1.
»Vernehmt Vitu, den Geist des Lebens!« Die Stimme echote in meinem Schädel. Da waren noch andere Stimmen, aber sie ...
16 downloads
712 Views
501KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
1.
»Vernehmt Vitu, den Geist des Lebens!« Die Stimme echote in meinem Schädel. Da waren noch andere Stimmen, aber sie schwiegen jetzt ehrfürchtig. »Ich bin das Leben. Seht mich an!« Ich schrie unwillkürlich auf. Aus der Dunkelheit um mich kam etwas Rotes und wuchs vor meinen Augen. Es war ein schlagendes Herz in einem Schauer dunkler Blutstropfen. »Nehmt es! Es schlägt durch meinen Willen!« Es wurde größer. Es schlug wie ein riesiger Gong, und mit jedem Schlag spürte ich, wie der rote Lebensstrom in meine Adern floß; wie er mich wärmte und mir Kraft gab; wie er mich aus einer unergründlichen Tiefe emporholte. »Es ist gut zu leben!« sagte die Stimme. Oh, ihr Götter, wie recht sie hatte. Kraft zu fühlen. Den jagenden Puls. Den Taumel der Sinne ... »Bedenkt es, wenn ihr tötet!« Es war grausam, in diesem Augenblick daran zu denken, aber unerbittlich kamen Bilder des Sterbens, vor denen man die Augen nicht verschließen konnte, weil sie hinter den Augen waren – tief in der Seele.
»Ihr, meine Freunde, habt getötet, im Rausch des Kampfes. Aber ich verzeihe euch, weil ich weiß, daß es Augenblicke gibt, da das Fleisch über den Verstand triumphiert.« Dankbarkeit war um mich. Ich wußte, daß ich nicht allein in dieser Finsternis war. Und es war gut, nicht allein vor dieser anklagenden Stimme zu stehen. Denn ich hatte auch getötet. Ich erinnerte mich. Blut klebte an meinem Schwert. Es war ein beschämendes Gefühl. Aber dann begehrte ich auf. Ich hatte nicht um des Tötens willen getötet, sondern im fairen Kampf, um mich meiner Haut zu wehren. »Du, Ubali«, sagte die Stimme, »bist nicht von unserer Welt. Aber der Unterschied ist nicht groß, denn das Leben ist überall in seinem Wesen gleich, im Genuß, im Schmerz, im Geborenwerden, im Tod, in der Erhaltung der Art. Seit du hier bist, bist du vielen meiner Geschöpfe begegnet. Manche hast du verstanden und sogar geliebt, andere sind dir fremd geblieben, obwohl sie tiefer in dir waren, als je ein anderer Mensch es sein könnte. Wieder andere hast du getötet oder verletzt. Du hieltest sie für Tiere. Du sahst mein Mal an ihnen, das weiße Mal meiner Gunst. Sei nun auch du ein Tier, trage auch du mein Zeichen. Du wirst erstaunt sein, wie gering der Unterschied zwischen tierischem und menschlichem Leben ist. Es wird deine Seele und dein Denken erweitern. Es sei
dein Tribut dafür, daß du auferstehen darfst.« Mein Kopf war plötzlich leer. Nur Dunkelheit war um mich. Eine kühle, erstickende Dunkelheit. Wasser. Von Furcht beflügelt, begann ich mit aller Kraft nach oben zu tauchen. War es ein Traum – oder Erinnerung? Nein, kein Traum! Sie hatten meinen todwunden Körper in den Teich geworfen. Und ich war auferstanden, wie es die Stimme gesagt hatte. Auferstanden in der Gestalt eines schwarzen Panthers. Ihr Götter! Ubali, der Panther! Wenigstens an der Hautfarbe hatte sich nichts geändert. Ich war höchstens noch schwärzer geworden. Ich hatte den Panther immer bewundert – seiner Kraft und Geschmeidigkeit wegen. Nun spürte ich sie, diese Kraft. Doch von Geschmeidigkeit keine Spur. Wir waren nun schon eine Weile unterwegs zum Dorf, in das sie mich bringen wollten, aber noch immer hatte ich Mühe, einen halbwegs raubtierhaften Gang zuwege zu bringen. Aber das Bedürfnis, mich aufzurichten und auf zwei Beinen zu gehen, war gewaltig. So torkelte ich ununterbrochen und fühlte mich stark an jenen Abend in Urgor erinnert, als der Hünentrunk mich nicht minder unsicher auf den Beinen machte. Auch hatte ich ständig das Bedürfnis zu reden – und
erschrak vor meiner Stimme, die grollend und fauchend den nächtlichen Dschungel beunruhigte. Mit wir meine ich das dunkelhäutige Mädchen, das ich erblickt hatte, bevor sie mich in den Teich warfen, und das mich begrüßt hatte, als ich herauskam, und acht Männer, die zu ihrem Stamm zu gehören schienen. Das Mädchen hieß Thamai. Sie war eine Priesterin des Lebensgeistes, eine Vitu-peri. Sie erklärte mir, das bedeute soviel wie vom Lebensgeist begünstigt. Sie sprach sehr viel während des Weges zu ihrem Dorf. Ich hatte Mühe, alles zu verstehen. Vieles begriff ich nicht. Es lag auch daran, daß ich nicht immer aufmerksam genug war, denn gleichzeitig spürte ich die Triebe meines neuen Körpers. Meine Nase fing aufregende Gerüche ein, wie ich sie nie im Dschungel vermutet hätte. »... war Vitu gnädig zu dir«, hörte ich das Mädchen sagen. »Denn sie hat dich zu neuem Leben erwachen lassen. Du gehörst nun zur Gemeinschaft der Vitu-thaimoa.« Ich grollte zustimmend. Ja, ich war sehr dankbar, daß ich wieder lebte. Auch in dieser Gestalt. Jeden Augenblick fühlte ich mich heimischer in meinem gewaltigen Körper. »Vielleicht«, fuhr das Mädchen fort, »wird Vitu dir eines Tages auch deine Gestalt wiedergeben, so wie
meinen Freunden hier, die du Affen wähntest ...« Überrascht hielt ich an. »Oh«, sagte sie. »Du wußtest es nicht. Natürlich, du warst der letzte, der aus dem Lebensteich kam. Wie sollst du es auch wissen.« Sie wandte sich zu den Männern um. »Sag ihm, wer du gewesen bist, Pyrai.« Ich wendete mich dem Mann zu, zu dem sie gesprochen hatte. Er war der größte von ihnen, mit kräftigen Muskeln. Seine Züge verrieten Entschlußkraft und Mut. Lächelnd sagte er: »Du bist ein tapferer und geschickter Krieger gewesen, Fremder. Doch wäre ich dir in Menschengestalt im Kampf gegenübergetreten, hättest du nicht so leichtes Spiel gehabt ...« Ich fauchte überrascht. Er mißverstand den Laut. »Nimm es nicht krumm. Wir tragen dir nichts nach. Es war ein guter Kampf, auch wenn er Vitu nicht gefiel. Die Götter haben es nicht immer leicht mit uns.« Er grinste freundlich, und die anderen nickten zustimmend. Sie waren die Affen gewesen! Wie ich jetzt, waren sie vorher Tiere gewesen. Jetzt verstand ich ihr Verhalten besser. Sie hatten auch das weiße Zeichen an Kopf und Nacken gehabt. Vitus Mal! Auch der Leopard hatte es. Und die Gazelle ... Die Gazelle! Ich hatte sie getötet und ihr Blut getrunken! Wenn sie auch in Wirklichkeit menschliche
Gestalt besessen hatte, dann hatte ich menschliches Blut getrunken. Ekel würgte mich, und mein Stöhnen kam als Grollen aus der Kehle. »Du erinnerst dich, nicht wahr?« sprach Thamai. »Aber hab keine Furcht, die Vitu hat dir schon verziehen. Du kanntest das Zeichen nicht. Jetzt trägst du es selbst auf dem Haupt. Du mußt es achten, wo immer du es siehst. Manchmal geschieht es auch, daß Tiere, die sterbend in den Lebensteich fallen, in menschlicher Gestalt auferstehen – wie diese Schlange, die dir als Mädchen wiederbegegnet ist. Aber sie bleiben Tiere. Ihre Gestalt bedeutet nichts. Wir haben sie dem Teich wiedergegeben, und sie wurde wieder die Schlange, die sie einst war. Hier ist das Dorf. Komm, noch eine Überraschung erwartet dich.« Das Dorf bestand aus Hütten aus den einfachen Baustoffen, die der Wald in reichlichem Maße bot. Sie waren jenen meines Volkes ähnlich, rund, mit schrägen, überhängenden Dächern aus vielen Schichten von Ästen und Laub. Aber kein Wall oder Zaun umgab die Ansammlung der fünf oder sechs Dutzend Hütten. Sie standen völlig frei auf einer Lichtung und umgaben mehrere große Feuerplätze. Dahinter aber, halb im Wald vergraben, ragte ein größeres Gebäude über den Dorfplatz. Es war aus großen Stämmen gefügt und besaß einen hohen Turm,
von dem aus man wohl über das ganze Dorf blicken konnte. Männer, Frauen und Kinder liefen uns entgegen und begrüßten die Männer freudig, während Thamai berichtete. Man beobachtete mich nicht ohne Scheu, aber auch nicht unfreundlich. Die Nacht mußte noch jung sein, denn außer drei großen Feuern, an denen Fleisch gebraten wurde und mehrere dampfende Kessel hingen, brannten auch viele Fackeln. Kaum jemand schien zu schlafen. Während sich die Neuankömmlinge an die Feuer begaben, um herzhaft zuzulangen und von ihren sicherlich interessanten Erfahrungen aus ihrem Affendasein berichteten, bat mich Thamai, ihr in eine der Hütten zu folgen. Ich tat es gern, denn für mich war alles ungewohnt, und ich fühlte mich plötzlich sehr einsam unter all den fröhlichen Menschen. Ich konnte nicht sprechen, selbst meine Gesten verstanden sie nicht. Ich fand es unmöglich, so zu nicken oder den Kopf zu schütteln, daß sie sicher waren, ich meinte ja oder nein. Der Körper des Panthers war nicht gebaut für die Gesten der Menschen. Vielleicht würde ich mit der Zeit lernen, wie das Raubtier zu handeln, das ich nun war. Ein wenig, kam es mir vor, fühlte ich es bereits. Der Duft gebratenen Fleisches, der mir noch vor wenigen Stunden als einer der schönsten erschienen war, kümmerte mich jetzt wenig. Es
verlangte mich nach rohem Fleisch. Thamai schien mir nun mein einziges wirkliches Glied zu den Menschen. Sie schien zu wissen, was ich fühlte und welche Fragen mich quälten. Ich durfte sie nicht verlieren. Sicher war auch Pyrai mein Freund. Und Freunde brauchte ich. Ich war voller Lebensdrang, aber wie ein Neugeborenes. In der Hütte war es dunkel, aber meine Augen gewöhnten sich rasch daran. Sie kamen mit viel weniger Licht aus. Ein Mädchen hatte sich verschlafen von ihrem Lager erhoben und sah mir neugierig entgegen. Sie hatte keine Furcht vor mir. Ich dachte, daß ein weißer Fleck auf einem schwarzen Fell sicherlich sehr auffallend sein mußte. Sie war noch sehr jung, aber ich sah sofort die Ähnlichkeit mit Thamai. Ihre Augen waren lebhafter, ihr Mund voller, aber davon abgesehen besaß sie dieselben schönen, ebenmäßigen Züge, die kleine, ein wenig flache Nase, das energische Kinn. Sie gefiel mir. Dabei stellte ich mir insgeheim eine andere Frage: nämlich die, wie mir wohl eine Panthergefährtin gefallen würde. Aber ich hatte vorerst keine Zeit, darüber allzu gründlich nachzudenken, denn Thamai sagte: »Das ist Ubali, Schwester. Er war der Unbekannte, der dich für eine gute Beute hielt. Ubali, das ist Sibile, meine Schwester. Du erinnerst dich an die Gazelle, die du getötet hast, nicht wahr?«
Ich senkte grollend den Kopf. »Du konntest es nicht wissen«, sagte das Mädchen rasch. »Vitu hat uns gesagt, daß du ein Fremder bist. Aus einer anderen Welt. Ich bin dir nicht gram, Ubali. Du hast mein Blut getrunken. Das verbindet uns, und ich fühle, daß keine Gewalt in deinem Herzen ist. Laß uns Freunde sein.« Ich wollte nicken, zustimmen, aber was kam, war eine heftige Bewegung mit der Pranke, vor der ich mich selber gefürchtet hätte. Das Mädchen kam furchtlos zu mir, legte ihre kleine Hand auf meinen Kopf und klopfte mich freundschaftlich auf die Schulter. Das war ein seltsames Gefühl. Nicht unerfreulich, aber ich wollte, ich wäre der alte Ubali gewesen und hätte ihr sagen können, daß ich mich über ihre Freundschaft freute. Die beiden Mädchen verstanden mich auch so. Worüber ich sehr froh war. Die Mädchen gaben mir zu verstehen, daß es sie glücklich machen würde, wenn ich bei ihnen bliebe, solange mir menschliche Gesellschaft angenehm wäre, und nichts tat ich lieber. Die meisten, sagten sie, wären früher oder später der menschlichen Gesellschaft überdrüssig und führten ein freies Leben im Dschungel, je mehr die tierischen Triebe
überhandnahmen. Die meisten hätten auch Gefährten gefunden. Und Kinder, die solchen Verbindungen zwischen Tiermenschen entsprungen wären, hätten immer in menschlicher Gestalt das Licht der Welt erblickt. Sie sagten mir allerdings auch – und sie schien die Tatsache mehr zu bekümmern als mich im Augenblick –, daß sie seit Jahren kein Pantherweibchen in dieser Gegend gesehen hätten, und daß sie nichts von einer Thaimoa-Frau wüßten, die die Gestalt eines Panthers erhalten hätte. Sie waren wirklich besorgt um mich. Thamai hatte von den Affen auch mein Schwert und meinen Dolch erhalten. Beides, zusammen mit meinem Gürtel, bewahrte sie in der Hütte auf. Es schien mir manchmal, während sie sprach, daß Thamai vor etwas Angst hatte, und daß ihr mein Schutz sehr angenehm wäre. Hätte ich ihr nur sagen können, wie gern ich sie beschützte! Ich erfuhr eine ganze Menge über das Dorf. Und vor der Hütte zu liegen, in die Feuer und die fröhlichen Gesichter der Menschen zu starren und den Stimmen der beiden Mädchen zu lauschen, ließ mich für eine Weile vergessen, was mit mir geschehen war. Einmal fiel ein dunkler Schatten über den Eingang. Eine hohe Gestalt stand vor uns. Er begrüßte Thamai
und ihre Schwester sehr höflich, mich aber musterte er mit düsterem Blick. »Das ist Ukandar, der oberste Vitu-peri. Er würde nichts lieber sehen als mich an seiner Seite«, flüsterte Thamai, als er gegangen war. »Aber er ist mir unheimlich. Er ist vielen im Dorf unheimlich. Er ist sehr mächtig. Als oberster der dreißig Vitu-peris unseres Dorfes wird er von vielen als Günstling der Göttin Vitu geachtet, und er versteht es, diesen Glauben weidlich zu nutzen. Ukandar ist sehr alt. Es gibt manche, die behaupten, er sei einer der ersten Thaimoa, den die Göttin aus einem Stier schuf. Zum Dank baute er ihr diesen Tempel.« Sie deutete auf das große Gebäude am Rand des Dschungels. »Aber er ist nicht so alt, daß die alten Legenden auf ihn zuträfen. Mein Vater konnte sich erinnern, daß das Volk der Vitu-thaimoa schon alt war, als Ukandar die Herrschaft übernahm. An sich riß, pflegte mein Vater zu sagen. Aber die solches zu erzählen wußten, sind heute nicht mehr unter uns.« Sie starrte sinnend in die Flammen. Ich verstand noch immer nicht ganz, was es mit diesen Vitu-peris auf sich hatte, in welcher Weise sie begünstigt waren. Lebten sie länger? Ukandar war so etwas wie ein Priester, wenn ich Thamais Worte richtig verstand. Der oberste dazu. Ich hatte schon viele seinesgleichen kennengelernt. Es war
etwas Dämonisches an ihm, das vielen fanatischen Priestern eigen war, denen ihr Amt Macht bedeutete und einen Thron, von dem aus sie auf die Sterblichen herabblicken konnten. Es gefiel mir nicht, und Thamais Worte verstärkten diesen Eindruck noch. Ich würde mich um ihn kümmern. Sie seufzte. »Ich bin sehr froh, daß Vitu dir neues Leben gegeben hat. Es ist lange her, daß ein Fremder zu unserem Volk kam. Eines Tages wirst du mir vielleicht erzählen können, wie die Welt jenseits dieses Dschungels aussieht.« Ihre Hand fuhr in einer nachdenklichen Geste über mein Fell. Ein Schauer rann meinen Rücken hinab, und ich schloß die Augen. »Ich wünschte, ich hätte dich gefunden, statt Rylais Horde.« Sie schwieg, aber ihre Hand blieb auf mir ruhen. Wir starrten in die schwatzende Menge an den Feuern, zu der sich auch Sibile gesellt hatte. Manchmal warfen sie Blicke zu mir herüber, in denen Neugier lag. Männer und Frauen gleichermaßen waren in einfache Felle gekleidet, meist nur um die Lenden. Ich sah keine Waffen an ihnen. Womit sie auf die Jagd gingen, konnte ich nicht feststellen. Vielleicht hatten sie ihre Waffen in den Hütten. Aber nach der Einfachheit ihres Lebens zu schließen, würde ihr Handwerk nicht
sehr ausgebildet sein. Es war möglicherweise auch unnötig. Viele der Tiere waren Verwandelte aus ihren Reihen. Vielleicht jagten sie auch für sie. Sicherlich aber würden sie sie rechtzeitig vor einer Gefahr warnen. Ungeahnte Möglichkeiten lagen in solch einem Zusammenleben. Sicher konnten die Thaimoa es sich leisten, so sorglos und unbewaffnet in diesem ungeschützten Dorf am Feuer zu sitzen. Im Dschungel meiner Heimat hätte es eine tödliche Gefahr bedeutet. Der Mond stand tief am Himmel. Ich sah ihn zum erstenmal. Und noch etwas sah ich – vielleicht als einziger von allen: Das hohe Gebäude des Tempels warf einen dunklen Schatten über die Menschen.
2.
