Atlan - Der Held von
Arkon
Nr. 214
Im Reich der
Sonnenpflanze
Die Fremden aus dem All sollen sterben - die Große E...
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Atlan - Der Held von
Arkon
Nr. 214
Im Reich der
Sonnenpflanze
Die Fremden aus dem All sollen sterben - die Große Einheit verlangt ein Opfer von Marianne Sydow In einer Zeit, die auf Terra dem 9. Jahrtausend v. Chr. entspricht, steht es mit dem Großen Imperium der Arkoniden nicht zum Besten, denn es muß sich sowohl äuße rer als auch innerer Feinde erwehren. Die äußeren Feinde sind die Maahks, deren Raumflotten den Streitkräften des Im periums durch überraschende Schläge schwere Verluste zufügen. Die inneren Fein de Arkons sind Habgier und Korruption der Herrschenden, die – allen voran Impera tor Orbanaschol III. – nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht sind und das Gemein wohl völlig außer acht lassen. Gegen diese inneren Feinde des Imperiums ist der jun ge Atlan, der rechtmäßige Thronerbe und Kristallprinz von Arkon, der eine stetig wachsende Schar von verschworenen Helfern um sich sammeln konnte, bereits mehrmals erfolgreich vorgegangen. Gegenwärtig ist Atlan jedoch nicht in der Lage, den Untergrundkampf gegen den Usurpator und Brudermörder Orbanaschol persönlich weiterzuführen, denn durch die Einwirkung einer Geheimwaffe der Maahks gelangte er erneut in den Mikrokosmos, wo er inzwischen von Ischtar, der Goldenen Göttin, und seinen alten Kampfgefährten Fartuloon, Corpkor und Eiskralle gesucht wird. Zusammen mit Crysalgira, der arkonidischen Prinzessin, und Chapat, seinem neu geborenen Sohn, ist der Kristallprinz in die Nähe der Eisigen Sphäre gelangt. Er lan det auf einer Sauerstoffwelt, um nach Möglichkeiten zu suchen, unbemerkt Yarden, die »Drehscheibe« zwischen Mikro und Makrokosmos, zu betreten. Atlan weiß es noch nicht – aber ihr aller Leben ist in höchster Gefahr, denn sie be finden sich IM REICH DER SONNENPFLANZE …
Im Reich der Sonnenpflanze
3
Die Hautpersonen des Romans:
Atlan - Der Kristallprinz auf dem Weg nach Yarden.
Chapat - Atlans neugeborener Sohn.
Crysalgira - Die Prinzessin soll der »Großen Einheit« geopfert werden.
Otzo - Ein Paria unter den Kemarern.
Verro - Häuptling der »Unwissenden«.
1. Die Situation war absurd. Oft genug fühl te ich mich versucht, mich kräftig zu knei fen, in der Hoffnung, der Traum möge dann in sich zusammenbrechen und mich in die Wirklichkeit entlassen. Vor mir, auf einem weichen Lager, zap pelte eine winzige, bronzehäutige Gestalt mit rotgoldenen Augen. Winzig? Ein wildes Lachen stieg mir in die Kehle. Reiß dich zusammen! befahl mein Extra hirn. »Schon gut«, murmelte ich ernüchtert. Chapat war tatsächlich winzig. Im Ver hältnis zu dem Neugeborenen durfte ich mich als Riese fühlen. Daran änderte sich auch durch die Tatsache nichts, daß wir uns noch immer im Mikrokosmos aufhielten und sowohl Crysalgira als auch ich für die Be wohner unseres Heimatuniversums selbst durch das stärkste Mikroskop nicht sichtbar gemacht werden konnten. »Wir müssen nach Yarden«, sagte ich zu meinem Sohn, und das war der zweite un wirkliche Aspekt. Denn mit einem Baby lo gische Diskussionen zu führen, noch dazu auf telepathischer Ebene, war durchaus nicht allgemein üblich. »Es ist zu gefährlich«, vernahm ich die wispernde Stimme in meinen Gedanken. »Man wird euch gefangennehmen. Du kennst den Plan der Tropoythers!« O ja, den kannte ich nur zu genau! Ich sah Crysalgira an, die damit beschäftigt war, aus einigen Stoffresten eine Art Strampelsack für Chapat anzufertigen. Sie war eine arko nidische Prinzessin, hochintelligent, hervor ragend geschult und – wie ich aus eigener
Erfahrung wußte – nicht so leicht aus der Fassung zu bringen. Eine großartige Gefähr tin für diese abenteuerliche Irrfahrt durch den Mikrokosmos. Als Schneiderin aller dings eignete sie sich weniger gut. Sie sah auf, und unsere Blicke begegneten sich. Sie lächelte schwach und konzentrierte sich dann wieder auf die Arbeit. Ein ärgerlicher Laut bewies mir, daß sie sich einmal mehr in den Finger gestochen hatte. »Es wird uns schon etwas einfallen«, murmelte ich und meinte damit Chapat. »So leicht mache ich es den Varganen nicht!« »Gute Vorsätze nützen nichts, solange es keine Mittel gibt, sie in die Tat umzuset zen.« Ich verzog unwillkürlich das Gesicht. Ausgerechnet mein Sohn, ein hilfloser Säug ling, mußte belehrende Sprüche von sich ge ben! Er hat sogar recht, behauptete der Logik sektor herzlos. »Aber es bleibt uns kein anderer Weg!« fuhr ich auf, und damit meinte ich sowohl Chapat als auch das aktivierte Extrahirn. »Nur in der Eisigen Sphäre können wir uns die Mittel verschaffen, um endlich in den Makrokosmos zurückzukehren.« Crysalgira kümmerte sich nicht darum, daß ich scheinbar Selbstgespräche hielt. Sie vermochte weder die Stimme meines Logik sektors zu hören, noch bestand eine telepa thische Verbindung zwischen ihr und Cha pat. Aber sie hatte sich mittlerweile daran gewöhnt, Unterhaltungen dieser Art gelas sen zu verfolgen. »Das mag stimmen«, meinte Chapat. »Aber deshalb brauchst du nicht mit dem Kopf gegen die Wand zu rennen. Wir müs sen unseren Plan genau überdenken. Wenn wir einfach darauflosfliegen, geraten wir mit Sicherheit in eine Falle.«
4 »Mit Überlegungen allein kommen wir auch nicht weiter«, erwiderte ich ärgerlich. »Wir müssen eben schnell genug auf alles reagieren, was uns in Yarden begegnet. Du kennst den Kurs, den wir einschlagen müs sen. Gib mir endlich die Daten!« »Nein«, entgegnete Chapat erstaunlich energisch. Er wandte den Kopf zur Seite und sah mich an. Der Ausdruck in seinen Augen paßte überhaupt nicht zu einem Baby. »Warum nicht?« wollte ich wissen. »Weil es zu gefährlich für euch ist.« »Du wiederholst dich!« »Ich weiß«, gab Chapat gelassen zu. »Du wirst die Daten von mir erst dann bekom men, wenn wenigstens eine winzige Chance dafür besteht, daß das Unternehmen gelingt. Ich verlange nicht viel. Du sollst dir ledig lich noch etwas Zeit lassen und alle Mög lichkeiten ausschöpfen, die dir zur Verfü gung stehen. Es gibt Räume an Bord, die du noch nicht einmal betreten hast. Wir brau chen Waffen, eine gute Ausrüstung und vie les andere. Vielleicht hat Karschkar sogar wichtige Unterlagen über die Eisige Sphäre hinterlassen.« »Wir können während des Fluges danach suchen«, entgegnete ich ungeduldig. »Nein!« sagte Chapat schon wieder. »Je näher wir Yarden kommen, desto größer wird die Gefahr, varganischen Raumschiffen zu begegnen.« »Die Tropoythers werden sich hüten, den Schutz der Eisigen Sphäre zu verlassen. Die Tejonther mit ihrer Kreuzzugsflotte sind im Anmarsch.« »Die Flugroute ist genau festgelegt«, er klärte Chapat geduldig. »Und was die Var ganen als ganzes Volk betrifft, hast du recht. Sie wagen sich selten hinaus. Aber es gibt auch bei ihnen Ausnahmen. Du brauchst nur an Magantilliken zu denken. In der Eisigen Sphäre weiß man längst, daß ihr geflohen seid, und man wird euch suchen. Ohne euch ist das stolze Volk der Varganen zum Aus sterben verurteilt.« Wieder hatte ich Mühe, den Lachreiz zu unterdrücken. Das hatte nichts damit zu tun,
Marianne Sydow daß Crysalgira und ich den Varganen als Brutmaschinen für ihren Nachwuchs dienen sollten, sondern galt der Tatsache, daß Cha pat über die Zusammenhänge genauestens informiert war. Ich stellte mir. vor, wie Ar konidinnen edelster Abstammung darauf reagieren würden, wenn ein Neugeborenes … Chapat kannte meine Gedankengänge, ging jedoch stillschweigend darüber hinweg. »Wir sollten landen«, teilte er mir mit. »Im freien Raum kann das Schiff zu leicht geortet werden. Auf einem Planeten sind wir einigermaßen sicher und können in aller Ru he die nötigen Vorbereitungen treffen.« Eine Vorahnung warnte mich. Bisher hat te ich'im Mikrokosmos noch keinen Plane ten gefunden, auf dem nicht unvorhergese hene und gefährliche Dinge auftauchten, die jeden Plan durcheinanderbrachten. Aber Chapats Entscheidung war gefallen, und auch wenn er körperlich klein und hilflos war, so verfügte er doch über einen sehr starken Willen. Das hatte ich schon auf So gantvort festgestellt, als ich meinen Sohn vor dem Henker der Varganen zu retten ver suchte. Ohne ihn, der damals noch ein win ziger Embryo war, hätte ich die uralte Stati on der Versunkenen Welt wahrscheinlich niemals erreicht. Nur seine drängenden Ge dankenimpulse hatten mich gezwungen, die ser Hölle aus Sturm und Sand zu trotzen und nicht aufzugeben. »Also gut«, seufzte ich. »Wir werden uns einen passenden Planeten suchen.« Crysalgira sah mich erstaunt an. »Nur eine Zwischenlandung«, erklärte ich und teilte ihr dann den Inhalt des Gesprächs mit. Sie nickte gleichmütig, warf einen Blick auf die Uhr und stand auf. Sie beugte sich über Chapat, hob ihn hoch und trug ihn zu einem speziell für diese Zwecke hergerichte ten Tisch. Chapat brüllte protestierend. Er mochte die nun folgende Prozedur über haupt nicht. Crysalgira kümmerte sich nicht um sein Geschrei, sondern wickelte ihn mit erstaunlich geschickten Bewegungen aus den zurechtgeschnittenen Tüchern, die bis
Im Reich der Sonnenpflanze zu unserem Start der Varganin Karschkar als Bettwäsche gedient hatten. Als der eindeutige Geruch vollgemachter Windeln sich ausbreitete, grinste ich unwill kürlich. Chapat mochte ein noch so ungewöhnli ches Baby sein – in dieser Hinsicht unter schied er sich in nichts von den Sprößlingen anderer Humanoiden.
* Das Sonnensystem hatte mehrere Plane ten. Die Ortungsgeräte des Doppelpyrami denschiffs entdeckten in Sekundenschnelle denjenigen unter ihnen, der noch am ehesten für uns geeignet war. Es gab eine dichte At mosphäre mit genügend hohem Sauerstoff gehalt, ohne giftige Beimischungen, dafür aber von Feuchtigkeit gesättigt. Von dem eigentlichen Planeten war auf den Normal schirmen kaum etwas zu sehen. Seine Ober fläche verschwand unter einer dichten Wol kendecke, in der es starke Turbulenzen gab. Erst einige Filter zeigten uns, daß es da un ten ausgedehnte Landflächen gab. Die Kon tinente waren riesig und wurden nur durch seichte Meeresarme voneinander getrennt. Sie ähnelten aus dieser Höhe gewaltigen Eisschollen, die von zahlreichen Rissen durchzogen wurden. Ich wählte ein Hochplateau als Lande platz aus. Es wurde von allen Seiten durch tiefe Schluchten begrenzt. Einer dieser Ab gründe verbreiterte sich nach Süden hin zu einem großen, von steilen Felswänden um schlossenen Tal. »Das wäre ein besserer Ort für die Lan dung«, machte Crysalgira mich auf diesen Talkessel aufmerksam. »Oben auf dem Pla teau dürfte der Sturm gefährliche Ausnahme annehmen.« »Dem Schiff kann selbst der stärkste Or kan nichts anhaben«, wehrte ich ab. Sie nickte und wandte sich wieder den In strumenten zu, die uns verraten sollten, ^vas uns auf diesem Sturmplaneten erwartete. Wir planten zwar keinen langen Aufenthalt,
5 aber es konnte nie schaden, ein paar Dinge mehr zu wissen, als auf den ersten Blick not wendig war. Ich ließ das Schiff langsam sin ken und konzentrierte mich voll auf meine Aufgabe als Pilot. Chapat, der jetzt schlief, hatte mir zuvor alles mitgeteilt, was er über diesen Schiffstyp wußte. Ich wußte jedoch zu genau, daß mir noch eine Menge Übung fehlte, um die Doppelpyramide völlig zu be herrschen. Eine Landung in dem engen, tie fen Tal traute ich mir noch nicht zu. Das Schiff setzte in der Nähe des Ab bruchs auf. Ein einziger Blick auf die Bild schirme machte mir bereits deutlich, daß mit diesem Planeten nicht zu spaßen war. Die Oberfläche des Plateaus war keineswegs so glatt, wie ich angenommen hatte. Der Sturm hatte gemeinsam mit dem offensichtlich sehr häufig fallenden Regen die weicheren Ge steinsadern ausgewaschen. Abenteuerlich spitze Zacken und Grate aus härterem Fels waren übriggeblieben. Diese Erhebungen hoben sich in allen Schattierungen zwischen Purpur und Violett von den gelblichgrauen Wolken ab, die den Blick in das Tal ver deckten. Dunkle Schatten jagten vorüber. »Hier ist das Ergebnis der Analyse«, sagte Crysalgira neben mir. »Die Luft ist ein wandfrei, gefährliche Kleinlebewesen wur den nicht gefunden. Es gibt auf diesem Kon tinent keine größeren Metallvorkommen. In den Tälern reiches Pflanzenleben, aber allem Anschein nach keine Intelligenzen.« »Und diese dunklen Dinger?« fragte ich und deutete auf den Bildschirm. »Pollen«, erklärte die Arkonidin. »Zusammenballungen sehr großer Samen zellen. Sie dürften von den Pflanzen in den Tälern stammen.« Ich sah, wie eines der schattenhaft er kennbaren Objekte gegen eine Felszacke prallte, und stellte die Vergrößerung nach. Schweigend betrachteten wir das Bild. Das unregelmäßige Gebilde zerbrach unter der Wucht des Anpralls. Eine große Zahl oran gefarbener Kugeln mit roten Punkten, dicht besetzt mit grellblauen Zacken, kollerte zu Boden. Sie mußten relativ leicht sein, denn
6 der Wind trug sie schnell wieder davon. »Ungefähr einen halben Meter groß«, murmelte Crysalgira neben mir. »Hast du die Widerhaken gesehen?« »Wir werden diesen Gebilden aus dem Wege gehen«, nickte ich. »Falls wir über haupt nach draußen gehen.« Sie zuckte die Achseln und wandte sich ab. »Sind wir bereits gelandet?« fragte eine wispernde Stimme in meinem Gehirn. »Chapat ist aufgewacht«, informierte ich Crysalgira. »Sie soll mich in Ruhe lassen!« schimpfte der Kleine telepathisch. »Ich habe keinen Hunger, und meine Windeln sind auch noch trocken!« Ich grinste und gab Crysalgira einen Wink. Sie blieb vor dem Lager stehen und blickte Chapat etwas hilflos an. »Was macht man nur mit so einem Kind?« fragte sie mich. »Ein Baby hat den Mund zu halten, es sei denn, es brüllt.« »Er sagt ja auch keinen Ton«, gab ich trocken zurück. »Mach dir keine Sorgen, er hat mir lange vor seiner Geburt erklärt, er würde die Gabe der Telepathie schnell ver lieren. Dann wird er sich ganz normal ver halten.« »Normal?« erkundigte Chapat sich em pört. »Geburt?« ächzte Crysalgira genau im selben Augenblick. Ich lachte Tränen. Selbst das Extrahirn konnte mir mit seinen Kommentaren in die ser Situation nicht den Spaß verderben. »Kommen wir zur Sache«, murmelte ich schließlich. »Was weißt du also über die Ei sige Sphäre?« »Es ist sehr wenig«, gab Chapat bedrückt zu. »Ich konnte mich schließlich nicht gründlich umsehen. Ich befand mich in ei nem sehr großen und hellen Raum. Das heißt, ich weiß nicht einmal, ob es sich um einen Raum im üblichen Sinn handelte, denn ich konnte seine obere Begrenzung nicht se hen. Es gab dort nur Licht, sehr viel Licht. Und dann nahm ich die Stimmen und Ge-
Marianne Sydow danken vieler Varganen auf, aber sie be schäftigten sich niemals direkt mit der Um gebung dieses Raumes. Vielleicht gab es so etwas gar nicht. Außerdem fiel es mir immer schwerer, ihre Gedanken überhaupt zu emp fangen. Es war, als entfernten sie sich jeden Tag weiter von mir. Dann kam eines Tages Karschkar, nahm mich samt dem Behälter mit und brachte mich weg.« »Sie hat die Grenze nach Yarden überflo gen«, sagte ich nachdenklich. »Gab es dabei einen Aufenthalt? Eine Kontrolle?« »Ich weiß es nicht. Wenn, dann habe ich nichts davon bemerkt. Sie sorgte dafür, daß ich fest schlief. Ein telepathischer Hilferuf hätte die ganze Eisige Sphäre in Aufruhr versetzt.« »Woher kommt eigentlich diese merkwür dige Bezeichnung?« fragte ich weiter. »Eisige Sphäre – das klingt, als wäre es sehr kalt dort.« »Auch darauf kann ich dir leider nicht antworten«, wisperte die Gedankenstimme bedauernd. »In meinem Überlebensbehälter blieb die Temperatur stets konstant. Wie es außerhalb der Glaswände war, kann ich nicht beurteilen.« Ich verkniff mir eine bissige Bemerkung. Es hatte keinen Sinn, Chapat Vorwürfe zu machen. Mein Sohn gab sich redliche Mühe, mir zu helfen. Ich stellte viele Fragen, denn jede winzige Einzelheit konnte von Bedeu tung sein. Mein Extrahirn verarbeitete die Daten, und wenn es auch jetzt keine konkre ten Rückschlüsse daraus zu ziehen vermoch te, so würde es mir doch später, wenn wir den entsprechenden Situationen gegenüber standen, wertvolle Ratschläge geben kön nen. Die Zeit verging schnell. Chapat ver kündete nach einiger Zeit, daß er Hunger hatte. Crysalgira schlief, und so versorgte ich selbst das Baby. Kaum war der Junge satt, da schlief er ebenfalls ein. Die lange Unterhaltung hatte an seinen Kräften ge zehrt, und er brauchte dringend eine Ruhe pause. Auch ich begab mich zu meinem La ger. Wir hatten viel Platz an Bord, dennoch
Im Reich der Sonnenpflanze waren wir in der Zentrale geblieben. Erstens war es praktisch, denn auf diese Weise wa ren wir im Alarmfall sofort an Ort und Stel le. Zweitens war uns diese Doppelpyramide ein bißchen unheimlich. Ich hatte manchmal das unbestimmte Gefühl, beobachtet zu wer den. Es war niemand außer uns an Bord, trotzdem fühlten wir uns unsicher. Wenn es in den Wänden knackte und knisterte, Schal ter sich unter dem Einfluß der Automatik bewegten oder zusätzliche Belüftungsanla gen mit vernehmbarem Summen zu arbeiten begannen, konnte es passieren, daß einer von uns plötzlich zusammenzuckte. Irgendwann wurde ich für einen Augen blick wach. Ich schlug träge die Augen auf, sah Crysalgira, die sich über Chapat beugte, und fing die ärgerlichen Impulse des Jungen auf. Es war alles in Ordnung. Auf den Bild schirmen trieben die Wolken über die zerris sene Felsfläche, und die Lautsprecher der Außenmikrophone übertrugen das Prasseln der Regentropfen, die gegen die Außenhülle schlugen. Ich schlief wieder ein. Als Cha pats wildes Gebrüll mich aus meinen Träu men riß, hatte ich keine Ahnung, wieviel Zeit inzwischen vergangen war. Hastig sprang ich auf. Ich sah mich nach Crysalgira um, entdeckte sie jedoch nir gends. Nur Chapat war da. Er zappelte und schrie, sein Gesicht war dunkelrot, und als ich beruhigend auf ihn einsprach, reagierte er überhaupt nicht. Hilflos stand ich neben dem kleinen Bett. Ich hatte vorher wenig genug mit Kleinkin dern zu tun gehabt, und Chapat sah so zer brechlich aus, daß ich ihn kaum anzufassen wagte. Was tun in einer solchen Situation? Ich versuchte ihn hochzuheben, denn ich hatte beobachtet, wie man Babys einfach da durch beruhigte, daß man sie in den Armen wiegte. Aber Chapat schien keine Lust zu haben, sich mit mir abzugeben. Seine winzi gen Hände patschten abwehrend gegen mei ne Arme, seine Füße stießen mit erstaunli cher Kraft nach mir. Als ich es anders ver suchte und ihm besänftigend das Köpfchen streicheln wollte, hielt er für einen Augen
7 blick im Brüllen inne. Ich dachte schon, ich hätte es geschafft, aber da ruckte der Kopf des kleinen Kerlchens herum und gleich dar auf biß er mich mit seinen winzigen, zahnlo sen Kiefern in den Daumen. Erschrocken zog ich die Hand zurück. Es hatte natürlich nicht weh getan, dazu waren Chapats Kräfte noch zu gering. Aber die moralische Wirkung war ungeheuer. Verdat tert sah ich den Kleinen an. Das Gebrüll wurde immer wilder und nahm einen hysterischen Unterton an. Ich sprach auf Chapat ein, in der Hoffnung, er würde mich verstehen und mir einen Hin weis darauf geben, was ihm fehlte. Aber er hatte die Verbindung zu mir restlos abgebro chen. Endlich, als er sich heiser geschrien hatte, wurde er etwas ruhiger. »Was ist los, Chapat?« fragte ich – ich weiß nicht, zum wievielten Male. Er schlug übergangslos die Augen auf, die er zu schmalen Schlitzen zusammengeknif fen hatte, starrte mich verständnislos an und entspannte sich dann zusehends. Der ver krampfte Körper nahm eine normale Hal tung an, die unnatürliche Röte in seinem Ge sicht verschwand. »Ischtar hat nach mir gerufen!« wisperten seine Gedanken matt. Ich fuhr zusammen. Ischtar! Das bedeute te Hilfe, vielleicht die Rettung, Sie mußte auch wissen, wo Fartuloon war, und hatte ich erst einmal eine Verbindung zu dem alten Bauchaufschneider … Du bist im Mikrokosmos. Die lakonische Bemerkung des Logiksek tors brachte mich auf den Boden der Tatsa chen zurück. »Du mußt dich geirrt haben«, sagte ich zu meinem Sohn. »Ischtar kann gar nicht in der Nähe sein. Wie sollte sie in den Mikrokos mos gelangt sein?« Chapats Gesicht verzog sich in höchst verdächtiger Weise, und ich merkte, daß ich einen Fehler gemacht habe. Ich neigte im mer wieder dazu, Chapat zu überschätzen. All die logischen Bemerkungen, die er von
8 sich zu geben vermochte, konnten jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß er eben ein Baby war. Seine starke Bindung zu sei ner Mutter kannte ich. »Berichte, was du gehört hast!« sagte ich hastig. »Fang bitte nicht gleich wieder an zu brüllen!« »Ich habe sie rufen hören«, erklärte der Kleine zögernd. »Sie muß weit weg sein, aber sie befindet sich im Mikrokosmos. Sie ist in äußerster Gefahr. Wir müssen ihr helfen!« »Nun mal langsam!« begann ich, und Chapat riß den Mund auf. »Wir werden ihr helfen!« versicherte ich hastig. Der Mund klappte wieder zu. »Wo ist sie?« »Ich weiß es nicht genau. Irgendwo in der Nähe der Eisigen Sphäre. Sie ist auf einem Raumschiff. Man hat sie überwältigt. Sie soll nach Yarden gebracht werden.« Ich schwieg, aber meine Gedanken über stürzten sich. Was hatte das alles zu bedeuten? War Ischtar wirklich in den Mikrokosmos einge drungen? Möglich war es, denn sie kannte inzwischen sicher den Weg, den ich genom men hatte. Die Maahks mochten sie ge zwungen haben, sich dem Einfluß des »Zwergenmachers« zu unterwerfen. Oder sie war freiwillig zu ihnen gegangen, um mir zu helfen. Nicht nur mir, sondern auch Cha pat. Sie war darüber informiert, daß man ihn in die Eisige Sphäre gebracht hatte. Ebensogut war es denkbar, daß die Tro poythers uns einen bösen Streich spielten. Wir waren ihnen entkommen, und sie hatten gewiß auch herausgefunden, wo Chapat ge blieben war. Wenn sie einen Notruf der Gol denen Göttin imitierten, gab es eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür, daß wir in die Falle gingen. »Nein!« »Warum nicht?« »Niemand könnte mich so täuschen«, be hauptete Chapat energisch. »Ich kenne mei ne Mutter und ihre Ausstrahlungen.« »Es ist lange her, seit du zum letztenmal
Marianne Sydow mit ihr zusammen warst«, wandte ich ein. »Du warst damals noch winzig klein …« »Das spielt keine Rolle«, unterbrach er mich. »Es war Ischtar, und sie ist in Lebens gefahr. Wir müssen sofort losfliegen, sonst kommen wir zu spät.« »Gib mir die Daten«, forderte ich und ging zum Schaltpult. Ein Zettel lag darauf. Ich warf einen kurz en Blick auf die Notiz, die Crysalgira für mich geschrieben hatte, dann empfing ich Chapats Impulse und konzentrierte mich auf sie. Lange genug hatte ich darauf gewartet, die genauen Kursangaben zu erhalten. Ich wollte es nicht darauf ankommen lassen, daß der Kleine es sich anders überlegte. Erst als ich alle Informationen in den Speichern wohlverwahrt wußte, hob ich den Zettel auf. Die Nachricht war von lakonischer Kürze. Crysalgira war es an Bord zu langweilig. Sie wollte sich draußen umsehen. Eine Zahlen reihe kennzeichnete den Zeitpunkt, an dem sie das Schiff verlassen hatte. Sie war seit etwa einer Stunde draußen. Ich rief sie über Funk, aber sie gab keine Antwort. Das beunruhigte mich nicht weiter. Der Planet war zwar durchaus nicht paradie sisch, aber einen Spaziergang ohne Schutz anzug konnte man jederzeit wagen. Wir tru gen zudem immer noch die Anzüge der Te jonther. Diese Kleidungsstücke, die aus zahllosen metallenen Segmenten zusammen gesetzt waren, boten eine ganze Reihe von Vorteilen. Der einzige Minuspunkt war, daß sie nicht mit einem Funkhelm kombiniert waren. Eine kurze Inspektion unserer Ausrü stungskammer zeigte mir, daß Crysalgira auch keinen der an Bord befindlichen varga nischen Raumanzüge an sich genommen hatte. Nicht einmal eine Waffe fehlte. Das veranlaßte mich zu einem ärgerlichen Stirn runzeln, denn immerhin war der Planet fremd. Die Arkonidin war in der Kunst der waffenlosen Verteidigung geschult, aber der Sturmplanet, wie ich ihn inzwischen der Einfachheit halber nannte, mochte Überra
Im Reich der Sonnenpflanze schungen aufzuweisen haben, gegen die selbst der raffinierteste Dagorkämpfer machtlos war. Auf den Bildschirmen war von dem Mäd chen nichts zu entdecken. Dicht über den Boden dahinwirbelnde Wolken versperrten mir die Sicht. Auch das Hinzuschalten von Filtern half nichts. Die riesigen Pollenan sammlungen verwischten jedes Bild. Über die Außenlautsprecher nach ihr zu rufen, war sinnlos, denn der Sturm nahm mit rasen der Geschwindigkeit zu. Noch immer war ich weniger besorgt, als ärgerlich. Crysalgira konnte sehr gut selbst für sich sorgen, und ich rechnete nicht im Traum damit, daß ihr etwas zugestoßen wäre. Aber dann wurde ich doch unruhig. Das Wetter war entschie den zu schlecht für einen Spaziergang. Ich fuhr zur Schleuse hinunter. Als das Schott sich öffnete, wehten mir klebrige, mit gelben Körnern durchsetzte Regenschwaden entgegen. Erst jetzt bekam ich die volle Lautstärke zu spüren, in der der Wind die Felsen des Hochplateaus zum Klingen brachte. Ich trat einen Schritt vor und stemmte mich gegen den Sturm. Meine dumpfe Vorahnung wurde stärker. Nie und nimmer wäre Crysalgira freiwillig durch diese kreischende Hölle gegangen. Etwas hinderte sie daran, in den Schutz der Dop pelpyramide zurückzukehren. Ich taumelte gegen die scharfen Fels zacken und zog mich an einem schmalen Grat aus hellrotem Stein entlang, der gerade wegs auf den Steilhang zuführte. Hoffentlich hatte das Mädchen sich nicht zu weit vom Schiff entfernt! Hol dir einen Schutzanzug! Gerade wollte ich den Rat des Extrahirns befolgen, da nahm ich in den giftig gelben Wolken eine schwache Bewegung wahr. Ich dachte an die Pollen mit den Widerhaken und duckte mich hastig. Für ein oder zwei Sekunden riß die Wolkendecke auf. Ein orangefarbener Sonnenstrahl zuckte über die Felsen und verwandelte die Fläche vor mir in ein Meer aus blitzenden Juwelen. Und in diesem Lichtstrahl sah ich die Fremden.
