnung einer Welt, die für den Heizer bevölkert und geordnet, für Karl aber völlig weiß ist. Wie der Träumer im Hafen von New York, ist der Held noch orientierungslos und kann seinen Standpunkt erst in der allmählichen Verfertigung der Wahrnehmung langsam orten, während die Welt sich um ihn herum bildet. Dies ist für den Leser eine Quelle ständiger Unsicherheit. Man scheint auf schwankendem Boden zu stehen und ahnt nicht, was sich hinter dem von Karl Gesehenen verbirgt – oft ahnt man noch nicht einmal, daß sich etwas dahinter verbirgt. Was Karls Wahrnehmungen verursacht, zeigt sich immer erst im Nachhinein. Bis dahin hält die Atmosphäre von Bedrohung an, wie sie in der oben zitierten Passage das „Klirren wie von Waffen“ erzeugt, als welches Karl – vermittelt durch den Erzähler – die Geräusche interpretiert. Diese Assoziation spiegelt in den Höreindruck ein Empfinden hinein, das keine reale Grundlage hat, da es sich ja nicht um Waffen handelt; andererseits beschreibt der Vergleich höchst präzise den Klang der klappernden Musikinstrumente, der ja tatsächlich von Metall herrührt. Die Unheimlichkeit entsteht hier zugleich mit der sinnlichanschaulichen Dichte des Wirklichkeitseindrucks. Die Karl-Perspektive ist also nicht das Mittel zur Verunsicherung über den Wirklichkeitsstatus des Erzählten. Das Geräusch ist keine Einbildung oder Täuschung. Die Wahrnehmungs- und Behauptungs-Struktur ist komplizierter: das ‚Objektive‘ (das Metallgeräusch) kommt wie im Spiegel aus dem Erleben der Perspektivfigur zurück, aber eben verschoben als etwas, das man nicht als ‚wirklich‘ festhalten kann („wie von Waffen“). Zugleich wird dabei das Wahrgenommene als Wirklichkeit behauptet.79 Die Karl-Perspektive erzeugt also gerade aus der Beschreibung eines zweifellos Wirklichen ein Gefühl des Ungreifbaren. Dieses speist sich daraus, daß Karl noch nicht alles weiß, und daß dieser Umstand des Nicht-Wissens mit Bedeutung aufgeladen wird, weil der Vergleich mit der Nennung von Waffen in dem Weißen alles Mögliche, Unheimlich-Bedrohliche erwarten läßt. Die imaginative Mitwirkung des Lesers ist die notwendige Bedingung dafür, daß eine unheimliche Atmosphäre entstehen kann. Eben diese Beteiligung aber ist immer schon für den Eindruck des Alptraumhaften verantwortlich, wie ich oben gezeigt habe. Der Alptraum ist wesentlich ein Effekt, ein Eindruck, der im Leser entsteht. Indem der Text das Sich-Verstricken mit unentrinnbarer Zwangsläufigkeit inszeniert und die Spannung durch die Anhäufung der Versäumnisse immer weiter steigert, bewirkt er ein Gefühl von Beklemmung im Leser. Daraus wiederum entsteht der Wunsch, Karl möge aufwachen, seinen Koffer finden und sich aus dem Zwang befreien. Diesem Wunsch des Lesers aber wird permanent die Erfüllung verweigert, während er zugleich immer wieder erneuert wird. 79
Vgl. die Strategie der indirekten Behauptung des Wirklichen in Die Vorüberlaufenden (Kap. II).
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Die Spannung, die der Text inszeniert, beruht demnach auf den emotionalen Energien, die der Leser selbst in ihre Steigerung investiert. Auch der Leser treibt die Dynamik voran, der er lesend gespannt folgt, und auch ihm wird, wie dem Helden, die Regie über diesen Prozeß entzogen. Er erlebt lesend dieselbe Gleichzeitigkeit von Partizipation und Enteignung, die Karl dazu bringt, immer weiter zu laufen. Aus der Zwangsläufigkeit dieses Prozesses, die jedes Verweilen unmöglich macht und ihr Opfer immer schon überrumpelt, entsteht ein permanentes Verdachtsmoment. Dieses wiederum verstärkt sich durch die Unschärfe, mit der sich die Wirklichkeit herausbildet. Diesen Verdacht formuliert Karl selbst, während er in die Geschichte des Heizers hineingezogen wird: Kennen Sie sich auf dem Schiff aus? fragte Karl mißtrauisch und es schien ihm, als hätte der sonst überzeugende Gedanke, daß auf dem leeren Schiff seine Sachen am besten zu finden sein würden, einen verborgenen Haken.80
Dieses ‚Gefühl eines verborgenen Hakens‘ überträgt der Text auf den Leser, und zwar eben mit solchen Sätzen, die hinter dem Unbekannten – wie hier dem Heizer – eine Vielzahl von bedrohlichen, unabsehbaren Möglichkeiten erwarten lassen. Diese beginnen sich denn auch prompt zu realisieren, indem der Heizer in der Unterhaltung mit Karl den ‚Haken‘ (oder die ‚Falle‘) herauszubilden anfängt. Indem wir aber auf Karls mißtrauische Suggestion eingehen, wird das ‚Gefühl eines verborgenen Hakens‘ zu dem Haken, an dem wir selbst immer schon hängen. Wir sind lesend gefangen und werden gezogen. Die Alptraum-Form oder überhaupt die Phantastik ist in Kafkas Text vor allem eine Art und Weise der Beteiligung des Lesers am Prozeß der Narration. Wir sind als Teilnehmer in dem Imaginationsspiel vorgesehen, das der Text inszeniert. Damit ist eine neue Position außerhalb des Textes gefunden, um die Dynamik des Imaginationsprozesses – oder eben den Traum bzw. Alptraum – anzutreiben. Der Heizer und Das Urteil sind die ersten Erzählungen, denen diese Übertragung auf den Leser gelingt. Hier wird der Zwang, dem ihr Held unterliegt, zu einem Ausgriff auf das im wörtlichen Sinne mitleidende Empfinden des Lesers.81 Die neue Entdeckung des Heizers ist im Lichte dieser Ergebnisse gar nicht allein die, den Helden zum ‚erzählenden Auge‘ zu machen, der wie der Träumer seine Geschichte allererst erzeugt. Diese Erzählweise scheint mir nur die Voraussetzung für eine wichtigere Errungenschaft zu sein: nämlich den Leser zum Träumer zu machen. Karl Roßmann ist ein Auge nicht nur für den Autor, sondern vor allem für den Leser. Für ihn entsteht die Wirklichkeit vor Karls Augen und an seinem Erleben entlang: als wäre er, der Leser, selbst der Träumer, der nach und nach genauer hinsieht und der gegenüber den Wandlungen dieser 80 81
KKAT, S. 468. Die Beteiligung des Lesers durch die Erzeugung von Mitleid war bereits das Verfahren des Prosatextes Der Kaufmann, wie ich im II. Kapitel gezeigt habe. Im Heizer wird die Einbeziehung des Lesers zur Grundlage der Erzählentwicklung.
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Wirklichkeit immer ein wenig verspätet ist. Wie ein Traum entfaltet sich diese Geschichte im Kopf des Lesers, als ein Ablauf, in den man hineingezogen wird, als würde alles jetzt passieren. Sie erzeugt dabei das merkwürdige Traumgefühl, etwas sei zweifellos wirklich und doch an den Rändern noch unscharf. Wie die geträumte Hafenszenerie aus dem Nichts eines leeren Horizontes heraus auftaucht, so entwickelt sich die Geschichte Der Heizer von Karl aus, wie aus dem Moment seines Erlebens heraus. Gegenüber der Traumaufzeichnung ist die Perspektivstruktur des Heizers allerdings um eine Position gekürzt. Man sieht bei der Lektüre nicht dem Entstehen einer Wirklichkeit aus dem Vagen heraus zu, sondern man nimmt an ihrem Entstehen teil, als würde man sie selbst träumen. Dem Leser wird sein eigener Traum erzählt, indem er durch die LeerstellenStruktur des Textes dazu aufgefordert wird, im Lesen der Geschichte seine Vorstellungsbilder entstehen zu lassen. Der Schritt, der die phantasierenden Textprozesse im Tagebuch von einem imaginativen Erzählen trennt, wie es im Heizer gelingt, ist der Schritt von einem Schreiben, das Gedankengänge entwirft, die sich aus sich heraus weitertreiben, hin zu einer Schreibweise, die den Text als einen Gedankengang organisiert, der sich im Kopf des Lesers entfaltet. In diesem Ausgreifen auf die Phantasie liegt das Phantastische des Heizers. Die Beziehung von Traum und Wirklichkeit, die für die Phantastik konstitutiv ist, findet sich hier verkehrt. Es wird kein traumhaftes Geschehen erzählt, von dem sich der Leser fragen muß, ob es wirklich ist, wie in der klassischen phantastischen Erzählung, sondern es wird ein zweifellos wirkliches Geschehen erzählt, das den Leser zum Zuschauer seines eigenen Traums macht.
4. Improvisationen 4.1 Die Verteidigung des Heizers 4.1.1 Sprachreflexion und Handlungsentwicklung Die Schreibweise, die das zu Erzählende als einen phantasierenden Gedankengang entwickelt, der Satz für Satz voranschreitet, ist als ein modernistisches Verfahren zu bezeichnen, weil sie allein von der Sprache und ihrer Produktivität ausgeht. Es ist eine Schreibweise, in der das Sprechen sich im Vollzug immer gegenwärtig bleibt, so daß der Text an jeder Stelle deutlich macht, daß er nichts als Text ist. Doch ist diese Reflexivität der Sprache als solche nicht das Ziel der Veranstaltung. Es geht im Heizer zuallererst um das Erzählen einer Geschichte. Das momentan improvisierende Erzählen durch das Auge einer
Improvisationen
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Perspektivfigur hindurch, das diese Geschichte erzeugt, ist kein selbstreferentielles Zeichenspiel, in dem die Schrift nur wieder sich selbst hervorbringt und auf nichts als ihr eigenes Entstehen verweist.82 Es ist die Voraussetzung für eine imaginative Übertragung, die den Leser selbst zum Träumer macht, zum Zuschauer seiner eigenen Projektionen. Wie die erzählende Entwicklung der Geschichte und ihre sprachliche Verfaßtheit verschränkt sind, habe ich bisher im Hinblick auf die Erzählstruktur dargestellt. Der Befund gilt jedoch ebenso für die inhaltliche Ebene der Geschichte, d.h. für die Themen und Geschehnisse, von denen Der Heizer erzählt. Nicht nur für die Narration, sondern auch für die Handlung spielt die Sprache die Hauptrolle. Die Erzählung findet und entwickelt ihre Themen in der Gegenüberstellung der Figuren Heizer und Onkel. Mit Karls Schritt in den Kassenraum des Schiffs hinein beginnt ein emotional hoch aufgeladenes Drama, dessen Spannung sich bis zum Schluß immer weiter steigert. Es entsteht aus Karls Entschluß, die Verteidigung des Heizers gegenüber dem Kapitän zu übernehmen, und der damit verschränkten Geschichte, wie Karl seinen Onkel findet. In beiden Handlungssträngen hängt alles an der Macht des Wortes. Rede und Gegenrede bilden im wesentlichen den Handlungsverlauf; dazu kommen die Gedankenreden, mit denen Karl diesen Verlauf für sich und den Leser kommentiert. Satz- und Gedankenketten überwuchern zunehmend das Geschehen, bis schließlich außerhalb der Wortwechsel gar nichts mehr geschieht. Die zentrale Bedeutung der Rede verweist auf die Selbstreflexion des Erzählens als eines sprachlichen Vorgangs.83 Zugleich bestimmt diese Reflexion den Inhalt des Erzählten. Aus der Sprachbewegung entwickelt sich ein Drama um die Macht der Rede, in dem der Kampf der Worte für den Leser höchste Wichtigkeit gewinnt. Damit gelangt die Erzählung über den Leerlauf der selbstreferentiellen Sprachreflexion hinaus, wie sie die Beschreibung eines Kampfes bestimmt. Wie Schirm und Koffer, so sind auch Heizer und Onkel Erfindungen aus dem Moment heraus, an die sich die zu erzählende Geschichte erst noch anspinnen wird. Sowohl die Verteidigung des Heizers wie die Entdeckung des Onkels sind Improvisationen; sie entstehen aus dem Nichts. Kafka gelingt im Heizer das sprachliche Kunststück, diese Erfindungen glaubwürdig zu machen und aus ihnen eine spannende Geschichte zu entwickeln. Dem Verlauf der Improvisationen folgend, lassen sich jene sprachlichen Techniken wiederfinden, 82
83
Damit wende ich mich gegen die These von Gerhard Neumann in Bezug auf den Proceß: Der Roman diene „nicht dem Erzählen einer Geschichte, sondern den inszenierten Aporien des Verstehens von Zeichen“ (G. Neumann: „Der Zauber des Anfangs“, a.a.O., S. 128). Vgl. zur Selbstbezüglichkeit des Erzählens und den Figuren der Selbstthematisierung im Heizer Detlef Kremer: „Verschollen. Gegenwärtig. Franz Kafkas Roman ‚Der Verschollene‘ “, in: Text + Kritik VII/1994, Sonderband Franz Kafka, hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold, S. 238-253, sowie Jörg Wolfradt: Der Roman bin ich. Schreiben und Schrift in Kafkas „Der Verschollene“, Würzburg 1996.
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die Kafka in den Schreibübungen des Tagebuchs ausgebildet hatte, und deren Ertrag sich jetzt einlöst. 4.1.2 Der Kampf für den Heizer als Inszenierung des Helden Karl Roßmanns dritte Schwellenüberschreitung führt ihn in die „Hauptkassa“ des Schiffes hinein.84 Mit diesem Schritt setzt sich der Held an die Spitze der Erzähldynamik. Er macht sich zum Sprecher des Heizers, um dessen Beschwerde vor dem Kapitän zu verteidigen, und treibt so die Handlung voran. Zugleich fungiert er als Kommentator, da ja das Geschehen aus seinem Bewußtsein heraus und nach Maßgabe seiner Wahrnehmung erzählt wird. Aus Karls die Ereignisse begleitenden Gedanken entwickeln sich selbständige Gedankengänge, deren Eigendynamik wiederum neue Handlungen motiviert. – Diese Funktion des Helden als Motor des Geschehens ist nicht neu. Auch in den bereits besprochenen Passagen war Karl nicht nur Opfer, sondern auch Ursache der Verwicklungen, in die er sich immer weiter verstrickte. Das InterdependenzVerhältnis gewinnt hier jedoch eine neue Qualität. Den Kampf um die Verteidigung des Heizers, der ihn zum Helden macht und ihm sein Ziel gibt, erfindet Karl allererst selbst, indem er sich als den Helden eines Dramas imaginiert und inszeniert. Dieses Drama ist in doppeltem Sinne ein Drama der Rede. Zum einen wird der Kampf um Gerechtigkeit für den Heizer im Medium der wörtlichen Rede geführt, als ein Kampf um die Fähigkeit und um das Recht, zu sprechen. Zum anderen bildet die stumme Rede von Karls Gedanken, die – durch den Erzähler vermittelt – zum Leser spricht, die Grundlage für das Drama, das aus dem gesprochenen Wort entsteht. Die Szene im Kassenraum beginnt damit, daß dem Heizer das Recht verweigert wird, seine Beschwerde vorzutragen. Dies wird zum Anlaß für Karl, in einer ad hoc improvisierten Rede Gehör für ihn zu verlangen. Daraufhin gestattet der Kapitän dem Heizer zu sprechen. Während dieser zu seiner Verteidigungsrede ansetzt, beschreiben Karls Wahrnehmungen und Gedanken die Wirkung, die diese Rede macht. Als erster setzte der Herr in Civil sein Bambusstöckchen in Tätigkeit und klopfte, wenn auch nur leise auf das Parkett. Die andern Herren sahen natürlich hie und da hin, die Herren von der Hafenbehörde, die offenbar pressiert waren, griffen wieder zu den Akten und begannen, wenn auch noch etwas geistesabwesend sie durchzusehn, der Schiffsofficier rückte seinen Tisch wieder näher und der Oberkassier, der gewonnenes Spiel zu haben glaubte, seufzte aus Ironie tief auf. Von der allgemein eintretenden Zerstreuung schien nur der Diener bewahrt, der von den Leiden des unter die 84
Karl erkennt zunächst nicht, um welchen Raum es sich handelt; erst der Oberkassier nennt die Bezeichnung: „Wie oft sind sie [...] hierher in die Hauptkassa gelaufen gekommen!“ (KKAT, S. 481).
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Großen gestellten armen Mannes einen Teil mitfühlte und Karl ernst zunickte, als wolle er damit etwas erklären.85
Auch im folgenden konzentriert Karl sich ganz auf die Wirkung der Rede des Heizers. Seine Wahrnehmung protokolliert in genau dosierten Intervallen, wie die Zeichen, die ein Nachlassen der Aufmerksamkeit bei den Zuhörern anzeigen, immer deutlicher werden. Durch diese Beschreibung von Geschehensmomenten, die neben der eigentlichen Handlung stattfinden, wird die Atmosphäre im Raum nachvollziehbar. Kafka entfaltet hier – ähnlich wie in dem im III. Kapitel besprochenen Tagebucheintrag über eine Lesung des Schriftstellers Kellermann – eine peinliche Situation im Spiegel eines alternativen Geschehens. In beiden Fällen beschreibt dieses Geschehen die Gefühle von verzweifelten Zuhörern, indem es diese sichtbar macht.86 Zugleich spiegelt die Schilderung der Situation Karls Gefühle in das Geschehen hinein. Denn es ist Karl, der den Anwesenden die Haltungen zuschreibt, die er aus ihren Gesten ablesen zu können meint. Daß der Oberkassier „aus Ironie“ tief aufseufzt und daß der Diener etwas erklären will, sind Deutungen Karls, die durch keine auktoriale Erzählinstanz gedeckt werden. Daher ist die feindselige Stimmung Anlaß für und zugleich immer schon Antwort auf Karls Befürchtungen. Sein Blick wird umso besorgter, je stärker der Unmut wird, den er registriert; umgekehrt antwortet das Geschehen auf Karls Befürchtungen und rechtfertigt weitere: „... und wenn auch der Kapitän noch immer vor sich hinsah, in den Augen die Entschlossenheit den Heizer diesmal bis zu Ende anzuhören, so wurden doch die anderen Herren ungeduldig und die Stimme regierte bald nicht mehr unumschränkt den Raum, was manches befürchten ließ.“87 Ganz aus dem Vagen heraus – „was manches befürchten ließ“ – entfaltet sich eine Gefahr, die immer größer werden wird.88 Karl liest und deutet die Situation und schreibt sie dabei weiter. Aus seinen Beobachtungen extrapoliert er die Gedanken seiner Gegenüber und setzt dagegen 85 86
87 88
KKAT, S. 482f. Vergleichbar sind die beiden Passagen, weil sie die Sichtbarmachung von Gefühlen im Bild dadurch erreichen, daß irreale Momente in Form eines alternativen Geschehens in die Erscheinung hineingespiegelt werden. In dem Eintrag über die Kellermann-Lesung ist das alternative Geschehen ein erfundenes; das Gefühl der verzweifelten Zuhörer spiegelt sich hier in den Imaginationen des Beschreibenden (Tagebucheintrag vom 27.11. 1910, KKAT, S. 127f.). Dieser imaginative, irreale Zug des Alternativ-Geschehens ist in der Heizer-Szene unauffälliger; er ist in die Gefühlsäußerungen hinein verlegt, die Karl den Anwesenden zuschreibt. Insbesondere die Wendung „als wolle er damit etwas erklären“ gibt Karls Vermutungen einen irrealisierenden Zug, da sie zwar Haltung und Gestus des Dieners sichtbar macht, aber zugleich unbeantwortet läßt, was der Diener hätte erklären wollen. - Ähnliche als-ob-Imaginationen charakterisieren auch im folgenden Karls Kommentare. KKAT, S. 482. Dieser Prozeß wird, wie Matias Martinez und Michael Scheffel zeigen, durch einen gleitenden Übergang von der direkten in die transponierte und schließlich in die erzählte Figurenrede unterstützt, so daß der narrative Modus von unmittelbar dramatischer Vergegenwärtigung zu mittelbar-distanziertem Bericht wechselt. Dadurch werde die nachlassende Wirkung der Rede des Heizers mimetisch dargestellt (vgl. Martinez/Scheffel, a.a.O., S. 54f.).
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immer weiter reichende Phantasien und Pläne, vermutet Hindernisse für deren Realisierung, ist dann zu neuem Nachdenken über weitere Möglichkeiten gezwungen usw. In diesen Schattenfechtereien gehen deutende Beschreibung und imaginierte Handlung nahtlos ineinander über. Wenn der Erzähler z.B. berichtet: Karl „hätte ihm [dem Heizer] gern die herumfahrenden Hände aus Furcht vor Schlägen gehalten, noch lieber allerdings ihn in einen Winkel gedrängt“,89 dann bildet die Mischung von tatsächlich wahrgenommenen (herumfahrende Hände) und bloß imaginierten Gesten (halten, drängen) eine handgreifliche Aktion. Am Ende dieser Spirale von verselbständigten Gedankengängen phantasiert Karl als letzte Möglichkeit, in den offenen Kampf einzutreten. Wie im Märchen soll der Heizer – der ja ein Riese ist – „im Notfall mit der Kraft seiner Verzweiflung alle anwesenden sieben Männer bezwingen“.90 Damit inszeniert Karl rhetorisch eine Bedrohung, aus der sich wiederum die Notwendigkeit des phantasierten Befreiungsschlags ergibt. An diesem Beispiel läßt sich besonders gut zeigen, wie das drängende Nachdenken immer weiter in die Krise führt. Der Umstand, daß Karl schon letzte Mittel sucht, macht seine Verzweiflung deutlich, die unmittelbar darauf als die „Kraft der Verzweiflung“, mit welcher der Heizer nach Karls Meinung kämpfen soll, nach außen verschoben wird. Sogleich tritt diese Möglichkeit in Kraft: Ausgehend von dem Gedanken, was wäre, wenn es zum Äußersten käme, prüft Karl im wie logisch sich anschließenden nächsten Schritt die Chancen, die diese erdachte Handlung hätte. Aus dem Gedankenspiel heraus geht ein Blick zum Schreibtisch des Kapitäns hinüber, um die Lage abzuschätzen. Mit diesem Blick beginnt Karl seine Phantasien zu leben. Er agiert jetzt als der Held, der kühlen Kopf bewahrt und überlegen die Lage begreift. Doch dieser Held muß erkennen, daß sein Notfallplan undurchführbar sein wird: Allerdings lag auf dem Schreibtisch wie ein Blick dorthin lehrte ein Aufsatz mit viel zu vielen Druckknöpfen der elektrischen Leitung und eine Hand, einfach auf sie niedergedrückt, konnte das ganze Schiff mit allen seinen von feindlichen Menschen erfüllten Gängen rebellisch machen.91
Mit diesem Satz hat das Drama seinen Höhepunkt erreicht. Die „viel zu vielen“ Knöpfe sind eine Übermacht wie die auf einmal ebenso vielzähligen Feinde; kontrapunktisch dazu genügt ein einziger Handgriff, um sie zu aktivieren. Diese ins Irreale übersteigerte Bedrohung ist nicht das Ergebnis einer real anwachsenden Gefahr, sondern allein das Ergebnis von Karls Notfallplan, der gegen diese Gefahr schützen sollte. Genauer: sie ist das Ergebnis der sprachlichen Form dieser Überlegungen. Die Redeweise, die das Schiff mit seinen Gängen als Subjekt des Satzes einsetzt und – in Überblendung mit den darin befindlichen Schiffsmannschaften – personifiziert, überträgt den Aufruhr auf das ganze Schiff. 89 90 91
KKAT, S. 487. KKAT, S. 487. KKAT, S. 487.
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Durch die Formulierung wird diese Übertragung in einem Griff zusammengezogen und zugleich mit eben jenem Griff ineins gesetzt, mit dem der Kapitän dieses Ganze im Nu „rebellisch machen“ kann. Damit führt der Satz schon als Ergebnis vor, was Karl erst noch befürchtet: die Entstehung einer höchsten Bedrohung aus dem Augenblick. Die Verzweiflung ist an diesem Punkt aufs äußerste gesteigert. Damit hat das Räsonieren über imaginierte Handlungen die Handlung selbst an einen neuen Punkt geführt, an dem der Notfall so gut wie erreicht scheint. Ausgerechnet in diesem mit Spannung aufgeladenen Moment tritt der größte Feind des Heizers auf, der Obermaschinist Schubal. Jetzt ist der Notfall eingetreten. Diese Wendung aber ist nicht eigentlich Schubal zu verdanken, sondern der auf den Moment zugespitzten Anspannung. Durch Schubals bloßes Erscheinen ist beinahe schon alles verloren, noch bevor überhaupt etwas Wesentliches geschehen konnte. Und schon kann sich Karl mit seinem nächsten Gedankengang in den nächsten Kampf stürzen, für den er sich „zur letzten Eroberung [...] vollkommen bereit stellt[e]“, um – ganz ähnlich wie Karl Mays Greenhorn-Helden – seinen Wert zu beweisen und dem Guten zum Sieg zu verhelfen.92 Im Unterschied zu Karls Gedankengängen auf dem Bett des Heizers erzeugen seine Gedanken in der Szene vor dem Kapitän nicht nur ihren eigenen, sich permanent erneuernden Lauf, sondern in ihrem Laufen eine ganze Geschichte von Feinden und Verteidigung. Gemeinsam haben diese Gedankenfluchten, daß sie und alles, was in ihnen verhandelt wird, nur durch den Zeitdruck bedeutsam werden, der sie antreibt und den sie doch selbst erst herstellen. Ständig stellt Karl sich Fragen wie: „Warum hatte denn Karl das so leicht vorauszusehende, nicht vorausgesehn, daß Schubal endlich kommen müsse, wenn nicht aus eigenem Antrieb, so vom Kapitän gerufen.“93 Der Satz suggeriert, daß es eine Möglichkeit zu handeln gegeben hätte, die jetzt aber längst versäumt und nicht wieder einzuholen ist. Die Frage, ob Karl überhaupt in der Lage gewesen wäre, irgend etwas aufzuhalten, ist für die Herstellung des Gefühls, etwas versäumt zu haben, gar nicht wichtig. Die rückwärtsgewandten Überlegungen machen die aktuelle Situation schon deshalb bedrohlich, weil jetzt gar nicht mehr gehandelt werden kann. Zugleich halten die Reflexionen den Handlungsverlauf noch weiter auf. Karls Gedankenwege sind für die Erzählung dennoch keine sinnlose Zeitverschwendung. Sie bilden die Voraussetzung dafür, von seinen Kommentaren – „Unsichere Fragen und ungeeignetester Augenblick sie zu stellen!“94 – immer wieder als sinnlose und vergebliche inszeniert werden zu können. Aus dem
92
93 94
KKAT, S. 169 (An dieser Stelle setzte Kafka die Niederschrift der Erzählung im zweiten Tagebuchheft fort, daher liegen die Seitenzahlen in der nach Tagebuchheften geordneten Kritischen Kafka-Ausgabe vor den früher entstandenen Passagen im sechsten Heft). KKAT, S. 168f. KKAT, S. 169.