Ich schlief nicht in dieser Nacht. Bis lange nach Mitternacht lag ich vor Thamais Hütte und lauschte den Menschen. Nur langsam und vereinzelt verließen sie die Feuer. Schalen mit einem Getränk kreisten, das
eine berauschende Wirkung zu haben schien, denn einen oder zwei trugen sie in ihre Hütten. Sie stellten auch keine Wachen auf. Schließlich aber war alles still, die Feuer erloschen, ebenso wie die Fackeln vor den Hütten. Nur jenseits, aus den kleinen Fensteröffnungen des Tempels, die wie die Schießscharten einer Burg anmuteten, drang noch flackerndes Licht. Ukandar schlief noch nicht. Ich erhob mich, streckte mich gähnend, warf einen Blick zurück in die Hütte, in der die beiden Mädchen regelmäßig atmeten, und machte mich auf den Weg durch das Dorf. Das Mondlicht war angenehm. Ein Hungergefühl quälte mich. Ich wußte, daß jetzt die Zeit für mich war, zu jagen. Aber erst wollte ich mir den Tempel ansehen. Der Pantherteil in mir wurde auf eine kleine Einzäunung aufmerksam, in denen sich unruhig Tiere bewegten. Geduckt schlich ich näher. Langsam begann ich mich an meinen neuen Körper zu gewöhnen. Wie lautlos er war! Ich erreichte das Gehege und sah, daß es Ziegen waren. Ein halbes Dutzend etwa. Ich sah sie mir genau an. Sie trugen kein Zeichen am Kopf. Sie waren keine Verwandelten. Dennoch unterdrückte ich meinen Jagdinstinkt. Die Thaimoa würden es bestimmt nicht gern sehen, wenn ich ihre Ziegen schlug, die sie mit
Milch und Käse versorgten. Ich zügelte meine Freßlust. Kein Wunder, daß mein Appetit geweckt war. An den Feuern hatten sie den ganzen Abend lang geschmaust, daß es eine Lust war, ihnen zuzusehen. Der Berg von Fleischresten und Knochen, den sie neben dem Feuer für mich häuften, war gut gemeint, aber er interessierte mich nicht sehr. Es widerstrebte mir einfach, angenagte Knochen und Abfall zu vertilgen. Ich war kein Hund. Aber sie schienen aus Erfahrung zu wissen, daß mich Braten nicht mehr locken würde. Ich wollte jagen. Vor dem Tempel standen zwei Männer Wache, was mir seltsam vorkam. Wenn nirgends im Dorf Wachen standen, warum dann hier? Was wollte Ukandar so Wichtiges schützen? Oder wollte er nur etwas verbergen? Die Männer rührten sich nicht. Ich machte, daß ich von der Lichtung kam, wo man mich in dieser mondhellen Nacht schon von weitem sehen mußte. Ob mich die beiden bereits bemerkt hatten, ließ sich nicht feststellen. Ich hoffte nicht. Vielleicht gab es auf der rückwärtigen Seite einen Weg, unbemerkt an den Tempel heranzukommen. Es interessierte mich ungemein, was in dem Gebäude vorging. Ich verließ das Dorf. Den Drang, mich aufzurichten, verlor ich allmählich. Mit einigen Sätzen versuchte ich herauszufinden, wie schnell ich sein konnte. Es war
beeindruckend. Der Dschungel lockte mit aller Macht. Jede Faser dieses mächtigen Körpers sehnte sich nach einem Streifzug durch den nächtlichen Wald. Nur mühsam unterdrückte ich das Verlangen und pirschte mich an den Tempel heran. Das Fundament war auf Steinen errichtet, auf mächtigen Brocken, die sie irgendwo von den Bergen hergebracht haben mußten, denn hier war der Boden weich. Ich konnte mich allerdings nicht entsinnen, während meiner Wanderung über die Prärie Berge gesehen zu haben. Vielleicht gab es sie weiter im Norden, wo Dunst und Wolken sie dem Auge des Wanderers verbargen. Die Palisadenwände waren oft ausgebessert worden. Es gab Stämme, die schienen sehr alt, andere hell und frisch, aber viel war in der Dunkelheit nicht zu erkennen. Mehrere kleine Fensteröffnungen waren von flackerndem Licht erhellt. Ich hörte Stimmen, unter ihnen Ukandars, die ich als einzige kannte. Ich versuchte, mich an der Wand aufzurichten, und obwohl ich immer das Bedürfnis danach gehabt hatte, erwies es sich nun als recht schwierig. Ich wollte vermeiden, mich mit den Pranken gegen die Wand zu stemmen, denn es schien mir möglich, daß es drinnen jemand hören könnte. Ich kam mir vor wie ein Hund, der Männchen machte, und ich lachte ärgerlich. Meine Pantherkehle verwandelte das Lachen in ein
verräterisch lautes Knurren, das ich rasch sein ließ. Humor war offensichtlich nicht unbedingt eine pantherische Gefühlsregung. Es gab da ein paar Dinge, die ich erst mal allein für mich auf einer einsamen Lichtung ausprobieren sollte, bevor ich das ganze Dorf in Aufruhr versetzte. Sie schienen mein Knurren nicht gehört zu haben. Nachdem auch nach geraumer Weile kein Kopf in einer der Öffnungen erschien, um nachzusehen, wagte ich mich erneut hoch. Durch die Öffnung sah ich Ukandar. Zwei Männer standen bei ihm, mit dem Rücken zu mir. Ich konnte sie nicht erkennen. Aber ich sah, daß Ukandar ein kleines Gefäß in der Hand hielt, in das er ein dunkles Pulver schüttete. Als er fertig war, wandte er sich an die Männer: »Er wird morgen kommen, um von Vitus Wasser zu trinken. Tut es ihm hinein. Aber er darf nichts merken. Er ist mißtrauisch. Er weiß, daß er der letzte ist. Er hat Angst. Also Vorsicht.« Die Männer nickten und verließen den Raum. Ich ließ mich zu Boden sinken. Ich zweifelte nicht, daß ich Zeuge eines hinterhältigen Planes geworden war. Aber was konnte ich tun? Ich mußte sehen, wer die beiden Männer waren. Ich konnte nicht reden und Thamai davon erzählen. Und ich wußte nicht, auf wen sie es abgesehen hatten. Aber wenn ich morgen in der Nähe dieser Männer blieb und sie beobachtete, konnte
ich vielleicht selbst noch eingreifen. So geräuschlos wie möglich eilte ich um den Tempel herum und starrte über den freien Platz. Von den beiden Männern war nichts zu sehen. Auch die Wachtposten waren verschwunden. Nur der Priester selbst stand im Eingang seines Tempels und sah mich kalt an. Wußte er, daß ich ihn belauscht hatte? Eines war mir von diesem Augenblick an klar – daß ich einen gefährlichen Feind hatte. Diese erste Nacht im Dschungel war ein ungeheures Erlebnis. Ich legte alles Menschliche ab und begann mich einzufühlen in den Körper, als wäre er schon immer mein eigener gewesen. Ich lehnte mich sozusagen zurück und beobachtete, wie die Reflexe und Instinkte arbeiteten. Ich fing an zu begreifen, was wichtig war, und welche Dinge mich nur als Mensch interessierten, aber für mein Pantherdasein nicht von Bedeutung waren. Ich sah den Dschungel in zwei Bildern. Eines, das ich mir als Ubali machte, und eines, ein tieferes, das ich als Panther gewann. Während ich auf Beutesuche durch den Dschungel schlich, dachte ich nicht mehr an Ukandars Plan und das Dorf. Das konnte warten, bis ich satt zurückkam. Jetzt war es zu gefährlich, Gedanken nachzuhängen. Mein Verstand tat sich mit den Reflexen und Instinkten
zusammen. Ich war kein zweifaches Wesen mehr. Ich verschmolz. Die Geräusche um mich waren mir vertraut. Fast augenblicklich war mir klar, ob ein Rascheln in den Büschen Gefahr bedeutete oder Beute oder keins von beiden war. Ich erkannte bald, daß es sehr wenige Gefahren für mich gab. Ich war der mächtigste. Ich war der König dieses Dschungels. Ich nahm nicht immer den Weg auf dem Boden, sondern kletterte über niedrige Bäume, deren starke Äste ineinander verwachsen waren und streckenweise ein richtiges Stockwerk bildeten. Ich scheuchte eine Familie von Affen auf, kleinere Tiere als Rylai und seine Männer gewesen waren, und schlug meine erste Beute. Ich hatte mich jedoch erst versichert, daß sie nicht Vitus Zeichen trug. Im Widerstreit der Gefühle verschlang ich sie bis auf die größeren Knochen und hatte den Eindruck, daß der Dschungel um mich den Atem anhielt bei dem weithin knirschenden Geräusch. Das hungrige Raubtier, das ich war, fand die Beute sehr schmackhaft. Mir war das Ganze ein wenig zu roh und blutig, obwohl ich mich recht gut daran erinnerte, daß ich am Tag zuvor das Herzblut einer Gazelle getrunken hatte. Aber auch das war unter einem inneren Zwang geschehen. Nun war es jedoch so, daß ich mich daran gewöhnen mußte. Ich fraß, hin und her gerissen, zwischen Ekel und
Wohlbehagen. Ich hoffte, daß der Ekel mit der Zeit schwinden würde, je mehr ich davon vergaß, was mir als Mensch einst schmackhaft erschienen war. Dem Panther in mir war jedenfalls das gebratene Fleisch wenig reizvoll erschienen. Der Affe hatte meinen größten Hunger gestillt, aber ich war bei weitem noch nicht satt. Es eilte nicht mehr so. Ich dachte sogar daran, ins Dorf zurückzukehren und irgendeine Möglichkeit auszudenken, um Thamai auf den Plan des Priesters hinzuweisen. Aber auf dem halben Rückweg überwog der Jagdtrieb wieder. Ich streunte tiefer in den Dschungel. Einmal fing ich die Witterung eines anderen Raubtiers auf. Ich spürte ihm nicht nach. Es war noch zu früh, mich mit einem Rivalen zu beschäftigen. Ich fühlte mich noch zu unsicher. Auf einer Lichtung stieß ich auf wilde Schweine. Sie liefen nicht in blinder Angst davon, sondern versuchten mich durch wildes, angriffslustiges Gehabe abzuschrecken. Vielleicht hätte der Panther tatsächlich das Weite gesucht, um irgendwo eine leichtere Beute aufzustöbern, die ihm weniger Mühe machte, aber ich wußte, daß es nur eine Finte war. Und ich schnappte mir eines. Das war schon eher eine Mahlzeit nach meinem Geschmack. Danach kam ich an einen Bach, in dem ich meinen Durst stillte. Während ich halb im Wasser stand, kam
mir ein Gedanke. Wenn das Wasser des Teiches mich verwandelt hatte, mochte es mich auch wieder zurückverwandeln. Es war jedenfalls einen Versuch wert. Schließlich war die Schlange auch als Mädchen auferstanden, und hatte Thamai nicht gesagt, die hätten sie wieder dem Wasser übergeben, wonach sie wieder eine Schlange geworden wäre. Also was lag näher, als daß das gleiche mit mir geschah? Ich kannte den Weg. In meiner neuen Gestalt fand ich es nicht schwer, mich im Dschungel zu orientieren. Ich erreichte den Teich bald darauf. Er lag still und verlassen in der Dunkelheit. Und er sah seltsam verzaubert aus, denn der sternenübersäte Himmel spiegelte sich darin und gab ihm einen Schimmer von Helligkeit. Unwillkürlich hielt ich an. Er strömte etwas Göttliches aus. Etwas, das Ehrfurcht forderte und Kräfte ahnen ließ, die in dem Spiegel seiner Oberfläche schlummerten und in seiner schwarzen Tiefe. Wie unter einem Bann bewegte ich mich darauf zu. Es war schwer, daran zu glauben, man könnte in dieses Wasser steigen, und nichts würde geschehen. Ein Dämon mußte auf den Frevler lauern. Aber ich überwand diese Furcht, die mich immer vor allem Magischen erfüllt hatte. Ich stieg hinein und brach diesen Spiegel in langsam hinauswandernde Ringe. Dann ließ ich mich sinken.
Der Panther hatte wenig Freude mit diesem Bad. Unbehagen, Ärger, Angst und eine Reihe anderer unerfreulicher Empfindungen überfluteten mich förmlich. Immerhin fühlte ich dabei auch, daß ich, ich selbst blieb, daß der Panther nichts Fremdes in mir war, das mich zu verdrängen suchte. Sondern daß ich dieser Panther war. Ich allein. Was mir zu schaffen machte, waren nur meine menschlichen Erinnerungen. Erinnerungen an Gefühle, Gewohnheiten, kleine Dinge. In der tiefen Dunkelheit unter Wasser sprach keine Stimme zu mir. Vitu schwieg. Ich blieb trotz meiner protestierenden Instinkte unten, bis meine Lungen nach Luft schrien. Dann tauchte ich noch und durchbrach keuchend und knurrend die Oberfläche. Es war nichts geschehen. Ich schwamm ans Ufer und schüttelte das Wasser aus meinem Fell. Ein Geräusch versetzte mich in höchste Angriffsbereitschaft. Es war ein Geräusch, das mein Raubtierinstinkt nicht sofort einordnen konnte. Eine Gestalt kam mir über die kleine Lichtung entgegen. In der Dunkelheit sah ich sofort den weißen Streifen Vitus auf ihrem Schädel. Aber es war eine höchst merkwürdige Gestalt, wie ich sie zuvor noch nie gesehen hatte. Sie ging aufrecht auf zwei Beinen, die fast menschlich anmuteten. Doch diese Beine und der ganze Körper waren mit einem
dunklen Fell bewachsen. Auch der Oberkörper wirkte noch durchaus menschlich, und die langen behaarten Arme endeten in Fingern, an denen statt der Nägel Krallen wuchsen. Der mächtige Schädel aber war furchterregend. Er besaß die scharfen Zähne eines Wolfes. Aber das Erschreckende daran war, daß der Rachen, die glühenden Augen, die fliehende Stirn, selbst die spitzen Ohren trotz ihres wölfischen Aussehens noch immer eine Spur menschlicher Züge trugen. Ein Knurren kam aus dem Rachen. Das Wesen ballte seine Fäuste. Es schien mir eine hilflose Geste. Etwas mußte während seiner Verwandlung geschehen sein, durchzuckte es mich. Vielleicht war der Tiermensch bei Vitu in Ungnade gefallen. Vielleicht war es die Strafe für alle, die das Leben mißachteten. Er konnte ebensowenig sprechen wie ich. Auch unsere Gedanken fanden einander nicht. Wir starrten uns nur an. Sein Blick wanderte zum Teich. Sicher befand sich in diesem furchtbaren Körper ein Wesen, das denken konnte, sonst hätte es wohl nicht das Zeichen Vitus getragen. Das bewegte Wasser verriet ihm, daß ich aus dem Teich gestiegen war. Er schüttelte unwillig den Kopf. Dann wandte er sich um und verschwand im Dickicht. Eine ganze Weile starrte ich ihm in die Dunkelheit nach, bevor ich mich, enttäuscht über meinen
vergeblichen Versuch und von Unbehagen über diese Begegnung erfüllt, auf den Weg zurück zum Dorf machte. Ich erreichte es, als die Morgendämmerung die letzten Sterne verblassen ließ. Es war alles still. Satt, aber nicht zufrieden mit meinem ersten nächtlichen Ausflug legte ich mich vor Thamais Hütte nieder und schloß die Augen. Ich hatte Katzen immer ob ihrer Art zu ruhen beneidet. Die verrücktesten Wünsche gehen manchmal in Erfüllung.
3.
Das Dorf wurde langsam wach, als die Sonne aufging. Eine Schar Männer und Frauen und ein halbes Dutzend Kinder verließen die Hütten mit einfachen Ackergeräten und begaben sich auf die kleinen Felder jenseits des Dorfes. Die Ziegen wurden gemolken, nachdem sie beim Anblick der ersten wachen Bewohner ein lautes Gemecker angestimmt hatten. Männer machten sich auf den Weg in den Dschungel.
Sie hatten große Bogen bei sich und lange Stöcke, die sie mit kleinen Pfeilen luden. Das waren also ihre Jagdwaffen. Sie nickten mir freundlich zu, als sie sich auf den Weg machten, um die Fleischvorräte des Dorfes zu ergänzen. Ich folgte ihnen ein Stück, kehrte dann aber um. Die Beobachtung des Dorfes war nun wichtiger. Wenn ich mich schon niemandem mitteilen konnte, wollte ich wenigstens versuchen, soviel wie möglich zu erfahren. Vielleicht gab mir Vitu eines Tages meine Gestalt wieder, dann würde mir dieses Wissen von Nutzen sein. Als ich zurückkam, waren auch die beiden Mädchen wach. Sie freuten sich, mich zu sehen, und meine Freude war nicht geringer. Thamai erklärte mir, daß sie bis zum Mittag im Tempel zu tun habe, denn heute sei der Tag, da viele der Alternden Vitus Trank zu sich nehmen würden, der ihnen Kraft und Jugend gab. Das werde in regelmäßigen Abständen getan. Dabei fiel mir auf, daß ich tatsächlich kaum einen alten Mann oder eine alte Frau im Dorf gesehen hatte. Die ältesten waren in den besten Jahren. Mit dem Trank hielten sie sich also jung. Der Trank war das Wasser einer kleinen Quelle, die im Innern des Tempels aus der Erde sprudelte. Das gefiel mir gar nicht, denn diejenigen, die trinken
wollten, würden sich in den Tempel begeben, und ich hatte das Gefühl, daß es Schwierigkeiten geben würde, was meinen Einlaß betraf. Ich hatte in dem Tempel nichts verloren. Aber wie sollte ich Ukandars Plan rechtzeitig durchkreuzen, wenn sie mich nicht hineinließen. Es blieb nur eine Hoffnung: daß Thamai mich mitnahm und trotz aller Proteste des Oberpriesters auf meiner Anwesenheit bestand. Thamai erklärte mir auch, daß das Wasser des Teiches, wenn Vitu es wollte, voll heilender Kräfte war, daß selbst Todkranke wieder gesund geworden waren. Ich zweifelte nicht an ihren Worten. Es war so vieles geschehen, das wie Zauberei anmutete. Ich hatte mich auf dem Rückweg zum Dorf so erfrischt und kraftvoll gefühlt, daß es sicherlich nicht nur mit der Mahlzeit zu erklären war. Das Wasser des Teiches war sehr belebend gewesen. Ich erfuhr, daß Thamai die einzige weibliche Vitu-peri war, aber daß sie nicht wie alle übrigen Priester in dem geräumigen Tempel wohnte, sondern es vorgezogen hatte, mit den anderen Thaimoa im Dorf zu leben. Das hatte ihr viel Zuneigung eingebracht. Die Menschen kamen mit ihren Sorgen zu ihr, und meist wußte sie zu helfen, während Ukandar wie ein König herrscht und alle seine Macht fühlen ließ. Er herrschte in Vitus Namen, und es gab viele, die ihn fürchteten.
Doch sie gehorchten. Vitu war ihr Allgeist, ihre einzige Göttin, die sehr deutlich zeigte, wie sie über das Volk der Thaimoa wachte. Wenn etwas in ihrem Namen geschah, dann wagte niemand, es anzuzweifeln. Wer wußte schon etwas von den Wegen und Prüfungen der Götter. Ukandar verstand dies wohl zu nutzen. Als hätte sie meine stumme Frage geahnt, erklärte mir Thamai endlich auch, warum die Vitu-peri Begünstigte waren. Sie verwandelten sich nämlich nicht in Tiere, wenn Vitu ihnen im Teich des Lebens ein neues Leben gewährte. Sie mußten alle ziemlich alt sein. Vielleicht auch Thamai. Kein Wort war bisher noch vom Tod gefallen – vom endgültigen Tod. Gab es ihn überhaupt? Sie hatten nicht viel Nachwuchs. Kaum ein Dutzend Kinder hatte ich im Dorf gesehen. Unter anderen Gegebenheiten wäre solch ein Stamm zum Aussterben verurteilt gewesen. Ich hielt mich dicht an Thamais und Sibiles Seite, als sie zum Tempel gingen. »Du willst mit?« fragte sie verwundert am Tempeleingang, als ich nicht von ihrer Seite wich. Ich knurrte zustimmend. »Ich weiß nicht, ob das gehen wird«, sagte sie zweifelnd. »Ukandar ließ noch nie einen in Tiergestalt in den Tempel, wenn nicht triftige Gründe vorlagen ...« Ich schüttelte unwillig den Kopf.