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2. Crysalgira legte Chapat zurück auf sein Lager, beobachtete, wie der Kleine umge hend die Augen schloß und einschlief und sah sich dann seufzend um. Atlan schlief ebenfalls, und sie mochte ihn jetzt nicht wecken. Er hatte sich die Ruhe wirklich ver dient. Aber sie selbst fühlte sich frisch. Über die Lautsprecher hörte sie die Geräusche, die der Wind draußen verursachte. Der Sturm war im Augenblick ziemlich abge flaut. Sie trat vor den Bildschirm und be trachtete lange Zeit die fast unwirkliche Landschaft, die sich vor ihr ausdehnte. Sie fühlte sich unruhig. Irgend etwas mußte sie jetzt unternehmen. Ihr Blick fiel auf den halbfertigen Stram pelsack, und sie wandte sich ärgerlich ab. Nein, das war nicht das geeignete Mittel, um sich abzulenken. Sie verstand sich selbst nicht mehr. Seit sie in diesem fremden Raumschiff war, begleitete ein Gefühl der Unsicherheit sie auf Schritt und Tritt. Sie war keineswegs ängstlich veranlagt, und ge rade deshalb jagte ihre eigene Nervosität ihr Angst ein. Und plötzlich kam ihr der Gedan ke, es könne daran liegen, daß sie einfach zu lange auf einem Fleck gewesen war. Sie mußte wieder einmal eine natürliche Atmosphäre atmen, den Wind spüren … Sie schrieb eine kurze Nachricht auf einen Zettel, den sie auf einem Schaltpult depo nierte, wo Atlan ihn sofort finden mußte, falls er vor ihrer Rückkehr erwachen würde. Als die Schleuse sich öffnete, atmete sie wie befreit auf. Ein frischer Wind blies ihr ins Gesicht, etwas zu warm und zu feucht, aber erfüllt von fremdartigen, aromatischen Düften. Sie ließ sich hinabgleiten und schloß die Schleuse, nachdem sie dafür gesorgt hat te, daß sie das Schott jederzeit von außen wieder öffnen konnte. Unter den Sohlen ih rer weichen, halbhohen Stiefel spürte sie das harte Gestein. Suchend sah sie sich um, und dann entdeckte sie an einem der hervorste chenden Zacken ein seltsames Gebilde. Es
10 sah wie eine Blüte aus, groß, glitzernd, abso lut fremd. Neugierig trat sie näher. Es war keine Blüte, sondern ein beachtenswert schöner Kristall. Sie berührte das sternför mige Gebilde vorsichtig. Es fühlte sich glatt und kalt an. Als sie einen der Zacken umfaß te und behutsam daran zog, löste sich der Stern von dem steinernen Untergrund. Ver blüfft hielt sie den Kristall in der Hand und betrachtete ihn von allen Seiten. Sie hatte viele fremdartige Dinge gesehen, aber kei nes davon war mit diesem Kristall zu ver gleichen. Direkt über ihr klatschte es. Sie sah auf und erblickte einen Ballen zusammenge klebter, grellblauer Bälle. Pollen. Das Gebil de zerbrach und flog auseinander. Eine der blauen Kugeln schlug ein paar Meter ent fernt gegen eine purpurfarbene, von violet ten Adern durchzogene Mauer mit abenteu erlich gezacktem Rand. Der Wind ergriff das federleichte Gebilde, noch ehe es den Boden berührte, und trug es davon. An der Stelle, an der die Kugel eigentlich hätte auf schlagen müssen, glänzte der zweite Stern kristall. Er war etwas kleiner, funkelte aber womöglich noch farbenprächtiger. Eine Art Jagdfieber erfaßte sie. Sie ver staute die beiden Kristalle in ihrer Gürtelta sche, dann begab sie sich auf die Suche und konzentrierte sich völlig darauf. Irgendwo in ihrem Gehirn hielt sich die Erkenntnis, daß sie sich absolut nicht so ver hielt, wie das auf einem fremden Planeten üblich war, aber sie schlug die Mahnungen ihres Verstandes in den Wind. Mühsam ta stete sie sich zwischen den spitzen, steil auf ragenden Felsen hindurch. Längst war das Doppelpyramidenschiff hinter ihr ver schwunden. Die treibenden Wolken verhüll ten alles, was mehr als fünfzig Meter von ihr entfernt war. Crysalgira machte sich deswe gen keine Sorgen. Das Plateau war nicht sehr groß. Sie würde zurückfinden können. Plötzlich wichen die Felszacken vor ihr zurück. Sie blieb erstaunt stehen, als sie die kreisrunde, saubere Fläche aus orangefarbe nen Kieseln sah, die sich vor ihr ausdehnte.
Marianne Sydow Ringsherum stachen Felsnadeln aus dem Boden, die an den Spitzen teilweise mitein ander verbunden waren. Dieser Platz wirkte künstlich. Es war kaum vorstellbar, daß eine so perfekte Anla ge durch einen puren Zufall hätte entstehen sollen. Die Säulen der Begrenzung waren glattgeschliffen und glühten in einem feuri gen Rot. Zwischen einigen wölbten sich zierliche, zitronengelbe Bögen. Die Wolken schleier, die zwischen diesen seltsamen Por talen hindurchzogen und ab und zu alles mit ihrem gelblichen Grau verdeckten, gaben dem Platz etwas Gespenstisches. Zögernd trat die Arkonidin zwischen zwei der Felsnadeln hindurch. An dieser Stelle war der Wind kaum noch zu spüren. Unter ihren Füßen knirschten die Kiesel. Sie waren so ordentlich verteilt, als hätte jemand den Platz sorgfältig planiert. Und sie waren alle gleich groß. Die dumpfe Ahnung einer Gefahr ließ sie stehenbleiben. Unsicher blickte sie sich nach allen Seiten um. Nichts. Sie biß sich auf die Unterlippe und schüttelte ratlos den Kopf. Ihr Instinkt befahl ihr, schleunigst das Weite zu suchen, aber sie weigerte sich entschie den, diese unlogische Regung zu befolgen. Hier oben konnte nichts leben. Und schon gar nicht gab es hier eine fremde Kultur. Kultur? Erst in diesem Moment begriff sie, daß sie diesen Ort vom ersten Augenblick an für ei ne Art Heiligtum gehalten hatte. Sie bückte sich und hob einige der Kiesel auf. Sie waren ungewöhnlich schwer, rund und glatt wie Murmeln, und sie fühlten sich warm an. Gedankenlos ließ sie einige der kleinen Steine in die Tasche gleiten. Dann entdeckte sie auf der anderen Seite der völ lig ebenen Fläche ein verheißungsvolles Glitzern. Eilig rannte sie auf die dunkelrote Säule zu, die an ihrem unteren Ende von Sternkri stallen förmlich überkrustet war. Sie stopfte wahllos einen Stern nach dem anderen in die Tasche, bis sie merkte, daß sie ein so hohes Gewicht gar nicht allein bis zum Raumschiff
Im Reich der Sonnenpflanze zurücktragen konnte. Sie setzte sich neben die Säule, holte die Kristalle hervor und breitete sie vor sich auf dem Boden aus. Ein verirrter Sonnenstrahl brach durch die Wol ken. Das Blitzen und Funkeln blendete sie, und sie mußte für einen Moment die Augen schließen. Nur widerwillig sortierte sie einige der Steine aus. Jeder einzelne Kristall war so schön, daß sie ihn für nichts auf der Welt hätte eintauschen mögen. Wieder glitt gei sterhafter Lichtschein über die orangefarbene Ebene, dann zogen kleine, flinke Schatten darüber hin. Crysalgira sah es nicht. Sie hat te nur Augen für den unerwarteten Reich tum, der vor ihr ausgebreitet lag. Sie würde so viele Steine mitnehmen, wie sie tragen konnte. Atlan mußte ihr später helfen, die anderen auch noch in Sicherheit zu bringen. Sie hob den schweren Beutel hoch und machte sich auf den Rückweg. Schon in der Mitte der kieselbedeckten Fläche merkte sie, daß das Licht sich verändert hatte. Es war dunkler geworden. Das Pfeifen und Heulen des Windes klang jetzt lauter. Vereinzelte Regentropfen fielen herab, vermischt mit goldgelben Körnern, die von einer Schleim schicht überzogen waren. Das Zeug setzte sich an ihrer Kleidung fest und blieb dort kleben. Anfangs achtete sie nicht darauf, aber schon nach einer knappen Minute merkte sie, daß sich allmählich eine dichte Hülle aus Pollenkörnchen um sie bildete, die sie in ihrer Bewegungsfreiheit hemmte. Sie hatte die Säulen längst hinter sich ge lassen. Vor ihr erstreckte sich ein Labyrinth aus schmalen Rinnen und zackigen Graten. Durch die zunehmende Dunkelheit änderten sich die Farben, und das machte es noch schwieriger, den Weg wiederzufinden, den sie gekommen war. Sie entdeckte einen ge zackten Buckel und hielt darauf zu. Aber es war nicht jener Felsen, an dem sie den zwei ten Kristall entdeckt hatte. Ratlos drehte sie sich im Kreis. Ein Klum pen braunroter, stacheliger Gebilde schoß ihr entgegen. Sie duckte sich, aber ganz konnte sie den Pollen der fremdartigen
11 Pflanzenwelt des Sturmplaneten nicht aus weichen. Einige kopfgroße Bälle prallten von dem tejonthischen Metallanzug ab, aber einer geriet mit einem halben Dutzend seiner Stacheln an die ungeschützte Haut ihrer rechten Hand. Sie spürte den scharfen Schmerz und das grelle Brennen, mit dem ir gendein Gift aus dem Ball lief. Mit einem lauten Schrei schleuderte sie die Hand zur Seite. Die Stacheln brachen ab und blieben im Handrücken stecken. Der Ball flog zur Seite und war einen Lidschlag später in ei nem Dunstfetzen verschwunden. Hastig stellte Crysalgira den Beutel mit den Kristallen ab, duckte sich in den Wind schatten eines purpurfarbenen Walles und hob die Hand. Fünf fingerlange Stackeln ragten aus der Haut hervor. Aus den Bruch stellen sickerte eine wasserhelle Flüssigkeit. Sie rann an den scharfen Kanten der Sta cheln herab und brannte teuflisch, sobald sie die Haut erreichte. Sie biß die Zähne zusammen, tastete nach dem Gürtel und fand nach längerem Suchen eine schmale Zange. Irgendwann hatte sie das kleine Werkzeug an Bord der Doppelpy ramide eingesteckt. Der Schmerz trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie blinzelte stöh nend, bis sie wieder klare Sicht hatte, dann zog sie den ersten Stachel heraus. Als sie die Quälgeister, endlich entfernt hatte, wurde ihr sekundenlang schwarz vor Augen. Sie lehnte sich gegen den nassen Felsen und atmete tief und regelmäßig, aber die Schwäche, die sich in ihrem Körper eingenistet hatte, wollte nicht vergehen. Im Gegenteil – immer häufi ger verschwamm die Welt um sie herum hinter trübroten Schleiern. Sie hatte sich vergiftet. Die Erkenntnis brachte sie zur Vernunft. Verbissen richtete sie sich auf. Sie ließ die Kristalle achtlos liegen und taumelte vor wärts, in die Richtung, in der sie das Schiff zu finden hoffte. Dort gab es Medikamente, Geborgenheit, Ruhe – und Atlan, der ihr hel fen würde. Crysalgira konnte nur wenige Meter zu rücklegen, dann stolperte sie und fiel. Sie
12 rollte einen kleinen Abhang hinunter und blieb auf dem Rücken liegen. Stöhnend ver suchte sie sich aufzurichten. Sie schaffte es, mußte aber die Augen schließen, weil die Welt um sie her sich in ein rasendes Karus sell verwandelte. Als sie wieder sehen konn te, landeten vor ihr die Fremden. Auf den ersten Blick erkannte sie gar nicht, daß sie es mit intelligenten Wesen zu tun hatte, und als sie es endlich begriff, war es ihr grenzenlos gleichgültig. Sie stierte das kurzbeinige, muskulöse Wesen stumpfsinnig an. Die Schleier, die vor ihren Augen wog ten, verzerrten die Umrisse des Fremden. Sie wußte, daß sie sich einem deliriumähnlichen Zustand näherte, aber sie konnte nichts da gegen unternehmen, denn das Gift pulste durch ihren Körper. Trotzdem versuchte sie sich zu wehren, als dünne, zähe Pflanzenarme nach ihr grif fen. Daumenlose Hände, die sich heiß und trocken anfühlten, schoben sie vorwärts, auf eine mindestens fünf Meter durchmessende Kugel zu. Dünne, peitschenförmige Tentakel ringelten sich aus dem plumpen, graugrünen Körper. Blaßrosa Öffnungen lagen dazwi schen, die sich pulsierend öffneten. Crysal gira stemmte die Füße gegen den Boden, riß an den Fesseln, die sich um ihre Handgelen ke schlangen und versuchte, die Fremden abzuschütteln, die sie auf diese riesige Pflanzenkugel zuschoben. Sie wollte dieses Ding nicht kennenlernen, um keinen Preis! Wahrscheinlich war es eine fleischfressende Pflanze, die nur auf ein Opfer wartete. Aber sie war schon viel zu schwach, und schließlich merkte sie, daß ihre Befürchtun gen sich nicht erfüllten. Die Kugel streckte ein paar Tentakel nach ihr aus, hüllte sie ein und hob sie sanft in die Höhe. Crysalgira stieß einen entsetzten Laut aus, als sie merk te, daß die Pflanze vom Boden abhob und mit dem Sturm davontrieb. Sie sah noch, daß einer der Fremden den Sack mit den Sternkristallen aufhob und dann ebenfalls mit einer Flugpflanze aufstieg. Dann wurde es schwarz um sie.
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3. Zuerst sah ich nur ein paar große, kugel förmige Gebilde. die vom Sturm über den Rand des Steilhangs getrieben wurden. Ich dachte an Pollen, bis ich erkannte, daß diese Bälle den Launen des Windes nicht bedin gungslos folgten. Sie wurden einwandfrei gesteuert. Und dann entdeckte ich auch die Wesen, die sich dieser tentakelumwucherten Bälle bedienten. Sie saßen in dicken Seilschlingen. Einzel heiten waren nicht auszumachen, aber ich beobachtete, wie einer der Fremden an ei nem Tentakel zog, der direkt über ihm aus der Kugel herauswuchs. Gleich darauf zog sich der seltsame Ballon etwas zusammen und sackte dem Tal entgegen. Der Sonnen strahl wanderte weiter und riß eine etwas entferntere Kugel aus dem Dämmerlicht her aus. Deutlich erkannte ich ein hellblaues Schimmern zwischen den Tentakeln. Crysalgira! Es gab keinen Zweifel. Diese Farbe hatte der Anzug, den sie trug. Eine Entführung war auch die einzige Erklärung dafür, daß sie noch immer nicht in die Doppelpyramide zurückgekehrt war – dachte ich jedenfalls. Ich drehte mich um und eilte zum Schiff zurück. Als ich die Schleusenkammer betrat, sah ich das grelle Licht an der Wand auf blinken und blieb erschrocken stehen. Aber es handelte sich nur um das Signal einer Au tomatik. Ich hatte gar nicht auf die gelben Körner geachtet, die überall an mir kleben geblieben waren. Erst als die Pollen mit ei nem leisen Prasseln zu Boden fielen, wurde ich aufmerksam. Mit einem leisen Summen öffnete sich eine Klappe dicht über dem Bo den. Wie von Zauberhand bewegt, glitten die Körner darauf zu und verschwanden. Die Klappe schloß sich, und das Licht erlosch. Mit einem schwachen Seufzen fuhr das In nenschott auf. Ich zuckte die Schultern und eilte weiter. Im Augenblick hatte ich weder Zeit noch Lust, mich mit den Rätseln des varganischen
Im Reich der Sonnenpflanze Raumschiffs zu beschäftigen. Chapat erwartete mich ungeduldig. »Was ist?« fragte er. »Warum starten wir nicht?« »Crysalgira ist entführt worden«, erklärte ich ihm. »Ich muß ihr helfen.« »Und lschtar?« Ich erkannte den Unterton der Verzweif lung in der wispernden Gedankenstimme und biß mir auf die Lippen. Die Goldene Göttin war in Gefahr, daran zweifelte ich kaum noch. Es war wirklich ziemlich unwahrscheinlich, daß der Kleine sich geirrt haben sollte. Aber ich konnte und wollte Crysalgira nicht im Stich lassen. »Es dauert nicht lange«, versuchte ich Chapat zu beruhigen, ehe er wieder in sein nervtötendes Gebrüll ausbrechen konnte. »Wer immer die, se Eingeborenen auch sein mögen, ich werde bestimmt schnell mit ih nen fertig. Sie können kaum eine hohe Zivi lisation aufgebaut haben.« Chapat schwieg. Dafür meldete sich mein Extrahirn. Das ist auch nicht nötig, behauptete es trocken. Wenn sie sich mit der Natur dieses Planeten verbündet haben, besitzen sie eine Waffe, gegen die du es schwer haben wirst. Pessimist! dachte ich9 ärgerlich zurück. »Das alles gefällt mir nicht«, wisperten Chapats Gedanken. »Wer weiß, welche Ge fahren dort draußen lauern. Reicht es nicht, daß Crysalgira ihnen zum Opfer gefallen ist?« »Es ist nicht gesagt, daß die Lage bereits hoffnungslos ist«, fuhr ich ärgerlich auf. »Ich werde Crysalgira zurückholen.« Der Kleine spürte meine Entschlossen heit. Er machte keinen Einwand mehr, ob wohl ihm das sicher schwerfiel. Auch ich er kannte sehr deutlich, daß ich mich auf ein riskantes Unternehmen einließ. Ohne mich war der Kleine verloren. Nicht einmal einen Notruf konnte er abstrahlen, falls mir dort draußen etwas zustieß. Kam ich nicht zurück, so mußte Chapat elend zu grunde gehen. Selbst wenn Crysalgira von alleine zum Schiff zurückfand, besserte sich
13 die Lage kaum. Sie kannte sich mit den var ganischen Geräten nicht gut genug aus, um einen Start zu wagen – und sie hatte keine Verbindung zu Chapat, der ihr das notwen dige Wissen hätte vermitteln können. Ich konnte aber Crysalgira nicht einfach zurücklassen, ohne wenigstens den Versuch zu unternehmen, sie zu retten. Sorgfältig stellte ich meine Ausrüstung zusammen. Die Zeit drängte, aber ich wollte nicht im kritischen Moment hilflos dastehen, nur weil ich ohne jede Überlegung losge rannt war. Medikamente, Notrationen, Was sertabletten, Waffen, ein Translator, ein leichtes Flugaggregat und verschiedene nützliche Kleinigkeiten holte ich aus den Räumen rings um die Zentrale. In Anbe tracht der schlechten Witterung hätte ich gerne auch einen varganischen Schutzanzug benutzt, aber ich fand keinen, der mir auch nur annähernd paßte. Sie waren alle auf Karschkars Maße zugeschnitten. Ich packte alles sorgfältig zusammen, steckte ein festes Messer in den Gürtel und sah mich dann aufmerksam um. Ich hatte meiner Meinung nach nichts vergessen. Ich bückte mich, um das Fluggerät aufzuheben, als sich der Lo giksektor wieder einmal meldete. Was wird aus Chapat? Ich stand da wie vom Donner gerührt. Mitnehmen konnte ich den Kleinen nicht. Ich mußte aber auch damit rechnen, daß ich nicht nur ein paar Stunden wegblieb. Und das Baby brauchte Nahrung und Pflege. Solange er sich in seinem Behälter befun den hatte, waren solche Überlegungen unnö tig gewesen. Man brauchte nur dafür zu sor gen, daß er an ein funktionsfähiges Lebens erhaltungssystem angeschlossen war. »Das kannst du auch jetzt tun«, bemerkte Chapat niedergeschlagen. »Es ist nicht ange nehm für mich, aber im Augenblick stellt es die beste Lösung dar.« Ich fühlte mich ziemlich schuldbewußt, als ich den Jungen zu einer Anlage trug, die er mir zeigte. Er beschrieb mir auch die Schaltungen, die ich vornehmen mußte. Das Gerät war in Ordnung, und ich wußte, daß
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Chapat im Schutz des Energieschirms solan ge sicher war, wie es in der Doppelpyramide einen Funken Energie gab. Trotzdem gab es mir einen Stich, ihn dort liegen zu sehen. »Ich kann dich telepathisch um Hilfe bit ten, wenn die Anlage ausfallen sollte«, ver suchte mein Sohn mich zu beruhigen. »Beeile dich. Und komm gesund zurück!« Ich schluckte und legte den letzten Schal ter um. Das Feld baute sich auf, und Chapat schlief innerhalb weniger Sekunden ein. Ich überprüfte ein letztes Mal die Kontrollen, dann wandte ich mich hastig ab. Der Sturm hatte sich gelegt. Ein frischer Wind blies gleichmäßig über die Oberfläche des Plateaus. Die dicken Wolken trieben trä ge vorbei, und statt Regentropfen fielen Pol lenklumpen aus ihnen herab. Ich watete durch eine zähen, gelbbraunen Brei bis zu den roten Felszacken hinüber, die das Ende der Hochebene kennzeichneten. Dann schal tete ich mein Fluggerät ein und stieß mich vorsichtig ab. Ich fiel geradewegs in ein quirlendes Wolkenfeld hinein, das aus dem Tal heraufstieg. Ich wirbelte ein paarmal im Kreis herum, sah dann eine rissige Felswand auf mich zukommen und klammerte mich fest. Der Sturmplanet war offensichtlich ge willt, seinem Namen Ehre zu machen. Ich mußte zusehen, daß ich aus diesem turbulen ten Gebiet herauskam, ehe ich mich wieder dem Flugaggregat anvertraute. Rechts neben mir zog sich ein schmales Felsband schräg nach unten. Ich hangelte hinüber und atmete auf, als ich festen Boden unter den Füßen spürte. Vorsichtig schlän gelte ich mich an den glitschigen Felsen ent lang, kroch durch ein System von Spalten und Kaminen und stand nach etwa einer hal ben Stunde am Rand einer rostfarbenen Felsplatte, die weit aus der Mauer heraus ragte. Ich ging bis zum Rand, um von hier aus das nächste Wegstück zu erkunden. Als ich mich nach vorne beugte, sah ich direkt unter mir die Überreste einer Flugpflanze.
*
Ich prallte zurück und duckte mich hastig. Ganz deutlich hatte ich das Wesen erkannt, daß sich abseits des zerfetzten Ballons gegen den Felsen preßte. Ich rechnete damit, daß in der nächsten Sekunde eine Horde von Wil den über mich herfiel und zog vorsichtshal ber den Paralysator. Aber es regte sich nichts, und als ich mich wieder vorwagte, entdeckte ich auch den Grund dafür. Der Eingeborene war verletzt, wahr scheinlich sogar bewußtlos. Er rührte sich auch dann nicht, als ich direkt neben ihm auf dem schmalen Vorsprung landete. Es war mir ein Rätsel, warum er nicht längst abge stürzt war. Dann erblickte ich das feste Seil, das sich um den plumpen, schwarzen Körper schlang und in einer kaum fingerbreiten Felsspalte verschwand. Ich musterte den Fremden zweifelnd. Ich mochte ihn nicht einfach hier hängen lassen, denn das würde zweifellos das Ende für ihn sein. Wenn ich ihm half, gewann ich viel leicht einen wertvollen Freund in dieser feindlichen Umwelt. Er wird dich nach seinem glücklichen Er wachen zum Häuptling ernennen und dich mit Belohnungen überschütten! spöttelte das Extrahirn. Ich hörte gar nicht hin. Ich wußte selbst, daß es schwierig war, ein völlig fremdarti ges Wesen zu beurteilen. Wenn ich dem Eingeborenen jetzt das Leben rettete, so be stand die Belohnung möglicherweise darin, daß er mir fünf Minuten später die Kehle durchschnitt. Es war unmöglich, den Fremden genau zu untersuchen, solange er durch die Seilschlin ge fest an den rissigen Felsen gepreßt wurde. Einen Knoten konnte ich nicht finden, und so blieb mir nichts anderes übrig, als den Strick zu durchtrennen. Das Ergebnis war einigermaßen verblüffend, denn es handelte sich um kein Seil im üblichen Sinn. Ich hatte das Messer kaum angesetzt, da gab das Ding ein entsetztes Pfeifen von sich. Das eine En de des Stricks schnellte aus der Felsspalte hervor, zischte an mir vorbei und klatschte gegen die Steine. Ich konnte den Fremden
Im Reich der Sonnenpflanze gerade noch festhalten, ehe er nach unten rutschte. Das Seil verschwand mit bemer kenswerter Geschwindigkeit in dem Riß, und einen Augenblick später tauchte es ein paar Meter weiter wieder auf. Es glitt ge schickt über die Felsen und tauchte in einem kleinen, dunklen Kamin unter. Dieser Schlupfwinkel war jedoch schon bewohnt, und ganze Schwärme winziger, mattroter Bälle schossen zischend daraus hervor. Sie wirbelten aufgeregt durcheinander und setz ten sich allmählich nach unten ab. Vorsichtig zog ich meinen Schützling nach oben. Mit Hilfe des Fluggeräts, das mir über die schwierigsten Stellen hinweghalf, erreichte ich die Felsplatte. Ich bettete den Eingeborenen auf einen Haufen weicher Pflanzenteile, die sich in einem windge schützten Winkel angesammelt hatten. Eine dunkelbraune Wurzel fühlte sich durch mich gestört und kroch mühsam davon, aber sie schien das einzige Lebewesen an diesem Ort zu sein. Der Fremde blutete aus einer Wunde am Kopf. Das Blut war dick und sehr dunkel, und mir kamen die ersten Zweifel, daß mei ne Medikamente etwas ausrichten konnten. Erst jetzt hatte ich Gelegenheit, mir den Ein geborenen näher anzusehen, und das Ergeb nis dieser Betrachtung bestand darin, daß ich mich auf rein äußerliche Hilfsmaßnahmen beschränkte. Ich versprühte eine halbe Büchse Wundspray, bis die Blutung endlich gestillt war, behandelte ein halbes Dutzend Abschürfungen und Prellungen auf dieselbe Art und entschied dann, daß ich vorerst nichts für den armen Burschen tun konnte. Ich hockte mich neben ihm auf den Boden und wartete. Wie der Fremde so dalag, erinnerte er mich eher an ein plumpes Tier, denn an ein intelligentes Wesen. Er war etwas kleiner als ein durchschnittlicher Arkonide, dafür aber ungeheuer breit gebaut Unter der haarlosen, schwarzen Haut zeichneten sich dicke Mus kelstränge ab. Die Arme waren sehr lang und kräftig, die Hände plump und irgendwie falsch. Erst nach längerem Hinsehen merkte
15 ich, daß dieser Eindruck durch das Fehlen eines Daumens erweckt wurde. Jede Hand hatte sechs Finger, die alle gleich lang wa ren. Die kurzen Beine endeten in großen, flachen Füßen. Die Zehen, ebenfalls jeweils sechs, waren lang und wirkten überaus be weglich. Der Eingeborene wälzte sich langsam her um und tastete mit der rechten Hand unruhig den Boden ab. Ich legte die Hand auf den Griff des Paralysators. Der Fremde schlug die Augen auf und starrte mich lange Zeit an. Ich erwiderte den Blick und wartete ab. Nach einer Weile hatte er sich an mir sattge sehen und warf einen Blick in die Runde. Der breite, lippenlose Mund öffnete sich überrascht, und ich hörte eine Serie von Knurrlauten, die ziemlich verwundert klan gen. »Dein Ballon ist hinüber!« sagte ich leise und beruhigend, wobei ich durchaus wußte, daß der Fremde kein Wort verstand. »Er liegt weiter unten zwischen den Felsen.« Der Eingeborene drehte ruckartig den Kopf und fing erneut an, mich aus seinen kleinen, stechenden Augen zu mustern. So ging es nicht weiter. Irgendwie mußte ich mich mit ihm verständigen. Das Überset zungsgerät würde dieses Problem schnell lö sen, vorausgesetzt, der Fremde spielte mit. Ich tastete vorsichtig nach dem Gürtel, aber der Eingeborene öffnete erschrocken den Mund und rollte sich zur Seite. Ihm war also noch nicht aufgegangen, daß ich es gut mit ihm meinte. Ich hob die Hand wieder und wartete, bis er mich ansah. Dann zeigte ich ihm meine leeren Hände, wies auf meinen Kopf, dann auf seinen. Er tastete prompt nach oben und spürte den dünnen, elastischen Verband. Er staunt zog er die Hand zurück und sah mich fragend an. Ich führte ihm in einer Pantomie vor, wie ich ihn gefunden und hierher ge schleppt hatte, und er schien meine Gesten einigermaßen zu verstehen. Jedenfalls gab er einen Kommentar, der mich an eine Ver sammlung wütender Raubtiere denken ließ. Er knurrte, fauchte, zischte und knirschte,
16 und als er meinte, alles hinreichend genau erklärt zu haben, schloß er seinen lippenlo sen Mund mit einem deutlich hörbaren Knacken. »Schön und gut«, sagte ich vorsichtig. »Aber leider habe ich von deiner schönen Rede nichts verstanden. Ich muß sie erst ein mal in das Gerät einspeisen, ehe wir uns un terhalten können.« Er duckte sich leicht, und auf seinem Ge sicht erschien ein seltsamer Ausdruck, den ich nicht zu deuten wußte. Es ist immer schwierig, die Mimik eines Fremdwesens zu verstehen, vor allem dann, wenn ein solches Geschöpf über kein Gesicht im üblichen Sinne verfügt. Die ledrige Haut, die den kantigen Schädel meines neuen Bekannten überzog, wurde nur durch die beiden winzi gen Augen und den Schlitzmund unterbro chen. Ungefähr da, wo der kräftige Unter kiefer enden mußte, saßen noch jeweils zwei Hautlappen, hinter denen ich die Ohren des Fremden vermutete. Eine Nase hatte er nicht, jedenfalls sah ich nichts dergleichen an ihm. Die Anstarrerei ging schon wieder los. Der Bursche blinzelte nicht, und das irritier te mich immer stärker. Sein Blick schien mich durchbohren zu wollen, und doch hatte ich den Eindruck, als hätte der Eingeborene panische Angst vor mir. Ganz langsam hob ich die Hand. »Atlan!« sagte ich langsam und deutlich und deutete auf mich. Dann zeigte ich auf ihn. Er zuckte zurück, gab aber keinen Laut von sich. Ich seufzte abgrundtief. Der arme Kerl schien hinter jeder meiner Bewegungen den Beginn eines Angriffs zu vermuten. Nachdem ich die Vorstellung mehrmals wiederholt hatte, knarrte der Eingeborene endlich ein paar verständliche Laute. Ich be mühte mich nach Kräften, seine Antwort zu wiederholen, aber es mißlang mir jämmer lich. Gerade dieser Mißerfolg gab dem Fremden jedoch ein wenig Selbstbewußt sein. Er ließ ein anhaltendes Schnarren hö ren, und seine Augen blitzten. Kein Zweifel, der Kerl lachte mich aus!
