MARKEN-ROMAN
GRUSEL-WESTERN
Band 10
Dodge McMesser
Im Reich der roten Masken Der eisige Hauch des Todes schwebte in...
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MARKEN-ROMAN
GRUSEL-WESTERN
Band 10
Dodge McMesser
Im Reich der roten Masken Der eisige Hauch des Todes schwebte in dem kahlen Zimmer. Zwei Kerzen flackerten neben dem Lager des Sterbenden. Bleich, mit eingefallenem Gesicht und tiefliegenden Augen lag der alte Kane in den Kissen. Vor dem Bett standen die vier Söhne und Claire, seine Tochter. Alle fünf Nachkommen des Alten blickten gespannt auf den Vater. Würde er noch die Kraft haben, ihnen das Versteck seines Geldes zu verraten?
Er hatte immer gelebt, wie er sich dann tödlich verletzt hatte: wild und in vollen Zügen. Wenn er trank, dann mehr, als andere vertragen konnten. Wenn er aß, glich er einem Tier. Und als er dem Tod auf die Schippe gesprungen war, paßte auch das zu seinem vorherigen Dasein. Mit seinen siebzig Jahren war er auf einem jungen Broncohengst durch Evelshorn gejagt wie der Leibhaftige. Er hatte gejauchzt wie ein Junge, als die Frauen kreischend zur Seite gesprungen waren. Ja, und dann hatte ein lächerliches Stück Papier alles beendet. Der Wind blies es nur ein paar Schritte weit durch die Luft, aber der junge Hengst hatte so etwas noch nie erlebt. Und es erschreckte ihn. Entsetzt bäumte er sich auf, wurde vom eigenen Schwung umgerissen und katapultierte den siebzigjährigen Reiter wie ein Geschoß durch die Luft. Der Alte brach sich eine ganze Reihe von Knochen, aber davon wäre dieser zähe Bursche nicht gestorben. Was ihn zum sicheren Kandidaten des Sensenmannes machte, war eine innere Blutung. Er selbst hatte von Anfang an gewußt, daß jetzt der Moment gekommen war, wo Archie Roos die Löffel abgeben mußte, der Augenblick sich näherte, dieses wilde und vollblütige Leben zu Ende sein würde. Himmel, welch ein Leben! Drei Frauen hatte er gehabt; die letzten beiden hatten ihm die Kinder geboren. Die zweite gebar den Ältesten, John, ein Mann von dreißig, blond, hager, genannt »Fox«, und er war ein Fuchs. Im Augenblick dachte er weniger an den sterbenden alten Mann als vielmehr an die Kiste mit Geld, die er irgendwo versteckt hatte. Aber wo? Clem stand neben Fox. Er war ein wenig kleiner, ebenso blond und hatte von seiner Mutter, der dritten Frau des Alten, den großen Mund geerbt, und der war nicht nur in den
Abmessungen groß. Clem riß ihn auch bei jeder Gelegenheit weit auf. Deshalb wurde Clem »Barky« genannt, was eine etwas abgeschwächte Form von »Kläffer« ist. Und tatsächlich hatte er eine Stimme, die immer ein wenig an einen bellenden Hund erinnerte. Mort, schlaksig und größer als die anderen, sinnierte wieder einmal, als er so dastand, und vermutlich war er der einzige der fünf, der nicht an das Geld des Vaters dachte. Mort träumte immer von irgend etwas, im Moment war es eine Melodie, denn Mort komponierte Songs, die er dann auf der Gitarre spielte und dazu sang. Mort war der Schwarm aller Frauen zwischen vierzehn und vierundachtzig in Evelshorn und Umgebung. Der vierte Sohn des Alten war Bob mit dem Beinamen »Shugar«, den er bekommen hatte, als er im Kleinkindalter immer Zucker gewollt hatte. Shugar heißt Zucker. Bob »Shugar« war von dem zehn Jahre älteren Fox und dem sechs Jahre älteren Barky aufgezogen worden. Denn seine Geburt hatte Archie Roos’ dritter Frau das Leben gekostet. Auch die zweite war ihm gestorben, als sie nach John ein zweites Kind bekam. Mutter und Kind überlebten die Geburt nicht. Die erste Frau hatte Archie Roos übrigens fast so dramatisch verloren, wie er selbst jetzt abtreten mußte: Sie war auf einem wilden, übermütigen Ritt vom Wege abgekommen, und als vor ihr eine Schlucht auftauchte, wollte sie darüber hinwegspringen, doch das Pferd kam nicht einmal bis zur Hälfte. Roß und Reiterin stürzten achtzig Meter tief. So einen Tod hatte sich auch Archie Roos immer gewünscht. Ganz war es nicht so gekommen, doch in etwa war ihm der Wunsch schon erfüllt worden. Er sah nur auf Claire. Sie war sein Kleinod, sein Liebling. Die Jungen hatten ihn nie groß gekümmert. Klar, verhungert sind sie ihm nicht, und anzuziehen hatten sie auch, aber
ansonsten war er nie sehr scharf auf sie gewesen, sah sie am liebsten gehen als kommen. Aber Claire, Donnerwetter, das war immer etwas anderes. Claire, die war so, wie er sich eigentlich seine Frauen gewünscht hätte. Na ja, dachte der Alte, die erste war schon fast nach meinem Wunsch gewesen, aber liederlich war sie, ja, wild, aufregend, temperamentvoll ... nur eine Schlampe. Na gut, die zweite war eine Hausfrau. Zu sehr Hausfrau! Er dachte an die dritte, die Mutter von Barky, dem um ein Jahr jüngeren Mort, Shugar und Claire ... ja, sie war gut gewesen, liebevoll, zärtlich, aber zu brav, Himmel, viel zu brav. Immerhin besaß sie nicht diesen Putzfimmel wie die Mutter von Fox ... Claire hat alles, was eine Frau haben muß. Sie hat Temperament, sie hat Rasse, sie kann schmusen wie eine Katze, sie ist klug, und sie ist eine tüchtige Hausfrau. Ja, wer Claire bekommt, kann sich die Finger lecken. Ich wette, sie ist die einzige, die jetzt nur an mich denkt. – Ha, die Jungs, die denken nicht an mich, Fox und Barky haben mein Geld im Kopf, und Mort träumt von einem Weib. Wetten, daß er wieder irgendein Weib im Schädel hat? Claire nicht. Die denkt an mich. Shugar hingegen denkt bestimmt nicht an mich. Dieser Kerl ist von seinen Brüdern versaut und verdorben. Nein, ich habe es richtig gemacht, daß ich das Geld versteckt habe. Und Claire soll es allein haben. Pshaw, diese Narren werden sich am Ende noch gegenseitig umbringen. Sie starrten ihn an, auch Mort blickte jetzt auf den Vater. Die Melodie war vergessen. Mort spürte, daß der Tod im Raum stand. War er es, der die Kerzen flackern ließ? Wieso flackern sie? dachte Mort. Die Tür ist zu, das Fenster auch. Wieso flackern die Kerzen? Shugar, neunzehn Lenze jung, hatte bis eben noch an seines Vaters Schatz gedacht, aber diese sagenhafte Geldkiste vergaß
er jetzt. Irgendwie spürte er den eisigen Atem des Sensenmannes. Und so blickte Shugar wie gebannt auf das verwelkende Gesicht des Alten, der unwiderruflich gehen mußte. Es war still im Raum. Der rasselnde Atem des Alten war zu hören. Nun rede schon! dachte Fox. Sag uns, wo du die Kohlen vergraben hast! Mitnehmen kannst du sie nicht, so sehr es dich auch reut, alter Mann! – Er hat uns Jungs immer wie den letzten Dreck behandelt. Frauen, das war sein Leben. Und Töchter hat er sich gewünscht, am liebsten ein Dutzend. Und das wäre vielleicht gut gewesen, wie? Zwölf Töchter, dann hätte er sich nach einem Sohn die Finger geleckt. Aber so hat er nur Claire. Verdammt, nett ist sie schon, aber raffinierter, als der Alte denkt. Ach was, der hätte es nicht einmal sehen wollen, wenn es ihm klipp und klar bewiesen worden wäre. Rede, Alter, bevor es dich mitreißt, und du es nicht mehr sagen kannst! dachte er wieder. Fox warf einen kurzen Blick auf Barky, der neben ihm stand. Mit dem hatte er sich immer blendend verstanden. Die vier Jahre, die sie im Alter auseinander waren, hatten nur in der Kindheit eine Rolle gespielt. Jetzt paßten sie großartig zusammen. Wenn sie zu zweit in einen Saloon kamen, begannen die Saloonkeeper schon zu zittern. Barky stand zu seinem Vater, wie auch Fox das eigene Verhältnis sah, also nicht sehr gut. Er war zeitlebens von seinem Vater getreten und beschimpft worden und begriff nur immer, daß Claire die Rosinen bekam. Du wirst die Kleine auch jetzt wieder vergolden, Alter, dachte Barky. Es beeindruckte ihn kaum, daß der Alte starb. Er wäre gar nicht gekommen, hätten sie nicht alle von seinem Geld gewußt, natürlich auch er. Du hast ja jahrelang immerzu davon gequatscht, Alter,
überlegte Barky. Hast immerzu Wind gemacht von deinem verdammten Schatz. Mann, ich würde lachen, ja, lachen würde ich, wenn das alles gesponnen war. Paßt zu dir, Alter. Uns alle verarschen und hochnehmen! Dann bist du früher überhaupt nicht auf dem Segelschiff gefahren, was? War am Ende auch eine von deinen vielen Geschichten. Mensch, das hast du immer gekonnt, großartig gekonnt: Geschichten erzählen. Gut, spannend waren die, aber gelogen auch. Zur Hölle, vielleicht ist es gar kein Geld, keine Goldstücke von diesem britischen Piratenschiff. Hoh! Vielleicht eine kleine Kiste mit wertlosem Plunder! Der Alte starb, doch noch war sein Blick klar. Er hatte nur Augen für Claire. Und er zermarterte sich im Sterben den Kopf, ob Claire nicht vielleicht doch an das Geld dachte. Ob er sich womöglich in ihr getäuscht haben könnte. Sie sah so gespannt drein. Als wenn sie endlich erfahren wollte, wo das Geld sein konnte. Das Geld von der englischen Piratenbark »Silver Cloud«. Sie macht dieselben gierigen Augen wie John! Ah, es stimmt, wenn sie ihn Fox genannt haben. Aber warum sieht sie auch so aus wie er? fragte sich der Alte. Ich muß weg. Ich habe nicht mehr viel Zeit. Die Beine werden kalt. Es ist alles schon wie abgestorben in mir. Ja, womöglich ist sie doch wie die Jungen. Es liegt ein Fluch auf der Kiste, dachte er, ein Fluch, den dieser Steuermann ausgerufen hat, dieser Lumpenhund, der unseren Bootsmann mit dem Belegnagel erschlagen hat ... Verdammt, das ist lange her! Hoho, lange her. Aber sie sind alle tot, diese Burschen, lange, lange tot. Ich war der einzige Überlebende der »Dover«, der einzige, ich der Bootsmannsmaat, der Mann, der nicht verbrannte, der nicht ertrank und den auch die Haie nicht erwischen konnten. Nie mehr die See sehen, habe ich mir damals geschworen, als ich
mehr als zwanzig Tage im vollgelaufenen Boot im Atlantik herumgeschwommen bin. Nie mehr ein Schiff betreten. Tja, aber die Kiste mit dem Goldgeld, die habe ich nicht weggeworfen, obschon ich mehrmals überlegt habe, ob es nicht besser wäre, weil sie das Boot noch tiefer ins Wasser gedrückt hat. Aber ich habe sie gerettet, eine Kiste voll mit diesen Goldstücken, wie hießen sie noch? Ach ja, Sovereign hatte dieser verdammte Engländer gesagt. Und unser französischer Schiffszimmermann nannte sie Souverain d’or ... Ich habe sie gerettet, die ganze Kiste. Und nachher, diese Plackerei, als ich sie schleppen mußte, damals an der mexikanischen Küste. Die Esel hätte mir keiner verkauft, die mußte ich Stehlen. Ja, jetzt wollen sie wissen, wo es ist. Jetzt sehen sie mich an, alle fünf. Claire, das hätte ich nicht gedacht. Du siehst mich so gierig an wie die Jungen. Nein, Mort sieht mich nicht gierig an. Der träumt wieder wie immer. – Ich glaube, ich werde keinen bevorzugen. Sie taugen alle nichts, alle fünf nicht. Er räusperte sich, dann kam es heiser und leise aus seinem Mund: »Das Haus ... in der Stadt ... kriegt Claire ...« »Er fängt mit ihr an wie immer«, raunte Fox seinem Bruder Barky zu. »Die ... Rinder ... und die Gebäude ... bekommt ... Shugar ...« Alle sahen den Jüngsten an. Und Barky meinte mit seinem bellenden Organ: »Ein Küken wird Rancher! Na, der alte Mann hatte wieder mal den rechten Blick für den rechten Mann!« Es sollte anerkennend klingen, aber den Hohn in seinen Worten hätte höchstens ein Tauber überhört. Der Alte zeigte mit keiner Miene, ob er Barkys Bemerkung registriert hatte oder nicht. Tatsächlich kostete ihn das Reden mehr Kraft, als er selbst erwartet hatte. Er fühlte, daß es mit ihm zu Ende ging. »Ihr anderen ... bekommt die Kiste.« Er räusperte sich
wieder, und die drei Brüder beugten sich weit vor, um nur ja keine Silbe zu überhören. »Die Kiste ... mit ... spanischem Goldgeld ... Ich habe ... sie versteckt. Ich ...« »Wo versteckt?« bellte Barky, der offenbar Angst hatte, der Tod könnte schneller sein als die Erklärung des Alten. Das welke Gesicht verzog sich. Jetzt macht er schlapp, dachte Fox. Er schmeißt den Kübel um und hat es nicht mehr sagen können. Aber der Alte sprach plötzlich, und es klang fester, kräftiger als eben noch. »Ich habe sie auf dem Mount McDermott. In einer Felsspalte ...« Es überkam ihn wieder. Jäh verfiel er. Sein Blick schien sich zu trüben. Er starrte zur Decke, wirkte mit einem Male teilnahmslos. Doch dann bewegten sich seine Lippen, und Barky sprang vor, lauschte und hörte den Alten lispeln: »Ein Plan ... im Bett ... ich liege drauf ... Ich will ...« Aber er sollte nie mehr sagen, was er wollte. Er röchelte unvermittelt, seine Lippen wurden kreidig und die Nasenspitze blutlos. Dann ging ein leises Zittern durch seinen Körper. Und wieder flackerten die Kerzen, als habe ein Windstoß sie bewegt. Aber die Tür war geschlossen, ebenso die Fenster. »Er ist tot«, sagte Barky, und es klang nun doch beeindruckter als die Worte vorhin. Auch Fox wirkte verstört, Claire schluchzte, und Shugar schluckte tapfer. Nur Mort verriet nicht, was in ihm vorging. Es war, als blicke er durch den Toten hindurch. Fox trat neben das Bett und schloß dem Toten die Augenlider. Dann wandte er sich um, blickte seine Halbgeschwister an und sagte ernst: »Er ist also abgetreten. Für dich, Claire, ist alles klar, dir hat er das Stadthaus vermacht, und da hängt immerhin einiges dran. Der Store, das Fuhrgeschäft ...« »Du und Barky, ihr bekommt die Kiste!« rief Claire, als sei
sie mit einem Trinkgeld abgespeist worden. Plötzlich schrie Shugar auf. »Er bewegt sich! Er ist nicht tot, Barky, er bewegt sich!« Barky und Fox sahen sich um, und da bemerkten sie es auch. Die Hände des Alten schienen sich zu bewegen. Eben hatten sie noch an seinen Seiten gelegen, jetzt aber befanden sie sich verschränkt über seiner Brust. Alle fünf, die vor ihrem toten Vater standen, sahen sie, wie seine Arme und Hände noch immer zuckend in Bewegung waren. Es sah aus, als bewege sie ein mechanischer Antrieb. In diesem Moment erlosch eine der Kerzen. Die fünf Erben sahen sich an, und jeder vermutete den anderen als denjenigen, der die Kerze ausgeblasen haben könnte. Genau in diesem Augenblick erlosch die zweite, und sie standen alle im Dunkeln. »Verdammt, was soll das?« keuchte Fox. »Fluche bitte nicht, John!« bat Claire, die Fox als einzige bei seinem wahren Vornamen nannte. »Mach doch einer Licht!« rief Barky. »Wo sind denn nur meine Zündhölzer?« Shugar hatte ein Streichholz, brannte es an, aber es erlosch sofort wieder. »Um Himmels willen, was ist das denn?« rief Claire mit überschlagender Stimme. »Was soll sein?« knurrte Barky, der nun auch ein Streichholz anzündete, und bei ihm blieb es brennen. Er ging damit zu einer der Kerzen, brannte sie an und nahm sie aus dem Leuchter, hob sie hoch, daß der Schein auf den Toten fiel und auf die bleichen Gesichter der Geschwister. »Es hat alles eine Erklärung«, sagte Barky. »Jetzt sind seine Arme ruhig. Sie haben sich bewegt, weil die Muskeln sich irgendwo verkrampft haben. Menschenskind, Leute, das kennt
man doch, das ist doch natürlich. Und ihr tut, als ginge hier ein Geist um. – Jetzt werden wir drüben ins andere Zimmer gehen und alles in Ruhe besprechen.« »Und wieso sind die Kerzen ausgegangen?« fragte Shugar herausfordernd. »Die Fenster werden nicht dicht schließen«, erwiderte Barky. »Also, geht nach nebenan!« Sie gingen, und Barky wartete, bis sie alle draußen waren. Den Plan haben sie alle vergessen. Sogar Fox. Also, ohne den Plan geht es nicht. Ich werde ihn gleich mitnehmen. – Hoh, wenn ich damit etwa noch warte, wer weiß, wer ihn sich da an Land zieht ... Er trat neben das Bett, griff unter den Toten, und weil ihm die Kerze im Wege war, steckte er sie in die erstarrenden Finger des Toten. »Ja, leuchte mir mal, Alter! – Na, wo ist das Ding denn? Ich werde ...« In dieser Sekunde traf es Barky wie ein Keulenschlag. Denn plötzlich sagte eine fremde, sehr tiefe Stimme: »Barky, du bist und bleibst ein Strolch. Du willst deinen Bruder betrügen! Du willst diesen Plan jetzt an dich nehmen und deinem Bruder verschweigen, daß du ihn hast. – Barky, du bist und bleibst wirklich ein Lump!« Barky stand leicht vorgebeugt, eine Hand noch unter der Leiche. Und er stand so, als habe ihn der Schlag getroffen. Die Stimme! Verdammt, woher kommt denn diese Stimme? Wer ist das? dachte er und sah sich überall um. Doch da waren glatte Wände, die Tür, die zugefallen war, das geschlossene Fenster. Nein, sagte er sich, der da gesprochen hat, muß hier im Zimmer gewesen sein. Er bückte sich, sah unters Bett. Aber da war nichts. O Alter, du spielst uns doch keinen Streich, was? Du bist doch wirklich tot! überlegte er und fühlte dem Toten den Puls. Der Arm war kalt wie Eis. Was Barky spürte, war sein eigener
Puls, sonst nichts. Da spürte Barky Luftzug, ganz deutlich, es war ein Luftzug, und die Kerze flackerte wieder ... flackerte, da, sie ging aus. »Verdammt!« fluchte Barky. Er wollte ein Streichholz nehmen, doch plötzlich packte ihn etwas am Hals. Naß, kalt, grausig ... *** Claire saß zusammengesunken im alten Sessel, in dem ihre Mutter früher gesessen hatte. Sie verkrampfte die Finger ineinander, war aber dabei ganz still. Kein Schluchzen, keine Tränen. Mort lehnte am Fenster, preßte die Stirn gegen die Scheibe und blickte auf die nächtliche Straße. Fox hatte sich auf die Tischkante gesetzt und ließ die Beine baumeln. »Möchte nur wissen, was Barky da ewig treibt. – Claire, wie wäre es, wenn du uns einen Kaffee kochen würdest?« Er sah Claire an, die gar nicht reagierte. Shugar bückte sich, machte die Tür des Küchenherdes auf und sagte: »Das Feuer ist auch aus.« »Mach es wieder an, Shugar! – Eh. Claire, kochst du uns Kaffee?« Fox hatte etwas lauter gesprochen, und jetzt hob Claire den Kopf. Mort löste sich vom Fenster, sah sich um und meinte trocken: »Du tust, als würdest du umkommen ohne Kaffee, Fox. – Wieso kommt Barky nicht?« »Ich denke, er sucht den Plan. – Nimm das trockene Holz, Shugar! Sonst warten wir drei Stunden auf den Kaffee.« »Mann, gibt es nichts Wichtigeres als den verfluchten Kaffee?« schimpfte Mort. »Sicher gibt es wichtigere Dinge, Mort«, erwiderte Fox. »Aber es gibt auch keinen echten Grund, der gegen den Kaffee
spricht. Und ich mag jetzt eine Tasse. – Du auch, Shugar, nicht wahr?« Shugar hatte sich an der Ofentür die Hand und dann damit die Nase schwarz geschmiert. Er sah auf, und Fox mußte lachen. Auch Mort grinste. »Was ist?« fragte Shugar, der wohl nicht verstanden hatte. Fox meinte schmunzelnd: »Rancher ist er, unser Küken. Da hat sich der Alte zu guter Letzt noch seinen Hauptspaß gemacht Unser Küken wird ein Rancher. Gut, er wird uns immer um Rat fragen können, nicht wahr, Mort?« Mort zuckte die Schultern und wandte sich wortlos wieder zum Fenster hin, preßte den Kopf an die Scheibe und spähte in die Finsternis draußen. »Gibt es was zu sehen?« erkundigte sich Fox, aber Mort gab keine Antwort. »Der spinnt auch wieder mal«, brummte Fox und rollte sich eine Zigarette. Claire war aufgestanden. »Also, dann mache ich Kaffee.« »Klar, sag ich doch. – Ob denn Barky den Plan nicht findet?« Fox sah auf Mort, ob der auch jetzt nicht reagieren würde, aber Mort rührte sich nicht, sagte nichts, blickte nur auf die Straße, wo er nach Fox’ Meinung ja kaum etwas sehen konnte. Claire drehte den Docht der Lampe höher. »Holt mir einer von euch Wasser aus dem Brunnen?« »Es steht welches im Holzeimer«, meinte Shugar, der noch im Ofen herumstocherte, woraufhin es zu qualmen begann. Mort hatte sich vom Fenster weggedreht. »Was meinst du, Fox, was an der Sache echt dran ist?« »Du meinst das Goldgeld?« Mort nickte. »Es kommt mir alles etwas spanisch vor. Er bedenkt gerade uns damit, nicht Claire.« »Sie hat das Stadthaus, den Store, die Frachtgesellschaft und ...«
»Wenn es stimmt, was er immer von dieser Kiste erzählt hat, Fox«, sagte Mort nachdenklich, »dann könnten wir uns zwanzigmal soviel kaufen davon, wie er Shugar und Claire vererbt hat. Nein, ich zweifle da an allerlei Sachen.« Fox zuckte die Schultern. »Ich sehe mal nach Barky.« Shugar hatte das Feuer jetzt in Gang, wischte sich die Tränen aus den Augen, die ihm infolge des Rauchs gekommen waren und sah Fox nach, der die Tür mit dem Fuß hinter sich zustieß, daß sie hart ins Schloß fiel. Claire zuckte zusammen bei diesem Knall, blickte zornig auf und meinte wütend: »Er ist furchtbar rücksichtslos!« Mort betrachtete sie lächelnd. Sie war hübsch, die kleine Claire, sogar, wenn sie zornig wurde. Ihr Haar trug sie zum Knoten. Blondes, weiches Haar. Ihr Körper war schlank, gut geraten, etwas, das Männer zwang, sie anzusehen, sie schärfer zu betrachten. Mort dachte an ihren Freund, diesen Patrick O’Keefe, hinter dem Claire her war wie der Teufel hinter der Seele. Warum wohl? fragte sich Mort. Warum ist Claire so wild auf diesen Kerl? Ich kann ihn nicht ausstehen. Dieser geizige, kleinkarierte Korinthenkacker! Der wird ... Ein Schrei unterbrach Morts Gedanken. Mit einem Satz war Mort bei der Tür, stürmte hinaus, über den Flur und hörte den zweiten Schrei aus dem Sterbezimmer. Die Tür stand offen, er stürmte hinein ... da prallte er fast gegen Fox, der nun abermals wie unter einem unwiderstehlichen Zwang aufschrie, als würde er auf gespießt. Da erst sah Mort die Ursache von Fox’ Entsetzen. Auf dem Sterbebett, da lag nicht mehr der alte Roos, und daneben brannten auch keine Kerzen mehr. Auf dem Schrank stand eine Laterne ... Auf dem Bett lag Barky. In seiner Brust steckte ein seltsamer Dolch. Barky lag reglos, und aus der Brustwunde
rann Blut, das mit der Gleichmäßigkeit einer tickenden Uhr auf den Boden tropfte. Pitsch ... pitsch ... pitsch ... Mort spürte, wie es ihm eisig den Rücken hinunterlief. Fox wandte sich ihm zu. »Er ist tot. Ermordet!« flüsterte er. Da bemerkte Mort den kalten Luftzug. Er sah zum Fenster und stellte fest, daß es geöffnet war. Einer der Fensterflügel schwang im Nachtwind hin und her. Mort ging hin, blickte nach draußen, aber da war alles wie ausgestorben. Der Wind nur säuselte um die Dächer der wenigen Häuser von Evelshorn. Mort schloß das Fenster, blickte erneut auf Barky, der friedlich zu lächeln schien. »Ist er wirklich tot?« fragte Mort, ging zu Barky und ergriff dessen herabhängende Hand, fühlte den Puls und spürte nichts als die erkaltende Haut seines Bruders. Er beugte sich mit weit geöffneten Augen direkt über Barkys Mund und hätte auf dem empfindlichen Augapfel den Atem spüren müssen, wenn es einen Atem bei Barky gegeben hätte, aber Barky atmete nicht mehr. Barky war unzweifelhaft tot. Mort packte diesen feinziselierten goldenen Griff des Dolches und riß die Waffe aus Barkys Brust. Die Klinge war infolge des raschen Herausziehens nicht blutig, und so konnte Mort lesen, was in den Stahl geätzt war: H.M.S.S. Silver Cloud, Portsmouth. Mort blickte Fox an. »Es war einer hier. Und der hat Vater weggeschleppt. Oder hast du eine Ahnung, wo ...« Fox war wie vom Donner gerührt. Er starrte, wie Mort jetzt erst bemerkte, gar nicht auf Barky, sondern darüber hinweg auf die Wand. Und dort sah nun auch Mort, wieso Fox so entsetzt dreinschaute. Mit Blut stand auf die Wand geschrieben: »Tod allen, die nach den Sovereigns suchen!«
Plötzlich ertönte hinter Mort ein schriller Schrei. Erschrocken fuhr Mort herum, und auch Fox zuckte wie unter einem Peitschenhieb zusammen. Claire stand in der Tür, die Hände vors Gesicht geschlagen. Und dann kam auch noch Shugar, aber der sagte nichts, der schrie nicht, der stand nur mit offenem Mund und weit aufgerissenen Augen da und starrte auf den toten Bruder und die Worte an der Wand. *** »Was heißt das denn, H.M.S.S. Silver Cloud?« fragte Marshal Ben Stockert, ein bulliger Mann mit gutmütigem Gesicht, aber listigen Igelaugen. »Es war ein Schiff«, erklärte Fox. »Unser Alter ist da irgendwie mal mit denen zusammengeraten. Er war auf der ›Dover‹, auch ein Segler. Da muß es ein Seegefecht gegeben haben, bei dem nur er überlebt hat. Und er ist mit einer Kiste Goldgeld nach tagelanger Irrfahrt ans mexikanische Festland gekommen. Das hat er uns und anderen tausendmal erzählt. Auch vom Fluch des britischen Steuermanns hat er immer berichtet. H.M.S.S. heißt: Her Majesty Sailing Ship – Ihrer Majestät Segelschiff.« »War damals schon Königin Viktoria auf dem Thron?« fragte Stockert »War sie, seit 1837 regiert sie. Und sie hat diese als Privatschiffe getarnten Kaperschiffe ausrüsten lassen. Mich schert das einen Dreck, nur unser Alter hat immerzu davon geredet.« »Euer Alter, hm«, machte Stockert und sah die Reihe von Archie Roos’ Erben an, die vor ihm in seinem Büro standen. »Und wo ist der Alte jetzt?« »Weg, spurlos verschwunden!« erwiderte Fox.