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IV Der Heizer
kritischen Moment, der das Geschehen auf der Spitze des Jetzt weitertreibt, wird der „ungeeigneteste Augenblick“, der immer weiter ins Unheil hinein führt. Da die Bedrohung zugleich mit Karls Beschreibung und Kommentar der Situation entsteht, ist es der Held, der das Drama erfindet, das ihn zum Helden werden läßt. Karl schreibt die Geschichte, weil das, wovon erzählt wird, ohne ihn nicht existierte. Der Verlauf dieser Geschichte erinnert an die Dynamik eines Slapsticks. Wie bei einer Clownsnummer im Zirkus agiert Karl sich in ein immer größeres Schlamassel hinein. Dies ist das Ergebnis einer Trick-Technik: Wie der Clown die Kugeln, auf denen er gleich ausrutschen wird, selbst ins Rollen bringt, bringt auch Karl die sich steigernde Dynamik des Unheils, der er ausgeliefert ist, selbst und erst recht in Bewegung. Daß es allein Karls Gedanken sind, die die Situation im Kassenraum immer bedrohlicher erscheinen lassen, heißt nicht, daß Karl sich alles nur einbilde und es eigentlich keinen Grund zur Aufregung gäbe. Bei allem Aberwitz wird Karl nicht zur Witzfigur. Es gibt keine Außen-Perspektive, die Karl eindeutig als phantasierenden Träumer verriete. Wir müssen uns als Leser in Karls Aufgeregtheit hineinziehen lassen, auch wenn sie noch so abstruse Blüten treibt. Denn erstens sind seine Befürchtungen mit den Entwicklungen so verbunden, daß jedes neue Ereignis auf Karls Ängste passend zu antworten scheint. Zweitens sind seine Gedankengänge logisch strukturiert, so daß sich eins aus dem anderen wie zwangsläufig ergibt. So absurd und der Situation unangemessen Karls Überlegung ist – wer wollte bestreiten, daß tatsächlich ein einziger Druck auf den Knopf gleich „das ganze Schiff [...] rebellisch machen“ könnte? Die suggestive Formulierung handelt schon, sie drückt bereits den Knopf, indem sie Mannschaften und Gänge überblendet und als Akteure personifiziert. Sie löst den Alarm aus: nämlich in der Imagination des Lesers, der gezwungen wird, sich diesen Griff und seine Wirkung vorzustellen. Damit gelingt es dem Text, den Leser zur imaginativen Beteiligung an Karls Drama zu bewegen. Dennoch können wir uns von Karls Aufgeregtheit durchaus ironisch distanzieren. Doch gerade aus dem Eindruck, Karls Befürchtungen seien übertrieben, ergibt sich ein zweites ironisches Verhältnis. Wäre es nicht denkbar, daß wir, die Karls Ängste nicht ganz ernst nehmen können (weil sie uns mit durchaus bewußt überschärftem Aberwitz präsentiert werden), gerade in dieser Rolle wiederum selbst in der Geschichte vorgesehen sind – nämlich als die Instanz, die immer zum Ende drängt, die Karl an seinen Koffer erinnern und den ganzen Clownszirkus beenden will? Mit einer ähnlichen Mischung als Ratlosigkeit und Unwillen, wie sie die Nerven derer befallen hat, die dem Heizer zuhören müssen, erzeugen wir als Leser allererst den Zeitdruck und damit die Spannung, die Karls nervöses Agieren vorantreibt. Das Spiel, das der Text mit dem Leser spielt, ist also doppelseitig. Einerseits wird uns scheinbar eine distanzierte Position erlaubt und angeboten; andererseits aber werden wir in die dramatische Inszenierung,
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von der wir uns soeben distanziert haben, gerade mit diesem Schritt unwillkürlich hineingezogen. Diese Doppelseitigkeit ist die Leistung einer Erzählerrede, die Karls Bewußtseinsvorgänge und das Geschehen in der Außenwelt ineinander gespiegelt vermittelt. Es ist schwierig, die Bewegung von Karls Gedankengängen zugleich mit den verschiedenen Bewußtseinshorizonten zu zeigen, aus denen heraus die scheinbar objektive Stimme des Erzählers jedesmal spricht (bzw. die sich in seiner Rede reflektieren). Wenn der Erzähler etwa berichtet, „Karl begann jetzt schon sogar aus dem Gedanken eine Art Trost zu schöpfen, daß der Heizer im Notfall mit der Kraft seiner Verzweiflung alle anwesenden sieben Männer bezwingen könne“,95 vermittelt er eine mit Karls eigenem Denken gekreuzte und überlagerte Rede, die in ihrer Wortwahl Bewertungen und Bedeutungsgehalte manifestiert. Der verstärkende Einschub „schon sogar“ etwa ist nach zwei Seiten hin zu lesen. Zum einen entlarvt er Karls Phantasterei – Karl muß jetzt „schon sogar“ aus Gedanken Trost gewinnen, und es ist nur „eine Art“ Trost, also kein wirklicher. Zum anderen aber steigert der drängende Einschub „jetzt schon sogar“ rhetorisch die Dramatik der Situation, die als real bestehende und nicht bloß von Karl ersponnene erzählt wird. Die Worte des Erzählers eröffnen andeutungsweise Sinnzusammenhänge, die Karls Sicht der Dinge zeigen und doch über sie hinausgehen. Es ist daher kaum möglich, genau auszuformulieren, was hier ‚wirklich‘ der Fall ist und was ‚nur‘ übertriebene Interpretationen sind. Wie ein Vexierbild enthält der Text beide Perspektiven zugleich, die des aufgeregten Helden und die des distanzierten Beobachters, und er vermittelt sie beide, ohne Karl dabei als Träumer zu verraten und ohne dabei aufzuhören, höchst komisch zu sein. Die Spannung, die Karl erlebt, empfinden wir mit ihm, ob wir seine Reaktionen für übertrieben halten oder nicht – und ob wir wollen oder nicht, denn erst aus dieser Spannung erwächst auch die Komik. Ich habe bereits mehrfach auf diese Doppelstruktur der Erzählerrede hingewiesen. Sie ist die Grundlage für eine Behauptungsstrategie, die gerade durch die Vermeidung der Festlegung und im Oszillieren zwischen Imaginärem und Wahrgenommenem die erzählte Wirklichkeit um so eindrücklicher werden läßt. Zugleich erweckt sie im Leser ein permanentes Mißtrauen gegenüber der Natur dieses Wirklichkeitseindrucks. Ob es das plötzliche Leuchten der Freiheitsstatue ist, das „wie verrückte“ Klopfen an die Tür des Heizers, das „Klirren wie von Waffen“, das dann doch nur von den Blechbläsern der Schiffskapelle herrührt: immer scheint sich hinter dem Wahrgenommenen mehr und anderes zu verbergen als das, was Karl bemerkt hat. Diese Doppelstruktur wird mit der Komik, die sich aus Karls Verzweiflung speist, um eine wesentliche Dimension erweitert. Wenn durch Karls Interpretationen der Lage hindurch sichtbar bleibt, daß er sein kindliches Gerechtigkeitsempfinden zu einem Heldentum in Karl95
KKAT, S. 487.
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IV Der Heizer
May-Manier übersteigert, dann wird dem Leser die Sicht auf ein ‚Objektives‘ hinter dem ‚Subjektiven‘ nicht nur als ein möglicher Blick suggeriert, sondern geradezu offensiv nahegelegt.96 Sobald aber der Leser auf dieses Angebot eingeht und ‚Wirkliches‘ von bloß ‚Eingebildetem‘ trennen zu können meint, folgt er der Logik des Textes, der aus dieser Beteiligung des Lesers seine Wirkung bezieht. Die Trennung ist also nur eine scheinbare. Indem der Text die Möglichkeit bereithält, Karls Aufgeregtheit für übertrieben und seine Verzweiflung für komisch zu halten, verweigert er eine andere Möglichkeit: nämlich gleichgültig zu bleiben. Der Leser wird zur Partei im Kampf um die Verteidigung des Heizers. Aus dem unbeteiligten Beobachter wird einer, der ständig zwischen Innen- und Außensicht hin- und hergerissen ist. Diese doppelseitige Perspektivierung ermöglicht allererst die Hervorbringung des Geschehens als das spannungsvolle Drama, das der Held erlebt. Die Spannung, die der Bericht von Karls Erleben herstellt, beruht auf dem antagonistischen Verhältnis zwischen der Sicht des Protagonisten und jener anderen Sicht, die einen ironischen Blick über seinen Kopf hinweg suggeriert. Mit dieser Vermittlung des Gefühls von Spannung steht und fällt die ganze Geschichte, weil sie keine andere Geschichte als die von Karls Befürchtungen, Hoffnungen, Rettungs- und Verteidigungsversuchen ist. Karls in Aufregung verzerrte Sichtweise kann nicht vom Geschehen subtrahiert werden, um ein neutrales Bild der Sachlage zu erhalten. Es gibt jenseits von Karls Erleben überhaupt keine Sachlage, höchstens Ansätze dazu, wie z.B. die Tatsache, daß Schubal den Raum betreten hat. Erst Karls Kommentar macht daraus ein Ereignis; nur als Karls Gedankengang kann die Geschichte überhaupt weitergehen. Die Spirale der Hysterisierung wird so zur Voraussetzung des Erzählens. Das Ein-Mann-Improvisationstheater, das der Held betreibt, übernimmt schließlich auch die Rollen der anderen Personen. Karl denkt bald nicht nur seine eigenen Gedanken, sondern schreibt zusätzlich den Text der übrigen Anwesenden. Über weite Strecken entsteht das ganze Geschehen mit seinen Wendungen und Zuspitzungen aus Karls Überlegungen. Sie erzeugen wie ein laufender Kommentar die Situationen, in die Karl sich gestellt sieht, wenn er sich in die anderen hineinversetzt, um sich auszumalen, wie sich die Situation von ihnen aus gesehen darstellen muß, wenn er ganze Schlußketten für sie fabriziert oder sogar einen ausgedehnten inneren Monolog anstelle des Heizers hält.
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Eine solche Spaltung der Erzählerrede bemerkt auch Reinhard Lettau, der beschreibt, wie sich der Erzähler in dem Fragment Der Unterstaatsanwalt permanent selbst verdächtig macht: „ein ‚Unterstaatsanwalt‘, der sich hinsetzt, um mitzuteilen, daß er, was wahr ist, ein dummer Streber sei, wäre keiner mehr, würde es also nicht schreiben“ - dennoch aber teilt er es mit, so wie Karl sich selbst nie als Clown bezeichnen würde und doch in der Schilderung, die ganz in seiner Perspektive verbleibt, als ein solcher erscheint. (Reinhard Lettau: Nachwort zu Franz Kafka, Die Aeroplane in Brescia und andere Texte, zusammengestellt von Kurt Beck, Frankfurt/M. 1977, S. 135143, Zitat S. 138).
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Ohne diese von Karl gestifteten Gedankenspiele ist die Erzählung so gut wie nichts. Das Geschehen ist uns nur in einer Verquickung von Innen und Außen, Wahrnehmung und Interpretation gegeben, nur in dieser Optik geschieht überhaupt etwas, kann etwas erzählt werden. Ohne Karl gäbe es nicht nur das Drama um den Heizer nicht, ohne Karl gäbe es überhaupt keine Sache, über die hier gehandelt werden könnte. Trotz aller Phantasie-Inszenierungen ist die Geschichte vom Kampf für die Verteidigung des Heizers, mit der sich der Held dieses Romans zum Romanhelden stilisiert, also nicht die Geschichte eines Dramas, das Karl sich einbildet. Sie lebt vielmehr davon, daß der Kampf um Gerechtigkeit tatsächlich stattfindet, und zwar hier und jetzt, im Moment des Lesens, so daß er für den Leser Wichtigkeit gewinnt. Diese Struktur ist auch für die Frage nach der Phantastik wesentlich. Zum einen vertauscht sich ganz unmerklich das Verhältnis von Sprachwirklichkeit und erzählter Realität – ohne daß auf der Ebene der Handlung etwas Außergewöhnliches geschieht –, wenn die Wörter selbständig handeln. Zum anderen wird der Leser durch den ironischen Zweifel, der diese Operation wieder durchzustreichen scheint, indem er sie als absurd-komische Übertreibung, als Spinnerei erkennbar werden läßt, in das Spiel des Textes hineingezogen. Diese Struktur zeichnet bereits die Sprachspiele der Beschreibung eines Kampfes aus. Auch dort entsteht die Handlung aus paranoiden Gedankenspielen, die zu einem ins Absurde übersteigerten Anwachsen von Bedrohung führen. Schon in der Beschreibung ist das Sich-Hineinsteigern das Prinzip eines hysterischen Erzählens. Im Heizer nun vollzieht sich dieses Spiel unter umgekehrten Vorzeichen. Während in der Beschreibung das Erzähler-Ich allein zum Opfer seiner Veranstaltungen wird, gelingt es dem Text hier, den Leser durch die Vermittlung der Perspektivfigur ins Spiel hineinzuziehen. 4.1.3 Die Behauptung der Gerechtigkeit: Sieg und Niederlage der Rhetorik Der selbstverstärkende Prozeß, den Karls Kommentare inszenieren, nimmt von einem einfachen Faktum seinen Ausgang: Karl ist von dem Recht des Heizers von Anfang an überzeugt. „Denn was die Gerechtigkeit seiner Sache anbelangte, an der zweifelte Karl nicht.“97 Diese Überzeugung motiviert seine Rede, die dem Heizer Gehör verschafft, und begründet seine Verteidigung des Heizers. Andere Gründe hat Karl nicht zur Verfügung. Er muß seine Anklage aus den wenigen Hinweisen improvisieren, die das Gespräch mit dem Heizer geboten hat. Dieser hatte nur geäußert, daß er sich ungerecht behandelt fühle, ohne allerdings zu verraten, welches Unrecht ihm zugefügt wurde. Es scheint allein darin zu bestehen, daß sein Vorgesetzter Rumäne ist: „Er heißt Schubal. Das ist doch 97
KKAT, S. 480.
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IV Der Heizer
nicht zu glauben. Und dieser Lumpenhund schindet uns Deutsche auf einem deutschen Schiff.“98 Dies sind die einzigen Anhaltspunkte, auf denen Karl seine Rede aufbauen kann, und die einzigen Gründe, um an das Recht des Heizers zu glauben. Dieser Glaube ist sich offenbar selbst Grund genug. Karls fundamentale Überzeugung wird nicht als solche formuliert und damit positiv gesetzt, sondern als verneinter Zweifel. Diese logische Figur, die behauptet und doch an der entscheidenden Stelle der Behauptung eine Lücke läßt, ist grundlegend für die weitere Textentwicklung. Der oben zitierte Satz vollführt sie sogar zweimal. Er ist erstens in sich logisch zweifelhaft; zweitens überspringt Karl mit ihm eine noch frühere Begründungs-Lücke: nämlich daß es keinen Grund gibt, hier nicht zu zweifeln. Denn was die angeblich gerechte Sache des Heizers sein könnte, weiß Karl nicht. Diese Begründungs-Lücke überspielt der Satz, indem er eine Aussage macht, die sich nur auf Karls Überzeugung von der „Gerechtigkeit“ der unbekannten Sache bezieht. Dabei aber geht er bereits davon aus, daß es überhaupt eine Sache gibt, die gerechtfertigt sein könnte. Das heißt: Die Begründung für die Überzeugung von der „Gerechtigkeit“ wird durch Karls Glauben an den Heizer ersetzt, welcher die Erklärung darüber, welches Unrecht dem Heizer zugefügt worden ist, erspart bzw. umgeht. Der Glaube selbst aber wird innerhalb des Satzes auch nicht positiv behauptet, sondern durch ein Verneinen des Zweifels ersetzt. Es ergibt sich also eine Verweiskette, in der ein Glied für das andere einsteht, das jedoch zu seiner Begründung wieder auf ein anderes zurückgreifen muß. Die Leerstelle ist leicht zu übersehen, weil Karls Glaube an den Heizer psychologisch plausibel wirkt. Aus seiner zwischen nationaler Solidarität und Heimweh gemischten Gemütslage heraus kann er das Unrecht des Heizers nachempfinden, auch ohne die Sache selbst zu kennen. Darüber hinaus läßt sich die Begründungs-Lücke auch mit Vermutungen füllen, wie sie beispielsweise der Onkel anbietet: „Du hast Dich verlassen gefühlt, da hast Du den Heizer gefunden und bist ihm jetzt dankbar, das ist ja ganz löblich.“99 Doch solche Motive sind nicht die Begründung für die Gerechtigkeit, die Karl behauptet. Karl will nicht sein Heimweh verteidigen, sondern eine wirklich gerechte Sache. Das wiederum heißt nicht, daß der Onkel mit seiner Erklärung nicht recht hätte; es scheint ja zutreffend, daß es eigentlich nicht die Erkenntnis des Rechts, sondern sein Solidaritätsgefühl ist, das Karl zum Anwalt des Heizers werden läßt. – Für Karl selbst ist es im übrigen nicht von Bedeutung, daß es für seine Überzeugung keinen Grund gibt. Er vertraut auf den Heizer, der ja alles wissen muß. Dieses Vertrauen, nicht aber die Gerechtigkeit der Sache an sich, ist von den
98 99
KKAT, S. 470. KKAT, S. 186.
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psychologischen Motiven gestützt. Es entsteht also keine Lücke in der Plausibilität des Geschehens. Für die Erzählkonstruktion des Heizers ist die fehlende Begründung um so wichtiger. Denn aus dieser Leerstelle heraus entsteht die ganze folgende Handlung. Indem Karl die Verteidigung des Heizers übernimmt, formuliert er einen Anspruch auf Gerechtigkeit. Die Beweislast für diesen Anspruch aber muß notwendigerweise auf den Heizer verschoben werden, von dessen Rede jetzt alles abhängt. Karls Rede dient also vor allem dazu, der Rede des Heizers einen ganz bestimmten Zweck zu geben, nämlich den Anspruch einzulösen, den Karl versprochen hat. Alle Hoffnungen richten sich jetzt auf das, was der Heizer sagen wird. Vom Inhalt seiner Rede erfahren wir allerdings kaum etwas. Der Erzähler gibt nur wenige Sätze aus der Beschwerde des Heizers wieder: Herr Schubal ist ungerecht. Herr Schubal bevorzugt die Ausländer. Herr Schubal verwies den Heizer aus dem Maschinenraum und ließ ihn Klosete reinigen, was doch gewiß nicht des Heizers Sache war. Einmal wurde sogar die Tüchtigkeit des Herrn Schubal angezweifelt, die eher scheinbar, als wirklich vorhanden sein sollte.100
Der einzige konkrete Anhaltspunkt ist der Vorwurf, zum Säubern der Toiletten gezwungen worden zu sein. Daraus geht zwar hervor, worauf das Unrechtsgefühl des Heizers beruht, zugleich aber auch, daß es sich bei solchen Schikanen um etwas kaum Justitiables handelt. Die weiteren Ausführungen des Heizers faßt der Erzähler – bzw. Karls Gedanken-Kommentar – nur abgekürzt in dem Satz zusammen, man erfahre „aus den vielen Reden nichts eigentliches“.101 Doch ist dies wirklich ein Sprachproblem? Was die Erzählung hier vorführt, ist ein auffallend eloquentes Umkreisen des Nicht-Formulieren-Könnens. Wenn der Heizer die „Tüchtigkeit des Herrn Schubal“ anzweifelt, „die eher scheinbar, als wirklich vorhanden sein sollte“,102 dann ist dies eigentlich eine MeisterFormulierung, ein Paradebeispiel für Kafkas aus dem Nichts heraus operierende Möglichkeits-Verneinungs-Sätze. Zwar wird eine Aussage gemacht, diese gründet aber auf nichts. Es ist nur allzu deutlich, daß dieser Satz nicht dem Ziel des Heizers dienen kann, seine Anklage verständlich zu machen. Stattdessen dient er dazu, die Unmöglichkeit einer klaren Äußerung mit fast schmerzhafter Deutlichkeit zu vermitteln. Das Sprachproblem des Heizers ist also das Ergebnis einer genauen Spracharbeit des Autors, der die Sätze des Heizers so formuliert, daß „nichts eigentliches“ dabei herauskommt, während sie zugleich die Verzweiflung darüber vermitteln. Indem der zitierte Satz den Heizer absichtlich nicht zu Wort kommen läßt, führt er die Trick-Struktur weiter, mit welcher der vergessene Schirm die Möglichkeit des Erzählens eröffnet hatte. Daß die Leerstelle leer bleibt, ist die Bedingung dafür, daß überhaupt eine Geschichte entstehen kann. Die 100 101 102
KKAT, S. 482. KKAT, S. 482. KKAT, S. 482.
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IV Der Heizer
Unbegründbarkeit der Vorwürfe wird in der gleichen Weise produktiv wie das immer schon versäumte Ziel. Diese Technik bildet die direkte Fortsetzung jener in den Tagebuch-Variationen zum „Kleinen Ruinenbewohner“ geübten Kunst der Textentwicklung aus der Schuldzuweisung. In Umkehrung der Ruinenbewohner-Konstruktion, die das Sprechen als Erheben von Vorwürfen möglich machen soll, beruht die Möglichkeit des Sprechens hier darauf, daß die Vorwürfe, die gemacht werden müßten, um eine Anklage zu etablieren, unformulierbar bleiben. Der Vorwurf des Ruinenbewohner-Ich – „oft überlege ich es und immer muß ich dann sagen, daß mir meine Erziehung in manchem sehr geschadet hat“103 –, geht genauso ins Leere wie der Vorwurf des Heizers, ungerecht behandelt worden zu sein. Aus diesem Grund kann man daraus unendlich viele weitere Fäden ziehen, solange man eben nicht sagt, was konkret geschadet hat, in was eigentlich die ungerechte Behandlung bestanden hat. Der Vorwurf des Heizers ist allerdings ungleich besser geeignet als der des Ruinenbewohners, um eine Spannung herzustellen. Sie entsteht daraus, daß der Vorwurf unbegründbar bleiben muß, während sein Motiv – das Unrechtsgefühl – einen Anschein von Berechtigung behält. Im Gegensatz zu den Textansätzen zum Thema „Der kleine Ruinenbewohner“ gelingt es Kafka im Heizer, aus „unbeweisbaren Vorwürfen“104 eine Geschichte zu entwickeln. Dies ist einem neuen Kunstgriff zu verdanken: Die Rede wird auf zwei Instanzen (Karl und den Heizer) aufgeteilt, und diese werden zugleich unauflösbar verschränkt. Die Struktur der Erzählung erinnert hier an jene Märchen, in denen ein Stummer und ein Blinder ein Wunder erlebt haben und davon berichten wollen – und es nicht können, da der Blinde zwar sprechen kann, aber nichts gesehen hat, während der Stumme alles gesehen hat, aber nicht sprechen kann. Im Heizer geht aus einer solchen Struktur die ganze Erzählung hervor. Der Heizer weiß, was geschehen ist, kann es aber nicht formulieren; Karl aber, der reden kann, weiß nicht, was vorgefallen ist. Aus dieser Konstellation bezieht die Erzählung ihre Spannung. Das heißt: die Reden des Heizers und Karls Kommentare dazu vermitteln bei aller Leere nicht nichts. Sie vermitteln die Verzweiflung, nicht sprechen zu können und nicht gehört zu werden. Wenn der Heizer immer nur um die konstitutive Leerstelle herum redet, statt etwas „eigentliches“ zu sagen, so hat das schlimmere Folgen (und ist deshalb spannender) als im Falle jenes – ebenfalls im III. Kapitel bereits zitierten – „alten Studenten“ Oskar M., der seine geniale Idee nicht verraten will.105 Denn für den 103 104
105
Tagebucheintrag nach dem 19.6. 1910, KKAT, S. 18. Zitat aus einem der Ruinenbewohner-Texte: „Und wenn auch diese Meinung nicht richtig wäre und die Toten gerade sehr unparteiisch wären, so könnten sie es auch dann niemals billigen, daß man mit unbeweisbaren Vorwürfen sie stört.“ (KKAT, S. 22). Vgl. KKAT, S. 153: „Wenn ich nur einen kleinen Einfall gehabt hätte, sagen wir, einen Einfall zu meiner Dissertation, die ja doch schon 10 Jahre in meinem Kasten liegt und Einfälle braucht wie Salz so ist möglich wenn auch nicht wahrscheinlich, daß ich wie es heute geschehen ist, vom Spaziergang nach Hause gelaufen wäre und gesagt hätte: Vater ich habe glücklicherweise diesen und diesen Einfall.“
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Heizer käme ja alles auf die Macht seiner Rede an, durch sie nur kann und muß er von der Gerechtigkeit seiner Sache überzeugen. Diese Wirkung aber wird ihm konsequent verweigert. Daraus entsteht jene Dynamik, die das Wohlwollen der Zuhörer immer mehr schwinden, die Sorge Karls immer mehr ansteigen läßt. Das Ausdrucks- und Sprachproblem des Heizers erfüllt also eine Funktion für die Möglichkeit der Erzählentwicklung und wird um dieser Funktion willen allererst als Sprachproblem inszeniert. Als Agent dieser Inszenierung fungiert die Figur Karl. Karls Kommentare sind es, die die Reden des Heizers zum Sprachproblem machen, indem sie zeigen, daß diese Worte nicht die erhoffte Wirkung haben. Aus der Enttäuschung der durch dieselben Kommentare hochgespannten Hoffnung speist sich die wachsende Verzweiflung. Diese Einbettung des Geschehens in die Kommentarstruktur macht die Verteidigung des Heizers zum Drama der Rede. Der schon zitierten Stelle, an der der Heizer die Tüchtigkeit des Obermaschinisten anzweifelt, „die eher scheinbar, als wirklich vorhanden sein sollte“,106 kommt eine Schlüsselfunktion in diesem Drama zu. Denn sogleich kommentiert Karl Roßmanns ‚sprechender‘ Blick besorgt: „Bei dieser Stelle starrte Karl mit aller Kraft den Kapitän an [...], nur damit er sich durch die etwas ungeschickte Ausdrucksweise des Heizers nicht zu seinen Ungunsten beeinflussen lasse.“107 Aus dem leeren Satz wird also doch wieder etwas gemacht, nämlich die Reflexion darauf, daß man daraus nichts erfährt. Ausgehend von solchen Kommentaren, die immer wieder deutlich machen, daß ‚es‘ so nie ans Licht kommen wird, gelingt es der Erzählung, den Eindruck zu verstärken, daß dennoch und eigentlich etwas vorhanden wäre, das ans Licht gebracht und ausgedrückt werden müßte – und zwar je hoffnungsloser verloren, desto dringender. So etwa, wenn Karl dem Heizer erklärt, was er besser machen müßte: „Sie müssen das einfacher erzählen, klarer, der Herr Kapitän kann das nicht würdigen so wie Sie es ihm erzählen“.108 Für die Ohren des Publikums fügt er dann hinzu: „Mir haben Sie es doch immer so klar dargestellt.“109 Das ist eine Lüge, wie Karl in Gedanken anmerkt. Sie verspricht den ungeduldigen Zuhörern im Kassenraum, es gebe unter dem Wortschwall doch noch eine Klarheit, die nur ans Licht kommen müsse. Doch dieser Besänftigungs-Trick ist nur die erste Lüge, die dieser Satz enthält. Die viel größere Lüge ist, daß der Heizer „es“ überhaupt noch nie „dargestellt“ hat, weder klar noch unklar. Dieser Umstand, daß es keine Formulierung der Anklage gegeben hat, wird durch die Konzentration auf die bloße Klarheit der Darstellung eskamotiert. Aus der Art und Weise, wie Karl das rhetorische Versagen des Heizers beschreibt, bezieht der Kampf um Gerechtigkeit für den Heizer seine ganze 106 107 108 109
KKAT, S. 482. KKAT, S. 482. KKAT, S. 485. KKAT, S. 485.