Marianne Sydow »Atlan!« sagte er mühsam. »Otzo!« »Sehr gut!« lobte ich aufatmend. Dann zeigte ich auf meinen Mund. »Sprechen.« Otzo glotzte mich verständnislos an. Ich deutete auf den Translator an meinem Gürtel und wiederholte das Wort. Die Wir kung war überraschend. Einer der langen, sehnigen Arme schoß nach vorne, packte das Übersetzungsgerät, und zog es mühelos aus der Schlaufe. »Halt!« schrie ich, ehe Otzo den Transla tor in seinen riesigen Schlund stopfen konn te. Er erschrak über meine lautstarke War nung so sehr, daß er den Translator fallen ließ. Ich sah das wertvolle Gerät dem Ab grund entgegenkullern, setzte ihm in einem Hechtsprung nach und erwischte es gerade noch, ehe es in einer Felsspalte verschwin den konnte. Als ich mich nach dem Einge borenen umsah, wurde mir klar, daß zum Umgang mit Otzo eine gehörige Portion Ge duld gehörte. Der Fremde hatte sich zu einer Kugel zusammengerollt und den Kopf zwi schen den Armen verborgen. Um ihn nicht wieder zu erschrecken, schaltete ich den Translator gleich ein. Wenigstens konnte er das jetzt nicht sehen: Ich sprach eine Weile beruhigend auf ihn ein, dann hob sich endlich ein Arm, und die winzigen grünen Augen lugten hervor. Zehn Minuten später hatte ich Otzo so weit ge bracht, daß er endlich wieder mit mir sprach. Aber es dauerte noch fast eine Stunde, bis das Gerät einen ausreichenden Wortschatz gespeichert hatte und eine richtige Unterhal tung möglich wurde. Das Volk, dem Otzo angehörte, nannte sich »Kemarer«. Sein Stamm wohnte in dem großen Tal in einem Dorf, das den Namen »Platz der Honigsamen« trug – worunter ich mir vorläufig nichts vorstellen konnte. Es gab noch mehr Ansiedlungen, die überall in den Schluchten verteilt waren. Nicht alle Dörfer standen in friedlicher Verbindung miteinander. Daher erklärte sich auch zum Teil Otzos Furcht, die sich schnell legte, als er erfuhr, daß ich es nicht auf ihn abgesehen
Im Reich der Sonnenpflanze hatte. »Deine Leute haben ein Mädchen ent führt«, erklärte ich ihm, um endlich auf mein eigentliches Problem zu kommen. »Weißt du, wohin man es gebracht hat?« Otzo deutete eifrig in das Tal hinunter. »Sie ist im Dorf«, bestätigte er, »Sie war sehr krank, aber die Giftsamen haben sie si cher schon wieder geheilt.« Ich fuhr hoch. »Giftsamen?« Otzo bewegte sich unruhig. Meine Aufre gung übertrug sich auf ihn. Er fuchtelte mit der rechten Hand in der Luft herum und ver suchte mir zu erklären, was es mit diesen Samen auf sich hatte, aber er gebrauchte zu viele Wörter, die sich noch nicht übersetzen ließen. Plötzlich merkte er, daß der Transla tor bis auf einige abgerissene Wortfetzen nichts von sich gab, und erst jetzt wurde er richtig auf das Gerät aufmerksam. »Das Ding spricht für dich?« fragte er verwundert. »Es übersetzt deine Sprache, damit ich dich verstehen kann«, nickte ich. »Umgekehrt geht es natürlich auch.« Er schwieg eine Weile, tippte den Trans lator vorsichtig an, betrachtete ihn von allen Seiten und starrte mich schließlich erwar tungsvoll an. Offensichtlich war ich an der Reihe, aber ich hatte keine Ahnung, was er von mir wollte. »Hast du Samen davon zu verkaufen?« fragte er schüchtern, als ich beharrlich den Mund hielt. Ich runzelte die Stirn. »Das ist eine Maschine, Otzo!« sagte ich vorwurfsvoll. Diesmal war er es, der nichts verstand. Ich stürzte mich in eine lange Erklärung, um das Wort »Maschine« zu umschreiben und dem Eingeborenen zu erklären, daß Geräte dieser Art sich nicht einfach vermehren las sen. Er sah mich verständnislos an, und als er nach langer Zeit endlich begriff, war er sichtlich enttäuscht. »Wir hätten viel für solche Samen bekom men«, meinte er bedrückt. »Dann würden
17 die Jäger des Dorfes mir endlich erlauben, eine eigene Hütte aufzuziehen.« Reiß dich zusammen! empfahl das Extra hirh spöttisch. Hast du es immer noch nicht gemerkt? Diese Wesen haben ihre ganze Zi vilisation auf den einheimischen Pflanzen aufgebaut. Kein Wunder, denn in diesem Treibhausklima muß alles schnell wachsen. Und die Giftsamen? fragte ich lautlos zu rück. Sie sind das Gegenteil von dem, was du angenommen hast, behauptete mein innerer Gesprächspartner. Crysalgira war krank, als man sie aufgriff. Die Giftsamen sind eine Art Heilmittel. Es blieb mir nichts anderes übrig, als die se Erklärung zu akzeptieren, aber besonders wohl war mir dabei nicht. »Warum habt ihr Crysalgira entführt?« fragte ich Otzo. »Ich weiß es nicht. Die Jäger haben sie gesehen, als sie im vergessenen Tempel der Quezaren die Sterne der Berge sammelte. Da haben sie sie mitgenommen.« Ich schluckte die Fragen hinunter, denn jede weitere Erklärung kostete noch mehr Zeit. Allmählich mußte ich mich auf den Weg machen. »Kannst du dich wieder richtig bewe gen?« erkundigte ich mich. Otzo probierte seine Gliedmaßen aus und knurrte eine kurze Zustimmung. Als er sich aufrichtete, schwankte er ein wenig, aber er fing sich schnell. »Wir gehen ins Dorf«, bestimmte ich. »Sie werden dich auch einfangen«, gab Otzo zu bedenken. »Warum? Ich habe ihnen nichts getan. Ich werde deinen Freunden sogar noch Ge schenke machen, wenn sie mir das Mädchen gesund und unversehrt zurückbringen. Wenn du ihnen das erkläret, werden sie mich be stimmt freundlich behandeln.« Von meinem Logiksektor kam ein spötti scher Impuls, und das ärgerte mich. Ich wollte einfach nicht einsehen, warum diese Wesen nicht tatsächlich freundlich zu mir sein sollten.
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»Es sind nicht meine Freunde«, behaupte te Otzo in diesem Augenblick. »Sie verach ten mich. Sie sagen, ich wäre dumm und un geschickt. Darum hat sich auch niemand um mich gekümmert, als meine Flugpflanze an einem Felsen hängenblieb.« Was sollte ich dazu sagen? Daß der Bur sche unter Minderwertigkeitskomplexen litt, hatte ich schon ge merkt, aber vorerst konnte ich ihm nicht helfen. Vielleicht gelang es mir, sein Selbstbewußtsein aufzumöbeln, wenn wir erst im Dorf waren.
4. Der Steilhang wurde immer zerrissener, je tiefer wir kamen. Anfangs hinderten mich die starken Luftwirbel zwischen den Felsen daran, mein Fluggerät einzusetzen, und dann, als ich es endlich hätte wagen können, stellte ich fest, daß ich Otzo auf diese Weise nicht mitnehmen konnte. Otzo weigerte sich, sich diesem Gerät anzuvertrauen. Die Flug pflanzen der Eingeborenen waren weit weni ger zuverlässig als das Fluggerät, aber dieses Argument prallte von dem Schwarzen ein fach ab. So war ich gezwungen, weiter durch die immer tiefer werdenden Schrunde uncf Schluchten zu klettern. Otzo kam gut voran. Trotz seiner Verletzungen war er ein besse rer Kletterer als ich. Kein Wunder, denn er konnte sich auch mit den Füßen festhalten und war mir schon deshalb überlegen. Wir waren etwa im letzten Drittel des Hanges angelangt, als das Licht eine bleier ne Farbe^ annahm. Ich sah mich unruhig um. Die Wolken hatten sich zusammengezo gen und brodelten wie eine dicke gelbe Sup pe unter und neben uns. Weiter oben trieben nur noch vereinzelte Fetzen vorbei, und stel lenweise war der klare Himmel zu sehen. Die Sonne stand schon tief. Nur die obersten Ränder des Plateaus wurden noch ange strahlt. »Was bedeutet das?« fragte ich Otzo, nachdem ich ihm ein Zeichen gegeben hatte, daß wir eine kurze Pause einlegen wollten.
Wir hockten unter einem Felsvorsprung, der uns Schutz vor lockeren Steinen bot, die ab und zu von oben herabpolterten. »Es wird Abend«, erklärte der Kemarer gelassen. Ein unheildrohendes Brausen klang auf. Die Wolken gerieten in Bewegung, schraub ten sich langsam weiter hinauf und breiteten sich auch in unsere Richtung aus. »Das sieht mir nach einem Sturm aus«, murmelte ich mißtrauisch. »Wir sollten uns einen guten Unterschlupf suchen.« »Wir sind hier sicher genug«, lehnte Otzo meinen Vorschlag leichtfertig ab. »Das sind nur die Winde der untergehenden Sonne. Die Jäger steigen mit ihnen bis zu den Ber gen hinauf und kehren mit den sinkenden Wolken des Mittags zurück. Wenn die Wol ken diesen Grat dort erreicht haben, wird der Regen kommen. Es ist immer so.« Er war auf dem Sturmplaneten geboren und an die hiesigen Verhältnisse gewöhnt. Also glaubte ich ihm. Er hat sich aber auch hervorragend ange paßt, meinte mein Extrahirn. Ihm kann der Sturm kaum gefährlich werden. Du tust gut daran, dich abzusichern. Der Gedanke, die Nacht mitten zwischen diesen tückischen Felsen zu verbringen, ge fiel mir gar nicht. Immer wieder raschelte und zischte es in den Spalten und Rissen um uns her. Ich hatte mich längst daran gewöhnt und zuckte kaum noch zusammen, wenn einzelne Steine plötzlich ihr Aussehen ver änderten und sich direkt vor meiner Nase in klumpenförmige Pflanzen verwandelten, die auf winzigen Pseudofüßchen eilig davonkro chen. Aber zwischen all diesen Wesen zu schlafen, erschien mir gefährlich. Ich untersuchte den Platz unter dem Fel sen und entdeckte ganz hinten eine Meute von roten Kugeln. Sie sahen ganz friedlich aus. Langsam und bedächtig glitten sie über die Steine und fraßen die dünne Algen schicht ab. Otzo war mir gefolgt. Als ich den kleinen, aber leistungsfähigen Handschein werfer einschaltete, um die Kugeln besser sehen zu können, stieß er ein leises, er
Im Reich der Sonnenpflanze schrecktes Knurren aus. Ich dachte, es han dele sich um eine Reaktion auf das Licht, dessen Ursprung er sich mit seinen Vorstel lungen über Technik wohl kaum erklären konnte. Aber dann, als ich gerade einen Schritt näher an die Wand treten wollte, packte er mich am Arm und hielt mich zu rück. Es war schon beinahe zu spät. Eine Kugel hielt plötzlich an. Ein langer, dünner Faden ringelte sich aus der vorher glatten Oberflä che und streckte sich zitternd nach mir aus. »Gefahr!« sagte Otzo leise. »Komm!« Ich wich zurück. Der Faden dehnte sich im selben Tempo und blieb immer etwa einen halben Meter von meinem Gesicht entfernt. Inzwischen waren auch die anderen Kugeln auf uns aufmerksam geworden. »Schnell!« drängte der Kemarer und zog mich weiter. Von draußen drang ein langgezogenes Stöhnen herein. Ich zuckte zusammen, merkte dann aber, daß es sich nur um den Sturm handelte, dessen erster Ausläufer den Vorsprung erreicht hatte. Der Weg war uns versperrt. Bei diesem Orkan durften wir den Schutz des Felsens nicht verlassen. Aber Ot zos Verhalten nach zu urteilen, war es auch nicht ratsam, in der Nähe der roten Kugeln zu verharren. Ich tastete nach meinem Gürtel und fand den Desintegrator an seinem Platz. Vorsich tig zog ich die Waffe hervor. Sofort reagier ten auch die feinen Fäden. Sie glitten weiter nach unten, und einer berührte kurz den Är mel des tejonthischen Anzugs. Durch die Metallsegmente hindurch spürte ich plötz lich ein Brennen, als hätte jemand mich mit einer glühenden Nadel gestochen. In einem Reflex zuckte meine Rechte hoch. Ich drückte den Abzug herunter, und ein Teil der Kugeln löste sich in Staub auf. Die Zer störung ihrer Artgenossen war für die ande ren das Signal zum Angriff. Innerhalb von Sekundenbruchteilen geriet die Felswand in Bewegung. Unzählige Ten takel streckten sich nach uns aus. Otzo fauchte und knurrte, tanzte auf seinen kurz
19 en Beinen umher und schrie auf, wenn ihn einer der Fäden traf. Ich feuerte in die bro delnde Masse dieser teuflischen Wesen hin ein, aber die Kugeln hatten schnell gelernt. Sie spürten, welche Stelle ich als Ziel wählte und wichen aus. Von allen Seiten her sta chen die Tentakel auf mich ein. Ich biß die Zähne zusammen. Die brennenden Punkte waren nicht gefährlich, aber sie schmerzten teuflisch. Nur mit Mühe konnte ich die Hand mit dem Strahler ruhig halten. Dann endlich gelang es mir, die Streuung zu verändern, und mindestens ein Drittel der Kugeln ver ging in dem weit gefächerten Strahl. Das verschaffte mir Luft, und ein paar Sekunden später war die Wand kahl und leer. Hinter mir brüllte Otzo wie am Spieß. Ich drehte mich hastig um und sah die drei Ku geln, die sich an seinem schwarzen Körper festgesetzt hatten. Er versuchte, die Quälgei ster abzustreifen, aber es gelang ihm nicht. Erst als ich den Kolben des Strahlers ein setzte, gelang es mir, die Wesen herunterzu schlagen. Sie hüpften wie Gummibälle auf und ab und wedelten mit ihren Tentakeln herum. Ehe sie sich erneut ein Ziel suchen konnten, vernichtete ich sie. Dann erst konnte ich mich um den Kema rer kümmern. Er hockte wimmernd am Bo den. An den Stellen, von denen ich die Ku geln entfernt hatte, entdeckte ich große Brandwunden an seinem Körper. Ich redete beruhigend auf ihn ein und holte das Wund spray aus der Gürteltasche. Das leise Zi schen, mit dem der flüssige Verband aus der winzigen Öffnung drang, verängstigte Otzo noch mehr, aber er merkte schnell, daß die Schmerzen nachließen. »Was war das?« fragte ich ihn. Er öffnete ein paarmal den Mund, ehe er einen ver ständlichen Laut hervorbrachte. »Kampfsamen«, krächzte er endlich. »Aha«, machte ich verständnislos. »Und was ist das?« Statt einer Antwort deutete Otzo mit be benden Fingern auf den Rand des kleinen Hohlraums. Ich wirbelte herum und sah schon wieder eine dieser Kugeln.
20 »Die Dinger müssen irgendwo ein Nest haben«, murmelte ich und drückte ab. Die Tatsache, daß die Kugel sich umge hend in ihre Bestandteile auflöste, verlieh dem Kemarer etwas Mut, und er richtete sich vorsichtig auf. »Die Quezaren haben sie hinterlassen, ehe sie in das Tal des Sonne zogen«, erklärte er. »Es gibt nicht mehr viele von ihnen, aber manchmal trifft man sie eben doch. Wir hat ten großes Glück, Atlan. Bis jetzt hat keiner von uns den Angriff der brennenden Samen überlebt.« So ein Translator ist eine feine Sache. Aber hier offenbarten sich die Konstrukti onsfehler der kleinen Maschine. Obwohl das Gerät zweifellos jedes Wort richtig übersetz te, ergab das Ganze keinen Sinn für mich. »Paß mal auf«, sagte ich deshalb. »Unter Samen verstehe ich Teile von Pflanzen, die nach einer gewissen Ruhezeit keimen und eine neue Pflanze der gleichen Art hervor bringen. Diese Kugeln haben sich aber be wegt. Sie haben offensichtlich auch gefres sen. Also kann es sich nicht um Samen han deln.« »Doch«, behauptete Otzo. »Diese Sorte Kampfsamen ernährt sich selbst und bleibt am Leben, bis ein Opfer in die Nähe kommt. Dann erwachen sie. Sie verbrennen jeden or ganischen Körper, und aus der Asche wächst die Pflanze auf. Sobald ihre Samen reif sind, suchen sie sich einen Ort, an dem sie warten können.« Dieses Gerede von Samen ging mir auf die Nerven. Immerhin verstand ich soviel, daß ich die Flora des Sturmplaneten nicht mit meinen bisherigen Kenntnissen beurtei len durfte. Zwischen den Felsen gab es noch sehr wenige Pflanzen. Ich war gespannt, was ich weiter unten alles antreffen würde. Inzwischen tobte der Sturm mit voller Kraft. Einmal entdeckte ich große, dunkle Schatten, die rasend schnell nach oben stie gen. »Das sind die Jäger«, sagte Otzo. Es klang traurig. »Sie fliegen über die Berge. Ich wollte, ich dürfte auch einmal dorthin.«
Marianne Sydow »Du warst doch mit einem Ballon unter wegs«, wandte ich verwundert ein. »Sie hatten mir zum erstenmal gestattet, eine Flugpflanze zu benutzen«, erklärte er bedrückt. »Aber sie haben mir ein schlechtes Exemplar gegeben. Eine gute Flugpflanze bekommen nur die wirklichen Jäger. Jetzt, da ich versagt habe, werden sie mir nicht einmal eine überlassen, die schon halb zer rissen ist.« Ich drückte mich in den Wind schatten der Felsen, holte ein Päckchen mit Konzen traten hervor und bot auch Otzo einen Rie gel an. Er griff mißtrauisch zu, aber als er gekostet hatte, hellte sein Gesicht sich auf. Er erhielt einen Becher Wasser aus meinem Vorrat, und kaum hatte er getrunken, da roll te er sich umständlich zusammen, verankerte sich mit Händen und Füßen an einigen Vor sprüngen und war somit für die Nacht gerü stet. »Wir können nicht hierbleiben«, hielt ich ihm vor. »Der Sturm wird immer stärker, und wenn es auch noch anfängt zu regnen, ist das ein reichlich ungemütlicher Platz.« »Die Felsen werden den Regen zurück halten«, erwiderte er. »Wir sind hier ganz si cher!« »Das hast du schon einmal gesagt. Und dann tauchten diese Kampfsamen auf.« »Du hast sie mit deinen Waffen vertrie ben. Sie werden nicht zurückkehren.« »Aber hier wimmelt es von allen mögli chen Pflanzen und Tieren«, sagte ich ärger lich. »Außerdem kann ich mich nicht so festhalten wie du. Der Sturm wird mich in die Tiefe reißen.« Er schwieg einen Moment, löste dann den festen Griff um die Felszacken und nestelte an dem breiten Gürtel herum, den er um sei ne Hüften geschlungen hatte. Er förderte zwei kleine, dunkle Körner zutage und hielt sie mir hin. »Haltesamen«, erklärte er bedeutungsvoll. »Du brauchst sie nur neben dich an den Fel sen zu drücken. Dann wächst ein Seil, das du um deinen Körper legen mußt. Sobald du es auf der anderen Seite gegen den Stein
Im Reich der Sonnenpflanze hältst, saugt es sich fest. Es hält dich viele Stunden lang. Der Sturm nimmt bald ab. Vorher können wir auf keinen Fall weiterge hen.« »Aber ich will nicht hierbleiben!« prote stierte ich ärgerlich. Zu spät. Otzo hatte seine Schlafstellung blitzschnell wieder eingenommen und gab keinen Laut mehr von sich. Ich starrte die beiden Körner an und schüttelte unwillkürlich den Kopf. Selbst wenn daraus wirklich Halteschlingen für mich wuchsen, empfand ich diese Art der Übernachtung als eine Zumutung. Ich tastete nach dem Schalter des Fluggeräts. Lieber ließ ich den Kemarer hier zurück und holte ihn am nächsten Morgen wieder ab. Viel leicht war es ohnehin besser, alleine zum Dorf zu fliegen. Du wirst keine hundert Meter weit kom men, prophezeite mein Logiksektor. Du ver lierst nur Zeit. Otzo kann dir den Weg zum Dorf zeigen. Ich versuchte es trotzdem, aber als ich den Kopf um die Ecke steckte, blies mir der Sturm nicht nur große, eiskalte Regentrop fen, sondern auch eine Menge Pollen entge gen, die sich sofort in meinen Haaren fest setzten. Seufzend robbte ich zurück, suchte im Schein der Handlampe einen halbwegs bequemen Platz aus und drückte dann einen der Haltesamen gegen die Steine. Zuerst ge schah gar nichts, und ich wollte das Körn chen schon wegwerfen. Aber plötzlich rühr te sich etwas unter meiner Hand. Ein dün nes, zähes Pflanzenseil schlängelte sich zwi schen meinen Fingern hindurch. Ich folgte Otzos Anweisungen und stellte fest, daß die ses Seil sich genauso verhielt, wie er es vor hergesagt hatte. Ein paar Minuten später hielten zwei Schlingen mich am Boden des felsigen Hohlraums fest. Wenige Schritte neben mir begann der Abgrund.
* Als Otzo mich einige Stunden später weckte, fühlte ich mich wie zerschlagen.