Die anderen nickten wie mechanisch. Stockert sah Roos’ Kinder mit anderen Augen als der Alte. Barky war tot, da biß die Maus keinen Faden mehr ab. Barkys Tod bedauerte Stockert am wenigsten. Die Sauftouren und die ständigen Schlägereien und Schießereien gereichten der kleinen Stadt nicht zur Ehre, aber nun würde damit Schluß sein. Barky war tot. Fox lebte. Der war nach Stockerts Meinung nicht viel besser, nur etwas zurückhaltender als Barky. Vielleicht würde er sich jetzt bessern. Er musterte Claire. Hübsches Kind, nur der Typ, den sie sich da zur Brust nahm, paßte nicht zu ihr. Komisch, daß der nicht neben ihr stand. Sonst klemmt der sich doch immer an sie. So harmlos, wie sie tut, ist Claire auch nicht. Die kann ganz schön keifen, und die Mundwinkel gehen bei ihr auch nach unten. Das hat mir schon meine Mutter in meiner Kindheit gepredigt, daß Menschen mit Vorsicht zu genießen sind, bei denen die Mundwinkel nach unten gehen, dachte Stockert. Sein Blick flog nach Shugar. Der ist wirklich harmlos. Der macht, was ihm seine großen Brüder sagen. Mort, das ist eigentlich der, den ich mag, der einzige von allen. Ein hilfsbereiter, gutmütiger Bursche, der sich verdrückt, wenn es mulmig wird und Lieder auf der Gitarre spielt oder Texte dichtet. Nein, der ist nicht wie die anderen. Verrückt, überlegte Stockert weiter, da verschwindet ein Toter, statt dessen liegt einer der Brüder erstochen im Bett. Stockert betrachtete den Dolch. Zweifellos ein historisches Stück. Aber wie kommt er hierher? Dieser verdammte alte Roos! Nicht nur, daß er die halbe Stadt mit seiner Geldmacht unter Druck gesetzt hat, jetzt ist da auch noch so eine schmutzige Geschichte mit einer Geldkiste. Sicher, davon ist immer geredet worden, daß er noch weit mehr
von diesen Goldstücken haben muß als die, mit denen er hier angefangen hat. Das Messer sieht aus, dachte Stockert, als käme es auch aus dieser Schatzkiste. Aber wie sollte es von da in Barkys Brust geraten sein? Der Schatz, hat Mort vorhin ausgesagt, soll in der Gegend des Mount McDermott liegen. Von den Bergen bis nach Evelshorn sind es gut sechzehn Stunden zu reiten. So ein Schlamassel! Schon zu Lebzeiten hat Roos mich dauernd beschäftigt, dieser alte Geizkragen! Und nun geht es sogar nach seinem Tod weiter, ja, der verflixte alte Kauz ist gleich selbst wie vom Wind verweht. Stockert hatte das Bett untersucht, weil Fox von diesem Plan gefaselt hatte. Aber nichts dergleichen war zu finden gewesen. Nicht einmal eine Spur von Barkys Mörder. Wenn ich nicht ganz genau wüßte, daß Fox und Barky nicht nur Brüder, sondern auch dicke Freunde gewesen sind, dachte Stockert, hätte ich Fox ja im Verdacht. Aber das ist wirklich unwahrscheinlich. Ich glaube, dachte Stockert weiter, wir bekommen in dieser Sache noch eine Menge »Spaß«. Und da hatte er so recht wie noch nie! *** Mort stand am Fenster, die Gitarre in den Händen, aber er spielte nicht. Er hatte wieder die Stirn an der kühlen Scheibe und versuchte etwas von der nächtlichen Straße zu erkennen. Drüben im Haus seines Vaters und auch in anderen Gebäuden suchten Stockerts eingeschworene Helfer immer noch nach der verschwundenen Leiche des alten Roos. Den ganzen Tag hatten sie gesucht. Fox war am Nachmittag mit zwei Pferden und genug Proviant losgeritten, um nach dem Schatz des Vaters zu
suchen. Vorher war er noch Stockert in die Hände gelaufen und mußte sich eine Leibesvisitation gefallen lassen. Doch Stockert fand den vermuteten Plan vom Versteck des Schatzes nicht, wie er wohl gehofft und geglaubt hatte. Shugar half dem Marshal beim Suchen, und Claire war zu ihrem Verlobten Patrick O’Keefe gegangen, der am anderen Ende der kleinen Ortschaft wohnte. Er hatte sich da ein Haus gebaut, das aussah wie ein Herrensitz auf einer Baumwollplantage im Süden. Aber Patrick O’Keefe war kein Baumwollfarmer, sondern betrieb in Evelshorn einige für ihn typische Geschäfte. So verlieh er Geld. Er spielte auch in seinem Saloon. Das war der »Red Elk«, der größere der beiden Saloons. Ihn hatte Patrick O’Keefe im Pokerspiel gewonnen. Seither durfte Johnny, der frühere Besitzer, von O’Keefes Gnaden den Barkeeper spielen, als Angestellter. O’Keefe galt auch als sehr schneller Schütze, und im Augenblick, da Mort an ihn dachte, tauchte O’Keefe schon persönlich auf. Er kam gemessenen Schrittes die Straße entlang, wie immer ließ er sich Zeit, denn Eile war bei ihm völlig unbekannt. Lässig schlenderte er den Sidewalk entlang, blieb dann und wann stehen und sah den aufgeregt herumlaufenden Suchtrupps zu, als wären das Marsmenschen. O’Keefe war groß, schlank, hatte dunkles Haar und trug stets peinlich korrekte Kleidung. Selbst unter dem trüben Schein einer Hauslampe strahlte er vor Eleganz, was auch durch seine Haltung unterstrichen wurde. Er bewegte sich stets bolzengerade, alles an ihm wirkte wie einstudiert. Wer ihn aber deshalb unterschätzte, konnte ein Wunder erleben. Mort beobachtete das affektierte Getue seines zukünftigen Schwagers und fragte sich gleichzeitig, wo Claire stecken mochte. O’Keefe stolzierte jetzt weiter den Sidewalk entlang,
bis er den Mietstall erreicht hatte. Dort bewegte sich die Giebellaterne im Wind und war fast erloschen. Sie spendete nur mäßiges Licht. O’Keefe schien allein dort zu sein. Er stand eine Weile nahe dem Licht, dann verschwand er in einer dunklen Nische. Erst dachte Mort, O’Keefe wäre in den Mietstall gegangen, aber da sah er ihn kurz wieder im Lichtschein auftauchen, und schon war O’Keefe wieder im Dunkeln. Gespannt, was O’Keefe dort beim Mietstall machte, preßte Mort das Gesicht an die Scheibe. Aber so lange er auch wartete, O’Keefe tauchte nicht wieder im Licht auf. Mort wandte sich ab und sah kurz zum Haus des Tischlers hinüber, wo sie Barky aufgebahrt hatten. Sobald der Vater gefunden war, sollten beide gemeinsam begraben werden. Indessen ging die Suche nach dem Leichnam des alten Roos weiter, so intensiv, daß Mort sich schon fragte, ob Stockert die Suche nach dem Mörder Barkys etwa aufgegeben hatte. Mort wollte gerade die Kerze anbrennen und die Vorhänge schließen, als er das spontane Gefühl hatte, es befände sich außer ihm noch jemand im Hotelzimmer. Ich habe doch abgeschlossen, dachte er. Mein Gott, diese ganzen Vorgänge um Vaters Tod, da kriegt man es ja an den Nerven ... Er suchte nach den Streichhölzern, fand sie, riß eines an und sah schon, wie es aufflammte, etwas von der Balkendecke baumeln. Die Kerze brannte, und nun konnte Mort es deutlich erkennen. Eine Seilschlinge. Sie hing an der Decke wie von einem Galgen herab. Und sie bewegte sich. Mort sprang zur Tür. Die war nur angelehnt, nicht verschlossen. Er stieß sie auf, blickte auf den Hotelgang, wo eine Kerosinlampe brannte. Niemand. Alles wie ausgestorben. Ich habe vergessen, abzuschließen. Der Bursche, der mir das
hereingebracht hat, konnte einfach ins Zimmer. Leise genug, daß ich ihn auch noch überhört habe. Ihm fiel ein, daß diese Schlinge gependelt hatte, heftig sogar. Also müßte derjenige, der sie angebracht hat, erst vor kürzester Zeit ... Er ging zu den beiden anderen Zimmern auf dem Gang, riß die Türen auf, ohne lange anzuklopfen. Aber in beiden war niemand. Er wußte ja schon vom Hotelier, daß er in dieser Nacht der einzige Hotelgast sein würde. Es muß noch jemand hier sein! dachte Mort und kehrte nachdenklich in sein Zimmer zurück. Die Kerze rußte mit langer, zuckender Flamme auf dem Tisch. Morts erster Blick fiel auf die Galgenschlinge. Sie hing jetzt still, drohend und unheimlich vom Balken herab. Eine Warnung, dachte er, eine Drohung wie jene, die mit Blut über Barkys Leiche an die Wand geschrieben worden war. Wer ist es? Dieser Steuermann, von dem sein Vater immer erzählt hat? Dieser Engländer von der »Silver Cloud«? Ein Mann, der seit Jahrzehnten tot ist, kann hier nicht herumlaufen. Es muß jemand sein, der diesen Schatz allein haben möchte. Jemand, der ... Morts Gedanken rissen abrupt ab. Denn plötzlich raschelte etwas hinten, wo das Bett stand. Mort zuckte erschrocken herum ... da sah er es. Ein Mann? Ein Gespenst? Ein Trugbild? Neben dem Bett stand eine Gestalt. Bärtiges, gespenstisch graues Gesicht, tiefliegende Augen, auf dem Kopf ein Zweispitz, darunter die zerlumpte, ehemals wohl farbenfrohe Uniform eines Seeoffiziers. Jetzt waren es nur noch Fetzen. Ein Säbel hing am Gürtel, eine uralte Vorderladerpistole steckte im Hosenbund. Er sah aus, wie Mort sich schon als Junge einen Piraten vorgestellt hatte.
Dann aber entdeckte Mort noch etwas. Auf dem rot-weiß blauen Band der Säbelschärpe stand in ehemals goldenen Buchstaben: H.M.S.S. SILVER CLOUD. Der Steuermann! fuhr es Mort durch den Kopf. Der Geist des Steuermanns! Das Gesicht dieser unheimlichen Gestalt verzog sich zur Grimasse. Und mit einer wie aus dem Keller hallenden Stimme sagte der Fremde: »Du wirst sterben, wenn du nicht verschwindest! Du mußt es jetzt tun! Jetzt gleich. Und darfst nie mehr wiederkommen!« Der Akzent! dachte Mort. Ein Ausländer! Er spricht genau ... ja, wie dieser Doc aus Camp Hales, das war doch ... ja! Der war ein Engländer. Und der hier, das muß ebenfalls ein Engländer sein! Der Steuermann! Es ist der Steuermann! Mensch, ich bin übergeschnappt! dachte Mort und zwang sich zu sachlichem Denken. Der Steuermann wäre jetzt vielleicht ein Mann von siebzig, achtzig Jahren. Ganz sicher ist dieser Bursche dort jünger. Der ist kaum über vierzig. »Du hast wenig Zeit! Nimm dein Zeug, sattle dein Pferd und verzieh dich!« wiederholte der Fremde seine Drohung. Die Augen! dachte Mort. Was hat der nur für Augen? Das ist ja, als könnten die wie Messerspitzen stechen. Das bohrt einem ja richtig in die Haut. Diese Augen! Wo habe ich nur solche Augen schon gesehen. Es sind blaue Augen, leuchtend blau. Aber sie erinnern mich an jemanden ... An wen nur? Warum starrt er mich so merkwürdig an? Dieser Geruch! Der riecht ... nein, der riecht nicht nur, der stinkt wie ein Wiedehopf! Warum, zum Teufel, stinkt der so? Das riecht ja wie so ein verendetes Kalb. Leichengeruch! O Himmel, ist das möglich? »Verschwinde! Jetzt! Sonst mußt du sterben!« knurrte dieser Fremde.
»Wer bist du?« fragte Mort. Und er dachte, als er diesen Typ ansah: Der will sich gesundstoßen. Der hat sich was einfallen lassen, dieser Tramp. Der mußte sich vielleicht auch einmal meinem Alten seine Geschichte anhören. Viele mußten das. Und der hat jetzt eine Idee gehabt, die goldene Eier legen soll. Aber wieso? Was hat er davon, wenn ich verschwinde? Der Plan! Der sucht den Plan, den vielleicht nur Barky gefunden hat. Oder der nicht mal. Die suchen alle den Plan. Vielleicht ist das der Schweinehund, der Barky umgebracht hat. He, sicher ist er das. Dieser Hundesohn spielt den Geist des alten Steuermanns. Na warte! »Ich habe dich etwas gefragt!« sagte Mort eine Spur schärfer. »Ich bin ein Freund, der es gut mit dir meint. – Du wirst umkommen, wenn du nicht auf meine Warnung hörst.« Er lächelte plötzlich. Dabei sah Mort die Zahnruinen dieses Menschen. Aber der sprach schon weiter. »Du willst jetzt deinen Revolver ziehen und auf mich schießen, weil du denkst, ich wäre derjenige, der deinen Bruder umgebracht hat. – Du irrst dich. Dein Bruder könnte noch leben, wenn er nicht allein im Sterbezimmer deines Vaters zurückgeblieben wäre. Dein Bruder wollte euch alle betrügen. Allein wollte er jene Goldkiste heben. Allein. Aber er hätte sie nicht gefunden. Keiner wird sie ohne meine Hilfe finden. Keiner!« »Und woher weißt du es?« fragte Mort, der jetzt immer mehr sein Selbstvertrauen wiedergewann und diesen Burschen dort für einen einfallsreichen Trickser hielt. Nicht für mehr. »Ich bewache dieses Gold«, behauptete die fremde Gestalt. Du hast Barky umgebracht, du Stinktier! dachte Mort. Du verdammte dreckige Ratte bist es gewesen, denn nur du hast ihn offenbar gesehen. Sonst wüßtest du nicht so viel von ihm. Na warte! Und dann riß Mort den Revolver aus dem Holster, glatt,
flüssig, schnell wie immer. Mort war stets schnell gewesen, seit er damals mit diesem Spieler umhergezogen war. Von dem hatte er es gelernt, schnell und sicher zu schießen. Und so schnell war er auch jetzt. Die zerlumpte Gestalt mit dem kuriosen Hut stand vor ihm, und der Kerl lächelte auch noch unbeeindruckt. »Willst du mich jetzt erschießen? Schieß doch! Sieh her, es haben schon vor dir welche auf mich geschossen!« Und damit riß er sich die zerlumpte Jacke auf, so daß eine behaarte, tätowierte Brust sichtbar wurde. Doch außer den Tätowierungen waren da Schußlöcher. Eigenartige, zerfranste Löcher mit dunklen Rändern. Offene Löcher, wie es schien. Eine Brust mit gut sieben, nein, acht waren es sogar, acht Löchern. Die bluteten nicht, die waren nicht vernarbt, einfach Löcher waren es wie in einem Stück alten Leder. Verrückt! dachte Mort. Da muß doch Blut rauskommen! Da müßte doch ... Da war die Kerze aus! Mort schoß, feuerte einfach in die Richtung, wo der Kerl eben noch gestanden hatte. Aber da hörte er an der Tür Hohngelächter. Die Tür schlug zu, und Mort dachte in diesem Augenblick: Eigenartig, ich hätte doch das Licht vom Flur sehen müssen. Aber es ist stockdunkel hier. Stockdunkel! Er stürmte zur Tür hin, flog über einen Stuhl, der da vorher noch nicht im Weg gestanden hatte, schlug hin, fluchte, raffte sich auf, während sein Schienbein vom Anprall heftig schmerzte, rannte zur Tür weiter, riß sie auf ... Draußen brannte die Kerosinlampe wie schon den ganzen Abend. Und das Licht, so trübe es sonst sein mochte, blendete Mort, der aus der Finsternis kam. Aber ich habe doch gehört, wie die Tür zugeschlagen ist! überlegte er. Der ist doch ... Ich muß Licht machen, genau, sonst ist der Schweinehund womöglich noch hier im Raum und
... Der Schlag, der plötzlich seinen Kopf traf, riß ihn aus allen weiteren Gedanken. Er spürte nur noch den Schmerz, sah rasende gelbe und rote Kreise vor Augen, schließlich meinte er endlos tief zu fallen. Den dröhnenden Schlag, den es tat, als er auf die Dielen schlug, den spürte und hörte er schon nicht mehr ... *** Marshal Stockert hockte müde auf seinem Pferd. Die aufgehende Sonne kroch vor ihm über die Zacken der Berge, und das blendete, machte müde und zwang den Marshal, die Augen zu schmalen Schlitzen zusammenzukneifen. Er hatte sich den Hut tief in die Stirn gezogen. Aber die Spur lag vor ihm. Die hatte er die ganze Nacht durch nicht verloren. Fox war unentwegt geritten. Nicht sehr schnell, aber eben ständig mit nur sehr kurzen Pausen dazwischen. Das zwang Stockert, ebenfalls auf eine richtige Rast oder eine Mütze voll Schlaf zu verzichten. Aber jetzt, bei Morgengrauen, war er todmüde, und sein Pferd stolperte immer öfter. Er hielt an, und der Braune reagierte schon, als Stockert nur die Zügel aufnahm. Stockert rieb sich die Augen, massierte sich die Schläfen, aber zwei Nächte ohne Schlaf ließen sich nicht einfach überspielen. Er saß ab, reckte sich, trank aus der Feldflasche und gab dem Braunen aus dem Hut zu saufen. Aber der Braune soff kaum. Er war nur müde wie sein Reiter. Blinzelnd spähte Stockert der Hufspur nach, Fox’ Hufspur. Ich folge ihm, dachte Stockert, weil ich ihm nicht traue. Auch nicht, wo ich annehmen kann, daß er den Plan nicht hat. Oder hat er ihn doch? Es gibt hundert Verstecke, die ich bei
der Leibesvisitation hätte übersehen können. Die Spur geht genau auf die Berge zu. Er wird am Mount McDermott suchen, er wird nie aufhören, es zu suchen, aber ich denke, er hat den Plan oder er hat ihn sich so genau angesehen, daß er weiß, wie er aussieht. Ich muß ihm folgen. Dann werde ich erfahren, ob er nicht der Mörder seines Bruders ist. Und wenn alle sagen, das hätte Fox nie getan, nicht mit Barky, so beweist mir meine Praxis, daß mancher manches tut, was ihm keiner zugetraut hätte. So wie Bud Barchols, der seine Geliebte umbrachte, und hinterher wußte er selbst nicht mehr, warum er das getan hat, denn niemanden hat er mehr geliebt als dieses Mädchen. Aber sie war tot, und er hatte es getan. Nein, man kann nie sagen, der und jener, die tun das oder dies niemals. Donnerkeil, ich traue es Fox auch nicht zu, aber wer kann in einen hineinsehen? Der Wald dort vorn, das wäre eine Möglichkeit zum Lagern. Aber ich wette, an dem ist Fox auch vorbeigeritten, um nur ja rasch in die Berge zu kommen. Verdammt, das bezahlt einem ja keiner, was ich bei diesem miesen Gehalt machen muß! Stockert saß wieder auf, was sein Brauner mit wütendem Schnauben quittierte. Dann ging es im Zuckeltempo weiter. Aber mit der steigenden Sonne verbesserte sich auch Stockerts Laune. Denn die Spur von Fox’ Pferd führte nicht am Wald vorbei. Sie führte geradewegs hinein. Nun, ein Wald war es nicht so recht, eher Buschwerk, verfilzt und geduckt vor dem steten Wind in einer Bodenmulde, die es völlig bedeckte. An den tiefsten Stellen hatten sich ein paar Sykomoren entwickeln können, waren aber nicht viel höher als sieben, acht Meter geworden, doch ihr Holz war knorrig und ausladend. Ein Trampelpfad führte auf die Gruppe der Bäume zu, die von dichtem Buschwerk umringt waren. Aber direkt um diese
Bäume und unter ihnen wuchs nur Gras. Die breiten Kronen der Sykomoren ließen anderes darunter nicht hochkommen. Dieser freie Platz war offenbar schon von Hunderten von Vorbeikommenden zum Lager erkoren worden. Überall waren erloschene schwarze Feuerstellen zu sehen. Doch Stockert sah kaum hin. Er hatte etwas anderes entdeckt, das seine Aufmerksamkeit voll in Anspruch nahm: das Pferd von Fox. Es stand mit hängendem Zügel neben einem der knorrigen Stämme. Eben hatte es noch gefressen, aber nun blickte es mit trüben Augen dem Marshal entgegen. Und jetzt erst entdeckte Stockert die Stiefel. Sie baumelten unter den belaubten Zweigen des tiefsten Astes. Ahnungsvoll ritt Stockert weiter. Sein Pferd wieherte schrill, und das Tier von Fox schnaubte leicht. Dann war Stockert nahe genug. Er starrte nach oben, sah die Beine, die in den schmutzigen Stiefeln steckten, graue, gestreifte Hosen waren das. Dann ein Gürtel mit einem leeren Revolverholster, ein verwaschenes, blaues Hemd, die Schlinge, der Kopf. Nein, es ist nicht Fox! Der da hängt schon tagelang hier. Und nun rieche ich es auch, dachte Stockert. Ja, tagelang. Komisch, es müßten doch Geier hier sein oder andere Tiere. Coyoten? Er blickte nach unten. Unzählige Fußspuren. Alles große Füße von Männern. Keine Pfote dabei, nur Stiefelabdrücke. Er hängt noch nicht lange hier, sagte sich Stockert. Er ist zwar schon lange tot, aber hierher hat man ihn erst vor kurzem gehängt. Sonst müßten Tiere hiergewesen sein. Wo ist Fox? Sein Pferd ist da, aber er selbst ... Das Knacken der Äste kam von rechts. Stockert griff rein automatisch an den Kolben seines Revolvers. Aber dort, wo er hinschaute, flog nur ein Vogel auf. Ein schwarzer Vogel, vielleicht ein Rabe. Genau sah Stockert das nicht. »Suchst du mich, Marshal?« fragte es hinter Stockert.