»Ich denke, er ist neugierig, Schwester«, warf Sibile ein. »Er ist ein Fremder. Daß Vitu ihm noch ein Leben gab, obwohl er gegen ihr Volk kämpfte, beweist, daß sie ihm gut gesinnt ist. Sicher ist es auch ihr Wille, daß er alles über uns erfährt, damit er nicht länger ein Fremder bleibt. Nicht wahr, Ubali, du willst kein Fremder bleiben?« Ich knurrte erneut. »Gut, gut«, sagte Thamai lachend. »Wir werden Ukandar schon überzeugen. Er weiß, daß er sich unbeliebt macht, wenn er mir einen Wunsch abschlägt. Und er will ja meine Gunst gewinnen.« Wir gingen ins Innere. Der Raum war groß, fast so groß wie die Audienzhalle in Myra, aber dunkel, denn durch die kleinen Fensteröffnungen fiel nur spärliches Licht. Auch die beiden Fackeln an der gegenüberliegenden Wand vermochten ihn nicht aufzuhellen. Zwei der Unterpriester eilten geschäftig hin und her und schöpften Wasser aus einer leise plätschernden Quelle in kleine Schalen und stellten sie auf einen Altartisch. Er war aus starken Stämmen gefügt und ohne Zier, oder Figur und dergleichen. Der Raum war noch ziemlich leer, aber nach und nach strömten die Dorfbewohner herein. Die beiden Priester sahen mich unwillig an, unternahmen aber nichts. Ein wenig später begab sich einer durch einen
Fellvorhang in einen Hinterraum. Vermutlich war es das Zimmer, das ich in der Nacht beobachtet hatte. Aber ich mochte mich auch irren. Der Tempel war ziemlich groß und besaß eine ganze Anzahl Räume. Kurz darauf erschien Ukandar selbst und musterte mich mit demselben kalten Blick, mit dem er mich auch des Nachts schon bedacht hatte. Ich setzte mich. Er deutete das ganz richtig als Geringschätzung und Herausforderung und biß sich wütend auf die Lippen. »Ich nehme an, du hast wichtige Gründe, ihn hierherzubringen, Thamai«, sagte er mit mühsam unterdrücktem Ärger. »Es ist Vitus Wille, Ukandar«, erwiderte sie. »Vitus Wille?« Er sah sie erstaunt an, als wollte er sagen: Und ich weiß nichts davon? Ich, ihr oberster Priester? »Vitu hätte ihn nicht zu einem Thaimoa gemacht, wenn sie nicht auch gewollt hätte, daß er mit unseren Gebräuchen vertraut wird. Wie soll er Vitu verstehen und danken, wenn wir ihm unser Wissen verweigern?« erklärte das Mädchen. Ukandar lenkte ein. »Ja, das mag sein, Thamai. Ich vergaß, daß er ein Fremder ist. Aber du weißt, wie ich über die Verwandelten denke. Vitu würde ihnen nicht die Gestalt eines Tieres geben, wenn sie nicht auch
wollte, daß sie ein solches Leben führen – draußen im Dschungel, wo sie lernen und Läuterung erfahren. Nicht hier im Dorf, wo sie nie ganz frei von allem Menschlichen werden.« Er deutete auf mich und sagte bestimmt: »Er mag also lernen, was es über uns zu erfahren gibt. Aber dann wird er gehen, wie es das Gesetz verlangt!« »Welches Gesetz, Ukandar? Vitus? Oder deines?« fragte Thamai nicht ohne Kälte. Er wandte sich brüsk um und verschwand im Hinterzimmer. Ich fragte mich, ob er fürchtete, daß ich etwas von seinem Plan wußte. Warum war er sonst so erpicht, mich aus dem Dorf zu haben? Vielleicht änderte er seinen Plan. Hier in diesem stillen Raum zu sitzen und zu grübeln, war kein sehr pantherisches Verhalten. Es war einer jener Augenblicke, da ich vergaß, daß ich keine menschliche Gestalt mehr hatte. Sibile legte ihren Arm um meinen Hals. »Wir haben gewonnen«, flüsterte sie triumphierend. Immer mehr füllte sich der große Raum. Die Menschen saßen in kleinen Gruppen am Boden auf geflochtenen Binsenmatten. Manche unterhielten sich leise, andere starrten nur einfach nach vorn zur Quelle. Ganz vorn bildete sich ebenfalls eine Reihe von Sitzenden. Das waren wohl diejenigen, die den Trank einnahmen. Unter ihnen mußte sich auch das Opfer befinden. Irgendwie mußte ich näher heran.
Die Gelegenheit ergab sich, als Thamai nach vorn ging und sich zu den Priestern gesellte. Der Beginn stand kurz bevor, das war deutlich von allen Mienen abzulesen. Ich folgte Thamai, und Sibile hastete hinter uns her. Aber es klappte nicht so gut, wie ich es mir gewünscht hätte. Vier oder fünf Priester stellten sich uns in den Weg. »Halt! Zurück ...!« Thamai tat, als ob sie erst jetzt bemerkte, daß ich gefolgt war. »Tut mir leid, Ubali«, sagte sie entschuldigend. Weiter darfst du nicht. Sibile, bleib bei ihm, bis ich zurück bin.« »Gern, Schwester.« Ich setzte mich wieder, um Thamai zu erkennen zu geben, daß ich ihre Anordnung nicht mißachten würde. Ich befand mich nun in der Nähe der ersten Reihe, aber doch so weit dahinter, daß ich keines der Gesichter sehen konnte. Ich hätte sie mir gerne angesehen. Immerhin war ich nahe genug, daß ich den Priestern auf die Finger sehen konnte. Gleich darauf trat Ukandar vor die Versammelten und hielt eine schwülstige Rede über die einfachen Dinge, die diese Menschen bewegten. Daß es ein gutes Jahr gewesen sei, daß Vitu ihnen wohlgesinnt sei – und, kurz zusammengefaßt, daß das alles mehr oder weniger sein Verdienst gewesen sei. Das alles nahmen die Versammelten schweigend auf.
Ich fragte mich, ob Ukandars Macht vielleicht auch darin begründet war, daß er allein bestimmen konnte, wer von dem Wunderwasser trank. Dann erklärte Thamai der Menge meine Anwesenheit im Dorf und auch im Tempel, und das war sehr klug von ihr. Die Versammelten murmelten zustimmend, während der Oberpriester wütend im Hintergrund stand. Aber er konnte sich schlecht darüber hinwegsetzen, daß die Menge mich vorerst in ihrer Mitte aufgenommen hatte. Natürlich war das letzte Wort noch nicht gesprochen. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, daß ich hier als Haustier aufgenommen war. So einfach wie die Menschen waren, so ohne äußerlichen Prunk war auch die Andacht zu Vitus Ehren. Ein Gebet wurde gesprochen, das mir zeigte, wie sehr die Menschen mit ihrer Lebensgöttin verbunden waren und wie gegenwärtig sie sie in allem fühlten, was sie taten und waren und je sein würden. Und in meiner augenblicklichen Lage konnte ich nicht umhin, auch ein wenig davon zu spüren. Dann begann die Verteilung des Wassers. Vier der Priester taten es gleichzeitig, unter ihnen Thamai. Entmutigt ließ ich meinen Blick hin und her wandern. Es war unmöglich, alle gleichzeitig zu beobachten. Eigentlich waren es nur drei, denn um Thamai
brauchte ich mich nicht zu kümmern. Sie schritten jeder mit einer Schale des Wassers zu den nun Knienden der ersten Reihe, knieten sich zu ihnen und hielten ihnen die Schale entgegen. Diese nahmen sie, tranken einen Schluck daraus, reichten sie zurück, tauchten die Hände ein und wuschen damit ihr Gesicht. Damit war der einfache Ritus beendet, und die Priester begaben sich an den Tisch zurück, um neue Schalen zu holen. Bis jetzt war nichts geschehen. Ich überlegte verzweifelt, wie es geschehen könnte. Ich behielt auch den Tisch im Auge, aber niemand machte sich an den vollen Schalen zu schaffen. War das Gift bereits drinnen? Nein, nur zwei der Priester waren eingeweiht. Zu leicht hätte es geschehen können, daß die Schale an den Falschen kam. Jetzt näherten sie sich der zweiten Gruppe, und der gleiche Ritus begann. Wiederum war nichts Verdächtiges zu bemerken. Sechs Männer und ein Mädchen waren noch übrig. Das Mädchen schied aus. Sie hatten von einem Mann gesprochen. Sie kamen auf die nächsten vier zu, welche tranken und die Schalen zurückreichten. Als sie die Hände eintauchten, um sie für die Waschung zu benetzen, sah ich plötzlich an der Brust eines der Priester einen kleinen Lederbeutel an einem Riemen baumeln. Er sah
aus wie ein Amulett, darum hatte ich ihn nicht beachtet. Und dann sah ich mit Entsetzen, daß der Beutel bereits offen war ... Mit zwei Sätzen schnellte ich meinen geschmeidigen Körper über die Sitzenden hinweg, ohne auf die Rufe der überraschten Sibile zu achten. Ich erreichte die Knienden und sprang den Priester an, der zurückflog und gegen den Tisch prallte, während die Schale in hohem Bogen gegen die Wand fiel und zerbrach. Aber ich sah, daß es bereits zu spät war. Der Kniende, der wie ein jung aussehender Greis wirkte, hatte bereits getrunken und sich gewaschen. Ein Aufschrei war durch die Menge gegangen. Selbst Thamai starrte mich entsetzt an. In den Augen des Knienden las ich Furcht. Wutschnaubend stürzte Ukandar auf mich zu. Er winkte seinen Priestern, von denen einer einen Stock brachte und ihn drohend schwang. Offenbar hatten sie vor, mich hinauszuprügeln. Das war kein Abgang nach meinem Geschmack. Ich knurrte drohend und fletschte die Zähne. Das hielt sie auf. Voller Genugtuung sah ich die Furcht in ihren Augen. Nur Ukandar konnte sich vor Wut kaum beherrschen. »Thamai!« drohte er. »Er hat den Tempel entweiht! Bring ihn hinaus, bevor ein Unglück geschieht ...!« Dabei starrte er mich haßerfüllt an. Aber ich glaubte,
Triumph in seinen Augen zu sehen – was mich in meiner Meinung bestärkte, daß ich bereits zu spät gekommen war. »Bitte, geh hinaus, Ubali«, sagte Thamai traurig. Ich sah, daß sie nicht begriff, was geschehen war. Aber ich entdeckte Verwunderung in ihrem Gesicht, als sie sich dem Knienden zuwandte. Auch ich sah ihn mir an, bevor ich mich in Bewegung setzte. An ihm hatte sich nichts verändert. Nur seine Furcht war größer geworden. Die Versammelten machten mir rasch Platz, als ich hinauslief. In ihren Mienen war Erstaunen. Wie konnte ein Fremder so undankbar sein und ihre Andacht stören! Im Freien schüttelte ich mich. Ich war froh, all den starrenden Augen entkommen zu sein. »Ubali!« Sibile eilte hinter mir her. »Ubali! Was hast du dir dabei gedacht? Nun sind alle böse auf dich. Und auf Thamai auch! Was war nur los? Ausgerechnet während Onkel Thanas an der Reihe war ...!« Ich gab mich zerknirscht und hoffte, daß es auch einem Panther möglich war, zerknirscht auszusehen. Aber meine Gedanken beschäftigten sich mit dieser Neuigkeit. Ihr Onkel also! Sagte Thamai nicht, daß auch ihrem Vater etwas zugestoßen wäre? Und Ukandar hatte gesagt, er wäre der letzte. Der letzte ...
wovon? Aber mit Onkel Thanas war nichts geschehen. Ich hatte nichts entdecken können. Vielleicht war der Beutel bereits bei den ersten oder zweiten vier leer gewesen. Mutlos schüttelte ich den Kopf. Ich konnte nur abwarten und die Augen offenhalten. Aber es war gefährlich geworden. Ukandar wußte nun, daß ich von seinen Plänen Wind bekommen hatte. Wenn ich nur hätte reden können ...! Aber ich war in diesem Käfig aus Muskeln und schwarzem Fell allein mit meinen Gedanken und Fragen. Ich konnte nur darauf warten, daß jemand auf die Idee kam, mir meine stummen Fragen zu beantworten. Sibile wich nicht von meiner Seite. Ich konnte spüren, daß sie eine tiefe Zuneigung zu mir gefaßt hatte – ein seltsamer Umstand, wenn man bedachte, daß ich sie vor kurzem getötet hatte. Aber diese Menschen dachten anders. Es fiel ihnen leichter, zu verzeihen. Und dann schien das Blut, ihr Blut, das ich getrunken hatte, Bande zwischen uns zu knüpfen, die sie deutlicher fühlte als ich. Ich erfuhr viel aus ihrem Leben. Ich lauschte allen ihren Worten sehr aufmerksam – in der Hoffnung, dabei auch auf Antworten auf meine Fragen oder wenigstens Andeutungen zu stoßen. Sie war achtzig
Regenzeiten alt. So rechnete man hier die Zeit. Ein genaues Bild konnte ich mir daraus allerdings nicht machen, selbst wenn ich ein Jahr für eine Regenzeit nahm. Denn ich wußte nicht, wie lange ein Jahr dauerte, wie viele Tage das waren. Außerdem mochte es ebensogut zwei oder drei Regenzeiten in einem solchen Zeitraum geben, wie wir ihn das myranische Jahr nannten. Ich hätte sie auf ein wenig mehr als ein Dutzend Sommer geschätzt, aber dieses beinahe noch kindliche Aussehen mochte sie dem Wasser Vitus verdanken. Sie war durch einen fallenden Baum schwer verletzt worden, und Vitu hatte ihr in ihrer Güte ein weiteres Leben als Gazelle beschert, das sie zwei Regenzeiten lang geführt hatte, bevor ich kam und erneut ihr Leben nahm. Ich hoffte, sie würde mir auch von ihrer Familie erzählen, aber außer daß sie erwähnte, daß Thamai viel älter sei als sie, ließ sie sich nicht darüber aus. Sie bat mich, sie einmal in den Dschungel mitzunehmen, wogegen ich nichts einzuwenden hatte. Es erschien mir nicht allzu gefährlich. Die Menschen hier waren mit den Dschungel aufgewachsen, hatten ihn meist schon selbst als Tiere erlebt. In meiner Begleitung war sie jedenfalls sicherer als allein. Als Thamai vom Tempel zurückkam, war sie sehr nachdenklich, daß selbst Sibile sie verwundert frage:
»Was hast du, Schwester?« Thamai schüttelte den Kopf. »Es wird Kummer geben mit Ubali«, erklärte sie. »Wegen des Vorfalls im Tempel?« Thamai nickte. »Ukandar will ihn aus dem Dorf jagen, wenn nötig mit Gewalt.« »Das wird er nicht wagen!« »Wer weiß. Er war sehr erregt. Ich verstehe diese Ablehnung nicht. Es muß irgend etwas zwischen ihm und Ubali vorgefallen sein, nicht wahr, Ubali.« Ich versuchte zu nicken, aber es wurde nichts Rechtes. »Wenn du nur sprechen könntest«, seufzte sie. Das war genau mein Wunsch. »Ich habe Vitu befragt, aber sie hat mir nicht geantwortet. Was soll ich nur tun?« »Willst du dich Ukandar beugen?« fragte Sibile entsetzt. »Ich fürchte, ich werde es müssen ...« »Niemals, Schwester. Viele im Dorf wären dann seiner Willkür ausgeliefert. Er weiß sehr wohl, daß Vitu dich als ihre Priesterin liebt, weil du ihr Volk liebst. Er wird nicht so weit gehen, Vitus Zorn auf sich zu laden. Außerdem begehrt er dich. Nein, Schwester, er mag drohen oder vielleicht sogar heimlich etwas gegen Ubali unternehmen, aber er wird nicht wagen, öffentlich gegen dich vorzugehen. Zu leicht könnte er sein Gesicht verlieren. Vertraue auf Vitu, Thamai. Laß
Ubali nicht vorgehen.« Nachdenklich blickte sie Sibile an. »Du hast recht. Und abgesehen davon, daß wir unseren schwarzen Freund ins Herz geschlossen haben, gibt es auch noch ein paar andere Gründe. Ubali weiß etwas. Er hat das im Tempel nicht ohne Grund getan. Daß es gerade Onkel Thanas war, erscheint mir besonders bedeutungsvoll. Er ist der letzte der Alten, aus der Zeit von Vaters Regentschaft.« Sie setzte sich und stützte ihre Stirn in die Hände. »Ich habe nie verstanden, warum eine so gütige Seele wie Vater zum Paria wurde. Vielleicht gibt es Dinge, die auch über die Macht Vitus hinausgehen. Aber sicher ist es nicht, wie Ukandar immer behauptete, daß Parias ihr Schicksal, dem Zorn der Göttin zu verdanken hätten.« Sie wandte sich mir zu. »Parias, mußt du wissen, sind halb Mensch, halb Tier. Sie leben tief im Dschungel, aber manchmal kann man sie sehen. Es heißt, daß sie von einem unmenschlichen Hunger befallen sind und nicht davor zurückschrecken, auch Menschen anzufallen – oder Verwandelte, die das Zeichen Vitus tragen.« Dann war die unheimliche Gestalt, der ich am Teich begegnet war, ein Paria gewesen. »Ukandar wird jedes Mittel nützen, um das Dorf gegen Ubali aufzuhetzen«, fuhr Thamai fort. »Es wird nicht leicht werden. Aber eines machte mich stutzig. Er verkündete vor versammelter Menge, daß Vitu erzürnt
über diesen Frevel sein werde, und daß es nicht in seiner Macht läge, es abzuwenden, wenn der bedauernswerte Thanas das Opfer ihres Zorns wäre. So als ... erwartete er, daß mit Thanas etwas geschähe. Oh, Vitu, er ist ein Teufel.« Sie schluchzte. »Onkel Thanas war sehr bedrückt, als er den Tempel verließ. Er hatte Angst. Er sagte mir, daß er schon lange Angst habe, seit dem Tag, da Vater ...« Sie brach ab. Ich hatte plötzlich einen phantastischen Einfall: Wie, wenn Ukandar es gewesen war, der dafür gesorgt hatte, daß seine Gegner zu Parias wurden? Wenn ich es recht verstanden hatte, war vor ihm Thamais Vater der Anführer dieses Volkes gewesen. Dieses Mittel im Trank mochte dafür verantwortlich sein. Es war nur eine Vermutung, aber sie schien mir mit jedem Augenblick wahrscheinlicher. Wenn Thanas einst im Gefolge des alten Herrschers gewesen war, dann war ihm vielleicht so manches aufgefallen, das Ukandar nun fürchten mußte, trotz der langen Zeit, die dazwischen lag. Offenbar hatte der Priester bereits alle anderen beseitigt, wenn Thanas der letzte war. Nach ihm gab es keine Zeugen mehr über die alte Zeit, und Ukandar konnte den Mythos seiner seit Anbeginn bestehenden Herrschaft ohne Schwierigkeiten zur Tatsache erheben. Daran lag ihm sicher, denn er mußte seine Macht festigen. Aber nun war nichts zu tun, als abzuwarten. Wenn
Thanas zum Paria wurde, gab es für mich keinen Zweifel mehr. An diesem Nachmittag wurde ich Zeuge einer Auseinandersetzung zwischen Thamai und Ukandar. Er kam mit einem Dutzend seiner Priester zu ihrer Hütte und erklärte, während aus den meisten Hütten Neugierige herüberblickten: »Ich sehe, Thamai, daß du deinen schwarzen Liebling noch immer bei dir hast, obwohl er Vitus Zorn auf sich geladen hat ...« Er war sich aber auch durchaus meines Zornes bewußt, denn er gab seinen Männern ein Zeichen, worauf sie ihre Blasrohre auf mich richteten. Ich war sicher, daß ich die Hälfte von ihnen erledigen konnte, aber der Gedanke, gespickt wie ein Borstenvieh aus dem Kampf hervorzugehen, war nicht sehr angenehm. Auch konnte ich nicht sicher sein, ob ihre Pfeile nicht vergiftet waren. Und letztlich war ich hilflos, wenn ich erst tot war. Der Priester würde es sicher zu verhindern suchen, daß ich zum Lebensteich gebracht wurde. Ich wußte auch nicht, ob Vitu mir ein neues Leben gewähren würde. So verhielt ich mich vorerst ruhig und wartete ab. Doch wenn sie sich an Thamai vergriffen ...! »Vitus Zorn?« fragte Thamai. »Davon hat sie mir nichts gesagt, Ukandar. Nein, ich glaube nicht, daß Vitu dem Fremden zürnt. Welchen Grund hätte sie
wohl?« »Der Frevel, den er in ihrem Tempel begangen hat ...«, begann der Priester. »In eurem Tempel, meinst du wohl«, widersprach Thamai scharf. »Vitus Tempel ist der Himmel und die Erde, der Dschungel und das Herz, das in uns allen schlägt. Oder denkst du wahrhaftig, das düstere Haus, das du auf ihrer Quelle errichtet hast, könnte die Menschen dem Lebensgeist näherbringen, als die Sonne oder die Sterne es vermögen. Es ist nichts weiter als ein Käfig, Ukandar, in den du die Menschen und die Götter sperren möchtest, um über sie zu herrschen. Mit den Menschen mag dir das gelingen. Hast du keine Furcht, Ukandar? Keine Ehrfurcht?« Der Priester funkelte sie wütend an. »Du bist deines Vaters Tochter«, sagte er mühsam beherrscht. »Eines Tages werden meine Sinne frei von dir sein. Besinne dich rechtzeitig, ob du deine Gunst vergeuden willst.« Nach diesen Worten gab er seinen Männern ein Zeichen und wandte sich wortlos ab. Wir starrten ihnen nach, bis sie im Tempel verschwanden. »Du bist über dich hinausgewachsen«, frohlockte Sibile. »Mit Vitus Hilfe«, erwiderte Thamai mit ernstem Gesicht. »Ich bin sicher, das war noch nicht alles. Lauf, sag Rylai Bescheid. Auf ihn kann ich mich verlassen. Er mag in meine Hütte kommen.«
Sie lächelte, als Sibile die Hütte verlassen hatte. »Ich habe deine Augen beobachtet, Ubali. Du hättest ihn am liebsten verschlungen.« Ich knurrte zustimmend. Sie kam auf mich zu. »Ich lasse dich nicht fort«, erklärte sie. »Eines Tages wirst du reden können. Dann werden wir uns vieles sagen.« Ihre Hand berührte mich mit impulsiver Zuneigung. Wenigstens deutete ich es so. Es war schade, daß der Panther so wenig Gefallen an ihr fand. Aber es war verständlich, denn die Gefährtin seiner Vorstellungen hätte dem guten alten Ubali auch nicht besonders gefallen. Was jedenfalls noch von Ubali vorhanden war, war sehr von Thamai eingenommen.