21 Der Fels war naß, meine Haare klebten mir im Gesicht, und überall lagen hereingewehte Pollenklumpen. Die Stellen, an denen das Seil um meinen Körper lag, waren einge schnürt und schmerzten. Ächzend wand ich mich aus den lebenden Fesseln. Kaum spürten die Pflanzen, daß ih re Aufgabe beendet war, da zischten sie da von. Ich wischte den klebrigen Pollenbrei aus meinem Gesicht und sah hinaus. Der Wind war immer noch scharf und schneidend, wehte aber stetig aus einer Richtung. Ich probierte das Fluggerät aus. Otzo starrte mich entsetzt an, als ich damit einige Meter nach unten flog. Das Gerät funktionierte einwandfrei, die Sicht war re lativ gut. Über uns dehnte sich ein leidlich klarer Himmel, und die Sterne, die durch die wenigen Wolken blinzelten, spendeten ge nug Licht. Es gab keinen Grund, diese ab surde Kletterei fortzusetzen. »Wir fliegen hinunter«, teilte ich Otzo mit. Er wich zurück und traf Anstalten, sich wieder in eine lebende Kugel zu verwan deln, aber diesmal war ich gewarnt. »Ich werde dich auf jeden Fall mitneh men«, sagte ich ärgerlich. »Wenn du nicht freiwillig mitkommst, schleppe ich dich an deinem Gürtel hinterher. Also?« Er gab nur zögernd nach. Einerseits hatte er eine höllische Angst vor dieser Maschine, deren Funktionen er nicht verstand. Ande rerseits wollte er es sich nicht mit mir ver derben. Selbst mit dem Fluggerät kamen wir nur mühsam voran. Die Schluchten wurden brei ter und tiefer. Von unten drang das Rau schen von Wildbächen herauf. An den Hän gen wuchsen Schlingpflanzen hinauf bis zu den schmalen Graten, an denen der Wind sich in wilden Wirbeln brach. Pollenklum pen wirbelten aus diesen Abgründen herauf und zwangen mich zu zahlreichen Aus weichmanövern. Otzo grunzte und knurrte ununterbrochen vor sich hin. Eine riesige, helle Geröllhalde erschien unter uns. Dort wuchsen nur wenige Pflan
22 zen. Sie zeichneten sich als dunkle, unförmi ge Klumpen ab. Von rechts kam ein dump fes Dröhnen. Ich hielt darauf zu, und nach wenigen Minuten erreichten wir einen gi gantischen Wasserfall. Wir landeten auf ei nem flachen, glatten Felsbrocken. Otzo deu tete in die Richtung, in der das Wasser sich einen Weg durch den dichten Dschungel ge schaffen hatte. »Dort liegt das Dorf«, erklärte er. »Jetzt können wir gehen. Es ist nicht weit. Wenn die Morgenwolken kommen, sind wir am Ziel.« »Geh voran«, sagte ich, und der Kemarer kletterte behände in eine schmale Felsrinne, die steil nach unten führte. Ich schaltete das Fluggerät wieder ein und schwebte langsam hinter ihm her. Er drehte sich einmal um, sagte jedoch nichts. Die Rinne wurde tiefer und endete abrupt vor einer Wand aus Pflanzen. Ich schaltete den Scheinwerfer ein und leuchtete das Hin dernis an. Dornige Ranken bildeten ein Ge flecht, in dem kaum noch eine Lücke offen blieb. Dazwischen hingen fleischfarbene Kugeln von etwa zwei Meter Durchmesser an erstaunlich dünnen Fäden. Als das Licht diese Kugeln traf, öffneten sie sich langsam. Sie sahen wie schalenförmige Riesenblüten aus, aber im Mittelpunkt dieser Gewächse gähnte ein dunkler Schlund, in dem sich un zählige dünne Fäden unruhig bewegten. Sie dehnten sich aus und züngelten gierig dem Kemarer entgegen, der jedoch vor diesen »Blüten« keinerlei Angst hatte. Er trat ganz nahe an eine heran, klatschte mit der flachen Hand gegen die fleischrote Hülle und stieß dabei einen heiseren Pfiff aus. Die Pflanze zuckte wie unter einem Schlag zusammen. Die Fäden ver schwanden, und dafür kuller te eine dunkelbraune Kugel direkt in Otzos Arme. Er entblößte erfreut seine kümmerli chen Zähne, steckte die Kugel in den Mund und schluckte sie ohne ersichtliche Anstren gung hinunter. Ein neuer Pfiff, und die Blüte zog sich zurück. »Danke«, wandte er sich an mich. »Die Honigpflanzen öffnen sich sonst nur am Ta-
Marianne Sydow ge. So ein Licht müßte ich haben, dann könnte ich nachts ernten! Möchtest du auch etwas essen?« Wenn du ablehnst, beleidigst du ihn ver mutlich, teilte mein Extrahirn mir mit. Otzo war hocherfreut, als ich zustimmte. Er entlockte einer anderen Blüte ebenfalls eine dieser süßlich duftenden Kugeln und überreichte sie mir strahlend. Zum Glück kannte ich einen guten Trick, den der Kema rer nicht durchschaute. Er war überzeugt da von, mir einen Gefallen getan zu haben, und der »Honig« verschwand in einer Tasche des tejonthischen Anzugs. Der Eingeborene warf den anderen Blüten einen bedauernden Blick zu. »Wir sollten sie alle abernten«, schlug er schüchtern vor. »Das dauert zu lange«, erklärte ich gedul dig. »Ich habe es eilig. Wer weiß, was man im Dorf mit Crysalgira anstellt.« »Aber …« »Wenn ich das Mädchen gefunden habe, schenke ich dir die Lampe«, unterbrach ich ihn. Otzo starrte mich sekundenlang an, dann lief er direkt auf den Wall aus Dornen los. Ein kurzer Ruf von ihm genügte, um die Ranken in Bewegung zu setzen. Sie krochen wie unzählige Schlangen durcheinander und gaben eine dunkle Öffnung frei. Otzo winkte einladend. Hinter den Ranken lag ein schmaler Pfad, beinahe schon ein Tunnel, denn der Weg wurde von allen Seiten so dicht von den Pflanzen eingeschlossen, daß es keinen freien Raum mehr gab. Ich betrat diesen Tunnel vorsichtig. Der Boden unter meinen Füßen war schwarz und naß. Hinter mir raschelte es vernehmlich. Ich fuhr her um. Die Wand der Dornen hatte sich wieder geschlossen. Nur mühsam unterdrückte ich den Wunsch, mir mit dem Strahler den Weg ins Freie zurückzuerkämpfen. Otzo schritt unbeeindruckt voran. Über uns befanden sich wenigstens zwanzig Me ter weit nichts als ineinander verflochtene Ranken und andere Gewächse. Überall jen seits der Tunnelwände raschelte es. Ab und
Im Reich der Sonnenpflanze zu erklang ein schwaches Seufzen und ein mal ließ ein entsetzlicher Schrei mich zu sammenfahren. Der Kemarer wandte nicht einmal den Kopf. »Das gibt guten Honig«, bemerkte er ge lassen. »Wie meinst du das?« erkundigte ich mich nervös. »Die Honigpflanzen haben ein großes Op fer gefangen«, erklärte er. »Wahrscheinlich war es ein Schlammwurm. Er kommt oft nachts aus seiner Wohnröhre.« »Die Honigpflanzen fressen also Tiere?« vergewisserte ich mich. »Natürlich. Was sollten sie sonst tun? Sie verdauen sie, und die Honigkugeln sind das, was von ihrer Beute übrigbleibt.« »Warum lassen sie euch dann zufrieden?« »Wir haben sie ja gepflanzt«, gab Otzo zurück. Ich merkte, daß es sinnlos war, ihn weiter auszufragen. Für ihn war das alles selbstver ständlich. Ich holte heimlich die Honigkugel aus der Tasche und ließ sie fallen. Nichts auf der Welt würde mich dazu bringen, die Ver dauungsrückstände einer fleischfressenden Pflanze zu verzehren! Otzo bewegte sich schnell und geschickt durch diesen Pflanzentunnel. Manchmal wagten sich dünne Tentakel bis in seine Nähe vor, aber er schlug sie mit der Hand zur Seite, und sie zogen sich ge horsam zurück. Nach etwa einer halben Stunde merkte ich, daß der Pfad anstieg. Der Morast blieb unter uns zurück, und wir be wegten uns jetzt auf einem dichten Geflecht dünner, geschmeidiger Ranken, die bei jedem Schritt federten. Die Kemarer mußten eine ganz besondere Beziehung zu den Pflanzen ihres Planeten haben, denn dieser Weg war nicht durch Gewaltanwendung er zwungen worden. Nirgends gab es eine ab geschlagene Liane. Die Pflanzen fügten sich harmonisch ineinander. Sie bildeten sogar Stufen, die auf die Bedürfnisse ihrer kurz beinigen Herren zugeschnitten waren. Sei tengänge führten rechts und links tiefer in den Dschungel hinein. Starke, holzige Pflan
23 zenstränge bildeten schmale Wendelgänge, die die auf verschiedenen Ebenen verlaufen den Wege senkrecht miteinander verbanden. Ich leuchtete in einen Seitentunnel hinein. Er führte in einen großen Hohlraum, dessen Wände mit Honigpflanzen bedeckt waren. Kurz darauf konnte ich die Lampe aus schalten. Wir kamen in die Nähe des Dorfes. Die Kemarer hatten hier für Beleuchtung ge sorgt. In regelmäßigen Abständen hingen kleine Körbe von der Tunneldecke herab. Sie waren mit einem matt leuchtenden Mate rial gefüllt. Wahrscheinlich handelte es sich auch dabei.um Pflanzen. Der Dämmerschein reichte zur Orientierung aus, und ich be gann, die völlig fremdartige Zivilisation die ser Wesen zu bewundern. Sie beherrschten ihre Umwelt in bemerkenswerter Weise. »Wir sind da«, sagte Otzo plötzlich und schlug einen schwankenden Zweig zur Seite. Vor uns lag eine Lichtung. Der Himmel war wieder bewölkt, aber der Tag brach be reits an. Im unheimlichen Zwielicht sah ich das Dorf. Es bestand nicht aus Häusern, wie ich sie kannte. In unregelmäßigen Abständen ragten mehr oder weniger kugelförmige Gebilde aus dem Boden. Otzo führte mich einen schmalen, schlammigen Pfad entlang und blieb vor einer Hütte am Rande des Dorfes stehen. »Hier wohne ich«, erklärte er. Er schlug leicht mit der Hand gegen die mattbraune Wand. Wie durch Zauberei ent stand direkt vor ihm eine Öffnung. Dahinter schimmerte schwaches Licht. »Du kannst hier schlafen«, lud er mich ein. »Es ist noch genug Platz vorhanden.« Ich zögerte, denn viel lieber hätte ich mich umgehend auf die Suche nach der Prinzessin gemacht. Otzo deutete meine Zu rückhaltung richtig. »Jetzt ist niemand wach«, behauptete er. »Erst wenn der Morgenregen vorüber ist, beginnt die Arbeit. Dann kannst du mit den Ältesten sprechen.« Ich zuckte die Achsein und kroch hinter dem Kemarer durch das enge Loch.
24 Drinnen war es stickig und eng. Der Bo den der Hütte war von schlafenden Kema rern bedeckt. Otzo kletterte achtlos über sei ne Artgenossen hinweg. Er fand einen freien Platz im hinteren Teil dieses merkwürdigen Hauses und machte es sich bequem. Ich hockte mich auf den weichen, elastischen Boden und sah mich mißtrauisch um, aber die Bewohner der Hütte hatten einen un glaublich tiefen Schlaf. Ich überlegte, ob ich nicht lieber draußen warten sollte, bis das Dorf zum Leben erwachte. Vorsichtig tastete ich mich an die Stelle zurück, an der Otzo mit einem einfachen Schlag eine Tür ge schaffen hatte. Die Wand reagierte auf mei ne Bemühungen nicht. Ich war eingeschlos sen. Nervös fingerte ich an meinem Strahler herum, aber ich wagte es nicht, ihn einzuset zen. Mißmutig kehrte ich zu Otzo zurück, streckte mich neben ihm aus und versuchte zu schlafen. Das laute Prasseln eines Regengusses weckte mich. Ein Blick auf die Uhr zeigte mir, daß inzwischen etwa drei Stunden ver gangen waren. Die Kemarer schliefen immer noch, und ich nutzte die Zeit, um etwas zu essen. Ich war kaum mit meinem kümmerli chen Frühstück fertig, da hörte der Regen auf. Die Hütte schien nur darauf gewartet zu haben, denn ohne ersichtlichen Anlaß bilde te sich eine Öffnung in der fugenlosen Wand. Warme Luft wehte herein. Ich rückte hastig zur Seite, als sich neben mir die Wand bewegte. Otzo richtete sich auf,.blinzelte kurz und zog dann umständlich einen faustgroßen, bräunlichen Klumpen aus seiner Gürtelta sche. Er stopfte dieses Zeug in eine Öff nung, die sich neben ihm in der Wand gebil det hatte. Auch die anderen Kemarer er wachten, und jeder bezahlte mit einem gleichartigen Klumpen diese lebende Hütte dafür, daß sie ihren Bewohnern während der Nacht Schut2 geboten hatte. Ich hatte erwartet, daß man mich, den so plötzlich aufgetauchten Fremden, angreifen, zumindest aber bestaunen würde, doch nichts geschah. Die Kemarer taten, als be-
Marianne Sydow stünde ich aus Luft. Sie verließen eilig die Wohnpflanze und verteilten sich draußen. »Wir können gehen«, machte Otzo sich bemerkbar. »Ich werde dir den Weg zu den Ältesten zeigen.« Er watschelte auf seinen krummen Beinen voraus. Ich sah mich nach meiner seltsamen Herberge um. Jetzt, im trüben Licht des Ta ges, entdeckte ich, daß die Wohnkugel nur ein Teil dieser erstaunlichen Pflanze war. Das Gewächs bestand aus einem kurzen, kräftigen Stamm, auf dem ein Büschel blatt ähnlicher Auswüchse im Wind schwankte. Vom Fuß des Stammes schlängelten sich schenkeldicke Äste über den Boden, und je der trug am Ende eine »Hütte«. Die meisten Pflanzen, an denen wir vorüberkamen, tru gen fünf Wohnkugeln, aber es gab auch sol che, die fast zwanzig Unterkünfte für die Kemarer bereitstellten. »Die Häuser, die du kennst, sind anders, nicht wahr?« fragte Otzo, der meine Ver wunderung bemerkt hatte. »Nur Jäger und Leute, die genug Tausch waren haben, dürfen eine Wohnpflanze auf ziehen«, erklärte er eifrig, als ich zustimmte. »Die anderen müssen entweder im Wald schlafen, oder für die Übernachtung bezah len. Ich arbeite für den Besitzer von fast zehn Pflanzen. Wir müssen nicht nur die Wohnblüten morgens füttern, sondern auch für ihren Besitzer die Honigpflanzen abern ten. Wer zu wenig Honigkugeln bringt, darf nicht mehr in die Hütte.« »Und wer zu viel bringt?« »Das geschieht niemals. Mit deiner Lam pe könnte ich es schaffen. Dann würde ein Teil der Kugeln mir gehören, und ich könnte andere Samen dafür eintauschen.« Ein einfaches und wirksames System. Die meisten Kemarer konnten froh sein, wenn sie ihr Leben lang fähig waren, eine ausrei chende Menge an Erntegut einzubringen. Versagten sie, dann war ihr Schicksal besie gelt. Ich entdeckte einige dieser verbrauch ten Eingeborene^, die regungslos unter ei nem primitiven Blätterdach hockten. Sie sa hen aus, als wären sie kurz vor dem Verhun
Im Reich der Sonnenpflanze gern. »Warum hilft ihnen niemand?« fragte ich Otzo. Er hob in einer Geste, die Verwunderung ausdrückte, die daumenlosen Hände. »Sie helfen sich selbst«, behauptete er. »Sie gehen in den Wald und holen sich, was sie zum Leben brauchen. Wenn sie dazu nicht mehr imstande sind, bringen ihnen die Kinder vielleicht etwas.« Wir erreichten den Rand des Dorfes. Vor uns fiel das Gelände steil ab. Breite Brücken überspannten den Fluß, der unterhalb des Dorfes einen kleinen See bildete, ehe er durch ein natürliches Felsentor abfloß. Die Brücken bestanden natürlich auch aus leben den Pflanzen. Und als wäre es damit nicht genug, trieben auf dem See Boote, die nichts anderes als Schwimmpflanzen darstellten, die sich den Kemarern unterordneten. Auf den Brücken herrschte lebhaftes Kommen und Gehen. Vom jenseitigen Ufer des breiten Flusses kamen Kemarer herbei geschwankt, die riesige Blattkörbe trugen. Sie schleppten die schweren Lasten den Hang herauf, luden sie auf einem freien Platz zwischen den Hütten ab und wandten sich dann dem Dschungel zu. Otzo deutete auf die Körbe. »Nahrungssamen«, erklärte er. »Sie wer den auf der anderen Seite geerntet und hier gelagert. Die Boote der Händler bringen sie zu anderen Stämmen, jedenfalls die meisten von diesen Körnern. Einige verbrauchen wir auch selbst, aber wir leben größtenteils von den Honigkugeln.« »Was bekommt ihr von den Händlern?« fragte ich. »Alles mögliche«, gab Otzo gleichgültig zurück. »Brückensamen zum Beispiel. Diese Rankpflanzen wachsen zwar bei uns, aber sie vermehren sich nur in den tieferen Tä lern. Auch die Samen für die Flugpflanzen müssen wir eintauschen. Dafür ernten wir so viele Bohrsamen, daß wir sie kaum noch loswerden.« »Bohrsamen?« »Sie treiben eine dicke, hohle Wurzel in
25 den Boden. Dadurch bilden sich Gänge, die wir leer räumen. Manche Arten spezialisie ren sich auf bestimmte Stoffe und verfolgen Tiere, die im Boden leben. Man kann sie auf alle möglichen Arten gebrauchen. Bei uns vermehren sie sich rasend schnell, aber das nützt uns nicht viel, weil die weiche Erd schicht ziemlich dünn ist. Wir verkaufen die Samen, aber viel bekommen wir nicht dafür. Am meisten bringen noch die Klettersamen ein. Für einen Beutel voll bekommt man zwölf Schnappsamen oder sechs Lichtsamen oder einen Todessamen. Hast du Durst?« Der abrupte Themenwechsel verwirrte mich endgültig. Otzo hielt neben einer dickbäuchigen Pflanze an und zerrte an einem wurmförmi gen Auswuchs. Die Pflanze gab ein Rülpsen von sich, spuckte einen dünnen Wasserstrahl in ein trichterförmiges Blatt und hielt dieses natürliche Trinkgefäß dem Kemarer direkt vor den Mund. Otzo leerte das Blatt und sah mich fragend an. Ich war nur noch zu einem stummen Kopf schütteln fähig. »Dort findest du die Ältesten«, erklärte er und deutete auf ein ungewöhnlich großes Pflanzenhaus am Rande des Abhangs. Ich sah mich nachdenklich um, und in mir verstärkte sich eine ungute Vorahnung. Es war einfach nicht natürlich, daß die übrigen Dorfbewohner mir gar keine Aufmerksam keit zollten. Sie hasteten an uns vorüber, und ich merkte, daß sie mir scheue Blicke zu warfen, aber niemand sprach uns an. Es war, als hätte jemand sie vor mir gewarnt. Otzo? Sicher nicht. Es war unwahrscheinlich, daß er ein falsches Spiel trieb. Er sah in mir eine unerwartete Chance, seine Lebensbedingun gen zu verbessern. Ich hatte ihm außerdem das Leben gerettet. »Kommst du nicht mit?« fragte ich ihn. »Ich darf diese Wohnblüte nicht betre ten«, erklärte er bedrückt. »Ich werde hier auf dich warten.« Das Haus der Ältesten lag auf einem kreisrunden, sorgfältig geebneten Platz. Die Pflanze, die diese Wohnhütte bildete, mußte schon sehr alt sein. Ihr Stamm war ungeheu
26 er dick, von zahlreichen Rissen und Narben zerfurcht, und das Blattbüschel am obersten Ende war so groß, daß es ein schützendes Dach über der einzigen Wohnblüte dieses Giganten bildete. Ich überschritt die unsichtbare Grenzlinie zu ihrem Bereich und marschierte gerade wegs auf das Haus zu. Die Tür war offen – wie alle ihre Artgenossen nützte auch diese Pflanze die feuchte Luft nach dem Morgen regen, um ihr Inneres gründlich zu lüften. Ich kam bis auf etwa drei Meter an den Ein stieg heran, da hörte ich hinter mir einen Grunzlaut. »Vorsicht!« gab der Translator Otzos Ruf wieder. Ich wirbelte herum, duckte mich und hechtete zurück. Gerade noch rechtzeitig, denn eines der gewaltigen Blätter senkte sich mit rasender Geschwindigkeit auf den Platz, an dem ich gerade noch gestanden hatte. Das Blatt schlug klatschend auf den durchnäßten Boden. Schlamm spritzte auf, dann schwenkte das Pflanzenorgan seitlich ab. Ich sah die messerscharfe Kante des Blattes auf mich zukommen. In einem Re flex zog ich die Waffe. Ein greller Energie strahl erfaßte den tückischen Ausläufer die ses lebenden Gebäudes. Es zischte und bro delte, dann zuckten die Überreste des Blattes in die Höhe und ordneten sich schwankend in das Büschel ein. Verkohlte Fetzen wirbel ten mit dem Wind davon. Ich richtete mich vorsichtig auf. Den Strahler behielt ich in der Hand. Aus den Augenwinkeln sah ich Otzo, der mich fas sungslos beobachtete. Auch einige andere Kemarer waren am Rand des Platzes stehen geblieben. Ausdruckslos betrachteten sie aus winzigen, stechenden Augen das Geschehen. In der Hütte rührte sich nichts. Hinter dem Eingang lag Dunkelheit. Mit dem Finger am Abzug setzte ich mei nen Weg fort. An der Tür blieb ich stehen. »Ich will mit euch reden!« sagte ich laut und wartete dann, bis der Translator meine Aufforderung übersetzt hatte. Keine Antwort. »Ihr habt gestern ein Mädchen aus mei-
Marianne Sydow nem Volk entführt«, fuhr ich fort. »Ich bin gekommen, um es zurückzuholen. Wenn ihr mir helft, werde ich euch belohnen, Wenn ihr mir dagegen Schwierigkeiten macht, werde ich mein Ziel anders erreichen. Über legt es euch gut!« Es war natürlich zum Teil Bluff, aber an dererseits war die Lage zu ernst, als dass ich mich auf Spielereien einlassen durfte. Im Schiff wartete Chapat auf mich, und irgendwo war Ischtar in höchster Gefahr. Jede Stunde war kostbar. Ich hörte leises Grunzen und Knurren hin ter der Tür. Die Geräusche waren so leise, daß der Translator sie nicht aufnahm. Die Ältesten berieten sich. Sie hatten gesehen, was mit dem mörderischen Blatt geschehen war, und sie mußten sich ausrechnen kön nen, daß ich mit Leichtigkeit diese ganze Hütte zerstören konnte. Nach etwa einer Minute erschien ein Ke marer in der Türöffnung. Er war kleiner als Otzo, dafür aber noch breiter. Seine Haut sah wie schlecht gegerbtes, fleckiges Leder aus, zahlreiche blaßgraue Narben bildeten ein eigenartiges Muster, und auf dem Kopf trug er eine Art Kappe aus gelbgrünen Fä den, die sich unruhig bewegten. »Du hast die Pflanze verletzt«, sagte er dumpf. Ich spürte einen Schau er auf mei nem Rücken. Auch in seinem Mund krab belten diese gelbgrünen Fäden herum. »Sie wollte mich töten«, gab ich zurück. »Sie gehört in diese Welt«, knurrte der Kemarer, und ein winziger, gelbgrüner Ten takel zuckte zwischen seinen Lippen. »Du dagegen bist ein Fremder. Niemand hat dich gerufen. Du hast kein Recht, den Frieden zwischen uns und den Pflanzen zu zerstö ren.« »Ich habe nicht damit angefangen«, erwi derte ich. »Und da wir gerade von Recht sprechen: War es in deinen Augen richtig, dieses Mädchen mit Gewalt davonzuschlep pen? Sie hatte euch nichts getan.« »Alles auf dieser Welt gehört der Großen Einheit!« dröhnte die Stimme des Alten. »Auch das Mädchen! Wer zu uns kommt,
Im Reich der Sonnenpflanze muß sich unseren Gebräuchen anpassen.« »Wo ist Crysalgira?« »Suche sie!« empfahl der Kemarer knapp. »Ihr seid nicht sehr freundlich«, hielt ich ihm vor. »Dort drüben steht Otzo. Ich habe ihm das Leben gerettet. Gilt das für euch nichts?« »Ich hatte gehofft, wir wären ihn endlich los«, wehrte der Alte verächtlich ab. »Wir wollen keinen Krieg, Fremder. Weder mit dir, noch mit der Großen Einheit. Geh, wo hin du willst, und nimm Otzo mit. Er gehört nicht mehr zu uns. Niemand wird dich an greifen, solange du dich richtig verhältst. Niemand darf sich dem Haus der Ältesten nähern, wenn er nicht von uns gerufen wird. Die Pflanze tat ihre Pflicht. Alle ihre Ge fährten werden dich beobachten. Bringst du die Einheit in Gefahr, dann werden sie die Herausforderung annehmen.« Er drehte sich um und verschwand in der dunklen Wohnhöhle. Das letzte, was ich von ihm sah, waren die matt glimmenden Fäden auf seinem Kopf. Ich wurde das Gefühl nicht los, daß diese Dinger mich beobachte ten. Nicht nur sie. Dieser ganze unheimliche Dschungel schien mich mit unzähligen Au gen zu überwachen. Ich wandte mich ab. Nur Otzo stand noch da, alle anderen Schau lustigen waren an ihre Arbeit zurückgekehrt. »Was wirst du tun?« fragte Otzo be drückt. »Du hast gehört, was der Alte gesagt hat?« Er starrte mich an, und obwohl seine Au gen nicht viel mehr als stechend scharfe Punkte in seinem Gesicht waren, erkannte ich die Verzweiflung in seinem Blick. »Du bist jetzt frei«, sagte ich nachdenk lich. »Mach dir keine Sorgen, Otzo. Ich wer de dafür sorgen, daß man dich mit Freuden wieder aufnimmt.« Ich wußte genau, daß es schwer werden würde, dieses Versprechen einzulösen. Zu fremd war diese Welt, zu rätselhaft die ei genwillige Zivilisation dieses Volkes. Aber Otzo traute mir anscheinend Wunderkräfte zu. Sein Blick hellte sich auf. Gehorsam wie
27 ein Hund trabte er hinter mir drein, als ich mich auf den Weg zu einem Sammelplatz machte, auf dem zahlreiche Kemarer Pflan zensäcke mit Samen aufstapelten.
* Niemand beachtete uns. Die Kemarer schlugen einen Bogen um uns, wenn wir uns ihnen in den Weg stellten. Meine Fragen blieben unbeantwortet, und auch Otzo er reichte nichts. Vor mir hatten die Dorfbe wohner wenigstens noch Respekt, denn sie fürchteten meine Waffen. Ihren verstoßenen Artgenossen dagegen behandelten sie mit offensichtlicher Verachtung. Wir durchstreiften das ganze Dorf, ohne auch nur die leiseste Spur zu finden, die auf Crysalgiras Verbleib hinwies. Die Wohn pflanzen kümmerten sich nicht um uns, wenn wir in jede Hütte hineinspähten. Ge gen Mittag war es für uns klar, daß man das Mädchen weggeschafft hatte aber wohin? Für einen Augenblick vergaß ich diese bohrende Frage. Die Wolken, die ständig im oberen Teil des Talkessels brodelten und niemals einen Sonnenstrahl durchließen, ga ben plötzlich einen ganzen Haufen von klei nen Kugeln frei. Die Bälle sanken rasch tiefer, und ich stellte fest, daß es sich um Flugpflanzen handelte. »Die Jäger kommen zurück«, erklärte Ot zo lakonisch. Gespannt beobachtete ich, wie die riesi gen Kugeln auf dem unbebauten Landstrei fen am Flußufer landeten. Jeder Ballon trug einen Kemarer, der seine Pflanze geschickt steuerte. Durch Ziehen und Zurückstoßen verschiedener Tentakel wurden die Pflan zenbälle veranlaßt, sich entweder zusam menzuziehen oder aufzublähen. Auf diese Weise konnte man nicht nur auf und ab stei gen, sondern auch Einfluß auf die Flugrich tung nehmen, solange der Sturm nicht zu stark war. Die Kugeln landeten in sauberen Reihen, verankerten sich auf einen Befehl ihrer Herren im weichen Boden und blieben regungslos liegen. Die Kemarer sprangen
28 aus den Sitzschlingen. Ein Teil der Dorfbe wohner eilte dem Landeplatz entgegen, blieb aber in achtungsvoller Entfernung von den Flugpflanzen stehen. Die Jäger schritten würdevoll zu einem niedrigen, langgestreckten Schuppen, der entgegen der sonstigen Gewohnheit dieses Volkes nicht von einer lebenden Pflanze ge bildet wurde. Einer nach dem anderen betra ten sie das Gebäude und kehrten mit je einer kopfgroßen, rubinrot leuchtenden Kugel zu rück. Nachdem sie ihre lebenden Fluggeräte mit diesem Zeug gefüttert hatten, öffneten die Flugpflanzen etliche Hohlräume in Bo dennähe. Das war das Signal. Grunzend und knur rend eilten die wartenden Dorfbewohner herbei und beluden sich mit der Fracht, die auf so ungewöhnliche Weise in das Tal transportiert worden war. Kleine Beutetiere wurden sofort davongeschleppt. Größere da gegen übergab man den Jägern, die sie mit wenigen, geschickt geführten Schlägen zer teilten. Sie benutzten dazu Beile aus einem harten Gestein. Otzo schnaufte leise. »Hast du Hunger?« fragte ich ihn. Er zögerte, dann nickte er unglücklich. »Warum holst du dir nicht etwas von der Beute?« erkundigte ich mich. Er sah mich verständnislos an. Ich begriff nicht, weshalb er von der überreichlichen Menge an Fleisch nichts abhaben sollte. Es waren weit mehr Tiere erlegt worden, als die Eingeborenen verzehren konnten. Da ich bisher nichts gesehen hatte, was für eine Konservierung von Frischfleisch in diesem feuchtheißen Klima geeignet war, verstand ich sein Zögern nicht. Dann aber fiel mir auf, daß keiner der Kemarer eines der erleg ten Tiere zu den Wohnhütten schleppte. Na endlich, machte das Extrahirn sich spöttisch bemerkbar. »Ihr seid Vegetarier?« fragte ich vorsich tig. »Was ist das?« wollte Otzo prompt wis sen, denn die Übersetzung dieses Wortes war nicht einwandfrei.