Fox! dachte der Marshal und zuckte herum. Da stand Fox, die Arme in die Hüften gestemmt, grinsend. »Willst du die Kiste suchen helfen?« Stockert ging nicht auf diese Frage ein, deutete auf den aufgehängten Toten und fragte: »Hast du ihn aufgehängt?« »Nein. Er hing da, aber er ist nicht so gestorben.« Stockert nickte. »Ich weiß. Ich habe mir die Spuren angesehen.« »Kluges Kind«, brummte Fox. »Aber nimm ruhig die Hand vom Colt, Marshal. Ich bin keiner von deinen Gegnern, obgleich du mich verdächtigst. Aber Barky, Marshal, der war mir mehr als ein Bruder. Ich will nicht nur die Kiste finden, Marshal. Ich hoffe, daß ich auch das Schwein erwische, das Barky gekillt hat.« Stockert kratzte sich am Kinn, blickte Fox unter halbgesenkten Lidern hervor an und murmelte, daß Fox es kaum hören konnte: »Glaubst du, sie warten auf dich?« »Ich weiß nicht, ob sie auf uns warten, Marshal, aber auf alle Fälle sind sie schon mal da. Dort drüben!« Fox wies schräg nach hinten. Stockert hielt es erst für eine Finte, trat einen Schritt zurück und legte die Hand an den Colt, bevor er sich umdrehte. Aber dann sah er es. Und es war alles andere als einer von Fox’ Tricks. Sie waren zu viert, alle trugen weiße Baumwollanzüge wie Mexikaner. Aber vor ihren Gesichtern befanden sich große rote Masken. Es waren Masken, wie manche Indianerstämme sie bei ihren religiösen Zeremonien benutzten, drei, viermal größer als ein wirkliches Gesicht, mit grellen Farben bemalt, aber vorherrschend rot. So rot wie Blut. Ihre Füße steckten in Schuhen, die wie Mokassins ganz aus Wildleder waren. Indianer, dachte Stockert, das sind Indianer! Aber dann sprach einer von ihnen. Welcher, das vermochte
Stockert nicht zu erkennen oder herauszuhören. Er hatte eine tiefe, sonore und schallende Stimme. »Ihr werdet umkehren, alle beide«, sagte er, und es war nicht die kehlige Stimme eines Indianers. »Ihr werdet zurückreiten, wenn ihr nicht sterben wollt. Oder ihr werdet hier hängen und verfaulen wie der dort! Der wollte auch nicht hören. Kehrt um! Jetzt gleich!« Stockert war müde gewesen, vorhin noch, aber nun wurde er hellwach. Und wenn es etwas gab, das aus dem mitunter träge wirkenden Marshal ein Pulverfaß machen konnte, dann war es Gefahr. Oder eine Drohung. Er kniff die Augen zusammen, sah aus schmalen Schlitzen auf diese vier, die sich glichen wie ein Ei dem anderen. Hoppla, dachte er, hoppla, jetzt kommen sie so! Diese vier Hundesöhne wollen hier absahnen, und ich soll hier den Schafskopf spielen. Falsch gewettet. Ben Stockert wird euch ein bißchen Wind unters Hemd blasen. »Das ist verflucht interessant, Jungs, was ihr da eben verzapft habt. Dann habe ich doch völlig richtig verstanden, wenn ich meine, ihr hättet diesen Burschen dort aufgehängt?« »Dein Verstand vollbringt ein Wunder«, erwiderte der Sprecher drüben, und Stockert wußte immer noch nicht, wer von den vieren nun geredet hatte. »Ja, ich bin schon immer ein schneller und pfiffiger Bursche gewesen, Freunde. Also ihr vier oder einer von euch hat ihn umgelegt und dann aufgehängt, jedenfalls ist er hier nicht gestorben. Richtig?« »Du wirst dich übernehmen, Marshal«, gab der geheimnisvolle Sprecher zur Antwort. »Tja, und wer ist dieser arme Kerl, der nicht auf euch hören wollte?« »Wir kennen seinen Namen nicht. Wir wollen das auch nicht wissen. Wir werden nur jeden töten, der es wagt, trotz
unserer Warnung ins Reich der roten Masken einzudringen. Das Reich der roten Masken, das ist alles Land um den Mount McDermott. Und jetzt verschwindet. Wir ...« Stockert hatte den Revolver schon heraus, riß ihn hoch und schrie: »Auf Mörder wird geschossen!« Aber er schoß nicht. Da stieß ihn nur etwas leicht im Rücken an, ein leichter, piekender Schmerz ... nicht mehr als ein Mückenstich. Gleichzeitig prallte etwas klirrend an Stockerts Revolver, stieß ihm die Waffe aus der Hand. Stockert machte einen Schritt nach vorn, dann brach er zusammen. Wie vom Blitz gefällt Fox, der die ganze Zeit nichts, aber auch gar nichts unternommen hatte, um Stockert zu unterstützen, blickte auf Stockerts Rücken, wo ein Pfeil aus der Schulter ragte, ein kleiner Pfeil, auch sehr dünn der Schaft. Und Stockert lag reglos. Als Fox dann links zu den Büschen blickte, bewegte sich dort ein Zweig sehr heftig, aber dann war auch dieses Zeichen nicht mehr. »Willst du auch auf uns schießen?« fragte der Sprecher der vier roten Masken. »Oder reitest du zurück? Nimm sein Pferd mit!« »Aber ... aber ist er denn tot?« keuchte Fox verstört. »Frage nicht, verschwinde!« Sie kannten Fox nicht. Der Spitzname Fuchs war ihm nicht nur so gegeben worden. Er spielte jetzt den verängstigten, ratlosen Burschen. Scheinbar ängstlich und verwirrt ging er zu seinem Pferd und dazu mußte er näher an die vier heran. Dann war Stockerts Pferd zwischen ihm und jenem Gebüsch, aus dem heraus der Pfeil auf Stockert abgeschossen worden war. Kaum hatte Fox diese Stelle erreicht, um das Pferd als Rückenschutz zu haben, machte er gegen die vier Front, zog mit blitzartigem Tempo den Revolver und schoß.
Der erste Schuß stieß den Maskenträger ganz links vier, fünf Schritt zurück und warf ihn auf den Boden. Der zweite Schuß traf den Mann daneben in den Bauch. Und während ein schrilles Geschrei anhob und der getroffene Maskenträger auf die Knie fiel und sich beide Hände auf die Bauchwunde preßte, schoß Fox noch ein drittes Mal. Aber er traf nicht. Die beiden anderen hatten sich zu Boden geworfen. Fox’ Schuß ging über sie hinweg. Und einen vierten Schuß gab Fox nicht mehr ab. Bevor er abdrücken konnte, spürte er einen jähen Stich überm Schulterblatt und dann sofort einen zweiten am Hals. Fast augenblicklich danach wurde ihm übel, die Knie knickten ihm ein, ein drückender Schmerz in der Brust nahm ihm die Luft. Er brach zusammen, als sei er von einem Baum erschlagen worden ... ***
»Mort, mein Junge, was ist passiert?« hörte Mort wie aus weiter Ferne eine vertraute Stimme sagen. Er schlug die Augen auf, sah über sich das hagere, sommersprossige Gesicht seines Freundes Neville. »Nev, ich ...« »Mensch, du machst Sachen! Du liegst hier auf dem Boden von deinem Hotelzimmer. Was ist denn nur passiert, Mort?« Mort ging es zunehmend besser. »Etwas zu trinken!« sagte er heiser. Neville brachte ihm einen Becher Wasser. »Ich weiß, daß du Wasser nicht mögen wirst, aber jetzt ...« Doch Mort trank ohne Widerwillen. Neville war ein großer Bursche, einundzwanzig Jahre jung und sehr muskulös gebaut, hatte rotblondes Wuschelhaar und hing an Mort wie eine Klette. Für Neville war Freundschaft nicht nur ein Lippenbekenntnis.
Die Sorge um Mort überschattete bei Neville alles übrige Denken. »Ich begreife es nicht. Hat dir einer was auf den Kopf gehauen? Es fehlt aber nichts. Oder fehlt doch was?« »Ich weiß nicht«, nuschelte Mort, dem der Kopf brummte wie ein Bienenschwarm. Neville sah ihn ratlos an. »Es hat keiner etwas von einem Kampf gehört. Bist du auf den Kopf geschlagen worden?« Mort erzählte ihm, was er erlebt hatte. Doch er sah es Nevilles ungläubigen Augen schon an, was der dachte. Und dann sagte es Neville auch noch: »Du, Mort, er muß ganz schön zugeschlagen haben. Du bildest dir doch das andere nur ein. Ein Kerl, der wie einer angezogen war, wie sie vor fünfzig Jahren rumgelaufen sind. Nein, Mort, draufgeschlagen hat dir einer auf deinen Kürbis, aber die Story, was da vorher gewesen ist, die hast du geträumt. Eine Galgenschlinge ist auch nicht vorhanden ...« »Verdammt, Nev, ich habe es nicht geträumt. Du, Nev, hör mal: Wo steckt O’Keefe? Ich habe ihn zuletzt vor dem Mietstall gesehen. Wie spät haben wir jetzt?« »Kurz vor Mitternacht. Und wo O’Keefe ist, weiß ich doch nicht. Ich bin eigentlich gekommen, um dir zu sagen, daß ich im Red Elk mit Heston Wilder und Tom Carson gespielt habe. Ja, Mort, und dann hatte ich vier Könige und den Joker, und Carson hat eine Farbe gehabt und ist mitgegangen, was das Zeug hielt. Fünfhundert Bucks, Mort, fünfhundert Bucks haben im Topf gelegen. Und danach habe ich keine Karte mehr angerührt. Eigentlich bin ich gekommen, um mit dir zu feiern. Auf die vier Könige, den Joker und die fünfhundert knackigen Grünen. Ja, Mort, so hatte ich es mir gedacht, aber da finde ich dich dann so. Mort, wer kann es getan haben ...?« »Wer? Das fragst du? Dieser Knilch mit der Uniform von Anno Tobak! Wer sonst?« Neville schüttelte den Kopf. »Mort, das gibt es nicht. Das ist
ein mieser, ein ausgesprochen saumäßig mieser Dreh. Nein, Mort, die Tüte, die da vor dir aufgekreuzt ist, die hast du entweder geträumt, oder aber, wenn du sie nicht geträumt hast, war es Staffage.« »Was war es?« »Na also einer, den sie so angezogen haben. Auch das mit der Galgenschlinge. Jeder hier kennt doch von deinem Alten die Geschichte mit der ›Silver Cloud‹ und der ›Dover‹ und seinen eigenen Auftritt und was der Steuermann von der ›Silver Cloud‹ in den Ozean geflucht hat. – Mort, hier will dich einer mit Haut und Haaren über den Tisch ziehen. Merkst du das nicht?« »Und was hat er davon?« »Du fragst ganz falsch, Mort. Du mußt fragen, wer hat etwas davon, wenn du hier aussteigst. Dir wollte einer Angst machen. Und du sollst aus dem Rennen sein, wenn ein anderer die Milchkuh ausmelken will. Wer aber kann es sein, dem du im Wege bist?« Bevor Mort antworten konnte, überlegte Neville laut: »Also zunächst wäre da Fox ...« »Mein Bruder? Bist du wahnsinnig?« Neville lächelte. »Ich muß alle erwähnen, die etwas von dem Erbe hätten. Fox also ...« »Was für ein Quatsch! Fox hat sich auf seine Rosinante gesetzt und ist zu den Bergen geritten. Vorher hat Stockert ihn noch zerlegt, weil er wohl denkt, Fox hätte den Plan, von dem mein Vater gesprochen hat.« »Was nicht ausschließt, daß Fox ihn doch hat. Also gut, Fox ist weg. Trotzdem könnte er den faulen Zauber bestellt haben.« »Wenn das einer bestellt hat und wenn ich überhaupt einen im Verdacht habe, dann O’Keefe, diesen Schmierlappen.« Neville schüttelte mißbilligend den Kopf. »Mort, du spinnst! O’Keefe verdient so viel, daß deine Schwester arm wie eine halbe Kirchenmaus sein dürfte; sie brauchte nie Angst
zu haben, daß sie verhungert, nicht als seine Frau. Nein, für O’Keefe gibt es keinen Grund. Der macht auch so Geld wie Heu. Mit ganz legalen Mitteln, etwas rauh, etwas hart, aber fair. Dein Alter war da nicht so wählerisch. Wer ist noch?« »Daß du neuerdings zu O’Keefe hältst!« knurrte Mort ärgerlich. »Ich versuche objektiv zu sein. Er ist in meinen Augen ein ekelhafter Hundesohn, aber er hat was auf dem Kasten, er ist clever wie niemand in Evelshorn, und sogar dein Alter hat immer respektvoll gesagt, daß O’Keefe es faustdick hinter den Ohren hätte. Bei deinem Alten war das so etwas wie ein Orden. Bleib auf dem Teppich, Mort! Wer kommt noch in Frage? Da wäre Shugar ...« »Dann verdächtige mich doch besser, den Präsidenten in Washington umbringen zu wollen. Shugar! Der und Barky ermorden und mir hier so einen stinkenden Kerl auf den Pelz schicken. Da sag doch gleich, daß Claire ...« »Auch sie ist verdächtig«, meinte Neville. »Du hast einen ganz schön großen Knall! Nev, derjenige, der bei mir war, hat womöglich auch Barky umgebracht. Nicht Fox, nicht Shugar, nicht Claire haben den bezahlt. Wenn es nicht doch ein wirklicher Spuk war, dann kann nur O’Keefe dahinterstecken. O’Keefe ist ein Stinktier.« »Du nimmst ihn dir ja wirklich herzhaft zur Brust, deinen zukünftigen Schwager!« meinte Neville grinsend. »Da kann man ja auf das Familienleben in Zukunft gespannt sein. Heston Wilder hat mir erzählt, daß O’Keefe getobt hat, weil er jetzt das Trauerjahr abwarten muß. Sie wollten in vier Wochen heiraten, deine Schwester und O’Keefe.« »Der Schlag soll O’Keefe treffen!« knurrte Mort. »Komm, Mort, es ist zwar spät, aber Johnny läßt uns noch herein. Der Marshal soll außerhalb sein, da kümmert sich kein Schwein darum, wann Johnny zumacht. Komm, Mort, gehen
wir beide in den Red Elk, gurgeln Pumaspucke und ...« »Psst! Hörst du das?« unterbrach ihn Mort. Sie lauschten. Aber es war völlig still. Neville wollte gerade sagen, daß er beim besten Willen nichts hören könnte, da hörte er doch etwas. Ein schauriges Heulen klang von der Straße her ins Zimmer. Es hörte sich an wie von einem Menschen, der jammert. »Ein Hund«, meinte Neville. »Idiot! Das ist ein Mensch!« »Ach was! Hör mal!« Aber es war wieder absolut still. Sie gingen beide zum Fenster, öffneten es und beugten sich hinaus. Nur zwei Lampen brannten noch auf der Straße. Die eine hing mit funzeligem Licht über dem Tor des Mietstalls, die andere leuchtete bedeutend heller über dem »Red Elk«, in dem noch Betrieb zu sein schien. »Nev, wenn ich dran denke, daß du ausgerechnet in den ›Red Elk‹ willst, der O’Keefe gehört ...« »Ich gehe zu Johnny.« »Und O’Keefe verdient daran, du Narr! Johnny ist sein Angestellter, nichts mehr.« »Da! Dort heult es, dort, im Mietstall! Nein, etwas weiter links muß es sein!« rief Neville. »Los, wir laufen hin!« »Es ist im Mietstall. Hörst du nicht, daß da Pferde an die Boxen schlagen? Da schnaubt auch eines. Die Tiere sind unruhig. Nev, das Heulen ist im Stall! Los, nichts wie hin. Ah, mein Kopf! Verdammt, aber es geht schon ...« *** Der Mann stand im Dunkeln und blickte zwischen Vorhang und Scheibe auf die Straße. »Sie sind beide weg«, sagte er dumpf. »Geh jetzt hinüber
und durchsuche sein Zimmer! Gründlich. Du hast genug Zeit.« »Und wenn ich nichts finde?« fragte eine Frauenstimme aus dem dunklen Zimmer. »Einer muß den Plan doch haben! Barky hatte ihn nicht, der wollte ihn ja selbst für sich. Um Shugar kümmert sich Tampo. Du hast verlangt, daß wir Mort schonen. Gut, Tampo hat ihn verschont. Aber wir müssen den Plan haben. Ohne den Plan finden wir nichts. Oh, dieser verdammte Alte hat uns alle ganz schön beschäftigt. Aber ich sage dir, wir kommen dahinter. Geh jetzt!« Leichte Schritte durchquerten den Raum, eine Tür ging auf und im Licht, das vom Flur her die Türöffnung erhellte, zeigte sich der Umriß einer schlanken Frau mit langem Haar, das bis zur Schulter reichte. Dann wurde die Tür geschlossen, und alles war wieder dunkel. Der Mann wischte den Vorhang ein Stück zur Seite und starrte wieder auf die Straße. Er sah zwei Männer auf den Mietstall zulaufen, dann kamen auch aus anderen Häusern Leute, die alle zum Mietstall rannten. »Ihr Narren!« knurrte der Mann, wandte sich ab und lauschte ins Zimmer hinein. Aber da war alles still. Er nahm etwas vom Tisch, der als kaum erkennbares Viereck im Raume stand. Dann zog er es sich über. Leise trat er zur Tür, öffnete sie einen Spalt, blickte auf den von der Kerosinlampe erhellten Hotelflur und huschte hinaus. Als er an der nächsten Tür vorbeikam, klopfte er leise zweimal, dann war er schon bei der Treppe, beugte sich übers Geländer und spähte hinab. Jetzt im Licht war zu erkennen, was sich der Mann übergezogen hatte. Es war eine Kapuze, wie sie der Ku-KluxKlan benutzte. Sie war schwarz und hatte oben nur Öffnungen für die Augen, das übrige Gesicht war völlig bedeckt. Die Kapuze reichte bis zu den Schultern herab.
Auch sonst war diese Gestalt ungewöhnlich gekleidet. Kniebundhosen, wie man sie vor fünfzig Jahren getragen hatte, ein Rüschenhemd, Schärpe und Degen, und die Stiefel aus weichem Leder waren Attribute einer Mode, die längst zur Vergangenheit gehörte. Aber da war etwas, das diese Dinge vergessen ließ. Das Hemd wies einen großen Blutfleck über dem Herzen des Trägers auf. Und an einer Stelle war ein Loch im Hemd, ein kleines Kugelloch. Genau über dem Herzen. Der Mann huschte fast lautlos die Treppe hinab. Unten an der Portiersloge war niemand. Die Hoteltür stand weit offen. Vermutlich war auch der Portier zum Mietstall gelaufen. Der Mann schlich auf die Straße, sah zum Mietstall hin, wo mittlerweile an die hundert Menschen herumstanden, dann war er um die Hausecke des Hotels, lief mit federnden Sprüngen zum Korral, pfiff kurz und duckte sich hinter eine Hecke. Plötzlich ertönte trommelnder Hufschlag. Ein Pferd stob schnaubend heran, verhielt jäh, als sei es von Geisterhand pariert worden; da war der eigenartig Verkleidete schon hinter der Hecke hoch, ergriff die Zügel, sprang elegant in den Sattel und preschte auf dem dunklen Pferd in die Nacht hinaus. *** Er lag, als sei er eben gestorben und hier mitten zwischen Pferden zur ewigen Ruhe gegangen. Friedlich streckte er sich auf einer Decke, die auf der Stallgasse lag. Zu beiden Seiten schnaubten Pferde, die meisten hatten sich bereits an ihn gewöhnt. Was sie beunruhigt hatte, das schauerliche Heulen, erklang nicht mehr. Archie Roos’ Leiche war wieder da! Sie umstanden ihn, vorn Mort und sein Freund Neville Jackson. Die Suche nach demjenigen, der den Toten hergeschafft und so jämmerlich geheult hatte, war beendet.
Ergebnislos. Keine Spuren, keine Hinweise. Der Sargmacher erschien und brachte abermals eine Lampe mit. An die zwanzig leuchteten schon im Stall, und das machte die Pferde erneut unruhig. »Wo ist eigentlich Stockert?« rief der Tischler. »Er ist weggeritten«, erwiderte einer der Männer. »Ich wette, er ist Fox gefolgt und ...« »Ja, das ist er«, rief Harry Durfee, der Deputy Marshal. Er gehörte zu Archie Roos’ Mannschaft in der Stadt. Zuletzt hatte Roos ihn in seinem Store arbeiten lassen, wo er mit dafür zu sorgen hatte, daß keiner ruppig wurde. Denn im Store bedienten Frauen. Nicht, weil Old Archie ein Herz für Damen gehabt hätte, o nein. Weil sie weniger Lohn bekamen. Deshalb. Durfee war ein hagerer, drahtiger Bursche, schwarzes Haar und ein markantes Gesicht, seine selbstsichere Art und der Ruf, ein toller Liebhaber zu sein, machten den dreißigjährigen einstigen Texas-Cowboy zum Idol der Damen zwischen achtzehn und achtzig in Evelshorn. Immerhin war das der Grund, warum Stockert ihn als einen unzuverlässigen Burschen bezeichnete, der im passenden Moment immer in irgendeinem Mädchenabenteuer steckte. Jetzt aber war er zur Stelle gewesen, trotzdem offenbar zu spät. Auch er hatte keine Spuren und noch nicht mal einen Hinweis auf diejenigen entdeckt, die den Toten hergebracht hatten. Als sich die Neugierigen nach dem Einsargen des toten Roos zumeist entfernten, wandte sich Mort an Durfee und erzählte ihm seine Geschichte mit dem Galgenstrick, dem als Piraten kostümierten Burschen, dessen Schußlöchern in der Brust und das, was dieser Mann ihm gesagt hatte. Durfee lauschte interessiert, grinste zuletzt etwas ungläubig, und Mort spürte schon, daß es ihm bei Durfee so erging wie mit Neville. Der kaufte ihm kein einziges Wort als wahr ab.
»Du glaubst es nicht, Harry, wie?« fragte er schließlich. Durfee sah Neville an, als müßte er sich dessen Ansicht erst versichern. Und als er bei Neville wohl dieselbe Auffassung zu erkennen meinte, erwiderte er: »Mort, du bist ein prächtiger Bursche. Schon die Tatsache, daß du wie ich lange als Cowboy geritten bist, macht dich mir sympathisch. Aber die Story, die du dir hier erträumt hast, Junge, die ist einfach nicht drin. Sieh mal, es gibt für alles eine klare Erklärung. Wenn dieser Bursche wirklich bei dir war, dann kann er nicht mit einer Brust voller Schußlöcher herumlaufen, welche auch noch, in die man hineinsehen kann ...« Mort hatte am Pfosten des einen Standes im Stall gelehnt. Der Schlagbaum pendelte hinter ihm an der Kette, und manchmal, wenn der Fuchs, der da angebunden stand, nach Fliegen mit dem Schweif schlug, bekam Mort die Schwanzhaare an den Hals. Jetzt aber wischte ihm der Fuchswallach sogar den Hut vom Kopf. Da er ihn erst aufheben wollte, antwortete Mort nicht, sondern bückte sich, aber der Hut war ein Stück weiter gerollt und lag direkt neben der Futterkiste am Ende der Stallgasse. Mort ging hin, wollte ihn aufheben, aber da sah er ein von Häcksel bedecktes Stück Papier liegen. Es schimmerte nur hell unter dem Häcksel hervor. Irgendwie ahnte er, daß es für ihn bedeutsam sein sollte. Er hätte vielleicht in hundert anderen Fällen gar nicht darauf geachtet. Aber das hier hob er auf. Ein zusammengefalteter Bogen, schmutzig und etwas zerknautscht. Er faltete ihn auseinander, während er den übrigen Männern im Stall den Rücken zukehrte. Die Lampe, die auf der Stallkiste stand, spendete genügend Licht, daß er erkennen konnte, was er da in der Hand hielt. Es war ein Steckbrief, und in ihm eingewickelt lagen zweihundert Dollar in Zwanzig-Dollar-Scheinen.
»Harry, Nev, kommt mal her!« rief Mort über die Schulter zurück. Die beiden kamen, sahen auf seinen Fund, und sofort ergriff Durfee Mort am Handgelenk und raunte ihm ins Ohr: »Los, zu mir ins Office! Pack es weg! Schnell!« Mort tat, wie geheißen, knüllte Steckbrief und Geld zusammen und schob alles in die Tasche. »Ist da was?« rief der Tischler von hinten. »Ich erzähle es euch später! Komm, Mort!« antwortete Durfee, und alle drei gingen aus dem Stall. Draußen wollte Mort Fragen stellen, aber Durfee knurrte nur: »Hier hat alles Ohren! Weg, im Office reden wir!« Das Office lag ein gutes Stück weiter unten an der Straße. Unterwegs begegneten ihnen trotz der späten Stunde noch Leute, die sich nach dem Fund der Leiche erneut im Red Elk versammelt hatten. Und dann kam ihnen O’Keefe entgegen. Es sah aus, als wollte er zum Mietstall. Er ging rasch, erkannte Durfee aber an seinem blinkenden Stern und sagte, während er vor ihnen stehenblieb: »Harry, was ist da eigentlich wirklich passiert?« »Ach du bist das, Pat!« erwiderte Durfee. Mort preßte wütend die Lippen zusammen. Du steckst hinter allem, dachte er, du, Patrick O’Keefe. Und ausgerechnet dieser Schurke soll meine Schwester bekommen? »Ja, sagt mal, was los ist? Ach, Mort ist ja auch dabei. Hallo, Mort!« O’Keefe zündete sich seine Zigarre an, und im Licht des Streichholzes entdeckte er nun auch Neville Jackson. »Hallo, Nev!« »Hallo, Pat«, antwortete Neville, während Mort keinen Ton von sich gab. Trotzdem wandte sich O’Keefe an ihn. »Kommst du nicht mehr in meinen Saloon? Na ja, wegen dem Vater. Ich verstehe. Aber sehr hast du nicht an ihm gehangen, wie ich meine. Dein
Gitarrenspiel fehlt uns. Die Jungs fragen immer wieder nach dir. Du hast schöne Lieder gesungen.« »Böse Menschen haben keine Lieder«, knurrte Mort gereizt. »Nun mal nicht gleich so giftig, Mort«, versuchte ihn Durfee zu beschwichtigen. Er wandte sich wieder O’Keefe zu und sagte versöhnlich: »Geh mal zum Stall, Pat, der Tischler und seine Leute sind da. Die erzählen dir, was war. Ich muß zum Office.« »Eine heiße Spur?« fragte O’Keefe interessiert. »Kaum. Du hörst später mehr. Also, bis dann!« Sie gingen, und Mort drehte sich noch einmal um, bis O’Keefes schlanke Gestalt unter dem Licht der Stallampe auftauchte. »Dieser Hundesohn!« knurrte Mort. Neville lachte leise, und Durfee sagte: »Ich weiß nicht, aber irgendwie finde ich deine Abneigung töricht. Er hat eine Menge auf dem Kasten, das mußt du zugeben. Er sieht gut aus, er verdient massenhaft Geld, ist aber nicht geizig, wie viele behaupten, denn er hilft oft einem armen Kerl, und deine Schwester ist doch reinweg verrückt nach ihm. Was, zum Teufel, hast du gegen ihn?« »Er stinkt mir! Und ich sage, er steckt hinter allem. Er!« »So einen Blödsinn habe ich den ganzen Tag noch nicht gehört«, brummte Durfee. »Weißt du, Mort, manchmal ...« Sie kamen nicht mehr dazu, dieses Thema weiter zu erörtern. Denn genau in diesem Augenblick rief Neville: »Dort oben! Seht doch dort oben!« Und er zeigte zum Giebel des Stores, den Claire geerbt hatte. Ein großes Gebäude mit einer Laderampe unter dem Giebel. Und darüber befand sich das Schiebetor zum Lagerraum, über ihm aber nochmals eine Luke, die zum Getreidespeicher gehörte. Und über dieser Luke befand sich ein schwerer Balken, der gut zwei Meter weit wie ein Kran aus der Wand ragte. An ihm war der Flaschenzug
angebracht, mit dem Säcke hochgezogen oder herabgelassen werden konnten. Doch jetzt hing da kein Sack. Etwas anderes hing daran. Sie konnten es im matten Licht nicht richtig erkennen, wer es war. Doch daß es ein Mensch sein mußte, sahen sie alle drei. Am Aufzug des Stores hing ein Mensch! »Eine Lampe! Los, die Lampe drüben vom Red Elk! Nev, hol du sie her!« sagte Durfee aufgeregt. »Mann, wer mag das sein?« meinte Mort. Er rannte schon los, um näher zum Store zu kommen, sprang auf die Laderampe, spähte nach oben. Ein Mensch, ein Mann, der da baumelte wie unter einem Galgen. Er schaukelte sanft im Nachtwind. Und der Mond, der jetzt aufgegangen war, ließ diesen Erhängten gespenstisch wirken. Durfee war jetzt auch auf der Rampe, versuchte die Schiebetür zu öffnen, aber sie war versperrt. Er trat dagegen, und da sprang irgendein Riegel ab, jedenfalls ließ sie sich nun aufschieben. Neville kam mit der Lampe, hielt sie hoch, und Mort blickte gerade da hinauf zu dem Manne, der dort baumelte. Es war Shugar. Morts Bruder »Shugar« Bob Roos! »Nev, sieh doch! Das ist mein Bruder! Nev, es ist mein Bruder!« schrie Mort mit überschnappender Stimme. Durfee riß Neville die Lampe aus der Hand, rannte ins Lager und sie hörten seine Stiefel die Eisentreppen hinaufpoltern. Kurz darauf wurde oben die Luke aufgerissen, das Licht der Lampe strahlte nach außen, und Durfees Kopf tauchte auf. Nachdem Durfee die Lampe abgesetzt hatte, versuchte er den Erhängten loszumachen. »Mit einer Kette, Jungs, haben sie ihn erdrosselt. Mit einer Kette!« hörten sie Durfee sagen.