4.
Es war deutlich zu sehen, daß Rylai auf Thamais Seite stand. Er verehrte sie fast wie eine Göttin. Und er hatte beide Augen auf Sibile geworfen. Das war wohl auch der Grund, warum er so schnell zur Stelle gewesen
war, als ich die Gazelle tötete. Er hatte über sie gewacht. Eine Gazelle war ein recht hilfloses Tier, und es gab auch Raubtiere im Dschungel, die Vitus Zeichen nicht trugen. Wie weit sie seine Gefühle erwiderte, konnte ich nicht erkennen. Sie mochte ihn. Aber er war ein halber Riese, und in seiner Gegenwart wirkte sie noch kindlicher. Er fürchtete Ukandar nicht, aber er war kein Narr, der die Gefahr nicht sah. Er besaß großen Einfluß im Dorf. Viele der Jäger, erklärte er, würden für ihn durchs Feuer gehen. Daran hatte auch seine Abwesenheit nichts geändert. Er versprach, Ukandar im Auge zu behalten und sich auch um Thanas zu kümmern, den Thamai in großer Gefahr wähnte. Mir war nicht klar, welche Art von Gefahr das sein sollte. Das Gift im Trank, warum wirkte es nicht? Hatte der Anschlag doch nicht auf ihn stattgefunden? Oder wäre einer der nächsten an der Reihe gewesen? Dann hatte ich vielleicht doch rechtzeitig eingegriffen! An diesem Abend ging ich früher auf Jagd, und ich nahm Sibile mit. Sie hatte einen Bogen bei sich. Ich hatte bereits gesehen, daß sie sehr geschickt damit umzugehen verstand. Wir streiften durch den abendlichen Wald. Ich beschloß, meinen eigenen Beutezug auf später zu
verschieben. Es mochte kein sehr erbaulicher Anblick für sie sein, wenn ich meine Beute riß. Als sie müde wurde, trug ich sie auf dem Rücken. Es war eine angenehme Wärme, die von ihrem Körper kam. Ich spürte ihr Gewicht kaum, aber ich spürte ihr Herz, wie es vor Aufregung schlug, wenn ich mit mächtigen Sätzen über Hindernisse hinwegsetzte. Als wir gegen Mitternacht ins Dorf zurückkamen, herrschte große Aufregung. Thanas war ein Unglück zugestoßen. Ein Raubtier – Ukandar, der behauptete, es gesehen zu haben, beschwor, es sei ein Paria gewesen hatte Thanas angefallen und übel zugerichtet. Thamai untersuchte ihn und erklärte, daß es nicht mehr genüge, die Wunden zu versorgen. Thanas müsse in die Obhut der Göttin Vitu. Sie ließ sofort alle Vorbereitungen treffen. Eine kleine Gruppe, bestehend aus Ukandar und einigen Priestern, Rylai und seinen Jägern und Thamai, trug den Schwerverletzten hinaus zum Teich des Lebens. Dort wurde er dem Wasser übergeben. Aus den Gesprächen entnahm ich, daß es Stunden dauern würde, bis Vitu ihn wieder freigab. Ich nahm die Gelegenheit für einen raschen Jagdausflug wahr. Als ich eine Stunde später satt zurückkam, hatte sich noch nichts ergeben. Erst gegen Morgen war es soweit. Thamai war die erste, die es spürte. Sie hatte längere Zeit bereits in sich
versunken dagesessen. Ich dachte mir, daß sie bereit war, mit Vitu zu sprechen, wenn die Göttin sie anhörte. Sie sagte: »Thanas ist auf dem Wege zu uns. Laßt uns ihn empfangen.« Dann schritt sie, noch mehr abwesend, zum Teich. Ich ging an ihrer Seite. Auch die Männer hatten sich erhoben. Alle starrten gespannt auf die reglose Oberfläche des Teiches. Vermutlich waren sie neugierig, welche Gestalt Vitu dem Mann gegeben hatte. Einige der Priester kamen mit den Fackeln nahe heran, damit genügend Licht auf die auftauchende Gestalt fallen konnte. Bald darauf sahen wir einen Schemen auftauchen. Dann brach spritzend die Oberfläche, und ein Kopf erschien, der manchen der Umstehenden aufschreien ließ. Ich spürte selbst einen Schauder unter dem Fell, während meine Gedanken hinausschrien, daß der Priester ein Schurke war. Aber niemand hörte mich. Alle starrten auf das Ungeheuer, das aus dem Wasser stieg und triefend auf uns zutaumelte. Das Ungeheuer, das einst Thanas gewesen war. Es sah aus wie ein Mensch und doch nicht wie ein Mensch. Wie der eine Paria, den ich gesehen hatte, ging er aufrecht. Sein Körper war schuppig wie der einer Echse. Das Gesicht war schmal, die so menschlich wirkenden Augen saßen seitlich. Sie waren ohne Lider. Sein Mund war der eines Raubfisches mit spitzen,
sägeartigen Zähnen. Er sah uns entgegen, ein wenig seitlich, um uns mit diesen Augen wahrnehmen zu können, aber er mußte halb blind sein. »Willkommen ...«, begann Thamai und brach erstickt ab. Der arme Teufel öffnete die Arme hilflos. Er schien noch nicht ganz zu begreifen, was mit ihm geschehen war. »Seht!« triumphierte Ukandar und deutete mit der Fackel auf die Gestalt. »Seht Vitus Zorn! So wird es allen ergehen, die das Wort ihrer Priester mißachten. Oder es wird Unschuldige treffen, wie Thanas ...!« Die erbärmliche Hilflosigkeit und Ukandars grausamer Triumph waren es, die mich handeln ließen. Ich konnte mir nicht denken, daß es zu ertragen sei, als solch ein Ungeheuer zu leben. Ich würde eine zweite Chance wählen oder sterben. Und ich traf die Wahl in diesem Augenblick für Thanas. Mit einem Grollen sprang ich vor und riß die Gestalt zu Boden, bevor mich jemand aufhalten konnte. Ich spürte seine Kiefer an meiner Schulter zuschnappen. Es war nur ein Reflex. Bevor er erkannte, was geschah, brach ich sein Genick mit einem einzigen Biß. Das Knirschen, das in der atemlosen Stille unüberhörbar war, brach den Bann. Während Rylai und die Jäger unentschlossen auf Thamai blickten,
stürmte Ukandar mit einem Wutschrei vorwärts. Er hielt aber inne, als ich von der leblosen Gestalt abließ und mich ihm mit einem knurrenden Laut zuwandte. Ich hatte gute Lust, ihn anzuspringen und seinen Schädel zwischen meinen Kiefern zu zermalmen. Aber in diesem Moment eilten ihm die Priester zu Hilfe und hoben ihre Blasrohre an die Lippen. Ich wartete nicht. Ich hoffte, daß sie Thanas in den Teich zurückwarfen. Es war zumindest eine Chance für ihn. Ich war ziemlich sicher, daß Thamai dafür sorgen würde. Ukandar, das schwor ich mir, würde ich mir noch vornehmen. Der Dschungel nahm mich schützend auf, bevor einer ihrer Pfeile mich treffen konnte. Ich blieb noch eine Weile in der Nähe der Lichtung und sah zu, was sie taten. Es kam zu einer Auseinandersetzung zwischen Ukandar und Thamai, in deren Verlauf Rylai und seine Jäger offen Thamais Partei ergriffen und verlangten, daß Thanas erneut dem Teich übergeben werde. Der Streit begann fast handgreiflich zu werden, denn die Priester bestanden darauf, den Paria ins Dorf zu bringen, damit jeder sehen könne, daß Vitu zürnte, so wie Ukandar es vorausgesehen hatte. Es war ein übler Trick, und ich versprach mir, diesem Priester eines Tages das Genick zu brechen. Die beiden Parteien einigten sich schließlich darauf,
den Leichnam unter Bewachung bis zum Morgen liegen zu lassen, und wer ihn sehen wollte, könne hierherkommen. Thamai wollte mit ihrem Onkel kein Risiko eingehen. Ich erfuhr dabei auch, daß Tote, die nicht innerhalb eines Tages in den Teich kamen, von Vitu nicht mehr mit einem neuen Leben bedacht wurden. Ich war sehr froh, daß Rylai sofort eingegriffen hatte, als ich Sibile für ein leckeres Abendessen hielt. Ich sah nun, wie wichtig es war, daß die Verwandelten im Dschungel aufeinander achteten. Ich hätte gern gewußt, welche Gedanken Thamai bewegten. Ob sie verstand, daß ich es nur getan hatte, weil es mir unerträglich erschien; und weil ich dem Teufelspriester den Triumph nicht gönnte? Ob sie mir zürnte? Die Ungewißheit nagte an mir. Ich lag die ganze Nacht in der Nähe des Teiches und beobachtete die Feuer. Nicht viele kamen aus dem Dorf, um den toten Paria zu sehen. Es gab keine Gelegenheit, unbemerkt an Thamai heranzukommen. Ich sah wohl, daß sie manchmal zum Dschungelrand blickte. Aber auch sie konnte die Lichtung nicht verlassen, ohne daß die Priester es bemerkt hätten. Schließlich aber sah ich, daß sie mit Rylai sprach, der bald darauf die Lichtung verließ. Ich schlich mich in
seine Nähe und hörte ihn bald darauf leise nach mir rufen. »Ubali!« Mit einem leisen knurrenden Laut gab ich mich zu erkennen, so daß er nicht erschrak, als ich neben ihm aus den Büschen kam. »Ubali«, sagte er hastig, »ich weiß nicht, was das alles bedeutet. Aber Thamai versteht deine Tat. Sie weiß, was sie tut, und solange sie dich verteidigt, werde auch ich es tun. Thamai bat mich, dich zu warnen. Komm nicht ins Dorf und weiche den Priestern aus. Sie wollen dich einem Gottesurteil unterziehen, und das hat noch keiner überlebt. Es wäre dir dann auch ein neues Leben versagt. Also meide das Dorf und die Priester. Thamai wird morgen nacht hier sein. Vitu mit dir, Freund.« Damit war er verschwunden. Und ich war erleichtert, wenn sich auch meine Lage ernstlich verschlimmert hatte. Gegen Morgen, als niemand mehr aus dem Dorf kam, zog sich Ukandar zurück. Er nahm die meisten seiner Priester mit. Nur zwei ließ er zurück, die die weiteren Geschehnisse beobachten sollten, die ihn offenbar nicht mehr selbst interessierten. Vielleicht hatte er es aber auch eilig, neue Teufeleien auszuhecken. Ich hatte gute Lust, ihm nachzuschleichen, aber dann war es mir doch zu
gefährlich. Im Augenblick hatte ich für meine frevlerische Tat wahrscheinlich das ganze Dorf zum Feind. Außerdem interessierte mich, was mit Thanas geschehen würde. Ob Vitu ihm ein neues Leben gab, und welches. Ich suchte mir einen sicheren Beobachtungsplatz und sah, wie Thamai und Rylais Jäger den Leichnam in das Wasser trugen. Es war kurz vor Sonnenaufgang, und ich beschloß, ein wenig zu schlafen. Es gab nicht viel, das ich versäumen konnte. Thamai und die Männer saßen stumm auf der Lichtung. Ich wußte, sie würden die nächsten Stunden auf Thanas Auferstehung warten. Zweimal wurde ich wach. Das erstemal durch ein Geräusch aus dem Dschungel, das aber zu weit weg war, um eine Gefahr zu bedeuten; das zweitemal durch die Jäger, die auf der Lichtung ein Feuer entfacht hatten und irgendein Beutetier auf einen Spieß schoben, um es zu braten. Ich blieb wach, bis es gebraten war, und sie sich ans Essen machten, wozu sie nach einigem Hin und Her auch die beiden Priester einluden. Dann nahm ich meinen Schlummer wieder auf, diesmal nur für kurze Zeit, bis Thamai verkündete, daß es soweit sei. Ich starrte gebannt auf das Wasser, wie die anderen
auch. Da ich auf den Ästen eines Baumes lag, sah ich früher als die anderen die auftauchende Gestalt. Verschwommen kam sie aus der Tiefe empor. Es war Thanas in seiner menschlichen Gestalt. Thamai war sehr glücklich darüber. Das hörte ich an ihrer Stimme, als sie ihrem Onkel den traditionellen Gruß zurief: »Willkommen, Thanas!« Sie lief ihm entgegen und umarmte ihn, während Rylai und seine Männer ihn umringten und mit Fragen bestürmten. Die beiden Priester verließen rasch den Ort. Sie hatten es eilig, Ukandar die Botschaft von der Auferstehung Thanas zu bringen. Ich war sehr froh darüber, daß Thamai glücklich war. Nun, da die Priester verschwunden waren, schien es mir gefahrlos, die Lichtung zu betreten. Ich kam langsam näher, und sie bemerkten mich erst, als ich die Gruppe fast erreicht hatte. Aus Rylais Augen waren alle Zweifel verschwunden. Er verstand nun auch, was ich gewollt hatte. Thanas faßte es noch immer nicht ganz, daß der Alptraum, den er eben noch gehabt hatte, vorüber war. Thamai umarmte mich und drückte mir einen Kuß auf die feuchte Nase. In Shi-but wäre das eine Tat gewesen, die man über die Grenzen des Landes hinaus gerühmt hätte. Nicht Ubali, sondern einen Panther zu küssen!
»Vitu hat zu mir gesprochen«, erklärte Thanas. »Sie billigt Ubalis Tat, weil sie aus Mitleid und gerechtem Zorn geschah. Aber der Tod kann mich nicht heilen. Ich werde meine Gestalt nicht lange behalten. Es ist einer unter uns, der mit Vitus Kräften spielt. Und der Tag ... wird kommen ... da er dafür ... bezahlen ... muß ...« Die Worte waren immer mühsamer aus seinem Mund gekommen. Nun brach er ab und krümmte sich wie unter einem plötzlichen Schmerzanfall. Er schrie auf. Dann begann er sich zu verwandeln. Die Umstehenden wichen entsetzt zurück. Schuppen überzogen seine Haut. Sein Schädel verformte sich. »Geht ... weg ...« Die Stimme war kaum mehr vernehmlich, die Worte fast unverständlich. Das häßliche Fischmaul schloß und öffnete sich einige Male in stummer Qual. Die Augen traten hervor. Ich war der einzige, der ihn in diesem Augenblick nicht fürchtete. Die anderen, Thamai eingeschlossen, hatten sich in sicherem Abstand begeben. Zuviel hatte man ihnen über die Tollwut der Parias erzählt, und ich konnte mir auch denken, wer diesen Unsinn verbreitet hatte. Kein anderer als Ukandar, der vermeiden wollte, daß seine einstigen Opfer ihm wieder in die Quere kamen. Thanas berührte mich und sah mich bittend an. Er bot mir seine Kehle zum tödlichen Biß.
Aber ich wußte, daß es sinnlos war. Seine Auferstehung würde wieder nur kurz sein. Nur Vitu konnte ihm helfen. Er wußte es auch. Er schüttelte seinen verformten Schädel in stummer Abwehr. Dann wandte er sich um und verschwand im Dschungel.
Sehr bedrückt begaben sich schließlich alle zum Dorf zurück. Thamai versprach, am Abend wiederzukommen. Im Augenblick war sie zu erschüttert und zu müde von der durchwachten Nacht, um klar denken zu können. Sie beschlossen jedoch, Ukandar und den Priestern diesen Vorfall zu verschweigen und ihn in dem Glauben zu lassen, Thanas wäre Mensch geblieben. Thamai würde berichten, daß Thanas von Vitu den Auftrag erhalten hätte, die anderen Parias aufzusuchen, um ihnen eine Botschaft zu überbringen. Ich hielt das für einen sehr guten Gedanken. Leider konnte ich ihnen nicht sagen, wie gut. Ukandar würde ganz schön ins Schwitzen kommen, wenn die anderen Parias tatsächlich durch sein Gift entstanden waren. Ich vertrieb mir den Morgen damit, auf die Jagd zu gehen und mir den Magen zu füllen. Dabei hoffte ich, auf Thanas zu stoßen oder auf einen anderen der Parias. Schließlich trieb ich mich wieder in der Nähe
der Lichtung herum, in der Hoffnung, daß vielleicht Sibile auftauchte, um mir Neuigkeiten zu berichten. Aber sicher fürchtete sie, damit die Priester auf meine Spur zu bringen. Am frühen Nachmittag pirschte ich mich an das Dorf heran, soweit es der Wald gestattete. Reges Treiben herrschte, und mehrere Gruppen verließen mit ihren Jagdwaffen die Lichtung. Das konnte nur bedeuten, daß sie nach mir suchten, vermutlich in Ukandars Auftrag. Rylais Trupp war der erste. Hatte er sich auch Ukandar angeschlossen? Ich konnte es mir nicht vorstellen. Er ging auf diese Weise wohl nur einer offenen Auseinandersetzung aus dem Weg. Ich zog mich zurück und suchte den tieferen Dschungel auf. Meine Schulter schmerzte seit geraumer Weile. Ich sah, daß der Schmerz von Thanas Biß herrührte. Die scharfen Fischzähne waren tief eingedrungen. Soviel ich aus den Augenwinkeln erkennen konnte, sah die Wunde nicht gut aus. Ich versuchte, sie mit dem Maul zu erreichen und sauberzulecken, aber ich erreichte sie nur zum Teil. Meine Bemühungen linderten auch den Schmerz kaum. Mir blieb auch nicht viel Zeit. Den ganzen Nachmittag verbrachte ich damit, den Jagdtrupps auszuweichen. Es war nicht sehr schwer, aber doch sehr ermüdend. Ich geriet immer tiefer in den unbekannten Dschungel, wo ich nicht nur die Jäger
zum Feind hatte. Ich begegnete auch kaum noch Verwandelten. Hier begann die wirkliche Wildnis. Bald war mir klar, daß mein Treffen mit Thamai ins Wasser fallen würde. Der Schmerz war fast unerträglich. Mein ganzer Körper brannte. Ich hatte Fieber. Ich brauchte Ruhe. Die Jägerkette zu durchbrechen, wäre in jedem Fall ein Risiko gewesen. Ich wußte, daß ich es in diesem Zustand nicht schaffen würde. Ich hoffte, daß sie die Treibjagd mit Einbruch der Dunkelheit abbrachen und mir ein wenig Ruhe gönnten. Sie wußten nichts von meiner Wunde. Sie konnten nicht wissen, daß ich am Ende war. Ich mußte entkommen. Ukandar wollte mich aus dem Weg haben. Wenn sie mich aufstöberten, würden sie mich abschießen wie einen tollen Hund und als Mahlzeit für die Geier liegenlassen. Ich konnte aber auch ziemlich sicher sein, daß sie dafür sorgen würden, daß ich an den Lebensteich nicht mehr herankam. Weder lebend noch tot. Aber es gab noch diesen zweiten Teich, in dem die Schlange sich verwandelt hatte. Sie würden nicht erwarten, daß ich ihn kannte. Nur Rylai und seine Männer hatten mich dort gesehen. Waren sie noch auf meiner Seite? Egal. Ich mußte es versuchen. Thamai hatte gesagt, das Wasser hätte auch eine heilende Wirkung. Ich brauchte nun Vitus Hilfe.