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IV Der Heizer
Dramatik; er wird zum Kampf um den richtigen Ausdruck. Wenn der Text damit suggeriert, es hätte genügt, ein einziges Mal Klartext zu reden, um die „Sache der Gerechtigkeit“ zweifellos zu machen und alle Feinde zu erledigen, dann mogelt er genau wie Karls Lüge daran vorbei, daß da überhaupt nichts ist, was „klar dargestellt“ werden könnte, und daß er gerade daraus, daß ‚es‘ nicht ans Licht kommen wird, seine Dynamik generiert. Mit Hilfe der Kunstgriffe, die die Verteidigung des Heizers auf eine Sache der Darstellung, der wirkungsvollen Rede konzentrieren, wird der Leser allmählich in Karls Sichtweise hineingezogen, die von dem Glauben ausgeht, daß es eine gerechte Sache des Heizers gebe. Diese Identifikation verläuft über die Suggestion von Mitleid. Besonders deutlich wird dieses Verfahren in einer Passage, in der Karl kommentiert, wie der Heizer sich in einen hoffnungslosen Wirrwarr von Details hineinredet. Aber alles mahnte zur Eile, zur Deutlichkeit, zu ganz genauer Darstellung, aber was tat der Heizer? Er redete sich allerdings in Schweiß, die Papiere auf dem Fenster konnte er längst mit seinen zitternden Händen nicht mehr halten, aus allen Himmelsrichtungen strömten ihm Klagen über Schubal zu, von denen seiner Meinung nach jede einzelne genügt hätte diesen Schubal vollständig zu begraben, aber was er dem Kapitän vorzeigen konnte, war nur ein trauriges Durcheinanderstrudeln aller insgesamt.110
Man kann sich vorstellen, warum hier auch der gutwilligste Zuhörer verzweifeln muß. Dies ist dem Vergleichsbild zu verdanken, das eine sinnliche Anschauung des hoffnungslosen Durcheinanders vermittelt. Diese Anschauung und mit ihr die Vorstellung im Kopf des Lesers wird in der allmählichen Verfertigung des Vergleichsbildes immer konkreter. Der „Strudel“ bildet sich zugleich mit der Gestik des Heizers heraus, so daß das Zustandekommen des Bildes als Handlung des Heizers erzählbar wird. Der Heizer kann die Papiere in zitternden Händen nicht halten, die Klagen strömen ihm „zu“, kommen also von irgendwoher und haben eine Richtung auf ihn hin, vielleicht wie fliegende Wesen. Sie scheinen jedenfalls auf derselben sinnlich-haptischen Ebene wie die Papiere Dinge zu sein, die er anfassen kann, als würde er sie aus der Luft ziehen (ein Echo auf die Redewendung ‚es fliegt ihm zu‘?). Aber diese Flüssigen und Vielzähligen kann man wohl noch weniger festhalten als die Papiere. Sie sind zwar nicht flüchtig, sondern wohl stark genug, Schubal „vollständig zu begraben“ (auch in diesem Wunsch schwingt wieder eine Geste mit, die die des Heizers selbst sein könnte, er möchte Schubal begraben, am besten unter einem Haufen, einer Masse von Anklagen). Jedenfalls haben sie dieses Gewicht nach „Meinung“ des Heizers, also vielleicht auch wieder nicht. „Vorzeigen“ aber – wiederum eine haptisch-gestische Vorstellung – kann man sie nur als „trauriges Durcheinanderstrudeln“. Mit diesem Wort sind die Klagen – vergleichsweise – Wasser geworden, Ungreifbares, aber immer noch viele, die da „durcheinanderstrudeln“, eine undefinierte Menge 110
KKAT, S. 484.
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von Dingen oder Wesen, die hier mit einigendem Umgreifen „aller insgesamt“ der Hoffnungslosigkeit überantwortet werden. Ein solches in sich bewegliches Vergleichsbild, das eine Dynamik zugleich beschreibt und sie gestisch vollzieht, kann man nur assoziationsweise ausbuchstabieren. Wichtig ist mir, zu zeigen, wie die Bildvorstellung und die Suggestion von Gestik übereinander geblendet werden, so daß die strömenden und strudelnden Klagen etwas Körperliches bekommen, das wegen seiner Flüssigkeit und Vielzahl nicht festgehalten werden kann. Wie zum Anfassen deutlich wird hier, daß jeder Versuch, etwas Konkretes dingfest zu machen, buchstäblich etwas in die Hände zu bekommen (um Schubal zu „begraben“), scheitern muß: weil es eben unter den Händen zerrinnt wie Wasser. Diese Technik des beweglichen, fortgeführten Vergleichsbildes knüpft an jenen Kunstgriff an, den ich anhand des Tagebucheintrags über die japanischen Artisten beschrieben habe. Dort dient die Bildvorstellung eines in der Luft schwebenden Grashalms dazu, das Ohnmachtsgefühl eines Ich, das sich an diesem Halm unmöglich halten kann, auf den Leser zu übertragen. Die Verzweiflung wird anschaulich dargestellt und zugleich imaginativ nachvollziehbar gemacht. Diese Technik wird hier durch wertende Kommentare unterstützt. Der distanzierende Einschub „seiner Meinung nach“ löst die mächtige Masse der Klagen in das Nichts einer Seifenblase, einer bloßen Meinung oder Vorstellung auf. „Trauriges Durcheinanderstrudeln“ enthält bereits den abwertenden Blick dessen, der von außen auf die Veranstaltung schaut, des Kapitäns also beispielsweise, dem das Ganze ja gestisch „vorgezeigt“ wird. Das Wort „traurig“ bildet überdies ein Echo auf „Klagen“, die dadurch semantisch von Anklagen zu Wehklagen verschoben werden. Wieder ist es dem Heizer also nicht gelungen, etwas mitzuteilen; stattdessen hat er die Möglichkeit, weiter sprechen zu dürfen, noch stärker gefährdet. Wieder einmal ist aber auch bei all dem Reden über die Reden des Heizers „nichts eigentliches“ über den Inhalt dieser Reden gesagt worden. Die bildliche Vorstellung der Strudelbewegung ersetzt die Aussage. Angesichts dieses Bildes versteht man, warum Karl verzweifeln muß. Mit diesem imaginativen Blick ist das Drama um die Verteidigung des Heizers nicht mehr Karls Einbildung – es ist unsere eigene Einbildung. Es findet in unserer Vorstellung statt. Wir blicken auf die Entwicklung des Kampfes so, als ob wir tatsächlich eine gerechte Sache untergehen sähen, wie Karl – allein, weil die Anstrengung des Heizers bemitleidenswert erscheint.111 Dieses Mitleid entsteht, obwohl niemand wissen kann, worin der Vorwurf besteht. Es speist sich allein daraus, daß der Heizer ihn nicht formulieren kann, was doch so wichtig wäre, und daß diese Notlage mit emotionaler Hochspannung aufgeladen wird. 111
Zu dieser Form der Erzeugung eines virtuellen Mitleids vgl. meine Ausführungen zu Der Kaufmann in Kap. II.
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IV Der Heizer
Mit dieser Strategie leistet der Text eine rhetorische Überzeugungsarbeit, die die rhetorische Niederlage des Heizers beinahe ausgleicht. Durch ein System von Begründungsverweisen, die sich in ihrer Grundlosigkeit gegenseitig stützen, läßt diese Rhetorik den Leser zur Identifikation mit Karls mitleidigem Blick auf die Sache des Heizers gelangen. Diese Identifikation muß gar nicht vollständig erfolgreich sein. Sie dient nur als Vehikel, das eine weitere Leistung der textuellen Strategie ermöglicht. Die Suggestion eines mitleidigen Blickes transportiert immer schon die Behauptung, daß es die Sache des Heizers überhaupt gibt. Auf diesem Weg gelingt es der Rhetorik des Textes, uns zu dem Glauben zu bringen, daß das von Karl inszenierte Drama wirklich und wichtig ist. Ist also der Leser am Ende von der „Sache der Gerechtigkeit“ überzeugt? Das würde bedeuten, daß die sprachliche Vermittlung des Kampfes das geleistet hat, was Karl nicht gelingt: die Verteidigung des Heizers. Diese Schlußfolgerung wäre vorschnell. Der Leser muß nicht an die gerechte Sache des Heizers glauben. Ihm ist nur auf eindrückliche Weise vermittelt worden, daß es unmöglich ist, diese Sache zu verteidigen. Letztlich glaubt der Leser also nichts anderes als das, was der Oberkassier schon von Anfang an gewußt hat: daß die Beschwerde des Heizers ein hoffnungsloser Fall und seine Verteidigung überflüssiges Theater ist. Nur die Bewertung des Geschehens hat sich nach dem Kampf verändert. Jetzt wird als Ungerechtigkeit erlebbar, daß sich wiederholt, was der Oberkassier schon vor Beginn der Anhörung dem Heizer vorgehalten hatte: „Wie oft hat man sie schon aus den Auszahlungsräumen herausgeworfen, wie sie es mit ihren ganz, vollständig und ausnahmslos unberechtigten Forderungen verdienen!“112 – und daß es sich wiederholt, ohne daß es einen fairen Prozeß hätte geben können. Die Tatsache, daß die Verteidigung des Heizers zum Scheitern verdammt ist, ist zum Auslöser für das Gefühl gemacht worden, daß dieses Scheitern ein tragisches sei. Daß es sich um einen hoffnungslosen Fall handelt, ist nicht nur deutlich, sondern schmerzlich deutlich geworden. In dieser Verschiebung des Standpunktes liegt die Pointe der textuellen Verteidigung des Heizers. 4.1.4 Die Macht der Rede: Schein und Lüge Im Nachvollzug der Verteidigung des Heizers muß der Leser seine Distanzen an keiner Stelle aufgeben. Er wird nicht zu einer vollständigen Identifikation gezwungen, denn durch Karls Perspektive hindurch bleibt immer sichtbar, daß es auch andere Sichtweisen gibt. Wenn der Onkel Karls „höchstunnötige Einmischung“ als den Versuch bezeichnet, „diese geringfügige Zänkerei zweier Maschinisten zu einem Ereignis zu machen“,113 hat er durchaus recht. Denn Karls 112 113
KKAT, S. 481. KKAT, S. 184.
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eigene Gedanken verraten ja, daß er sich nicht nur aus Gerechtigkeitsempfinden, sondern auch aus Geltungsbedürfnis der Sache des Heizers angenommen hat: „Wenn ihn doch seine Eltern sehen könnten, wie er im fremden Land vor angesehenen Persönlichkeiten das Gute verfocht ...“.114 Doch aus den Sätzen des Onkels spricht auch das pure Ressentiment, das den Heizer ohne Begründung verurteilt. Auch Karl hat also recht mit seinem Aufbegehren. Diese Kommunikation zwischen den Sätzen zeigt: das Unternehmen, „diese geringfügige Zänkerei zweier Maschinisten zu einem Ereignis zu machen“, ist das des Textes selbst. Die Ironie, die sich im Widerstreit der Aussageebenen herstellt, ist Mittel zur Erzeugung dieser Konfrontation und bereits in das Wirkungskalkül mit einberechnet. Dem Leser wird also nur scheinbar Freiheit gelassen. Indem er sich distanziert, begibt er sich mitten in die Zwickmühle hinein. Die Tatsache, daß der Forderung nach Gerechtigkeit die Begründung fehlt, ist die Bedingung dafür, daß diese Strategie der doppelten Perspektivierung funktionieren kann. Denn so führt die Doppelstruktur nicht dazu, daß sich die Widersprüche gegenseitig aufheben. Stattdessen werden sie in ein Spannungsverhältnis gebracht. Die Ahnung, daß die „Feinde“ recht bekommen werden mit ihrer Behauptung, die Sache des Heizers sei hoffnungslos, streitet mit dem Mitleid für diese hoffnungslose Lage. Dieser Kampf entsteht unabhängig von einer Behauptung darüber, wer recht hat, er ergibt sich allein aus der Gewißheit, daß die Sache des Heizers hoffnungslos aussieht. Die Leistung der Sprache wäre demnach, an allen festen Behauptungen und Begründungen vorbei, aus dem Nichts einen Eindruck zu vermitteln bzw. einen Effekt herzustellen. Daß diese Überredung eine Leistung der Sprache ist, daß hier alles an der Macht der Rede hängt, scheint die Erzählung selbst zu reflektieren. Doch wenn Karl auf die Macht der Worte verweist – „Sie müssen das einfacher erzählen, klarer, der Herr Kapitän kann das nicht würdigen so wie Sie es ihm erzählen“115 –, dann liegt darin kein selbstreferentieller Verweis auf die Literarizität des Textes oder auf die sprachliche Verfaßtheit von Wirklichkeit. Der Verweis auf die sprachliche Form ist ein rhetorischer Trick. Der Text stellt die Wirkungsmacht seiner Rhetorik unter Beweis, indem er sie vorführt. Darin liegt ein wichtiger Unterschied zu den Sprachspielen in der Nachfolge der Beschreibung eines Kampfes. Aus der Not der Selbstbeschreibung von sprachlichen Vorgängen hat Kafka im Heizer eine Tugend gemacht, weil er die Macht der Rede zum Thema einer Geschichte erhebt, die ihre Spannung aus Rhetorik bezieht. Der Text konstituiert sich als Sprachbewegung, vermeidet aber das Umschlagen in die Selbstreferentialität. Die Leistung des rhetorischen Sprechens ist eine Lüge. Der Erzählung gelingt es, den Anschein zu erwecken, hinter den wirren Reden des Heizers würde etwas faßbar, wenn es nur einmal klar formuliert würde. Doch zugleich geht die Macht 114 115
KKAT, S. 169. KKAT, S. 485.
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IV Der Heizer
der Sprache über die Suggestion von Dingen, „die eher scheinbar, als wirklich vorhanden sein sollten“, hinaus.116 Denn die produktive Kraft der zentralen Leerstelle beschränkt sich nicht auf die Ebene der erzähllogischen Konstruktion. In der Vermeidung des ‚Eigentlichen‘ ergeben sich wie nebenbei differenzierte Innenansichten, indirekte psychologische Charakterisierungen. Die Beschreibung des „traurigen Durcheinanderstrudelns“ etwa macht deutlich, daß die Vorwürfe des Heizers nicht zu fassen sind. Darüber hinaus vermittelt das Bild die Verzweiflung darüber, die sowohl Karl als auch der Heizer empfinden, gibt also Einblick in Gefühlswelten. Außerdem zeichnet es ein Porträt des Heizers; es zeigt seine Schwerfälligkeit und Gutmütigkeit, seine gekränkte Ehre und die Überzeugung von seinem guten Recht. Auf diese Weise kommt also doch etwas von dem Unformulierbaren zur Sprache. Anstelle des Heizers sprechen Karls Kommentare, und die Bedingung der Möglichkeit dieses Sprechens ist es, daß der Heizer stumm bleibt, damit Karl das Ungesagte transportieren kann. Mehr als aus allen seinen Reden erfährt man aus der Art, wie das Verhalten des Heizers (und das seiner Zuhörer) durch Karls Bewußtsein hindurch geschildert wird. Das auffälligste Stilmittel dieser Darstellung sind die Vergleiche, die Karls Assoziationen an das Wahrgenommene anschließen und die ‚gelesenen‘ Blicke, Gesten und Tonfälle zum Sprechen bringen. So z.B., wenn Karl die Reaktionen der Zuhörer auf Schubals Rede liest und kommentiert: „So sprach Schubal. Das war allerdings die klare Rede eines Mannes und nach der Veränderung in den Mienen der Zuhörer hätte man glauben können, sie hörten zum erstenmal nach langer Zeit wieder menschliche Laute.“117 Die vergleichende Erweiterung vermittelt die Gefühle der Zuhörer und ist zugleich Teil eines indirekten Porträts des Heizers als eines tierhaft-unbewußten Wesens. Die Mitteilungen, die Karl am Äußeren seiner Umgebung abliest, werden zum Zeichen des Innen, weil Karl sie zum Sprechen bringt, indem er mit Assoziationen und Bildern seinen Eindruck formuliert. Diese als-ob-Sätze geben die Sprache der Gesten und Mienen wieder, indem sie diese mit Hilfe von Bildern beschreiben, die in der Realität nicht sichtbar sind. So z.B., wenn der Heizer bewußtlos dasteht, „und die Luft verkehrte durch den offenen Mund als gebe es innen keine Lungen mehr, die sie verarbeiteten“.118 In der Erweiterung des Sichtbaren um assoziativ herbeigezogene Bilder gewinnen die Innenwelten und Gefühlszustände der Beteiligten Kontur. Durch diese Anreicherung mit irrealen Elementen entstehen sinnliche Anschaulichkeit und Präsenz; Stimmung und Atmosphäre im Kassenraum werden eindrücklich vermittelt. Diese Vermittlung verläuft, wie ich bereits in der Analyse der Beschreibungsübungen im Tagebuch gezeigt habe, über den gezielten Rekurs auf die Imagination des Lesers.
116 117 118
KKAT, S. 482. KKAT, S. 170, Hervorh. v. mir. KKAT, S. 169.
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Auch der Einblick in die Gefühlswelten ist bloßer Anschein, weil unklar bleibt, ob Karl alles richtig sieht und deutet. „Scheinbar“, „offenbar“, „vermutlich“, „wie“ gehören zu den in diesem Text am häufigsten gebrauchten Wörtern. Doch obwohl man sich fragen kann, ob Karl mit seinen Vermutungen recht hat und ob seine Interpretationen das Unausgesprochene richtig zur Sprache bringen, geht das, was dadurch erzählbar wird, über die Vermittlung eines bloßen Anscheins hinaus. Denn die Geschichte, die Karls Wahrnehmungen erzählen, zeigt eine Innenansicht der Prozesse, wie ein solcher Anschein zustande kommt, d.h. wie eine öffentliche Meinung erzeugt wird, die dafür sorgt, daß einige Leute immer gerechtfertigt erscheinen und andere keine Chance haben, ihr Recht zu bekommen, weil aus irgendeinem teuflischen Grund jeder ihrer Sätze zum Fehler wird. Daher vermittelt die Geschichte mit dem Unformulierbaren, d.h. den Gefühlen, die den Heizer antreiben, auch eine Ahnung von den Gründen, warum ihre Rechtfertigung unformulierbar bleiben muß. Wir wissen zwar immer noch nicht, was die Sache des Heizers wäre, wir haben aber einen überzeugenden Eindruck davon bekommen, daß man in solchen Dingen nie mehr formulieren kann als die wenigen ungeschickten Vorwürfe, die der Heizer vorbringt: ein Durcheinander der Namen sämtlicher Laufburschen, von denen jeder irgend etwas bedeutet, ohne daß genau anzugeben wäre, worin in dieser ganzen Masse von Unwägbarkeiten eigentlich das Unrecht bestanden hat. Was passiert ist, scheint ein unentwirrbares Knäuel, in dem ‚irgendwie‘ alles zusammen kommt und wo eine gerechte Lösung kaum möglich scheint – wie ja auch oft bei dem einfachsten Verkehrsunfall kaum zu entscheiden ist, wer recht hat.119 119
In seiner „Automobilgeschichte“ im Reisetagebuch hat Kafka beschrieben, wie es einem Autofahrer gelingt, allein durch geschickte rhetorische Verteidigung den Dreiradfahrer, den er umgefahren hat, zum Schuldigen zu machen, und die öffentliche Meinung auf seine Seite zu bringen (Tagebucheintrag vom 11.9. 1911, KKAT, S. 1012-1017). Das Thema von der Macht eines unhintergehbaren, falschen Anscheins ist eines der wichtigen Themen des Verschollenen und in Kafkas Werk überhaupt. Der Witz dieser Konstruktion ist, daß ein bloßer Anschein per definitionem eben immer falsch sein kann, daß es gar kein Kriterium gibt, hier zwischen wahr und falsch, wirklicher und nur behaupteter Schuld zu unterscheiden. Daher müssen wir mit dem offensichtlichen Anschein vorlieb nehmen, genau wie die Leser von Kafkas Proceß-Roman: „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ (KKA: Der Proceß, S. 7). Aus der Vermutung - „jemand mußte...“ -, entsteht erst die Begründung („denn...“), obwohl die logische Reihenfolge umgekehrt verläuft (Josef K. hatte nichts Böses getan. Auf einmal wurde er verhaftet. Also mußte jemand ihn verleumdet haben.). Der Proceß beginnt mit der Schlußfolgerung, die sofort universelle Verdächtigung gegen alle möglichen - und in ihrer Unbestimmtheit zugleich quälend ungreifbaren - ‚jemand‘ erzeugt und damit den bedrohlichen Rätselcharakter dieser Verhaftung entstehen läßt. Schon gegen diesen Anfang kann man sich nicht mehr wehren, man ist wie K. im Anschein gefangen. Dagegen würde die logisch richtige Reihenfolge das Vertrauen vermitteln, alles werde wieder in Ordnung kommen, wenn eben die Unschuld bzw. die Verleumdung aufgedeckt würde. Da aber in Kafkas Satz die bloße Vermutung - „jemand mußte...“ - in die Position der Begründung für die Verhaftung gerückt ist, die sie eigentlich nicht ausfüllen kann, macht sie zugleich die Aussichten darauf, sich von diesem falschen Anschein wieder befreien zu können, höchst unsicher. Denn es ist ja noch nicht einmal klar, ob eine Verleumdung wirklich
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Möglicherweise spricht aus der Verteidigung des Heizers die Berufserfahrung des Autors, der in der Arbeiter-Unfall-Versicherungs-Anstalt des Königreichs Böhmen in Prag die Beschwerden der Unternehmer bearbeitete. Mit dem Heizer ist es ihm jedenfalls gelungen, die Beschwerde eines Arbeiters zu formulieren, die alle jene unformulierbaren Gründe enthält, die auf den Formularen nie zur Sprache kommen können – und die gerade deswegen auch bereits alle Gründe enthält, warum sie nie zu Ende bearbeitet werden kann. Dies ist ein Sprachkunststück, das alle auf der Handlungsebene formulierten Klagen über die Unzulänglichkeit der Sprache unterläuft. Hier wird zwar nichts „klar ausgedrückt“, d.h. eindeutig ausgesagt, aber aus der Uneindeutigkeit, den Andeutungen und Verschiebungen entsteht als Effekt ein Eindruck: nämlich die Verzweiflung darüber, kein Gehör zu finden. Diese vermittelt die Erzählung auf sprachlich höchst ausgefeilte Weise. Indem sie aus dieser Verzweiflung ihre ganze Spannung bezieht und ihre Zuhörer bzw. Leser in Bann zieht, leistet die Erzählung zugleich eine Reflexion ihrer eigenen Fesselungskraft. Im Kampf um Gerechtigkeit für den Heizer, dem niemand zuhören will, inszeniert die Geschichte die Forderung nach Aufmerksamkeit, die sie selbst stellt. Man soll zuhören, und zwar in jedem Moment und höchst intensiv. Dieses Ziel wird erreicht, indem die Rede des Textes performativ vermittelt, wie schrecklich es ist, daß niemand dem Heizer zuhören will. Diese Aufmerksamkeit zu erreichen, ist die Leistung der Rhetorik. Ihr gelingt nicht die Verteidigung des Heizers, sie überzeugt nicht von seinem Recht – aber sie verschafft den unformulierbaren Beschwerden und seinem durch keinen konkreten Grund zu rechtfertigenden Unrechtsgefühl unser interessiertes Gehör. 4.2 Die Erfindung des Onkels Krönung und Abschluß der Improvisations-Kunststücke im Heizer ist der Auftritt eines reichen Onkels aus Amerika, der den Helden aus allen Verwicklungen rettet. Diese Figur des Onkels ist eine Erfindung, wie sie märchenhafter und unwahrscheinlicher kaum sein könnte. Dennoch gelingt es Kafka, den Onkel plausibel in Karls Geschichte zu integrieren, ja sogar, seinen Auftritt zum Höhepunkt und Ziel der ganzen Erzählung werden zu lassen. Die Erfindung des Onkels ist der wichtigste und gewagteste Kunstgriff der Erzählung. Einmal mehr scheint er dem Traum entliehen. Wie in der zitierten Traumaufzeichnung vom New Yorker Hafen das Floß im Vordergrund als letztes in den Blick kommt, um das ganze Tableau zu komplettieren, so macht der Auftritt des Onkels die Erzählung zu einer Geschichte mit Auflösung und Schluß. Damit wird die Erfindung des der Grund für die Verhaftung war - wie also sich dagegen wehren? Es ist allerdings eine zwingende Vermutung - wie also einen anderen Grund finden?