Dann hatte Durfee die Kette am Seilzug gelöst und zog den Toten in den Speicher. Mort und Neville tasteten sich durch das dunkle Lager zur Treppe, stiegen sie hinauf und rannten, als sie im Lampenschein etwas sehen konnten, die letzten Schritte bis zu Shugar, der verkrümmt am Boden lag. »O Gott, wie ist das nur passiert?« rief Mort, kniete sich neben seinen Bruder und sah jetzt erst die häßlichen Strangulationsmale an Shugars Hals. Die Kette hatte ihm die Haut zerfetzt und die Gurgel zerquetscht. »Aber er ist daran nicht gestorben, Mort«, sagte Durfee. »Sie haben ihn erstochen. Da, sieh dir die Brustwunde an. Ein Messerstich oder etwas Ähnliches.« »Erst Barky, und jetzt hat es auch Shugar erwischt. Mörder!« keuchte Mort und griff sich an den Hals, als würde er dort gewürgt. Neville legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter. »Dein Kopf war offenbar härter, als sie sich das gedacht haben, sonst wärst du vorhin schon über den Jordan gegangen.« »Allmählich glaube ich doch, was du erzählt hast, Mort«, meinte Durfee. »Was ist mit dem Steckbrief?« fragte Neville und sah Durfee an, der ihn hatte. Durfee zog ihn aus der Tasche, faltete ihn auseinander und dann sagte er: »Ich kenne keinen Menschen in dieser Stadt, der sich dieses Geld verdienen würde, obwohl die Beschreibung sehr eindeutig ist. Mort, du wirst jetzt wieder sagen, daß du die ganze Zeit gewußt hast, was mit O’Keefe los ist. Denn er ist mit diesem Steckbrief gemeint, obgleich da ein Mann namens O’Brian gesucht wird. O’Keefe oder O’Brian. Er wird sich also eine Zeitlang so genannt haben. Vor allem damals in Denver, als er in einem Duell einen Mann getötet hat. Das Duell eines Spielers. – Hör mir erst zu Ende zu, Mort! – Ich kenne die
Sache, Stockert kennt sie. O’Keefe hat uns kurz nach seiner Ankunft davon erzählt. Ich weiß, daß Stockert ihn dafür nicht zur Rechenschaft ziehen wollte. Denn Denver ist nicht Evelshorn. Denver ist Colorado. Der Mann, der diesen Steckbrief und das Geld im Stall verloren hat oder der es dort versteckt hatte, was ich aber nicht glaube – dieser Typ sollte meines Erachtens O’Keefe mit Hilfe des Steckbriefes suchen. Vielleicht sind die zweihundert Bucks ein Killerlohn für den, der O’Keefe umlegt.« Mort schnaufte. »Klar, am Ende ist O’Keefe noch ein armes Opfer, was? Mensch, Harry, du spinnst ja!« »Harry, vor uns liegt Shugar. Ermordet. Ob er nun schon tot war, bevor er hier an die Kette gehängt wurde, oder ob er davon umgekommen ist – es gibt Mörder. Und ich glaube, einen Mann dort hinauszuhängen, dazu waren möglicherweise zwei nötig, und beide sind bestimmt nicht schwach gewesen. Warum«, fragte Neville dann mehr sich als die beiden anderen »haben sie ihn umgebracht? Erst Barky und jetzt ihn. Warum nur?« »Sie haben es bei Mort auch versucht.« Durfee sah Mort von der Seite an. »Da sind sie allerdings nicht ganz so brutal vorgegangen. Mit dir meinen sie es offenbar relativ gut, was?« Mort ruckte herum und schnauzte Durfee an: »Was soll denn diese blöde Bemerkung?« »Nichts weiter, Mort, reg dich ab!« brummte Durfee. Dann wandte er sich an Neville. »Nev, geh zum Stall und sag dem Tischler Bescheid! Und du, Mort, komm mit! Ich möchte dir im Office etwas Wichtiges sagen.« Aber dazu kam er nicht. Jedenfalls nicht in dieser Nacht. *** Neville war schon weg, um dem Tischler Bescheid zu
sagen, weil der das Einsargen vornahm. Und der würde auch den Coroner holen. Durfee hatte ein paar Säcke mangels einer Decke über den Toten gelegt und wollte mit Mort zusammen gehen, als Mort ihn am Ärmel packte und ihm zuraunte: »Dort hinten hat sich was bewegt! Dort bei dem Stapel Maissäcke!« Durfee nahm die Lampe aus Morts Hand und hob sie hoch, um besser sehen zu können. Aber die Lampe leuchtete nicht weit genug. Dort hinten bei den Säckestapeln blieb alles im Dämmerschein. Vor dem Stapel Säcke lag ein hoher Haufen mit Weizen. An ihm vorbei führte der Gang, der zur anderen Seite hin abermals von einem säuberlich aufgeschütteten Haferberg begrenzt wurde. Ganz hinten links vom Sackstapel waren viereckige Ölkuchen aufgetürmt. Und genau dort rutschten an die zehn solcher schleusendeckelgroßen Kuchen vom Stoß, ein paar zerbrachen dabei, einer klatschte flach auf die Bohlen, daß die nur so dröhnten. »Da ist einer, Harry, da kannst du drauf wetten!« meinte Mort und zog den Revolver. »Können auch Ratten sein«, sagte Durfee. »So ein Kuchen wiegt einen halben Zentner. Den schmeißt keine Ratte herunter. Komm!« Mort lief geduckt auf den Säckestapel zu. Durfee, der die Lampe hatte, kam ihm langsam nach. Es sah aus, als wollte er Mort den Rücken decken. Mort hatte den Stapel erreicht, lehnte sich an die mit Mais prall gefüllten Säcke und lauschte. Aber alles war wie tot, nachdem auch Durfee stehengeblieben war. »Nichts«, sagte Durfee. »Vielleicht doch eine Ratte.« Mort antwortete nicht. Dieser Blödsinn mit der Ratte! dachte er. Es ist ein Mensch. Ich habe vorhin einen Kopf gesehen. Es ist bestimmt ein Kopf gewesen.
Er kroch auf den Sackstapel hinauf. Sie lagen an der Seite schräg. Da kam er gut hinauf. Und als er oben war, konnte er nur kriechend weiter, denn die Säcke lagen bis knapp unter die Decke, waren aber mit der Zeit etwas nachgesunken. So kam Mort gerade durch. Es roch nach Jute, auch nach Staub, und so dicht unter dem Dach war die Luft warm und stickig. Plötzlich raschelte etwas vor ihm. Er hielt sofort inne, spähte nach vorn, sah aber hier oben nicht genug. Also weiter! dachte er und kroch voran. Da hörte er Durfee fluchen, und sofort danach krachte ein Schuß. Der Knall kam so unerwartet für Mort, daß er zusammenzuckte. »Mort, komm herunter, ich habe das Schwein!« rief Durfee unten. Mort kroch weiter nach vorn, weil ihm das jetzt einfacher erschien. Da entdeckte er zwischen den Säcken eine schmale Ledertasche. Es war eine von denen, wie sie von Postreitern verwendet wurden. Man konnte sie direkt auf den Sattel schnallen, an einem Riemen über der Schulter tragen oder sie am Gürtel befestigen. Neben der Tasche lag ein Knüppel von Unterarmlänge, an einem Ende mit Leder umwickelt. Mort nahm beides und kroch weiter, als er am Ende des Stapels war, ließ er sich hinabrutschen, und da sah er schon Durfee neben einem am Boden, halb im Hafer liegenden Manne knien. Mort sah im Lampenschein sofort, wer dieser Mann war: der Besucher vom Hotelzimmer. Der Bursche, der die Galgenschlinge aufgehängt und seine Warnungen ausgesprochen hatte. Der Kerl in der Piratenaufmachung mit der Schärpe von der H.M.S.S. Silver Cloud. Der lebt noch, dachte Mort und blieb neben Durfee und dem
Fremden stehen. Durfee blickte nur kurz zu Mort auf und wandte sich wieder dem Fremden zu, auf dessen schmutzigem Hemd ein riesiger Blutfleck wuchs. Durfee riß das Hemd auseinander, und nun sah Mort im Licht der Lampe, was es mit den »Kugellöchern« auf sich hatte. Es waren geschickte Tätowierungen, so gut, daß man zweifach hinsehen mußte, um zu erkennen, daß es sich nicht um echte Kugellöcher handelte. »Du hast Barky umgebracht, nicht wahr?« fragte Durfee. Der Fremde lächelte schmerzlich. »Ich muß sterben, nicht wahr?« »Ja, mußt du. Mach dir den Weg leicht. Ich will dich nicht anlügen, Junge. Aber wir haben hier keinen gescheiten Doc. Ein ehemaliger Sanitäter ist das, und der kann dir mit so einer Wunde nicht helfen. Also, warum hast du’s getan?« »Ich dachte, er hätte den Plan. Aber er hatte ihn nicht. Shugar hatte ihn.« »Den Plan vom alten Roos?« fragte Durfee überrascht. Mort ahnte etwas, riß die Tasche auf, die er die ganze Zeit in der Hand gehalten hatte und zog ein vergilbtes Stück Papier heraus. »Er hat ihn gefunden«, sagte der Fremde leise. »Wie heißt du?« wollte Durfee wissen. »Tampo.« Mort beugte sich vor und sah dem Manne in die Augen. »Warum hast du mich nicht getötet? Du hast meine beiden Brüder umgebracht, aber mich nicht. Warum?« Tampo schloß die Augen. Er begann blaß zu werden. Das Ende nahte, seine Kraft erlosch. »Ich wollte ...« Er machte die Augen auf, blickte Mort an, lächelte wieder auf eine schmerzvolle Art und fuhr fort: »Dir habe ich eben geglaubt daß du den Plan nicht hast. Jetzt aber hast du ihn doch noch bekommen. Verbrenne ihn, denn du bekommst das Geld nicht. Du nicht, keiner bekommt es. Es liegt im Land der roten
Masken. Und dort stirbt, wer nach dem Geld sucht. Der Schatz ist nicht geborgen worden, weil ihn keiner finden konnte. Dazu war der Plan nötig. Der Mächtige wird sich diesen Plan wiederholen. Und dann stirbst du doch noch, Mort Roos! Der Mächtige ist der Herr der roten Masken. Gegen ihn kommst du nicht an. Am besten, du legst den Plan in die Tasche zurück und die Tasche läßt du auf den Säcken. Denn dort wird er sie suchen.« »Wer ist der Mächtige?« fragte Durfee ruhig. Jetzt amüsierte er sich nicht mehr und hielt es für Spinnerei wie vorhin noch, als ihm Mort alles erzählt hatte. »Der Mächtige ist stärker und klüger und schneller als ihr alle!« sagte Tampo. Und von da an schwieg er. Er hielt die Augen geschlossen, Schmerzwellen überkamen ihn, und nach ein paar Minuten fiel er in Bewußtlosigkeit. Es währte noch eine kurze Weile, dann starb er, ohne noch einmal aufgewacht zu sein. »Er ist angezogen, als käme er aus einer anderen Welt und er redet auch so«, meinte Durfee. Er sah Mort an. »Es ist mir etwas aufgefallen, Mort. Er wollte auf deine Frage, wieso er dich nicht auch getötet hätte, eigentlich etwas anderes antworten. Er muß sich das aber überlegt haben.« »Der Mächtige, wer mag das sein? O’Keefe?« Durfee tippte sich an die Stirn. »Mort, hör doch auf, Pat zu verdächtigen. Ich wollte eigentlich mit dir über etwas anderes sprechen. Jetzt ist das hier passiert, und in einer halben Stunde wird es hell. Mort, wir vertagen es. Am besten ist, du haust dich etwas hin. Wir sehen uns dann zu Mittag wieder. Und gib mir besser die Tasche ...« Mort lächelte. »Nun, wenn du meinst ...« Und er dachte: Den Plan habe ich in der Hosentasche, Freund. Du denkst zwar, er ist in dieser Ledertasche, aber da irrst du dich. Durfee nahm die Tasche, ohne sie zu öffnen, so sicher
schien er zu sein, daß der Plan noch darin sein mußte. Dann war Mort schon unten, tappte ins Freie und blickte noch einmal nach oben, als er unter der Luke stand. Shugar tot, dachte er verstört. Wer weiß, was mit Fox geschehen war. Aber ich habe den Plan. Ich habe ihn, und ich werde in den nächsten zwanzig Minuten die Stadt verlassen. Nein, nicht direkt in die Berge. Ich bin kein Narr. Vor allem darf ich mit keinem darüber reden. Mit keinem? Er dachte an Grace. Grace muß ich es sagen. Man haut nicht einfach ab und sagt seinem Girl keinen Ton. Jedenfalls nicht, wenn man wieder zu ihr will, überlegte er. Nein, Grace muß ich sagen, daß ... Stop. Da könnten irgendwelche Hundesöhne auf dieselbe Idee kommen, Grace in die Zange nehmen und ausquetschen. Nein, Grace darf ich auch nichts weiter sagen. Am besten, ich spiele das Spiel, das dieser Tampo mir aufschwatzen wollte. Ja, richtig! Genau das sage ich auch Grace. Sie kann dann nichts verraten, wenn sie ausgequetscht wird. Es geht mir nicht nur um dieses verdammte Geld. Ich muß Barky und Shugar rächen. Immerhin gibt es noch diesen »Mächtigen«, und dieser Schweinehund hat jenen Tampo losgeschickt. Verdammt, Shugar, ich kann nicht dabeisein, wenn sie dich und Dad begraben. Und Barky. Das müssen andere machen. Sollen die hier in Evelshorn ruhig denken, ich hätte die Hosen gestrichen voll. Ich werde abhauen. Aber die bekommen Augen wie die Wagenlampen, wenn ich dann eines Tages zurückkomme. Mit dem Gold und dem Skalp von diesem Hundesohn, der Tampo auf Barky und Shugar gehetzt hat. Ich werde mit Grace sprechen. Jetzt sofort. Ich weiß ja, wie ich in ihr Zimmer komme, auch nachts. Na ja, wir sind ja schließlich ganz schön eng befreundet. Wenn so direkt auch noch nicht von Heirat gesprochen worden ist. Wollte ich ja nie.
Und Grace war da Klasse. Die anderen Mädchen wollen immer erst geheiratet sein, aber Grace, die war da gleich anders. Mann, mit der habe ich so schöne Nächte verbracht ... *** Grace hatte das Zimmer abgeschlossen. Das tat sie sonst nie. Er mußte klopfen. Aber drinnen regte sich nichts. Er versuchte es wieder, aber niemand meldete sich. Doch dann, als er schon gehen wollte, knirschte der Schlüssel im Schloß, und Grace zeigte sich im Türspalt. Sie hielt eine Öllampe in der Hand. »Was willst du um diese Zeit?« fragte sie. »Laß mich rein. Ich habe dir Wichtiges zu sagen.« »Mort, du bist verrückt! Weißt du, wie spät es ist?« »Grace, laß mich rein! Shugar ist tot. Und mir haben sie eine Warnung zukommen lassen.« Da ließ sie ihn herein. Er sah sie kurz an. Ihr blondes Haar wirkte im Lampenschein wie eine Flamme. Sie war schön, auch jetzt, wo sie sich nicht zurechtgemacht hatte. Sie setzte sich auf den Bettrand, hatte die Lampe aber auf der Vitrine stehenlassen. »O Gott Mort, wie ist das mit Shugar passiert?« Er erzählte es ihr. Und dann berichtete er auch davon, wie es ihm selbst ergangen war. Als er sagte, daß Tampo tot sei, hörte er sie flüstern: »So ein Irrsinn! Warum nur so einen Irrsinn?« Sie starrte vor sich hin und schien gar nicht mehr auf Mort zu hören, der ihr zu erklären suchte, daß er jetzt verschwinden müßte, weil er einen zweiten Anschlag auf sein Leben befürchtete. »Grace, hast du mich verstanden, ich muß weg. Jetzt gleich!« »Fliehen?« fragte sie und sah ihn an. »Dann hätte man dich
doch sofort getötet. Du bist doch nicht in Gefahr, Mort. Bleib bei mir. Bleib hier und ...« Sie hatte sich an ihn geklammert hielt ihn mit den Armen umschlungen. Er küßte sie leidenschaftlich, doch dann machte er sich frei. »Ich würde dich in Gefahr bringen. Ich muß weg!« »Mort, warum denn nur?« »Weil sie mich auch umbringen werden, wenn ich bleibe. Dann womöglich auch dich. Leb wohl, ich komme wieder, wenn hier alles vorbei ist.« Sie sah ihn an. »Mort, hast du Angst?« Wenn du wüßtest, Mädchen! dachte er. Aber ich kann dir nichts sagen. Sie würden es aus dir herausholen. Ich muß ihr etwas vorspielen. »Angst? Vielleicht. Du hast Barky nicht gesehen, und Shugar sah noch schlimmer aus.« »Aber dir ist doch fast nichts passiert, Mort!« beschwor sie ihn. Er war schon an der Tür. Grace kam ihm nach. »Habt ihr den Plan bei Tampo gefunden?« »Du hast dir seinen Namen gut gemerkt. Nein, er hatte nichts bei sich. Und wenn ich den Plan gefunden hätte, Grace, ich würde ihn nicht anrühren. Ich pfeife auf das Gold. Ich glaube nicht einmal, daß es diese Schatzkiste gibt. Mein Vater war ein Schelm, Grace. Er hatte immer einen Sinn und die Zeit dafür, sich einen Spaß mit anderen zu machen, auch wenn es manchmal schon kein Spaß mehr war. Leb wohl, Grace!« Sie stemmte die Arme in die Hüften und sagte scharf: »Mort, du bist feige!« Er sah sie überrascht an. O Mädchen, dachte er, sag das doch nicht! Ich bin nicht feige. Aber ich kann es dir nicht sagen. Sie würden dich womöglich umbringen. Ja, sie haben auch Shugar umgebracht, und der war harmlos. Shugar, als wenn der einer Fliege je etwas zuleide getan hätte. Sie versuchte es wieder mit einer Umarmung, aber er stieß
sie zurück. Dann schloß er die Tür und rannte davon. *** »Hast du Mort gesehen?« fragte Durfee den müde dreinblickenden Neville, als sich die Leute auf der Straße sammelten, um den Wagen mit den vier Särgen zum Friedhof zu begleiten. Obgleich die halbe Stadt dagegen protestiert hatte, war der tote Tampo auf Geheiß des Reverends auch auf diesen Wagen geladen worden, zusammen mit Barky und Shugar, die er sicherlich umgebracht hatte. Neville zuckte die Schultern. »Nichts von ihm. Aber sein Gaul ist weg, und Grace hat vorhin gesagt, er wäre noch bei ihr gewesen und hätte sich vor Angst fast in die Hosen gemacht. Er ist auf und davon, aus Angst, daß ihn die Geister schnappen. Sagt Grace, und sie ist ziemlich wütend auf Mort.« »Er ist also auf und davon, sagst du?« meinte Durfee, der inzwischen längst wußte, daß Mort den Plan hatte. Neville nickte. »Er ist weg, aber das sagt Grace. Mit mir hat Mort nicht mehr gesprochen. Weißt du, was mich wundert?« »Ich habe keine Ahnung, aber du wirst es mir sicher gleich sagen.« »Er hat die Gitarre zu Hause gelassen. Im Hotelzimmer. Und das hat er bis heute immer nur getan, wenn eine Herde getrieben wurde, wenn Roundup war oder er eine andere harte Sache vorgehabt hat. Ich begreife es nicht. Er wollte abhauen, aus Angst, wie Grace behauptet. Dann hätte er doch die Gitarre mitnehmen können.« »Hätte er. Aber mich wundert es nicht.« Durfee lächelte. »Wieso nicht?« »Na ja, du sagst doch selbst, er hätte Angst gehabt. Da denkt man nicht sehr nach.« »Glaubst du?« fragte Neville verstört.
Durfee zuckte nur die Schultern. Und er sagte sich: Er hat den Plan, und jetzt ist er auf dem Weg in die Berge. Dieser verdammte Schatz spukt ihm so sehr im Hirn herum wie allen anderen. Es wird ihn umbringen. Diese Hundesöhne, die sich da in den Bergen eingenistet haben, mußten nur auf den Plan warten. Den hat der alte Roos wohl gut verwahrt gehabt. Vielleicht haben sie es vorher schon versucht, den Plan zu bekommen, doch vermutlich vergeblich. Nun ist der Alte tot, und sie wollen den Schatz. Den Plan hätten sie fast gehabt. Es ist ihnen mißlungen. Immerhin, sie werden danach suchen. Ich werde nicht mit zum Begräbnis gehen. Ich werde mich verkrümeln und mich im Speicher verstecken, die leere Ledertasche wieder auf die Säcke legen und warten. Vielleicht kommt einer, der sie holen will. Ich werde darauf warten. Mal sehen, ob meine Karte etwas taugt. Manchmal zieht auch ein schlechter Spieler eine gute Karte. Und ich werde einen harten Trick anwenden. Einen, den derjenige nicht vergißt, der die Tasche suchen will. *** Mort war seit drei Tagen unterwegs. Er näherte sich den Bergen von Osten her. In einem weiten, viele Meilen zählenden Bogen hatte er das Massiv umgangen und kam jetzt von der anderen Seite. Vor ihm lag das Felsmassiv, hinter ihm die langen Rücken der Ausläufer, die mit struppigem Gebüsch und Niederholz bestanden waren. So konnte Mort von seinem Lagerplatz aus weit ins Land schauen. Er war noch nie hier gewesen. Wer weiß, wie selten Menschen auf diese völlig unbewohnte Seite des Gebirges kommen? fragte er sich. Vor sich sah er die rotbraunen Sandsteinfelsen, die Tafelberge, die Türme, von Wind und
Wetter zernagt, die Schluchten mit ihrer üppigen Vegetation, wo ein Klima herrschte wie im Urwald, Zonen tropischer Atmosphäre, eingebettet in die gigantischen Steinmauern des McDermott-Massivs. Es sollte hier massenhaft Schlangen auf den Gründen der Canyons geben, auch Raubtiere, vor allem Pumas. Der Falbe, auf dem Mort ritt, war kein Prachtpferd dem Aussehen nach, vielmehr ein treuer Freund seit vier Jahren, dazu ein ausgezeichnet abgerichtetes Cowpony. Es gab schnellere Pferde, es gab ausdauerndere, schönere vor allem, aber es gab kein zuverlässigeres Pferd als den Falben. Mort, der für klare Worte war, nannte seinen Falben schlicht »Pferd«. Nicht Yellow oder Prince, eben einfach Pferd. »Pferd« war von allein stehengeblieben, hielt die Ohren nach vorn und blickte in Richtung auf einen Einschnitt in der rotbunten Felswand. Dort sprießte Gesträuch aus der Schwärze des Schattens. Ringsum lagen Felsen und Geröll in glühender Sonne. Und es war totenstill, abgesehen vom Gesumm der Insekten. Aber auch die schienen in der nächsten Umgebung von Mann und Pferd verstummt zu sein. Mort lehnte sich aufs Sattelhorn und besah sich die Umgebung. Sein Blick verweilte auf dem Einschnitt, und er fragte sich, ob es ein tiefer Riß, der Eingang zu einer Höhle oder was sonst sein mochte. Er saß ab, ließ dem Falben die Zügel herabhängen und stieg übers Geröll zu jenem Einschnitt hinauf. Fliegen umschwärmten ihn. Der Felsen reflektierte die mörderische Hitze. Mort rann schon bei dieser gar nicht so schwierigen Kletterpartie der Schweiß in Bächen über Gesicht, Brust und Rücken. Die Insekten lockte das an, und er hatte zu tun, vor allem die Fliegen wegzuscheuchen. Dann war er oben. Er zog sich den letzten Schritt an einem Zweig des Gestrüpps empor und spähte ins Dunkel des
Felsenrisses. Dampfige, modrige Luft schlug ihm entgegen, als er den Kopf vorstreckte. Doch er konnte nur vorn etwas erkennen, aber mehr als kahle Felswände und etwas Geröll auf dem Boden war da auch nicht. Nach hinten, so schien es, vergrößerte sich der Riß zu einer Art Höhle. Er hob einen faustgroßen Felsbrocken auf und schleuderte ihn in die Höhle hinein. Der Stein kollerte in die Finsternis, schlug gegen Felsen, dann aber traf er etwas Weiches. Es machte »platsch«, dann ertönte ein zischendes Fauchen, und fast gleichzeitig sah Mort einen hellen Fleck im Dunkeln auftauchen. Dieser Fleck wuchs und wuchs, alles rasend schnell, und da kam es schon fauchend heran. Ein Puma! Mort riß den Colt heraus, drückte ab ... klick. Verdammt, ich habe doch geladen! Er ist geladen! dachte er überrascht. Wieder abdrücken! sagte er sich, drückte ab, klick. Der Puma kam wie ein Geschoß aus der Höhle heraus, direkt auf Mort zu. Drei Schritt, zwei ... einer ... Mort drückte ab, ein drittes Mal. Klick. Er schleuderte die Waffe nach dem Kopf des Berglöwen, sprang zur Seite, riß sein Messer heraus, während der Puma von dem Kopfschlag noch verwirrt war und in Griffweite von Mort verharrte, ohne noch einmal abzuspringen. Mort warf sich vor, das Messer zum Zustechen erhoben, der Puma fauchte, riß den Kopf zurück, spannte sich, holte mit der Tatze aus, aber da war Mort schon bei ihm, wuchtete das Messer in die Kehle des Tieres, das jetzt zubiß, Morts linken Arm faßte, doch dann sofort erschlaffte, die Zähne lockerte, als das Messer Gurgel und Schlagader durchtrennte. Blut spritzte wie aus einem Springbrunnen in Morts Gesicht, auf seine Brust, über seinen Arm. Der Puma schlug noch mit der Tatze
zu, wollte noch im Sterben töten, doch Mort wich aus, und der Schlag ging auf den felsigen Boden. Aus der klaffenden Halswunde quoll noch immer Blut, wurde von entweichender Luft aus den Lungen zu Blasen getrieben. Blutiger Schaum, der da herausquoll. Mort stand auf, versuchte sich das Blut von der Kleidung zu wischen, aber es war so sinnlos, daß er es aufgab. Als er zu seinem Pferd blickte, das aufgeregt schnaubte und auf der Stelle tänzelte, dachte er: Es wird schreckliche Angst haben. Pumas sind die natürlichen Feinde des Broncos. Ja, »Pferd« zittert. Aber da muß noch ein zweiter Puma sein. Um diese Jahreszeit leben sie zu Paaren. Vielleicht hat dieses Weibchen Junge. Ja, richtig, es ist ein Weibchen. Wo aber ist das männliche Tier? Vedammt, der Revolver! Ich hätte das Gewehr nehmen sollen. Aber nach dem Revolver muß ich sehen. Das hätte fast ins Auge gehen können, was? Versagt dieses Scheißding, und der Bursche hier hätte mich um ein Haar zur Schnecke gemacht. Er hob den Revolver auf, sah ihn an, untersuchte ihn. Er ließ die Trommel rotieren und entdeckte dann die Ursache des Versagens. Ein Stück Filz klebte auf dem Schlagstift des Hammers. Er entfernte es, und jetzt würde der Bolzen die Zündhütchen wieder durchschlagen und damit den Schuß auslösen. Er war gerade damit fertig, ließ den Revolver zurück ins Holster gleiten, als sein Pferd schrill wieherte und aufgeregt zur Seite tänzelte. Zugleich hörte Mort zwischen dem Gewieher ein Rasseln. Es muß links sein, dachte er, suchte noch, fand aber die Schlange nicht. Ja, eine Klapperschlange. Verdammtes Biest. Und wenn ich nicht höllisch aufpasse, ist auch noch das Pumamännchen da. Wie sagte mein Alter immer? Pumakater. Na ja, sehr schmusig sind diese Burschen nicht ...