Erst als die Dunkelheit bereits ziemlich fortgeschritten war, blieben die Geräusche der Jäger hinter mir zurück. Bald darauf sah ich mehrere Feuer im Dschungel. Sie richteten sich für die Nacht ein. Erschöpft kroch ich unter einige Büsche. Ich war halb taub und blind. Alles brannte in mir, und die Bißwunde schmerzte so unerträglich, daß ich mir am liebsten die Schulter aus dem Leib gerissen hätte. Ich fiel in einen Erschöpfungsschlaf und war sehr dankbar dafür. Ich erwachte, wie es mir schien, Augenblicke später durch ein stampfendes Geräusch, das den Boden erzittern ließ. Ich fühlte mich besser. Der Schmerz war da, aber gedämpfter. Die ganze Schulter fühlte sich kalt und tot an. Aber ich konnte den Vorderlauf ohne Schwierigkeit bewegen. Das Fieber hatte sich ausgebrannt. Es mußte doch eine ganze Weile vergangen sein, denn der Mond stand nun hoch am Himmel. Aber er gab nicht viel von seinem Licht, hier unten zwischen den Bäumen. Ich starrte angespannt in die Dunkelheit vor mir, aber selbst meine Katzenaugen sahen nichts. Dann kam das Geräusch wieder. Etwas bewegte sich dort vorn und kam stetig näher. Es mußte etwas sehr Mächtiges sein, daß sein Schritt den Boden erzittern ließ. Ich richtete mich auf, um fluchtbereit zu sein. Für
einen Kampf fühlte ich mich nicht kräftig genug. Ich stand sogar ziemlich schwankend auf den Beinen. Im nächsten Augenblick brach etwas Riesiges durch die Büsche. Ein gewaltiger Körper, dessen genaue Form in der Dunkelheit nur schwer zu erkennen war, kam mit stampfenden Bewegungen durch die Bäume auf mich zu. Er erinnerte mich an die Echsen in den Sümpfen Shi-buts, nur war er viel größer. Er war halb aufgerichtet, und so ging er auch, mit kurzen Armen, Hindernisse aus dem Weg räumend, während ein mächtiger Schwanz gegen die Stämme peitschte, daß ein Beben durch den Wald ging. Kein Zweifel, was da auf mich zukam, war eine riesige Echse. Ich machte, daß ich aus ihrem Weg kam. Sollten die Jäger sich mit ihr beschäftigen! Das brachte mich auf einen Gedanken. Wenn es mir gelang, die Echse auf die Männer zuzulocken, dann mochte sich mir während des Kampfes eine Möglichkeit bieten, durchzubrechen und den Teich zu erreichen. Ich gab ein knurrendes Fauchen von mir, um den Riesen auf mich aufmerksam zu machen. Er reagierte sofort. Offenbar war er sehr hungrig. Der Koloß wankte auf mich zu. Als er nahe genug war, sprang ich auf und bewegte mich einige Schritte in die Richtung der Jäger. Gleich darauf war ich sicher, daß mich die Echse entdeckt hatte. Sie gab einen Laut von sich, der wie ein unterdrückter Donner klang, dann stampfte sie
weiter in meine Richtung. Ihr Schädel kam tiefer, um den Boden in Augenschein zu nehmen. Das mächtige Gebiß öffnete sich. Ich sprang durch das Gebüsch. Sie folgte. Vor mir hörte ich die aufgeregten Stimme der Jäger. Nun war es Zeit, mich aus dem Staub zu machen. Zwei der Feuer waren deutlich zu erkennen. Ich war bereits sehr nahe. Die Echse kam wie ein Ungewitter hinter mir her. Ich hielt direkt auf das Feuer zu. Ich hatte ihre Geschwindigkeit unterschätzt. Der Boden bebte. Kiefer knirschten über mir. Dann war ich über dem Feuer zwischen den aufgeregt durcheinanderlaufenden Menschen. Ich weiß nicht, ob mich überhaupt einer wahrnahm, denn der Kopf des Untiers schwankte drohend über dem Lagerplatz. Seine kurzen Vorderklauen kamen herab. Als ich durch war, vernahm ich schrille Schreie hinter mir. Todesschreie. Flüche. Kampflärm. Der Vormarsch des Untiers hatte aufgehört. Ich konnte ziemlich sicher sein, daß die in der Nähe lagernden Jäger ihren Gefährten zu Hilfe kommen würden. Ich interessierte sie im Augenblick sicher nicht. Das gab mir einen guten Vorsprung. Die Echse würde sie beschäftigen, bis sie entweder satt war oder tot, und das mochte eine Weile dauern. Ich hoffte, daß nicht Rylais Männer die Opfer waren. Gesichter hatte ich in der Eile keine erkennen können.
Meine Schulter schmerzte wieder heftiger. Das taube Gefühl verschwand und verwandelte meine ganze linke Seite in eine Waberlohe. Oh, ihr Götter, wie das brannte! Lange Zeit hörte ich noch die Schreie und Geräusche hinter mir, aber nach und nach verklangen sie. Ich hatte mehrere Stunden Weges vor mir, und ich war bald nicht mehr sicher, ob ich es schaffen würde. Das Fieber begann wieder. Bald schüttelten mich Feuer und eisige Kälte, und der Weg verschwamm vor meinen Augen. Mein Rachen hing hechelnd offen. Ich rang nach Luft. Nur der Gedanke, daß ich sterben würde, wenn ich mich nun fallen ließ, um auszuruhen, trieb mich vorwärts. Ich durfte nicht anhalten. Meine einzige Hoffnung war der Teich, und niemand würde mir helfen, ihn zu erreichen. Ich mußte es ganz alleine tun. Mehrere Stunden lief ich halb blind durch den Dschungel. Ich wäre eine leichte Beute für jeden Räuber gewesen, der sich die Mühe gemacht hätte, sich eine Weile an meine Spur zu hängen. Aber der Dschungel war wie leergefegt. An den letzten Teil des Weges habe ich keine Erinnerung mehr. Ich weiß, daß ich taumelte und mich kaum auf den Beinen halten konnte. Schließlich brach ich zusammen, erhob mich wieder, kroch auf dem Bauch vorwärts. Ich war nicht mehr bei Sinnen. Von
irgendwoher vernahm ich Stimmen, doch das mochte bereits ein Traum sein; es mochten die Wächter des ewigen Tores sein, die mich kommen sahen. Der Kampf war zu Ende.
5.
Aus der Tiefe unter mir, oder aus der Höhe über mir – ich hatte das Gefühl, zu schweben; Es war nichts über mir und unter mir – kam eine Stimme, die ich schon einmal vernommen hatte. Vitus Stimme, weiblich, geheimnisvoll, ohne menschliche Regung. »Du bist früh gekommen, Ubali. Früher als erwartet.« »Du hast mich erwartet?« »Ich erwarte alle, Ubali. Früher oder später kommen alle zu mir, und ich gebe ihnen ein neues Leben durch die Kraft des Wassers. Auch du sollst ein neues Leben haben. Mein Volk braucht dich. Es ist gut, daß du früh gekommen bist. Eine Gefahr nähert sich aus der Prärie, der mein wenig kampferprobtes Volk nicht gewachsen
ist. Ein Mann namens Darraco ist von einem Mann deiner Welt überlistet worden. Nun zieht er eine blutige Rachespur, wohin er geht. Er hat diese Richtung eingeschlagen. Nimm Leben aus meiner Hand, Ubali und sei dem Volk der Vitu-thaimoa ein Helfer, Fremder, der du an der Seite von Königen gefochten hast.« »Und Ukandar?« riefen meine Gedanken. »Was soll mit ihm geschehen ...?« Aber niemand antwortete mir. Vitu hatte mich verlassen. Die Leere um mich füllte sich, wurde kalt und schwer – Wasser. Ich begann mich zu bewegen. Ich stieß mit kräftigen Schwimmbewegungen nach oben, dem Licht zu. Ich durchbrach die Oberfläche und atmete tief ein. Es war heller Tag, fast Mittag. Rasch sah ich mich um. Die Ufer des kleinen Teiches waren leer. Hatte ich es wirklich allein geschafft? Oder hatte Vitu mir geholfen, weil sie meine Hilfe brauchte? Ich schwamm ans Ufer, und plötzlich wurde ich mir der braunen Arme bewußt, meiner eigenen, angestammten Haut. Ich stürmte aus dem Wasser. Kein Zweifel. Der alte Ubali war wieder unter den Lebenden. Ich streckte mich, spürte die Muskeln, die warme Sonne auf der nackten Haut. Ah, welch ein Gefühl! Vitu sei Dank! Ich war auferstanden – wenn auch
vielleicht nur für eine Schlacht. Aber nun galt es, vorsichtig zu sein. Ukandar würde das Offensichtliche vermuten, wenn er mich sah. Ich durfte ihm keine Gelegenheit geben, etwas gegen mich zu unternehmen. Als erstes mußte ich mich möglichst unauffällig mit Thamai in Verbindung setzen. Ich brauchte auch meine Waffen wieder, die sich in ihrer Hütte befanden. Ich mußte Gelegenheit haben, das Thaimoa-Volk von der Gefahr zu überzeugen, auf die Vitu mich hingewiesen hatte. Das konnte nur mit Thamais Hilfe gelingen. Und dann mußte ich versuchen, Rylai und seine Männer, die einzigen, auf die ich mich vielleicht verlassen konnte, dafür zu gewinnen, daß sie mit mir auf einen Erkundungszug gingen. Wir konnten nicht früh genug etwas über Darracos Stärke erfahren. Er war der Anführer der Wolkenreiter, soviel hatte ich von Larkin erfahren. Dabei dachte ich schaudernd an das Abenteuer mit dem Baumvolk, das für ihn ein so tragisches Ende genommen hatte. Nun sollte ich also doch diesen Darraco kennenlernen. Aber wenn er tatsächlich auf Wolken geritten kam mit seiner Streitmacht, dann würde es sehr schwer werden, ihm etwas anzuhaben. Wir würden einen guten Plan brauchen. Was hatte Vitu noch gesagt? Ein Mann aus meiner Welt hätte Darraco hereingelegt? Mein Herz schlug
höher. Das konnte nur einer sein, Dragon, mein König. Ich würde ihn vielleicht wiedersehen – früher, als ich erwartet hatte. Ich war sehr zufrieden, wie sich die Dinge entwickelt hatten. Ich beobachtete das Dorf. Ein Dutzend Männer und Frauen arbeiteten an den Feuern. Sie bereiteten das Essen zu. Der Anblick machte mich hungrig, und der Duft von gebratenem Fleisch ließ mir förmlich das Wasser im Mund zusammenlaufen. Einige eilten zwischen den Hütten hin und her. Es war praktisch unmöglich, unbemerkt ins Dorf zu gelangen. Thamai oder Sibile konnte ich nirgends entdecken. Wie konnte ich sie nur erreichen? Ich sah mir ihre Hütte an. Im Eingang sah ich eine Bewegung. Jemand war drin. Gut. Ich mußte es von der Tempelseite her versuchen. Rasch umrundete ich das Dorf und gelangte unbemerkt an die Rückseite des Tempels. Aber hier war es noch unmöglicher, ungesehen an Thamais Hütte heranzukommen. Die Tempelwachen mußten mich bemerken. Dann sah ich das Ziegengehege. Auch dort blieb mir nur die Wahl eines offenen Spaziergangs durch das Dorf, wenn ich nicht bis zum Abend warten wollte. Und das wollte ich nicht.
Aber dort würden mich die Priester nicht bemerken. Ich war ein Schwarzer unter Schwarzen. Ich erreichte die Ziegenweide und verharrte eine Weile hinter dem Zaun des Geheges. Die am Feuer kümmerten sich nicht darum, was hinter ihnen an den Hütten geschah. Ich wartete einen stillen Augenblick ab, dann marschierte ich los. Ich ging ohne Hast, wandte mich jedoch halb ab, daß sie nicht gleich mein Gesicht sahen. Niemand nahm von mir Notiz. Erst kurz vor meinem Ziel kam ein Mädchen aus einer Hütte. Es war zu spät, den Arm vor das Gesicht zu heben. Sie sah mich voll an, erschrocken erst, dann schien ihr zu dämmern, wer ich sein könnte. »Vitus Geist«, entfuhr es ihr. Dann nahm sie mich völlig überraschend an der Hand. »Komm.« Ich folgte ihr. In ihrer Begleitung war ich unauffälliger. Sie führte mich direkt zu Thamais Hütte und schob mich hinein. Dann sah sie sich um und nickte befriedigt. »Niemand hat uns bemerkt. Thamai, sieh mal, wen ich dir bringe.« Thamai und Sibile hatten aufgeblickt, als ich im Eingang erschien. Aber die Sonne blendete sie wohl, und mein Gesicht lag im Schatten, so daß sie mich nicht gleich erkannten. Erst als das Mädchen mich nach drinnen schob, sahen sie, wen sie vor sich hatten. Mit einem Freudenruf
sprangen sie auf und stürmten auf mich zu, um mich anzufassen, ob ich auch wirklich aus Fleisch und Blut wäre. »Vorsicht«, warnte das Mädchen von der Tür her. »Wer ist es, Loa?« Hastig antwortete Loa: »Ukandar. Es sieht so aus, als ob er zu dir will, Thamai ...« Thamai sah mich angstvoll an. »Was tun wir nur?« »Endlich handeln«, sagte ich. Ich entdeckte meine Waffen neben Thamais Lager. Für Schwert und Gürtel war es zu spät. So nahm ich nur den Dolch und harrte hinter dem Eingang. In der Dunkelheit der Hütte würde er mich nicht gleich bemerken. Und dann war es zu spät. Ukandar schob Loa zur Seite. »Ich störe ...«, begann er. Ich ließ ihn nicht ausreden. Ich trat hinter ihn, umfaßte ihn mit der Linken und drückte ihm beide Arme an den Leib. Bevor er sich wehren konnte, setzte ich ihm den Dolch an die Kehle. »Ein kleiner Schnitt genügt«, sagte ich halblaut, »um dich verbluten zu lassen, Ukandar. Und Vitu ist nicht gut auf dich zu sprechen.« Er erstarrte in meinen Arm. »Ich sehe, wir verstehen uns«, fuhr ich fort. »Loa, laß uns allein. Es ist besser, wenn du nichts mit der Sache zu tun hast. Unser Freund hier ist rachsüchtig. Sibile, geh vor die Hütte
und warne uns, wenn sich jemand nähert.« »Ja, Ubali«, sagte sie, und ihre Augen glänzten. Es gefiel ihr, den alten Teufel so hilflos in meiner Hand zu sehen. Als sie verschwunden war, stieß ich Ukandar vorwärts und ließ ihn los. Er stürzte zu Boden. Thamai wich zur Seite. Sie sah angstvoll auf Ukandar. Der Priester rappelte sich hoch, um wütend auf mich loszuspringen. Aber der Dolch in meiner Rechten ließ ihn zurückschrecken. »Das wirst du Hund teuer bezahlen!« fauchte er nur mühsam beherrscht. Ich trat drohend einen Schritt näher. »Du hast die falsche Einstellung, Priester. Allein dieser ruhigen Hand verdankst du es, daß du noch lebst. Es juckt mich verdammt, deine schändliche Kehle durchzuschneiden. Vitu würde nicht einen Finger für dich rühren, das weißt du, nicht wahr? Du hast ihre Kräfte mißbraucht. Sie wird dich richten, und ich will ihr nicht vorgreifen, wenn du mich nicht dazu zwingst. Aber ich werde dich töten, wenn du mir den geringsten Anlaß dazu gibst. Ich schwöre es dir bei allen Göttern!« sagte ich gepreßt. Und er sah mir an, daß es mir verdammt ernst war. Angstvoll wich er zurück. Plötzlich war er ein erbärmliches Bündel. Thamai sah mich mit großen Augen an. »Weißt du auch, was du tust?« stand darin zu lesen. Ich nickte ihr
beruhigend zu. Jetzt war mein Augenblick gekommen, und ich würde ihn nützen. Ich fühlte mich stark mit Vitu an meiner Seite. Ich ließ mein Opfer nicht aus den Augen. »Thamai, bring mir meinen Gürtel und das Schwert.« Sie brachte es mir. Ich gab ihr den Dolch. »Laß ihn nicht aus den Augen. Stoß zu, wenn er sich rührt. Vitu wird dir deshalb nicht zürnen.« Rasch legte ich den Gurt um und befestigte das Schwert. Dann nahm ich Thamai den Dolch wieder aus der Hand. »Du mußt wissen«, sagte ich zu ihr, »daß die Parias nichts mit Vitus Zorn zu tun haben. Sie sind ganz allein sein Werk.« Ich deutete auf den Priester. »Sein Werk?« fragte sie fassungslos. Ich nickte. »Er bedient sich einer anderen Kraft Vitus, eines Giftes, das er heimlich in das Wasser tut, das die Gläubigen trinken ...« »Dann ist Onkel Thanas durch sein ...«, begann sie tonlos. Schmerz und Grimm erstickten ihre Stimme. Sie ballte die Fäuste und starrte den Priester an. »Warum Thanas?« flüsterte sie. »Ukandar, warum Thanas?« »Weil er der letzte war«, sagte ich hart. Ich wies mit dem Kopf zu ihm hin. »Das waren seine eigenen Worte, als ich ihn belauschte ...« Sie sah mich an. »Du hast ihn belauscht? Dann wußtest du, was im Tempel geschehen würde?«
»Ja, aber ich bemerkte es zu spät. Thanas hatte schon getrunken, als ich den leeren Beutel an der Brust des Priesters entdeckte ...« »Diese Verleumdung wirst du noch bereuen«, zischte Ukandar. »Ich an deiner Stelle würde mich nicht reizen«, erklärte ich ruhig. »Was ich gehört habe, habe ich gehört. Und Vitu wird zur rechten Zeit meine Worte bestätigen.« Das war eine ziemliche Lüge, denn dessen war ich mir gar nicht sicher. Aber sie beeindruckte Ukandar, der inzwischen überzeugt war, daß Vitu mich zu ihrem besonderen Günstling erkoren haben mußte, wenn alle seine Pläne fehlschlugen. »Der letzte ...«, sann Thamai. »Es scheint mir nicht schwer zu erraten«, sagte ich. »Wie ich es mir denke, nach allem, was ich so erfahren habe, ist es wohl der letzte aus deines Vaters Gefolge. Der letzte, der noch genug von der alten Zeit weiß, um die Lügen des Oberpriesters aufdecken zu können.« »Ich rate dir, hüte deine ...«, zischte Ukandar und verstummte, als ich drohend den Dolch hob. Thamais Augen wurden weit. »Natürlich. Dann hat er auch Vater und die anderen ...« Sie verstummte. Mit einem erstickten Schrei warf sie sich auf ihn, bevor ich es verhindern konnte. »Du Bestie!« keuchte sie und trommelte mit ihren Fäusten auf ihn ein.