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Onkels zur Krönung der traumähnlichen Verfertigung der Geschichte im Erzählen. 4.2.1 ‚Coup de théâtre‘ und ‚happy end‘: Der reiche Onkel aus Amerika Wie alle neuen Elemente, tritt der Onkel im „ungeeignetesten Augenblick“ in Karls Geschichte ein. Als Karl zu einer letzten, entscheidenden Verteidigungsrede ansetzt, unterbricht ihn jemand. Es zeigt sich, daß dieser Unbekannte Karls reicher Onkel aus Amerika ist. Als ‚coup de théâtre‘ kommt dieser märchenhafte Onkel genau in dem Moment aus der Versenkung, als die Verteidigung des Heizers vor dem Scheitern steht und die Dynamik der Hysterisierung leerzulaufen droht. Sein Auftreten löst mit einem Schlag alle Probleme. Er ersetzt den vergessenen Koffer, weil sein Reichtum alle Sorgen über dessen Verlust überflüssig macht, und bringt Karl endlich an Land. Damit kommt die Geschichte von Karls Abenteuern – vorläufig – an ihr Ende. Für Karl ist dieser Ausgang allerdings kein ‚happy end‘, sondern die endgültige Niederlage im Kampf für den Heizer. Diese Wendung geht über die bisher dargestellten Wechselfälle hinaus. Sie ist nicht nur der Beginn einer weiteren Ablenkungs-Geschichte, sondern zugleich der Höhe- und Schlußpunkt aller Ablenkungsreihen, aus denen Karls Geschichte besteht. Denn jetzt zeigt sich, daß diese eine Verkettung glücklicher Umstände bilden, die zum Zusammentreffen von Karl und seinem Onkel führt. Der Heizer hat ohne sein Wissen und Wollen die „mittelbare Veranlassung zur Erkennung des Neffen gegeben“; Karls Umwege, die ihn auf der Suche nach dem Koffer in die Kabine des Heizers hinein und weiter in den Kampf um des Heizers Rechtfertigung geführt haben, haben einen „Dienst bei der Wiedererkennung“ geleistet, denn ohne diese Umwege wäre Karl nie in die Hauptkassa gelangt, wo der Onkel auf ihn wartet.120 Vom Ende her wird die Geschichte von Karls Irrwegen zu der Geschichte, wie Karl seinen Onkel findet. Der Verdacht liegt nahe, hier habe der Autor Gott gespielt und sich einen reichen Onkel aus Amerika einfallen lassen, um Karl im Moment der höchsten Not zu retten und seinen Weg – bis dahin ein zielloser Wirrwarr – geordnet zum Abschluß zu bringen. Dieser Verdacht wird durchaus mit Absicht hervorgerufen, denn er erfüllt eine Funktion innerhalb der Erzählung. Durch sein plötzliches Auftauchen eröffnet der Onkel Fragen, deren Klärung die Handlung über weite Strecken trägt. Mit der Feststellung des Unbekannten – „Aber [...] dann bin ich ja Dein Onkel Jakob und Du bist mein lieber Neffe“ – wird Karl vor ein Rätsel gestellt.121 Während für den Herrn, der diese Erkenntnis ausspricht, bereits alles 120 121
Beide Zitate KKAT, S. 183. KKAT, S. 172.
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zweifellos zu sein scheint, muß Karl – wieder einmal in Verspätung – mit der Lösung des Rätsels erst beginnen. Diese Überraschung steht am Anfang eines Prozesses, in dessen Verlauf die neue Figur Schritt für Schritt in Karls Geschichte integriert wird. Der Vorgang ist als Kette von Indizien entwickelt, die sich allmählich zu einem Mosaik zusammensetzen. Die Dramaturgie ähnelt einem Krimi, so eng sind der Fortgang der Handlung und ihr Spannungsbogen an die schrittweise Aufdeckung der Beweismittel gekoppelt, die den Auftritt des Onkels rechtfertigen und glaubwürdig machen. Es ist eine Auseinandersetzung, die – wie schon die Verteidigung des Heizers – vor allem sprachlich, zwischen den Sätzen und Wörtern geführt wird. Indem dieser Sprach-Prozeß die Glaubwürdigkeit des Onkels beweist, verteidigt und behauptet die Sprache jenen Anspruch auf Autonomie, den die Beschreibung eines Kampfes zuerst erhoben hatte. Die wichtigste Rolle für die Auflösung des Rätsels und die Beglaubigung des Onkels spielt die Rede des Unbekannten, mit der er sich als derjenige rechtfertigt, der er zu sein behauptet. Wie sich in dieser Rede zeigt, war der Onkel von Karls Kommen unterrichtet. Jenes Dienstmädchen, um dessentwillen Karl verschifft worden war, hatte von dem amerikanischen Onkel gewußt und ihn in einem Brief gebeten, Karl in seine Obhut zu nehmen. Anhand ihrer Beschreibung konnte es dem Onkel gelingen, seinen unbekannten Neffen zu identifizieren. – Diese Geschichte ist ebenso papierdünn wie die Erfindung des Onkels selbst. Doch dem Onkel gelingt es, durch seine Rede aus den spärlichen Details „eine große Geschichte zu machen“, wie Karl staunend bemerkt, und dabei sich selbst als Ziel und Endpunkt dieser Geschichte einzusetzen.122 Mit dieser Rede öffnet sich ein Weg, auf dem der unbekannte Mann in die Erzählung hineingelangt. Am Ende dieses Weges wird er sich als Karls Onkel erweisen, der vom Beginn der Geschichte an auf seinen Neffen gewartet hat. Damit wird die Traumstruktur des nachträglichen Erkennens, des ‚Jetzt erst bemerkte ich auch‘, auf die Spitze getrieben. Der Onkel setzt sich mit seiner Rede gleichsam selbst in den Vordergrund des erzählten Traum-Tableaus, das ihn bisher nicht enthalten hat. Mit der Rede, die sein Auftreten legitimiert und erklärt, vollzieht er seine Verwandlung vom ‚deus ex machina‘ in einen glücklichen Zufall, an den Karl und der Leser aller Unwahrscheinlichkeit zum Trotz glauben müssen. Diese Leistung soll im folgenden herausgearbeitet werden.
122
KKAT, S. 179.
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4.2.2 Eine „große Geschichte“: Die Rechtfertigung des Onkels Die „große Geschichte“, mit welcher der Onkel sich in Karls Geschichte einschreibt, beginnt mit Karls Reaktion auf die Behauptung des Unbekannten, sein Onkel zu sein. Statt sich über die Behauptung des Fremden zu wundern, bestätigt Karl die Existenz eines – ihm unbekannten – Onkels: „Ich habe allerdings einen Onkel Jakob in Amerika ...“.123 Die Rückblende beginnt also damit, daß nicht Karl fehlendes Wissen nachgereicht erhält, sondern der Leser. Damit wird der ‚coup de théâtre‘ verdoppelt. Verdächtig prompt erinnert sich Karl an seinen amerikanischen Onkel. Dies müßte seine Behauptung höchst unwahrscheinlich erscheinen lassen. Das Gegenteil ist der Fall, denn im gleichen Atemzug verneint Karl, daß der Unbekannte sein soeben erinnerter Onkel sein könne: Ich habe allerdings einen Onkel Jakob in Amerika, [...] aber wenn ich recht verstanden habe, lautet bloß der Zuname des Herrn Staatsrat, Jakob [...] mein Onkel Jakob, welcher der Bruder meiner Mutter ist, heißt aber mit dem Taufnamen Jakob während sein Zuname, natürlich gleich jenem meiner Mutter lauten müßte, welche eine geborene Bendelmayer ist.124
In einem typisch Kafkaschen Konzessiv-Satz folgt auf das „allerdings“ unweigerlich das „aber“. Dieses ‚aber‘ lenkt von Karls allzu gut passendem Einfall ab, daß er tatsächlich einen Onkel habe, indem es die Möglichkeit gleich wieder durchstreicht, es könnte der Herr ihm gegenüber sein. Mit diesem Schritt verlagert sich das Interesse auf die Spannung, die zwischen den beiden Behauptungen entsteht. Aus dem knappen Aneinander-Vorbei an dem für die Identifikation zentralen Punkt des Namens ist ein Konflikt entstanden, der die Existenz eines Onkels bereits voraussetzt. Zugleich ist diesem Konflikt ein Ziel gegeben worden: Es wird nun darum gehen zu zeigen, daß der Staatsrat Edward Jakob wirklich seinen Neffen und Karl wirklich seinen Onkel Jakob gefunden hat. Mit diesem Kunstgriff einer verdoppelten Behauptung ist Karls amerikanischer Onkel erfunden. Die Pointe dieses Verfahrens liegt darin, daß erst die zweite Behauptung, indem sie die erste verneint, den Onkel erfindet. Die plötzliche Erscheinung des Retters stellt einen Anlaß her, um die Unwahrscheinlichkeit dieser Wendung zu betonen. Durch die Thematisierung des Zweifels wird dann der eigentliche ‚coup‘ vollzogen, denn erst Karls Nachfrage zaubert einen tatsächlich vorhandenen amerikanischen Onkel hervor. An dieser Stelle ist es also einmal der Held, der den eine implizite Voraussetzung überspringenden Doppelschritt der Kafka'schen Argumentation vollzieht und damit eben jene implizite Voraussetzung als Tatsache etabliert, die das überrumpelte Gegenüber (in diesem Fall der Leser) akzeptieren muß. ‚Jetzt erst bemerkte ich auch‘, so muß sich der Leser mit den Worten des von seiner nachklappenden 123 124
KKAT, S. 173. KKAT, S. 173.
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IV Der Heizer
Wahrnehmung überraschten Träumers sagen, ‚jetzt erst bemerkte ich auch, daß Karl einen Onkel hat‘. Diese aussagenlogische Struktur funktioniert so, als ob der Onkel gerade erst erfunden, d.h. aus dem Nichts heraus in die Geschichte hineingeschrieben würde. Die scheinbar improvisierende Handlungsführung ist die Bedingung der Möglichkeit dieses Erzählens, das als behauptende Rede entsteht. Wie die „Mitsutas“-Kunststücke im Tagebuch, bildet die Erzählentwicklung im Heizer von Satz zu Satz eine Münchhausen-Treppe – die jedoch nicht von dem seine eigenen Kunststücke schreibend-beschreibenden Ich in der Luft erhalten werden muß, sondern von den Figuren, die der Autor agieren läßt. Das textuelle Spiel, das Karl und der Heizer begonnen haben, führt Karl mit dem Onkel weiter. Es arbeitet ständig mit gegenläufigen, Ursache und Wirkung vertauschenden Fügungen. Frage und Antwort sind jeweils synkopisch gegeneinander verschoben, so daß immer ein Teil einer verneinten Behauptung bejaht bleibt und so die Grundlage für die nächste Drehung des spiralförmigen Fortschreitens bereitstellen kann. Karl nimmt die Behauptung des Senators auf, sein Onkel zu sein, und macht daraus eine Treppenstufe, indem er sie wieder durchstreicht. So kann Karls Kommentar rückwirkend als schon halbwegs geleistete Beglaubigung des Onkels dienen und zugleich vorwärts den Konflikt um die Identität des Onkels entstehen lassen. Damit wird das Interesse des Lesers auf die Erklärung des Onkels hin gespannt. Im nächsten Schritt muß der Onkel auf die durch Karls Reaktion gestellte Frage antworten, um zu klären, ob er der richtige Onkel ist. „Eine Erläuterung“ wird mit großer Rhetor-Geste dem Publikum versprochen; eine Antwort aber gibt der Onkel nicht.125 Karls Frage nach dem Namen bleibt ebenso offen wie alle weiteren Fragen. Der Onkel beginnt seine Erklärungen nicht mit dem Brief, der das Zusammentreffen ermöglicht hat, er berichtet nicht über den Weg, der ihn zum Erkennen seines Neffen geführt hat. Er beginnt mit der Mitteilung, er habe schon jahrelang keine Verbindung mehr zu Karls Eltern, mit denen er sich offenbar überworfen hat. Statt seiner antwortet Karl. „Er ist mein Onkel kein Zweifel“, bestätigt er, schon gleich nach den ersten Sätzen überzeugt.126 In den Worten des Onkels muß also etwas enthalten gewesen sein, das für Karl als Beweis dafür gelten kann, seinen Onkel vor sich zu haben – etwa ein Wissen um Familienangelegenheiten, das nur sein wirklicher Onkel haben kann. Doch dies ist nur eine Annahme, zu der der unwissende Leser gezwungen wird. Der Onkel bestätigt sie nicht. Er macht zwar viele Worte über seine „europäischen Verwandten“, doch sie enthalten nur Negativ-Bestimmungen. Es besteht kein Kontakt, „aus Gründen die erstens nicht hierhergehören und die zweitens zu erzählen mich wirklich zu sehr hernehmen würde.“127 Daß etwas passiert ist, wird wirkungsvoll angedeutet und verschwiegen. Selbst aus dem Verschweigen macht 125 126 127
KKAT, S. 173. KKAT, S. 174. KKAT, S. 174.
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der Onkel noch ein Versprechen: „Ich fürchte mich sogar vor dem Augenblick, wo ich gezwungen sein werde, sie [die Gründe] meinem lieben Neffen zu erzählen, wobei sich leider ein offenes Wort über seine Eltern und ihren Anhang nicht vermeiden lassen wird.“128 Vorläufig äußert er kein einziges dieser „offenen Worte“, sondern nur Worte, die eine solche Äußerung als Möglichkeit entwerfen. Karls Antwort („Er ist mein Onkel kein Zweifel“) macht diese NichtAussage doch zu einer Aussage. Wenn Karl so reagiert, dann muß sich die Rede des Onkels auf ein Wissen beziehen, das Karl mit dem Onkel teilt. Der Leser bleibt von diesem Wissen ausgeschlossen. Wir werden stattdessen zu der Annahme gezwungen, daß Karl seine Gründe haben muß. Obwohl nichts ausgesagt worden ist, stellen wir um der Geschichte willen einen Hintergrund her, eine gemeinsame Familiengeschichte Karls und des Onkels. Die Leerstelle, die die Rede des Onkels erzeugt, hat also eine Funktion. Indem die erzählende Rede eine festlegbare Aussage vermeidet und so wenig wie möglich behauptet, überläßt sie dem Leser das Behaupten, der gezwungen wird, aus seinen Konjekturen selbst einen Zusammenhang herzustellen. Auf diese Weise wird die Geschichte um so glaubwürdiger, je weniger Beglaubigung sie selbst leistet. Jede Behauptung des Onkels könnte vom Leser angezweifelt werden; dadurch aber, daß er nichts behauptet, sondern den Leser dazu zwingt, sich die Gründe selbst zu denken, wird der Onkel unangreifbar. Mit ähnlichen Tricks wie der Kaufmann oder der Augenzeuge in Die Vorüberlaufenden aus der Sammlung Betrachtung stiehlt sich Herr Jakob aus der Verantwortung. Dies gilt auch für den Erzähler. Wenn die Vorgeschichte des Onkels von einem auktorialen Erzähler berichtet – und damit beglaubigt – würde, hätte dieser größte Mühe, die neue Figur plausibel einzuführen. Er müßte sehr ausführlich werden (was seine Erklärungen nicht spannender machen würde), und er müßte sich auf Aussagen einlassen, die kaum glaubhaft wirken können. Karls Überzeugung von der Identität des Onkels eilt jedem Beweis voraus und macht diesen zugleich überflüssig. Aus seiner Reaktion ergibt sich eine Umkehrung der Fragerichtung und eine Verschiebung der Beweislast. Es ist jetzt nicht mehr nötig, daß der Onkel auf Karls skeptische Frage nach seinem Namen antwortet. Stattdessen sucht Karl nach einer plausiblen Erklärung, die zu seiner bereits etablierten Überzeugung paßt. Statt um die Antwort auf seine Frage nach dem falschen Namen geht es um eine Lösung des Rätsels: „Wahrscheinlich hat er seinen Namen ändern lassen“.129 Damit schafft Karl die Frage, die er selbst eröffnet hat, wieder aus der Welt – ohne daß jemals geklärt würde, ob diese Antwort zutrifft. Die Aussage, an der Identität des Onkels bestehe „kein Zweifel“, ist von derselben Art wie Karls Glaube an die Gerechtigkeit der Sache des Heizers.130 128 129 130
KKAT, S. 174. KKAT, S. 174. KKAT, S. 174.
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Und auch die Aufgabe, die Leerstelle zu füllen, wird auf die gleiche Weise gelöst wie dort: eine psychologische Motivation tritt an die Stelle des sachlichen Grundes. Überzeugend wirkt schon das selbstbewußte Auftreten des Senators, der sich wie selbstverständlich als Karls Onkel verhält und von „seinem lieben Neffen“ spricht.131 Allein durch diese Rhetorik vermittelt sich eine Sicherheit, die für Karl genügen kann, um seinen Zweifel zurückzunehmen. Denn wie hätte der Onkel, wenn er wirklich der Onkel ist, anders sprechen sollen? Karls Reaktion wirkt daher mitnichten unverständlich, sondern sehr nachvollziehbar. Das Gegenteil, nämlich mißtrauisch zu bleiben, wäre angesichts der Sicherheit, mit der der Onkel sich präsentiert, sogar wiederum begründungsbedürftig. Dadurch wird das Beglaubigungs-Verhältnis umgekehrt: Wieder einmal wird eine Aussage nicht als Behauptung, sondern als Vermutung aufgebaut, die allerdings eine zwingende ist. So, wie Edward Jakob spricht und Karl auf ihn reagiert, muß er der Onkel sein. Die Frage nach der Identität des Herrn Jakob ist also beantwortet und doch nicht beantwortet. Stattdessen eröffnet sich ein neues Spiel von Möglichkeiten. Tatsächlich scheinen ja die beinahe gleichen, nur um eine Stelle verschobenen Namen die Namensänderung wahrscheinlich zu machen. Andererseits ist diese Lösung unwahrscheinlich, denn wie soll der Onkel den Brief erhalten haben, da ja seine europäische Verwandtschaft nichts von seinem neuen Namen wußte? Mit diesen Fragen ist die Diskussion über die Identität von Senator und Onkel bereits weit fortgeschritten, ohne daß irgendetwas von dem Geheimnis des Onkels verraten worden wäre. Karl zeigt sich seinem neuen Onkel gegenüber eher feindselig, weil ihn der Zwischenfall in der Verteidigung des Heizers stört. Ironischerweise geschieht auf der sprachlichen Ebene der Erzählung das Gegenteil: Während es Karl nicht gelingt, seinen Freund zu verteidigen, rechtfertigt und beglaubigt jeder seiner Sätze den ungeliebten Onkel. Auch im weiteren Verlauf der Rede äußert Karl immer schon Zustimmung, noch bevor der Onkel einen Beweis erbracht hat, und überspringt mit seiner Antwort immer schon den nächsten Schritt. Umgekehrt gibt die Rede des Onkels Karls Überzeugung recht und bestätigt sie. Allmählich wird so die Identität des Onkels immer zweifelloser – und zwar vor allem für den Leser. Ihn zu überzeugen, ist die Leistung der Rede, mit der der Senator sich als Karls Onkel behauptet. Auch im zweiten Teil seiner Rede umgeht der Senator die versprochene Erklärung. Stattdessen erzählt er von der Verführung Karls durch das Dienstmädchen. Dies produziert einen neuen Überraschungseffekt, denn noch können Held und Leser nicht wissen, woher Edward Jakob sein intimes Wissen um Karls Vorleben haben kann. Die Antwort darauf spart der Senator sich bis zum Schluß auf. Damit hat er wieder eine neue Frage geschaffen. Es ist Karl, der sie stellt: „... aber ich will nicht daß er es allen erzählt. Übrigens kann er es ja auch nicht 131
KKAT, S. 174.
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wissen. Woher denn?“132 Auch diese Frage wird von Karl sogleich selbst beantwortet, bevor der Onkel überhaupt etwas sagen kann: „Aber wir werden sehn, er wird schon alles wissen“.133 Das wird vom nächsten Satz des Senators prompt bestätigt: er weiß tatsächlich alles. Damit hat sich das Bestätigungs- und Beglaubigungsverhältnis erneut verkehrt. Während Karls erste Antwort den Onkel beglaubigt hatte, so bestätigt der Onkel jetzt Karls Überzeugung – und damit indirekt sich selbst gegenüber dem Leser. Auf diese Weise wird unsere Erwartung an eine Erklärung weiter gespannt. Wir wissen immer noch nicht, warum Karl mit seiner Überzeugung von der Identität des Onkels recht hat und warum der unbekannte Mann wirklich alles weiß. Wir sehen nur, daß Karl recht hat, weil der unbekannte Mann tatsächlich alles weiß. Diese indirekte Beweisführung beruht auf der Vertauschung der Frage- und Antwort-Struktur, die alle Fragen offen hält, aber immer schon die Perspektive verdreht, in der sie zu beantworten wären. Um so erlösender kommt der Schluß, der mit dem Brief des Dienstmädchens die Auflösung des Rätsels bringt. Durch die geschickte Dramaturgie der Rede ist der Brief zu dem Punkt geworden, auf den alles zuläuft. Derselbe Brief, der als billiger Trick gewirkt hätte, wäre er gleich am Anfang aus der Tasche gezogen worden, ist nun die Krönung des Beweises. Er muß noch nicht einmal mehr vorgelesen werden, es reicht, ihn in der Luft zu schwenken, um alle Bedenken (etwa wegen der Namensverschiedenheiten) in ihrem noch unaufgeklärten Zustand zu erledigen. Es muß schon alles seine Richtigkeit haben, wie auch immer das Dienstmädchen die Adresse mit dem geänderten Namen hat erfahren können: denn der Senator weiß ja alles, seine Informationen stimmen, diese kann er nur aus dem Brief beziehen, und diesen Brief hat er bekommen. Diese vom Ende her konstruierte Schlußkette gewinnt eine Überzeugungskraft, die eine mit dem Brief des Dienstmädchens beginnende Erklärung nie gehabt hätte. Die permanente Verdrängung von nicht beantworteten Fragen in ihrer verschobenen Ablösung durch neue Fragen ist eine Variante jener Ablenkungsstruktur, die der Narration insgesamt zugrunde liegt. Eine ähnliche Verlagerung von Fragen habe ich schon in der Analyse der Betrachtungen gezeigt. Die Dialoge zwischen jeweils verkehrt aufeinander bezogenen Fragen und Antworten organisieren die Behauptungsstruktur der erzählenden Rede als ein logisches Trick-Spiel, das ähnlich wie in dem Stück Der Fahrgast verfährt. Während dort aber das Gedankenspiel des Textes mit der Rückwendung der Frage auf sich selbst abgeschlossen war, dient die Verschiebung zwischen Frage und Antwort hier dazu, die Erzähldynamik immer weiter zu treiben. Aus der Beantwortung von Fragen, die niemand gestellt hat, während die explizit formulierten Fragen aufgeschoben oder falsch beantwortet werden, entsteht die „große Geschichte“, 132 133
KKAT, S. 174f., Hervorh. v. mir. KKAT, S. 175.
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in deren Verlauf Karl – und mit ihm der Leser – allmählich erkennt, daß der Unbekannte Karls Onkel ist. – Erst nachdem sich alle Fragen nach seiner Identität bereits erledigt haben, stellt der Onkel sie abschließend selbst: „ ‚Und jetzt‘ rief der Senator will ich von Dir offen hören, ob ich Dein Onkel bin oder nicht.“ Diese letzte Frage kann nurmehr rhetorisch sein, und prompt kommt Karls Antwort: „ ‚Du bist mein Onkel‘ sagte Karl und küßte ihm die Hand und wurde dafür auf die Stirn geküßt.“134 Mit dieser Anerkennung hat Karl zuguterletzt die Behauptung bestätigt, die der Onkel eigentlich hätte beweisen müssen. Durch die Behauptungsstruktur des Fragen-Dialogs erhält der Brief die Funktion eines Beweises. Er wird als das letzte Puzzlestück aufgebaut, das das Bild komplettiert. Allein durch dieses passende Stück gewinnt die Indizienkette eine selbsterklärende Evidenz. Umgekehrt heißt das: Die Aufladung der Frage nach der Quelle des Wissens, das der Onkel verrät, und damit die ganze Architektur des Spannungsbogens von dem initialen Zweifel an seiner Identität bis zur Einlösung durch den Brief kann nur dadurch entstehen, daß Karl am Anfang die zweifelnde Frage stellt. Seine Bedenken werden mit Absicht aufgeblasen, damit sie um so wirkungsvoller in sich zusammenfallen können. Seine Fragen sind nicht dazu da, aufgelöst zu werden, sondern dazu, den Brief zur Antwort zu machen. Die Funktion des Zweifels und die Funktion des Briefes als Beweis bedingen sich wechselseitig. Durch seine Leistung, Frage und Antwort zusammenzubringen, erscheint der Brief als Beweis. Doch er beweist die Wahrheit der Behauptung des Onkels nur durch seinen geschickten strategischen Einsatz, nicht durch seinen Inhalt. Daß der Senator Karls Onkel ist, beglaubigt nicht das Dienstmädchen mit seinem Brief, sondern der Onkel mit seiner Rede. Edward Jakob hat es zwar schriftlich, daß er Karls Onkel ist – bewiesen aber hat er es durch seine Rhetorik, die der Schrift erst Geltung verleiht. Ob er wirklich der Adressat des Briefes ist, kann niemand wissen. Als Beweis für die Identität des Onkels ist der Brief eine Lücke an derselben, zentralen Stelle wie die Leerstelle im Vorwurf des Heizers. Gerade dadurch aber kann das Schriftstück zum Unterpfand der Verwandtschaft zwischen Karl und dem Onkel werden. Die notwendige Bedingung für das Funktionieren dieses Legitimationsspiels ist eine dritte Position, die ich bisher nur implizit erwähnt habe: das Wissen des Lesers. Nur weil wir bereits über Karls Vorgeschichte informiert sind, können wir beurteilen, daß das, was der Onkel vorträgt, tatsächlich stimmt. Und nur, weil wir diese Bestätigung unwillkürlich geben müssen, kann die Architektur von gegenseitigen Beglaubigungen funktionieren. So ist die Zustimmung des Lesers zugleich Ergebnis und Voraussetzung dafür, daß die Rhetorik des Onkels die Wirkung hat, die er dem nicht vorgelesenen Brief wortreich zuschreibt. Wir selbst müssen der Suggestion zustimmen, daß der Onkel der ist, der er behauptet zu sein. Dieser Anspruch des Textes an den Leser reicht wesentlich weiter als im 134
Beide Zitate KKAT, S. 179, Hervorh.v. mir.