Die Klapperschlange hob den Kopf übers Gras, das dort hinten wuchs. Sie hatte Kopf und das vordere Stück ihres Rumpfes aufgerichtet, zog den Kopf jetzt zurück, daß es aussah wie ein Fragezeichen ... jetzt würde sie gleich vorschnellen, würde den berüchtigten gefährlichen Sprung machen. Bis zu einem Meter weit konnte ihr Körper da durch die Luft zucken. Und da ... sie kam schon! Flog direkt auf Mort zu! Mort stand eiskalt. Ganz ruhig war er. Immer, wenn es echt gefährlich wurde, hatte er Nerven wie Schiffstrossen. Er hob den Colt, sah die Klapperschlange fliegen, sah diesen fast anderthalb Meter langen Leib wie eine Peitschenschnur auf sich zukommen. Und er zielte über den Lauf und drückte ab. Die Feuerblume blühte vor der Mündung auf, aber mehr sah Mort nicht. Er stieß sich ab, überschlug sich mit einer Rückwärtsrolle, kam wieder auf die Beine, und dann sah er den zuckenden Leib mit dem völlig zerfetzten Kopf. Sie lag keinen Schritt weit vor ihm. Er lud nach, steckte die Waffe weg und wandte sich seinem Pferd zu. »Pferd, tut mir leid«, sagte er. »Ich wollte hier lagern. Aber jetzt gefällt es mir hier nicht mehr. Sehen wir zu, daß wir verschwinden, ehe der Pumavater antanzt.« Er saß auf, und es ging weiter. In glühender Hitze, immer bergauf. Dann, als es zum Reiten zu steil wurde, saß Mort ab und führte den Falben am Zügel. So erreichten sie das Plateau. Von hier oben konnten sie weit nach Osten sehen, bis in die Ebene mit ihrem Wald hinab. Aber sie lag im Dunst. Als sich Mort wieder umdrehte und nach vorn schaute, war dort kein Dunst. Der Mann, der dort am Zacken des rotgelben Felsens hing, war glasklar zu erkennen. Und Mort wußte auf der Stelle, war es war. »Stockert!« entfuhr es ihm. Stockert hörte das nicht. Er hätte es auch nicht gehört, wenn Mort den Namen geschrien haben würde. Denn Stockert war
am Halse aufgehängt worden. An einem zuverlässig dicken Seil. Er hing dort oben, ganz einsam hing er dort von der Felszacke herab. Unter sich hundertfünfzig Meter nichts, dann endlich die Sohle der Schlucht. Mit Gestrüpp, mit tropisch dampfiger Schwüle, mit Schlangen und allem möglichen Viehzeug. Mort wischte sich über die Augen. Aber es gab keinen Zweifel. Der Mann dort war Stockert. Wie es schien, hing er schon länger dort. Wieder keine Spur, was? dachte Mort. Sie sind also auf dieser Seite auch. Und Fox? Wo steckt Fox? Stockert ist doch todsicher Fox gefolgt. Weil er wohl dachte, Fox hätte den Plan und wollte sich hier den Schatz an Land ziehen. Irgendwie hatte Mort eine üble Ahnung. Die haben den meinetwegen hergehängt und das auch noch so, daß ich ihn schon von weitem sehen muß. Den übersieht keiner, der hier vorbei muß. Ja, wie ein Mahnmal hängt er dort. Diese Hundesöhne. Stockert aufzuhängen! Plötzlich jaulte etwas rechts von Mort. Wie das Jaulen eines getretenen Hundes. Danach herrschte Stille. Mort mußte wieder zu Stockert emporsehen. »Unverschämt!« brummte er. »Einfach aufgehängt!« Komisch, daß keine Geier da sind. Überall in dieser Gegend gibt es welche. Warum sind sie nicht hier? Mort, sagte er sich, paß auf! Da ist Stockert, aber er hängt nicht aus Spaß da oben. Und allein ist er auch nicht. Das Gejaule eben. Das war auch eine Warnung. Sie sind in deiner Nähe, Mort! Paß auf, sonst ziehen sie dich übern Tisch! Er duckte sich etwas, packte das Gewehr. Längst hatte er durchgehebelt. Nein, so arglos durch die Lande zu wandern, das lief hier nicht. Wenn es sein mußte, dann kam es auf die Zehntelsekunde an. Paßte er nicht auf, konnte ihm ganz schnell die Puste von den Lippen geschossen werden.
Die sind hier irgendwo. Ich sehe euch nicht, ihr Stinker, aber ich weiß, daß ihr hier seid. Ich brauche ja nur »Pferd« anzusehen. »Pferd« weiß es auch. So ein Gaul spürt das noch mehr als ein Mensch, der ist nicht so verplempert und abgestumpft wie wir. Die spüren das. Und er spürt’s eben auch. Da sind welche. Eben die, denen Stockert in die Hände gefallen ist. Und jetzt haben sie ihn hergeschleppt und hier aufgehängt. Armes Schwein, Ben, hast du wirklich nicht verdient. Klar, du hättest nicht herzureiten brauchen, hättest Fox nicht nachschnüffeln ... He, ist Fox das gewesen? Hat der ihn aufgehängt? O nein, was denke ich von Fox! Vielleicht hat der den Löffel auch abgegeben, was? Der hängt vielleicht ein paar Schritte weiter. Und dann, wenn sie denken, ich zittere mich warm vor Angst, da kommen sie dann. Scheißer! Die kriegen es. Erst Barky, dann Shugar, Stockert noch, und schließlich am Ende noch Fox, wie? O Jungs, wenn ich einen von euch erwische, ich rede nicht, ich frage nicht, ich jage ihm gutes treues Blei unter seinen Pelz, und damit hat es sich. Aber hier ist kein Aas, was? Wirklich nicht? Unsinn, ich wette, wenn ich nur einen Schritt nach vorn mache, knallt es. Ich spüre es in allen Knochen, daß es knallt. Hm, verdammt komisch, daß sie mich irgendwie verschont haben. O’Keefe, du dreckiges Stück, wenn du hinter allem steckst, und das weiß ich. Dann werde ich dich abmurksen. Knitteknatteklein mache ich dich. Meine Schwester heiraten. Übrigens, mit Claire habe ich eigentlich noch reden wollen. Alles ging so überstürzt, weil Harry wieder den großen Meister spielen wollte. Plan her und so. Es gibt keinen Plan mehr. Ich habe ihn verbrannt. Weg ist er. Und nur ich weiß, was drauf war. Tampo hat es sicher auch gewußt, aber den hat der Satan schon in seinem Topf. Dafür steht das Bild des Plans in meinem Gehirn wie hineingemeißelt ...
Mann, wieso hier nur keine Geier sind? Keine Geier, auch gar keine. Nicht einmal in respektvoller Entfernung. Komisch. Es sind andere Vögel da, ja, dort drüben, da fliegt einer. Ein Stärling. Gelb und braun, flattert zu seinem Nest im Strauch. Also gut, da ist schon mal niemand. Denn der würde dann nicht so friedlich sein, der Vogel da. Mal rechts gesehen, die Felswand, wo oben Stockert hängt. Nein, wirklich eine verdammte Schweinerei, einen Mann so aufzubaumeln, einen wie Ben. Der war nicht mein großer Freund, aber doch sonst ganz manierlich. Schlangen, es muß hier sagenhaft viele geben. Aber das sind keine Klapperschlangen, die drei dort hinter dem Stein. Das sind Kupfernattern, bissig und giftig. Gezücht! Der Teufel soll dieses Viehzeug holen! Da plötzlich sah er die Bewegung. Es war ein Stück rechts von der Stelle, wo Stockert hing. Oberhalb von ihm, auf dem Plateau der Felswand. Mort sah nur die Hand, den Gewehrlauf und einen großen roten Fleck, von dem er nicht auf Anhieb wußte, was es war. Er reagierte blitzartig. Noch viel rascher, als er es sich vorgenommen hatte, riß er das Gewehr hoch, legte an und schoß. In Bruchteilen einer Sekunde geschah das. Dann machte er einen Satz zur Seite, während sein Pferd sich entsetzt aufbäumte und davongaloppierte. Mort wußte, das Tier würde nicht sehr weit laufen. Es kümmerte ihn im Augenblick nicht, wohin es verschwand. Er sah nur oben diesen roten Fleck noch einmal auftauchen, und so schoß er wieder. Aber das hätte er sich schenken können. Der rote Fleck war eine Maske. Eine große Maske mit roter Bemalung, weißen Kriegszeichen, und wie es schien, mußte es sich um eine indianische Maske handeln. Dachte er. Aber da irrte er sich, wie er später erfahren sollte. Diese Maske trug ein Mann, der ansonsten weiß gekleidet
war wie einer von den mexikanischen Peones. Weißer Baumwollanzug, die Einheitskleidung Mexikos. So kannte es auch Mort von einer Zeit, da er dort gewesen war. Jetzt interessierte es ihn nicht. Es hat ihn erwischt, dachte er. Jetzt will er das Gewehr noch einmal hochbekommen, will auf mich schießen, dabei ist er von meinem ersten Schuß her erledigt. Ich könnte ihn dort zusammenschießen, wie einen, der Zielscheibe spielt. Mehr ist es nicht. Aber warum sollte ich das tun? Ich muß meine Munition sparen. Der da oben, der läuft aus, der ist fertig ... fix und fertig. Er sah, wie das Blut aus einer Bauchwunde sprudelte, wie es den weißen Anzug vorn rot tränkte. Und Mort fragte sich, was für ein Gesicht hinter dieser Maske stecken würde. Der Mann mit der Maske dort oben schwankte, versuchte abermals vergeblich, das Gewehr in Anschlag zu bringen, aber es entglitt seinen Händen, fiel klirrend auf den Felsen und sprang, wie von einer Sehne geschnellt, die Steilwand herab in die Tiefe. Der Mann oben mit der Maske preßte beide Hände vor die Bauchwunde, torkelte herum, ohne offenbar zu sehen. Dann war er dicht an der Kante der Steilwand. Noch einen Schritt ... er würde abstürzen. Er blieb stehen, schien nicht mehr zu erkennen, wo er war, streifte sich die große, offenbar auch schwere Maske vom Kopf. Und da sah Mort das Gesicht. Ein fremdes Gesicht. Ein Mexikaner offenbar oder ein Indianer aus Mittelamerika. Er sah es, und schon kippte der Mann nach vorn, wollte sich noch festhalten, doch er verlor das Gleichgewicht, und so schlug er über die Felsenkante in die Tiefe. Er schrie, er kreischte, bis er gegen die weiter unten schräg verlaufende Felswand klatschte. Sein Schrei brach jäh ab. Und Mort, der
hinabblickte, sah ihn kollernd, klatschend und mit zu Brei zerschlagenem Schädel weiterstürzen, weiter kollernd und rollen, bis er ganz unten im Gebüsch verschwand. Die wie von einem Einschlag geteilten Äste schlossen sich schon nach Sekunden über dem weißen Fleck. Er war allein, dachte Mort. Ich muß hinauf, muß Ben losmachen und begraben. Und diese Maske muß ich mir ansehen ... *** Neville Jackson war an diesem Tage schlecht gelaunt. Und er dachte immer wieder: Warum bin ich nicht einfach im Bett geblieben? Zumal heute Sonntag ist. Gehe ja sowieso nie zur Predigt. Und der Red Elk ist noch zu. Die machen ja erst auf, wenn der Reverend mit seiner Predigt fertig ist. Es war ein sonniger, ein heißer Tag, aber Neville sah die Schönheiten des Tages nicht. Er wollte sie auch gar nicht sehen. Er hätte jetzt einen Doppelten vertragen können. Statt dessen war der Saloon zu, und er stapfte mürrisch durch den Staub der Straße, kam bis zum Hotel und hoffte, beim Portier einen Schluck zu bekommen. Stinklangweilig, dachte er, wo auch noch Mort nicht da ist. Blöd von Mort, einfach abzuhauen. Ich wäre doch mitgeritten. Da sah er Durfee, der die Straße entlangschlenderte, die Daumen in den Gürtel gehakt, krummbeinig wie ein halbierter Zentaur, mit rasselnden Sporen. Er sah auch jetzt noch wie ein texanischer Cowboy aus, der er ja gewesen war. Mort blieb stehen, bis Durfee vor ihm angekommen war. Durfee wippte auf den Absätzen, sah Nev von oben bis unten und dann von unten bis oben prüfend an, dann grinste er und fragte: »Durstig?« »Ganz unverschämt durstig, Harry.«
»Kein Mädchen in Sicht?« Neville begann sich eine Zigarette zu drehen. »Ich wüßte eine, aber die ist vergeben, und auch noch an meinen besten Freund.« »Aha, Grace also.« »Du bist gut im Raten. Harry, warum hat er mich nicht mitgenommen?« »Er wollte mich reinlegen, und da war die Zeit verdammt knapp. Willst du ihn suchen?« »Wo denn?« »In den Bergen, wo sonst? Er sucht die Kiste mit dem Goldgeld, wenn es sie überhaupt gibt. Immerhin sind ein paar Leute sehr scharf darauf, und ich glaube, du bist es auch.« »Nur, weil es Mort ist. Aber ich weiß nicht, Harry, vielleicht ist Mort auch gar nicht so scharf darauf. Der ist nur stocksauer, denke ich, weil Barky und nun auch Shugar umgebracht worden sind. Harry«, sagte Neville dann und beugte sich etwas vor, »Harry, ich habe kein gutes Gefühl. Irgendwie ist heute ein beschissener Tag. Spürst du es nicht auch?« Durfee zuckte die Schultern, blickte zum blauen Himmel empor, sah wieder Neville an und meinte verständnislos: »Ein schöner Tag, aber doch kein mieser. Bist du krank oder hast du noch einen Kater von gestern?« »Hör auf, mich zu verschaukeln! Ich bin irgendwie mit allem im Keller. Ich spüre da was, weiß nicht, was es ist, aber irgendwie ist es ganz finster.« Er grinste, als wollte er sich selbst Mut machen und fragte etwas forscher: »Wohin willst du? Der Red Elk ist natürlich noch zu.« »Ich wollte zu Grace.« »Zu Grace? Die steht felsenfest auf Mort.« »Ich will nicht mit ihr schlafen, Nev. Ich will mit ihr reden. Komm einfach mit, dann kannst du Mort nachher erzählen, daß ich über sie hergefallen bin.«
»Hör mal, Harry, mach keine Zicken, Mort kann da ganz komisch werden.« Durfee lachte nur. Sie gingen zusammen wieder zurück, wo Neville eben hergekommen war. Als sie an O’Keefes Privathaus vorbeikamen, sagte Neville leise: »Sie tut, als wäre sie mit ihm verheiratet, ist nur noch bei ihm. Komisch, ihr hat bis jetzt keiner nach dem Leben getrachtet. Mort hat immer den Verdacht ...« Durfee winkte ab. »Hör auf, diesen Verdacht kenne ich. Ich selbst habe Pat geraten, Claire nicht unbewacht zu lassen, sie am besten ins Haus zu nehmen. Er will sie ja heiraten. Nur wegen der Trauerzeit können sie nicht. Also hör auf, Morts Verdacht aufzuwärmen. Der wird ja nicht glaubwürdiger, wenn du ihn mir auch noch vorspinnst. Aha, Grace ist also im Hause. Ich hatte schon befürchtet, sie wäre weg.« Grace wohnte im neuen Schulhaus, das erst vor einem Jahr gebaut worden war. Grace war seit einem Vierteljahr die Lehrerin, doch jetzt kamen keine Schüler. In der heißen Zeit blieb die Schule geschlossen, da gab es nur die Sonntagsschule, und die hielt der Reverend nach der Predigt. »Ich habe Grace lange nicht mehr gesehen«, sagte Neville. »Das glaube ich dir«, meinte Durfee nur, und Neville sah ihn begriffsstutzig an. Durfee war an die braunlackierte Haustür getreten, die auch die Schultür war. Er klopfte nicht, sondern versuchte sie gleich zu öffnen, aber sie war verschlossen offenbar war der große Eisenriegel vorgelegt. »Aber vorhin habe ich jemanden hinter dem Fenster gesehen«, sagte Neville. »Du hast dich nicht verguckt, Nev. Sie ist da.« Durfee klopfte. Nichts rührte sich im Haus. Durfee klopfte erneut. »Bleib hier stehen, Nev, ich gehe von hinten herein. Paß
auf, daß dir keiner durchflutscht! Auch Grace nicht, Nev, denk dran!« Bevor Neville dazu Fragen stellen konnte, war Durfee schon ums Haus. Neville hörte kurz darauf ein Poltern, dann ein schepperndes Geräusch, und wenig später dröhnten Schritte im Haus, die näher kamen, der Eisenriegel klirrte, danach wurde die Tür geöffnet. Durfee grinste und meinte: »Tritt ruhig ein und fühle dich wie zu Hause. Grace freut sich, du glaubst nicht, wie!« Und dann sah Neville Grace. Sie hatte das halbe Gesicht und den Hals verbunden, unter dem Kleid bauschte sich an der Schulter etwas auf, das auch wie ein verdeckter Verband aussah. »Um Himmels willen, was ist mit ihr passiert?« fragte Neville und starrte Grace erschrocken an. Grace, die ihn nur aus einem Auge ansehen konnte, antwortete nicht. Nun drehte sich Durfee zu ihr um: »Ja, was hast du, Grace?« »Warum seid ihr gekommen?« fragte sie mit heiserer Stimme. »Ich habe euch nicht eingelassen.« »War es ein Unfall?« fragte Durfee beharrlich. »Ich bin krank. Geht!« erklärte sie. »War es heißes Wasser?« fragte Durfee. Sie starrte ihn haßentbrannt an. »Warum fragst du, wenn du es weißt?« Er lächelte, und Neville hätte ihn dafür am liebsten umgebracht »Harry, sie ist eine Frau! Wie kannst du ...« »Sei still!« sagte er. »Du weißt nichts, also halte die Klappe. Hör gut zu! Grace, es war also heißes Wasser. Ja, ich kenne die Sache natürlich. Ich habe ja nicht geahnt, daß du nach der Tasche suchen würdest. Ich hatte einen Mann erwartet, einen Killer wie Tampo. Aber an dich habe ich, ehrlich gesagt, nie gedacht. Das erklärt auch, warum Mort nicht tot ist.«
»Hat er den Plan?« fragte sie leise. »Ich glaube nicht, daß er ihn hat, Grace. Tja, ich denke, ich muß Nev einiges erklären, bevor er platzt. Nev, ich habe dir von der Tasche erzählt. Ich hatte sie wieder auf den Säckestapel gelegt, in der Hoffnung, daß Tampos zweiter Mann sie suchen und wegholen will. Und damit ich nicht die ganze Zeit auf der Lauer liegen mußte, als ich mal eine dringende Notdurft zu verrichten hatte, bastelte ich so etwas wie eine Falle. Mit einem Kessel heißem Wasser. Ich war noch unten, als ich den Schrei hörte. Aber ehe ich die Hosen wieder richtig angezogen hatte und zum Speicher hinaufgekommen bin, war derjenige weg, dem das heiße Wasser über den Balg gelaufen ist. Klar, ich habe gesucht. Auf Grace bin ich nicht gleich gekommen. Aber dann mußte ich nicht mehr suchen. Ich brauchte nur zu überlegen, welche Leute ihr Haus nicht mehr verließen. Da waren ein paar. Kranke. Ja, und zuletzt blieb sie übrig. Sie, die nie eine Predigt versäumt hat, kam nicht zur Kirche. Da mußte ich nachsehen. Es gab noch einen Hinweis, Grace: diesen hier!« Durfee holte ein Taschentuch aus der Weste und zeigte es. Ein gesticktes, schmutziges Tüchlein mit dem Buchstaben G. »Ich habe es einmal zufällig vor Tagen bei dir gesehen, Grace. Komm jetzt mit. Ich will nämlich von dir wissen, wer dein Partner ist, Grace. Oder wirst du es mir hier und jetzt sagen?« »Ich habe keine Partner. Ich wollte den Plan, weil ich das Geld wollte.« Sie sprach heiser, fast gequält, als bereite es ihr Schmerzen zu sprechen. »Du solltest mich nicht für dumm verkaufen, Grace«, sagte Durfee. »Ich bin ein Mensch, der nicht mehr lockerläßt, wenn er einmal auf der richtigen Fährte ist. Grace, ich habe auch wenig Mitleid. Da sind zwei Männer kaltblütig ermordet worden. Ich glaube, Stockert wäre da noch weniger
nachsichtig.« Grace blickte plötzlich an Durfee vorbei auf Neville. »Nev«, sagte sie, »Nev, bitte hole Mort. Sag ihm, daß ich unschuldig bin. Ich wollte doch nur den Plan, um mit ihm zusammen das Geld ...« »Hör auf!« fuhr sie Durfee an. »Das ist gelogen! Du gehörst zu einer ganzen Bande von Verbrechern, die in den Bergen ihr Unwesen treibt. Ich denke mir, du hast hier in der Stadt den Beobachtungsposten gespielt. Aber eine wie du hält es nicht mit gewöhnlichen Banditen. Da muß einer sein, der mehr kann. Einer der ... eh, was hast du vor! Grace, den Dolch weg! Grace!« schrie Durfee. Sie hatte einen Dolch in der Hand, und Durfee war zu spät darauf aufmerksam geworden, wie sie ihn aus dem Kleid gezogen hatte. Sie hielt ihn mit der Spitze gegen Durfee gerichtet. Durfee zog den Revolver; schnell und glatt tat er das. »Weg mit dem Dolch! Ich spiele hier nicht den Helden. Verrückte, die mich umbringen wollen, schieße ich ab. Lieber dein Leben als meins. Weg mit dem Dolch!« Da rammte sie ihn sich ganz plötzlich in den Bauch. Sie schrie dabei wild auf, riß den Dolch sogar noch zur Seite, zog das blutige Messer wieder heraus, hielt die Klinge Durfee entgegen und kreischte: »Nun schieß doch, du feiges Schwein! Schieß doch ... du ... ahhh!« Und dann schrie sie nur noch. Sie schrie, während das Blut ihr aus der riesigen Bauchwunde quoll, während sie die Hände auf den Bauch preßte und das Blut und anderes aus dem Leib ihr durch die Finger rieselten. Dann fiel sie auf die Knie, und ihr Schreien wurde leiser, heiserer, schriller noch. Bis sie hinschlug und sich vor Schmerzen wälzte. Als Neville mit einer Decke kam und sie ihr unter den Kopf schob, stieß sie die Decke weg und kreischte: »Schießt mich
doch tot! Bitte, schießt mich doch tot ...« Ihr Schreien wurde zum Röcheln, das im Läuten der Kirchenglocke unterging. Die Predigt war zu Ende. Graces Leben währte noch eine halbe Stunde grausigster Pein. Dann starb sie, bis zuletzt von Schmerzen zerwühlt, Schmerzen, die sie selbst heraufbeschworen hatte. Als sie tot war, drückte ihr Durfee die Augen zu, sah Neville an, hob das Messer auf und sagte rauh: »Sie hat noch einen Partner. Nev, ich habe mir um Ben Stockert bisher keine Sorgen gemacht. Jetzt aber mache ich mir welche! Und weißt du noch, um wen auch?« »Um Mort?« »Ja, Nev, um Mort und um seinen Bruder Fox ...« *** Der Pfad führte durch sumpfigen Canyongrund. Dampfig heiß wie im Dschungel war es hier unten zwischen den verfilzten Sträuchern, im hohen Gras, und das von der Vegetation hier unten gehaltene Wasser schien zu kochen. Der Falbe war aufgeregt. Nicht nur, daß er immer wieder über die Wurzeln von Schlingpflanzen stolperte, er schien sich ähnlich bedrückt zu fühlen wie sein Reiter. Myriaden von Insekten schwärmten in diesem dichten Gezweig der Büsche. Das methodische Plätschern von Wasser, das von den Felswänden kondensiert wurde, geheimnisvolles Knacken der Zweige, dann und wann ein Rascheln im hohen Gras, und manchmal auch ein jämmerliches Heulen, von dem Mort nicht wußte, von welchem Tier es stammen mochte. Der Falbe wurde davon geängstigt. Ihn schreckte auch das Klappern einer Seitenwinderschlange, die sich zum Sprung aufrichtete. Mort parierte den Falben, zog die Bullpeitsche vom
Sattelhorn ab und schlug blitzschnell damit zu. Das Leder durchtrennte den Leib der Schlange und fegte den Teil mit dem Kopf weit ins Gebüsch hinein. Ohne sich weiter darum zu kümmern, trieb Mort den Falben wieder an und rollte die Peitsche zusammen. Es ging auf den Abend zu. Im Canyon wurde es weit früher düster. Das Konzert der Grillen und anderer zirpender Insekten wurde lauter. Die Mücken setzten zum Großangriff auf Pferd und Reiter an. Doch Mort ritt weiter. Er hatte den Plan verbrannt, kannte ihn aber so gut, daß er in der Lage gewesen wäre, ihn aus dem Gedächtnis in allen Einzelheiten nachzuzeichnen. Er kannte also seinen Weg. Diesem Canyon mußte er noch folgen. Nachher ging es ein wenig bergauf, dann mußte ein Bergpfad kommen. Es stimmte alles. Er kam aus dem Canyon, es ging über Schotter und Geröll bergan, aber später konnte er wieder aufsitzen und im Dämmerlicht noch ein Stück bis zu einem relativ ebenen Stück reiten, auf dem sogar Gras wuchs. Er suchte den Boden nach Ungeziefer ab, ließ den Falben dann abgesattelt grasen und wollte gerade Wasser aus der Feldflasche in seinen Hut füllen, um den Falben saufen zu lassen, da sah er plötzlich einen auf einen Speer gespießten Totenkopf. Unter ihm hing ein Schild aus Pappe, auf dem stand: »Hier ist die Grenze zum Reich der roten Masken. Wer sie überschreitet, stirbt!« Mort gab dem Pferd zu saufen, trank selbst, ging dann zu dem Totenkopf und nahm ihn von dem Speer herab. Er wollte ihn von innen ansehen, als aus dem Hohlraum ein etwa fünfzehn Zentimeter langer Skorpion kroch. Ein RichmondSkorpion, dessen Stich tödlich ist. Und er hatte den Stachel schon bereit zum Zustechen ...