Marianne Sydow »Ihr eßt nur Pflanzen, oder?« »Nein!« behauptete Otzo, und diesmal klang es entsetzt. »Niemand darf eine Pflan ze essen. Nur das, was die Pflanzen uns ge ben.« »Aha«, machte ich nachdenklich und be obachtete, wie ein Kemarer ganz in der Nä he ein unappetitliches, madeähnliches Tier in den Schlund einer Honigpflanze stopfte. »Ihr gebt den Pflanzen das Fleisch der erleg ten Tiere, und dafür versorgen die Pflanzen euch mit Nahrung.« Otzo schwieg, aber ich wußte, daß meine Vermutung zutraf. »Wäre es nicht einfacher, selbst das Fleisch zu essen?« fragte ich ihn. »Damit wäret ihr unabhängiger und müßtet euch nicht in allem nach diesen Gewächsen rich ten.« »Es ist verboten«, sagte Otzo leise. »Warum?« »Die Große Einheit will es so.« Ich begann ungeduldig zu werden. Wer oder was war eigentlich diese Einheit? Eine Pflanze, vermutete mein Logiksektor gelassen. Eine riesige, intelligente Pflanze. Vielleicht aber auch die Einheit aller Pflan zen auf diesem Planeten. Das wäre eine Verdrehung aller normalen Evolutionsgesetze, gab ich lautlos zurück. Pflanzen als Herrscher über einen ganzen Planeten … Es ist gar nicht so unwahrscheinlich, wie du denkst. Die Pflanzen bilden die Basis des Lebens. Letzten Endes stammt auch das be ste Stück Fleisch nur von ihnen. Das weiß ich, dachte ich ärgerlich. Aber hier ist es umgekehrt. Die Pflanzen fressen die Tiere. Sie diktieren sogar den Kemarern sämtliche Lebensgewohnheiten. So etwas ist doch unnatürlich! Für dich vielleicht, für die Kemarer wohl kaum. Schön und gut, aber warum starrte Otzo die Beutetiere so gierig an, wenn er doch ge nau wußte, daß er sie nicht essen durfte? Mir fiel der Alte ein, der mir mitgeteilt hatte, Ot zo sei ohnehin ein unnützes Mitglied der
Im Reich der Sonnenpflanze Dorfgemeinschaft. Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. »Du hast aber schon Fleisch gegessen, nicht wahr?« vergewisserte ich mich. Otzo sank förmlich in sich zusammen. »Was sollte ich tun?« jammerte er. »Sie gaben mir immer zu wenig, und wenn ich die Honigpflanzen füttern mußte, hatte ich solchen Hunger, daß ich mir einfach etwas genommen habe. Erst hatte ich Angst. Es heißt, daß tierische Stoffe für uns tödlich sind. Aber mir bekam das Fleisch sehr gut. Ich wurde viel kräftiger. Nur im Wald hatte ich Schwierigkeiten. Die Pflanzen waren ge gen mich. Sie weigerten sich manchmal so gar, mir die Ernte zu übergeben.« Otzo war also in einen Teufelskreis gera ten. Dadurch daß er den Pflanzen einen Teil der Nahrung vorenthielt, rächten sie sich, in dem sie ihm weniger gaben. Wenn er im Dorf nicht genug ablieferte, bekam er weni ger zu essen, war also gezwungen, noch mehr Fleisch zu essen und so weiter. Er stand wie ein Häufchen Unglück vor mir, scharrte mit seinen großen Füßen im Sand und wagte es kaum, mich anzusehen. »Mir ist es egal, was du ißt«, machte ich ihm klar. »Ich werde dir bei Gelegenheit einen anständigen Braten verschaffen. Aber jetzt müssen wir uns wieder um Crysalgira kümmern. Gibt es denn im ganzen Dorf nie manden, der bereit wäre, über das Mädchen zu sprechen?« Otzo überlegte eine Weile, dann hellte sein Gesicht sich auf, »Der Wächter der Toten!« stieß er hervor. »Er gilt als unrein, und niemand redet mit ihm.« »Wo finden wir ihn?« Otzo ging schweigend voran. Wir verlie ßen das Dorf und marschierten auf die Fel sen zu, durch die das Wasser aus dem See in den tiefer gelegenen Teil des Tales stürzte. Hier war die Vegetation weniger dicht als im Dschungel. Allerdings war der Weg auch nicht ungefährlich. Die Klippen waren glit schig, von schmierigen Algenfilmen überzo gen. Zwischen ihnen wucherten graugrüne Pflanzenklumpen, über denen grellgelbe
29 Blüten auf dünnen Stielen schwankten. »Sieh dich vor denen vor«, empfahl Otzo. »Die Blüten brennen wie Feuer, wenn man sie berührt!« Ich ging also den gelben Blüten aus dem Wege. Auch die rostfarbenen Fallstricke, die sich wie Schlangen über den Weg ringelten, lernte ich kennen. Eine von ihnen legte sich plötzlich um mein linkes Fußgelenk und zog sich so blitzschnell zusammen, daß ich vorn über stürzte. Sofort umklammerte eine zwei te Ranke meine Hüften. Ich stemmte mich mit aller Macht gegen diese Schlingen, aber sie gaben nicht nach, sondern zogen mich in kleinen Rucken auf ein dichtes Gebüsch zu. Otzo stieß einen erschrockenen Laut hervor, sprang blitzschnell herbei, zog mit einem Griff das Messer aus meinem Gürtel und zerschlug die Fesseln. Kaum waren die Ran ken durchtrennt, da fielen die abgeschnitte nen Enden von mir ab. Hinter der Mauer aus dickfleischigen, bläulichen Blättern fauchte es leise. Von da an achtete ich sorgfältig darauf, Otzo in meiner Nähe zu behalten. Ihn griffen die Pflanzen nicht an, aber sie schienen zu spüren, daß ich ein Fremdling auf dem Sturmplaneten war. Harmlose Blätter, kaum handtellergroß, segelten durch die Luft. Um den Kemarer schlugen sie einen achtungs vollen Bogen, aber sobald sie in meine Nähe kamen, entpuppten sie sich als mordgierige kleine Ungeheuer, die sich nur durch Otzo wieder verjagen ließen. »Wie weit ist es noch?« erkundigte ich mich schwer atmend, als der Kemarer gera de wieder eines der ätzenden Blätter von meinem Anzug gepflückt hatte. »Wir sind gleich da«, tröstete er mich. Die Tatsache, daß er mir behilflich sein konnte, stärkte sein Selbstbewußtsein sehr. Nachdem wir den letzten Felsen umrundet hatten, lag der »Friedhof« der Kemarer vor uns. Allerdings wußte ich im Augenblick nichts davon, daß wir unser Ziel tatsächlich erreicht hatten. Für mich sah das Ganze eher wie ein Acker aus. Auf einer weiten, zum Fluß hin abfallen
30 den Fläche reihten sich doppelt mannshohe Schoten aneinander. Sie saßen auf einem kurzen, stämmigen Stiel und sahen aus wie zu lang geratene Eier, die in der Mitte aus einanderklaffen. Hinter dem senkrecht ver laufenden Schlitz wabbelte eine weiche, trübviolette Masse. Es handelte sich zweifel sohne um eine der unappetitlichsten Pflan zen, die ich jemals kennengelernt hatte. Otzo zeigte deutliche Anzeichen von Ehr furcht gegenüber diesen Schoten. Die geöff neten beachtete er kaum, aber vor jeder ge schlossenen blieb er stehen, vollführte einige seltsame Verrenkungen und murmelte vor sich hin. Es gab sehr viele geschlossene Schoten, und so dauerte es eine ganze Wei le, bis wir endlich die andere Seite dieses Feldes erreicht hatten. Dort duckte sich eine halbverfaulte, an vielen Stellen mit unplan mäßigen Löchern versehene Wohnblüte. Unsere Ankunft war bereits registriert worden. Aus dem Gewirr wilder Pflanzen, das den Platz zum Fluß hin abgrenzte, kam grunzend ein Kemarer hervorgekrabbelt. Er mußte beinahe so alt sein wie der Bursche mit der seltsamen Kappe aus Pflanzenfäden. Auch seine Haut war fleckig und schorfig. Er war bis auf ein Röckchen aus langen Tierhaaren unbekleidet, doch um seinen Hals schlang sich ein dünnes Band aus ge flochtenem Leder, und daran hing ein großer, sternförmiger, in ständig wechselnden Farben schillernder Kristall. »Was willst du?« fragte er Otzo in einer Mischung aus Neugier und Abneigung. »Mit dir reden«, gab der Kemarer zurück und setzte sich auf einen Stein vor der Wohnblüte. »Mit mir redet niemand«, knurrte der Alte abweisend. »Wer hierher kommt, kann mei stens nicht mehr sprechen.« »Wir suchen eine Fremde, die die Jäger gestern mitbrachten«, fuhr Otzo unbeein druckt fort. Ich überließ ihm gerne diesen Teil der Verhandlung. Der Alte stand breit und massig vor uns, in der rechten Hand einen Speer mit blitzender Spitze. Eine Aura von Grausamkeit ging von ihm aus. Er
Marianne Sydow schlenkerte ein bluttriefendes Tier achtlos hin und her. Als das halbtote Wesen, eine et wa armlange Walze mit runzliger, blauer Haut und acht kurzen, krallenbewehrten Beinstummeln, sein breites Maul mühsam öffnete und mit den dünnen Fangzähnen auf das Knie seines Peinigers zielte, schleuderte der Kemarer die Kreatur höhnisch schnar rend von sich. Das Tier kroch leise wim mernd über den Boden. Es hatte das schüt zende Gebüsch fast erreicht, aber vorher mußte es eine der offenen Schoten passie ren. Ein schriller Pfiff des Alten brachte das Gewächs in Bewegung. Es neigte sich auf seinem kurzen Stiel dem Boden entgegen. Die Ränder der Öffnung tasteten über den Körper der Walze, die ihre Bemühungen verdoppelte. Aber es war längst zu spät. Ich sah weg. Der Alte dagegen beobachtete den hoffnungslosen Kampf des Tieres. Als die schrillen Schreie verstummten und die Scho te sich aufrichtete, ging er zu ihr, betrachtete sie von allen Seiten und tätschelte das Ding, als sei es ein liebenswertes Geschöpf, das soeben eine außergewöhnliche Leistung vollbracht hatte. »Ein Händler kam den Fluß herunter«, sagte er, als er zu uns zurückgekehrt war. »Er nahm das Mädchen mit. Sie war im toten Tempel, und außerdem trug sie einen ganzen Beutel mit Kristallen bei sich. Die Sterne der Berge sind das Symbol der Son nenpflanze, und daraus ergibt sich, daß die Fremde vom Schicksal als Opfer ausersehen ist.« »Sie wird also zu den Quezaren ge bracht?« wollte Otzo wissen. »Weißt du einen anderen Weg, der zum höchsten Heiligtum der Großen Einheit führt?« fragte der Alte spöttisch. Der Wächter der Toten spielte mit seinem Speer und deutete gelassen auf die Reihe der Schoten. »Der Händler zahlte zwanzig Todessamen für die Fremde«, erklärte er. »Ein hoher Preis! Er wird versuchen, mit diesem Mäd chen gute Geschäfte zu machen. Wenn es ihm gelingt, sie direkt an die Quezaren zu
Im Reich der Sonnenpflanze verkaufen, ist er ein gemachter Mann.« Er warf mir einen flüchtigen, abschätzen den Blick zu, erhob sich gelassen und ging davon. »Ruf ihn zurück!« befahl ich Otzo hastig, denn mit den wenigen Informationen konnte ich kaum etwas anfangen. »Den Wächter der Toten kann man nicht rufen«, murmelte Otzo bedrückt. »Er hat sei nen Namen verloren, und die Erinnerung an ihn wurde begraben, als er dieses Amt über nahm. Wir müssen gehen!« »Aber wir haben doch kaum etwas erfah ren!« »Es sind zu viele offene Todesschoten da«, knarrte Otzo nervös und zog mich am Arm aus der Umgebung dieses unheimli chen Ortes. »Sie müssen gefüttert werden, wenn sie nicht vorzeitig absterben wollen. Komm endlich!« Wir hasteten durch ein tückisches Ge büsch, in dem es überall raschelte und knackte. Hellgelbe Würmer von der Dicke eines Handgelenks flohen vor uns. Irrsinni ges Gelächter hallte aus der Schlucht herauf. Ein Windstoß fuhr durch die fremdartigen Gewächse, und mit lautem Seufzen platzte ein paar Meter vor uns ein großes, krugför miges Gebilde auseinander. Otzo riß mich zu Boden. Die Luft war plötzlich erfüllt von weißlichen Pollenklumpen, die mit dem Wind davontrieben. Als wir endlich das Flußufer erreichten, war ich fast am Ende meiner Kräfte. »Hier können wir uns ausruhen«, gab der Kemarer bekannt und streckte sich auf einer Felsplatte aus. Es war kein gemütlicher Ort. Gischt sprühte auf uns herab, und die Luft war schwül und stickig. Aber die steinerne Flä che war völlig frei von Pflanzen, und die Tiere schienen das offene Gelände zu mei den. Als ich mich endlich so weit erholt hatte, daß ich mich aufrichten konnte, begann ich, Otzo auszufragen. Was ich erfuhr, war nicht gerade ermutigend. Die Todessamen wurden von Händlern
31 bis in diese Gegend gebracht. Sie stellten die wertvollste Handelsware überhaupt dar. Nach der Aussaat wuchsen sie zu den mir bekannten Schoten heran und waren dazu bestimmt, Kemarer in sich aufzunehmen, so bald diese das Zeitliche gesegnet hatten. Es gab ein sehr strenges Tabu. Ein Toter durfte nur auf diese Art und Weise bestattet wer den. Ließ sich das aus irgendwelchen Grün den nicht bewerkstelligen, dann hatte das verheerenden Folgen für die Angehörigen, in Extremfällen sogar für das ganze Dorf. Nur die Jäger waren von dieser Bestimmung ausgenommen, denn wenn sie in den »wilden Tälern«, wie Otzo die Jagdgebiete nannte, verunglückten, blieb selten etwas von ihnen übrig. Nur ein Volk lieferte die Todessamen. Die Pflanzen vermehrten sich nur im Tal der Quezaren, sonst nirgends auf diesem Konti nent. Damit waren alle anderen Völker von den Quezaren restlos abhängig, so' lange das Tabu der Todessamen nicht gebrochen wur de. »Sie sind gefährlich«, behauptete Otzo von den Quezaren. »Oft führen sie Kriege mit den anderen Völkern. Sie schleppen viele Gefangene davon, und keiner dieser Ke marer tauchte jemals wieder auf. Niemand wagt es, sich gegen die Überfälle zu wehren, denn dann würden die Todessamen ausblei ben. Der Wächter der Toten wird von ihnen ernannt. Er füttert die Schoten, bis für sie der Zeitpunkt gekommen ist, an dem sie ihre Aufgabe erfüllen müssen. Etwa zwei Peri oden des Regenwechsels hindurch bergen sie die Toten in sich. Dann ist ihre Kraft er schöpft, und sie zerfallen zu Erde. Darum ist es wichtig, daß wir immer neue Samen er halten.« »Warum zerfallen sie nicht auch dann, wenn sie Beutetiere in sich aufnehmen?« »Ich weiß es nicht. Vielleicht kennt der Wächter das Geheimnis. Er hat oft Schwie rigkeiten, die Schoten satt zu bekommen. Von der Jagdbeute gibt man ihm nur wenig. Es heißt, daß er ab und zu auch Kemarer, die in die Nähe der Schoten kommen, verfüttert.
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Darum wollte ich weg von dort. Er hat wohl nur gezögert, weil er von deinen Waffen ge hört hat.« »Das verstehe ich nicht«, wandte ich ein. »Wenn niemand mit ihm spricht und kein Dorfbewohner ohne zwingenden Grund zu ihm geht, woher sollte er dann etwas von meinen Waffen erfahren haben?« »Er ist der Wächter der Toten!« betonte Otzo. »Ihm bleibt nichts verborgen.« Wenn das so war, warum hatte er uns dann entgegen den Anweisungen der Älte sten überhaupt eine Auskunft gegeben? Er hatte den Auftrag dazu, behauptete der Logiksektor. Aber von wem? Von den Quezaren. Zwei Opfer sind bes ser als eines. Sie haben erfahren, daß ihr Fremde seid und nicht zu den Bewohnern des Sturmplaneten gehört. »Bekomme ich nun deine Lampe?« fragte Otzo in diesen lautlosen Wortwechsel hin ein. Ich ruckte verblüfft hoch. »Wir haben Crysalgira doch noch gar nicht gefunden!« Otzo starrte mich an, als hätte ich plötz lich zwei Köpfe. »Wir werden sie niemals finden!« stieß er schließlich hervor. »Aus dem Tal der Que zaren kehrt niemand zurück. Es ist sinnlos, ihr zu folgen, denn dabei würden wir beide sterben.« »Keine Angst«, murmelte ich grimmig und starrte auf das schäumende Wasser des Flusses. »So schnell stirbt man nicht!«
5. Ich spielte nur kurz mit dem Gedanken, zum Raumschiff zurückzukehren und zu versuchen, dort die nötigen Mittel für eine schnelle Befreiung der Prinzessin zusam menzusuchen. Der Weg bis auf das Hoch plateau würde zu viel Zeit in Anspruch neh men. Laut Otzo mußten wir durch die »wilden Täler«, wenn wir in die Nähe der Quezaren kommen wollten. Erst allmählich fand ich
heraus, daß damit nichts anderes als ein Ge biet gemeint war, in dem die Pflanzen wild wuchsen. Kein Kemarer beeinflußte ihr Ver halten, und viele stellten sich den Eingebo renen feindlich entgegen. Dazu kamen zahl reiche Fallen, die die rätselhaften Hüter der Sonnenpflanzen errichtet hatten, um Ein dringlinge fernzuhalten. In den Grenzbezir ken wohnten ein paar wilde Stämme, die weder auf die Quezaren gut zu sprechen wa ren, noch auf die anderen Völker der Kema rer. Sie erfüllten höchst widerwillig eine Art Vermittlungsaufgabe, indem sie die Todes samen an die Händler weitergaben und zu weilen auch Botschaften der Quezaren über brachten. Dahinter lag unbekanntes Gebiet, ein wildes Gewirr von Schluchten, in die an scheinend noch niemand eingedrungen war. Sollte es solche mutigen Vorstöße doch ge geben haben, so hatten die Initiatoren nichts mehr darüber berichten können. Wir hockten noch immer auf der Felsplat te. Es wurde allmählich dunkler, aber bis zum Anbruch der Nacht blieb noch genü gend Zeit. Otzo hatte sich erstaunlich schnell mit seinem Schicksal abgefunden. Er glaubte keineswegs, daß wir eine Chance hätten, aber er hing an mir wie ein treues Tier. Er würde mich begleiten, und wenn ich ihm vorschlug, direkt in die Hölle zu mar schieren, so würde er mir auch dahin folgen. »Wir brauchen ein Boot«, erklärte er ge rade und deutete auf die dünnen Linien, die ich mit einem Fettstift auf den Stein ge zeichnet hatte. Die Karte, falls man diesen Namen gebrauchen wollte, war weder genau noch mit besonders vielen Einzelheiten ver sehen. Mühsam hatte ich nach den spärli chen Kenntnissen des Kemarers unseren Weg geplant. »Wenn wir dem Fluß folgen, kommen wir noch vor dem Morgenregen bis zum Dorf der Brücken«, fuhr er fort und deutete mit seinem wurstförmigen Mittelfinger auf einen Bestimmten Punkt. »Von dort müssen wir durch die Schlucht der toten Götter, dann durch die Ebene der Flugsamen bis zum großen See. Auf der anderen Seite beginnt
Im Reich der Sonnenpflanze das Land der Unwissenden.« »Ein Boot wäre gut«, nickte ich nach denklich. »Aber wie sollen wir es den Was serfall hinunterbringen?« Otzo akzeptierte allmählich, daß ich die Gesetze des Sturmplaneten noch immer nicht durchschaute. »Die Pflanzen tragen uns über dieses Hin dernis hinweg«, versicherte er mir. Ich nahm die Erklärung hin. »Gut«, sagte ich. »Dann werden wir uns also oben am See ein Boot besorgen.« »Das hilft nicht viel«, widersprach der Kemarer geduldig. »Die Boote gehorchen nur ihrem Besitzer. Wir brauchen Samen, sonst werfen die Pflanzen uns ins Wasser zurück. Wenn es dunkel ist und die Stürme kommen, schließen sich die Wohnblüten. Dann läuft niemand mehr draußen herum. Ich werde uns alles holen, was wir brau chen.« Die Wolken wurden noch dichter, und der stetig wehende Wind nahm an Stärke zu. Um uns herum vollführten die Tiere einen höllischen Spektakel. Otzo beobachtete den Himmel sorgfältig. Endlich gab er das Zei chen zum Aufbruch. Wir tasteten uns in der bleiernen Dämme rung die Felsen hinauf. Als wir den eigentli chen Wasserfall erreichten, blieb ich ent täuscht stehen. Die glitschige Wand ragte mehr als fünfzig Meter weit vor uns auf. Sie war absolut glatt und hing nach oben leicht über. Neben uns donnerte das Wasser herab. Der Lärm machte mich fast taub. Eiskalte Gischtschwaden hüllten mich ein. Hier en dete der Weg. Erschöpft wollte ich mich auf einen Stein setzen, aber Otzo zog mich am Arm wieder hoch. Er deutete auf mich und bewegte dabei den Mund, aber ich verstand ihn nicht. Erst als er auf das Flugaggregat zeigte, begriff ich. Er hatte das Gerät von vornherein einkal kuliert. Da er immer noch Angst vor dieser unbegreiflichen Maschine hatte, ließ sich sein Gesinnungswandel nur mit dem Vor handensein des Wächters erklären, der wei ter oben die Todesschoten fütterte. Ich pack
33 te ihn am Gürtel, schaltete das Aggregat ein und stieg langsam mit dem Kemarer an der Wand auf. Wir hatten den Rand fast erreicht, da machte Otzo eine vorsichtige Bewegung. Er hatte Angst, aber das war es nicht, worauf er mich hinweisen wollte. Die Wolken standen still. Trotz des Don nerns der Wassermassen merkte ich, daß ein unheimliches Schweigen sich über das Tal legte. Hastig zerrte ich den Kemarer hinter mir her. Wir flogen über die letzten Felsen hinweg. Vor uns lag der See. Kein einziges Boot war zu sehen, und auch im Dorf regte sich nichts. Die Pflanzen standen still und regungslos da, als hätte ein Zauberer sie in steinerne Gebilde verwandelt. Ich schaltete auf Horizontalflug um, und wir rasten dem Ufer entgegen. Das Tosen blieb hinter uns zurück, und die Stille wuchs mit jedem Me ter. Otzo verkrampfte sich ängstlich. Endlich erreichten wir den Uferstreifen. Kaum spürte der Kemarer wieder festen Bo den unter den Füßen, da riß er mich mit sich nach vorn, geradewegs in das Dickicht hin ein. Ich stolperte über Wurzeln und Steine und fand mich atemlos in einer Mulde, über der sich ein dichtes Rankendach wölbte. Ein leises Seufzen ließ mich zusammen fahren. Die Ranken bewegten sich unruhig und zogen sich stärker zusammen. Otzo streckte Arme und Beine von sich und preß te sich platt an den Boden. Instinktiv tat ich es ihm gleich. Und dann begann der Sturm. Fast eine Stunde lang fegte er kreischend und heulend durch das Tal. Wir waren fast taub, total durchnäßt und bis zur Unkennt lichkeit mit Schlamm verschmiert, als das Toben endlich nachließ. Das erste Zeichen dafür, daß die größte Gefahr vorbei war, lie ferten die Ranken. Sie richteten sich lang sam wie der auf. Otzo wischte sich grinsend ein paar Dreckklumpen aus dem Gesicht. »Gleich ist es soweit«, verkündete er. »Der Wind geht jetzt nach oben. Dann star ten die Jäger. Wenig später kommt der Re gen.« Er schob die Ranken auseinander und trampelte vor mir her. Am Ufer wandte er
34 sich nach links, dem Dorf entgegen. Zwi schen dem Wasser und dem Dschungel gab es einen schmalen Streifen ohne Bewuchs. Wir kamen schnell voran und standen unter halb der ersten Brücke, als auf dem schrägen Hang weiter oben die Flugpflanzen aufstie gen. »Komm!« befahl Otzo selbstsicher. Er führte mich zu einer felsigen Stelle und zeigte mir einen Überhang. Dort sollte ich auf ihn warten. Er selbst verschwand lautlos in Richtung auf das Dorf. Kaum war er ver schwunden, da setzte der Regen ein. Das Wasser war fast lauwarm, und ich nützte die Gelegenheit, eine naturgegebene Dusche zu nehmen. Der Schlamm hatte sich überall zwischen dem tejonthischen Anzug und meinem Körper festgesetzt, brannte in den zahlreichen Abschürfungen und juckte uner träglich, sobald er zum Trocknen kam. Ich reinigte zuerst mich, dann den Anzug, zog mich in den hintersten Winkel des Über hangs zurück und schaltete die Lampe ein. Sorgfältig suchte ich einen glatten, sauberen Felsen aus, stellte den Hitzestrahler auf mi nimale Abstrahlung und erwärmte den Stein. Der Anzug, dessen Metallsegmente das Wasser ohnehin abperlen ließen, trocknete schnell. Nachdem ich meine Wunden behan delt und mich wieder angezogen hatte, fühl te ich mich wie neugeboren. Ich kaute einen Konzentratriegel, knipste die Lampe wieder aus und wartete auf Otzo. Er kam wenig später, glänzend vor Nässe, mit einem dicken Paket unter dem Arm. Umständlich wickelte er seine Beute im Schein der Lampe aus und zeigte mir ver schiedene Samen sowie ein großes Stück Fleisch. Er bot mir die Hälfte davon an, und da ich ungeheuren Hunger verspürte, beriet ich das Zeug mit Hilfe des Hitzestrahlers. Es sengte zwar an der Oberfläche etwas an, während es innen noch ziemlich blutig war, aber es schmeckte köstlich. Otzo, der es nie gewagt hatte, dieses verbotene Nahrungs mittel an den Gemeinschaftsfeuern des Dor fes zu braten, geriet in regelrechte Ver zückung. Ich mußte ihn energisch daran er-
Marianne Sydow innern, daß es Zeit zum Aufbruch war. Unterhalb unseres Verstecks bildeten ein paar Felsbrocken einen kleinen, natürlichen Hafen. Otzo zog einen faustgroßen Samen hervor, wärmte ihn behutsam zwischen sei nen großen Händen und flüsterte unver ständliches Zeug vor sich hin. Nach ein paar Minuten tauchte er das Ding, aus dem unser Boot wachsen sollte, kurz ins Wasser, wärmte und rieb es abermals ab, schmierte es mit einem süßlich duftenden Zeug ein und legte es dann direkt am Wasser auf die Steine. »Du mußt die Lampe einschalten«, sagte er leise. Es regnete immer noch, und der Wind war unangenehm frisch. Die Kemarer fühlten sich dank ihrer pflanzlichen Wächter absolut sicher in ihrem Dorf, aber ich zögerte trotz dem. Das Licht mußte weithin sichtbar sein. »Sie werden uns nicht bemerken«, be hauptete Otzo zuversichtlich. »Aber ohne Licht wächst es nicht!« Das Samenkorn spürte die Helligkeit und reagierte sofort. Eine dünne Wurzel quoll aus der dunklen Schale und verankerte das Gebilde an den Steinen. Der faustgroße Klumpen dehnte sich aus, bewegte sich ruckartig und klatschte ins Wasser. Die Schale platzte auf und gab eine zartgelbe Masse frei, die sich zu einem schalenförmi gen Blatt entfaltete. Binnen Minuten lief vor meinen Augen ein Wachstumsprozeß ab, der unter normalen Umständen Tage in An spruch genommen hätte. Otzo wies strahlend auf das fertige Boot, das zwar in seinen For men ungewohnt war, dafür aber einige Vor teile hatte, die sich sonst nur durch den Ein satz raffinierter Technik erreichen ließen. Die Schwimmpflanze reagierte auf unser Gewicht, indem sie ein paar Körperkam mern mit Luft füllte. Otzo klopfte sanft ge gen eine Verdickung am Bug, und gehorsam setzte unser Boot sich in Bewegung. Als wir die letzte Brücke hinter uns ließen und auf den See hinaustrieben, hörte es auf zu reg nen. Die Wolken rissen auf und gaben den Blick auf ein paar helle Sterne frei. Ich starr
Im Reich der Sonnenpflanze te hinauf und überlegte, wo in diesem frem den Raum die Eisige Sphäre liegen mochte. Würden wir sie je erreichen? Und was war inzwischen im Makrokosmos geschehen? Wo mochte Fartuloon jetzt sein? Das Tosen des Wasserfalls kam näher, und ich verdrängte die Erinnerungen, die mich in dieser feindlichen Umwelt nur be hindern konnten. Otzo steuerte die Pflanze geschickt und sicher. Wir fuhren am Rand der gefährlichen Strömung entlang, erreichten dann eine fel sige Durchfahrt und wurden von weichen Ranken eingefangen. Lautlos hob sich die Schwimmpflanze, verankerte sich mit ihren Treibwurzeln im Geflecht der Ranken, es schwankte, rüttelte und schüttelte, und dann ging die Fahrt steil nach unten, vorbei an Felsen, die von leuchtenden Schimmelrasen überkrustet waren, an riesigen, gummiähnli chen Stämmen entlang, von denen uns rot glühende Blüten entgegenzüngelten, und durch Wolken fremdartiger Gerüche, die mir fast die Besinnung nahmen. Bleiche Tiere kletterten in Greifweite durch die Ranken, aber keines kam unserem seltsamen Boot zu nahe – die Wurzeln der Schwimmpflanze waren auch zum Beutefang geeignet. End lich gurgelte es unter uns, die Ranken setz ten uns auf der Oberfläche des immer noch schaumbedeckten Wassers ab und zogen sich raschelnd zurück, um auf den nächsten Passagier zu warten, der sich von ihnen über die gefahrvolle Strecke transportieren lassen wollte. Die Pflanze ließ sich von Otzo ihre An weisungen geben und folgte der Strömung. Gleichzeitig zogen sich die Bordwände nach oben, wölbten sich und bildeten über uns ein schützendes Dach. »Jetzt können wir schlafen«, erklärte Otzo gelassen. »Die Pflanze kennt unseren Weg. Sie wird uns immer in der Strömung halten und dabei aufpassen, daß wir nicht gegen die Felsen treiben. Bis zum Dorf der Brücken ist es noch ein gutes Stück, und wenn der Mor gen kommt, werde ich dich wecken.« Der »Boden« des Bootes war angenehm
35 warm und weich. Er paßte sich elastisch meinem Körper an, als ich mich ausstreckte. Eingehüllt von diesem fremdartigen Ge wächs, das uns von der feindlichen Umwelt des Sturmplaneten abschirmte, schlief ich tief und traumlos.