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Falle der Verteidigung des Heizers. Dort verlangt der Text vom Leser keinen Glauben an die „Gerechtigkeit seiner Sache“ – doch für die Behauptung des Onkels fordert er ihn ein. In einem letzten Schritt wird der Leser ganz direkt dazu genötigt, diese Zustimmung selbst zu vollziehen. Nachdem bereits alles geklärt ist, beginnt der Onkel, die unmittelbare Vorgeschichte des Wiedersehens zu erzählen („in einem Tone, als wolle er noch einmal Gratulationen bekommen“).135 Diese letzte, nachholende Rückblende betrifft die Zeit in der Hauptkassa. Sie präsentiert uns den Weg, auf dem der Senator zu der Erkenntnis gelangt war, daß Karl sein Neffe sein müsse. Dieser Bericht des Onkels liefert die passenden Gegenstücke zu jenen Beobachtungen Karls, in denen ein „Mann in Civil“ in regelmäßigen Abständen aufgetaucht war. Vom Ende her erscheinen diese Stationen auf einmal als logische Entwicklung; nur an dem unwissenden Karl ist alles vorübergegangen. Seine Wahrnehmung hat zwar jeden Blick des Onkels registriert, aber darin nichts erkennen können.136 Wieder einmal öffnet sich für Karl eine Welt, von deren Existenz er bisher nichts ahnte: jetzt erst sieht er, daß er den Onkel bereits die ganze Zeit über gesehen hat. Im zweiten Blick wird der erste als unvollständig erkennbar. Die Tatsache, daß Karl den Onkel bereits zuvor gesehen, aber nicht erkannt hat, bestätigt in einem letzten Nachklappen nochmals dessen Identität. Diese Rechtfertigung bezieht auch den Leser mit ein. Ihm wird die eigene Wahrnehmung zum Beweis gemacht, denn auf einmal ist der Herr, den er durch Karls Augen hindurch gesehen hat, immer schon der Onkel gewesen. Indem man das, was man schon weiß, mit dem zusammensetzt, was der Onkel berichtet, muß man automatisch zustimmen: es stimmt, daß er Karls Steckbrief in seinem Notizbuch begutachtet hat, denn Karl hatte ja berichtet, wie der fremde Herr „schon gänzlich abgestumpft gegen den Heizer ja von ihm angewidert, ein kleines Notizbuch hervorzog und offenbar mit ganz andern Angelegenheiten beschäftigt die Augen zwischen dem Notizbuch und Karl hin- und her wandern ließ“.137 In der Rückschau ist auf einmal alles Vorangegangene zum Indiz geworden. Unwillkürlich wird der Leser gezwungen, dem Onkel – der ja noch einmal 135 136
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KKAT, S. 182. Diese Technik entspricht der allmählichen Verfertigung der Schiffskapelle im Hören, die erst durch das Wissen des Heizers nachträglich als solche erkennbar wird. Karls ‚blinde‘ Beobachtungen sind höchst genau, nur seine Interpretationen treffen nicht zu. Daher halte ich es für falsch, Karls Beobachtungen als subjektive Verzerrung des Wirklichen zu bezeichnen, wie es Jörgen Kobs getan hat (vgl. J. Kobs, a.a.O., S. 146ff.). Ihre Leistung ist es, an Karls Nichtwissen vorbei ein sehr genaues Bild der Wirklichkeit zu geben, dadurch aber genau jene Perspektive allererst zu liefern, von der aus der Leser meint feststellen zu können, wie es ‚wirklich‘ gewesen sei. Wenn man sich darauf einläßt, diese Wirklichkeit gegen ihre subjektive Verzerrung auszuspielen, verkennt man, welche Funktion Karls sehr genau zutreffende Beobachtungen haben: nämlich Indizien zu liefern. Im zitierten Fall bestätigen sie im Nachhinein aus Karls eigenem Erleben, daß alles wirklich so gewesen ist, wie es der Onkel behauptet. KKAT, S. 486f.
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Gratulationen bekommen wollte – tatsächlich ein zweites Mal Beifall zu zollen. Erneut wird sein Wissen funktionalisiert. Diese Indizienstruktur zeigt, daß die Geschichte nicht als Kette planlos aus einander hervorgehender Einfälle entwickelt ist. Das Ineinandergreifen von Karls Wahrnehmungen und den Erklärungen des Onkels ist sorgfältig vorbereitet worden. Den Wiedererkennungseffekt hätte es nicht geben können, wenn die Bezugspunkte in Karls Wahrnehmung nicht gesetzt worden wären. Beispielsweise wäre das wechselseitige Erkennen nicht verzögert worden, wenn Karl sich schon zu Beginn mit seinem Namen vorgestellt hätte. Offensichtlich war schon zu diesem Zeitpunkt der Entwicklung der Geschichte klar, daß dieser Name noch nicht genannt werden dürfe. Mit einer ausführlichen Arabeske führt die Erzählung daran vorbei: Karl holt seinen Paß hervor, der Oberkassierer weist ihn zurück, Karl meint, genug getan zu haben, und beginnt ohne Vorstellung zu sprechen. Diese Entwicklung geht so scharf daran vorbei, den Namen doch zu nennen, daß es im Nachhinein wie ein haaresbreiter Zufall wirkt, der das Ganze um so wunderbarer erscheinen läßt. Mit der Anerkennung des Onkels durch Karl ist die „große Geschichte“ zu Ende. Sie erzählt letzten Endes nichts anderes als die Geschichte, wie der Onkel in Karls Geschichte hineingerät. Mit dem Brief zieht der Onkel seine eigene Daseinsberechtigung aus der Tasche. Diese Daseinsberechtigung aber ist eben jene Geschichte, die Karl bis nach Amerika gebracht hatte. Die Geschichte, die der Onkel schreibt, wenn er erklärt, woher er seine Informationen bezogen hat, ist die Fortsetzung von Karls Geschichte und führt diese wieder an den Anfang zurück. Der Text inszeniert also nichts anderes als den Vorgang, wie der Kreis sich schließt, indem er die Geschichte, die wir bereits kennen, noch einmal erzählt, aber als durch den Brief des Dienstmädchens an den Onkel vermittelte. Wie ein Möbiusband erzählt die Geschichte sich selbst von vorn. Damit aber schreibt der Onkel sich tatsächlich in Karls Geschichte ein, die jetzt wie natürlich auf ihn zu gelaufen ist. Auf diese Weise wird der Onkel vom Theatertrick zur echten Überraschung. Es scheint unglaublich, wie günstig sich die Zufälle verbunden haben, um dieses Zusammentreffen zu ermöglichen – das heißt aber nicht, daß wir es nicht glaubten. Im Gegenteil: der märchenhafte, reiche Onkel aus Amerika ist für den Leser, der durch die Erzählung des Onkels zum guten Ende geführt wird, beinahe ein wirkliches Wunder geworden. Der ‚coup de théâtre‘ ist naturalisiert worden, ohne dabei etwas von seiner überraschenden Wirkung zu verlieren. In der Art und Weise, wie dies geschieht, liegt der eigentliche ‚coup‘, mit dem die Erzählung den plumpen Trick zum Kunstgriff macht. Der ‚coup de théâtre‘ wird zur Voraussetzung, um dem Onkel einen Auftritt zu schaffen. Damit eröffnet er die Möglichkeit des Erzählens. Erzählt wird, wie der Onkel sich nach und nach als der behauptet, der er mit dem Knalleffekt vom Anfang behauptet hat zu sein. Ohne den Kunstgriff, der aus dem dürren ‚plot‘ eine „große Geschichte“ macht,
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wäre diese Geschichte nicht nur langweilig, es gäbe sie gar nicht. Denn sie würde so erfunden wirken, daß sie als Fiktion nicht mehr funktionieren könnte. 4.2.2.1 Die Rolle des Lesers Ich habe bereits mehrfach darauf hingewiesen, daß die Einbeziehung und Funktionalisierung des Lesers wesentlicher Bestandteil dieser Erzählstrategie ist. Vom Leser wird Kredit eingefordert; deutlicher noch als bei der Verteidigung des Heizers wird ihm die Funktion zugeschrieben, den Zusammenhang des Erzählten zu garantieren. Doch zugleich wird ihm permanent nahegelegt, sich zu distanzieren. Die Rechtfertigung des Onkels, deren Beglaubigung ihm überlassen bleibt, wird im gleichen Zug immer schon konterkariert durch offensichtliche Lücken und Mängel in der Indizienkette. Auf diese Mängel weist Karl nach der Rede des Onkels sogar noch einmal besonders nachdrücklich hin. In der Darstellung des Onkels seien „einige Fehler“ enthalten gewesen, behauptet er, ohne jedoch zu verraten, um was es sich dabei handeln soll.138 Stattdessen begründet er diese Weigerung ebenso wortreich wie zuvor der Onkel sein Schweigen über die Familienverhältnisse. Wozu diese Arabeske? Warum ist in dieser kurzen Passage gleich dreimal von „irren“, „Fehler[n]“ und „unrichtig[er]“ Information die Rede?139 Darauf erscheinen mir zwei Antworten möglich. Zum einen kann dieses Insistieren gerade durch seine Auffälligkeit dazu dienen, die Unstimmigkeiten zu kaschieren, die zuvor aufgetreten sind. Der Leser kann die Leerformeln auf die Fragwürdigkeiten beziehen, die er nicht lösen konnte. Sie versprechen zum einen, daß die „Fehler“ später einmal richtiggestellt werden, zum anderen, daß auch ohne diese Richtigstellung alles in Ordnung ist. Damit würden wir genauso abgespeist wie die Zuhörer, für die es – in Karls Worten – nicht schade ist, wenn sie „in Einzelheiten einer Sache, an der ihnen doch wirklich nicht viel liegen kann, ein wenig unrichtig informiert worden sind“.140 Dem steht entgegen, daß es für Karl keine Lücken in der Motivation gibt; er hatte dem Onkel ja geglaubt. Er kann seine Kritik an „Fehlern“ eigentlich nur auf die Angaben des Onkels wegen der Alimentenzahlung beziehen, die dieser als Grund für Karls Ausweisung anführt.141 Diese Annahme ist nämlich tatsächlich
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KKAT, S. 179. KKAT, S. 179. KKAT, S. 179. „Denn da die Eltern zur Vermeidung der Alimentenzahlung oder sonstigen bis an sie selbst heranreichenden Skandales - ich kenne wie ich betonen muß, weder die dortigen Gesetze noch die sonstigen Verhältnisse der Eltern [...] - da also die Eltern zur Vermeidung der Alimentenzahlung und des Skandales ihren Sohn meinen lieben Neffen nach Amerika haben transportieren lassen...“ (KKAT, S. 176).
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falsch.142 Doch ob Karls Kritik darauf zielt, ist unklar. Daher bleibt die Begründung des Verbannungsurteils – und damit die Schuldfrage – ebenso ungeklärt wie die Namens-Frage. Die drohende Alimentenzahlung wird in diskursiver Akrobatik nicht als Grund in Anspruch genommen, sondern nur als eine scheinbare Möglichkeit aufgeboten, als Platzhalter in der Diskussion um diesen Grund, den Karl ausführlich umgeht. Nicht nur an dieser Stelle sollen die „Fehler“ ganz offensichtlich mit Absicht nicht ausgeräumt werden. Jeder Schritt erzeugt die Verbindung von Fragwürdigkeit und Affirmation aufs neue. Es ist ein Leichtes, die Unstimmigkeiten aufzuzählen, die sich im Laufe des Geschehens ergeben und die fraglich erscheinen lassen, ob auch nur ein Detail dieser Geschichte stimmt. Warum z.B. ist Karl jener Onkel, der ihm im fremden Land äußerst nützlich sein könnte, nicht schon viel früher eingefallen? Zwar versichert Herr Jakob, die Verbindung zur europäischen Familie sei schon seit „den langen Jahren meines amerikanischen Aufenthaltes [...] vollständig abgetrennt“;143 wie hätte Karl also auf diesen verschollenen Onkel rechnen sollen? Um so erstaunlicher ist es, daß das Dienstmädchen auf ihn gerechnet hat, ja daß sie sogar ihr Kind Jakob nannte, „zweifellos in Gedanken an meine Wenigkeit“, wie der Onkel stolz anmerkt (was wiederum nicht stimmen muß, ist doch offenbar die Eitelkeit Vater dieses Gedankens).144 Wie hat das Mädchen überhaupt von diesem Onkel erfahren können, gar von seiner Adresse? Zwar haben die Eltern zwei „Bettelbriefe“ an den Onkel geschickt, die auch ankamen, besaßen also die richtige Adresse. Davon konnten sie allerdings nichts wissen, denn der Onkel hat nie geantwortet. War das oder die Feindseligkeit des Onkels der Grund dafür, daß sie Karl nicht seinem Schutz anempfohlen haben? Wieso konnte dann aber die Bitte des Dienstmädchens Erfolg haben? Man kommt mit diesen Fragen an kein Ende, weil nach jeder Antwort wieder eine neue auftaucht. Dieses Verfahren führt dazu, daß sich Wahrscheinlichkeiten und Unwahrscheinlichkeiten zu einem unzerreißbaren Netz von Vermutungen verschränken. Das komplizierte System der sich gegenseitig stützenden und dementierenden Behauptungen etabliert eine Struktur von ‚checks and balances‘. Sie entwickelt sich mit den Reden und Aktionen der Figuren, die jeweils ineinander greifen und aufeinander aufbauen. So hält sich bis zum Schluß der Verdacht, daß der Senator unter Umständen doch nicht Karls Onkel sein könnte, sondern nur irgendein dubioser amerikanischer Geschäftsmann. Dadurch bekommt der Prozeß des allmählichen Herausbildens einen Zug ins Unheimliche. 142
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Hartmut Binder weist nach, daß in der damaligen Gesetzgebung keine Alimentenzahlung seitens der Eltern von Vätern unehelicher Kinder vorgesehen war, daß die Annahme des Onkels also falsch sei, da Karls Eltern gar nichts zu befürchten gehabt hätten, und wundert sich, daß der Jurist Kafka dies nicht gewußt haben sollte (H. Binder, Kafka-Kommentar, a.a.O., S. 96). KKAT, S. 174. KKAT, S. 176.
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Hinter der Geschichte liegt etwas nicht zu Fassendes, Unbekanntes, das bei der nächsten Biegung des Weges vielleicht noch einmal alles in anderem Licht erscheinen lassen könnte. Zugleich wird die Suche nach einer Lösung, einem eindeutigen Beweis um so spannender, je stärker die Rechtfertigung des Onkels mit dem Eindruck streitet, daß nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sein könne. Diese Analyse-Ergebnisse zeigen, daß der improvisiert wirkenden Erzählentwicklung ein Kalkül zugrunde liegt. Die Unstimmigkeiten sind keine Folgen einer unüberlegten, spontan improvisierenden Niederschrift. Anders als die Wandlung des Staatsrates zum Senator oder des Dienstmädchens zur Köchin im Verlauf des Manuskripts, haben die „Fehler“ eine erzähllogische Funktion. Die Informationen, die wir bruchstückhaft bekommen, reichen nicht aus, um daraus ein lückenloses Bild des Geschehens zusammenzusetzen, aber auch nicht zu einem Beweis des Gegenteils. Sie reichen gerade aus, um die Vermutung eines Hintergrundes herzustellen. Dabei wird sorgsam vermieden, daß sich eine Instanz (etwa der Erzähler) für einen solchen Hintergrund verbürgt. Dadurch wird eine festgefügte Fiktionswelt zugleich gegeben und verweigert. Man hat ständig das Gefühl, zu etwas Wirklicherem vorstoßen zu können und zu müssen, um zu entdecken, wie sich alles eigentlich verhält; man hat das Bedürfnis, Fragen zu stellen, den Brief lesen zu können, um sich selbst zu überzeugen, daß ihn das Dienstmädchen geschrieben hat, den Paß des Onkels sehen zu dürfen, um zu überprüfen, wie er wirklich heißt und wo er geboren ist. Der Verdacht hört nicht auf, daß Karl vielleicht doch gerade übertölpelt wird, daß hier etwas nicht stimmt, daß etwas nicht nur über Karls, sondern auch über unseren Kopf hinweg geschieht. Die „Fehler“ sind die Voraussetzung für das Begehren nach Aufklärung, nach einem festen Punkt am Ursprung der Verwirrung. Diese Konstruktion garantiert die Spannung, die Karls Geschichte weitertreibt und den Leser in jedem Moment an ihr teilnehmen läßt. Doch selbst, wer nicht so mißtrauisch liest, ist hier nicht auf sicherem Posten. Was die Erzählung ihm präsentiert, kann er nicht überschauen, denn der Text suggeriert ständig mehr als das, was tatsächlich zu sehen ist. Es scheint einen Hintergrund zu geben, über den nur die Eingeweihten etwas wissen (der etwa den unbekannten Familienstreit und den Text des Dienstmädchenbriefes enthält). Da der Leser immer weniger weiß als die Figuren, ist er in einer ähnlichen Lage wie Karl, dem die Hälfte der Information fehlt – nur weiß er sogar noch weniger als Karl. Der Leser ist der dargestellten Wirklichkeit gegenüber in Verspätung, kann sie nur unvollkommen wahrnehmen, ist ihr nicht – wie Leser sonst sein dürfen – überlegen, sondern unterlegen. Diese Hintergründigkeit ist ein Effekt, den der Leser selbst aus den Leerstellen herstellt, weil er um der Plausibilität der Geschichte willen dazu gezwungen wird. Es wird uns also nicht nur die Position des Überblicks, sondern auch die Position des Unbeteiligten verwehrt. Der Leser nimmt auf eine Weise am
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Geschehen Anteil, die ihn selbst zu einer Funktion des Geschehens werden läßt, weil er es interpretierend allererst herstellt. Er wird sowohl dazu gezwungen, sich die Geschichte projizierend zu erfinden, als auch dazu, sie erst im Nachhinein zusammenzusetzen. Die Struktur der ‚vorauseilenden Nachträglichkeit‘ bestimmt sowohl den Geschehensaufbau als auch den Kommunikationsprozeß zwischen Text und Leser. Die Geschichte spielt sich für uns und unter unserer Mitwirkung ab, die Handlung entsteht jetzt, während wir lesend dabei sind. Dieser Prozeß läßt uns keine Zeit, noch einmal nachzufragen, wie alles eigentlich gekommen ist. Der Text, den wir lesen, ist wie ein Regiebuch verfaßt, das unsere Lektüre als einen gelenkten Imaginationsprozeß strukturiert – oder metaphorischer: als einen Traum, den wir im Lesen träumen. 4.2.2.2 Sprachreflexion in der Rede des Onkels Die Bedeutung der Rede für die Entwicklung dieser Erzählung ist eminent. Die Entdeckung und Beglaubigung des Onkels geschieht nur vermittelt über sein Wort und Karls Kommentar dazu, durch die Inszenierung der Rede. Mit dieser Rede bietet der Onkel das Gegenstück zum Versagen des Heizers. Er zeigt wirkungsvolle Rhetorik, denn seiner Rede gelingt es, sich selbst zu behaupten. Immer wieder verweist diese Rede auf sich selbst. Es ist eine Manie des Onkels, ständig die eigenen Formulierungen zu reflektieren. Mit rhetorischfloskelhafter Emphase erklärt er: „das Wort Aufenthalt paßt hier allerdings schlecht für den amerikanischen Bürger der ich mit ganzer Seele bin“, stellt ein „offenes Wort“ in Aussicht, bezeichnet ein anderes Mal seine Formulierung „beiseitegeschafft“ als „das Wort, das die Sache auch wirklich bezeichnet“, denn er wolle „durchaus nicht beschönigen“.145 Am stolzesten ist er auf das Wort „verführt“, in dem er Karls Vorgeschichte zusammenfaßt („er wurde nämlich von einem Dienstmädchen Johanna Brummer, einer etwa 35jährigen Person verführt“).146 Nachdrücklich weist er darauf hin, daß dieses Wort „die Sache auch wirklich bezeichnet“: „Ich will mit dem Worte verführt meinen Neffen durchaus nicht kränken, aber es ist doch schwer, ein anderes gleich passendes Wort zu finden.“147 Der Onkel betont in diesen Einschüben die Angemessenheit und das Treffende seiner Formulierungen. Damit wird die Wahrheit der Rede behauptet bzw. ihre Leistung, ein zutreffendes Bild der Sache zu vermitteln. Wieder einmal 145 146 147
KKAT, S. 174. KKAT, S. 175. KKAT, S. 175. Eine weitere Wiederholung hat Kafka später wieder gestrichen: „...ein Kind bekommen, einen gesunden Jungen, - [womit ich] mit welcher Erwähnung ich meinen Neffen für das Wort verführt entschädigen möchte...“ (Vgl. KKAT, Apparatband, S. 224, Eintrag zu S. 176).
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tritt dabei die Rhetorik an die Stelle des Beweises – denn warum z.B. das Wort ‚verführt‘ so zutreffend sein soll, wird nicht begründet. Die Rede handelt also genau entgegen ihrem Anspruch. Statt die Adäquation von Wort und Ding zu erweisen, also ein Verhältnis ‚wirklichen Bezeichnens‘ herzustellen, wird dies als Leistung der Rede nur behauptet. Mit der Rede des Onkels kommt das Drama der Rede an sein Ende, das mit der Verteidigung des Heizers begonnen hatte. Alles kam hier, wie Karl dem Heizer eingeschärft hatte, auf die „richtige Darstellung“ an. Umkämpft war in der Verteidigung des Heizers das zutreffende Bild von der Sache; der Kampf entstand zwischen dem falschen Anschein, den Schubal verbreitete, und der Wahrheit im Inneren des Heizers, die unaussprechbar blieb. Diese Sprachreflexion führt die Rede des Onkels weiter. Die Diskussion um die „Worte, die auch wirklich bezeichnen“, wird dabei immer auch auf der Ebene der Sprache geführt, aus der die Geschichte geformt ist. Ich habe oben gezeigt, wie die Worte, die die angeblich unzureichenden Worte des Heizers beschreiben, ein Bild der Sache geben, indem sie ein „trauriges Durcheinanderstrudeln“ als gestischen Vorgang vorführen. Die Sprache, die dem Leser die Sprachkrise des Heizers vermittelt, ist also sehr wohl in der Lage, darzustellen. Ihr Verhältnis zur ‚Sache‘ und zur ‚Wahrheit‘ allerdings ist kompliziert. Denn was sie darstellt, ist nicht die Wahrheit über das Unrecht, das dem Heizer widerfahren ist. Sie zeigt nicht, wie die ‚Sache‘, um die hier gekämpft wird, sich in Wirklichkeit verhält. Unterdessen bringt die von Karl gelesene Körpersprache des Heizers – im Gegensatz zu seinen ungehörten Worten – sehr deutlich zur Sprache, wie es im Inneren des Heizers aussieht. Verzweiflung, verletzte Ehre und äußerste Not liest Karl aus Mimik und Gestik des Heizers ab. Auch dies ist allerdings nicht die ‚Sache‘, sondern nur ihr Widerschein, das Gefühl, Unrecht zu erleiden. Das Unrecht selbst bleibt namenlos und ohne Darstellung. Als Gegenbild zu dieser Sprache des Inneren und des Gefühls steht die Worte über Worte häufende Rede des Onkels, in der leere Worte sich selbst behaupten, indem sie „nichts Eigentliches“ sagen, während sie pausenlos vorgeben, es zu tun. Dennoch ist diese Rede mehr als leerer rhetorischer Bombast. Es ist eine durchaus interessante Aussage, daß der Onkel das Wort „verführt“ für das einzig angemessene hält, um Karls Vorgeschichte zu bezeichnen, denn damit entscheidet er sich für eine Version der Geschichte. Doch woher sollte er wissen, ob sie zutrifft, d.h. ob tatsächlich das Dienstmädchen Karl verführt hat und nicht umgekehrt? Selbst wenn das Dienstmädchen darüber etwas geschrieben haben sollte, kann Edward Jakob nicht wissen, ob es wahr ist. Es ist aber wahr. Es stimmt – das wissen wir, die Leser, weil der Erzähler genau jenes Wort „verführt“ gebraucht hat, um im ersten Satz Karls Vorgeschichte zusammenzufassen, und zwar in derselben Formulierung, die der Onkel später benutzt. Dadurch wird die Wahrheit von Edward Jakobs Aussagen beglaubigt, denn sie stimmen mit der Version überein,
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die wir schon kennen. Das aber heißt: das Wissen, das der Onkel zu haben behauptet, haben in Wirklichkeit wir. Wir leihen der Aussage des Onkels unser Wissen und haben ihn im gleichen Schritt als denjenigen beglaubigt, der wirklich alles weiß. Nach wie vor bleibt jedoch unklar, von wem das Wort „verführt“ und die Wertung stammen, die es transportiert, ob von Karl oder vom Erzähler. Dieser Umstand kompliziert das Beglaubigungs-Verhältnis zusätzlich. Auch wir wissen nicht, warum hier von „verführt“ die Rede sein muß, wir wissen nur, daß die „Sache“ so bezeichnet worden ist. Von dem, was wirklich vorgefallen ist, haben wir keine Kenntnis. Das Wort „verführt“ leistet also nicht die wirkliche Bezeichnung der Sache, die der Onkel behauptet. Es fungiert als verabredetes Codewort, als Schibboleth, das zum ersten Satz paßt. Dieser Trick ist ein sprachliches Verfahren, das man nicht mehr der rhetorischen Kunst des Onkels zurechnen kann. Die Korrespondenz und der sich daraus ergebende Beglaubigungseffekt ist das Werk des Autors. Er hat dem Onkel sozusagen ‚Täterwissen‘ verliehen, so daß sich die Versionen von Karls Vorgeschichte gegenseitig stützen. Wie im Kriminalroman ergibt sich aus dieser von zwei Instanzen unabhängig voneinander gemachten Aussage ein Beweis – und wie im Krimi kann es eine Täuschung sein, wenn ein Indiz, dessen Vorhandensein an und für sich unstrittig ist, ein anderes zweifellos erscheinen läßt. Dieses indirekte Verfahren ist typisch für Kafkas Texte. Den Rückgriff auf etwas, das erst durch diesen Rückgriff zur Basis eines Beweises wird, habe ich immer wieder beschrieben. Am zitierten Beispiel wird besonders deutlich, daß es dabei um eine Korrespondenzbeziehung zwischen Worten geht. Der Satz des Onkels transportiert eine Perspektive und Position gegenüber Karls Vorgeschichte, wie sie bereits der erste Satz formuliert hatte: die Perspektive der Schuldfrage. Indem das Wort „verführt“ den Grund für Karls Verbannung bildet, läßt es den eigentlich Unschuldigen zugleich schuldhaft und unmännlich erscheinen. So enthält das Wort bereits ein Urteil, ohne daß gesagt würde, wer spricht und auf welcher Grundlage das Urteil ergeht. Der Onkel bringt dieses Urteil ins Spiel, schließt sich ihm aber nicht an. Karls Verschulden sei „von der Art daß dessen einfaches Nennen schon genug Entschuldigung enthält“, erklärt er.148 In der Tat ist mit einem „einfachen Nennen“ jenes Wortes „verführt“ schon sehr viel über „Verschulden“ und „Entschuldigung“ gesagt, nämlich daß sich der Sachverhalt dazwischen durchaus nicht einfach benennen läßt. Über das, was geschehen ist, sagt der Onkel „nichts Eigentliches“; die Fragen, die das Wort „verführt“ aufwirft, beantwortet seine Rede nicht (die einzige neue Information ist das Alter des Dienstmädchens). Das, was wirklich geschehen ist, bleibt nach wie vor eine Leerstelle. Es geht also um die Produktion einer Aussage, ohne dabei etwas über einen festlegbaren Hintergrund zu sagen, es 148
KKAT, S. 174, Hervorh. v. mir.