* * *
Neville war groß und stark, aber ein Held ist er nie gewesen. Zusammen mit Mort, der oft genug auch die Initiative für den Freund mit übernommen hatte, stellte Neville etwas dar. Allein war er nur noch die Hälfte wert. Und er wußte das. Er hockte hinter dem leeren Glas an der Theke des Red-ElkSaloon, und außer ihm war nur noch der gläserspülende Keeper da. Johnny, früher Besitzer des Red Elk, heute nur mehr Angestellter, sah auf Neville herab und sagte väterlich: »Geh heim, Junge. Du hast genug. Ich muß schließen. Geh, Nev, für heute reicht es. Komm, Junge, mach keine Zicken!« »Noch einen, dann gehe ich«, sagte Neville. Er schob sein leeres Glas dem Keeper zu. In diesem Augenblick stürmte Patrick O’Keefe in den Saloon. Er warf einen kurzen Blick auf Neville, wandte sich dann aber sofort an Johnny. »Weißt du, wo Claire steckt? War sie hier bei dir?« Johnny schüttelte überrascht den Kopf. »Keinen Schimmer, Pat. Nev, hast du denn etwas von Claire gesehen heute abend?« Neville sah Johnny aus trüben Augen an. »Hah, Claire? Ich treibe es nicht mit der Schwester meines Freundes. Zum Teufel, sie ist doch die Freundin von ihm da! Ja, von ihm dort!« Er deutete mit dem Daumen nach O’Keefe. Der große, dunkelhaarige und schlanke O’Keefe lächelte eisig. Und er sah Neville an, wie man einen Schwachsinnigen ansieht, ein bißchen von Mitleid, ein bißchen von Vorsicht erfüllt. »Er ist betrunken, Pat«, sagte Johnny entschuldigend. »Was ist mit Claire? Ist sie weg?« »Keine Spur von ihr. Ich habe mit dem Abendessen auf sie gewartet. Dachte, sie ist nur einen Augenblick weg, aber jetzt ist eine Stunde herum. Ich werde mit Harry reden.«
Neville sah ihn schräg an, aber es kam O’Keefe vor, als sei Neville nur noch bei halbem Bewußtsein. O’Keefe nickte Johnny zu und sagte, während er schon zur Tür ging: »Wenn sie auftauchen sollte, bleib bei ihr. Halte sie am besten hier fest, Johnny.« Und mit einem Seitenblick auf Neville: »Schmeiß den jetzt raus!« Dann war er draußen. Und Neville sagte nach einem Rülpser: »Der ... der hat sie umgebracht. Hat er, Johnny, ich schwör’s dir! Und nun ... haha ... nun sollen wir denken, er sucht sie ... haha! Hält uns für blöd, der Knabe! Hält den guten alten Nev für einen ausgemachten Idioten, was? Denkt, wir fallen auf den Trick siebzehn rein, wie? He, Johnny, hast du gehört? Hast du begriffen, Johnny? Er hat sie gekillt. So hier ... krrrhhh!« Er machte die Gebärde des Halsabschneidens, und er machte es so gut und echt, daß Johnny schimpfte: »Nun hör auf! Es ist genug Schlimmes passiert in Evelshorn! Da habe ich keinen Sinn für deine blöden Witze! Geh jetzt nach Hause, Nev!« Neville torkelte zur Pendeltür, blieb dort stehen, sah sich noch einmal um und rief Johnny zu: »Johnny, alter Junge, du bist behext! Dich hat O’Keefe verhext! Er ist der Satan selbst, hat Mort gesagt. Und Mort sagt ... hupp ... sagt ... sagt ...« Er verriet nicht mehr, was Mort gesagt hatte, denn auf einmal stürmte O’Keefe wieder durch die Pendeltür und warf damit Neville um, dessen letzten Halt die Tür gebildet hatte. Ohne nur einen Blick auf den gestürzten Neville zu werfen, jagte O’Keefe zur Theke und rief: »Johnny, sie ist mit einem Pferd weg. Man muß sie entführt haben! Johnny, ich mache mich mit zweien von unseren Jungs auf den Weg. Aber erst muß ich die Burschen ...« »Pat, die sind doch nicht da heute. Du hast sie doch selbst am Nachmittag mit dem Wagen in die Countystadt geschickt.« O’Keefe wirkte verstört. »Also gut, ich reite mit Harry. Auf
die Jungs kann ich ja wirklich verzichten. Kümmere dich hier solange um alles, Johnny!« Er stürmte schon wieder nach draußen. Aber da prallte er fast mit Durfee zusammen, der ihm entgegengekommen war. »He, es kommt auf die Minute nicht an, Pat!« rief Durfee. Indessen war auch Neville wieder auf den Beinen. Er schwankte etwas und glotzte auf Durfee und Patrick, die auf der anderen Seite der Pendeltür standen und er hörte, wie Durfee fortfuhr: »Hol dein Zeug, Pat, ich warte hier. Bis du da bist, trinke ich noch einen Schluck bei Johnny. Sie entkommen uns nicht. Wir werden Claire schon zurückbringen.« O’Keefe antwortete nicht. Er rannte los. Sein Haus, am Ortsende, war sein Ziel. Die Pendeltür flog auf, und Durfee trat ein, sah Neville, blieb überrascht stehen und fragte: »Gibt es dich auch noch? Nev, du könntest mit uns reiten. Bist du sehr besoffen?« Er wandte sich Johnny zu, tippte an die Hutkrempe und fragte: »Wie viele Gläser hat er?« »Elf, aber er hatte schon eine halbe Flasche intus, als er kam«, sagte Johnny. »Auf den kannst du bestimmt verzichten. Da richtet meine Großmutter mehr aus als der.« Durfee sah sich um. Neville marschierte gerade durch die Pendeltür nach draußen. Und während die Türflügel noch hinund herschlugen, hörten die Männer im Saloon Neville singen. Er grölte lautstark einen Viehtreibersong. Vor allem laut. »Ja, ich denke auch, daß ich den nicht brauchen kann. Schenk mir einen Doppelten ein«, sagte Durfee. Der Gesang wurde leiser, brach schließlich ab. Dann ertönte kurz lautes Gelächter und schließlich wurde es draußen still. »Na Gott sei Dank!« Durfee atmete auf, trank, und er hatte das Glas noch an den Lippen, als draußen ein schriller Schrei ertönte. »Das ist doch Nev!« platzte Johnny heraus.
* * *
Neville hatte Schluckauf und hörte auf zu singen, stampfte mitten auf der Straße dahin und wurde mit jeder Sekunde, die er in der kühlen Nachtluft ging, wieder etwas klarer. Zu seinen beiden Seiten ragten die Häuser dieses Ortes in den blauschwarzen Nachthimmel, vor ihm lag violett schimmernd die Straße. Er befand sich gerade in Höhe des Stores, ungefähr neben der Laderampe, wo sie oben am Flaschenzug Shugar entdeckt hatten, und wie unter einem Zwang mußte Neville zu jener Stelle blicken, wo Shugar gehangen hatte. Jetzt saß eine Eule auf dem herausragenden Balken. Deutlich hob sie sich vom etwas helleren Nachthimmel ab. Neville hob einen Stein auf und warf ihn nach der Eule. Sie flog auf, und Neville lachte schallend. Dann marschierte er weiter. Er sah Licht an einem der Fenster von O’Keefes Haus. »Großfressiger Kasten! Kartenhai! Wie viele von uns hast du beschissen, daß du dir diese Kiste hast bauen können, he?« knurrte Neville. Er wollte eigentlich zu seinem Anbau am Haus der Witwe Challenger, wo sein Bett stand, doch das Licht zog ihn an wie eine Motte. Er stapfte geradlinig darauf zu. Bis er das Fenster erreicht hatte, hinter dem die Lampe brannte. Er stellte sich auf den Haussims und spähte ins Innere. O’Keefes Kopf thronte auf einer umgestülpten Blumenvase. Blut rann über die Vase auf den Tisch, Und es war nur der Kopf, der abgeschlagene Kopf eines Mannes, mit dem Neville eben noch gesprochen hatte, der noch vor Minuten am Leben gewesen war. Und der Körper, der kopflose Körper O’Keefes war mit drei langen Dolchen an der Innenseite der Tür festgeheftet. Über
und über mit Blut besudelt hing der kopflose Leib schlaff herab. Neville hatte getrunken, die Vorgänge der letzten Zeit und vor allem der Fund des ermordeten Shugar hatten auch ihre Spuren an ihm hinterlassen. Neville war, wie gesagt, nie ein Held gewesen, schon gar nicht so allein wie jetzt. Und da brach es aus ihm urig, schrill und hemmungslos heraus. Er schrie wie am Spieß und hatte das Gefühl, ihm selbst sei der Kopf abgeschnitten worden. Er schrie schrill und mit überschnappender Stimme. So laut, daß in diesen Augenblicken niemand in Evelshorn weiter schlafen konnte. *** Durfee starrte auf den gräßlichen, Anblick der Leiche und ihres Kopfes, dann auf die blutgeschriebenen Worte an der Zimmerwand. »Tod allen, die nach den Sovereigns suchen!« las er murmelnd. Sie hatten Neville weggeschafft. Jetzt kamen die Männer zurück, Johnny an der Spitze. Tom Carson, ein schwergewichtiger Mann, trat neben Durfee. »Spuren?« fragte er. »Hinter dem Haus haben zwei Pferde gestanden. Eines hat gemistet. Frisch. Die Hufspuren sind nicht weit zu verfolgen, nur bis zum Weg, der in die Berge führt, aber ich wette, auf ihm sind die beiden Pferde nicht geblieben. Tom, wir werden ein Aufgebot zusammenstellen. Jetzt. Ruf alle Männer, die daran teilnehmen wollen, zusammen. Ich brauche zehn bis fünfzehn Männer, gut ausgerüstet und mit Proviant für wenigstens eine Woche ...« »Du willst mit dem Aufgebot in die Berge?« fragte Carson.
Durfee nickte. »Ich will vor allem diesem Spuk ein für allemal ein Ende bereiten. Außerdem steht zu befürchten, daß Claire Roos entführt worden ist. Oder noch schlimmer ...« »Hast du das Haus durchsucht?« wollte Johnny wissen. »Flüchtig. Ich habe eine Maske gefunden. Eine indianische Tanzmaske, wie mir scheint. Dort liegt sie ...« Die Männer blickten in die Ecke, in die Durfee zeigte. Dort lag eine Maske, so groß wie ein halbierter Kürbis, rot bemalt, mit weißen Kriegszeichen und Löchern für Augen und Nase. »Eine Tanzmaske, sagst du?« fragte der grauhaarige Heston Wilder. Er ging hin, hob die Maske auf, sah sie genau an. »Ist aber keine Tanzmaske, Harry. Auch keine von den Indianern. Weißt du, was das ist? Kenne ich rein zufällig aus dem Kriege, als ich drüben in Maryland gewesen bin. Dort glaubten sie vor hundert Jahren an Hexen. Und mit solchen Masken wurde dort der Teufel ausgetrieben. Vor hundert Jahren, Harry, heute nicht mehr. Es sind exakt die gleichen Masken wie die hier.« Durfee runzelte die Stirn. Dann aber sagte er: »Ganz gleich, hier in der Stadt ist alles gelaufen. Es gibt hier wohl niemanden mehr, der in Gefahr ist. Claire aber scheint verschleppt worden zu sein, Stockert ist in den Bergen, Mort Roos ganz sicher auch, und von Fox nehme ich es ebenso an. Wir müssen in die Berge. Dort liegt der Schlüssel zu diesen geheimnisvollen Morden. Und all das verdanken wir dem alten Roos. Er hat uns da ein schönes Erbe hinterlassen!« »Wer mag nur der Täter sein?« fragte Johnny. *** Ein Richmond-Skorpion! schoß es Mort durch den Kopf. Sein Stich ist tödlich. So, als würde mich eine Klapperschlange beißen. Verdammt, das Vieh ist schon zu nahe. Ich kann es nicht mehr einfach wegscheuchen. Er krümmt sich schon, um
zuzustechen ... er wird ... ja, er sticht! Mit einer blitzschnellen Bewegung bog sich der Leib des widerlichen Insekts durch, der Stachel schoß heraus ... Aber Mort zuckte zurück, stieß mit der linken Hand den Totenkopf mitsamt dem Skorpion weg ... gerade noch in allerletzter Sekunde. Und dann, als der Skorpion rasend schnell aus dem Totenkopf herauskrabbelte, trat Mort zu. Es knackte, als sein Stiefel den Leib des gefährlichen Tieres zermalmte. Das war haarscharf! dachte Mort und sah sich um, ob noch weitere Überraschungen seiner harrten. Doch ringsum war alles friedlich. Er überlegte, wie es auf der Karte ausgesehen hatte. Demzufolge mußte er nun einem Felspfad folgen, etwa noch gut fünf Meilen weit. Dann sollte eine Stelle kommen, wo er das Pferd zurücklassen und zu Fuß weitermarschieren sollte. Vermutlich, überlegte er, geht es von da an steil bergauf. Zu Fuß sollten es abermals knapp fünf Meilen sein bis zu der Stelle, wo die Kiste in einer Felsenspalte im Schotter vergraben war. Irgendwie hatte Mort das Gefühl, beobachtet zu werden. Er sah sich um, blickte scharf beobachtend auf alles in der Umgebung. Doch er fand nicht den mindesten Hinweis darauf, daß sich irgendwo jemand versteckt hielt. Aber er wurde dennoch das Gefühl nicht los. Es kribbelte ihm richtig im Genick, und einmal meinte er sogar, derjenige, der ihn beobachtete, säße über ihm. Doch da war nur der Himmel. Mort nahm den Falben am Zügel und führte ihn bergan. Der Pfad wurde schmaler, fiel links steil zu jener Schlucht hin ab, die sich wie das Bett eines Flusses parallel zum Pfad aufwärts wand. Rechts ragte eine Felswand auf, deren Zacken teilweise sogar wie ein Vordach den Pfad überspannten, mitunter so niedrig, daß Mort den Kopf einziehen mußte und der Falbe nur
vorsichtig darunter hinweggeführt werden konnte. Mort hatte den Revolver griffbereit, und sein Gewehr hielt er entsichert in der Rechten. Ab und zu spähte er die Steilwand hinauf, ob da nicht oben irgendwer lauerte. Doch außer einigen Eidechsen, die zwischen den Rissen im Fels herumhuschten und auf Insektenbeute lauerten, war offenbar niemand da. Über eine lange Strecke geschah nicht das mindeste, und Mort mußte sich immer wieder zureden, in der Wachsamkeit nicht nachzulassen. Sie sind hier irgendwo, dachte er, sie geben doch nicht einfach auf. Entweder wollen sie, daß ich ihnen den Weg zum Versteck zeige, oder sie haben noch irgendwo einen günstigen Punkt, wo sie risikolos über mich herfallen können. Aber zunächst geschah nichts. Über ihm der strahlend blaue Himmel, die mörderisch brennende Sonne, deren Strahlen die Felsen zur Hitze eines Backofens aufluden. Unter sich den spröden Fels, auf dem die Hufeisen des Falben klirrten. Und ganz unten die Schlucht, jener Canyon, der noch weit bis zum Fuß des Mount McDermott führte, gebildet von Eismassen der Vorzeit, ausgewaschen in Jahrtausenden. Teilweise gab es dort unten Gebüsch, verteilt an den Rändern des Regenflußbettes. Weitgehend aber war der Canyongrund mit Geröll und rundgewaschenem Schotter gefüllt. Mehrmals blieb Mort stehen, weil es ihm unglaublich vorkam, daß nichts geschah, daß die Drohung, die auf dem Pappdeckel gestanden hatte, nicht wenigstens versucht wurde. Aber es geschah nichts. Kein Gegner zeigte sich, keine Spur eines Menschen. Mort beobachtete die Vögel. Es gab kleine Singvögel, die hier in den Felsspalten und Gesteinsrissen ihre Nester hatten. Sie reagierten normal, flogen auf, wenn Mort und sein Pferd sich näherten, aber sie wiesen durch ihr Verhalten nicht auf weitere Menschen in der Nähe hin.
Später sah Mort sogar Dickhornschafe, die oben auf der Höhe auftauchten, lange dort verhielten und dann wieder verschwanden. Dann sind dort auch keine Menschen, dachte Mort. Aber ich spüre, daß da jemand sein muß. Sie sind in der Nähe. Oder bilde ich es mir nur ein? Bin ich schon so überspannt, daß ich mir das alles einbilden sollte, diese Blicke. Ja, Blicke! Da ist wer, der mir ins Genick sieht. Wieder einmal drehte er sich blitzschnell um, suchte die Felsen nach einem Menschen ab. Nichts. Wiederum nichts. Er versuchte diesen heimlichen Beobachter hereinzulegen, sah sich so schnell und so unvermittelt um, daß es unmöglich sein mußte für einen etwaigen Lauernden, den Kopf noch einzuziehen. Aber da war niemand. Nur der Fels, die flimmernde Luft darüber. Nichts mehr. Die Enttäuschung machte Mort unsicher. Ich spinne, dachte er, ich drehe durch. Und das wollen diese Hundesöhne bloß. Ruhig, Mort, alter Junge, du mußt dich besinnen. Verdammt, zusammen mit Harry Durfee wäre das besser. Der hat Nerven wie Schiffstrossen. Und ich? Verdammt, Fox hat immer gesagt, ich hätte das Gemüt eines Fleischerhundes. Und nur Weiber im Kopf. Haha, Fox soll nur still sein. Grace, was mag Grace tun? Ob sie noch beleidigt ist, weil ich nicht bei ihr geblieben bin? Na, wenn ich wirklich einen Schatz finde, von dem unser Alter immer gefaselt hat, dann hat auch Grace keine Sorgen mehr. Aber auf den Schatz pfeife ich. Der ist mir im Grunde doch schnuppe. Ich möchte nur dem Hundesohn begegnen, der diese Morde angestiftet, der Tampo bezahlt hat. Der Alte selber ist eigentlich schuld. Mit seiner verfluchten Kiste. Shugar, der Narr, ist dann wohl irgendwie an den Plan gekommen, vielleicht noch vor den anderen, ganz sicher sogar. Er muß ihn geholt haben, als der Alte noch gelebt hat. Und wir
Narren haben es nicht gewußt. Wer hätte es von Shugar gedacht? Dabei hat er doch die Ranch bekommen. Und ich habe immer geglaubt, er gibt mir die Ranch, weil ich immer ein Rindermann gewesen bin, genau wie Fox und Barky. Shugar dagegen ist nur so zum Spaß auf seines Vaters Ranch herumgeritten, nie richtig hart als Viehhirt. Seine Gedanken wurden jäh unterbrochen. Da war etwas, das ihm, dem Mann der Wildnis, sofort auffiel. Vorn war es. Am Steilfelsen, der hinauf zum Plateau ragte. Ein kleiner Vogel, ein Steinschmätzer, unscheinbar grau. Aber nun, da er flog, erkannte Mort die Art, als der leuchtend weiße Bürzel und die Schwanzwurzel zu erkennen waren. Der kleine Vogel flatterte auf, flog einen Kreis, kam zurück, ohne sich niederzulassen, und nun tauchte auch das braungefärbte Weibchen auf. Beide schienen aufgeregt, ließen sich aber nicht nieder, sondern flogen immer wieder kreisend um eine Stelle, die Mort von hier aus nicht einsehen konnte. Eine Felsfalte verbarg diesen Ort vor seinem Blick. Jetzt ließen sich beide, das Männchen und das Weibchen, weiter oben nieder, wo Mort sie beobachten konnte. Sie blickten nach unten, hielten auf anmutige Weise die Köpfe schief. Dann flogen sie wieder einmal auf, und es brauchte jemand kein Vogelkundler zu sein, um zu begreifen, daß sie dort unten ein Nest hatten, an das sie sich aus einem noch unklaren Grunde nicht heranwagten. Mort ließ den Zügel des Falben herabhängen, packte das Gewehr mit beiden Händen und schlich sich, dicht an die Felswand gehend, näher zu jener Stelle. Als er einmal kurz über die Schulter zu seinem Pferd blickte, stand das wie ein Denkmal am selben Platz. Die beiden Vögel hatten sich wieder niedergelassen, abermals weiter oben, und auch jetzt spähten sie mit schiefgehaltenen Köpfen zu jener Stelle herab, die Mort noch
immer nicht einsehen konnte. Mort verhielt, sah sich um, blickte nach oben, spähte in die Schlucht hinab. Doch nirgendwo entdeckte er etwas Ungewöhnliches. Dann schlich er weiter, das Gewehr an die Hüfte gepreßt, den Finger am Abzug. Und dann noch ein Schritt ... noch einen. Die Felsenfalte vor ihm. Er konnte darüber hinwegsehen ... und erstarrte. Vor ihm stand Fox, sein Bruder. Nackt. Alles, was er trug, war eine Hanfschlinge um den Hals. Er stand mit gefesselten Händen und zusammengebundenen Füßen dicht am Rande der Schlucht. Das Strickende der Halsschlinge war um einen Haken gewunden, der in einen Felsriß geschlagen worden war. Hinter Fox standen zwei weißgekleidete Menschen mit riesigen roten Masken vor den Gesichtern. Rote Masken mit weißen Zeichen darauf. »Wenn du das Gewehr nicht fallen läßt«, rief einer der Maskenträger, »stoßen wir ihn in die Schlucht!« Fox blickte Mort an. In seinen Augen war die Hoffnung abzulesen, daß Mort es tun würde. Mort begriff, warum sie sich soviel Umstände machten. Sie hätten ihn mit einer Steinlawine erschlagen, mit hinterhältigen Schüssen töten, mit tausend anderen Mitteln aus der sicheren Deckung heraus umbringen können. Aber nur er kannte den Plan, und sie glaubten wohl, daß er ihn bei sich trug. Vielleicht waren sie auch so phantasiereich zu erwarten, daß er ihn vernichtet hatte. Was ja auch der Fall war. Sie mußten Mort Roos lebend haben. Das war es. »Mort, tu, was sie verlangen! Gib ihnen den Plan, und sie werden uns laufenlassen!« sagte Fox. Es klang kläglich. Mort kannte seinen Bruder. Der backte bestimmt keine kleinen Brötchen, auch in so einer Lage nicht. Seine scheinbare Angst, gut gespielt, sollte die beiden Maskierten einschläfern, sollte sie leichtsinnig machen.