* Wir passierten das Dorf der Brücken noch im Morgengrauen, und außer den ungeheuer breiten, zahlreichen Pflanzensträngen, die das ganze Tal überspannten und diesem Ort seinen Namen gegeben hatten, bekam ich von der Siedlung nichts zu sehen. Weiter un ten schaukelte die Pflanze durch die tücki schen Strudel einer Felsenge, und als wir diesen unangenehmen Ort mit seinen Strom schnellen und scharfen Klip pen hinter uns gelassen hatten, gelangten wir in einen tie fen Kessel, umgeben von hohen Felswän den, an denen weiße Wurzelgespinste hin gen. Ab und zu zuckten glitzernde Fäden aus ihnen hervor, reichten bis zum Wasser herab und tauchten zwischen die zusammengetrie benen Pflanzenteile an strömungsarmen Stellen. Otzo beobachtete besorgt die Wasserober fläche. Unsere Schwimmpflanze hatte es ei lig, aus dem beinahe strömungsfreien Kessel zu entkommen. Die Tiere, die sich von dem hier landenden Strandgut der überreichli chen Vegetation ernährten, machten auch vor den Pflanzenbooten nicht halt. Einmal erblickte ich ein paar Meter vor uns einen dunklen Schatten im Wasser. Ich griff nach dem Strahler, aber das Tier war bereits ver schwunden. Unter meinen Füßen gurgelte es. Blasen perlten am Rand des Bootes auf, dann er höhte sich unsere Geschwindigkeit. Wir trie ben direkt auf die Felswand zu, und dort sammelten sich die Wurzelgebilde zu dich ten Klumpen. »Sie warten auf uns«, wisperte Otzo ner vös. Die Tiere bemerkten das Manöver und verließen fluchtartig die Nähe der schmalen
36 Durchfahrt. Damit wareji wir wenigstens diese Sorge los. Aber die Wurzelbüsche wa ren auch nicht zu unterschätzen. Sie schick ten schon jetzt ihre Fangarme auf Wartepo sition. »Denen werde ich die Suppe versalzen«, murmelte ich und zielte sorgfältig. Der erste Schuß aus dem Desintegrator beseitigte den untersten Busch. Zwei andere Wurzelwesen, die den Rivalen hart bedrängt hatten, verlo ren den Halt und stürzten ins Wasser. Sie gingen sofort unter. Aber die weißen Ge spinste rückten nach und bildeten im Handumdrehen wieder einen geschlossenen Wall. Ich schaltete auf stärkere Fächerung und bestrich systematisch die unmittelbare Umgebung »Los!« rief ich, aber der Kema rer hatte schon begriffen, worum es ging. Er spornte das Boot an, und die Pflanze, die die Nähe der Gefahr spürte, aktivierte ihre letz ten Reserven. Der plötzliche Ruck riß mich fast von den Beinen. Wir schossen in die Durchfahrt hinein. Über mir huschte etwas Weißes vorüber, dann glitzerte einer der tückischen Fangarme in der Luft. Ehe das hakenbewehrte Ende sich in das Heck der Schwimmpflanze senken konnte, verging das Wurzelgespinst in dem blassen Desinte gratorstrahl. Der nächste Angreifer vergaß in der Eile, sich ausreichend abzusichern. Er klatschte wenige Meter hinter uns ins Was ser. Dann erfaßte uns die Strömung wieder, die Schlucht wurde breiter, und die Wurzeln kamen außer Sichtweite. Ich wischte mir die Wassertropfen aus dem Gesicht und sah mich nach Otzo um. Der Kemarer lachte schnarrend. »Die toten Götter hatten kein Glück«, kommentierte er trocken. »Wie kommen die Händler durch diese Schlucht?« fragte ich verwundert. »Oder gibt es noch andere Wege?« »Der größte Teil des Wassers fließt durch eine sehr lange Höhle«, stimmte Otzo zu. »Unsere Vorfahren haben diesen Kanal mit Hilfe der Bohrpflanzen geschaffen. Er be ginnt beim Dorf der Brücken und endet erst am Rand der Ebene. Aber die Höhle muß
Marianne Sydow ständig überwacht werden, und darum müs sen die Händler die Durchfahrt bezahlen. Sie tun das gerne, denn die toten Götter haben schon viele Opfer verlangt.« »Wir hätten die Durchfahrt doch auch be zahlen können«, wandte ich ein. Die Zeit war knapp, und ich wollte mich keineswegs auf über flüssige Abenteuer einlassen. Hätte Otzo mich früh genug über die Eigenschaf ten der Gespinste aufgeklärt, so hätte ich auch früher eingegriffen, und diese kritische Situation wäre gar nicht erst entstanden. »Neuigkeiten reisen schnell in diesem Dschungel«, klärte der Kemarer mich gelas sen auf. »Im Dorf der Brücken weiß man längst, daß wir diesen Weg nehmen. Man wird am Höhleneingang auf uns warten. Niemand kann ernsthaft damit rechnen, daß wir diese Schlucht lebend verlassen m ha ben. Sie werden denken, wir hätten entweder aufgegeben oder den Landweg genommen. Seit langer Zeit war kein Kemarer verrückt genug, die Schlucht der toten Götter zu durchfahren.« Er mauserte sich! Die Felswände zu unseren Seiten wurden niedriger, und auch die Strömung ließ nach. Die Schwimmpflanze wurde nun wieder oh ne Otzos Hilfe fertig. Wir frühstückten, und dann kam schon wieder der Morgenregen, der mit sintflutartiger Gewalt herabprasselte. Wir merkten nicht viel davon, denn unser gehorsames Boot bildete rechtzeitig ein Schutzdach aus. Der Wolkenbruch ging in einen regelrech ten Landregen über. Die Felsen verschwan den und machten einem Wall aus Pflanzen Platz. Wir hatten die Ebene der Flugsamen erreicht. Die Ebene war ziemlich dicht besiedelt. Ein ziemlich genau gleichschenkliges Drei eck, von zwei Seiten durch die Felsen einge schlossen, am Ende durch den großen See begrenzt, angefüllt mit fruchtbarer Schwem merde und von zahlreichen Wasserläufen durchzogen – ein idealeres Gebiet ließ sich kaum finden. Immer wieder kamen wir an Dörfern vorüber, und unter den tiefhängen
Im Reich der Sonnenpflanze den Wolken trieben zahlreiche Flugpflan zen, die hier zu Transportzwecken eingesetzt wurden. Auf Otzos Befehl hin ließ unser Boot einen Teil des Schutzdachs bestehen, und ich hielt mich hauptsächlich darunter auf, um möglichst wenig Aufmerksamkeit zu erregen. Die Quezaren wissen trotzdem, wo du dich befindest, behauptete der Extrasinn. Diese Pflanzen stehen alle untereinander in Verbindung, und die Zerstörung, die du un ter den Wurzelgespinsten angerichtet hast, ist sicher nicht unbemerkt geblieben. Das klang wahrscheinlich, aber ich ver hielt mich weiterhin vorsichtig. Nach einiger Zeit gab es auf dem ständig breiter werdenden Fluß so viele Pflanzenboote, daß es sinnlos war, jedem einzelnen auszuweichen. Ich verbarg mich also unter dem Dach und überließ es Otzo, die seltenen Unterhaltun gen mit den Händlern zu führen. Gegen Abend erreichten wir einen großen See, über dem sich düstere Wolken ballten. Das Boot verankerte sich in den letzten Uferpflanzen und schloß uns ein. In der relativen Gebor genheit warteten wir den Sturm ab, der bis zum Einbruch der Dunkelheit tobte. Erst dann begann der vorletzte Abschnitt unserer Fahrt. Während der Kemarer aufmerksam den Himmel beobachtete, kämpfte sich die Schwimmpflanze durch die Wellen. Das Wasser stank nach verwesenden Stoffen al ler Art. Ab uns zu tauchten schemenhaft die Rücken riesiger Wassertiere in unserer Nähe auf, aber sie kümmerten sich nicht ums uns. Das Ufer kam näher, und zwischen den schwarzen Felsmassen tauchten grünlich schimmernde Punkte auf. »Die Dörfer der Unwissenden«, flüsterte Otzo nervös. »Sie bewachen die Küste. Einen Hafen dürfen wir natürlich nicht an laufen. Du solltest deine Waffen jetzt nicht mehr aus der Hand legen.« Ich überzeugte mich davon, daß die drei Strahler, die ich aus der Doppelpyramide mitgenommen hatte, entsichert und einsatz bereit waren. Die Kontrollen zeigten mir, daß ich über genug Energiereserven verfüg
37 te. Angespannt starrte ich auf die ölig schwarze Wasserfläche, auf der sich nur die schwachen Reflexe der fernen Sterne bra chen. Ein leises Plätschern ließ mich zusam menzucken. Es kam von rechts, und auch Otzo hatte es bemerkt. Wir saßen dicht ne beneinander im Bug der Pflanze. Das Plät schern kam wieder, dann ein Geräusch, das sich wie viele große, zerplatzende Luftbla sen anhörte. Der Kemarer packte mich am Arm. »Khatan!« hauchte er in seiner kehligen, grunzenden Sprache. Das Blubbern wurde lauter und näherte sich uns beängstigend rasch. Ich sah vorläu fig noch gar nichts, spürte aber, wie unser Boot sich krampfhaft bemühte, seine Ge schwindigkeit zu erhöhen. Ich hob die Waf fe, zielte auf die Wasseroberfläche und war tete darauf, daß unser Gegner sich zeigte. Als es soweit war, hätte ich trotzdem fast zu spät reagiert. Eine riesige Blase wölbte sich vor uns auf. Das Wasser floß rauschend ab, und eine Welle warf uns mitsamt dem Boot ruckartig nach oben. Ich fiel nach hinten und erblickte ein paar Meter über mir einen dunklen Schatten. Instinktiv schoß ich. Der blasse Energiestrahl erfaßte ein tentakelähnliches Gebilde von mindestens zwei Metern Durchmesser. Das Wesen, das diesen Ab schnitt der Ufergewässer bewachte, war da mit zwar um einen Tentakel ärmer, aber noch lange nicht wehrlos. Ein plötzlicher Sog änderte unsere Fahrtrichtung und riß uns auf die Blase zu, die sich wie ein Ballon über uns erhob. Wir rasten auf eine schwan kende, blubbernde Wand zu, in der sich un ter wilden Zuckungen eine Öffnung bildete. Otzo schrie irgend etwas, aber ich ver stand kein Wort. Wie von selbst stellten die Finger meiner linken Hand den Desintegra tor auf Dauerfeuer, während ich mit der Rechten den Hitzestrahler auf das Blasenge schöpf richtete. Nein! Der scharfe Impuls des Logiksektors kam
38 zu spät. Die grellweiße Energiebahn durch bohrte den ungeheuren Körper. Während dieser seltsame Wächter auf die Verletzun gen, die ich ihm mit dem Desintegrator zu gefügt hatte, kaum reagierte, teilte sich der Schmerz der schweren Verbrennungen je nem Teil des Körpers mit, der unter Wasser geblieben war. Und das war bedauerlicher weise weit mehr, als ich mir hätte vorstellen können. Das Wasser schien zu kochen. Unser Boot hing plötzlich in der Luft und krachte dann schwer auf die Oberfläche zurück. Ein wur zelähnliches Gebilde nahm es in Empfang und schleuderte es genau auf die Stelle zu, an der eben die Blase unter wildem Zischen und Blubbern versank. Der Strudel erfaßte uns, wirbelte uns im Kreis herum, bis wir kaum noch wußten, wo oben und unten war, dann hieb etwas wie mit Knüppeln auf das Pflanzenboot ein. Die Schwimmpflanze kämpfte verzweifelt, um sich zu befreien, Otzo schrie unverständliches Zeug in die Nacht und zog an allen möglichen Aus wüchsen unseres lebenden Transportmittels. Es war sinnlos, denn das Boot konnte nicht mehr reagieren. Direkt neben mir löste ein Teil der Bord wand sich auf. Statt dessen erschien ein blasses, schleimiges Ding, das sich zielstre big dem Nervenzentrum der Pflanze entge genfraß. Das Fluggerät! Der scharfe Impuls des Logiksektors ließ mich zusammenfahren. Mit einem Griff hat te ich Otzos Gürtel erwischt, gleichzeitig schlug ich den Hebel herunter. Wir schossen nach oben, wo die durch die Luft peitschen den Tentakel uns bereits erwarteten. Ich mußte den Kemarer festhalten, der vor Schreck und Angst wie von Sinnen war, und außerdem einen gefährlichen Zickzackkurs zwischen den Ausläufern des Wächters hin durchsteuern. Trotzdem fand ich ab und zu noch Zeit, einen Schuß abzugeben. Unter uns versank das Pflanzenboot, tödlich ver letzt und fast völlig von den weißlichen Freßorganen des Blasenwesens bedeckt. Im-
Marianne Sydow mer wieder schnellten sich Fangarme zu uns hinauf, und ich begann mich zu fragen, ob dieses irrsinnige Geschöpf den ganzen See ausfüllte. Otzo konnte ich danach nicht fra gen, denn der hatte sich längst in seine Schreckstarre zurückgezogen und ließ sich willenlos davonschleppen. Vor mir wuchsen die Felsen zu einer Wand zusammen, die bis in den Himmel zu reichen schien. Nirgends gab es eine Stelle, an der ich landen konnte. Mühsam trug das Fluggerät uns in größere Höhe, wo uns die Tentakel nicht mehr errei chen konnten. Nachdem ich diese Sorge los war, suchte ich intensiv die Felswand ab. Es gab dort nichts, was eine Beachtung wert schien. Eine glatte, steinerne Fläche oh ne jede Unterbrechung. Vorsichtshalber ließ ich die Handlampe aufblitzen, denn ich hoff te, doch irgendeinen Vorsprung zu en decken, an dem ich solange verweilen konn te, bis Otzo sich halbwegs beruhigt hatte. Ich erzielte genau den entgegengesetzten Erfolg. Das kurze Aufblinken der Lampe erweck te die scheinbar tote Wand zu gespensti schem Leben. Aus dem glatten Gestein wuchsen weiße Arme hervor, die nach uns griffen, Öffnungen von der Größe einer Schiffsschleuse taten sich auf. Bestialischer Gestank schlug mir entgegen, aber darauf achtete ich kaum. Ich kannte nur einen Ge danken: Weg von diesem teuflischen Ort. Das Fluggerät war bis zur Grenze seiner Leistungsfähigkeit beansprucht, aber ich jagte es unerbitterlich weiter hoch, gleich zeitig wieder auf den See hinaus. Otzo hing als zentnerschweres Gewicht an meinem rechten Arm, und ich spürte, wie meine Kraft erlahmte. Ich konnte ihn nicht mehr lange halten! Ich verrenkte mir fast die Schultern, ehe ich Otzo endlich mit beiden Händen zu packen bekam. Wir hingen jetzt regungslos in fast einhundert Metern Höhe über dem Wasserspiegel. Die Felswand war etwa ebensoweit von uns entfernt, und doch er kannte ich in gefährlicher Nähe die letzten Ausläufer jener Wesen, die dort auf uns lau
Im Reich der Sonnenpflanze erten. Es schien sich um enge Verwandte je ner »Toten Götter« aus der Schlucht zu han deln. An dieser Wand jedenfalls gab es kei nen Zufluchtsort. Otzo hatte seinen Mut restlos verloren. Ich schüttelte ihn, schrie ihn an, versuchte auch, vernünftig mit ihm zu reden, aber er reagierte nicht. Erst als ich ihm drohte, ihn fallen zu lassen, hob er vorsichtig einen Arm und öffnete die Augen. Er warf einen Blick nach unten und stieß einen entsetzten Laut hervor. Seine Beine schnellten hoch und packten mich um die Hüften, während seine Arme meine Schultern umklammerten. Ich durfte endlich loslassen, aber als ich es tat, wurde seine Umklammerung noch stärker, denn er fürchtete allen Ernstes, ich würde meine Drohung nun in die Tat umsetzen. Eine halbe Stunde später landeten wir jen seits der Felsbarriere auf einem Geröllfeld, das wenigstens auf den ersten Blick friedlich wirkte. Nur mit Mühe konnte ich den Kema rer davon überzeugen, daß die Gefahr vor über war. Als er mich losließ, plumpste ich haltlos auf den steinigen Boden, denn die Blutzufuhr zu meinen Beinen war zu lange abgeschnürt gewesen. Ängstlich grunzend sah Otzo zu, wie ich meine Beine massierte und anschließend einen wahren Kriegstanz aufführte. »Wie kommen wir zu den Quezaren?« fragte ich meinen Begleiter, als ich die Fol gen dieser Rettungsaktion einigermaßen überwunden hatte. »Ich weiß es nicht« murmelte er hilflos. »Aber du hast mir doch erzählt, daß wir durch das Land der Unwissenden gehen müssen, um diese Sonnenpflanze zu errei chen.« Hör auf, meldete sich der Extrasinn. Er konnte dir diese Auskunft geben, weil er die entsprechenden Gerüchte gehört hat. Er hat dir aber auch deutlich genug klargemacht, daß noch niemand konkrete Berichte über dieses Gebiet bis zu seinem Stamm gebracht hat Er weiß nichts! Aber es kann Ewigkeiten dauern, bis ich dieses verflixte Tal finde, gab ich zurück. In
39 dieser Wildnis … Es gibt Kemarer, die den Weg kennen, wurde ich von der lautlosen Stimme unter brochen. Sie haben Crysalgira an das Ziel gebracht, und sie werden dasselbe auch mit dir tun. Meine Blicke gingen automatisch zu ei nem der grünlich leuchtenden Lichtflecken hinüber. Das Dorf der Unwissenden mochte etwa zehn Kilometer entfernt liegen. Ich verfluchte den Moment, in dem ich mich ge gen eine Rückkehr ins Raumschiff entschie den hatte. Aber jetzt war es zu spät, um noch umzukehren. Für die Arkonidin mochte jede Sekunde wichtig sein. Und was wird mit Otzo? Gib ihm die Lampe. Er soll sie einschal ten, wenn ihr in der Siedlung ankommt. Zu sagen, daß der Kemarer diesen Ent schluß mit Skepsis aufnahm, wäre eine gren zenlose Untertreibung. Er wehrte sich mit Händen und Füßen gegen die Zumutung, sich freiwillig in die Hand des Gegners zu begeben. Selbst der Hinweis auf die Waffen, die ich zum Einsatz bringen konnte, beru higte ihn nicht. »Laß uns umkehren«, bettelte er. »Das Mädchen kannst du nicht mehr retten, sie ist auf jeden Fall verloren. Das Khatan war nur ein kleiner Wächter. Das Reich der Queza ren ist umgeben von Fallenpflanzen aller Art. Überall lauern die Kampfsamen. Dort kommst du auch mit deinen Waffen nicht durch!« »Uns bleibt gar nichts anderes übrig«, sagte ich ärgerlich. »Das Boot haben wir verloren. Stehlen können wir keines, weil es uns nicht gehorchen würde. Und wo willst du dir hier neuen Samen besorgen? Wir kön nen nur die Flucht nach vorne antreten. Oder hast du Lust, durch das Reich des Khatans zu schwimmen?« »Du könntest uns mit dem Fluggerät ans andere Ufer bringen«, schlug Otzo hoff nungsvoll vor. »Dort wäre es leicht, irgend ein Transportmittel zu finden.« »Die Maschine kann uns beide nicht über eine so große Entfernung tragen«, erklärte
40 ich, und das war nicht einmal gelogen. Ir gend etwas war mit dem Gerät nicht mehr in Ordnung. Ich hatte keine Ahnung, warum die Kapazität ständig sank, und ich hegte auch nicht die Hoffnung, es herauszufinden. »Dann sind wir verloren«, behauptete der Kemarer dumpf. »Unsinn!« fuhr ich ihn an. »Wir müssen lediglich zu den Quezaren gelangen. Sind wir erst einmal dort angelangt, dann wird mir schon etwas einfallen. Vielleicht lassen sie mit sich handeln. Es muß doch etwas ge ben, wofür sie das Mädchen eintauschen. Dann sichern wir uns freien Rückzug, und das Problem ist gelöst.« »Ein geweihtes Opfer darf nicht verkauft werden. Das wäre gegen die Interessen der Einheit!« »Dann werde ich sie zwingen!« »Gegen die Quezaren kann man nicht kämpfen«, beharrte Otzo stur auf seiner Meinung. »Sie stehen unter dem Schutz der Sonnenpflanze. Wer sich gegen sie stellt, der stirbt. Es gibt keinen anderen Weg.« »Gut«, nickte ich grimmig. »Und was willst du tun? Hier sitzen und warten, bis ein Wunder geschieht?« »Ich habe mich gegen die Einheit ge stellt«, murmelte Otzo in stumpfer Ergeben heit. »Das ist die Strafe.« Als er sich zur Bekräftigung dieser Worte auf den Steinen zusammenkauerte, riß mir die Geduld. Ich packte ihn und rollte ihn herum. Er ließ es willenlos zu, daß ich eine dünne, feste Schnur durch seinen Gürtel zog. Die einzige Reaktion darauf, daß wir starte ten, bestand darin, daß er sich wieder in eine lebende Kugel verwandelte. Besorgt beobachtete ich die Anzeigen des Fluggeräts. Noch trug es uns, aber die Lei stung sank stetig. Wenigstens hatte ich dies mal beide Hände frei. Der Lichtfleck wurde größer, und ich erkannte die Umrisse einer Siedlung, deren Häuser erstaunlicherweise nicht von lebenden Pflanzen gebildet wur den. Es waren ganz normale Hütten, mit Mauern aus grob behauenen Steinen und weit überhängenden Dächern, Es war kein
Marianne Sydow Dorf, eher schon eine kleine Stadt. Enge, schmutzige Straßen verbanden die Häuser miteinander. In regelmäßigen Abständen ragten lange, dünne Stangen aus dem Boden, von deren Spitzen dieses geisterhaft grüne Licht ausging. Die Hütten bildeten einen mehrfach gestaffelten Kreis. Auf dem Platz im Zentrum brannte ein Feuer, das von Ke marern umlagert wurde. Der Geruch nach gebratenem Fleisch wehte zu mir herüber. Wir landeten direkt neben dem Feuer, mitten zwischen den »Unwissenden«, die gerade dabei waren, eine kräftige Mahlzeit zu sich zu nehmen.
6. Totenstille umgab uns. Otzo lag zusam mengerollt auf dem Boden, immer noch durch das Seil mit mir verbunden. Ich hielt die eine Hand am Schalter des Fluggeräts, die andere lag auf dem Griff des Paralysa tors. Ein Eingeborener sprang plötzlich auf. Als wäre das das Signal, das auch die ande ren aus ihrer Starre erlöste, wichen die Ke marer zurück. Ein paar Kinder und Frauen rannten in wilder Hast in den Schutz der Hütten, und auch ein Teil der Männer zog sich vorsichtig zurück. Ich verhielt mich still und wartete ab. Es dauerte nur wenige Se kunden, dann hatten die »Unwissenden« den ersten Schock überstanden. Aus einer Gasse drangen knurrende Stimmen, der Ring der Eingeborenen öffnete sich. Vor mir standen zwölf bewaffnete Kemarer. Sie waren grö ßer als die anderen, und ihre einheitliche Be kleidung, die aus mattbraunen Umhängen bestand, deutete darauf hin, daß es sich um eine Art Ordnungstrupp handelte. »Wo ist dein Ballon?« fragte mich der Anführer dieser Gruppe mißtrauisch. »Ich habe keinen«, erwiderte ich ruhig. »Die Leute sagten, du bist aus der Luft gekommen. Also mußt du einen Ballon ha ben.« »Ich brauche keinen«, lächelte ich amü siert. »Dieses Gerät hier trägt mich durch die
Im Reich der Sonnenpflanze Luft.« Der Kemarer musterte mich ausdruckslos, dann gab er seinen Leuten ein kurzes Hand zeichen. Die funkelnden Spitzen der Speere richteten sich auf mich. »Zeige es uns!« befahl er mir. »Aber hüte dich davor, eine falsche Bewegung zu ma chen.« Ein leises Raunen ging durch die Menge, als ich langsam zu steigen begann. Ich hielt in drei Metern Höhe und sank dann langsam wieder herab. »Glaubst du mir jetzt?« fragte ich den Uniformierten. Er gab ein Zeichen der Zustimmung, dann bellte er einen Befehl. Das kurze Wort stell te den Translator vor ein Problem, aber die Ungewißheit darüber, was der Bursche be absichtigte, dauerte nur Sekunden. Dann er schien ein junger Kemarer, der ein heißes Stück Fleisch herbeibrachte. Beim Anblick des Bratens lief mir das Wasser im Mund zusammen. »Das ist ein Stück von einem Tier«, er klärte der Sprecher der Gruppe. »Wir haben dieses Tier gejagt und getötet, es über dem Feuer gebraten und das Fleisch gegessen. Dieses Stück ist für dich. Iß!« Ein Test, meldete sich der Logiksektor. Sie sind gegen die Pflanzen. Das habe ich auch schon gemerkt, du Schlaumeier! dachte ich ironisch zurück und nahm dem Kemarer den Bratenspieß aus der Hand. Ich wurde aufmerksam beobachtet. Das Fleisch schmeckte nicht schlecht, es fehlte nur noch etwas Salz. Ein leises Grun zen ließ mich zu Otzo hinübersehen. Der Kemarer hatte einen Arm angehoben und starrte wie hypnotisiert auf den Braten. Ich grinste, zog das Messer und schnitt ein Stück Fleisch ab. Für den Fall, daß dies eine Henkersmahlzeit sein sollte, wollte ich dem armen Kerl seinen Anteil nicht vorenthalten. Otzo sprang wie der Blitz auf, riß das Fleisch an sich und stopfte sich gierig den Mund voll. »Vielen Dank«, wandte ich mich an den Uniformierten. »Die Bewirtung gefällt mir.