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geht darum, performativ – nämlich durch die Bestätigung zweier Äußerungen – zu behaupten, daß Karl verführt worden sei – eine Aussage, mit der man vieles und zugleich wenig anfangen kann, die sehr viel sagt und zugleich „nichts Eigentliches“ erfahren läßt. Dieses Verhältnis von Verschwiegenem und Vielsagendem ist der Sprachkunst ähnlich, die ich bei der Verteidigung des Heizers analysiert habe. Hier gibt es keine einfachen Oppositionen zwischen leerer Rhetorik und wahrem Sprechen. Dieses Sprechen ist eine Funktion der Schreibweise, die die Festlegung der eindeutigen, bezeichnenden Aussage vermeidet und trotzdem immer schon etwas behauptet – allerdings so, daß es kaum zu greifen ist. Dieses Ungreifbare macht die Geschichte aus. Die Aussage des Onkels über Karls Schuld und Entschuldigung, begleitet von der Peinlichkeit, die das Thema hervorruft, Karls Angst vor der drohenden Lächerlichkeit, die dann doch abgewendet wird, ja sogar in Achtung umschlägt – alle diese Vorgänge lassen die Beschäftigung mit dem Verbannungsurteil überhaupt spannend werden, ja allererst als spannungs- und konfliktvoll entstehen. Wäre die Frage schon beantwortet, worin Karls Schuld besteht, bzw. was sich hinter dem Wort „verführt“ verbirgt, könnten wir uns selbst ein Urteil bilden und wären schnell damit fertig. Es ist also offensichtlich nicht nur Karl, sondern der Text selbst, der jenes Geheimnis darum, was wirklich passiert ist, so lange wie möglich verschweigen will. Aus dem Anfangssatz wird ganz bewußt „ein besonderes Geheimnis“ gemacht, um „eine große Geschichte“ daraus machen zu können.149 Die Korrelation von Erzählen und Verschweigen verläuft überkreuz. Während der Leser sich schon von Anfang an eingeweiht wissen darf, erfahren die Figuren Karls Verbannungsgrund erst jetzt. Dieser Verbannungsgrund aber enthält seinerseits noch ein Geheimnis, nämlich die Aufklärung darüber, was überhaupt passiert ist. Dieses Geheimnis nun erfährt im nächsten Schritt wiederum allein der Leser, da er Karls Gedanken lesen kann. Wie als Reaktion auf die Veröffentlichung seiner Schmach durch den Onkel öffnet Karl in Gedanken nun seine Erinnerungen an jene „im Gedränge einer immer mehr zurückgestoßenen Vergangenheit“ verborgene Geschichte.150 Damit wird das letzte Geheimnis gelüftet, das in jenem ersten Satz steckte, und die Antwort auf die allererste Frage gegeben, die dieser Satz stellte.
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„besonderes Geheimnis“: Karl hatte dem Heizer gegenüber den Grund für seine Verschiffung nach Amerika verschwiegen; diese Diskretion hat sich mit der Rede des Onkels erübrigt, was der Heizer mit einem Lächeln kommentiert, „was [...] entschuldbar war, da ja Karl in der Kabine aus dieser Sache, die jetzt so publik wurde, ein besonderes Geheimnis hatte machen wollen.“ (KKAT, S. 175). KKAT, S. 177.
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4.2.3 „Ein besonderes Geheimnis“: Karls Geschichte und ihre Vorgeschichte Mit der Rückwendung auf Karls Vorgeschichte knüpft die Erzählung an jenes Ereignis wieder an, das Karls Reise über den Ozean in Gang gesetzt und ihr die Fluchtrichtung gegeben hatte: die Szene im Bett des Dienstmädchens. Aus ihr geht alles Erzählte und alles Erzählen hervor. Nachdem der Onkel aus diesem Anfang seine Geschichte entwickelt hat, indem er die Vorgeschichte wieder in die Haupt-Geschichte hineinbrachte, ergibt sich die weitere Fortsetzung aus der Verlängerung der Vorgeschichte in Karls Bericht über die Verführungsszene. Karls Erzählung über das Ereignis, aus dem er „ein besonderes Geheimnis hatte machen wollen“, verspricht endlich Klärung über das „Eigentliche“. Was ist wirklich passiert? Die Antwort darauf bringt die Auseinandersetzung um die Sprache und um das Verhältnis von Verschweigen und Reden auf ihren Höhepunkt, denn jetzt wird verhandelt, ob das Wort „verführt“ wirklich zutrifft. Karls Bericht von jenem entscheidenden Vorgang im Bett des Dienstmädchens läßt Zweifel daran aufkommen, daß das Wort „verführt“ „die Sache auch wirklich bezeichnet“. Die Szene, die Karl schildert, ist wohl nicht „wirklich“ als Verführungsszene zu „bezeichnen“. Zwar wird deutlich, daß die erotische Initiative tatsächlich von dem Dienstmädchen ausging. Doch das Folgende erscheint weniger als Verführung denn als Vergewaltigung. Karl schildert eine Szene, die zwischen der Erfahrung von sexueller Gewalt und mütterlicher Zärtlichkeit oszilliert. Die Kunst der sprachlichen „Darstellung“ dieser Szene fügt noch eine weitere Drehung in die Frage nach dem Verhältnis von ‚Sache‘ und ‚Darstellung‘ ein. Geschildert wird der Geschlechtsverkehr zwischen Karl und dem Dienstmädchen. Doch wüßte man nicht, daß daraus ein Kind hervorgegangen ist, würde man dies vielleicht kaum für eine sexuelle Szene halten. Die ‚Sache‘ wird nämlich gleichzeitig geschildert und nicht dargestellt. Der Erzähler beschreibt zwar genau, was sich abspielt – aber er sieht das Geschehen mit Karls Augen wie ein unschuldiges Kind, das keine Ahnung davon hat, daß die Handlungen des Dienstmädchens eine sexuelle Bedeutung haben. Dann legte sie sich auch zu ihm [...], drückte ihren nackten Bauch an seinen Leib, suchte mit der Hand, so widerlich daß Karl Kopf und Hals aus den Kissen heraus schüttelte, zwischen seinen Beinen, stieß dann den Bauch einigemale gegen ihn, ihm war als sei sie ein Teil seiner selbst und vielleicht aus diesem Grund hatte ihn eine entsetzliche Hilfsbedürftigkeit ergriffen.151
Obwohl Karl alles registriert, bleibt seine Wahrnehmung blind, weil er nicht deuten kann, was ihm geschieht. Im Gegensatz dazu sind die Gefühle, die das Geschehen in ihm auslöst, sehr deutlich bezeichnet: Ekel und Entsetzen, das Gefühl zu ersticken, Ohnmacht, Selbstverlust, Hilflosigkeit. Groteskerweise 151
KKAT, S. 178f.
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bleiben in Karls Darstellung dieser Szene die mütterlichen Gesten des Dienstmädchens mit ihren zärtlichen Intentionen durch seinen Widerwillen hindurch sichtbar: „Würgend umarmte sie seinen Hals und während sie ihn bat sie zu entkleiden, entkleidete sie in Wirklichkeit ihn und legte ihn in ihr Bett, als wolle sie ihn von jetzt niemandem mehr lassen und ihn streicheln und pflegen bis zum Ende der Welt.“152 Wie schon im Falle der Schiffskapelle, geht Karls Sicht der Dinge über sein subjektives Empfinden hinaus und spiegelt in „wie...“ und „als ob“-Vermutungen andere Blickweisen auf das Geschehen in die Beschreibung hinein. In der Frage, ob es sich hier um eine Verführungsszene handelt, kann man verschiedener Meinung sein. Winfried Menninghaus, der die Szene im Bett des Dienstmädchens im Kontext seiner Studie über den Ekel als Beispiel für „ekelhafte Sexualität in Kafkas Romanen“ anführt, beschreibt sie als Vergewaltigung. Er stellt jedoch die These auf, daß diese „durchaus positiv und libidinös besetzt“ sei; das Opfer Karl nehme in dieser und den folgenden Szenen „per definitionem die Rolle einer (perversen) Lust“ ein.153 Vor dem Hintergrund dieser These sieht Menninghaus eine besondere Pointe in der „unwissend-verkennende[n] Darstellung“. Die Unschuld Karls, die sich in der Beschreibung spiegelt, bezeichnet Menninghaus als Strategie des Betrugs: „Um sich von der Köchin auf ihr Zimmer führen, dort einsperren und ins Bett legen [zu] lassen und gleichwohl die Rolle kindlicher Unschuld weiterspielen zu können, muß Karl eine Perspektive völliger Unwissenheit insinuieren, die jedes Detail systematisch mißversteht, dem Leser aber zugleich eine andere Übersetzung des Geschehens erlaubt. Verliebte Gebärden werden zu Grimassen, Umarmungen zu Bewegungen des Würgens und Schüttelns, das Anbieten der weiblichen Brust zu einer Übung des ‚Abhorchens‘ nach dem Muster kindlicher Arzt-Spiele, die Stimulation des männlichen Glieds zu einem ‚widerlichen Suchen‘ zwischen den Beinen. Selbst die sexuelle Vereinigung scheint Karl entgangen zu sein [...]. Was diese Beschreibung auszeichnet, ist nicht männlicher Ekel vor der sexuell aktiven Frau: alles ‚Widerliche‘ erscheint vielmehr allein grotesk, ja lächerlich [...]. Nicht das Ekelhafte, sondern die Simulation vollendeter männlicher Unwissenheit [...] macht diese Darstellung zu einer artistischen Höchstleistung.“154 – Den Verdacht, den Menninghaus Karls Unschuld gegenüber äußert – Karl „insinuiere“, die Szene sei eine „Simulation“ –, belegt er nicht am Text. Allerdings läßt sich diese Lesart aus der Schlitzohrigkeit herleiten, mit der im Text eine SchlüssellochPerspektive für den nicht ganz so unschuldigen Leser angeboten wird. Aber ist nicht auch gegenüber dieser zweiten, wissenden Lesart ein Verdacht angebracht? Mit einem doppelten Blick, der durch Karls unwissende Augen hindurch und 152 153
154
KKAT, S. 178. Winfried Menninghaus: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt/M. 1999, S. 379 u. 385. W. Menninghaus, a.a.O., S. 382 f.
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zugleich über seinen Kopf hinweg geht, spielt die Erzählerrede nicht nur an dieser Stelle. Aus den bisher analysierten Szenen läßt sich lernen, daß hier zwischen ‚wirklicher‘ und ‚scheinbarer‘ – oder vorgetäuschter – Unschuld nicht einfach zu entscheiden ist. Gerade mit dem wissenden Schlüsselloch-Blick wird der Leser vielmehr in das Spiel um Verführung und Unschuld hineingezogen; er wird durch sein wissendes Sehen gleichsam mitschuldig an dem schmutzigen Geheimnis, das Karl so unschuldsvoll erzählt. Was also ist ‚wirklich‘ geschehen, und wie wird es dargestellt? Deutlich wird an Karls Darstellung nur eines: er ist so unschuldig verführt worden, daß es scheint, als wüßte er nicht, was das Wort ‚verführt‘ eigentlich bedeuten soll. Das Wort hat angesichts dieser Darstellung seinen Sinn verloren. Es steht also sehr in Frage, ob es die Sache „eigentlich bezeichnet“, wie es der Onkel behauptet hatte. Oder vielmehr, es steht in Frage, ob diese Suche nach der eigentlichen Bezeichnung einen Sinn hat, ob die Bezeichnung etwas aussagt. Das heißt: ob sie die Schuldfrage entscheiden hilft, die der Diskussion um das Wort „verführt“ implizit zugrunde liegt, und damit das Verbannungsurteil erklären kann. Wir wissen zwar jetzt, was geschehen ist, aber auch das hilft bei der Klärung dieser Frage nicht weiter. Daß es hier eine Schuld oder eine Verfehlung gegeben hat, die den Grund für die Verurteilung Karls abgeben könnte, scheint zumindest zweifelhaft. Allerdings ist auch Karls Unschuld nach dieser Geschichte nicht mehr ganz zweifellos. Ein einfaches Urteil kann man sich in dieser Sache also nicht erlauben. Sie ist und bleibt ein Skandalon, der peinliche und empfindliche Punkt, der das Zentrum der Geschichte bildet. Eigentliches Bezeichnen ist hier ebenso wenig möglich wie das Benennen jenes Knäuels aus Scham und verletzter Ehre, das den Heizer zu der Überzeugung bringt, ihm sei Unrecht widerfahren. Dieses Unrecht ist nicht justitiabel, genauso wie das Urteil, das Karl verbannt, auf nichts Faßbarem beruht, sondern eher einen Versuch darstellt, dieses ganze unentwirrbare Knäuel loszuwerden, es sich vom Hals zu schaffen, „wie man eine Katze vor die Tür wirft, wenn sie ärgert“ – wie der Onkel meint –, es so weit weg wie möglich zu verbannen.155 Möglicherweise ist dies schon der ganze Sinn des rätselhaften Verbannungsurteils; vielleicht hat es gar keinen Sinn, sondern allein die Funktion, eine Reise in Gang zu setzen, deren Impuls einfach nur weg führen soll. Zugleich ist es immer schon eine Fußangel. In der Hand des Onkels wird Karls Vorgeschichte zum Grund dafür, daß er ihren Verwicklungen nicht entkommen kann. Karl darf nicht neu anfangen, er muß immer wieder hineingezogen werden in etwas, das die anderen um ihn herumstricken, obwohl alles ganz anders war und er nichts dafür konnte. Mit der Figur des Onkels schließt sich ein Kreis. Karl hat erneut die Freiheit verloren zu handeln; Herr Jakob wird zum Motor der Eile, die Karl nicht eine Sekunde freigelassen hat. Durch den Onkel, der mit der Rettung seines 155
KKAT, S. 174.
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Neffen aus einer hoffnungslosen Situation Macht über ihn gewonnen hat und von nun an Vaterstelle an ihm vertreten wird, gelangt Karl auf der Schwelle zum Übergang in das Land der grenzenlosen Freiheit wieder in den Griff der Familienmacht. Unmittelbar vor der „Küste eines unbekannten Erdteils“,156 unmittelbar bevor er Familien, Vätern, Vorschriften hätte entkommen können, gerade als er zum ersten Mal selbständig handeln wollte, ist Karl eingefangen worden. Mit Hilfe eines Steckbriefs identifiziert, durch seinen eigenen Namen festgesetzt, gibt es für ihn keine Möglichkeit mehr, jemand anderer als der Neffe seines Onkels zu sein. Karl sitzt, von diesem Ende her gesehen, schon von Beginn an in der Falle, weil dieser Beginn ihn nicht entkommen läßt, und weil jeder neue Schritt ihn noch weiter in die Falle hineinzwingt. Umgekehrt heißt das: Einmal freigelassen, wäre die Geschichte auch schon zu Ende, denn sie würde ins Leere führen. Wie aus dieser Leere ein produktives Prinzip werden kann, ist die neue Entdeckung des Heizers. Weil die Leerstelle sich immer wieder entzieht, weil es dem Heizer nicht gelingt, seine Anklage zu formulieren, weil der Grund für Karls Verbannung nicht gefunden werden wird und auch nicht gefunden werden kann, entsteht die Geschichte. Sie entsteht als Produkt des Kampfes um die wirkungsvolle Rede, indem sie von diesem dramatischen Kampf erzählt und ihn dabei inszeniert.
5. Schluß „Nur Träume kein Schlaf“157
5.1 Das Meer als poetologische Metapher Die im Vorigen vorgestellten Überlegungen zur Sprachreflexion im Heizer kreisen um das Verhältnis der Rede zu etwas Unsagbarem. Definitionsgemäß kann dieses Unsagbare nie zur Sprache kommen. Zugleich aber entsteht es erst aus dem Gesagten, mit jedem Satz aufs Neue. Während diese Sätze, oberflächlich betrachtet, in einfachen Feststellungen die Geschichte Karl Roßmanns erzählen, wird über kaum greifbare Andeutungen die Ahnung eines ebenso undeutlichen wie unheimlichen Hintergrundes vermittelt. Was ist der Sinn dieses Verfahrens? Diese Frage habe ich bisher in funktionaler und wirkungsästhetischer Hinsicht beantwortet. In dieser Perspektive dient die Eigenart der Schreibweise der Erzeugung einer alptraumhaften Dynamik und ermöglicht die imaginative Übertragung dieses Prozesses auf den 156 157
KKAT, S. 471. Tagebucheintrag vom 21.7. 1913, KKAT, S. 567.
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Leser. Die Frage nach der Interpretation, also nach einem als Deutung verstandenen Sinn des Verfahrens, habe ich bisher nicht gestellt, denn sie erscheint mir wenig ergiebig. Die Gründe dafür sollen abschließend skizziert werden. Es fehlt im Text nicht an Hinweisen darauf, daß die Erzählung auch in anderem Sinne gelesen werden könnte, als bloß als die Geschichte, wie Karl Roßmann seinen Koffer sucht und seinen Onkel findet. Immer wieder ergeben sich metaphorische Konstellationen von Oben und Unten, von Verborgenem und Offenbarem. Dieses Verhältnis bestimmt den Weg des Helden von Anfang an: Karl steigt vom obersten Deck des Schiffes in dessen tiefste Gänge hinab, um von dort seine Geschichte zutage zu fördern. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, um den Bauch des Schiffes als den Raum des Verborgenen und Verdrängten zu interpretieren. Und in der Tat rührt die Erzählung von Karls Weg durch das Schiff an Dinge, die wie der Heizer in seiner düsteren Kabine ganz unten versteckt und vergessen sind.158 Dunkle Keller und Küchen, Betten und dubiose sexuelle Avancen begegnen dem Helden an jeder Station seines Weges. In ähnlichem Sinne ließe sich auch das zentrale Bildfeld des Heizers deuten: das Wasser. Bilder von Meer und Wasser begleiten Karls Geschichte von Anfang bis Ende und scheinen ihren Verlauf zu kommentieren, während umgekehrt Karl seine Gedanken im Blick auf das Wasser spiegelt, etwa wenn er in abgelenkten Augenblicken aus dem Fenster schaut. In einem dieser Momente veranlaßt ihn der Anblick des Geschehens im New Yorker Hafen zu der Sentenz: „Eine Bewegung ohne Ende, eine Unruhe übertragen von dem unruhigen Element auf die hilflosen Menschen und ihre Werke.“159 Dieser Satz scheint dazu aufzufordern, den Blick auf das Meer in einen anderen Sinn zu „übertragen“. Man könnte die Fluten etwa als Metapher für jene Kräfte lesen, von denen die „Menschen und ihre Werke“ in dieser Erzählung bewegt werden und denen gegenüber sie machtlos sind. Der Schiffsboden ruht ja auf ähnlich schwankendem Grund wie Karls Bewußtsein, das der ständigen Ablenkung durch neue Wünsche ausgeliefert ist und immer wieder ins Träumen gerät. Eine solche Lesart läßt sich allerdings am Text kaum belegen. Zwar bestehen Verbindungen zwischen den einzelnen Meeresansichten, die sich Karls Blicken bieten, und auch zu dem Wasser-Bild, mit dem das „Durcheinanderstrudeln“ der hoffnungslosen Klagen des Heizers beschrieben wird; schließlich zu dem Bild, mit dem die Erzählung endet: dem Blick des Onkels über die Wellen hin, „von denen ihr Boot
158
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„Die Bahn seiner Verirrung wird durch eine Serie von Phänomenen markiert, die allesamt den Attributen des Ausgestoßenen, Ekelhaften und Schmutzigen zugehören“, schreibt Winfried Menninghaus (a.a.O., S. 379). Vgl. auch die weitere Analyse dieser Laufbahn als „Serie abjekter Phänomene“ (ebd., S. 381). KKAT, S. 483f. - Durch die zwischen subjektiven und objektiven Sichtweisen changierende Erzählerrede ist nicht eindeutig festzulegen, um wessen Kommentar es sich bei diesem Satz handelt; es scheint mir aber schlüssig, ihn als indirekte Wiedergabe von Karls Gedanken zu lesen.
Schluß
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umschwankt wurde“.160 Durch diese Verbindungen wird das Bildfeld Wasser/Meer metaphorisch aufgeladen. Doch die Bedeutung dieser WasserMetapher bleibt dabei ebenso unfaßbar wie das Wasser selbst. In der assoziativen Erweiterung verweist die Bildlichkeit auf sich selbst zurück und scheint sich darin zu erschöpfen. Das Bild des Meeres faßt die Sinndimensionen verschiedener Schichten der Erzählung zusammen, ohne sie zu einer faßbaren Aussage zu bündeln: ein Inbild jenes flüssigen „Durcheinanderstrudelns aller insgesamt“, das der Geschichte zugrundeliegt und sich nicht in Worte fassen läßt.161 Diese unauflösliche Verweisstruktur könnte man allerdings wiederum metaphorisch lesen. Im Kontext meiner Analyse könnte das Meer-Bild durchaus als Umschreibung von Kafkas Schreibweise dienen. Ich habe gezeigt, wie reich seine Sprache an Assoziationen ist, an nur Mitschwingendem, nebenbei Angedeutetem. Sie ist in diesem Sinne wie das Wasser nicht festlegbar, weil sie aus überkreuzten Strömen von Andeutungen besteht, deren Textur nicht vollständig auflösbar und übersetzbar sein kann. Die „imaginative Schreibart“ inszeniert in der phantasierenden Entwicklung dieser Gedankenwege textuelle Prozesse, die den träumenden Assoziationsbewegungen nahekommen. Das Flüssige des Wassers wird in einer solchen Lesart zur poetologischen Metapher, die die Traumähnlichkeit des Textes umschreibt. Nicht umsonst heißt es ja vom Traum, er zerrinne nach dem Aufwachen, wie Wasser zwischen den Fingern zerrinnt. Ganz ähnlich verläuft sich auch Karls Geschichte. Unmittelbar nachdem er mit seinem Onkel ein Boot bestiegen hat, das sie an Land bringen soll, ist der Heizer bereits nicht mehr zu sehen; der Erzähler konstatiert: „Es war wirklich als gebe es keinen Heizer mehr“.162 Wie die Spur des Kielwassers, die ein Schiff hinter sich zurückläßt, hat sich die unmittelbar vorausgegangene Geschichte bereits aufgelöst. Auch diese poetologische Lesart läßt eine gewisse Ratlosigkeit zurück, denn die Erörterung kommt erneut beim Unsagbaren an, ohne mehr darüber aussagen zu können als zu Beginn. Ein Blick auf die Kafka-Rezeption zeigt, daß diese Figur Methode hat. In vielen verschiedenen Kontexten ist das Bild des Wassers zur Kennzeichnung von Kafkas Schreiben in Anspruch genommen worden. So beschreibt etwa Max Brod Kafkas Sprachkunst: „Nehmt beispielsweise seine Sprache! Seine Sprache ist kristallklar, und an der Oberfläche merkt man gleichsam kein anderes Bestreben, als richtig, deutlich, dem Gegenstand angemessen zu sein. Und doch ziehen Träume, Visionen von unermeßlicher Tiefe unter dem heiteren Spiegel dieses reinen Sprachbaches. Man blickt hinein und ist gebannt von Schönheit und Eigenart.“163 Die Spannungen zwischen Oberfläche und Tiefe, 160 161 162 163
KKAT, S. 189. KKAT, S. 484. KKAT, S. 189. Nicht nachgewiesenes Zitat von Max Brod auf dem Rückumschlag von Franz Kafka: Erzählungen und andere ausgewählte Prosa, hrsg. v. Roger Hermes, Frankfurt/M. 1996.