Ukandar sah sofort seine Chance, aber ich sah sie noch schneller. Als er Thamai packte und herumriß, um sie als Schild vor sich zu halten, war ich bereits an seiner Seite, faßte seinen Arm und drehte ihn herum. Es gab einen Aufschrei, der Sibile hereinlockte. Dann ein Knirschen, als der Arm aus dem Gelenk sprang, dann lag Ukandar wimmernd auf dem Boden, während Thamai wie eine Katze aus seiner Reichweite glitt. »Ich rate dir, das nicht noch einmal zu versuchen«, sagte ich kalt. »Oder, bei Vitu, du wirst der nächste Paria sein, und ich könnte mir vorstellen, daß die Göttin mit dir besondere Pläne hat. Du wirst jetzt hinausgehen und verkünden, daß dem Volk der Vitu-thaimoa große Gefahr droht, und daß Vitu mich zum neuen obersten Priester und Herrscher über das Volk der Thaimoa bestimmt hat.« Mit schmerzverzerrtem Gesicht funkelte er mich an. »Das werde ich niemals tun. Eher werde ich ...« »Was?« fragte ich ihn. Mit einem Schritt war ich bei ihm und setzte ihm den Dolch an die Kehle. »Sterben, Ukandar? Ist es das, was du willst ...?« Stöhnend versuchte er sich freizumachen. »Nein«, keuchte er. Ich gab ihn frei. »Oder Vitus Zorn auf dich laden?« »Pah! Vitus Zorn. Sie hat nichts mit dir zu schaffen, du dahergelaufener Schurke. Du willst nichts weiter als
die Herrschaft, und dazu ist dir jedes Mittel recht ...!« »Wie dir einst, Ukandar?« fragte ich nicht ohne Spott. Er verstummte und umklammerte jammernd seinen Arm. »Geh zum Eingang«, befahl ich ihm scharf. »Und wenn du noch ein wenig an deinem Leben hängst, gehst du keinen Schritt weiter. Laß dir den verletzten Arm nicht anmerken. Und verkünde laut und deutlich, daß du eine Versammlung im Tempel einberufst. In einer Stunde. Vorwärts!« Ich gab ihm einen Stoß. Er taumelte vorwärts und starrte mich haßerfüllt an. »Vorwärts. Worauf wartest du? Daß ich meine Absicht ändere? Und sei gewarnt. Ich bin ein Meister im Werfen dieser Waffe. Ich treffe ein Blatt auf zwanzig Schritt.« Er trat in den Eingang und rief den Männern am Feuer zu, daß sie überall im Dorf verkünden sollten, daß in einer Stunde eine wichtige Versammlung im Tempel stattfände. Dann zog ich ihn nach innen, bevor er auf dumme Gedanken kommen konnte. »Thamai, kannst du Rylai erreichen?« Sie nickte aufgeregt. »Hol ihn her.« Ich atmete auf, als sie draußen war. Ich wollte sie vor allem außer Gefahr haben. »Du bist ein Narr, daß du den Tempel als
Versammlungsort wählst«, lachte Ukandar höhnisch. »Es soll alles seine Ordnung haben«, erwiderte ich. Als Rylai kam, hieß ich ihn: »Ukandar festhalten!« An seinem Gesichtsausdruck wußte ich, daß Thamai ihm alles berichtet hatte. Ich brauchte mich also nicht erst mit langen Vorreden aufzuhalten. Dann nahm ich Ukandars ausgerenkten Arm und drehte ihn erneut mit einem Ruck, der dem Priester einen Schrei entlockte. Dann saß der Arm wieder fest in der Schulter. Das war ein Trick, den ich von Partho gelernt hatte. Erschöpft lehnte sich Ukandar an die Wand, während Rylai grinste. Er schien es zu genießen, den Priester ein wenig leiden zu sehen. Ich fragte ihn rundheraus: »Kann ich auf dich zählen, Rylai?« »Ich bin an Thamais Seite«, erwiderte er. Ich blickte Thamai fragend an. »Und wem gilt deine Gunst, Thamai?« »Oh, Ubali. Wie Vitus Gunst gilt sie dir. Ich vertraue dir. Ich fühle aus ganzem Herzen, daß du unserem Volk helfen wirst ...« »Weibergeschwätz«, knurrte der Priester. Ich kümmerte mich nicht um ihn. Ich nickte Thamai dankbar zu. »Wie viele Männer sind dir ergeben?« fragte ich den Jäger. Er zuckte die Achseln. »Zwanzig ...«
»Auf die du dich unbedingt verlassen kannst?« »Auf die ich mich verlassen kann. Und viele werden auf Thamai hören, wenn die Priester erst ohne Macht sind. Ich glaube nicht, daß es Schwierigkeiten geben wird, wenn das Dorf erkannt hat, daß Ukandar und seine Schergen ausgespielt haben. Vertraue auf Vitu, mein Freund.« »Ich vertraue auf meine Kraft, Rylai. Und wenn Freunde mir helfen oder gar die Götter, dann ist es willkommen. Wir werden alle Kräfte brauchen. Nicht für den hier ...« Ich deutete auf den Priester. »Sondern für eine Gefahr, die uns droht. Ruf deine Freunde zusammen, Rylai. Wir wollen uns mit unserem Freund hier in den Tempel begeben.« Kurz nachdem Rylai die Hütte verlassen hatte, kam Sibile herein. »Mehrere Priester sind auf dem Weg hierher.« »Wieviele?« »Fünf.« Ich nickte. »Rasch, verschwinde, Sibile. Bleib in Rylais Nähe. Weiche nicht von seiner Seite. Geh schon!« Der dringliche Ton wirkte. »Ja«, sagte sie hastig. Eine Spur von Furcht war in ihren Augen, und das war gut so. Sie würde in der Nähe des Jägers bleiben. Ich wußte, wenn die Priester eines der beiden Mädchen in die Finger bekamen, wäre das fatal für mich. Es würde
mich zumindest Ukandar kosten. Darum sagte ich zu Thamai: »Du solltest auch gehen. Es wäre sicherer für dich bei den Jägern.« »Nein, ich bleibe bei dir«, sagte sie entschlossen. Ich sah, daß ich sie nicht davon abbringen würde. »Dann rasch. Setz dich. Hier, links von mir. Und du auch, Priester. Und sag deinen Freunden, daß alles in Ordnung ist und daß wir noch etwas zu besprechen haben. Wenn es Ärger gibt, bist du der erste, der ihn hat.« Ich schob meinen Arm halb hinter ihn und drückte die Dolchspitze in seine Seite, so daß er sich unter dem Druck steif aufrichtete. Gleich darauf erschienen die Priester im Eingang. Sie sahen Ukandar friedlich bei uns sitzen. Freilich half ich dieser Friedlichkeit mit dem Dolch kräftig nach. Sie kamen alle fünf ins Innere, und es wurde ziemlich eng. Ich hatte Mühe, einerseits Ukandar im Auge zu behalten und andererseits darauf zu achten, daß sie Thamai nicht zu nahe kamen. Sie nickten grüßend, als wir keine Anstalten machten, uns zu erheben. »Was ist mit dieser Versammlung, die du einberufen läßt?« fragte einer den Oberpriester. »Es geschieht auf Wunsch Vitus ... und Ubalis.« Er deutete mit dem Kopf in meine Richtung. Jetzt erst bemerkten sie, wer hier saß. Sie starrten mich überrascht an. Ich las deutliches Mißtrauen in ihren
Zügen. »Es gibt eine wichtige Botschaft Vitus zu verkünden«, erklärte ich. Ihr Blick wanderte zu Ukandar. In dem Augenblick hörte ich draußen Rylai mit seinen Männern kommen und atmete innerlich auf. Auch Ukandar merkte, daß jeder weitere Trick Selbstmord sein würde, deshalb sagte er rasch: »Bereitet alles vor. Geht jetzt.« Die Priester nickten und verließen die Hütte. Mit Verwunderung sahen sie die Jäger aufmarschieren, aber ohne Ukandars Führung würden sie nichts unternehmen. Und daß sie nichts zu seiner Befreiung tun konnten, wenn sie Verdacht geschöpft hatten, dafür würde ich sorgen. Rylai erschien, an seiner Seite Sibile. »Alles bereit, Ubali«, meldete er. »Gut.« »Übrigens ...« Er zögerte. Dann gab er sich einen Stoß. »Damit du erkennst, daß ich dir wirklich ergeben bin, will ich dir sagen, daß ich es war, der dich halbtot fand. Wir hatten dich erwartet. Außer uns kanntest nur du diesen abgelegenen Teich. Früher oder später, dachten wir, würdest du dorthin zurückkehren. Wir trugen dich ans Wasser und übergaben dich Vitu.« Er grinste. »Es scheint mir das Beste, das ich in den letzten beiden Leben getan habe.« Impulsiv ergriff ich seinen Arm. »Ja, ich sehe, ich
habe wirklich einen Freund ...« »Verräter!« zischte Ukandar. Der Jäger würdigte ihn keines Blickes. »Wer waren die Männer, die im Wald nach mir jagten?« »Seine ... Schergen«, erklärte Rylai. »Du meinst, die Priester?« Er nickte. »Und ein paar andere, die ihm am liebsten die Füße küssen würden«, erklärte er verachtungsvoll. »Gab es keine Toten beim Kampf mit der Echse?« »Das weißt du?« fragte er verwundert. Ich grinste. »Ich lockte das Teufelsvieh auf ihren Lagerplatz.« Er lachte schallend. Dann berichtete er: »Vier von den Priestern erwischte es. Für einen war alles zu spät. Drei brachten sie zurück zum Teich. Da sie Peris sind, verwandelten sie sich natürlich nicht. Aber es war trotzdem eine verdiente Strafe, denn wenn uns auch der Tod nicht schreckt, so fürchten wir doch das Sterben, und die Ungewißheit, ob sich wieder alles zum Guten wenden wird.« Einer von Rylais Jägern erschien. »Sie sind alle im Tempel«, berichtete er. »Dann werden wir jetzt auch gehen«, bestimmte ich. »Thamai, du bleibst an meiner Seite. Rylai, laß Sibile nicht aus den Augen. Es ist möglich, daß die Priester ein paar kleine Tricks vorbereitet haben. An Ukandars
Statt würde ich hoffen, daß sie es nicht getan haben. Nehmt ihn in die Mitte.« Ohne Schwierigkeiten erreichten wir den Tempel. Wir betraten ihn durch den Vordereingang. Das erschien mir sicherer, weil ich diesen Weg kannte. Wir schlängelten uns durch die Menge, ohne daß die Jäger den Priester aus ihrer Mitte ließen. Ich gab Rylai einige Anweisungen, und er postierte unauffällig Männer in der Nähe der Hintertüren, um uns vor einem Überraschungsangriff der Priester zu schützen. Thamai, Ukandar und ich nahmen an dem Holztisch Platz, während Rylai seine Männer verteilte. Gleich darauf öffneten sich die Türen, und die Priester wurden zur Verwunderung der Anwesenden in den Tempelraum getrieben, wo sie sich zwischen den Versammelten niederlassen mußten. Es war wohl das erstemal, daß sie das Ganze sozusagen aus dem Zuschauerraum beobachteten. Als sich das Raunen beruhigt hatte, zwang ich Ukandar zum Aufstehen. »Deine Ansprache, Priester. Du weißt, was du zu sagen hast. Oder hättest du lieber, daß ich eine Rede halte ... über Parias zum Beispiel ...?« Wütend trat er schließlich vor die Menge und hob die Arme, bis es ganz still wurde. Es fiel ihm sehr schwer, die Worte zu finden, aber er wußte, daß er ausgespielt hatte. Die Möglichkeit, die ich ihm bot, war bei weitem der beste Abgang.
»Hört mich an, Thaimoa«, sagte er endlich. »Es ist Vitus Wille, daß der Fremde an meine Stelle tritt, und ich beuge mich dem Willen der Göttin. Gewährt ihr ihm die Gunst, so wie Vitu sie ihm gewährt.« Er verbeugte sich würdevoll, während die Versammelten seine Worte zu begreifen versuchten. Peris und Thaimoa gleichermaßen riefen aufgeregt durcheinander, bis der ganze Tempel wie die Ratshalle in Myra widerhallte. Schließlich trat Thamai vor und bat um Ruhe, die nach und nach eintrat. Sie bestätigte, was Ukandar gesagt hatte. Ich stand in der Gunst Vitus, sei ihr Werkzeug. Und meinen Anordnungen sei unbedingt Folge zu leisten. Daß Thamai sich für mich einsetzte, entschied die Schlacht für mich. Und die Tatsache wohl auch, daß ich einen heimlichen Tyrannen von seinem Thron gestürzt hatte. Ich hielt eine kurze Rede über meine Herkunft, meine Taten und die fernen Reiche, die ich gesehen hatte. Das beeindruckte sie tief. Ich brauchte nicht aufzuschneiden. Die Leute dieses kleinen Dorfes hatten seit uralter Zeit nichts als einander und den Dschungel gekannt. Vitu und die Lebensteiche hielten sie unerbittlich. Das Abenteuer, das da draußen locken mochte, brachte den sicheren Tod – ohne Wiedergeburt. Die wenigen, die ausgebrochen waren, waren nie mehr wiedergekommen. Danach verkündete ich die Botschaft von Vitu und
gab damit sogleich den Grund, warum Vitu einen Haudegen wie mich zum Herrscher über ihr Volk machte. Der Anmarsch einer Horde von Plünderern stand bevor, die keine Gnade kannten. Was den Thaimoa fehlte, waren kampferprobte Männer – erprobt im Kampf, Mensch gegen Mensch. Die wollte ich versuchen, aus ihnen zu machen, wenn überhaupt noch soviel Zeit blieb. Nach einem Augenblick der Stille, stürmten sie mit Fragen auf mich ein, von denen ich viele nicht beantworten konnte. Noch nicht. Ich wußte nicht, wie stark der Feind war, wie nah er sich schon befand. Keiner hatte je den Namen Darraco gehört, und ich hielt es für besser, die Möglichkeit, daß sie vielleicht auf Wolken herangeritten kamen, vorerst noch zu verschweigen, bis unsere Kundschafter Genaueres erfahren hatten. Ich löste die Versammlung auf. Ich tat es leichten Herzens, weil ich deutlich erkannt hatte, daß das Thaimoa-Volk einverstanden war mit Vitus Wahl. Ich würde es schon aufstacheln, sich zu wehren. Es gab noch viele Vorbereitungen zu treffen. Ukandar kam in sicheren Gewahrsam in seinem eigenen Tempel. Die Gefahr, daß er rückfällig wurde, sobald wir ihm den Rücken wandten, war allzu groß. Auch die übrigen Priester ließ ich von Männern
überwachen, die Rylais Vertrauen genossen. Unter Rylais Leitung wurden acht Unterführer ausgewählt, denen jeweils eine gewisse Anzahl Männer und Frauen des Dorfes unterstehen sollten. Dann befahl ich, alle Verwandelten ins Dorf zu holen – auch die Parias, wenn das möglich war. Ich wußte, der Dschungel war unser starker Punkt. Wenn wir geschickt zu Werk gingen, würde er für Darraco zur tödlichen Falle werden. Larkin und die Wolkenreiter. Auf Feinde wie diese mußte ich mich einstellen. Eine Horde von Männern, die den Kampf zu ihrem Tagewerk gemacht hatten. Piraten der Luft und des Landes. Eines war klar: Auf einen Nahkampf durften wir uns nicht einlassen. Gegen Schwerter vermochten die Thaimoa nichts auszurichten. Meines war das erste, das sie zu Gesicht bekommen hatten. Dabei waren sie handwerklich nicht ungeschickt. Die meisten der Dinge, die sie benützten, waren aus Holz, Ton oder Stein hergestellt. Als Material für die Jagdwaffen verwendeten sie hauptsächlich Bein, das sie mit Stein bearbeitet, bis es so scharf und spitz war wie mancher Dolch. Sie hatten messerartige Geräte zum Häuten und Zerlegen des Wildes, Nadeln aus Bein, ebenso Pfeilspitzen und Speerspitzen. Der Wald gab ihnen alles, was sie brauchten. Nach Metallen hatten sie nie gesucht. Sie brauchten sie nicht. Das Handwerk eines
Schmiedes war ihnen fremd. Wohl hatten sie meine Waffen bewundert, wie auch die Härte des Eisens. Aber das einzige, wozu sie sich eine solche Waffe gewünscht hätten, wäre für den Kampf gegen die Echsen gewesen, die gelegentlich in ihr Gebiet einbrachen. Jene Untiere, wie mir in der vergangenen Nacht eines begegnet war. Gegen ihre harte Schuppenhaut waren die Knochenwaffen ziemlich wirkungslos. Sie hatten bisher ein sehr abgeschiedenes Leben geführt. Das würde nun aufhören, ob sie den Kampf gegen Darraco gewannen oder verloren. Ihr Leben würde sich wandeln. Es wandelte sich durch meinen Einfluß bereits ein wenig. Seltsam war nur das goldene Amulett, das Thamai zu zeremoniellen Anlässen trug. Es war kunstvoll geschmiedet. Es wäre selbst am Hof von Myra ein Prunkstück gewesen, einer edlen Dame würdig, wenn man es dort auch als frivol empfunden hätte, den Schmuck statt eines Kleidungsstücks zu tragen. Ich schickte noch am selben Tag zwei Kundschaftertrupps aus, je ein Dutzend Männer; einen in nordöstlicher Richtung, den zweiten weiter nördlich. Sie sollten sofort Melder zurückschicken, wenn sie auf etwas stießen, das nach Darracos Streitmacht aussah. Sie sollten laufend beobachten, ohne selbst etwas zu unternehmen, ohne gesehen zu werden, und jede
Bewegung des Feindes melden. In der Zwischenzeit bereitete ich die Thaimoa moralisch auf den Kampf vor, und nicht nur moralisch. Während die Frauen unter Anleitung einiger Kundiger Blasrohre, Pfeile und Bogen herzustellen begannen und ein Teil der Männer in den Dschungel ausschwärmte, um die Verwandelten ins Dorf zu bringen, berief ich eine Versammlung der Unterführer ein. Nicht im Tempel, sondern an einem der Lagerfeuer. Ich setzte Rylai als meinen Stellvertreter ein, dessen Befehle wie meine zu befolgen seien. Wir besprachen eine Reihe von Plänen, die mich in ihren Augen wohl zum größten Feldherrn aller Zeiten machten. Aber es waren alles Pläne von mir, die sie einen wie den anderen begeistert aufnahmen. Mit jedem neuen Plan stieg ihre Zuversicht. Ich sah bald, daß ich strategisch von ihnen keine Hilfe erwarten konnte. Sie hatten noch nie gegen einen menschlichen Feind gekämpft. Ich war ganz auf mich allein gestellt. Das einzige, das sie mir zu bieten hatten, war ihr Vertrauen und ihre Bereitwilligkeit zu kämpfen. Nun konnte sich zeigen, was ich von Partho gelernt hatte.
6.