41 Was kommt jetzt?« Der Kemarer zeigte sich unbeeindruckt. Und die Speere blieben auch immer noch auf uns gerichtet. »Wie seid ihr über den See gekommen?« »In einem Boot.« »Einer Pflanze?« »Kennst du ein anderes Transportmittel, daß sich auf der anderen Seite besorgen läßt?« fragte ich achselzuckend zurück. »Nein. Aber die Khatans sind auf die Schwimmpflanzen dressiert. Sie hätten euch niemals durchgelassen. Also lügst du.« »Du bist sehr leichtsinnig mit deinen Schlußfolgerungen«, sagte ich bedächtig. »Wir wurden angegriffen, das ist richtig. Ein Wesen von ungeheurer Größe, das wie eine Blase aussieht und eine Menge Fangarme besitzt. Ich nehme an, daß es das war, was du Khatan nennst. Es fraß unser Boot, aber wir konnten mit Hilfe der Flugmaschine ent kommen. Außer dem haben wir es wohl ziemlich arg zugerichtet. Es wird eine Weile brauchen, um sich zu erholen.« »Du hast nicht einmal einen Speer«, wehrte der Kemarer verächtlich ab. »Und dein Messer ist gut, aber gegen einen sol chen Gegner nicht besser als die bloße Hand.« »Es gibt wirksamere Waffen«, entgegnete ich geduldig. »Dann sprichst du von Dingen, die wir nicht kennen.« »Du hast es erfaßt«, grinste ich freund lich. »Zeige mir etwas, durch dessen Zerstö rung niemand gefährdet wird, und ich werde dir vorführen, wie es dem Khatan erging.« Er überlegte, beriet sich leise mit seinen Begleitern und schickte dann den einen fort. Die anderen trieben inzwischen die Kemarer auseinander, die neugierig herumstanden und auf den Ausgang dieses ungewöhnli chen Ereignisses warteten. Trotz der deut lich zur Schau gestellten Feindseligkeit wa ren mir diese »Unwissenden« sympathischer als alle anderen Kemarer, die ich bisher ken nengelernt hatte – Otzo vielleicht ausgenom men. Die Bewohner dieses Dorfes wirkten
42 lebendiger und intelligenter als ihre Artge nossen, die sich ausschließlich den Pflanzen unterordneten. Endlich waren die nötigen Vorbereitun gen getroffen. Der Kemarer im braunen Um hang deutete auf einen etwa kopfgroßen Stein, der am entgegengesetzten Ende des Platzes lag. Die Entfernung betrug rund fünfzig Meter. Er hob wortlos seinen Speer und schleuderte ihn am lodernden Feuer vor bei. Die Waffe blieb kaum eine Handbreit von dem Stein entfernt im Boden stecken. »Jetzt du!« befahl er. Ich kam mir ziemlich merkwürdig vor. Diesen technisch kaum entwickelten Wilden eine Vorführung zu geben, noch dazu unter den gegebenen Umständen, war absurd. Aber ich mußte sie überzeugen. Wovon eigentlich? wollte das Extrahirn spöttisch wissen. Ich ignorierte die Frage. Mit der rechten Hand den Desintegrator ziehen, im gleichen Bewegungsablauf mit dem kleinen Finger die Randeischraube auf den Anschlag zurück, damit der Strahl die schärfste Bündelung erhält, zielen nicht län ger als eine Zehntelsekunde – und dann ab drücken. Das Ganze gleichzeitig links mit dem Hitzestrahler, wobei dort die Manipula tionen etwas abweichen. Ich fühlte mich wie auf dem Schießstand in unserem Stützpunkt auf Kraumon und glaubte beinahe, Fartulo ons bissige Zwischenbemerkungen zu hören. Für die Kemarer war nur der Speer zu se hen, der plötzlich aufloderte. Der Stein rühr te sich nicht von der Stelle. »Geh hin und sieh nach.« »Der Speer brennt!« stieß der Eingebore ne verblüfft hervor. »Ich meine nicht den Speer, sondern den Stein«, erklärte ich gelassen. »Er hat ein Loch in der Mitte.« Irgend jemand rannte los, duckte sich kurz vor den Flammen, die nun langsam in sich zusammenfielen, und schleppte dann den Stein herbei. Er wurde von allen Seiten betrachtet und weitergereicht. Ich wartete abermals. Endlich kam der Anführer zu mir zurück.
Marianne Sydow »Du bist ein mächtiger Mann«, sagte er langsam. »Deine Waffen sind uns unbe kannt. Was willst du bei uns?« Da hast du es! Sie hatten Angst vor mir. Sie wußten jetzt, daß sie mich nicht gegen meinen Wil len festhalten konnten, und sie würden sich hüten, einen solchen Versuch zu wagen. Ich hatte sie überzeugt, nur leider in der falschen Richtung. Ihnen wäre es am liebsten gewe sen, wenn ich mich ebenso überraschend wieder entfernte, wie ich gekommen war. Ich mußte umschalten, und das schnell! »Ich suche den Weg in das Tal der Son nenpflanze«, begann ich vorsichtig. »Es heißt, daß ihr die Richtung kennt, die ich einschlagen muß.« »Du willst zu den Quezaren?« Schlagartig war es still um uns her. Fas sungslos starrten die Kemarer mich an. »Ein Händler hat eine Gefangene zu ihnen gebracht«, erklärte ich. »Sie soll der Son nenpflanze als Opfer dargebracht werden. Das muß ich verhindern. Es ist ein Mädchen aus meinem Volk. Werdet ihr mir den Weg zeigen?« Er blickte mich lange Zeit mit seinen win zigen, starren Augen an, dann gab er ein kaum sichtbares Zeichen. Die Speere wur den gesenkt. »Du mußt aus einem sehr fremden Land kommen, Fremder«, sagte er ernst. »Ich ha be niemals jemanden wie dich gesehen. Kennt man bei deinem Volk auch das Ge setz der Gastfreundschaft?« Auch das war ein gravierender Unter schied zwischen den »Unwissenden« und dem Rest der Kemarer. Dort hatte man von diesem Begriff anscheinend noch niemals etwas gehört. Ich steckte demonstrativ mei ne Waffen weg, dann bejahte ich die Frage. »Was ist mit ihm?« wollte der Anführer wissen und deutete auf Otzo, der immer wie der zum Feuer schielte, wo noch einige be achtliche Bratenstücke über den Flammen brutzelten. »Ich kann für mich selbst sprechen«, mischte Otzo sich ein, als ich eben zu einer
Im Reich der Sonnenpflanze Erklärung ansetzte. Er schilderte die Um stände, unter denen er auf mich getroffen war, und er verzichtete sogar darauf, seine eigenen Verdienste herauszustreichen. Statt dessen sprach er über mich in einer Weise, die mich in den Augen der »Unwissenden« als schier unbesiegbarer Held dastehen ließ. »Mir gefällt es in eurer Stadt«, sagte er zum Schluß. »Ich wollte, ich könnte zu euch gehören.« Den Dorfbewohnern gefiel das. Einige Kemarer stießen erfreute Laute aus und zo gen Otzo in Richtung auf das Feuer davon. Auch ich wurde eingeladen, dort Platz zu nehmen, und obwohl ich todmüde war, wag te ich es nicht, die freundlich gemeinte Auf forderung abzulehnen. Der Kemarer mit dem braunen Umhang hieß Verro und war so etwas wie ein Häupt ling. Er hockte breit und massig neben mir. »Wie kommt es eigentlich, daß ihr nicht von den Pflanzen abhängig seid?« fragte ich ihn. »Wir leben im Reich der Wurzeln«, er klärte er. Er nahm einen leeren Bratenspieß und zeichnete damit einen großen Kreis auf den Boden. »Dort im Mittelpunkt ist das Tal der Son nenpflanze«, sagte er und stach ein Loch in den Sand. »Die Quezaren bewohnen das Ge biet, in dem die Pflanze über der Erde exi stiert. Dann kommt der Ring der Unwissen den, wie die anderen Stämme uns nennen. Hier gehen die Wurzeln tief unter dem Bo den entlang, kommen jenseits einer be stimmten Grenze wieder zum Vorschein und sichern dort die Zusammenarbeit aller ande ren Pflanzen. Bei uns gedeihen diese Ge wächse nicht. Wir hatten es niemals so be quem wie die anderen.« »Das muß nicht unbedingt ein Nachteil sein«, murmelte ich. Verro verzog sein ledernes Gesicht zu ei nem Grinsen. »Es wäre sogar ein großer Vorteil, wenn eben nicht durch die Sonnenpflanze alle Länder um uns herum beherrscht würden«, stimmte er zu. »Wir haben bessere Waffen,
43 sind kräftiger als die Sklaven der Pflanze, und wir besitzen einige technische Kenntnis se. Die anderen Kemarer wagen es nicht, das Fleisch der Tiere zu essen, sondern füttern die Gewächse damit, in der Hoffnung, von ihnen Nahrung zu erhalten. Das klappt auch wunderbar, nur sehen die anderen Stämme nicht ein, daß sie sich in eine gefährliche Abhängigkeit begeben.« »Warum zeigt ihr ihnen nicht, daß es auch anders geht?« »Wir können diesen ringförmigen Land streifen nicht verlassen. Sobald wir in die Nähe der beeinflußten Pflanzen kommen, steht der gesamte Wald gegen uns. Wir sind tapfere Kämpfer, aber du hast das Khatan selbst kennengelernt. Es war nur eines von vielen hundert. Und es gibt noch gefährli chere Gewächse.« »Ihr könntet die Sonnenpflanze zerstö ren«, schlug ich vor. »Du wirst sie bald sehen«, erwiderte er grimmig. »Und dann wirst du auch begrei fen, daß das unmöglich ist.« Misch dich nicht ein! befahl das Extrahirn eisig. Es geht nicht nur um ethische Fragen. Pflanzen und Kemarer bilden Bestandteile einer Symbiose, die du nicht voll über blicken kannst Das war typisch für den akti vierten Gehirnabschnitt. Er dachte streng lo gisch und klammerte Gefühle weitgehend aus. Ich wollte nicht so schnell aufgeben. Die »Unwissenden« waren mir sympatisch, und außerdem erschienen sie mir als das fortschrittlichere Volk. Die Abhängigkeit von den Pflanzen mußte in die Degeneration führen … Du denkst zu subjektiv, warf der Logik sektor mir vor. Deine Vorstellungen von ei ner Zivilisation lassen sich auf den Sturm planeten kaum übertragen. Vergiß nicht, daß auch das perfekte Zusammenspiel zwi schen Kemarern und Pflanzen das Produkt einer Entwicklung ist. Du hast einen flüchti gen Blick in diese Kultur getan, und daraus lassen sich keine festen Regeln ableiten. Ein einziger falscher Eingriff kann den Unter gang der Kemarer herbeiführen.
44 »Das ist alles zweifellos richtig«, murmel te ich nachdenklich vor mich hin. »Meinetwegen können die Kerle ihren heiß geliebten Pflanzen auch noch Wärmflaschen auf die Wurzeln legen. Mich stört es nur, daß eine Minderheit darunter leiden soll.« Verro starrte mich fragend an, und ich konzentrierte mich wieder auf das Thema, das mich am meisten interessierte. »Bis zum Tal der Sonnenpflanze brauchst du fast drei Tage, wenn du den normalen Weg nimmst«, erklärte er mir. »Aber du könntest auch über die Hochflächen gehen. Es ist gefährlich, und wir selbst wagen es selten. Vier von meinen Männern kennen den Weg. Sie könnten dich begleiten. Aller dings dürfen sie sich in das Tal selbst nicht wagen. Die Pflanze würde sie sofort ver nichten.« »Und was ist mit dem normalen Weg?« Verro breitete ratlos die Hände aus. »Die Quezaren überwachen ihn. Wenn wir Waren für sie haben, geben wir ein Si gnal, und dann dürfen wir passieren. Die ganze Strecke ist von Fallen umsäumt. Nur die Quezaren haben die Macht, die Pflanzen friedlich zu stimmen.« »Ihr müßtet mich also anmelden«, stellte ich fest. »Es sei denn, ich würde mir den Weg freischießen.« »Sinnlos!« widersprach der Kemarer so fort. »Erstens reichen selbst deine Waffen dazu wahrscheinlich nicht aus. Du müßtest drei Tage hindurch ständig schießen. Zwei tens würden die Pflanzen dein gewaltsames Vordringen sofort im Tal melden.« »Also die Hochflächen«, nickte ich. »Warum gibt es dort keine Fallen?« »Weil dort selbst die zähesten Kampfsa men keine Nahrung finden. Außerdem ver lassen sich die Quezaren darauf, daß nie mand freiwillig zu ihnen kommt. Sie hatten bis jetzt auch recht mit dieser Vermutung.« »Aber ihr selbst habt es doch gewagt?« »Wir sind für die Quezaren und die Son nenpflanze unbedeutend«, gab Verro gelas sen zurück. »Als Opfer taugen wir nichts, und eine Bedrohung stellen wir auch nicht
Marianne Sydow dar. Sie haben nichts dagegen, wenn wir das Tal von weitem sehen.« Nachdem dieser Punkt geklärt war, hatte ich eigentlich nur noch eine Frage. »Wer oder was ist diese ›Große Ein heit‹?« wollte ich wissen. »Die Sonnen pflanze?« »Vielleicht«, erwiderte Verro unsicher. »Niemand weiß es genau.« Es ist die Gesamtheit aller Individuen, die innerhalb der Symbiose leben, belehrte das Extrahirn mich sofort. Daher auch das Be streben, jedes Einzelwesen nach seinem Tod in die Gemeinschaft zumindest in stofflicher Form zurückzuholen. Die Sonnenpflanze dürfte gemeinsam mit den Quezaren ledig lich die höchste Konzentration des Kollek tivbewußtseins darstellen. »Gibt es in deinem Land keine Große Einheit?« fragte Verro neugierig. Ich war nur noch zu einem stummen Kopfschütteln fähig. Vor meinen Augen stand das erschreckende Bild einer Welt, in der jedes Lebewesen nur ein winziger Teil in einem riesigen Mechanismus war, unfä hig, eigene Entscheidungen zu treffen, durch unzählige Fäden an seinen Platz gefesselt, bedeutungslos … In irgendeiner Form ist es überall so, kommentierte der Logiksektor herzlos. Oder bist du in allem, was dein Leben betrifft, wirklich frei? Die gefühllose Philosophie dieser Mutlo sen Stimme war mir schon oft auf die Ner ven gegangen. »Es wird Zeit«, bemerkte Verro neben mir. »Bald kommen die Wolken, und du wirst früh aufbrechen wollen. Ich sage den Männern Bescheid, die dich begleiten sol len. Garquo wird euch zeigen, wo ihr schla fen könnt.« Auf seinen Wink hin watschelte eine dicke, plattfüßige Kemarerin herbei. Sie wackelte kokett mit ihrem ungeheuren Hin terteil, während sie uns durch die schmale Gasse führte. Otzo betrachtete sie hinge bungsvoll. Sie brachte uns zu einer Hütte, die von außen nicht gerade verheißungsvoll
Im Reich der Sonnenpflanze aussah. Drinnen jedoch war es erstaunlich gemütlich. Während ich mich umgehend auf eines der breiten Lager fallen ließ, begann Otzo heftig zu flirten. »Hör auf mit dem Unsinn!« knurrte ich schließlich ärgerlich. »Dazu hast du später noch Zeit.« Er seufzte entsagungsvoll und gab endlich Ruhe. Am nächsten Tag brachen wir nach dem Morgenregen auf. Gegen Mittag des näch sten Tages wollten wir das Tal erreicht ha ben. Hoffentlich kamen wir nicht zu spät!
7. Crysalgira hatte nur eine sehr verschwom mene Erinnerung an die Ereignisse, die sie schließlich in dieses Tal geführt hatten. Sie wußte nicht einmal genau, wieviel Zeit ver strichen war, seitdem sie auf dem Hochpla teau in die Hände der Eingeborenen gefallen war. Als sie das Bewußtsein wiedererlangte, sah sie als erstes die fremdartigen Gesichter dieser schwarzhäutigen Wesen. Die Frem den starrten sie aus stechenden kleinen Au gen an und unterhielten sich in einer Spra che, die aus Grunz- und Knurrlauten be stand. Obwohl sie erkannte, daß eine Ver ständigung ohne die Hilfe eines Translators kaum herzustellen war, sprach sie die Einge borenen an. Die Fremden unterbrachen ihre Unterredung für einen Augenblick, wandten sich dann aber gleichgültig ab und ließen die Arkonidin allein. Sie merkte, daß sie wieder gesund war. Das Gift brachte keine Nachwirkungen mit sich. Unwillkürlich fragte sie sich, ob ihr Körper selbst mit diesem fremden Stoff fer tig geworden war, oder ob ihre Genesung auf eine erfolgreiche Behandlung durch die Eingeborenen zurückzuführen war. Dann entschied sie, daß diese Frage absolut un wichtig war. Wenn die Fremden ihr tatsäch lich geholfen haben sollten, dann verfolgten sie damit nicht unbedingt ein Ziel, daß für Crysalgira wünschenswert war. Man hatte sie gefesselt. Um ihre Hand
45 und Fußgelenke lagen dünne, geschmeidige Seile, die ihrerseits an einem Baum befestigt waren. Es war ein plumpes Gewächs mit kurzem, dickem Stamm und einem Büschel peitschenförmiger Zweige, die sich hin und her wiegten, obwohl kein Wind zu spüren war. Die Fesseln waren nur sehr locker an gezogen, aber ehe Crysalgira eine Flucht wagte, mußte sie wissen, wohin sie laufen wollte. Sie befand sich in einem Tal, das von ho hen Felswänden umschlossen war. Der Bo den sah aus, als hätte man ihn beinahe lückenlos mit den verschlungenen Körpern getöteter Riesenschlangen bedeckt. Zwi schen diesen geringelten Strängen, die stel lenweise einen Durchmesser von etwa vier zig Metern erreichten, ragten in regelmäßi gen Abständen olivfarbene Blattwedel her vor. Im Mittelpunkt des fast kreisrunden Talkessels erhob sich der Stamm einer Pflanze, von dem die Arkonidin das Ende nicht erkennen konnte. Dieses Gewächs mußte unglaublich hoch sein. Es strebte ei ner Stelle entgegen, an der die dichten Wol ken aufgerissen waren. Die Sonnenstrahlen, die nur in einem Umkreis von etwa einhun dert Metern rund um die Pflanze bis zum Boden gelangten, waren so grell und blen dend, daß der obere Teil des Stammes in dieser Hölle aus Licht völlig verschwand. Behutsam drehte das Mädchen den Kopf, um ihre nähere Umgebung zu erkunden. Sie lag auf einem breiten Absatz, ungefähr zwanzig Meter über dem Talboden. Es gab noch mehr von diesen plumpen Bäumen, de ren Kronen ein seltsames Eigenleben zu füh ren schienen. Aber sie entdeckte auch kugel förmige Gebilde, deren Bedeutung ihr erst klar wurde, als einige Eingeborene in ihnen verschwanden. Hütten also. Die Felswand, die weiter hinten lotrecht aufragte, war von Ranken übersponnen, die ein vielfältiges Sy stem von Leitern, Plattformen und Galerien bildeten. Zwischen ihnen hingen riesige, fleischfarbene Blüten, Trauben von gelben und orangefarbenen Kugeln und pinselför mige, hellblaue Büsche. Vor diesem grell
46 farbenen Hintergrund hoben sich graugrüne Riesenkugeln ab, die im lockeren Erdreich am Fuß der Felsen verankert waren. Dieser Anblick brachte ihr die Erinnerung zurück. Es gab kaum einen Zweifel, daß es sich bei den Kugeln um Flugpflanzen han delte. Bot sich dort eine Möglichkeit zur Flucht? Crysalgira hatte nicht die leiseste Ahnung davon, wie ein solcher Ballon bedient wer den mußte. Sie wußte auch, daß sie keine Zeit haben würde, langwierige Experimente anzustellen. Und sie hatte auch die Orientie rung restlos verloren. Sie wußte nicht, wie weit sie von der Doppelpyramide entfernt war, und in welcher Richtung sie das Raum schiff suchen mußte. Sie belegte sich selbst mit einer ganzen Reihe wenig schmeichel hafter Namen. Wenn sie wenigstens ein Funkgerät mitgenommen hätte … Sie zwang sich zur Konzentration. Mit Selbstvorwürfen ließ sich jetzt nichts mehr ändern. Atlan würde alles versuchen, um sie zu befreien, dessen war sie sich sicher, aber es widerstrebte ihr, tatenlos auf seine Hilfe zu warten. Also doch Flucht? Sie beobachtete die Eingeborenen. Die Fremden schenkten ihr keine Beachtung. Sie kletterten im Pflanzengewirr an den Felsen herum, liefen über die Wurzelstränge im Tal oder schleppten schwere Lasten in die dunklen Hohlräume unter diesen Brücken. Alles, was sie taten, ergab für Crysalgira vorerst keinen Sinn. Aber sie stellte fest, daß zu viele dieser plumpen, schwarzen Wesen den Raum zwischen ihr und den Flugpflan zen bevölkerten. Außerdem herrschte über ihr so reges Treiben, daß ihre Flucht schon in den ersten Sekunden bemerkt werden mußte. Sie beschloß, die Nacht abzuwarten. Bis dahin mußte sie sich darauf beschrän ken, Beobachtungen anzustellen, die ihr spä ter helfen konnten. Etwas später kam ein Eingeborener zu ihr. Er trug eine Schale und einen Becher, stellte beides auf dem Boden ab und hockte sich neben die Arkonidin. Sie bewegte sich ab-
Marianne Sydow sichtlich nicht, um den Fremden in dem Glauben zu lassen, daß die, Fesseln ihr ein Entkommen unmöglich machten. Der Einge borene flößte ihr eine säuerliche Flüssigkeit ein und fütterte sie mit kleinen, bräunlichen, fade schmeckenden Brocken. Crysalgira zwang sich dazu, dieses Zeug hinunterzu würgen. Sie mußte bei Kräften bleiben. Die Lücke in den Wolken schloß sich. Das Licht wurde schwächer, und die Einge borenen zogen sich in ihre Hütten zurück. Stille breitete sich aus. Dann begann ein un heimliches Konzert. Ein tiefes Dröhnen er füllte das Tal, dazwischen pfiff und wim merte es schrill. Wolkenfetzen wirbelten wie blasse Geisterschemen die Felswand herun ter, aber der Sturm erreichte das eigentliche Tal nicht. In dem riesigen Wurzelgeflecht knarrte es laut. Es war sinnlos, bei diesem Sturm mit. ei nem Pflanzenballon zu starten, und so war tete Crysalgira geduldig weiter. Tatsächlich ließ das Toben in der Lufthülle nach. Dafür setzte warmer Regen ein. Sie vergewisserte sich, daß die Eingeborenen in ihrer Umge bung im Schutz der kugelförmigen Hütten blieben, dann bewegte sie vorsichtig die Hände. Schon der erste Versuch, die lockeren Fesseln abzustreifen, setzte ihrem Fluchtvor haben ein Ende. Die dünnen Seile zogen sich ruckartig zu sammen. Sie kämpfte dagegen an, aber die Umklammerung wurde immer enger. Erst als sie es aufgab, dehnten sich die Schlingen wieder. Sie harrte regungslos aus, bis das Kribbeln, mit dem das Blut in die abge schnürten Adern zurücklief, nachgelassen hatte. Dann versuchte sie es noch einmal, schneller diesmal, aber ihre Reaktionen wur den von den rätselhaften Schnüren mit spie lerischer Leichtigkeit abgefangen. Sie wurde herumgeschleudert, näher an den Baum her angezogen, und dann legte sich eine weitere Fessel über ihren Körper und preßte sie auf den nassen Boden. Da begriff sie endlich. Der Baum war ein aufmerksamer Gefan
Im Reich der Sonnenpflanze genenwärter. Als sie ihren Widerstand auf gab, gestattete er der Arkonidin sogar, sich einigermaßen bequem hinzulegen. Sie ver suchte zu schlafen, aber ihre Gedanken hiel ten sie wach. Sie starrte in die Dunkelheit hinauf und fragte sich, was die Fremden mit ihr vorhaben mochten. Erst gegen Morgen fiel sie in einen unruhigen Schlaf, wurde je doch von dem erneut einsetzenden Regen schnell wieder geweckt. Die Eingeborenen kümmerten sich auch an diesem neuen Tag anfangs kaum um sie. Nur einer tauchte bei ihr auf und gab ihr zu essen. Sie merkte, daß die Flüssigkeit, die ihren Durst stillte, einen merkwürdigen Bei geschmack hatte. Eine halbe Stunde später riß um die Rie senpflanze herum die Wolkendecke auf. Der grelle Sonnenstrahl, der über den Talboden geisterte, rief seltsame Gefühle in ihr wach. Eine unstillbare Sehnsucht nach dem Licht erfüllte sie. Die Sonne! Sie mußte die Sonne erreichen. Der Gedanke pochte schmerzhaft durch ihren Schädel. Jede Faser ihres Körpers gier te nach dem Licht. Sie merkte nicht, wie sich die Eingeborenen langsam um sie ver sammelten. Ihre Augen nahmen nur noch den Kanal aus Licht wahr, der an der Rie senpflanze entlang nach oben führte, immer weiter, über die Wolken hinaus … Jemand hielt ein Gefäß an ihre Lippen, und sie trank mechanisch, ohne die Augen von dem flammenden Loch zwischen den Wolken abzuwenden. Sie merkte auch nicht, daß ihre Fesseln von ihr abfielen. Eine heiße Hand berührte sie an der Schulter. Die Wär me war wie eine Verheißung. Sie folgte dem Hinweis und stand auf. Ihr Ziel stand un wandelbar fest. Nichts auf der Welt hätte sie bewegen können, von dem vorgezeichneten Weg abzuweichen. Sie betrat eine schmale Brücke aus Pflan zen und schritt darauf entlang. Dann kamen die Wurzeln, die sich harmonisch ineinan derfügten und eine breite Straße für sie bil deten. Am Ende der Straße wartete die Pflanze auf sie. Sie brauchte nur den Stamm
47 hinaufzusteigen, um das Licht zu erreichen. Sie würde mit dem Licht verschmelzen und in ihm aufgehen. Die Eingeborenen folgten ihr. Ein dump fer, seltsamer Gesang klang auf, wurde lau ter und schriller, je näher die Arkonidin dem Stamm kam. Als das Mädchen die Pflanze erreichte, steigerte sich der fremdartige Ge sang zu fanatischem Gebrüll. Und dann leg te Crysalgira die Hände an den Stamm der Pflanze. Lähmende Stille umgab sie. Für eine un gewisse Zeitdauer erstarrte alles in diesem Tal. Crysalgira sah nach oben, direkt in die gleißende Helligkeit hinein. Sie begann, nach oben zu klettern.