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die Gleichzeitigkeit von Durchsichtigkeit und Dunkel, schließlich die Position des Lesers als desjenigen, der in diesen See oder Zauberspiegel hineinblickt, finden sich immer wieder in den Bildern, mit denen Kafkas Leser und Interpreten die Besonderheit seiner Texte beschrieben haben. An die Logik dieses Bildes lassen sich viele Äußerungen Kafkas über sein Schreiben anschließen, etwa jener bekannte Brief an Brod, in dem Kafka sein Schreiben als „Hinabgehn zu den dunklen Mächten“ bezeichnete: „diese Entfesselung von Natur aus gebundener Geister, fragwürdige Umarmungen und was alles noch unten vor sich gehen mag, von dem man oben nichts mehr weiß, wenn man im Sonnenlicht Geschichten schreibt“.164 Erneut ergibt sich hier die Figur von etwas, das ahnbar wird, aber unfaßbar bleiben muß. Die geläufige Interpretation des Zitats setzt für dieses Unfaßbare das Unbewußte ein. Demnach wäre es der Sinn des imaginativen Schreibens, Zugang zu diesen Prozessen zu gewinnen, also jenes Unfaßbare erzählbar zu machen, das in der „Tiefe“, bei den „dunklen Mächten“ am Grund des Meeres zu liegen scheint. Heinz Politzer hat die gedankliche Vorstellung, die solchen Interpretationen zugrundeliegt, zuerst problematisiert. Politzers Analyse zeigt, daß die Hintergründigkeit der Kafkaschen Erzählungen ein sprachlicher Effekt ist, und arbeitet heraus, mit welchen literarischen Kunstmitteln der Text die Idee eines Durchblicks in verborgene Tiefen hervorbringt. „Kein Wort Kafkas versteht sich aus sich selbst, ruht und erschöpft sich in sich selbst, meint sich selbst, sondern es spannt sich als Oberfläche über Vorgänge, die undurchschaubar bleiben.“165 Die Suggestion von Tiefe ruft den Impuls hervor, diese Tiefe zu erkunden, indem sie aus dieser Erkundung eine Frage der Deutung macht. Der Gegenstand der Interpretation aber erweist sich als Fata Morgana, die mit jedem Versuch, sie zu erreichen, aufs neue entsteht. Dieser desillusionierenden Erkenntnis zum Trotz, behält Politzer die Idee eines verborgenen Hintergrundes als die Analyse leitendes Bild bei, jedoch unter einer negativen Prämisse: Kafka habe in seinen paradoxen, weil undeutbaren Parabeln „die Unsagbarkeit des Unsagbaren ausgesprochen, das Unfaßbare sozusagen in einer negativen Epiphanie veranschaulicht“.166 Diese Aussage ist allerdings fast ebenso sibyllinisch wie das berühmte Diktum aus Kafkas Parabel Viele beklagten sich... (Von den Gleichnissen): „Alle diese Gleichnisse wollen eigentlich nur sagen, daß das Unfaßbare unfaßbar ist und das haben wir gewußt.“167 Im Hinblick auf die Tauglichkeit und den Sinn von poetologischen Metaphern zur Kennzeichnung von Kafkas Schreibweise zeigt diese kursorischassoziative Lektüre von Interpretationen des Wasser-Bildes vor allem eines: daß auf solche Bilder kein Verlaß ist, weil sie dem Interpreten nicht gestatten, sich 164 165 166 167
Brief an Max Brod vom 5.7. 1922, BKB, Bd.2, S. 378. Heinz Politzer: Franz Kafka, der Künstler, Frankfurt/M. 1965, S. 39. H. Politzer, a.a.O., S. 44. E 463.
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von ihrer Logik zu entfernen. Diese Logik ist selbst schon Interpretation, denn die Rede von Oberfläche und Hintergrund verlangt fast zwingend eine Suche nach Tiefe und Sinn. Daher entkommt auch eine kritische Lektüre diesem Bild nicht, insofern sie die Struktur von Kafkas Texten, wie gezeigt, nicht anders als im Bild beschreiben kann. Dennoch sollte es immerhin möglich sein, einen anderen Blick auf diese Bilder zu richten. Statt die immer wieder aufs Neue entstehenden Vorder- und Hintergründe zu beschreiben und in ihnen immer wieder dieselbe dualistische Struktur, immer wieder dasselbe Versprechen von Tiefe und Geheimnis zu finden, scheint mir wichtiger, auf das zu achten, was in diesem Spiel jeweils sichtbar wird. Dies aber ist eben nicht das Unsagbare, sondern das Faßbare und die Oberfläche. Statt das Augenmerk auf die Muster und Strukturen zu richten, durch die Hintergründigkeit und Bedeutsamkeit entstehen, habe ich jede einzelne dieser Oberflächen betrachtet. Im genaueren Hinsehen zeigt sich, daß sie weit mehr sind als durchsichtige Durchgänge für den Tiefenblick, und anderes als Spiegelflächen für das hineinschauende Ich. Die Oberfläche des Textes ist der Ort, an dem seine Geschichte entsteht, an dem Bilder, Figuren und erzählte Wirklichkeit sichtbar werden. Sie ist gleichsam die Leinwand für die imaginativen Prozesse, denen der Leser des Textes sich überläßt. In der Analyse dieser Oberflächen des Textes habe ich herausgearbeitet, wie sie als sprachliche Erscheinungen aus Assoziations- und Satzgefügen entstehen. Diese Analyse sollte die Bewegung der Assoziationsprozesse zeigen, indem sie nachvollzog, durch welche sprachlichen Kunstgriffe die Sätze, Bilder und Gedanken in Bewegung kommen, wie eine Bildvorstellung aus der anderen hervorgeht, wie aus semantischen und logischen Verschiebungen Eindrücke und Effekte entstehen. Ich habe daher nicht danach gefragt, warum Worte nie bezeichnen können und warum das Unfaßbare unfaßbar bleiben muß, sondern danach, was diese Worte trotz alledem erzählen. Auf diese pragmatische Frage gibt der Text sehr viel genauere Antworten als auf die Frage nach dem tieferen Sinn. Allem Umkreisen des Unsagbaren und Unfaßbaren zum Trotz, wird in dieser Erzählung vieles gesagt, vieles sichtbar und erlebbar gemacht, werden viele äußerst schwer faßbare innere Vorgänge, viele kaum formulierbare Verhältnisse dargestellt. Durch die Darstellung im Spiegel von Karls Gedanken, in der sich Innen und Außen, Wahrnehmung und Gefühl durchdringen, entsteht plastische Anschaulichkeit und eine außerordentliche atmosphärische Dichte. Diese bewegte Oberfläche ist ein Effekt, der ebenso wie die Bilder, die man durch sie hindurch in der Tiefe zu sehen meint, aus vielerlei optischen Reflexen zusammengesetzt ist. Die Leistung der Sprache liegt in der Herstellung dieser Spiegelungen, nicht darin, etwas nach ‚oben‘ zu holen. Ihr Verfahren besteht darin, das Unfaßbare an seinem Ort zu lassen. Aus dem Verborgenen gewinnt Kafkas Schreibweise ein produktives Prinzip des Erzählens. Es ist ein Erzählen, das nicht das Unbewußte, sondern eine Erzählung hervorholt, eine Geschichte
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IV Der Heizer
hervortreibt, die von Spannungen durchzogen ist. Ich habe gezeigt, wie sich aus dem Verschwiegenen, ja vielleicht noch nicht einmal Vorhandenen, vielleicht auch nicht Nennbaren die Dynamik des Erzählvorgangs ergibt. Jene dunklen Stellen, die das diffuse Zentrum der Gefühle thematisieren, sind unbeleuchtet. Die Äußerungen des Heizers über die Schmach, die er von Schubal erfahren hat, und Karls Bericht über die Verführung sind eher sachliche Berichte, aus denen man „nichts Eigentliches“ erfährt. Von höchstem Interesse für den Leser ist dagegen das, was daraus hervorgeht, daß hier „nichts Eigentliches“ beschrieben wird: die Spannung, daß Karls Geheimnis herauskommen könnte – bzw. umgekehrt, daß es dem Heizer nicht gelingen könnte, seine Anklage herauszubringen. Verzweiflung und Peinlichkeit sind die emotionalen Energien, die die Narration antreiben und ihre Intensität steigern. Ihre Faszinationskraft ist nicht das Ergebnis eines tiefen Blicks in das Innere der Figuren, sondern der Effekt eines spannungsvollen Verhältnisses von Rede und (Ver-)Schweigen. Reden wollen, aber nicht können – bzw. etwas verschweigen wollen, das Stück für Stück zur Sprache kommt: In der Etablierung dieses Verhältnisses liegt die Kunst dieses Textes. Das Nicht-Nennbare, das Unsagbare, Dunkle ist kein mystischer Grund tief im Unbewußten, den Kafkas Sprache zu erkennen gäbe. Es ist eine Funktion des Textes, eine produktive Leerstelle, aus der das ganze Drama hervorgeht, und die sich immer wieder entzieht. Die Leistung solcher Sprachkunst ist Verführung. Ihr Opfer ist der Leser, der in Karls Geschichte hineingezogen wird. Sie wird in seiner Vorstellungskraft für ihn lebendig, indem er selbst an ihrem Zustandekommen teilnimmt. Unter Zuhilfenahme seiner eigenen Imagination wird das schwer Faßbare und kaum Darstellbare, das innere Erleben und Fühlen der Figuren, anschaulich und emotional nachvollziehbar. 5.2 Das Meer als Traumbild Wenn man – um immer noch im Bild zu bleiben –, den Blick auf die Oberflächen richtet, statt nach verborgenen Sinndimensionen zu suchen, läßt sich Karls Blick auf das Meer noch einmal anders lesen. Vor den drei Fenstern des Zimmers sah er die Wellen des Meeres und bei Betrachtung ihrer fröhlichen Bewegung schlug ihm das Herz, als hätte er nicht fünf lange Tage das Meer ununterbrochen gesehn. Große Schiffe kreuzten gegenseitig ihre Wege und gaben dem Wellenschlag nur soweit nach als es ihre Schwere erlaubte. Wenn man die Augen klein machte, schienen diese Schiffe vor lauter Schwere zu schwanken. Auf ihren Masten trugen sie schmale aber lange Fahnen, die zwar durch die Fahrt gestrafft wurden, trotzdem aber noch hin und her zappelten. Wahrscheinlich von Kriegsschiffen her erklangen Salutschüsse, die Kanonenrohre eines solchen nicht allzuweit vorüberfahrenden Schiffes strahlend mit dem Reflex ihres Stahlmantels waren wie gehätschelt von der sicheren, glatten und doch nicht
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wagrechten Fahrt. Die kleinen Schiffchen und Boote konnte man wenigstens von der Tür aus nur in der Ferne beobachten, wie sie in Mengen in die Öffnungen zwischen den Booten einliefen. Hinter alledem aber stand Newyort [sic] und sah Karl mit den hunderttausend Fenstern seiner Wolkenkratzer an. Ja in diesem Zimmer wußte man, wo man war.168
Karl blickt durch die Fenster des Schiffes auf den Hafen von New York und die hinter den Schiffen auftauchende Stadtansicht. Von den großen Schiffen im Vordergrund aus geht sein Blick auf Detailansichten, die sekundenlang gespanntausgehaltene Zustände zwischen Bewegung und Ruhe zeigen. Dann verliert er sich inmitten der Lotsenboote, die nur noch summarisch als „Mengen“ benannt werden können, und kommt schließlich bei den Wolkenkratzern im Hintergrund des Bildes an. Hier werden die „Mengen“ zu Massen: „hunderttausend Fenster“ werden nicht mehr mit Karls Blick gesehen, sie schauen selbst zurück. An diesem Punkt hat sich der Betrachter im Bild verloren. Dieser Zustand eines Schauens, das nichts mehr von sich weiß, sondern selbst angesehen wird, vermittelt Karl ein gesteigertes Selbstgefühl: „Ja in diesem Zimmer wußte man, wo man war.“ Ähnlich wie in dem von Kafka notierten Traum, spiegelt die Ansicht des New Yorker Hafens einem Ich, das sich ganz dem Sehen hingibt, seine Bestimmung im Raum zurück. Zugleich läßt diese Ansicht die Zeit vergessen. Die Dynamik, mit der dieses Bild sich aufbaut, erzeugt einen Moment intensiver Präsenz, ähnlich jenem Augenblick, in dem Karl Roßmann die Freiheitsstatue erblickt hatte. In diesem bewußtlos-gebannten Augenblick ist alles verschwunden, was außerhalb der Begegnung im Schauen liegt. Auch die zweite Hafenansicht ist ein Tableau, in dem sich der Betrachter gedankenlos verliert. Karls Bewußtsein ist nicht in der Lage, etwas anders als im Detail-Ausschnitt und länger als einen Augenblick festzuhalten. Boote fahren vorüber und sind in dem Moment vorbei, wenn der Blick sie erfaßt hat; andere, kaum richtig gesehene, rauschen „schnurgerade dahin“; an einem vereinzelten Steuerrad zucken Hände; von einer zusammengedrängten Masse Passagiere treten nur die Köpfe hervor.169 Dieses Spektakel von bruchstückhaften Formen in Bewegung scheint futuristische Bilder vorwegzunehmen.170 Es ist ein Schauspiel, zu dem jener Ausruf passen könnte, den Kafka in seiner Traumaufzeichnung vom New Yorker Hafen protokollierte: „Das ist ja noch interessanter als der Verkehr auf dem Pariser Boulevard“.171 Dieses Bild permanenten Wechsels hat eine hypnagogische Faszination. Stundenlang könnte man auf solche Szenerien starren, wo alles durcheinander geht, Bilder übereinander fluten, sich wandeln, etwas Undefinierbares erscheint und abgelöst wird vom nächsten; man könnte schauen ohne einen einzigen Gedanken, vollständig vom Sichtbaren aufgesogen – 168 169 170 171
KKAT, S. 476. KKAT, S. 483. Vgl. z.B. Fernand Légers Bild „Der rosa Schleppdampfer“ von 1918. Tagebucheintrag vom 11.9. 1912, KKAT, S. 437.
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bis im nächsten Moment die Augen zufielen und man zu träumen begönne. Möglicherweise träumt Karl tatsächlich schon, wenn er „eigentümliche Schwimmkörper“ betrachtet. Sie „tauchten hie und da selbständig aus dem ruhelosen Wasser, wurden gleich wieder überschwemmt und versanken vor dem erstaunten Blick“.172 Diese nicht mehr faßbaren Formen sind offenbar bewußt noch ungenauer gestaltet als die Bilder vom New Yorker Hafen, die Kafka selbst geträumt hatte.173 Die Ansichten vom Meer sind also nicht den Träumen im Tagebuch nachgeschrieben. Es sind selbst Träume: Halluzinationen, die aus dem geträumten und gelesenen Bildmaterial neue Bilder zusammensetzen, die höchst wirklich und doch zugleich unwirklich scheinen. Vielleicht bieten Bilder wie die „eigentümlichen Schwimmkörper“, die immer wieder auftauchen und untergehen, nichts anderes als eine Ansicht von Karls traumverlorenem Bewußtsein, das von einem Moment zum nächsten alles vergißt, das keine Absicht festhalten kann und immer wieder zum nächsten Wunsch entgleitet, von neuen Einfällen in eine andere Richtung gelenkt – und das, im Schauen abgelenkt, gerade wieder versäumt, sich um die dringende Sache des Heizers zu kümmern. Dann wäre der Blick auf das Meer tatsächlich, wie oben vermutet, ein Bild von Karls Bewußtsein – aber keine Sicht in es hinein, sondern ein Bild, das dieses Bewußtsein durch einen Blick auf seine eigenen Strukturen hypnotisiert. Kein psychologischer Tiefenblick auf Karls Innerstes also und auch kein metaphorischer Verweis auf Strukturen des Unbewußten, sondern ein Blick, der in die Tiefe zieht. Natürlich ist auch die Meinung, die Ansicht vom Meer sei ein Traumbild, bzw. Karls Geschichte sei überhaupt ein Traum, eine Interpretation. Es ist jedoch eine Interpretation, die nicht nach dem Sinn dieses Traumes fragt. Stattdessen interessiert mich die Funktion des Bildes in der Narration. Durch die Art, wie sie Blick und Gedanken in sich hineinziehen, werden die Meer-Bilder Teil der Inszenierung, die das Unfaßbare immer wieder neu herstellt. Karl kann nichts richtig erkennen; sein ruheloser Blick erfaßt nur Teile von Formen und gewinnt keinen Überblick. So bleiben auch die Ansichten vom Meer merkwürdig ungreifbar, während sie zugleich höchste Aufmerksamkeit fordern. Für diesen Effekt ist die Zeitökonomie verantwortlich, in die Karls Blicke aus dem Fenster eingebunden sind. Aus lauter Zeitmangel kann er sich dem Schauen nicht ausführlich widmen und hat zugleich schon wieder Zeit versäumt. Der Blick auf das Meer dient der Ablenkung des Bewußtseins und damit der Erneuerung der Verspätung, die seine weitere Ablenkung antreibt. 172 173
KKAT, S. 483. In der oben zitierten Traumaufzeichnung vom 11.9. 1912 heißt es: „In Erinnerung ist mir nur, daß statt unserer Flöße lange Stämme zu einem riesigen runden Bündel zusammengeschnürt waren, das in der Fahrt immer wieder mit der Schnittfläche je nach der Höhe der Wellen mehr oder weniger auftauchte und dabei auch noch der Länge nach sich in dem Wasser wälzte.“ (KKAT, S.436f.)
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Wenn diese Bilder eine Bedeutung haben, dann liegt sie in einer Verheißung von Auflösung dieses Zwangsverhältnisses, im Versprechen eines Abschieds vom quälend überwachen Bewußtsein, das jeden einzelnen Schritt reflektiert und dabei immer schon verspätet ist. Schon der Blick auf die Freiheitsstatue hatte einen Moment der „Selbstvergessenheit“, der auflösenden Befreiung vom Ich gewährt.174 Ist Amerika vielleicht nichts anderes als der Traum, endlich schlafen zu dürfen, sich nach fünf schlaflosen Nächten, dem Alptraum Europa entronnen, „im Bett zu einem von allen Sorgen um Koffer und Slowacken befreiten Schlafe auszustrecken“?175 Diesen Traum schreiben die Sätze, die Karls Geschichte erzählen. Von Moment zu Moment entspinnt sich das Geschehen im Augenblick des Jetzt als Folge von Ereignissen und Erlebnissen, wie eine zwingende Verkettung, in der eins sich aus dem anderen ergibt, zum nächsten führt und dabei zu einer Geschichte wird. Ihre Dynamik zieht den Leser mit sich fort. Hier spricht nicht das Unbewußte, das sich ohne den Willen des Schriftstellers in verrätselten Bildern zu erkennen gibt, die sein automatischer Stift notiert. Hier erzeugt eine Bilderfolge, die aus höchst kontrollierter Arbeit der Imagination hervorgegangen ist, ein immer weiter vorangetriebenes Gedankenspiel. Hier erzählt ein phantasierender, sich selbst produzierender und fortzeugender Schreibvorgang von der Sehnsucht danach, hinter den eigenen Rücken zu kommen. Die Dynamik dieses Schreibens führt weg von der Verantwortung eines Autors, eines Erzählers oder eines Ich. Es will den Grund der Geschichte, das Untergründige und Eigentliche, nicht einholen und aufdecken, sondern ihm davonlaufen. Es ist ein Schreiben, das immer das Wichtigste vergißt und stattdessen von allem Möglichen träumt, das am Ziel vorbeitreffen und immer weiter gehen will. Es erzählt von dem Traum, „durch eine Unzahl kleiner Räume, fortwährend abbiegende Korridore, kurze Treppen, die einander aber immer wieder folgten“, an einem „verlassenen Schreibtisch“ vorbei, nach Amerika auszuwandern.176
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„Selbstvergessenheit“ bezeichnet Kafka in dem bereits erwähnten Brief an Brod als „Voraussetzung des Schriftstellertums“ („nicht Wachheit, Selbstvergessenheit ist erste Voraussetzung des Schriftstellertums“, BKB, Bd. 2, S. 379). Vgl. zu diesem Begriff grundlegend die Studie von Reinhard Baumgart: Selbstvergessenheit, a.a.O. KKAT, S. 474. - Den Traum vom Schlafen träumt auch der Landvermesser K. im Schloß. Auch er möchte allem entgehen und träumend davonkommen. Auf der Bettkante des Sekretärs Bürgel, auf der Grenze zum Schlaf, während er sein Gegenüber in eine phantastische Halbschlafphantasie verwandelt, versäumt er die Viertelstunde, in der er die entscheidende Antwort hätte bekommen können. Mit diesem Weg beginnt Karls Irrfahrt (KKAT, S. 465).
Schluß Traum und Phantastik in Kafkas Frühwerk 1. „Es war kein Traum“ „Es war kein Traum.“ Dies ist die einzige Gewißheit, die Gregor Samsa bleibt, als er eines Morgens „aus unruhigen Träumen erwachte“.1 Doch dieses Wissen bietet keinen Halt. Zwar vermag es ihn zunächst zu beruhigen: Sein Blick auf die Welt ist wach, sein Denken ist klar, nur seine Selbstwahrnehmung scheint noch von traumähnlichen „Vorstellungen“ beherrscht zu sein.2 Sehr bald aber wird die Gewißheit „Es war kein Traum“ zum Grund des Entsetzens. Das, was nicht sein kann, ist kein Traum, sondern Wirklichkeit. Man kann aus dem Alptraum nicht erwachen, wenn man nicht träumt. Wie die Verwandlung, so trägt auch der Heizer die Signatur des Traums. Während Gregor Samsa „aus unruhigen Träumen“ in einen Alptraum hinein erwacht, der Realität geworden ist, beginnt für Karl Roßmann ein Traum, wenn er im Hafen von New York den Landgang versäumt und ins Innere des Schiffes zurückkehrt. Sein Schritt über diese Schwelle entfesselt eine alptraumhafte Dynamik, der er hilflos ausgeliefert ist. Karl erlebt, wie sich die Wirklichkeit in einen Alptraum verwandelt, auch wenn er dabei nicht träumt; Gregor erlebt einen Alptraum, der immer realer wird. Beide Erzählungen erzeugen beim Lesen den Wunsch, der Protagonist möge erwachen und allem entkommen können. Karl Roßmanns Erlebnisse sind zwar nicht phantastisch wie die Gregor Samsas, doch diese Differenz relativiert sich bei näherem Hinsehen: Die Wirklichkeit, die Karl begegnet, tendiert ins Überwirkliche, denn sie trägt nicht nur alptraumartige, sondern auch märchenhafte Züge. Das Zusammentreffen mit dem reichen Onkel aus Amerika, herbeigeführt durch unwahrscheinlich passend gefügte Zufälle, ist so wunderbar, daß Karl sich eigentlich fragen müßte, ob er nicht träumt. Träume ich? Diese ‚Gretchenfrage‘ der Phantastik stellen sich Kafkas Protagonisten nicht. Wie traumhaft auch erscheint, was ihnen begegnet, es gibt ihnen keinen Grund zu Unschlüssigkeit. Sie wissen, daß sie nicht träumen, und 1 2
E 96. „Er erinnerte sich, schon öfters im Bett irgendeinen [...] leichten Schmerz empfunden zu haben, der sich dann beim Aufstehen als reine Einbildung herausstellte, und er war gespannt, wie sich seine heutigen Vorstellungen allmählich auflösen würden.“ (E 100).
„Es war kein Traum“
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daß das, was sie erleben, wirklich ist. Gregors Nachdenken greift weder die Gewißheit der Wirklichkeit noch die Gesundheit seines Verstandes an, sondern kommt zum umgekehrten Schluß: da das Unmögliche nun einmal geschehen ist, muß es wohl möglich sein.3 Mit der Unschlüssigkeit des Protagonisten fehlt das entscheidende Kriterium für die Einordnung von Kafkas Verwandlung in das Genre der Phantastik, wie Tzvetan Todorov festgestellt hat.4 Dessen ungeachtet, etablieren Kafkas Texte eine Form der Kommunikation mit dem Leser, welche diesen in einen Zustand anhaltender Unschlüssigkeit versetzt. Diese Verunsicherung des Lesers entsteht jedoch auf einem anderen Weg als dem in Todorovs Theorie vorgesehenen. Verantwortlich dafür ist nicht die Behauptung eines Überwirklichen als real, wie es Todorov annimmt. Die von Kafkas Texten provozierte Unschlüssigkeit entsteht aus der Behauptung des Wirklichen.