Aber so einfach war das nicht. Fox hing an diesem Strick, und sie hätten ihn opfern können. »Laß das Gewehr fallen. Wir riskieren nichts. Er ist überflüssig«, sagte der eine Maskenträger wieder. Der andere hatte eine Machete in der Hand, ein langes Haumesser, und mit dessen Spitze piekte er in Fox’ Rücken. Fox konnte nach vorn nicht ausweichen. Da war die Tiefe der Schlucht. »Also gut«, sagte Mort und stellte das Gewehr an die Felswand. »Abschnallen!« befahl die rote Maske. Auch das tat Mort. »Die Hände über den Kopf und herkommen!« kam ein neuer Befehl. Mort gehorchte. Wenn ich zwischen diese beiden Hundesöhne und Fox gerate, weht ein anderer Wind, dachte er. Dann werdet ihr beiden etwas erleben. Denkt ruhig, ich hätte aufgegeben.Denkt das ruhig, ihr beiden Schlaumeier! Ich erzähle euch was, und Fox scheint mir richtig froh zu sein, daß ich da bin. Der hat auch ein paar Einfälle. Zu zweit kommen wir damit ganz groß raus. Wartet mal ab! Nur die Ruhe, ihr Goldfasane! Nur die Ruhe! Und dann war er bei ihnen. Sie zuhielten ihm ihre Gewehre entgegen, Mort sah, daß es Winchester-66-Büchsen waren. Davon gab es Tausende. Das war auch kein Hinweis. Auch die Stimme des einen nicht. Sie war ihm fremd. Ein Amerikaner, kein Mexikaner, wie die Kleidung vermuten ließ. Vielleicht war der andere einer. Abwarten. Ich muß zusehen, daß ich zwischen sie und Fox gerate. Aber diese Himmelhunde ziehen ihn zurück, wollen nicht, daß ich zwischen sie komme. Die ahnen das. Na ja, kommt Zeit, kommt Gelegenheit. »An die Wand mit dir! Die Hände flach daran, das Gesicht
zur Wand! Los!« befahl der eine. Mort tat es. Dann spürte er, wie der eine ihn abtastete, während ihm der andere den Gewehrlauf in die Hüfte preßte. Sie suchen den Plan, was sonst.Aber da findet ihr nichts, ihr Idioten! dachte Mort. »Wo hast du ihn?« fragte derjenige, der ihn abtastete. »Wir wissen, daß du ihn hast.« »Wer behauptet so etwas?« fragte Mort. »Wenn ihr den Plan sucht, den habe ich nicht.« »Wir suchen den Plan, und du hast ihn auch.« Sie können das doch nicht wissen, dachte Mort. Dann müßte mir Tampos Helfer gefolgt sein. Ja, Harry hat ja auch immer gesagt, daß die Morde von zwei Mann ausgeführt worden sind, zumindest wurde Shugar von zweien draußen am Flaschenzug aufgehängt. Und dieser zweite Mann könnte hier sein. Ja, denn er ist geradewegs geritten und ich mußte einen Umweg machen. Vielleicht können sie von den Bergen aus auch Rauchzeichen sehen. Wie dem auch sei, die wissen es, zumindest vermuten sie es, denn den Plan könnte ebenso auch Durfee haben. »Ich habe keinen Plan. Sucht, so lange ihr wollt. Aber bindet meinen Bruder los!« Mann, stell dich hinter mich, weiter hinter mich, und ich lege los, sagte sich Mort. Ich schmeiße dich in die Schlucht runter, und wenn Fox dann den anderen Hundesohn zur Brust nimmt, sind wir aus allem heraus. Sie sind bestimmt nur zu zweit. Mann, einen habe ich schon über den Jordan geschickt. Nun tritt doch schon weiter hinter mich, noch ein Stück! »Wo ist der Plan?« fragte der hinter Mort. »Ich habe keinen. Oder hast du einen gefunden?« fragte Mort herausfordernd. »Reiß die Schnauze nicht so weit auf, Bürschchen!« knurrte
der Maskenträger. Der andere steht links, direkt neben Fox, dachte Mort. Wenn Fox dem einen unvermuteten Schubs gibt, liegt dieser Hundesohn im Canyon. Und ich werde auch tun, was ich kann. Na? O Himmel, jetzt geht er wieder zur Seite, und ich habe keine Gelegenheit mehr, den Kerl in die Schlucht zu schmeißen. Oder doch. Ja, jetzt kommt er. Taste ruhig meine Hosen ab. Prächtig, wie du das machst. Und der andere? Was macht der? Glotzt zu mir her. Haha, Junge, sieh nur genau zu. Und vergiß ruhig für eine Sekunde meinen Bruder, den Fuchs. Vergiß ihn. Fox, hoffentlich bist zu auf Zack! Mann, er macht seine trüben Augen. Macht er doch immer, kurz bevor er loslegt, Mensch, so wie damals, als Fox, Barky und ich im Red Elk aufgeräumt haben. Als dieser Heini aus Cheyenne behauptet hat, ich hätte einen Wimmerkasten, aber keine Gitarre. Junge, das war ein Fest. – Fox hat etwas kapiert. Ja, das hat er. Sieht mich an, der alte Pferdetäuscher. Ha, Bruderherz, ich bin bereit. Und du? Klar du auch. Sehe ich doch. »Wo, zum Teufel, hast du den Plan?« fragte der Mann hinter Mort. »Ich habe keinen. Ich habe ihn verbrannt.« Mort sagte es über die linke Schulter hinweg, kniff ein Auge zu, und Fox kniff auch eins zu. Klar, sie waren Brüder, verstanden sich auch ohne große Worte. »Schieß das Schwein übern Haufen!« sagte der Mann hinter Mort zu dem anderen. »Das wird ihn beeindrucken; los, tu es!« Sie wollen Fox umlegen, dachte Mort. Damit wollen sie mir drohen. Schweinebande! Aber wartet. Ihr nicht. Dazu habt ihr beiden den Verstand viel zu tief im Kreuz sitzen. Wir sind doch auch ein bißchen die Söhne vom alten Roos. Von Archie
Roos, dem trickreichen alten Burschen, der das hier alles verzapft hat. Ein Blick zu Fox. Alles klar. Der Kerl mit der Maske neben ihm hat das Gewehr angehoben. Die Mündung zeigt auf Fox, überlegte Mort. »Also gut, ich sag’ es euch.« Er sprach so, als hätte er eingesehen, daß Nachgeben besser als Sturheit sei. Ist es sonst auch. Aber die beiden sollten nachlassen, sollten nicht mehr mit Widerstand rechnen. Und wirklich, der eine neben Fox senkte sein Gewehr. »Jetzt!« schrie Mort und trat so unvermittelt mit dem rechten Fuß nach hinten aus, daß er sich selbst wie ein auskeilender Bronco vor kam. Zugleich wirbelte er herum und wuchtete die rechte Faust wie einen Dampfhammer gegen die Brust des Maskenmannes. Der Stoß war einfach zu gewaltig. Der Maskenmann taumelte zwei, drei Schritt schräg über den Pfad, wollte noch herum, wollte auf dem Weg bleiben, aber da trat sein Fuß schon ins Leere. Er schrie gellend auf, wollte sich nach vorn werfen, wollte sich festhalten, wollte tausend Dinge zugleich tun, um nicht abstürzen zu müssen. Aber seine Hände glitten auf dem Fels ab. Da war keine Scharte, kein Grat, nichts. Er rutschte, schrie, und schon verschwand sein Kopf, verschwanden die Hände, und der gellende Schrei drang herauf, wurde immer leiser, entfernte sich rasend schnell. Dann kam ein zweiter Schrei dazu. Fox war mit dem Kopf gegen »seinen Mann« gerammt, hatte sich zurückgeworfen und damit Mort Platz gemacht. Mort sah, wie der andere das Gewehr hochriß, zugleich aber gegen die Felswand torkelte, dagegen prallte und nun schießen wollte. Mort sprang vor, setzte über Fox hinweg, der am Boden lag, und da kam ihm schon der Gewehrlauf entgegen. Mit einem blitzschnellen Griff hatte Mort den Lauf umklammert, hochgerissen, und der Schuß fauchte gen Himmel. Mort meinte, ein glühendes Stück Holz in der Hand
zu halten, aber er ließ nicht los, riß an der Waffe. Der Maskenmann gab nicht nach, umklammerte sein Gewehr, wurde nach vorn gerissen, auf den Abgrund zu, und davor waren noch Fox’ Beine, die sich rasch ausstreckten, so daß der Maskenmann darüber stolperte, das Gleichgewicht verlor, nach vorn schoß und dann mit einem schrillen Schrei seinem Partner nachfolgte. Mort beugte sich nach vorn, sah den weißen Körper gegen den Felsen schlagen und abprallen, bis er unten ins Geröll klatschte. Mort wischte sich den Schweiß von der Stirn, sah Fox an und meinte gelassen, indem er Fox’ Nacktheit bewunderte: »Allmählich hast du genug Sonne, Bruderherz. Dort steht mein Pferd, im Sattelpack findest du Hemd, Hose und Wäsche. Ich werde mir erst einmal eine Zigarette drehen.« »Für mich eine mit«, erwiderte Fox. »Ich hätte nicht gedacht, daß ich diese Hundesöhne noch mal loswerde.« »Wie viele sind noch zu erwarten?« fragte Mort, während er Tabak aus der Tasche nahm und in ein Stück Papier streute. »Sie waren neun. Einer ist ganz sicher in Evelshorn. Dann ist einer, den ich für den Boß von denen halte. Der muß auch in Evelshorn sein. Ich glaube, die beiden kommen heute oder morgen zurück. Da habe ich etwas läuten hören. Einen haben sie dir entgegengeschickt, nachdem sie durch Rauchzeichen wußten, daß du kommst. Die haben ja in Evelshorn noch eine Frau, mit der sie zusammenarbeiten. Ich weiß auch, wer es ist. Einer von denen hat’s mir gesagt.« Fox, der das Hemd übergezogen hatte, das im Packen war, sah Mort an. »Bruder, es wird dir weh tun, aber ich muß es dir sagen: es ist Grace.« Mort fuhr herum und verschüttete den ganzen Tabak. »Was hast du gesagt?« Fox nickte. »Du hast schon richtig gehört. Sie hat einen
Bruder. Und der ist offenbar der Lumpenhund, der diese Schar von Hühnerdieben anführt. Mort, hast du gewußt, daß Grace eine Engländerin ist?« »Sie hat immer erzählt, daß sie aus Boston stammt. Dort reden sie ...« »Eine Ausrede, Mort«, sagte Fox und stieg in Morts zu lange Hosen. »Mann, wenn ich die trage, brauche ich gar keine Schuhe.« »Kremple sie um. Was ist also? Eine Engländerin.« »Ja, irgendwie hängen sie und ihr Bruder mit diesem Steuermann von der ›Silver Cloud‹ zusammen, von dem unser Alter immer geredet hat. Ich habe manchmal gedacht, unser Alter spinnt, aber das muß wohl alles stimmen. Mort, diese Grace oder wie sie wirklich heißen mag, hat dich nur zu sich an die weiche Honigbrust genommen, weil sie an uns herankommen wollte. Ist sie ja prompt. Ihr Bruder wollte die Kiste. Noch etwas, Mort, was ich weiß, weil sie die Rauchzeichen bekommen haben, und weil sie dann darüber gesprochen haben: Mort, weißt du, daß sie Shugar ...« Mort nickte. »Harry, Nev und ich haben ihn gefunden. Diese Schweine!« »Da ist einer, der jetzt auch tot ist, jedenfalls habe ich das sagen hören. Tampo nennen sie ihn ...« »Ja, ich weiß es auch. Ich war ja dabei. Fox, ich habe immer gedacht, daß O’Keefe hinter allem steckt.« »Im Gegenteil, auf den haben sie auch einen Pik.« »Dann sind also noch sieben von denen da?« fragte Mort und zündete die nunmehr gerollte Zigarette an, gab Fox die zweite, die Fox nahm und ebenfalls anzündete. Als sie beide rauchten, antwortete Fox: »Nein. Als Stockert kam, war ich in dem Gehölz vor den Bergen. Er wollte dort offenbar rasten. Da hatte ich einen Erhängten gefunden. Ein Fremder, der irgendwie mit den roten
Masken zusammengeraten war. Sie hatten ihn aufgehängt. Stockert und ich gerieten in eine wilde Schießerei, dabei wurde Ben von vergifteten Pfeilen getroffen. Eigentlich waren es Betäubungsgifte. Aber Ben starb daran. Er ist gar nicht mehr aufgewacht. Darüber waren die Burschen mit den Masken später ganz überrascht. Ich hörte den einen sagen, Ben Stockert müßte wohl leberkrank gewesen sein. Na, sie haben ihn weggebracht. Aber vorher habe ich ihnen noch etwas von dem gezeigt, was ich konnte. Zwei von ihnen gingen dabei zu ihren Vätern. Mich erwischten sie schließlich auch mit so einem Pfeil oder mit mehreren, jedenfalls war ich aus dem Rennen. Als ich aufgewacht bin, hatten sie mich fein verpackt ein gutes Stück weiter im Gebirge in einer Höhle liegen. Und das blieb so. Ab und zu kam der eine Knilch, der sie anführt, stellte Fragen nach allem möglichen, um zu erfahren, wo der Plan sein könnte. Sie dachten lange, ich hätte ihn. Und dann kam die Meldung, daß du im Anmarsch bist. Mensch, dachte ich, jetzt landet der auch bei diesen miesen Vögeln.« Mort erzählte, daß er Ben Stockert gefunden und einen der Maskenträger erschossen hatte. »Also, dann sind zwei von mir, einer von dir, dann die beiden dort unten«, rechnete Fox, »von uns von der Liste gestrichen worden. Bleiben noch vier.« »Wo ist ihr Lager?« fragte Mort. »Nicht weit von hier, aber da ist jetzt keiner. Zwei von denen sind, wie ich sagte, in der Stadt, kommen aber sicher heute oder morgen zurück. Die beiden anderen sind an der Quelle, der einzigen Wasserstelle, die es hier weit und breit gibt. Mort, das ist kein Spaß. Wenn wir Wasser brauchen, und wir brauchen es ganz bestimmt, müssen wir dorthin. Und das wissen die auch. Deshalb sind immer zwei von denen dort.« »Wir sind auch zu zweit, Fox.« Fox nickte. »Sind wir, aber die beiden haben sich allerlei
einfallen lassen, damit sie uns rechtzeitig bemerken und uns notfalls zu den Helden versammeln, bevor wir sie überhaupt gesehen haben. Das Gelände dort – ich bin vorbeigekommen – ist genial für einen, der sich verstecken will und aus dem Hinterhalt eine ganze Armeepatrouille abknallen möchte. Mort, ohne Wasser sind wir hier oben weniger wert als ohne Munition. Du kannst mir übrigens deinen Revolver geben, damit ich nicht mit Steinen zu schmeißen brauche.« »Nimm das Gewehr dort. Er hat es so schön an die Wand gelehnt ...« *** »Hier ungefähr müßte es sein«, sagte Mort, blickte in die Schlucht hinab und sah dann Fox an. Fox hielt die 66er des Maskenmannes in den Händen, schaute in die Runde, mißtrauisch und auf alle Zwischenfälle gefaßt. »Mir wäre lieber gewesen, Mort, wir hätten erst die beiden am Wasserloch zwischen uns genommen.« »Ich bin nicht wild auf das Goldgeld, Fox, aber ich möchte es wie ein Stück Speck benutzen, in eine Falle legen, die wir beide aufbauen. Was sagst du?« »Wenn wir in eine Zwickmühle geraten, Mort, haben wir gerade die drei Liter Wasser, die du im Wassersack hast. Und damit reichen wir nicht lange. Wir müssen dann unter Umständen aufgeben, mangels Wasser. Dann taugt deine Falle einen Dreck und wird für uns zum Galgen. Denn das Gold haben sie dann ja. Solange sie aber nicht wissen, wo das Gold ist, solange du es also weißt, ist das unser Kapital. Ich würde hier nicht stehenbleiben. Ziehen wir weiter. Du vergißt das Pferd. Wir haben es zurücklassen müssen. Vielleicht finden sie es früher, als wir denken. Bleib nicht mehr stehen. Es kann sein, daß sie uns beobachten, Mort. Und dann ist jeder Trumpf
verspielt. Der Pfad führt zum Plateau hinauf. Von dort oben aus haben sie immer beobachtet, wenn Rauchzeichen in der Stadt zu erwarten gewesen sind, Mort. Rauchzeichen, die aus Graces Schulhaus aufstiegen.« »Hör auf, immer von Grace zu reden. Ich kann es nicht glauben.« »Es ist wahr, und du solltest es schlucken, auch wenn es nicht bekommt. Mort, geh einfach weiter und sieh vor allem nicht nach links drüben zur anderen Schluchtseite. Dort ist schon einer aufgetaucht. Beobachte mal aus den Augenwinkeln heraus ... er duckt sich hinter den Felsvorsprung, wo der lange Schatten ist. Tu so, als wäre unser Ziel noch weit. Ja, Mort, so ist es richtig. Siehst du den Stinker?« »Ja, er hat noch nicht gemerkt, daß die Sonne von der Seite kommt und sein Schatten auf den Felsen fällt.« »Ein paar von denen sind ganz schön raffiniert, aber der dort drüben gehört zu den schwächeren Geistern. Mort, der zweite ist auch da. Sieh mal verstohlen etwas weiter nach oben, oberhalb von dem anderen. Da ist ein Felsenriß. Da sitzt der Hundesohn drinnen. Sie haben die Masken abgelegt. Siehst du ihn, Mort?« Mort spähte aus den Augenwinkeln hinüber und brauchte Sekunden, bis er den Mann oben in der Felsspalte entdeckt hatte. Dazu gehörte schon ein scharfes Auge, den zu finden, erst recht aber, ihn überhaupt zu entdecken. Ich kann froh sein, dachte Mort, daß Fox bei mir ist. Mit ihm zusammen ist eine Menge zu machen. Ich hätte die beiden dort drüben nicht gesehen. »Meinst du, die schießen auf uns?« fragte Mort. »Nein, aber wir werden jetzt zur Quelle stiefeln. Aber erst zum Plateau. Dann verziehen wir uns zur anderen Seite, da ist auch eine Schlucht, und die müssen wir hinunter, dann unten entlang zur Quelle. Die kommen uns natürlich nach. Aber das
wäre unsere Trumpfkarte. Da lege ich sie herein. Hoffentlich, und das ist wirklich wichtig, sind sie nicht stutzig geworden, als du in die Schlucht hinab gezeigt hast.« »Schon gut, Fox, es war ein Fehler, und ich weiß es. Wie weit haben wir bis zu dieser Quelle?« »Ich schätze, eine Viertelstunde.« Sie kletterten zum Plateau hinauf, das fast wie ein riesiger Tisch wirkte, groß genug war, um eine mittlere Ortschaft darauf unterzubringen und vom steten Wind fast blankgefegt war. Keine Vegetation, nur in ein paar Rissen und Spalten, sonst nur rötlicher Stein, durchzogen von weißen Adern. Und in der Mitte die Gerippe. Die Gerippe von Menschen, zu einem Haufen getürmt, Totenköpfe, Brustkörbe, Schenkelknochen, Armgebeine ... »Was, zum Teufel, ist das?« keuchte Mort, als er das sah. »Du fragst, als hätte ich die dort alle umgebracht. Wir sehen es uns an. Aber rasch. Viel Zeit bleibt uns nicht.« Sie waren gerade auf dem Wege zu diesem Skeletthaufen, als Mort den dünnen Rauchfaden entdeckte, der am Ende des Plateaus aus irgendeiner Schlucht aufstieg zum Himmel. »Was bedeutet das?« fragte er. Fox dachte kurz nach. »Dann sind die beiden, auf die man gewartet hat, schon da. Oder es sind mehr als neun gewesen. Das glaube ich aber nicht.« »Los, vielleicht schaffen wir es noch vorher zum Wasser«, schlug Mort vor. »Ja, Wasser müssen wir erst haben. Und wenn wir es haben, legen wir los. Mort, es ist ziemlich sicher, daß die beiden dann auch dein Pferd entdeckt haben.« »Ist das dort die Richtung zum Wasser?« »Nein, wir müssen links die Steilwand hinab. Gut, daß wir das Lasso mitgenommen haben. Ich seile dich ab ...« Vom Plateau aus ging es fast senkrecht hinab in die
Schlucht, die sie zur Quelle entlanggehen mußten. Fox befestigte das Lassoende an einer Felsnase und sagte: »Du zuerst, Mort. Und wenn du unten bist, halte die Gegend im Auge. Nicht lange reden, sofort schießen. So, und nun hinunter mit dir!« Fox sah kaum hin, als Mort am Seil hinabhangelte. Das Gewehr in den Händen spähte er übers Plateau. Und da kamen sie schon. Zu zweit. Genau dort, wo Fox und Mort zum Plateau aufgestiegen waren, kamen die beiden Masken an. Sie hatten sie wieder aufgesetzt und wirkten wie rote Frösche auf diese Entfernung damit. Als Fox schoß, warfen sich die beiden flach auf den Boden. Sie fanden in einer Bodenrinne Deckung, so daß Fox sie im Augenblick nicht mehr sehen konnte. Doch sie schossen auch nicht auf Fox. Die kommen sofort her, wenn ich hier wegtauche. Aber ich kann gar nicht anders und muß ja verschwinden, wenn ich hinunter will, dachte er. Er spähte nach unten. Mort befand sich noch auf halbem Wege. »Mort, da sind unsere zwei Busenfreunde. Beeile dich ein bißchen und paß nachher gut auf!« rief er hinab. »Hoffentlich ist das keine Falle, in die wir selbst tappen«, kam es von unten herauf. Fox belauerte die beiden drüben, aber die zeigten sich nicht. Offenbar rechneten sie damit, daß auch Fox sich abseilen mußte, und dann würden sie kommen. Das war glasklar für ihn. Endlich war Mort unten. Fox duckte sich, wartete, legte sich dann sogar flach auf den Boden. Na, nun zeigt euch doch, ihr Armleuchter! dachte er. Und prompt kamen sie, wohl in der Erwartung, er sei schon beim Abstieg. Fox schoß sofort, sah, wie es den Linken umriß und zu Boden stieß. Der andere warf sich den Bruchteil einer Sekunde
später selbst zu Boden und war wiederum Fox’ Blick entzogen. »Na also!« brummte Fox und ließ das Gewehr zurück, denn eben hatte er den letzten Schuß abgefeuert und Munition hatten sie dafür sowieso keine mehr. Um es unbrauchbar zu machen, schlug er noch den Kolben ab. Dann stieg er ab. Aber plötzlich hakte sich sein zu großes Hemd an einer Felsenzacke ein. Er hing damit am Rücken so unglücklich fest, daß er sich auf Anhieb nicht befreien konnte. Mit Gewalt versuchte er sich loszureißen, aber der Stoff war gut, der hielt. »Was ist denn?« rief Mort unten. »Dein beschissenes Hemd!« fauchte Fox, riß und zog, und endlich platzte es, gab nach, und er war frei. Er kletterte hastig weiter, ob der verlorenen Zeit. Drei, vier Meter weit kam er, dann sah er nach oben. Und da tauchte die Maske auf. Die Maske und das Messer, das sich dem Seil näherte. »Schieß doch, Mort!« schrie Fox. »Worauf denn, zum Teufel?« rief Mort unten. O Himmel! dachte Fox. Der kann den von seinem Platz aus nicht sehen! Verdammt noch eins, das sind gut vierzig Meter, die überstehe ich nicht lebend. Da gehe ich vor die Hunde! Der Kerl da oben hat das Messer dran. Er schneidet. Ein stumpfes Messer, zum Glück, aber er wird es durchbekommen! Er wird es schaffen, so stumpf ist einfach kein Messer. »Mort, nun knall ihm eine vor den Ballon!« brüllte Fox. Da schoß der Kerl oben. Aber Fox stieß sich ab, kletterte hastig weiter, preßte sich an die Felswand, kletterte wieder, und abermals kam von oben ein Schuß wiederum vorbei. Doch nun hatte Mort begriffen. Er rannte weiter zur anderen Seite, um den Burschen da oben besser ins Bild zu bekommen. Doch der oben schoß jetzt auf Mort. Mort feuerte zurück, und Fox kletterte abwärts, was das Zeug hielt. Er spürte, wie die Haut an seinen Händen zu Fetzen
ging, wie sie ihm regelrecht verbrannte. Aber noch hielt das Seil, noch hatte es oben Halt. Noch dreißig Meter ... Er bemerkte ein Zittern im Seil, das war wie vorhin, als der Kerl mit seinem stumpfen Messer am Seil gesägt hatte. Unten schoß Mort. Er stand jetzt weiter drüben, mußte den Kerl dort oben erkennen. Fox selbst sah die Maske nicht mehr, dazu war er inzwischen zu tief. Aber er ahnte nicht, daß auch Mort ihn nicht mehr sah, weil sich der Maskenmann hingelegt hatte, flach hingelegt, das Messer in der Rechten. Und damit säbelte er an dem Lasso. Er verfluchte sein stumpfes Messer, doch zwei Drittel des Lassos waren bereits durchtrennt. Und die Last an dem verbliebenen Seil wurde zu schwer. Es knarrte und knirschte im Hanfgeflecht. Unten aber hatte Fox jetzt noch gut zwanzig Meter bis hinab zum steinharten Grund der Schlucht ... *** Mort lief noch ein Stück weiter zurück, um mehr auf das Plateau oder doch wenigstens über die Kante sehen zu können. Und dann gewahrte er den Kopf, die Maske. Er feuerte, hebelte durch, feuerte, und plötzlich zuckte der Kopf hoch, flog die Maske herunter. Doch vor dem hellen Himmel wirkte das Gesicht, das jetzt sichtbar wurde, dunkel. Nur eine, vielleicht zwei Sekunden lang sah Mort den Kopf, und er schoß darauf. Er sah, daß er traf. Erleichtert ließ er die Marlin sinken und blickte auf Fox, der wie besessen abwärts kletterte ... noch zehn Meter, noch acht ... da! Das Seil löste sich oben. Und während Fox es noch fest umklammerte, raste er mitsamt dem Seil abwärts, schoß dem harten Geröll entgegen, das den Boden bedeckte. Er schlug auf, machte ungewollt eine Rolle, dann blieb er