Obwohl ich vorhatte, den Feind im Dschungel abzufangen und um jeden Preis vom Dorf fernzuhalten, war ich vorsichtig genug, auch das Dorf zu befestigen. Aber Thamai meinte, es wäre nicht gut, sich im Dorf zur letzten Verteidigung einzurichten. Besser wäre Vitus Teich. Denn wenn wir lange genug aushielten, würde Vitu unseren Toten sicher ein neues Leben gewähren. Auch könnten dort die Wunden mit dem Lebenswasser geheilt werden. Sie meinte, daß niemand dem Dorf nachtrauern würde, wenn diese Barbaren es vernichteten, denn die einfachen Hütten konnten überall im Dschungel errichtet werden. Das beschwor zwar die Gefahr herauf, daß der Teich in die Hände des Feindes fiel, wenn er uns besiegte, während er ihn sonst vielleicht gar nicht entdeckt hätte, aber es bot uns auch viele Vorteile. Andererseits waren wir auf der Lichtung des Teichs ziemlich schutzlos. Das einfachste war wohl, am Waldrand Fallgruben auszuheben. Aber wir brauchten eine Wand aus Stämmen, eine Palisade. Mit den einfachen Werkzeugen der Thaimoa war das nicht mehr rechtzeitig zu schaffen. An den Tempel, dem
einzigen Gebäude aus Stämmen, hatten sie Jahre gebaut. Es gab nur einen Weg. Wir mußten uns Werkzeug vom Feind verschaffen! Am Abend kamen drei Dutzend Verwandelte ins Lager, das wir bereits am Teich aufgeschlagen hatten. Ein Dutzend von ihnen waren große Menschenaffen, wie Rylai und seine Männer gewesen waren. Sie konnten uns sowohl bei der Arbeit als auch im Kampf helfen. Sie waren willig genug, als sie den Grund erfuhren. Den übrigen rieten wir, im Lager zu bleiben – oder wenigstens in der Nähe – und einen Vorrat von Futter anzulegen. Die Jäger waren die halbe Nacht unterwegs. Wir brauchten einen größeren Fleischvorrat, den die Frauen brieten und räucherten, um ihn haltbarer zu machen. Die Aushebung der Gruben schritt voran. Zwei Parias kamen nachts ins Lager und blieben. Sie verstanden worum es ging. Sie hielten sich abseits, und langsam schwand die angelernte Furcht vor ihnen, als die Thaimoa sahen, daß sie sich friedlich verhielten. Am Morgen kam der erste Späher zurück. Er meldete aufgeregt, daß sie ein gewaltiges Lager am Waldrand entdeckt hatten, das diesem Darraco gehören mußte. Hunderte von Männern und Frauen lagerten dort, alle mit langen Messern bewaffnet und mit noch längeren Speeren. Sie machten vorerst keine
Anstalten, das Lager abzubrechen. Es hatte den Anschein, als wären sie ziemlich ausgehungert und darauf bedacht, erst einmal ihre Mägen zu füllen, denn die Prärie, von der sie kamen, beherbergte kein Wild. »Hast du Wolken gesehen?« fragte ich ihn. »Waren irgendwo in der Nähe seines Lagers Wolken?« »Wolken?« »Ja«, sagte ich ungeduldig. »Ich kämpfte bereits einmal gegen einige von ihnen. Da ritten sie auf Wolken über die Prärie.« »Nein, Wolken konnten wir keine sehen, obwohl wir einen guten Blick auf ihr Lager hatten.« Ich ballte nachdenklich die Fäuste. Hatten sie sie verloren? War das der Trick, mit dem sie hereingelegt worden waren? Hatte vielleicht der König die Wolken befreit? Möglich war es. Nun verstand ich auch, warum sie eine Gefahr für die Thaimoa bedeuteten. Sie waren zu Fuß unterwegs. Sie mußten durch den Dschungel. Mit den Wolken wären sie darüber hinweggeflogen. »Sobald du ausgeruht bist, bringst du mich zum Lager.« Er nickte. »Laß mich etwas essen, dann können wir gleich aufbrechen.« Rylai wollte mit, aber er sah ein, daß er hier gebraucht wurde. Thamai aber ließ es sich nicht nehmen. Alle meine Warnungen vor den Gefahren
beeindruckten sie nicht. Sie wollte den Feind mit eigenen Augen sehen. Waren sie überhaupt unsere Feinde? dachte ich plötzlich. Vielleicht gab es einen Weg, sich mit ihnen zu einigen. Aber ich beschloß, mit einem Urteil zu warten, bis ich sie gesehen hatte. Die Männer, die ich getroffen hatte, waren ganz offenbar von der Sorte gewesen, die sich nahm, was ihr gefiel, ohne lange um Erlaubnis zu fragen. Nun, ich hatte ohnehin vorgehabt, mit diesem Darraco zu reden. Immerhin schuldete er mir noch ein Leben. Wenig später brachen wir auf; der Späher, einer von Rylais Männern, Thamai und ich. Wir gönnten uns nur eine kurze Rast und erreichten spät nachts unsere Spähertrupps. Sie waren sehr froh, daß ich kam, denn sie wußten nicht recht, was sie tun sollten. Einer ihrer Männer, Erano, war den Fremden während eines Jagdzugs in die Hände gefallen. Sie hatten ihn mit ins Lager geschleppt. Wir schlichen an den Waldrand, äußerst vorsichtig, denn Darraco mußte nun wissen, daß er nicht allein hier war. Er würde wenigstens verstärkte Wachen aufgestellt haben. Das Lager war wirklich beeindruckend. Gut ein Dutzend Feuer brannten zwischen den Zelten. Es war
größer als unser Dorf. Viel größer. Thamai schnappte überrascht nach Luft, als sie es sah. »Dagegen sollen wir kämpfen?« flüsterte sie. »Wir haben den Dschungel auf unserer Seite«, sagte ich beruhigend. »Diese Männer sind gewohnt, auf Wolken anzugreifen, zuzuschlagen und wieder zu verschwinden. Jetzt sind sie zu Fuß. Wenn sie den Dschungel betreten, wird es ein langer Weg für sie werden.« Aber ich wußte gut genug, daß der Dschungel nicht der entscheidende Teil war, denn Larkin hatte auch in dem wilden Dschungel jenseits der Prärie sein Leben teuer verkauft. »Wann haben sie Erano gefaßt?« fragte ich Mirin, den Anführer des Spähtrupps. »Kurz vor Sonnenuntergang, als sie von der Jagd zurückkamen. Er bemerkte sie zu spät.« »Seitdem habt ihr nichts von ihm gesehen?« »Nein, und nichts gehört. Sie haben ihn ins Lager gebracht.« »Dann werden sie ihn ausquetschen«, sagte ich. »Ausquetschen?« wiederholte Mirin. »Ja. Sie werden ihn foltern, bis er ihnen sagt, was sie wissen wollen.« »Vitus Fluch!« entfuhr es ihm. »Er wird nichts sagen!« »Darauf würde ich mich nicht verlassen. Es gibt
Methoden, die selbst einen Stummen zum Reden bringen. Aber vielleicht haben sie sich noch nicht die Zeit dazu genommen. Wir müssen versuchen, ihn so rasch wie möglich zu befreien.« »Aus diesem Lager? Wie stellst du dir das vor?« »Das weiß ich noch nicht.« »Sie sind hellhäutiger. Du würdest sofort auffallen«, warnte Thamai. »Am Ende werden sie dich foltern wie Erano.« Sie ergriff meinen Arm. »Ubali, du darfst nicht gehen. Laß mich gehen.« »Um Vitus willen, nein!« entfuhr es mir. »Was wolltest du erreichen? Dann wären nur zwei Gefangene in ihrer Hand. Oder besser drei«, fügte ich hinzu. »Drei?« fragte sie. »Ja, ich«, erwiderte ich. »Mir wären dann die Hände gebunden. Denn ich würde selbst Vitu verkaufen, um dich wieder freizubekommen ...« »Still«, flüsterte Mirin. »Da kommt jemand.« Wir sahen zwei Gestalten zwischen den Zelten hervorkommen und auf den Waldrand zugehen. Sie kamen genau in unsere Richtung. »Die könnten wir fangen, was meinst du?« flüsterte ich Mirin zu. »Ja.« »Aber nicht töten«, warnte ich. »Nur am Schreien hindern. Wir werden sie austauschen.«
»Guter Gedanke.« Als sie an uns vorbeikamen, zischte ich: »Fertig?« Wir sprangen. Ich bekam meinen gut an der Kehle zu fassen und drückte zusammen, bevor er schreien konnte. Ich zog ihn zu Boden und drückte ihm das Messer an die Kehle. »Keinen Laut!« Er gehorchte und rührte sich nicht, während ich nach seinem Gürtel tastete und einen Dolch herauszog und ihn Thamai zuwarf. In diesem Augenblick erklang hinter mir ein gurgelnder Schrei. Er brach ab. Als ich herumfuhr, sah ich Mirin mit einem blutigen Dolch in der Hand. »Vitu ... vergib mir«, stammelte Mirin. »Ich rang mit ihm ... und hatte seine Waffe plötzlich in der Faust ... Ich ...« »Hör auf, um Vergebung zu jammern!« herrschte ich ihn an. »Wir werden noch eine ganze Menge von denen ...« Ein harter Schlag gegen den Nacken warf mich nach vorn. Gleich darauf hörte ich Thamai spitz aufschreien. Halb betäubt vernahm ich rasche Schritte und Brechen im Unterholz. Und während ich noch mühsam versuchte, wieder auf die Beine zu kommen, erklang ein erneuter Schrei. »Thamai!« entfuhr es Mirin. Ich kam torkelnd hoch und sah eine Bewegung vor
mir in den Büschen. Thamai tauchte auf und stürzte auf mich zu. »Vitu sei Dank«, keuchte sie erleichtert, als ich sie in den Armen fing. Ich schüttelte die Benommenheit ab. »Dir ist nichts geschehen?« murmelte ich. »Nein. Oh, Ubali ... ich dachte, er hätte eine Waffe, und du wärest ...« »War wohl nur die Faust«, brummte ich. »Aber er hat einen verdammt harten Schlag. Wir müssen hier weg. Die müssen taub sein, wenn sie nichts gehört haben. Außerdem ist einer entkommen ...« »Nicht weit«, sagte Thamai. Ich starrte sie an. »Ist er tot?« »Ich weiß es nicht. Er stand nicht mehr auf.« »Seht mal ...!« rief Mirin. Flackernde Lichter kamen auf den Wald zu. »Vitu! Sie haben uns bemerkt!« flüsterte Thamai. »Vorwärts! In der Dunkelheit finden sie uns nicht so leicht. Aber nicht zu den ändern, sonst kriegen sie uns vielleicht alle.« Mirin eilte voran. Ich schob Thamai hinter ihm her und folgte. Der Wald war erfüllt von Rufen und Flüchen, als sie gleich darauf die Leiche fanden. Es sah aus, als wollten sie den Wald anzünden. Wenigstens fünfzig Männer mußten hinter uns her sein, und sie kamen rasch in unsere Richtung. Mit den Fackeln fanden sie den Weg leichter als wir in der Finsternis.
Bald war klar, daß wir ihnen nicht entkommen würden. »Thamai, lauf weiter!« keuchte ich. »Wenn wir Glück haben, geben sie sich mit uns zufrieden ...« »Niemals, Ubali ... mein Liebster ... dein Schicksal ist auch meins ...« »Du mußt Hilfe holen, Thamai. Lauf! Dreh dich nicht um. Lauf!« Aufatmend sah ich, daß sie gehorchte. »Halt ein, Mirin. Es hat keinen Zweck. Thamai hat allein die besseren Chancen.« Keuchend hielten wir an und sahen Thamai zwischen den Bäumen verschwinden, als hinter uns die ersten Verfolger auftauchten. Als sie uns stehen sahen, hielten sie ebenfalls an und warteten, bis ein Großteil der Verfolger zu ihnen gestoßen war. Dann kamen sie auf uns zu. »Wirf die Waffe weg«, flüsterte ich Mirin zu und warf meinen Dolch auf den Boden. »Es sind zu viele zum Kämpfen. Und ich möchte ganz gern mit Darraco sprechen.« Auch Mirin warf seine Waffe weg – höchst ungern, wie ich erkennen konnte. Wir leisteten keinen Widerstand, als sie uns umringten. Sie hatten verwegene Gesichter, und sie blickten uns feindselig an. »Noch ein paar von der Sorte«, stellte einer fest. »Darraco wird verdammt
neugierig sein.« »Velco ist tot. Wir sollten kurzen Prozeß mit ihnen machen!« »Dann wärest du der nächste, mit dem Darraco kurzen Prozeß macht. Du weißt, daß er die Beute erst sehen will, bevor er sie verteilt.« Der Sprecher grinste. »Vielleicht verteilt er sie gerecht auf zweihundertfünfundachtzig gleich Stücke, was meint ihr?« Die Bande schob uns vorwärts. Ich ahnte, daß es nicht besonders gut um uns stand. Aber wenigstens war Thamai in Sicherheit. Sie stießen uns mit viel Gejohle in das hellerleuchtete Lager. Von den Feuern starrten sie uns entgegen. Sie sprangen auf, um genau zu sehen, was ihre Kameraden da eingefangen hatten. Viele Gesichter waren finster, und ich sah auch gleich warum. Man hatte inzwischen den Toten gebracht und auf den freien Platz vor einem der Zelte gelegt. Am nächsten Feuer saß der zweite. Er hatte eine blutende Wunde an der Schulter, die zwei Frauen gerade verbanden. Wir wurden vor das Zelt gestoßen. Der Eingang öffnete sich, und ein grobschlächtiger narbenbedeckter Mann trat heraus. Seine tiefliegenden Augen musterten die Szene kalt. Der dunkle Bart und das fast schwarze schulterlange Haar ließen seine Haut heller erscheinen
als die der übrigen. Aber die Blässe mochte auch von einer inneren Erregung herrühren, die nichts Gutes ahnen ließ. Ich zweifelte nicht, daß ich Darraco vor mir hatte. Ich sah die Grausamkeit und Unbeugsamkeit in seinen Zügen, und ich wußte, daß der Kampf unvermeidbar war, wenn das Volk der Thaimoa überleben wollte. Hier war einer, der zu nehmen gewohnt war – um jeden Preis. Die Männer in der unmittelbaren Nähe verstummten. Ich sah, daß auch sie ihn fürchteten. Vielleicht, dachte ich einen Augenblick lang, wäre der Kampf zu vermeiden, wenn ich ihn tötete! Er war die treibende Kraft hinter der ganzen Schar. Zweihundertfünfundachtzig hatte der eine gesagt. Fast doppelt so viele, wie wir waren. Aber er stand zu weit weg. Ich hätte ihn nie lebend erreicht. Aber ich spürte, daß ohne ihn dieser führerlose Haufen nur halb so stark sein würde; ein Gedanke, an den ich mich erinnern würde. »Habt ihr ihn getötet?« Er deutete auf den Toten zu seinen Füßen. Ich zuckte die Achseln. »Er war zu unvorsichtig.« Einen Augenblick schien es, als ob er lächelte. Dann fixierte er uns erneut. »Wieviele seid ihr?« »Erwartest du darauf eine Antwort, Darraco?« erwiderte ich.
Wenn er überrascht war darüber, daß ich seinen Namen wußte, ließ er sich jedenfalls nichts anmerken. »Noch nicht«, sagte er und es klang, als ob er wüßte, daß wir später reden würden. Das erfüllte mich mit Unbehagen. Er nickte Mirin zu. »Einen wie dich haben wir bereits hier. Aber du«, wandte er sich an mich, »bist ein anderer Vogel. Wo bist du her?« »Ich kam aus dem Osten geflogen«, erklärte ich nicht ohne Spott, und es war nicht einmal gelogen. »Ich heiße Ubali, und es ist gut, wenn du es dir merkst.« Er betrachtete mich neugierig. »Wenn du nach Süden ziehst«, fuhr ich laut fort, »wirst du auf elf deiner Männer stoßen, die du vermißt. Ich habe sie erschlagen. Nur einer folgte mir in den Dschungel der wilden Pflanzen, Larkin. Ich rettete ihm das Leben, weil es mir klug schien, daß du mir ein Leben schuldest. Aber am Schluß war der Dschungel stärker.« Ich zuckte bedauernd die Schultern. Dann fuhr ich fort: »Ich bin der Herrscher des Volkes der Vitu-thaimoa. Ich bin gekommen, um mit dir zu reden.« Das hatte er offenbar nicht erwartet. Schließlich nickte er und winkte seinen Männern. »Bringt sie ins Zelt.« Sie stießen uns vorwärts. Das Zelt war sehr groß. Meine Augen brauchten einen Augenblick, um sich an
die Helligkeit zu gewöhnen, die sechs Fackeln zu unserer Linken erzeugten. Von dort kam auch ein Stöhnen. »Erano!« entfuhr es Mirin. Er war an zwei gekreuzte Holzbalken gefesselt und offenbar nicht ganz bei Sinnen, obwohl er Mirins Stimme vernommen zu haben schien, denn er versuchte, den Kopf zu heben, was aber mißlang. Quer über Brust und Bauch, hinab bis auf die Schenkel, zogen sich tiefe Peitschennarben, die schwarz von geronnenem Blut waren. Ich hielt Mirin fest, als er auf ihn zueilen wollte. »Er hat nicht viel geredet«, erklärte Darraco ungerührt. »Aber das braucht er nun nicht mehr. Ihr werdet an seiner Stelle meine Neugierde befriedigen.« Er gab ein Zeichen. Einer der Männer ging zu dem Gefesselten und stieß ihm ein Messer in die Brust. Mirin schrie auf. »Feiger Mörder!« Er wollte mit geballten Fäusten auf Darraco los, und der Mann hinter ihm hob seine Klinge zum Stoß in den Rücken. Aber ich riß Mirin zurück. Dieser feige, sinnlose Mord war mir selbst an die Nieren gegangen, und ich mußte an mich halten. »Geduld«, sagte ich zu Mirin. »Er weiß noch nicht, daß er für alles bezahlen wird.« Das beeindruckte Darraco indes nicht. Mit einem spöttischen Lächeln deutete er auf eine Bank. »Setzt
euch, Majestät«, meinte er höhnisch. Dann sahen wir stumm zu, wie sie den toten Erano losbanden und aus dem Zelt schafften. Mirin starrte zähneknirschend auf die Männer. Erneut winkte Darraco. Die Männer ergriffen Mirin und banden den sich heftig Wehrenden an das Kreuz. Ein Riese von einem Mann trat mit einer Peitsche vor. »Na, Moltos«, meinte Darraco. »Wirst du mit ihm besser zurechtkommen?« Der Riese holte aus und schlug zu. Mirin schrie nicht. Er stöhnte nicht einmal. Diese Art von Gewalt und Schmerz war für ihn völlig unbegreiflich. Er sog Luft ein, und seine Augen wurden weit. Seine Muskeln spannten sich einen Moment. Moltos zuckte die Achseln. »Wird nicht viel besser sein mit ihm«, sagte er und beobachtete Mirins Haut, aus der Blut zu sickern begann. Ich versuchte unbeteiligt zu wirken. »Nun, Majestät«, meinte Darraco, »berührt euch das Schicksal eurer Untertanen nicht?« »Der einzelne bedeutet nichts«, erklärte ich mit gespielter Gleichgültigkeit. »Es wäre mir recht, wenn wir jetzt endlich mit Vernunft reden könnten ... ohne diesen Pöbel und ohne diesen primitiven Spektakel.« Dabei deutete ich um mich. Dann fuhr ich fort: »Der Dschungel ist das Reich meines Volkes. Ich kam, um
dir folgendes zu sagen, Darraco: Ziehst du nach Nordwesten, so magst du in Frieden gehen. Ziehst du nach Süden zur Küste, so magst du auch in Frieden gehen. Setzt du aber den Fuß in diesen Teil des Dschungels, so wirst du jeden Schritt mit Blut bezahlen.« Einen Augenblick funkelte er mich wütend an, dann hatte er sich wieder in der Gewalt. »Interessant«, stellte er spöttisch fest. »Deines wird in jedem Fall mitfließen.« »Wie ich schon sagte, der einzelne bedeutet nichts.« Er schien bereit, das zu glauben. Vielleicht hätte er meine Gleichgültigkeit nur für gespielt gehalten, aber erst Eranos und nun Mirins stumme Duldung der Folter ließ ihn ahnen, daß er so nicht zum Ziel kommen würde. Aber ihm, für den das Töten offenbar das Mittel für alles gewesen war, fiel es schwer, einen anderen Weg zu finden. Wütend sagte er: »Ich bin müde. Schafft sie in sicheren Gewahrsam. Ihr haftet mit eurem Kopf für sie, ist das klar?« Die Männer nickten nicht übermäßig erfreut. »Wir werden morgen eine Entscheidung treffen. Macht schon. Laßt mich allein!« Sie banden Mirin los und fesselten ihm die Hände auf den Rücken, mir ebenfalls, dann schoben sie uns hinaus. Nach einem kurzen Palaver schickten sie einen
fort, der kurz darauf mit einer Axt und einem großen Pfahl zurückkam. Sie suchten einen günstigen Platz vor einem der Feuer aus, wo sie uns gut sehen konnten, und schlugen den Pfahl tief in den weichen Prärieboden. Wir mußten uns setzen und wurden Rücken an Rücken an den Pfahl gebunden. Danach begaben sie sich ans Feuer zurück und nahmen ihr unterbrochenes Essen wieder auf, wobei sie gelegentliche Blicke zu uns herüberwarfen. Es würde eine ungemütliche Nacht werden. Aber vorerst konnten wir gar nichts unternehmen; nur hoffen, daß Mirins Männer sich klug verhielten. Langsam brannten die Feuer nieder. Darraco ließ sich nicht mehr blicken. Einmal glaubte ich am Lagerrand einen Schrei zu vernehmen, aber es mochte auch nur ein Laut aus dem Dschungel gewesen sein. Der Dschungel war nachts voller Leben. Auch einige der Männer am Feuer hoben die Köpfe und lauschten, zuckten aber nach einem Augenblick die Achseln. Das Lager war gut bewacht. Sie nahmen ihr Palaver wieder auf. Lange nach Mitternacht verschwanden schließlich auch die letzten in den Zelten, bis auf zwei Wachtposten, die offenbar vorhatten, die ganze Nacht mit uns zu verbringen. Es war eine aussichtslose Lage, und ich fluchte still in mich hinein. Mirin ging es nicht anders.