2. Die Behauptung des Wirklichen als Grundlage für Kafkas Phantastik Die Art und Weise, wie Wirklichkeit im Text behauptet wird, ist die Grundlage für den phantastisch-traumhaften Charakter der in der vorliegenden Arbeit untersuchten Texte. Im Heizer geschieht die Affirmation von Wirklichkeit indirekt, indem die Erzählerrede das Geschehen als durch Karls Augen gesehenes wiedergibt. In dieser Form der Rede taucht die Außenwelt als bloße Vermutung auf. Karls Assoziationen deuten seine Wahrnehmungen und erweitern sie dabei um vergleichsweise herangezogene Elemente, die keine reale Grundlage haben, aber das Wahrgenommene präzise erfassen und anschaulich vorstellbar machen. In einem ‚als-ob‘ oder ‚wie‘ gespiegelt, entsteht Wirklichkeit als plastische und zugleich doch bloß ungefähre Erscheinung. Das Ergebnis ist keine Verunsicherung über den Wirklichkeitsstatus des Erzählten, wie es für eine phantastische Erzählung erforderlich wäre. Die Wahrnehmung des Helden ist keine Einbildung oder Täuschung. Der Text erzeugt vielmehr aus der Beschreibung eines zweifel-
3
4
„Gregor suchte sich vorzustellen, ob nicht auch einmal dem Prokuristen etwas Ähnliches passieren könnte, wie heute ihm; die Möglichkeit dessen mußte man doch eigentlich zugeben.“ (E 104). Vgl. Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur, München 1972, S. 152: „Die fantastische Erzählung ging von einer vollkommen natürlichen Situation aus, um beim Übernatürlichen zu enden, ‚Die Verwandlung‘ hingegen nimmt beim übernatürlichen Ereignis ihren Anfang, um jenem dann im Verlauf der Erzählung ein immer natürlicheres Ansehen zu geben. [...] Infolgedessen wird jede Unschlüssigkeit hinfällig: sie diente dazu, die Wahrnehmung des unerhörten Ereignisses vorzubereiten, sie kennzeichnete den Übergang vom Natürlichen zum Übernatürlichen. Hier findet sich eine konträre Bewegung beschrieben: die der Anpassung, die auf das unerklärliche Ereignis folgt; und sie kennzeichnet den Übergang vom Übernatürlichen zum Natürlichen. Unschlüssigkeit und Anpassung kennzeichnen zwei symmetrische und umkehrbare Vorgänge.“
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Schluß: Traum und Phantastik in Kafkas Frühwerk
los Wirklichen ein Gefühl des Ungreifbaren und damit einen Zustand der Unschlüssigkeit beim Leser. Diese Strategie der indirekten Behauptung von Wirklichkeit bestimmt auch die Verwandlung. „Es war kein Traum“: dies ist die Behauptung, die der Text macht und an die der Leser schließlich glauben wird. Sie lautet nicht: ‚Es war ein ungeheures Ungeziefer‘. Der Einbruch eines Übernatürlichen in die Alltagswelt wird nicht ungebrochen behauptet, sondern auf dem Umweg über Gregors Gewißheit etabliert. Daß „es“ kein Traum war, glauben wir nicht dem Erzähler, sondern dem in ein Ungeziefer verwandelten Protagonisten. Durch diese Behauptungsstruktur wird das Verhältnis von Realität und Irrealität so verschränkt, daß der Leser zum Glauben an die Wirklichkeit des Wunders gebracht wird, obwohl niemand anders als der Verwandelte selbst dafür bürgen kann. „Es war kein Traum“ ist die Selbstbehauptung des Textes. Mit dieser Behauptung ist der Angelpunkt gesetzt, von dem aus die Narration sich entfalten kann. In deren Verlauf wird Gregors Gewißheit, nicht zu träumen, immer unabweisbarer. Je deutlicher sich bestätigt, daß der in ein Ungeziefer Verwandelte mit seiner Behauptung recht hat, desto wirklicher wird sein Ungeziefer-Sein. Durch diese Konstruktion wird der Leser in die imaginäre Wirklichkeit des Wunders hineingezogen. Das Wunder, mit dem die Verwandlung beginnt, hat im Heizer seine Entsprechung in dem Knalleffekt, mit dem der märchenhafte Onkel aus dem Nichts auftaucht. Das eigentliche Wunder ist nicht dieser Auftritt als solcher; das Wunderbare liegt vielmehr in der Art und Weise, wie dieser ‚coup de théâtre‘ als glaubhaft und natürlich in die Erzählung integriert wird, vermittelt über die inszenierte und eingeforderte Zustimmung des Lesers. Analog gilt für die Verwandlung: Das Phantastische besteht hier nicht schon darin, daß das Wunder als Bestandteil der Wirklichkeit behandelt wird, sondern in der Art und Weise, wie es behauptet wird. Denn diese Behauptungsstrategie sorgt dafür, daß das Wunder allmählich für den Leser wirklich wird. Gregors Verwandlung ist ja mit dem Schrecken beim Aufwachen keineswegs abgeschlossen. Die Geschichte ist vielmehr die Geschichte des Prozesses, in welchem Gregor – und, über ihn vermittelt, auch der Leser – psychisch in die physische Tiergestalt hineinwächst; sie erzählt, wie er allmählich zum Tier wird. Die Faszination der Erzählung besteht darin, daß sie nachvollziehbar macht, wie es sich anfühlt, ein Insekt zu werden. Dadurch erlebt der Leser die Verwandlung mit: er ist es, der verwandelt wird. Das Phantastische entsteht also nicht allein aus der Setzung eines Phantasmas; es entsteht erst aus der imaginativen Entfaltung des phantastischen Vorgangs im Text und als Text.
Erzählen als Sprach- und Imaginationsspiel
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3. Erzählen als Sprach- und Imaginationsspiel Kafkas phantastisches, traumhaftes Erzählen ist ein Sprachspiel. Dies gilt schon für die Beschreibung eines Kampfes. Der Erzählvorgang entsteht aus einer Sprachund Reflexionsbewegung, in der Traum und Wirklichkeit, Wörter und Dinge in ein ironisch verkehrtes Verhältnis geraten. In gewisser Hinsicht stellt der Heizer das Gegenstück zu dieser sprachspielerischen Phantastik dar. Während in der Beschreibung eines Kampfes die Sprache ihre Eigenmacht im Entwerfen von Traumwelten zu beweisen sucht, zieht sich das Sprachspiel im Heizer in die Unauffälligkeit einer scheinbar konventionellen Narration zurück. Durch diese Form des Erzählens aber gelingt es, den Leser an der imaginativen Dynamik der Fiktion teilnehmen zu lassen. Er wird hineingezogen in ein Geschehen, das sich aus seinen Vorstellungsbildern zusammensetzt, als wäre es sein eigener Traum, und das alptraumhafte Intensität durch die emotionalen Energien gewinnt, die er selbst in dieses Spiel investiert. Mit dieser Funktionalisierung des Lesers ist ein erzähltechnisches Verfahren gefunden, um die Dynamik des textuellen Imaginationsprozesses anzutreiben. Der Heizer und Das Urteil sind die ersten Erzählungen, in denen die Übertragung des Imaginationsspiels auf den Leser gelingt. Erst durch die Beteiligung des Lesers am Prozeß der Narration wird Karls Geschichte zum Alptraum. Der Zwang, dem ihr Held unterliegt, wird zum Ausgriff auf das Gefühl des Lesers; die Spannung, die unter seiner Beteiligung entsteht, entläßt ihn nicht mehr aus dem Buch. Diese Erzählweise erlaubt es nicht, auch nur einen Satz lesend zu überspringen. Sie erhebt einen Anspruch auf Aufmerksamkeit, dem der Leser nicht entkommen soll und kann. Ihr Übergriff erstreckt sich nicht allein auf die Imagination des Lesers, sondern auch auf sein Empfinden und damit auf seine geradezu körperliche, somatische Beteiligung. Diese Schrift zielt auf Wirkungen, die ihre Intensität am Gemüt des Rezipienten ausweisen sollen. In diesem Ausgriff auf die Vorstellungskraft des Lesers liegt das Phantastische des Heizers. Die Beziehung von Traum und Wirklichkeit, die für die Phantastik-Tradition des 19. Jahrhunderts konstitutiv ist, findet sich hier verkehrt. Es wird kein traumhaftes Geschehen erzählt, von dem sich der Leser fragen muß, ob es wirklich ist, sondern es wird ein zweifellos wirkliches Geschehen erzählt, das den Leser gleichwohl zum Zuschauer seines eigenen Traums macht. Wie aber sollte man ein solches Erzählen anders bezeichnen als mit dem Begriff des Phantastischen? Den Anspruch, diese Frage endgültig zu beantworten, kann und will die vorliegende Arbeit nicht erheben. Feststellen läßt sich allerdings, daß ein Hindernis für eine mögliche Antwort in der Art und Weise liegt, wie die Frage nach der Phantastik gestellt wird. Das Todorov'sche Konzept von Phantastik setzt die Kategorien ‚real‘ und ‚irreal‘ voraus. In diesen Kategorien aber läßt sich der Prozeß, der sich in Kafkas Texten als ‚Erzählen im Zeichen des Traums‘
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Schluß: Traum und Phantastik in Kafkas Frühwerk
vollzieht, nicht fassen, denn es ist ein Prozeß, der Wachen und Träumen, statt sie zu trennen, ständig neu in bewegliche Verbindung bringt. Im Begriff der Phantastik bleibt also unberücksichtigt, was die phantastische – unheimliche, traumhafte – Faszination von Kafkas Erzählen ausmacht.5 Umgekehrt ließe sich aber von der Analyse dieses Erzählens her zeigen, wie die Frage nach der Phantastik selbst verwandelt werden könnte. Möglicherweise wäre der Begriff des Phantastischen zu retten, wenn man ihn losgelöst vom Widerspruch zwischen dem Unmöglichen und der Realität betrachtete, und wenn man aufhören würde, nach dem Eindringen des Überwirklichen in die Alltagswelt zu suchen. Im Sinne der Romantik, die das phantastische Erzählen als Möglichkeit der dichterischen Imagination entdeckt hat, sollten wir das Phantastische von der Beziehung zwischen Phantasie und Poesie her begreifen, nicht von der Realität. Bereits Oskar Walzel, der sich 1916 als einer der ersten mit der Frage des Phantastischen bei Kafka beschäftigt hat, brachte Kafkas Erzählen mit der Romantik in Verbindung.6 Insbesondere die Erzählungen E.T.A. Hoffmanns scheinen mir geeignet, um diese Parallele zur romantischen Phantastik zu illustrieren, denn auch Hoffmann gestaltet die Beziehung von Phantasie und Poesie in einem gezielten Ausgriff auf die Imagination des Lesers, den der Erzähler „ganz unvermerkt [...] hineinverlockt in das fremde Gebiet“ des Wunderbaren.7 In gleitender Schwellenüberschreitung zwischen ‚nüchterner‘ und traumhafter Wahrnehmungsweise, nicht durch eine schroffe Entgegensetzung, 5
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Daß die Kategorie des Realen problematisch ist, hat Todorov selbst bereits reflektiert: „Per definitionem geht die Literatur über die Unterscheidung zwischen Realem und Imaginärem, über das, was ist und was nicht ist, hinaus. Man kann sogar sagen, daß es zum Teil der Literatur und der Kunst zu verdanken ist, daß es unmöglich wird, diese Unterscheidung aufrechtzuerhalten. [...] Das 19. Jahrhundert war zwar in einer Metaphysik des Realen und des Imaginären befangen, und die fantastische Literatur ist nichts anderes als das schlechte Gewissen des positivistischen 19. Jahrhunderts. Man kann aber heute nicht mehr an eine unveränderliche äußere Realität glauben und ebensowenig an eine Literatur, die die Transskription dieser Realität wäre. Die Wörter haben die Autonomie gewonnen, die die Dinge verloren haben.“ (T. Todorov, a.a.O., S. 148f. u. S. 150). Aus dieser Feststellung zieht Todorov jedoch keine Konsequenzen für die Analyse der Verwandlung. Im einmal etablierten Schema verharrend, erklärt er Kafkas Erzählung zum strukturellen Gegenstück dieses Schemas: „Bei Kafka bewirkt das übernatürliche Ereignis keine Unschlüssigkeit mehr, denn die beschriebene Welt ist völlig bizarr, ebenso anormal wie das Ereignis selbst, das auf ihrem Boden geschieht. Wir finden hier (umgekehrt) das Problem der fantastischen Literatur wieder [...]“ (ebd., S. 154). Diese Umkehrung führt zu einem Umschlagen der Phantastik-Definition, so daß plötzlich alle Realität phantastisch wird: „Kafka [...] behandelt das Irrationale als zum Spiel gehörig: seine Welt gehorcht insgesamt einer traumhaften, wenn nicht alptraumhaften Logik, die mit dem Realen nichts mehr zu tun hat.“ (ebd., S. 154). Diese Lösung halte ich für unbefriedigend, weil sie mit dem Schlagwort von der „alptraumhaften Logik“ alle Differenzen und Spielformen zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit unterschlägt, aus denen die phantastische Signatur der Verwandlung entsteht. Oskar Walzel: „Logik im Wunderbaren“ (1916), in: Franz Kafka. Kritik und Rezeption zu seinen Lebzeiten 1912-1924, hrsg. v. Jürgen Born u.a., Frankfurt/M. 1979, S. 143-148, hier S. 146f. E.T.A. Hoffmann: Die Serapions-Brüder, München 1963, S. 254. Das „Hineinverlocken“ geschieht allerdings durch einen „ironischen Ton“ (ebd.), der sich bei Kafka so nicht findet.
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entfaltet sich Hoffmanns Phantastik als suggestive Ansicht einer in sich verdoppelten, unzuverlässigen, vom Wunderbaren durchdrungenen Alltagswelt. „Wie kann der Archivarius nur solch tolles Zeug faseln“, sagte der Student Anselmus zu sich selbst und setzte sich an den Tisch, um die Kopie des Manuskripts zu beginnen, das der Archivarius wie gewöhnlich vor ihm ausgebreitet. Aber er sah auf der Pergamentrolle so viele sonderbare krause Züge und Schnörkel durcheinander, die, ohne dem Auge einen einzigen Ruhepunkt zu geben, den Blick verwirrten, daß es ihm beinahe unmöglich schien, das alles genau nachzumalen. Ja, bei dem Überblick des Ganzen schien das Pergament nur ein buntgeaderter Marmor oder ein mit Moosen durchsprenkelter Stein.8
Kafkas Texte scheinen Schrift von derselben Art zu sein wie die Zaubermanuskripte aus der Bibliothek des Archivarius Lindhorst. Wie diese, ändern sie ihre Lesbarkeit von Tag zu Tag und führen ein merkwürdiges Eigenleben. Je genauer man sie betrachtet, desto beweglicher werden sie. Dieses verborgene, schwer zu fassende, zuzeiten auch beunruhigende Eigenleben ist mir immer als das eigentlich Phantastische an Kafkas Schreiben erschienen. Phantastisch sind seine Erzählungen nicht allein, weil in ihnen ungeheure Ungeziefer, selbsttätig hüpfende Zelluloidbälle oder kichernde Zwirnspulen erscheinen. Phantastisch sind sie vor allem als sprachliche Phantasiestücke, die einen imaginativen Sog entfalten, der den Leser nicht mehr losläßt. E.T.A. Hoffmanns Verfahren, den Leser ‚hineinzuverlocken in das fremde Gebiet‘, wo die Trennung zwischen Alltag und Wunderbarem plötzlich beweglicher wird, als man sich das hätte träumen lassen, ist in vielen Einzelheiten dem Kafkas durchaus vergleichbar. Doch anders als in der Romantik, garantiert bei Kafka keine zweite, höhere Welt mehr die Lesbarkeit der geheimnisvollen Chiffren und den Zusammenhang der in verstörenden Wahrnehmungen zerfallenden Welt. Es gibt kein Subjekt mehr, das die Eindrücke schematisieren und sich ironisch von ihnen distanzieren könnte. Dem entspricht auf der poetologischen Ebene der Verzicht darauf, mit Sprache auktorial umzugehen. Kafkas Erzählen überläßt sich der Eigendynamik sprachlicher Imaginationsprozesse – jedoch nicht im Sinne einer ‚écriture automatique‘ als ungesteuertes Traumnotat, sondern als ein Wörter aus Wörtern zeugender, traumähnlicher Vorgang.
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E.T.A. Hoffmann, Der goldne Topf, in: ders., Fantasie- und Nachtstücke, München 1960, S. 179-255, hier S. 238.
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4. Résumé In Kafkas phantastischen Erzählungen ist alles auf die Sprache gestellt. Von dieser These ausgehend, habe ich es unternommen, die Entstehung und Entwicklung der „imaginativen Schreibart“ in Kafkas Frühwerk zu zeigen. Im Zentrum steht dabei die Frage nach der Beziehung von Traum und Erzählung. Ich habe den Beginn der Untersuchung bei Kafkas erstem großen Erzählprojekt Beschreibung eines Kampfes angesetzt und gezeigt, daß sich die Textzeugnisse des Frühwerks, von diesem Novellen-Experiment ausgehend, als Stationen einer Entwicklungsgeschichte lesen lassen. Im Verlauf dieser Geschichte bilden sich Erzählverfahren und Schreibweisen heraus, die in immer wiederkehrenden Konstellationen Kafkas „imaginative Schreibart“ prägen. Mit der Entwicklung dieser Schreibweise entsteht Kafkas Erzählen als Balance zwischen der Behauptung des Wirklichen und der Erfindung von Träumen. In seinen frühen Romanprojekten, Prosaskizzen und Reisebeschreibungen experimentiert Kafka mit Möglichkeiten, zu schreiben. 1909 entdeckt er das Tagebuch als literarische Werkstatt und setzt hier die Erprobung von Erzählkonstellationen und Schreibverfahren systematisch fort. Dabei fällt eine charakteristische Suchbewegung auf, die sich durch die Texte des Frühwerks zieht. Es ist die Suche nach einem neuen Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit und von erzählender Rede und erzähltem Geschehen. Es gibt in Kafkas frühen Texten kein Geschehen, das als dem Erzählen Vorausgehendes gedacht werden könnte. Die erzählende Rede bringt das, was erzählt werden soll, erst hervor. Die temporale und kausale Organisation der Satzgefüge ist eng verbunden mit der Organisation des Geschehens, so daß die Sprachbewegung zur Grundlage der Erzählbewegung wird. Es gibt daher strenggenommen keine Handlung. Erzählt wird vielmehr ein Gedankengang, der sich sprachlich verselbständigt. Diese Erzählweise geht vom Bewußtsein des Ich-Erzählers aus. In der Beschreibung eines Kampfes löst sich dieses Bewußtsein immer mehr von der Bindung an Wirkliches; parallel dazu läuft die Erzählerrede mit den Gedanken fort und entwirft andere, alternative Wirklichkeiten. Erzählen ist hier über weite Strecken Phantasieren. Dieses erfindend-projizierende, phantasmagorische Erzählen stellt Kafka unter das Zeichen des Traums. Wie in einem kontrollierten Wachtraum schafft das Bewußtsein sich eine Welt in einer Gleichzeitigkeit von Entwerfen und Erzählen, von Träumen und Schreiben. Für diese Art der erfindendentwerfenden Rede habe ich den Begiff des textuellen „Imaginationsprozesses“ eingeführt. – Mit dem „Erzählen im Zeichen des Traums“ ist das Projekt der frühen Texte benannt. Zugleich zeigt die Beschreibung eines Kampfes die Gefährdung dieses Projekts: Die Weiterentwicklung des Textes wird für den erzählenden Träumer mehr und mehr zur quälenden Anstrengung. Mehrfach versucht der Erzähler, der wechselseitigen Abhängigkeit von erfindendem Ich und erfundener
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Welt zu entkommen und den Traum bzw. Text von selbst laufen zu lassen – doch ohne Erfolg. Wie läßt sich das Einstürzen dieser Konstruktion verhindern? Welche anderen Konstellationen wären möglich, um das Verhältnis zwischen Erfinden und Erzählen, zwischen Rede und Geschehen in der Schwebe zu halten? Mit Lösungen für diese Probleme experimentiert Kafka in den Prosaminiaturen der Betrachtung und später in den Arbeitsheften des Tagebuchs. In Betrachtung entdeckt er ein schwebendes Erzählen, das sich am Behaupten vorbeistiehlt, so daß sich das erzählende Ich aus seiner Verantwortung für die von ihm erzählte Welt befreien kann. In den Tagebüchern werden diese Balanceakte weitergeführt und ausgeweitet zu einem sprach-artistischen Weiterspinnen von Vorstellungsketten, in denen ein Wort das nächste gibt und Bilder und Gedanken einander hervortreiben. Dazu treten Beobachtungsprotokolle, die immer neue Techniken erfinden, um das Wahrnehmbare erzählbar zu machen. Auch hier geht es um eine Gleichzeitigkeit von Textentwicklung und imaginativem Prozeß. Der Schreibende inszeniert seine Wahrnehmung als bewegte, bildhafte Entwicklung, um dann dieser Bewegung wiederum Wort für Wort folgen zu können: Es entsteht ein Schreiben am Sehen entlang, ein „Schreiben als Sehen“. Höhepunkt dieser Reihe von Experimenten ist – im Rahmen meiner Darstellung – ein Traumbericht. Hier zeigt sich eine grundlegende Veränderung der Schreibhaltung, die für die Entwicklung fiktionaler Texte neue Möglichkeiten eröffnet. Der Berichtende erzählt seinen Traum nicht als abgeschlossenes, vergangenes Geschehen, sondern als ein Geschehen, das erst mit dem Akt des Aufschreibens entsteht. Er holt seinen Traum im Schreiben Schritt für Schritt aus der Erinnerung hervor und protokolliert diesen Imaginationsprozeß wiederum fortschreitend-nachschreibend mit. Im Zuge der allmählichen Verfertigung der Traumniederschrift kommt der Traum zur Erscheinung, als würde er im Schreiben erst geträumt. Kafka erreicht hier offenbar zum ersten Mal jene Einheit von Imaginationsprozeß und Textentwicklung, die er in unzähligen Tagebucheinträgen herbeizuschreiben versucht hatte. Diese Einheit wird durch eine neue Schreibhaltung möglich. Der Erzähler versetzt sich zurück in den Träumer, der er war, und beobachtet durch dessen Augen das sich entwickelnde Traumgeschehen. Vermöge dieser Haltung kann er das Geschehen im Schreiben so organisieren, daß er gleichsam nur abschreiben muß, was dem Träumenden zustößt. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß der Text nur so wirkt, als sei er unmittelbar vom Traum abgeschrieben. Tatsächlich steht der Traum nicht als Material zur Verfügung, das sich dem Schreibenden quasi selbsttätig in die Feder diktiert – im Gegenteil; der Schreibende muß den Traum-Verlauf, dem die Sätze folgen sollen, als würden sie ihn einfach abschreiben, durch eben diese Sätze erst herstellen. Das Erzählen durch das Auge des Träumers hindurch ist doppelseitig strukturiert: Einerseits identifiziert sich der den Traum Nachschreibende mit dem
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Schluß: Traum und Phantastik in Kafkas Frühwerk
erzeugend-imaginierenden Blick des Träumers, als träume er selbst; andererseits ist er diesem Blick voraus und setzt ihn bewußt als Organisationsprinzip seiner Niederschrift ein. Diese Gleichzeitigkeit von Voraus-Sein und Hinterherschreiben, von Antizipation und Verspätung, ist die neue Entdeckung der Traumaufzeichnung. Diese Struktur ermöglicht eine paradoxe Schreibhaltung: ein bewußtunkontrolliertes Nicht-Vorher-Wissen-Wollen. Diese neue Schreibhaltung prägt die großen fiktionalen Texte von 1912, mit denen Kafka seine ersten Erfolge als Schriftsteller erlebte: Das Urteil und Der Heizer. Hier setzt Kafka eine Perspektivfigur ein, die als „erzählendes Auge“ fungiert, das heißt: aus deren Perspektive ins Ungewisse hinein erzählt wird. Zugleich ist hier das Prinzip der „allmählichen Verfertigung“, das an der Traumaufzeichnung zum ersten Mal als Verfahren sichtbar wurde, als Schreibweise verwirklicht: Die Sätze bringen das, was erzählt werden wird, Wort für Wort zur Erscheinung. Jeder Satz des Heizers lockt die Geschichte erst hervor, und jeder nächste Satz muß sie weiter treiben. Dieser nächste Satz aber muß immer wieder aufs neue erfunden werden. – Die Textbewegung mit der Erzählbewegung zu parallelisieren, ist Kafkas Projekt seit der Beschreibung eines Kampfes. Mit dem Urteil und dem Heizer gelingt es ihm, eine Schreibhaltung zu finden, die der Narration eine sich selbst antreibende Dynamik verleiht. Damit kommt die hier entworfene Entwicklungsgeschichte des Frühwerks an ein Ende. Aus den experimentierenden Textprozessen im Tagebuch ist ein imaginatives Erzählen geworden; aus dem phantasierenden Schreiben, das Gedankenspiele entwirft, die sich mit sprachlich-bildlicher Logik weiterschrauben, hat sich eine Schreibweise gebildet, die den Text als einen Gedankengang organisiert, der sich im Kopf des Lesers entfaltet. Diese Analyse des Frühwerks macht Kontinuitäten sichtbar, die bisher kaum bemerkt worden sind. Die Entwicklungsgeschichte der „imaginativen Schreibart“ zeigt, daß die lange Phase des Experimentierens und Erprobens die Voraussetzungen für den literarischen „Durchbruch“ geschaffen hat, mit dem Kafka im Jahr 1912 als Erzähler in Erscheinung trat. Die Entwicklungsgeschichte eines ‚Erzählens im Zeichen des Traums‘ als Kette von Metamorphosen bietet zugleich eine Reihe von Antworten auf die Frage, wie sich die Beziehung von Phantastik, Traum und Erzählen in Kafkas Texten beschreiben läßt. Meine Überlegungen haben gezeigt, daß diese drei Elemente nicht einfach gleichzusetzen sind. Das verbreitete Bild des Autors Kafka als das eines Träumers, der seine nächtlichen Phantasien halbbewußt-protokollierend niederschrieb, wird von der Textanalyse unterminiert. Kafkas Schreiben ist kein Phantasieren oder Träumen, das sich ohne Wissen und Wollen des Autors vollzieht. Es ist die höchst bewußte Arbeit an einer Schreib- und Erzählweise, welche die imaginative Bewegung ihres Sprachspiels auf der Grenze von Traum und Wirklichkeit entfaltet. Wie aus diesem Sprachspiel Phantastik als Rezeptionseffekt entsteht, wird erst sichtbar, wenn die Analyse die sprachliche Verfaßtheit der Texte in den Blick
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nimmt, statt sich auf die phantastischen Elemente der Handlung zu beschränken. Denn die besondere Signatur von Kafkas Phantastik ist wesentlich durch seine „imaginative Schreibart“ bestimmt. Und der Gedanke liegt nahe, daß dies nicht nur für Kafka gilt. Wie sonst sollte die dichterische Einbildungskraft eine Phantasiewelt erschaffen, die den Leser bezaubert oder bezwingt – wenn nicht vermittelt durch Sprache? Kafkas Erzählungen zeigen, wie sich ein phantastisches Erzählen aus dem Spiel von Sprache und Phantasie entfaltet – und daß die literarische Phantastik womöglich nie etwas anderes gewesen ist als eben ein solches Spiel.
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