liegen. Mort rannte los, hastete über den Schotter, glitt noch aus, fiel, kam wieder hoch, rannte weiter und kniete neben Fox, als der gerade sein Bein anzog und keuchte: »Mein Fuß, zum Teufel, Mensch, Mort, das tut vielleicht wohl! Sieh mal nach!« Mort wollte Fox den Stiefel vom rechten Fuß ziehen, aber der schrie: »Mann, willst du mir das Bein ausreißen, du Idiot? Hilf mir auf! Wir müssen weg hier! Los, hilf mir!« Mort half ihm auf, und Fox hüpfte auf dem gesunden Bein, versuchte vorsichtig mit dem anderen aufzutreten, doch das schien unmöglich. »Mist! Ich glaube, den Fuß habe ich gebrochen. Dann stehen wir fein da. Mort, wir müssen zum Wasser vor allem anderen. Du bringst mich noch ein Stück weiter. Da vorn irgendwo ist eine Grotte. In die hilfst du mir hinein, da decke ich dir den Rückzug. Ich beschreibe dir nachher den Weg zum Wasser. Wenn du es hast, kehrst du zu mir zurück. Wir müssen dann gemeinsam erst die beiden Kerle erwischen, die uns noch in der Sammlung fehlen. Was ist mit dem dort oben passiert?« »Kopfschuß.« Sie brauchten fast dreimal so lange bis zu jener Grotte, wie sie normal nötig gehabt hätten. Aber Fox schien tatsächlich den Fuß gebrochen zu haben. Er ächzte, fluchte und verdammte die Maskenmänner, die Berge, sein Pech und was alles mehr. Mort gab ihm sein Gewehr, nahm den Wassersack und füllte den Rest in seine Feldflasche um, die er Fox gab. Dann warf er sich den leeren Sack über die Schulter, lockerte seinen Colt und sagte zu Fox: »Laß nur den Stiefel an, sonst kriegen wir den nie mehr drüber.« »Ja, weiß ich. Mort, paß gut auf dich auf! In einer Viertelstunde müßtest du zurück sein.«
»Ich werde mein Bestes tun. Bis nachher, Bruder!« Er ging wieder aus der Kühle der Grotte in die Gluthitze hinaus, die jetzt am Nachmittag herrschte. Wir müssen das alles bis zum Abend gepackt haben. Wenn erst Nacht wird, sind die anderen uns wegen ihrer Ortskenntnis über, dachte er. Oder, überlegte er weiter, wir übernachten in der Grotte. Er kam ungeschoren bis zu einer Stelle, wo sich der Canyon aufbauchte, wo er endete. Unvorstellbar, daß dieses winzige Rinnsal, das hier von den Felsen rann, diesen Canyon einmal aus den Felsen gewaschen haben solle. Aber es war so. Mort sah sich um, blickte in diesem Felsenkessel nach allen Seiten, spähte empor zu den schroffen Felsentürmen, die Dutzenden von Heckenschützen Deckung geboten hätten. Wenn da einer sitzt, dachte Mort, dann werde ich ihn vielleicht nicht finden. Wenn ich dann auch noch ohne jede Deckungsmöglichkeit quer durch den Canyon spaziere, knallt der mich ab wie nichts. Aber ich muß auf die andere Seite, wo das Wasser fließt. Und es verrinnt schon nach wenigen Schritten von der Felswand weg im Geröll. Es fließt nicht bis hierher. Also muß ich hin. Muß über die deckungslose freie Strecke. Er ging, und niemand schoß. Ungehindert konnte er den Wassersack bis zum Rand füllen, und niemand störte ihn, als er die zweiundfünfzig Pfund schwere Last schulterte und damit zurückmarschierte. Er drehte sich um, blickte abermals empor im Felsenkessel. Nichts. Nur das Wasser, das in etwa fünfzehn Meter Höhe aus einem Felsenloch quoll und hinabstürzte zum Beckengrund. Er gelangte wieder in die Schlucht, die in der Regenperiode zum reißenden Fluß wurde, wie man behauptete. Jetzt gab es hier nur das trockene Geröll. Mort dachte an Fox und fragte sich, wie er den verletzten
Bruder transportieren konnte. Ein paar Sekunden lang war er mit diesem Problem beschäftigt, achtete er nicht auf seine Umgebung, ließ er sich von diesen Dingen ablenken. Als er aufblickte, stand der Mann vor ihm. Er war groß, schlank; ein Bärtchen wuchs über seinem schmalen Mund, kühne, aber kalte graue Augen sahen Mort an. Ein fremdes Gesicht. Der Mann trug einen grauen, eigenartig geschnittenen Anzug, und seine Hosen steckten in weichen Lederstiefeln. Auch der Schnitt der eng anliegenden Stiefelschäfte war Mort fremd. Aber was ihm vertraut vorkam, war das Gewehr. Eine Winchester 73, und die Mündung konnte Mort als kreisrundes Loch sehen. Er war in der Lage, direkt hineinzublicken. Er hat mich vor seiner Haubitze, und ich komme wegen des Wassers nicht einmal schnell genug an meine Kanone, dachte Mort. Fremd der Kerl, auch ohne Maske. Aber er gehört zu denen. Vielleicht ist er sogar ihr Boß. Komischer Anzug, eigenartige Stiefel. Vielleicht ein Ausländer. Engländer etwa wie die anderen? Das Gesicht kam ihm irgendwie vertraut vor. Er wußte nicht, wo er es schon gesehen hatte, doch ... Da fiel es ihm siedend heiß ein! Grace! Das Gesicht ähnelte Grace. Ähnelte Grace? Hatte Fox nicht gesagt ... klar, das hatte er. Grace hatte einen Bruder, und der wollte ... Das also war es! »Du bist Graces Bruder, nicht wahr?« fragte er. Der andere lächelte eisig. »Ja, Ich nehme an, du bist Mort, nicht wahr?« »Ja, ich bin Mort. Lebe ich deshalb noch, weil Grace meine ... meine Freundin ist?« Er lächelte nicht mehr so kalt »Ja, Mort, deshalb lebst du noch. Aber Grace lebt nicht mehr, Mort.« Mort zuckte zusammen. Es hatte ihn schon hart genug
getroffen, was Fox ihm von ihr erzählt hatte. »Tot?« fragte er fast tonlos. »Aber wieso denn tot?« »Der Marshal wollte sie verhaften. Sie hat sich selbst getötet.« Er wußte, daß sie eine Banditenhelferin war, er wußte, daß sie ihn nur wegen des Schatzes geliebt hatte, trotzdem, es waren schöne Stunden mit ihr gewesen und von ihm aus gesehen, war seine Liebe zu ihr rein gewesen, rein und echt. Es ließ ihn nicht kalt, daß sie tot sein sollte. Es traf ihn hart. Der Mann ihm gegenüber musterte ihn, und in seinen Augen zeigte sich so etwas wie Erstaunen. Auch Mort spürte, wie unsicher der andere wurde, der eben noch so sehr selbstbewußt gewesen war. Aber Mort hatte keine Chance, suchte sie im Augenblick auch nicht. Das mit Grace beschäftigte ihn. »Du willst das Gold, nicht wahr?« fragte Mort. »Ich will, was mir gehört. Nicht deinem Vater gehört das Gold, nicht dir oder irgendwem anderen. Mir gehört es. Ich bin der Erbe von Jonathan Mulligan. Er war mein Vater. Der Steuermann der ›Silver Cloud‹. Dein Vater, Mort Roos, war ein tüchtiger Mann und Kämpfer, als er jung gewesen ist. Nachher war er ein Schwätzer. So habe ich, gerade nach Amerika gekommen, durch einen Zufall davon erfahren. Nun, Mort Roos, ich habe nach dem Manne gesucht, der die Geschichte der ›Silver Cloud‹ überall herumerzählte. Ich fand ihn auch. Aber ich konnte den Plan nicht finden. Und auch nicht an ihn herankommen.« »Mit dem Mord an Barky hattest du ihn auch noch nicht«, sagte Mort, und nun war nur noch die Lust in ihm, diesen Mann dort zu töten, ihn dafür zu vernichten, daß er Barky, Shugar und Stockert töten ließ. Er also, nicht O’Keefe, wie Mort immer gedacht hatte. »Nein, da hatte ich den Plan noch nicht. Nun, Tampo war
ein Narr. Ich bin es nicht, Mort Roos. Alle, die diesen Schatz haben wollen, sind verflucht. Auch dein Vater ist verflucht gewesen. Das Goldgeld hat ihm wenig Glück gebracht.« »Oho, er hat gut gelebt, und er war ein reicher Mann. Mich wundert, daß da noch ein Schatz sein soll. Rechne doch einmal aus, was ihn die Ranch, der Store, die Frachtgesellschaft und so manches mehr gekostet hat. Was er von diesem Goldgeld gekauft hat. Ich fürchte, es ist nichts mehr davon übrig. Du wirst mich töten müssen, Mulligan. Nicht wahr, so heißt du doch? Du mußt so heißen, wenn dein Vater der Steuermann Jonathan Mulligan gewesen sein soll.« »Ja, ich bin Tom Mulligan. Freunde nennen mich T.M. – Aber du bist nicht mein Freund.« »Mulligan, wenn du mich nicht tötest, werde ich dich töten. Mein Vater hat deinen Vater nicht umgebracht, das hat ein Bootsmann getan, soviel ich weiß. Jedenfalls hat mein Vater es so erzählt.« »Ich fürchte, er hat gelogen. Mein Vater hatte den Auftrag, diese Geldkiste zu beschützen, zu behüten und zu bewachen. Er hat sie nicht freiwillig hergegeben. Nun, ich werde sie nun übernehmen. Du weißt, wo sie ist. Und du wirst sie mir aus dem Versteck holen.« »Es kann sein, Mulligan, daß ich dir die Kiste hole, wenn es sie gibt. Aber erst will ich wissen, wo dein Partner ist. Du bist nicht allein gekommen.« »Nein, das bin ich nicht. Aber woher weißt du das?« Und als Mort daraufhin die Schultern zuckte, sagte Mulligan: »Ich habe nicht den Befehl gegeben, deine Brüder zu töten, weder Shugar noch Barky. Tampo hat eigenmächtig gehandelt. Ich hatte nur befohlen, ihre Habe zu durchsuchen. Tampo hat gesagt, bei Barky sei es Notwehr gewesen. Ich habe nur einen Menschen in meinem Leben getötet, einen einzigen, und ihn habe ich gehaßt: Patrick O’Keefe. Er ist derjenige, der mir vor
einem Jahr von dem erzählt hat, was dein Vater überall berichtete. Und O’Keefe war einmal mein Partner gewesen ... bevor er nach Evelshorn gekommen ist. Er hat mich betrogen. Ich kenne auch deine Schwester, Mort Roos. Ich kenne sie seit einem Jahr. Wir verstanden uns sehr gut. Ich glaube, ich war der erste Mann in ihrem Leben, der ihr etwas bedeutet hat. Dann kam O’Keefe. Er belog sie, machte mich bei ihr schlecht, erzählte dann sogar, ich sei im Gefängnis. Und er wollte mich mit einer Lüge auch wirklich ins Gefängnis bringen. O’Keefe ist tot, Mort Roos. Ich habe ihn hingerichtet.« Er ist wahnsinnig, dachte Mort. In seinen Augen leuchtet der nackte Wahnsinn. Hingerichtet. Mein Gott, wie sich das anhört. »Hingerichtet?« Mulligan lächelte eisig. »Ja, ich habe ihn enthauptet. In seinem Haus. Gestern nacht. Seitdem ist auch der Hilfsmarshal Durfee mit einem Aufgebot unterwegs. Er will mich, will auch deine Schwester, von der er glaubt, sie wäre von mir entführt worden. Aber sie ist freiwillig bei mir. Sieh dich um, Mort Roos, dann siehst du sie!« Mort wandte sich um, und da sah er sie: Claire! Sie stand mitten auf dem Weg, gekleidet wie ein Mann in kariertem Hemd, Weste, Hosen, Stiefeln. Sie sah müde und übernächtigt aus. Blaß, dunkle Ringe unter den Augen, mager, krank. Sie kam ihm wie jemand vor, der unter Fieber litt, denn ihre Augen waren gerötet, die Wangen hatten bei aller Blässe des Gesichts so seltsame rote Flecken. Mulligan war dichter hinter Mort getreten und sagte mit dunkler Stimme: »Sie ist krank, Mort, sie ist von O’Keefe angesteckt worden. Er war auch krank, aber er hätte diese Krankheit noch überwunden. Deshalb ist er ja in den Westen gegangen, wegen der guten Luft. Tuberkulose, Mort, nennt man diese Krankheit, Schwindsucht nennen sie die Leute. Man
stirbt daran. Noch muß man daran sterben, wenn man keinen guten Arzt und eine kräftige Konstitution hat. Deine Schwester ist zart, Mort. Ich muß sie zu einem guten, einem sehr guten Arzt schaffen. Vielleicht zu einem in Europa. In der Schweiz gibt es Sanatorien, extra für Tuberkulosekranke. Hast du Claire noch nie husten gehört? Hast du nie gesehen, daß sie Blut spuckt? Du kannst ihr helfen, Mort Roos, ihr, deiner Schwester. Du mußt nur sagen, wo die Kiste mit dem Goldgeld ist.« »Claire, ist es wahr, was er sagt?« fragte Mort. »Komm hierher, Claire, ich will nicht dreißig Schritt von dir entfernt stehen.« Sie kam langsam, fast schleppend auf ihn zu, alles an ihr wirkte müde, erschöpft und schlaff. Sie ist wirklich krank, dachte Mort. Aber ich kann nicht glauben, was dieser Mulligan behauptet. Claire hat nie davon gesprochen, und ich habe sie nie husten hören. Sie hat Fieber! Klar, das sieht man ihr sogar an. Aber Tuberkulose? »Glaubst du mir nicht?« fragte Mulligan. Es klang höhnisch, gefährlich, fast wie eine Drohung. Und dann rief Mulligan über Mort hinweg: »Er zweifelt an meinen Worten, Claire. Ich weiß nicht, ob wir soviel Geduld mit ihm haben können. Ich weiß nur, daß du Hilfe brauchen wirst, rasche Hilfe. Dieser Lump O’Keefe hat dich angesteckt. Erst hat er dich angesteckt, und dann hat er dich in seinem Haus eingeschlossen. Claire, sag deinem Bruder, daß du seine Hilfe nötig hast.« »Ich habe deine Hilfe sehr nötig«, sagte sie mechanisch, als sei es einstudiert. O nein, du bist anderswie krank, dachte Mort, du hast nie im Leben das, was dir Mulligan unterjubelt. Es muß etwas ganz anderes sein. »Claire, sei ohne Angst. Was hast du wirklich?« fragte Mort eindringlich.
»Ich brauche deine Hilfe, Mort. Ich muß das Geld haben.« »Claire, der Verkauf des Stores, der Frachtgesellschaft und des Stadthauses würde dich zu einer schwerreichen Frau machen. Damit könntest du zeitlebens in Europa bleiben.« »Du irrst dich, Mort«, sagte Mulligan von hinten. »Sie hat all das O’Keefe geschenkt. Er hat es ihr abgeluchst. Es seinen Erben wieder abzunehmen, ist ein fast unlösbares Problem und kann Jahre dauern. Nein, sie muß das Geld haben. Jetzt. Und du wirst es uns besorgen. Rasch, denn bald ist Durfee hier mit seinem Aufgebot. Meine Getreuen sind alle tot. Der Mächtige ist allein ...« »Wer?« fragte Mort verblüfft. Das hatte doch schon dieser Tampo gesagt. »Der Mächtige. Und das bin ich. Los, zeig uns das Versteck!« »Bitte, zeig es ihm«, bat auch Claire. Sie ist nicht mehr Herr ihrer Sinne, dachte Mort. Irgendwie ist sie im Wesen verändert. Vielleicht hat er sie mit einem Gift behandelt, mit irgendwelchem Zeug, wie sie es auch schon an ihre Pfeile geschmiert haben. Stockert hat es das Leben gekostet, weil er zufällig leberkrank gewesen ist. So ein Wahnsinn, dieses Morden. Und dort steht Claire vor mir, meine Schwester Claire, sieht aus wie eine Schwerkranke. Dabei ist dieser Mulligan ganz sicher verrückt. Der Mächtige! Daß ich nicht lache. Ich weiß nur von einem Mächtigen, und der ist nicht auf dieser Erde. Mann, wie lege ich diesen Kameraden nur aufs Kreuz? Fox wartet. Ich müßte längst wieder bei ihm sein. Fox wird etwas unternehmen. Aber mit seinem Fuß ist das für ihn mehr ein Risiko als eine Chance. Gut, überlegte er weiter. Ich werde ihm das Geld zeigen, wenn es überhaupt an dieser Stelle ist. Ich werde ihn zu der Stelle führen. Und ich werde dazu an der Grotte vorbeigehen. Einfach, als wäre Fox gar nicht da drinnen. Er hat nicht nach
Fox gefragt. Vielleicht hält er ihn für tot. »Ja, ich zeige es dir.« Mort nickte Claire zu, zwinkerte ihr sogar zu, um ihr ein Zeichen zu geben, daß er nur nach einer Gelegenheit suchen würde. Aber sie reagierte nicht, und er zweifelte, ob sie überhaupt begriffen haben konnte. *** Mort war waffenlos. Mulligan hatte ihm den Colt abgenommen. Aber er wollte, daß Mort den Wassersack weiterschleppen sollte. Die Marlin im Anschlag, ging Mulligan hinter Mort her. Und vor Mort ging Claire. Sie taumelte manchmal, stolperte ständig, einmal fiel sie sogar. Schließlich sagte Mulligan: »Setz dich da in den Schatten. Ich hole dich. Mort, laß ihr das Wasser hier. Sie hat viel Durst. Alle, die ihre Krankheit haben, haben Durst. Sie hat etwas Fieber ...« Mort trat neben Claire. »Du hast keinen Husten, nicht wahr? Ich habe dich noch nie in der letzten Zeit husten hören. Claire, was hast du? Hat er dir etwas zu trinken gegeben? Hat er ...« »Marschiere weiter, oder ich jage dir eine Kugel in den Pelz, Mort Roos!« brüllte Mulligan. Mort hielt noch den Wassersack in den Händen. Er hob ihn bis zur Brust an, drehte sich dann halb um, als wollte er Mulligans Befehl Folge leisten. Doch dann duckte er sich blitzschnell, stieß den mehr als fünfzig Pfund schweren Sack Mulligan entgegen, sah, wie der Sack Mulligan unterm Kinn traf, zurückstieß, sah, wie Mulligan das Gleichgewicht verlor, und schon schnellte Mort vor. Er stieß sich ab, als wollte er zwanzig Meter weit fliegen. Er prallte gegen Mulligan, schlug ihm das Gewehr aus den Händen, riß das Knie hoch, und er spürte, wie es Mulligan zwischen die Beine traf.
Mulligan schrie auf, gequält und schmerzvoll. Und Mort stieß mit der Faust nach. Das war zuviel, wäre für den stärksten Mann zuviel gewesen, an der empfindlichsten Stelle zweimal so hart getroffen zu werden. Mulligan bekam kaum Luft, röchelte, als er zu Boden stürzte, wälzte sich in panischem Schmerz, und Mort hätte ein Kind mit dem Wegnehmen von Mulligans Waffen beauftragen können. Da sah er Fox auf einen Knüppel gestützt angehumpelt kommen. »Mort, alles klar? Alles richtig?« »Alles richtig, Bruder. Du kommst im rechten Augenblick ...« Allmählich ließen wohl die Schmerzen bei Mulligan nach. Er lag stöhnend auf dem Rücken wie ein geprellter Frosch. Mort stand vor ihm. Das Gewehr in Anschlag. Neben ihm hockte Fox am Boden, und keiner der beiden achtete auf Claire. Sie stand dann plötzlich seitlich von Mulligan. Und sie hatte eine Pistole. Eine dieser doppelläufigen DerringerSpielerwaffen. Sie hielt sie auf Mulligan gerichtet, sah den Mann am Boden an und fragte mit schriller Stimme: »Warum sagst du mir nicht, womit du mich vergiften willst? Warum sagst du es mir nicht?« Mulligan hatte die Augen geschlossen, jetzt blinzelte er gegen die Helligkeit der Sonne, wandte den Kopf, blickte auf Claire und keuchte: »O Hölle, ich schaffe es doch nicht mehr. Die beiden nicht, aber dich. Dich habe ich geschafft. So wie ich Barky, wie ich Shugar geschafft habe. Für den alten Kerl bin ich zu spät gekommen. O Hölle! Er hat den Tee nicht getrunken, den ihm Tampo hingestellt hat. Er ist vom Pferd gestürzt, dieser alte Narr. Aber du, Claire, hast ihn getrunken. Es ist ein indisches Gift. Du wirst daran krepieren, du verdammte Hexe. Du wirst langsam und lange sterben. Nein, es
gibt keine Rettung. Ich weiß das Rezept von meinem Vater. Und den hat Archie Roos erschlagen. Denn dafür hat es doch einen Zeugen gegeben. Einen Schiffsjungen, den man gerettet hat. Nicht nur Archie Roos kam durch, auch der Junge. Und ich habe meiner Mutter und mir selbst geschworen, daß ich den und alle seine Angehörigen auslösche, der meinen Vater getötet hat. Auch meiner Schwester Grace habe ich es versprochen. Sie hat um dein Leben gebeten, Mort. Deshalb gibt es dich noch. Fox wollte ich selbst so töten wie seine Schwester. Sie wird sterben ... sie stirbt, wenn sie rote Flecke auf dem Bauch hat. O Hölle, manchmal kommen welche durch. Aber wenn sich rote Flecken auf dem Bauch bilden, wenn das geschieht, ist jede Rettung unmöglich. Sie wird abmagern, sie wird zuletzt ein Skelett sein, und sie wird nichts mehr essen können, die Speiseröhre wird sich ihr zuschnüren. Und dann, ganz zuletzt, wird sie ersticken ... O Hölle, das wird sie! Mit O’Keefe hat sie mich sitzenlassen. Dafür allein soll sie der Satan holen ...« In diesem Augenblick drückte Claire ab. Mulligans Kopf bekam einen Schlag, wurde zur Seite gestoßen, durch den ganzen Körper ging ein Zucken, dann wurde der Leib schlaff. Von Mulligans Schläfe rann ein Blutfaden. Auf die kurze Distanz war die Wirkung des Derringers fürchterlich. *** Mort grub. Das Zeichen am Felsen, ein kaum sichtbares Kreuz, das vor vielen Jahren eingekerbt worden war, wies zur richtigen Stelle. Der kurze Spaten, den Mort schon die ganze Zeit mitgeschleppt hatte, klirrte auf hartem Schotter. Und noch immer schien das Loch nicht tief genug zu sein. Fox hockte im Schatten, wo auch Claire lag. Nachdem ihre
Scheu und ihr Schamgefühl durch gutes Zureden überwunden worden war, hatte sie wenigstens ihren Bauch entkleidet. Und Fox sah ihn sich an. Er war rot wie Feuer. »Ist etwas zu sehen?« fragte sie. »Alles ganz normal«, log Fox. »Mein linker Fuß tut so weh. Furchtbar weh, Fox. Siehst du mal nach?« Er sah sich auch ihren linken Fuß an, und erschrak. Der Fuß war fast schwarz. »Bleib ruhig liegen, Claire, du hast ihn dir wahrscheinlich verstaucht«, sagte er. »Ich friere, Fox«, klagte sie. »Mir ist so elend mit einem Male ...« »Warte, ich werde Mort bitten, daß er dich in die Sonne legt. Mort, komm doch! Mort ...« Da klirrte Morts Spaten gerade auf Eisen. »Eh, Fox, ich habe sie! Ich bin drauf!« Fox stand auf, stützte sich auf seinen Gabelstock und humpelte zu Mort. Der kratzte gerade den Deckel von Schotter frei. Eine Kiste so lang wie ein Arm und so breit wie sechs Hände. »Verdammt, ist die schwer. Ich muß sie rundherum auch noch freilegen.« »Warte, Mort, ich helfe dir. Ich knie mich hin.« Fox tat, was er angekündigt hatte, und zu zweit bekamen sie die Kiste hoch. Oben brauchte Mort nur einen Riegel aufzuschlagen, dann konnte er den knarrenden Deckel öffnen. Gespannt schaute Fox hinein. Obenauf lag ein Ledertuch, weiß von Schimmel. Mort fegte er zur Seite. Und darunter lagen Steine. Eine ganze Lage. Fox und Mort räumten sie hastig hinaus. Aber darunter waren wieder Steine und wieder Steine. »Der Alte, der hat uns reingelegt!« keuchte Fox wütend.
Und schließlich, ganz unten, lagen drei Goldstücke und ein Stück Papier. Auf dem stand: ›Jedem von euch ein Goldstück. Und wenn ihr weiter so arbeitet, wie ihr gearbeitet habt, um an den Schatz zu kommen, werdet ihr reich. Ihr drei Dummköpfe! Euer Vater!‹« »Dieser verdammte Alte. Der hat uns alle reingelegt. Barky hat es das Leben gekostet, Shugar wurde deshalb ermordet, Stockert ... o dieser verdammte Alte!« stöhnte Fox. Mort war weggegangen, stand neben Claire. Jetzt beugte er sich über sie. »Fox, komm her! Fox, sie atmet nicht mehr ...« Fox nickte vor sich hin, als hätte er nichts anderes erwartet. »Dieses Reich der roten Masken hätte es nie gegeben, und dieser schwachsinnige Mulligan mit seinem Knall hätte nie eine rote Maske herzubringen brauchen, hätte nie einen dafür suchen müssen, der sie aufsetzt, um zu morden und hier Kobold zu spielen, wenn dieser verdammte Alte seinen Unsinn nicht geschwafelt hätte. Mort, du hast einmal gesagt, er kann gar kein Geld mehr zum Verstecken gehabt haben bei all dem, was er gekauft hat, nicht wahr?« »Ja, Fox, das habe ich gesagt. Ich habe dieses Geld auch in Wahrheit nie gewollt und gesucht. Nicht, um es zu besitzen. Ich wollte nur Barky und Shugar rächen, auch Stockert. Aber das hat mir Claire abgenommen. Ich will ...« Plötzlich war oben auf der Höhe Gebrüll zu hören, und eine Kette von Männern tauchte dort oben auf dem Felsen auf. Fox sah hinauf und sagte: »Harry Durfee mit dem Aufgebot. Hoffentlich fragt der nicht zuviel ...« Mort blickte auf seine tote Schwester, die im Tode friedlich zu lächeln schien. Nein, dachte er, wenigstens war es kein qualvoller Tod gewesen, den ihr dieser Irre gewünscht hatte. Wenigstens das nicht. Aber in einem einzigen Punkt, dachte Mort, hat der Alte recht. Wenn wir uns mit anderen Sachen so anstrengen würden
wie bei der Schatzsuche, würden wir auch ohne Schatz gut leben können ... ENDE