8. Krees, der Anführer der kleinen Gruppe, die uns geführt hatte, blieb stehen und deute te auf einen Einschnitt in der schwarzen Felsbarriere, die vor uns aufragte. »Dies ist die Grenze«, sagte er. »Wir dür fen nicht weitergehen. Hinter den Felsen liegt das Tal.« »Gibt es einen Weg nach unten?« »Die Quezaren haben Leitern und Trep pen aus Pflanzen angelegt. Wir können sie nicht betreten, aber euch wird es vielleicht gelingen. Du mußt dich beeilen. Es ist bald Mittag, und dann beginnt die Opferung.« Ich wollte ihn fragen, woher er so genaue Kenntnisse über die Bräuche des geheimnis vollen Volkes hatte, aber er wandte sich be reits ab. Die »Unwissenden« hatten es eilig, aus dieser Gegend zu verschwinden, und ich konnte es ihnen nachfühlen. Sie tauchten zwischen den Felsen der Hochfläche unter. Wir waren allein. »Dann also los«, murmelte ich vor mich hin. Die vier Männer aus dem Stamm der »Unwissenden« würden an einem vereinbar ten Treffpunkt auf uns warten. Noch wußten wir nicht, wie wir das Tal wieder verlassen sollten, und mir graute es vor dem Rückweg ins Raumschiff. Aber das waren Probleme,
48 die die Zukunft betrafen. Die Felsbarriere bot auf dieser Seite kei nerlei Angriffspunkte. Es hätte einer sehr guten Bergsteigerausrüstung bedurft, um sie auf normale Weise zu überwinden. Ich schaltete das Fluggerät ein, aber schon der erste Blick auf die Kontrollen zeigte mir, daß die Leistung nicht reichen würde. Viel leicht kam ich allein bis auf den Grat hinauf, aber Otzo konnte ich unmöglich mitschlep pen. »Ich habe Klettersamen«, sagte der Ke marer plötzlich. Er hatte mich beobachtet und die richtigen Schlüsse gezogen. Schon während unseres Marsches über die Hoch flächen hatte das Gerät zunehmend Schwie rigkeiten gemacht. Ich sah schweigend zu, wie Otzo in seiner Gürteltasche kramte. Bestimmt war er unter wegs oft in die Versuchung geraten, die Hil fe der Pflanzen zu beanspruchen, aber in Ge genwart der »Unwissenden« hatte er es nicht gewagt. Jetzt preßte er ein Samenkorn an die Steine, murmelte seine Beschwörungen vor sich hin und vollführte eine in meinen Au gen beinahe lächerliche Zeremonie. Ich nahm als sicher an, daß diese Samen auch ohne derartige Vorbereitungen ihre Pflicht taten. Die abergläubischen Zutaten waren wohl eher auf den Einfluß der Quezaren zu rückzuführen, die sich ihr Monopol sichern wollten. Der Samen explodierte förmlich. Die dunkle Schale platzte mit einem leisen Knall, dann schoß eine Ranke nach oben, wuchs mit atemberaubender Geschwindig keit und hakte sich mit zahlreichen Ausläu fern an der fast glatten Felswand fest. Otzo riß prüfend daran, dann hangelte er sich ge schickt nach oben. Ich folgte ihm. Dicht un ter dem Grat hielten wir an. Der Wind pfiff scharf über das Plateau und brach sich heu lend an den steinernen Zinnen. Aber über diesen Lärm hinweg hörten wir ein dumpfes Pochen, das aus dem Tal der Quezaren kom men mußte. Es hörte sich wie das Klopfen eines riesigen Herzens an. Vorsichtig schob ich mich höher und sah
Marianne Sydow in das Tal hinab. Neben mir stieß Otzo einen erstickten Laut aus. Er deutete auf eine Pro zession, die tief unter uns durch das von rie senhaften Wurzeln völlig ausgefüllte Tal marschierte. Ich erkannte die kleine, hell blaue Gestalt an der Spitze. »Die Opferung hat begonnen«, sagte Otzo leise. »Siehst du die Sonnenpflanze?« Ich musterte den gewundenen Stamm, der aus dem Tal heraufstrebte und bis in die Wolken reichte. Genau an der Stelle, an der das Gewächs aufragte, drang Sonnenlicht bis auf den Boden vor. Dort lag unverkennbar das Ziel der Quezaren. Und Crysalgira schritt voran, ohne Zögern, ohne erkennba ren Zwang. Drogen! bemerkte der Logiksektor knapp. Die Bewohner dieses Tales hatten sich vollzählig versammelt. Nur auf der schma len Bahn, die die Wurzeln bildeten, sah ich Quezaren. »Wir sind zu spät gekommen«, stellte Ot zo bedrückt fest. »Es sind zu viele Gegner. Wir kommen nicht an das Mädchen heran.« Nervös tastete ich nach meinem Gürtel. Wenn ich einige der Eingeborenen betäubte, würde sich der Zug vielleicht auflösen. Das wird Crysalgira nicht daran hindern, weiterzugehen, behauptete der Logiksektor. Ein paar Meter weiter unten begann das System von Ranken. Die Quezaren hatten die Felswand in einen riesigen hängenden Garten verwandelt. Von unten kam jetzt ein langsam anschwellendes Geheul. Die Que zaren konzentrierten sich völlig auf das Ge schehen. Niemand beobachtete uns, als wir uns über die Steine hinabließen. Eine Platt form nahm uns auf. Das Geflecht federte und schwankte unter unseren Füßen, als wir in Richtung auf eine schmale, ebenfalls von Ranken gebildete Treppe weitereilten. Wir hatten die nächsttiefere Plattform fast er reicht, als das geschah, was ich insgeheim bereits befürchtet hatte. Die Pflanzen stuften uns als Fremdlinge ein. Die »Unwissenden« hatten mich ge warnt. Die Hoffnung, daß die Gewächse nur auf Angehörige dieses Stammes reagierten,
Im Reich der Sonnenpflanze erwies sich als trügerisch. Die Pflanzen zuckten unruhig unter unse ren Füßen. Aber sie waren zu fest miteinan der verbunden, als daß sie uns aktiv hätten angreifen können. Die anderen Gewächse hatten es einfacher, und sie nützten es weid lich aus. Anfangs versuchten sie nur, uns den Weg zu versperren. Honigblüten neigten sich herab und zwangen uns zu waghalsigen Ausweichmanövern. Kleine, hellblaue Bü sche eilten auf ihren Wurzeln herbei, dräng ten sich zwischen uns und versuchten, uns zum Stolpern zu bringen. Sie ließen sich nur schwer abschütteln. Noch setzte ich meine Waffen nicht ein. Ich hoffte trotz allem, un bemerkt bis nach unten zu kommen. Die Ze remonie lief weiter, die Quezaren schenkten der Unruhe in diesem Teil ihres Tales noch keine Beachtung. Otzo schleuderte mit einem wütenden Tritt einen Busch über den Rand der Treppe. Er wandte sich kurz nach mir um, dann lief er weiter. Seine langen Arme wirbelten durch die Luft und rissen eine Bresche in ein Gewirr von gelben Blüten, das sich auf den Weg herabsenkte. Ich sah die Honigblüte, die hinter diesem Vorhang auf den Kemarer wartete. Ich öffnete den Mund zu einem Schrei, aber in diesem Augenblick hatte der Kemarer den neuen Gegner bereits erspäht. Er warf sich zurück und landete gefährlich nahe am Rand des Pfades. Die Blüte kroch mit tödlicher Beharrlichkeit auf ihn zu. Ich zog die Waffe und zielte kurz auf den dün nen Stiel der mörderischen Pflanze. Die Blü te verlor den Halt, rollte die Treppe hinunter und krachte in eine wahre Wand von Bü schen hinein. »Weiter!« keuchte ich und zog Otzo hoch. Wir rannten nach unten, durch die zerbro chene Barriere hindurch, dann wieder über eine Pflanzentreppe. Das Gebrüll aus der Tiefe schwoll an. Ich riskierte einen Blick in das Tal und stellte erleichtert fest, daß die Aufregung nicht uns galt. Crysalgira hatte den Stamm der Son nenpflanze fast erreicht. »Dort!« stieß Otzo neben mir hervor.
49 Ich sah das kugelförmige Gebilde, in des sen Haut sich eben ein dünner Riß bildete, und schoß. Die Kugel löste sich in eine da vonwehende Staubwolke auf. Zwei mit Wi derhaken besetzte Pollenkörner rasten aus dem Staub auf uns zu. Otzo riß mich zu Bo den. Die lebenden Geschosse schlugen hin ter uns auf und rissen ein Loch in das Ran kengeflecht. Wir hasteten weiter, zwischen schlagenden Ästen und Wolken von gelbem Staub hindurch, die sich auf die Schleimhäu te legten und Hustenanfälle hervorriefen. »Wenigstens gibt es hier keine Kampfsa men«, knurrte Otzo, nachdem wir mit knap per Not auch der nächsten pollenschleudernden Kugel entkommen waren. Mir schienen diese Worte blanker Hohn zu sein. Aber einige Minuten später begriff ich, was er meinte. Aus einer schmalen Felsspalte neben der Treppe schlängelten sich dünne Tentakel hervor. Otzo bemerkte sie zuerst. Er hielt mich am Arm fest. »Schieß!« flüsterte er entsetzt. Ich hob die Waffe, und in diesem Moment stieß einer der bleichen Arme gegen eine Honigblüte, die nicht schnell genug hatte ausweichen können. In der blaßroten Hülle der Pflanze klaffte plötzlich ein riesiges Loch. Die Ränder schlugen Blasen. Ich war tete nicht weiter ab, sondern nahm die Fels spalte unter Feuer. Von da an kamen wir kaum einen Schritt weit voran, ohne daß ich irgendein Gewächs zerstören mußte. Diese Felswand war die Hölle. Immer neue Kampfsamen aktivierten sich, und die Viel falt dieser Gewächse erschreckte mich. Sie schlugen mit messerscharfen Auswüchsen nach uns, schossen mit ätzendem Schleim um sich, schnappten als muschelähnliche Gebilde nach unseren Füßen oder bombar dierten uns mit lebenden Pfeilen. Viele er kannte ich erst im letzten Moment, und ohne Otzo, der mit untrüglichem Instinkt die ge fährlichen Arten identifizierte, wäre ich die sem Chaos kaum entkommen m Endlich ließ der Druck der Pflanzen nach. Vor uns war eine breite, schräg nach unten führende Ga
50 lerie. An ihrem Ende stand ein plumper Baum, der seine peitschenförmigen Zweige gierig nach uns ausstreckte. Ich beseitigte auch dieses Hindernis, und dann lag eine Siedlung aus Wohnhütten vor uns. Wir sa hen festen Boden und spurteten los. Gerade als wir die Flugpflanzen entdeck ten, die jenseits der lebenden Häuser veran kert waren, riß das Gebrüll der Quezaren schlagartig ab. Ich zuckte zusammen und wirbelte herum, aber die Stille hatte anschei nend nichts mit uns zu tun. Crysalgira stand am Stamm der Sonnenpflanze. Unwillkür lich hielt ich den Atem an. Ich erwartete ir gend etwas Schreckliches, aber nichts gesch ah. Nach langem Zögern begann die Arkoni din, an dem scheinbar unendlich hohen Ge wächs hinaufzuklettern. Das ist deine Chance, stellte der Logik sektor nüchtern fest. Wir rannten zu dem am nächsten stehen den Ballon. »Kannst du das Ding in die Luft brin gen?« fragte ich Otzo atemlos. »Kein Problem«, gab er keuchend zurück. »Aber ich weiß nicht, ob die Pflanzen uns aus dem Tal lassen werden.« Er kletterte an der Pflanze hinauf und zog an einem Auswuchs. Ein Tentakel ringelte sich um seinen Körper und hielt ihn fest. Er winkte mich neben sich und sorgte dafür, daß auch ich einen sicheren Halt fand. Dann tasteten seine großen, daumenlosen Hände erstaunlich geschickt über ein paar Höcker in der groben, graugrünen Haut der Flug pflanze. Der Ballon wackelte etwas, direkt unter meinen Füßen bildete sich eine Öff nung, die schmatzend zu pulsieren begann, ein leichter Lufthauch strich über mein Ge sicht, und der Ballon begann zu steigen. »Wohin?« fragte Otzo nervös. »Zur Sonnenpflanze«, gab ich hart zu rück. Er schluckte, steuerte die Pflanze aber ge horsam an den Wohnhütten vorbei, ließ sie weiter steigen und trieb sie dann in das Tal hinaus. Die Quezaren hatten ihr rhythmi sches Gebrüll wieder aufgenommen. Keiner
Marianne Sydow von ihnen wandte sich um. Sie starrten wie gebannt auf die Gestalt im blauschimmernden Anzug, die unaufhaltsam weiterkletterte. Ich sah nach unten. Die Wurzeln der Son nenpflanze bewegten sich unruhig. Eine Re aktion auf das Opfer, oder der Beginn einer Abwehr gegen uns? »Höher hinauf!« rief ich Otzo zu. Er zog an einem der Auswüchse, mit des sen Hilfe die Flugpflanze sich erstaunlich exakt steuern ließ. Wir schnellten nach oben, und im gleichen Augenblick flog aus dem Gewirr der dunkelbraunen Wurzeln ein wei ßer Ball auf uns zu. Ich vernichtete das Wurfgeschoß, aber weitere folgten. Erst als einer der Wurzelstränge von der vernichten den Energie getroffen wurde, trat Ruhe ein. Aber ich traute diesem Gewächs nicht. Es hatte mit Sicherheit noch andere Waffen. Jetzt wurden vor uns die Quezaren unru hig. Crysalgira kletterte schneller. Sie akti vierte ihre letzten Reserven. Aber auch Otzo trieb unseren Ballon unerbittlich an. Wir wurden schneller, gleichzeitig stiegen wir. Wenn wir diesen Kurs halten konnten, wür den wir den Stamm genau an der Stelle er reichen, an der die Arkonidin sich dann be finden mußte. Die Eingeborenen schrien im mer noch, aber einige von ihnen hatten uns entdeckt. Sie rannten über die Wurzeln dem Rand des Tales entgegen, und ihre schrillen Rufe hallten zu uns herauf. »Sie sind unbewaffnet«, bemerkte Otzo erleichtert. »Das hängt wohl mit der Be schwörung der Großen Einheit zusammen. Uns kann es recht sein. Ehe sie ihre Hütten erreichen, sind wir längst aus dem Tal her aus.« Ich glaubte noch nicht daran, daß wir so leicht davonkommen sollten, aber das Ver halten der Quezaren gab ihm recht. Die Ein geborenen, die jetzt noch den Stamm umga ben, verstummten und deuteten aufgeregt zu uns hinauf. Sie waren ratlos. Otzo stieß ein schnarrendes Lachen aus. »Damit haben sie nicht gerechnet!« knurr te er grimmig. Crysalgira schien das Ausbleiben der an
Im Reich der Sonnenpflanze feuernden Rufe gar nicht zu bemerken. Sie kletterte unentwegt weiter. Wir waren jetzt so nahe heran, daß ich ihr Gesicht sehen konnte. Ströme von Schweiß liefen ihr von der Stirn, aber ihre Augen waren weit geöff net und starrten wie hypnotisiert nach oben, wo das grell leuchtende Loch in den Wolken sie erwartete. Otzo gab dem Ballon neue Befehle. Die Pflanze hielt etwa zwei Meter von der Arko nidin entfernt an. Ein langer Auswuchs griff nach Crysalgira, legte sich um ihren Körper und ruckte an. Aber die Arkonidin klammer te sich mit Händen und Füßen an dem ge wundenen Stamm fest. »Die Pflanze schafft es nicht!« sagte Otzo leise. Ich biß die Zähne zusammen und hob den Paralysator. Von unten kamen entsetzte Schreie. Die Sonnenpflanze schwankte, und der Ruck, der sich auf unseren Ballon über trug, warf mich fast aus der Sitzschlinge. Ich drückte ab, sah den Körper der Arkonidin fallen und hielt den Atem an. Aber der Ten takel der Flugpflanze hielt der Belastung stand. Er zog sich langsam zusammen und brachte Crysalgira zu uns herauf. Otzo war tete nervös, bis der schlaffe Körper des Mädchens zwischen den Auswüchsen des Ballons untergebracht war, dann ließ er die Pflanze langsam steigen und brachte sie gleichzeitig aus der unmittelbaren Nähe des Stammes. Unter uns war die Hölle los. Die Wurzeln der Sonnenpflanze bäumten sich auf und schüttelten sich in dem Bemühen, uns aufzu halten. Die Quezaren, die den Rand des Ta les bereits erreicht hatten, wurden zum großen Teil von den um sich schlagenden Pflanzenteilen zurückgeschleudert. Von den Wänden lösten sich Unmengen von Kampf samen. Einige stürzten zwischen die Einge borenen und tobten durch die Siedlungen, andere nahmen die Verfolgung auf und schossen steil durch die Luft auf uns zu. Ich schoß ein paar von ihnen ab, dann tauchte der Ballon in die schützende Wolkendecke, und plötzlich gab es um uns herum nur noch
51 dichten Nebel. »Wir haben es geschafft!« schrie Otzo. Im selben Moment erfaßte uns eine Bö und trieb uns zurück in den hellerleuchteten Kanal um die Sonnenpflanze. Ich sah riesen hafte, schalenähnliche Gebilde, die sich blitzschnell senkten und näher kamen. Ein ungeheurer Gestank schlug mir entgegen und nahm mir den Atem, aber da hatte Otzo auch schon die Beherrschung über den Bal lon zurückgewonnen. Wir flogen wieder in die Wolken hinein, und der Spuk blieb hin ter uns zurück.
* Weit entfernt von der oberen Begrenzung des Tales landete der Ballon. Die vier Män ner, die uns über die Hochfläche geführt hat ten, kamen nur zögernd aus ihrem Versteck. Der Anblick der Flugpflanze war ihnen un angenehm. Otzo bot ihnen an, sich von uns bis zu ihrem Dorf bringen zu lassen, aber sie lehnten beinahe entsetzt ab. Immerhin freu ten sie sich, daß es uns doch noch gelungen war, Crysalgira zu befreien. Otzo wollte sich in eine ausgiebige Schilderung des Kampfes stürzen, aber ich drängte ihn, endlich weiter zufliegen. Noch waren wir den Quezaren ziemlich nahe, und außerdem quälte mich der Gedanke an Chapat, der so lange allein geblieben war. »Wohin wirst du gehen?« fragte Krees den Kemarer, als wir in die Sitzschlingen zurückkletterten. »Ich bringe Atlan und das Mädchen zu ih rem Schiff zurück«, sagte Otzo gedehnt. »Danach …« Er hob ratlos die Hände. »Zu deinem Stamm kannst du nicht zu rückkehren«, stellte Krees ruhig fest. »Auch zu keiner anderen Siedlung, in der die Pflan zen herrschen. Sie würden dich töten. Kommst du zu uns?« Otzo grunzte erfreut. Während der Ballon abhob und in schnel lem Flug über das Plateau huschte, kümmer te ich mich um Crysalgira. Die Arkonidin
52 war noch gelähmt und damit zu keiner Re aktion auf meine Fragen fähig. Aber sie schwebte auch in keiner erkennbaren Ge fahr. Wir überquerten den See, dann die Ebene der Flugsamen. Otzo beherrschte die Pflanze völlig und hatte keinerlei Schwierigkeiten bei der Orientierung. Nach wenigen Stunden tauchten vor uns die schroffen Abhänge der engen Täler aus dem Dunst. Wir hatten un ser Ziel fast erreicht. Ich wurde müde und starrte halb dösend die grauen, von Pollen durchsetzten Wolkenfetzen an, die an uns vorbeiwehten. Ein lauter Schrei ließ mich zusammenfahren. Ich sah mich nach Otzo um, und dann entdeckte ich die Kugeln, die aus der vor uns aufquellenden Wolkenfront herausschossen. Es waren mindestens zwei Dutzend Flug pflanzen, und die Kemarer, die sie steuerten, waren Könner in ihrem Fach. »Sie haben uns erwartet!« rief Otzo mir zu, während er den Ballon zu noch höherer Geschwindigkeit antrieb. »Sie sind aus mei nem Dorf!« Ich wußte nicht, woran er das erkannte. Für mich sahen alle Flugpflanzen gleich aus, und in bezug auf die Eingeborenen ging es mir kaum anders. Aber ich sah sehr deutlich die scharfen Speere und die blitzenden Mes ser. Die Verfolger holten auf. Ihre Pflanzen waren frisch und ausgeruht, während unserer Ballon seit Stunden in der Luft war. Erst jetzt begriff ich ganz, daß wir es nicht mit einer Maschine zu tun hatten, sondern mit einem Lebewesen, das an einem bestimmten Punkt zu ermüden begann. Unser Ballon gab das Letzte. Die Löcher in seiner Hülle pulsierten krampfhaft, und alle Tentakel, die nicht unmittelbar ge braucht wurden, schmiegten sich eng an den Körper, um den Luftwiderstand zu verrin gern. Dennoch überholte uns noch vor der Wolkenwand der erste Jäger. Ich zielte sorgfältig. Der Kemarer in der schwankenden Seilschlinge bot ein schlech tes Ziel, aber es gelang mir, ihn zu paralysie ren. Der führerlos gewordene Ballon wurde
Marianne Sydow sofort langsamer und strebte in schräger Bahn dem Boden entgegen. Otzo ließ unsere Flugpflanze einen Haken schlagen. Rechts von uns zischte ein smaragdgrünes Ding durch die Luft. Undeutlich sah ich den schnabelähnlichen Auswuchs, der rasend schnell auf und zu klappte. Zum Glück war dieses Wesen nicht eigentlich flugfähig. Es raste klappernd und ratternd an uns vorbei und fiel dann nach unten. Keine zehn Meter neben uns tauchte eine Flugpflanze auf. Der Kemarer in der Sitz schlinge hielt ein dickes Pflanzenrohr in der Hand und zielte damit auf uns. Die Läh mung erfaßte ihn, ehe er den nächsten Kampfsamen abzufeuern vermochte. Aber das unheimliche Wesen war bereits aktiviert. Schnappend und knackend verließ es das Rohr und wandte sich seinem eigenen Herrn zu, der hilflos zwischen den Tentakeln hing. Ich schloß entsetzt die Augen, als der rechte Arm des Kemarers in dem zuschlagenden Schnabel verschwand. Im nächsten Augen blick hatte der Sturm den führerlosen Ballon davongetrieben. Aber die nächsten Angrei fer rückten nach. Sie hatten gemerkt, daß ihnen von mir die größte Gefahr drohte. Geschickt blieben sie hinter den Armen ihrer Flugpflanzen in Deckung. Drei oder vier erwischte ich trotz dem, dann waren sie so nahe heran, daß sie ihre Speere nach uns schleudern konnten. »Nach unten!« befahl ich Otzo hastig. Der Ballon sackte ab. Die Speere flogen ins Leere, und ehe die Frem den sich auf die veränderte Situation einzustellen vermoch ten, waren wieder einige Flugpflanzen füh rungslos. Die Ballons waren durchaus fähig, mit den wechselnden Windströmungen selbst fertig zu werden und erreichten wohl behalten festen Boden. »Die Pflanze hält nicht mehr lange durch«, zischte Otzo aufgeregt. Wir tauchten in die Wolken, aber dort fanden wir nur für einige Sekunden Schutz. Der Abendsturm stand bevor. Wilde Turbu lenzen erfaßten uns und warfen uns nach oben, in eine Zone, in der stellenweise sogar
Im Reich der Sonnenpflanze Sonnenstrahlen durchbrachen. Vier Flug pflanzen erwarteten uns dort. Sie schossen wie Raubvögel von oben herab. Eine Bö schleuderte unseren erschöpften Ballon fast bis an die Felsen, aber dieses unerwartete Manöver rettete uns. Ein Hagel von Kampf samen ratterte ins Leere, und noch ehe der erste Speer auf uns gerichtet wurde, beende te ich diesen Kampf endgültig. Es war auch höchste Zeit. Der Sturm zog sich drohend unter uns zusammen, und die Flugpflanze stieß zischende Laute aus, als sie verzweifelt um jeden Meter Höhe kämpfte. Mühsam stiegen wir an der Steilwand nach oben, dann erfaßte uns der erste wirklich starke Windstoß und warf uns über den Rand des Plateaus. Die Flugpflanze taumelte mit schleifenden Tentakeln über die scharfkanti gen Steine, fand endlich festen Halt und sank förmlich in sich zusammen. Wir befrei ten uns hastig aus den engen Schlingen, hol ten Crysalgira aus dem Gewirr der Pflanzen arme und kämpften uns durch Schwaden von dicken Regentropfen und herabprasselnden Pollenkörnern bis zu dem hochaufragen den Raumschiff durch. Otzo war so er schöpft, daß er nicht einmal auf die fremdar tige Umgebung achtete. Er trottete hinter mir her bis in die Zentrale, ließ sich dort ein fach auf den Boden fallen und schlief über gangslos ein. Ich riß mich zusammen, sah nach Chapat und beschloß widerstrebend, ihn noch so lange in der Lebenserhaltungsanlage zu las sen, bis Crysalgira und ich uns wieder halb wegs erholt hatten. Die Arkonidin erwachte allmählich aus der Starre, in die der Schuß sie versetzt hatte, und warf sich stöhnend hin und her. Sobald die schlimmsten Nachwir kungen vorbei waren, massierte ich sie, und nach ein paar Minuten lächelte sie mühsam. »Danke!« flüsterte sie so leise, daß ich sie kaum verstehen konnte. Im nächsten Augen blick war sie eingeschlafen. Ich stolperte zu meinem Lager und ließ mich einfach fallen. Am nächsten Morgen verließ Otzo das Schiff. Die Flugpflanze hatte den Sturm gut
53 überstanden und war nach den Aussagen des Kemarers durchaus fähig, ihn zu den »Unwissenden« zu bringen. Ich hatte ein ziemlich flaues Gefühl im Magen, als ich Otzo davonfliegen sah. Ich hatte ihn nicht mit leeren Händen weggeschickt. Nicht nur die Lampe, die er sich so heiß gewünscht hatte, befand sich jetzt in seinem Besitz, sondern auch ein paar einfache, aber haltba re Werkzeuge aus der Doppelpyramide. Er war sehr optimistisch und meinte, nach der Niederlage des vergangenen Tages würden seine Artgenossen ihn in Ruhe lassen. »Chapat wartet«, sagte Crysalgira leise neben mir. »Komm!« Ich warf einen letzten Blick auf die wilde, sturmgepeitschte Fläche des Plateaus, dann folgte ich ihr. Das Baby hatte die Zeit unserer Abwesen heit gut überstanden. Chapat hatte riesigen Hunger, und er war unruhig. Von seiner Mutter waren keine weiteren Impulse ge kommen, und der Junge drängte mich, so schnell wie möglich zu starten und nach Yarden zu fliegen. »Was wird uns dort erwarten?« fragte ich mich nachdenklich. »Ich weiß es nicht«, wisperten Chapats Gedanken. »Auf jeden Fall wird es Gefahren geben. Und Ischtar ist dort. Sie zu retten – das wird dich vor viele Schwierigkeiten stel len.« Ich lächelte schwach. »Mein Bedarf an Abenteuern ist im Au genblick reichlich gedeckt«, murmelte ich. »Wie steht es mit den Vorbereitungen, die du so dringend empfohlen hast? Nur deswe gen haben wir doch den Sturmplaneten an gesteuert!« »Dafür bleibt jetzt keine Zeit mehr«, wehrte der Junge ungeduldig ab. »Meine Mutter ist in einer verzweifelten Lage. Ich fühle es. Sie ist bereits in der Eisigen Sphä re. Der Kreuzzug der Tejonther nähert sich seinem Ziel, und Magantilliken wird bald nach Yarden zurückkehren, wenn seine Auf gabe beendet ist. Du weißt, was das bedeu tet!«
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Marianne Sydow
Ich ging schweigend zu meinem Platz vor den Kontrollen. Crysalgira sah mich fragend an, und als ich nickte, machte auch sie sich an die Arbeit. Wir starteten, und der Zielpunkt unserer Fahrt war diesmal Yarden, ein Ort, unter dem ich mir noch immer nichts Konkretes vorstellen konnte. Gab es dort etwas, das so fremd war, daß es sich meiner Vorstellungskraft entzog? Wie und unter welchen Bedingungen lebten jene Wesen, die sich für so unendlich wich tig hielten, daß sie bedenkenlos unzählige Tejonther in den sicheren Tod schickten, nur um ihre eigene Existenz zu sichern? Du wirst es bald erfahren! meinte der Ex trasinn. Auf den Bildschirmen sah ich, wie die Oberfläche des Sturmplaneten unter uns zu rückfiel. Die rätselhafte Welt der Kemarer und ihrer er staunlichen Pflanzen gehörte be reits der Vergangenheit an. Eine kurze Epi sode in meinem Leben, aber eine, die mir in mancher Phase leicht den Tod hätte bringen können. Wie eine lange Kette sah ich die zahlreichen Kämpfe vor mir, die meine Irr-
fahrt durch den Mikrokosmos begleitet hat ten. Wozu das alles? Welchem Zweck dienten diese Erlebnisse? Vielleicht konnte ich einiges daraus lernen, wenn ich irgendwann Zeit und Ruhe fand, die vielfältigen Eindrücke zu überdenken und zu verarbei ten. Aber dazu mußte ich am Leben bleiben, und die Wahrscheinlichkeit dafür war nicht besonders groß. Yarden – wartete dort das Ende? »Nein!« sagte die lautlose Stimme meines Sohnes. Ich zuckte zusammen und drehte mich zu dem Baby um. Chapat sah mich mit seinen rätselhaften Augen an. »Nein?« wiederholte ich verwirrt. »Wie meinst du das? Kennst du vielleicht sogar die Zukunft?« Aber Chapat schwieg. Das fremde Raum schiff raste lautlos den Sternen entgegen.
E N D E
ENDE