»Können wir gar nichts tun?« flüsterte er. »Hast du Ideen?« »Nein.« »Warum hilft Vitu uns nicht?« »Die Götter helfen dem, der sich selbst hilft. Noch leben wir. Diese Stricke sind zu gut geschnürt. Kannst du deine aufbekommen?« »Ich habe es noch nicht versucht..« »Bei den Göttern, Mann«, fluchte ich, »worauf wartest du, daß Vitu erscheint und sie dir persönlich aufknüpft?« »Haltet den Mund!« sagte der eine Posten drohend. Ich spürte, wie Mirin an seinen Fesseln zu arbeiten begann, aber ich hatte wenig Hoffnung, selbst wenn sie nur halb so gut geschnürt waren wie meine. Und warum sollten sie nur halb so gut geschnürt sein? Nach einer Weile gab er es keuchend auf. »Geht nicht.« Ich brummte zustimmend. »Erano wird endgültig sterben, wenn wir ihn nicht rechtzeitig zum Teich bringen.« »Wann spätestens?« »Morgen nacht.« »Hast du gesehen, wohin sie ihn gebracht haben?« »Nein.« »Dann werden wir ihn nicht finden. Wenn sie ihn in den Dschungel brachten, wie ich glaube, dann haben
die Ameisen nicht viel mehr als die Knochen übrig gelassen ...« »Von uns wird auch nicht viel mehr übrigbleiben.« »Vielleicht«, stimmte ich zu. »Aber bis dahin halten wir die Hände in Bewegung, daß sie nicht absterben. Es mag der Augenblick kommen, da wir sie brauchen.« Er gab keine Antwort, aber ich spürte gelegentlich, wie er seine Hände kräftig drehte und wand. Der Wachtposten direkt vor uns hatte den Kopf auf die Knie gestützt. Es war nicht zu erkennen, ob er schlief. Der zweite, der ein wenig abseits saß, starrte mit müden Augen in die letzte Glut. »Sie haben seltsame Kleider«, flüsterte Mirin nach einer Weile. »Ich habe noch nie dergleichen gesehen.« »Wolle und Leinen«, erklärte ich. »Was ist das?« »Gewebter Faden. Da kommt jemand.« Zwei Gestalten kamen vom Lagerrand her auf die Feuerstelle zu. Ein Mann und ein Mädchen. Das Gesicht des Mädchens war tief im Schatten eines Tuches. Sie ließen sich schweigend bei den anderen beiden nieder. »He, Masco«, sagte einer der Wachen, »du scheinst ja mächtig in Fahrt.« Er lachte. Masco, der Neuankömmling, warf ein paar kleine Äste in die Glut. Grinsend erwiderte er: »Vallie ist das beste Stück, das ich jemals erbeutete.« Er drückte das
Mädchen an sich. »Und wißt ihr, sie findet es auch nicht übel.« Er blies in die Glut, bis kleine Flammen hochsprangen. »Wir sind noch nicht müde. Wenn ihr wollt, könnt ihr euch ein paar Stunden aufs Ohr legen. Wir wecken euch, wenn wir schlafen gehen.« »Das ist ein Wort, Masco. Aber laßt sie nicht aus den Augen. Ich glaube, Darraco hat einiges mit denen vor.« »Keine Angst«, meinte Masco und stieß seinen Dolch vor sich in die Erde. »Mir gefällt‘s nicht«, meinte der zweite Wachtposten. »Ah, komm schon. Wir lassen die beiden Turteltauben allein«, sagte der erste grinsend. Der andere zuckte die Achseln. »Na gut, es ist auch deine Haut.« Er erhob sich ebenfalls. »Da hinten ist noch Brennholz.« Er gähnte. »Ich bin wirklich verdammt müde. Ich hoffe, ihr haltet es eine Weile aus. Viel kann nicht passieren. Darraco hat die Wachen verdoppeln lassen. Sieht so aus, als ob ihm die Fremden nicht geheuer wären.« Damit verschwanden die beiden zwischen den Zelten. Masco und das Mädchen saßen schweigend, während das Feuer wieder niederbrannte. Masco machte keine Anstalten, Holz nachzulegen. Das Mädchen war auch von ihm weggerückt, und ich hatte das Gefühl, daß etwas nicht ganz stimmte. Das Mädchen kam plötzlich mit einem Dolch aus
den Falten ihres Gewandes und erhob sich, während Masco scheinbar unbeteiligt sitzen blieb. Sie hockte sich neben uns und schob das Tuch ein wenig zurück, so daß ich ihr Gesicht erkennen konnte. Nur mit Mühe konnte ich einen überraschten Ausruf zurückhalten. »Still«, flüsterte sie. Auch Mirin hatte sie erkannt. »Thamai«, stieß er hervor. »Vitu sei Dank!« »Still!« sagte sie erneut. Dann gab sie meinen Mund frei und schnitt die Fesseln durch. »Bleibt noch sitzen, bis ich fort bin. Dann folgt mir.« »Was ist mit Masco?« fragte ich. »Er mag hierbleiben. Er wird uns nicht verraten. Wir haben sein Mädchen.« »Darraco wird ihn töten«, sagte ich. »Sag ihm, daß er mit uns kommen soll.« Sie nickte und begab sich wieder ans Feuer, während wir unsere Handgelenke rieben, damit das Blut wieder durchfloß. Thamai redete auf Masco ein, der mehrmals den Kopf schüttelte, schließlich aber nickte. Er kam zu uns. »Garantiert ihr uns das Leben, mir und Vallie?« »Würden wir dich sonst mitnehmen?« erwiderte ich. »Um mich auszufragen ...« »Dazu würde uns auch Vallie genügen«, meinte ich. Ich deutete auf die Axt, die nicht weit vom Feuer lag. »Wir brauchen zwei oder drei von diesen Äxten.
Kannst du sie beschaffen?« Er nickte nach einem Augenblick. Er wußte, er hatte sich auf ein tödliches Spiel eingelassen, um sein Mädchen zu retten. Auf die Äxte kam es auch nicht mehr an. Es war gut, daß er nicht wußte, wie sehr wir sie brauchten. Thamai sah unruhig, daß Masco in der Dunkelheit verschwand. Sie kam zu mir. »Was hat das zu bedeuten? Wir müssen fort.« Ich erkannte, daß sie Angst hatte. Thamai brachte mir die Axt, mit der der Pfahl in die Erde getrieben worden war. Ich nahm sie in die Hand. Ah, es war beruhigend, sie zu halten. »Damit werden wir uns eine Festung bauen. Ich wünschte, wir hätten auch noch einige von den Schwertern und Dolchen ...« »Wir dürfen nicht mehr lange warten«, warnte sie. »Wir haben einen der Wachtposten niedergeschlagen. Wenn er wieder aufwacht ...« »Du warst sehr tapfer«, sagte ich. Einen Augenblick schmiegte sie sich an mich. Ich wollte sie küssen, aber Mirin flüsterte plötzlich: »Vorsicht!« Gleich darauf hörte ich Schritte aus seiner Richtung. Ich dachte, es wäre Masco. Sehen konnte ich nichts, da ich mit dem Rücken zu ihm saß. Thamais Augen wurden weit. Ich wandte mich um. Die Gestalt war in
der Dunkelheit schwer zu erkennen. Aber es war nicht Masco, soviel war sicher. Langsam nahm ich die Hände hinter mich, als wären sie noch gefesselt. Vielleicht sah er die Bewegung in der Dunkelheit nicht. Aber er sah Thamai neben uns, und er sah niemanden am Feuer. »He, Masco«, rief er halblaut. Es war die Stimme eines unserer Wachtposten, der offenbar nach dem Rechten sehen wollte. Als Masco nicht antwortete, fluchte er leise. »Ruf ihn her«, flüsterte ich. Thamai winkte ihm. »He ...!« Er kam näher, ein wenig mißtrauisch. »Wo ist Masco?« Sie zuckte die Achseln und deutete hinter sich in die Dunkelheit. Er stand gleich darauf neben uns. »Siehst sie dir wohl ganz genau an, wie?« Sie erhob sich und ging ans Feuer zurück, dessen schwache Glut wie ein rotes Auge in der Dunkelheit war. Als er sich umwandte und ihr nachblickte, erhob ich mich geräuschlos und zog ihm das flache Blatt der Axt über den Schädel. Ein dumpfer Laut war alles. Von ihm kam kein Geräusch. Ich hielt ihn fest, daß er nicht zusammenklappen konnte. Das Waffengeräusch hätte sicher jemanden geweckt. Ich begann seinen Gürtel zu öffnen. Mirin war ebenfalls auf den Beinen. Gemeinsam zogen wir ihn aus und nahmen ihm die
Waffen ab. Dann befahl ich Mirin, die Kleider anzuziehen. Das war aber nicht so einfach, weil er, der er noch nie so etwas getragen hatte, mit den Beinkleidern nicht zurechtkam. Doch schließlich klappte es. Ich war heilfroh, als endlich Masco auftauchte. Er hatte zwei Äxte bei sich. Und er wurde blaß, als er erkannte, was sich während seiner Abwesenheit alles zugetragen hatte. Wir ließen ihm keine Zeit, darüber nachzudenken. Ich winkte in Richtung des Waldes. Mirin nahm ihm eine der Äxte ab. Thamai eilte voran, Masco hinter ihr. Ich schob Mirin hinterher und folgte. Wir liefen geduckt zwischen den Zelten hindurch. Thamai deutete auf eine reglose Gestalt im Gras. Der niedergeschlagene Posten. Ich hielt kurz an und nahm ihm Schwert und zwei Dolche ab. Dann hatte ich Mühe, wieder aufzuholen. Ich sah sie undeutlich ziemlich weit vor mir laufen. Im nächsten Augenblick wäre ich fast gegen sie geprallt. »Posten«, zischte Masco und deutete nach vorn, wo sich undeutlich zwei Gestalten gegen den helleren Himmel abhoben. »Wir müssen sie umgehen.« Das kostete uns einige Zeit, und ich war schon reichlich unruhig. Jeden Moment erwartete ich, daß unser zweiter Wächter auftauchte und feststellte, daß wir verschwunden waren. Jeden Moment erwartete
ich, den Tumult hinter uns losbrechen zu hören. Doch unangefochten erreichten wir den Waldrand. Wir gönnten uns keine Rast. Thamai führte uns. Ihrer Zielsicherheit nach zu schließen mußten die Männer Mirins in der Nähe lagern. Wenig später gab Thamai ein Zeichen. Wir hielten an. Sie lauschte und nickte. Auf ein leises Pfeifen kam Antwort. Gleich darauf umringten uns erleichtert grinsende Gestalten und führten uns zu ihrem kleinen Lagerplatz. Noch jemand war sehr erleichtert über unser Kommen – ein schwarzhaariges Mädchen, das sich in Thamais Lendenfell ziemlich nackt zu fühlen schien. Als sie Masco entdeckte, sprang sie ihm mit ausgebreiteten Armen entgegen. Während Thamai Vallie die Kleider zurückgab, entledigte sich auch Mirin hastig der ungewohnten Sachen. Er war sichtlich froh, sie loszuwerden. Die Männer sahen ihm grinsend zu. »Gefällt sie dir nicht, deine neue Häuptlingstracht?« meinte einer spöttisch. »Wir werden sie vielleicht noch brauchen«, murmelte er und schnürte sie zusammen. Dann zählten wir die Waffen, die wir erbeutet hatten. Vier Dolche, zwei Schwerter, nicht gerechnet Mascos Bewaffnung, und drei Äxte. Ganz gut für den Anfang. Und es gab noch eine Neuigkeit: Sie hatten
Eranos Leiche gefunden. Drei Männer aus dem zweiten Spähtrupp waren seit mehreren Stunden unterwegs, um sie an den Teich zu schaffen. Ich befahl Mirin, weiter jede Bewegung Darracos ins Lager zu melden. Dann brach ich mit Thamai auf. Masco und Vallie schlossen sich uns an. Sie wollten fort von Darracos Lager, wo sie nur der Tod erwartete, denn Darraco duldete kein Versagen und noch weniger einen Verrat, auch wenn er aus der Not heraus geschah, das Mädchen zu retten. Sie wollten nach Süden, das Meer erreichen, ein Boot bauen und nach Westen segeln, um die Küste zu erreichen, an der Vallies Dorf lag.
7.
Zwei Dinge glaubte ich erkannt zu haben: Darraco besaß tatsächlich keine Wolken mehr. Er war mit seinen Leuten zu Fuß unterwegs, und das war für ihn sicher eine gewaltige Umstellung. Er würde also ziemlich hilflos sein. Und König Dragon befand sich offenbar nicht mehr in der Gegend hier. Die Chancen
standen stark dafür, daß er sich mit einer Wanderwolke auf den Weg gemacht hatte. Wohin? Zum Weltentor zurück? Oder zu Danilas Stamm? Und ich saß hier fest! Ich verdrängte den entmutigenden Gedanken rasch. Es galt nun, lebenswichtigere Dinge zu tun. Ich zweifelte nicht daran, daß Darraco angreifen würde. Vielleicht gelang es uns, ihn in die Irre zu führen. Dieser Gedanke beschäftigte mich während des ganzen Rückwegs. Wenn wir es klug anstellten, fand er das Dorf gar nicht. Wir konnten ihn in Dutzende von Hinterhalten locken. Wir legten eine kurze Rast ein, denn Masco und Vallie ermüdeten rascher als wir. Ich versuchte, von Masco etwas über König Dragon zu erfahren und bekam schließlich aus ihm heraus, daß ein Weißer mit braunem Haar und einem sonderbaren Amulett Darraco hereingelegt habe. Nun war alles klar. Aber wohin der Fremde mit der Wolke Aerula-thane verschwunden sei, das wußte auch er nicht. Bei dem König befanden sich jedenfalls noch der einstige Prophet Darracos, Umkathel, und seine Tochter Priapa, sowie ein Mädchen, das mit dem Fremden gekommen war. Dieser Fremde habe offenbar über besondere Kräfte verfügt, denn die riesige Wolke gehorchte ihm, ohne daß er sie mit Speeren zu lenken brauchte.
Sie nannten sich Piraten. Piraten der Lüfte. Aber damit war es nun vorbei, da ihnen der Fremde die Wolken genommen hatte. Ich erfuhr auch ein wenig über Masco selbst. Wie viele der Piraten war er als Kind geraubt worden und dann bei ihnen geblieben. Erst lockte ihn das abenteuerliche Leben, aber oft kam er sich vor wie ein Gefangener. Es gab keine Flucht aus Darracos Bande. Noch nie hatte es einer geschafft. Mit den Wolken fanden sie sie überall und töteten sie unbarmherzig als Verräter. Erst Vallie, Valeria, die aus einem Dorf an der Küste geraubt wurde, hatte das Leben wieder erträglicher gemacht. Aber Vallie war noch nicht lange bei den Piraten, und geraubte Mädchen gehörten, besonders während der ersten Zeit nicht einem allein. Die beiden liebten einander, und griffen mit beiden Händen nach der Fluchtmöglichkeit, die sich ihnen jetzt bot. Wir hatten Glück gehabt. Hätten wir einen von Darracos loyalen Männern erwischt, so hätte dieser sicherlich Thamai ins Lager gebracht und wäre geradewegs zu Darraco mit ihr, statt uns zur Flucht zu verhelfen. Um das Mädchen, das Mirins Männer als Geisel festhielten, hätte er sich nicht gekümmert. Für die meisten Piraten waren geraubte Mädchen nur Beutestücke. Ich war sehr froh über Mascos Einstellung. Das machte es mir leichter, ihn gehen zu lassen, wie ich es
ihm versprochen hatte. Von ihm brauchten wir nichts zu befürchten. Wir erreichten das Dorf am späten Nachmittag. Da Masco bis zum Morgen bleiben und dann weiterziehen wollte, gaben wir ihm eine der Hütten. Von Vitus Teich allerdings wollten wir ihn fernhalten. Das Dorf war fast leer, aber er stellte keine Fragen. Wahrscheinlich dachte er folgerichtig, daß die meisten als Späher oder Jäger unterwegs waren. Auch hielt er dieses eine Dorf sicher nicht für das einzige der Thaimoa, und ich hatte nicht vor, ihn eines Besseren zu belehren. Ich begann ihn zu mögen. Aber ich hatte kein Vertrauen zu ihm. Mit Thamai begab ich mich zum Teich. Rylai war sehr froh, uns wiederzusehen. Wir berichteten ihm, was wir gesehen hatten und gaben ihm die Äxte und zwei Dolche, die seinen Männern gute Werkzeuge sein würden. Er war sehr angetan von den Äxten, besonders, als ich ihm zeigte, wie rasch ein Stamm damit zu fällen und von Ästen zu befreien war. Aber ich warnte ihn davor, den Boden damit aufzugraben, denn die Axtblätter würden sehr rasch stumpf und schartig werden, und wir hatten nichts, um sie zu schärfen. Weitere Verwandelte waren eingetroffen, und sieben Parias befanden sich im Lager, einer furchterregender als der andere, aber friedlich und dankbar dafür, daß niemand mehr vor Entsetzen vor
ihnen davonlief. Es fehlte noch immer ein halbes Dutzend, wie mir Thamai versicherte, unter ihnen Talohe, ihr Vater. Die Fallgruben waren fast fertig und erstreckten sich den gesamten Waldrand entlang. Sie waren noch ungetarnt. Ich berief eine Versammlung der Unterführer ein und berichtete allen, was wir erlebt und gesehen hatten, und was ich zu Darraco gesagt hatte. Es waren ein paar bange Gesichter unter ihnen, als sie die Zahl der Piraten vernahmen, aber alle hießen es gut, daß ich dem Piratenführer gedroht hatte. Dann berichtete ich ihnen meinen Plan, die Piraten, wenn sie unsere Warnung nicht ernstnahmen, tief in den Dschungel zu locken und sie immer wieder aus dem Verborgenen anzugreifen, bis sie aufgaben. Wenn alles klappte, so wie ich es mir dachte, könnte man sie bis in das Gebiet der Echsen locken. »Und wie stellst du dir das vor?« fragte Rylai ein wenig zweifelnd. »Wir sind zu wenige.« »Oh, wir werden uns auf keinen offenen Kampf einlassen. Ich könnte mir denken, daß sie auffälligen Spuren folgen, daß wir in den Bäumen auf sie warten und mit einem Pfeilhagel überraschen und wieder verschwinden, bevor sie sich davon erholt haben. Und während sie uns verfolgen, greift ein anderer Trupp ihre Nachhut an. Natürlich wird es Opfer geben. Kein
Kampf ist ohne Verluste zu führen und zu gewinnen.« »Und es gibt keinen friedlichen Weg?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich fürchte nein. Und Vitu hat es ebenfalls erkannt. Die Piraten sind immer auf Beute aus. Aber jetzt ist es für sie nicht mehr einfach nur ein Raubzug, jetzt sind sie von allem abgeschnitten, vergißt er die Niederlage nicht, die er erlitten hat. Es wird Blut fließen. Ihr habt an Erano gesehen, daß er sinnlos Blut vergißt.« Er nickte nachdenklich, während die Unterführer abwarteten. Daß ich Rylais Entgegnungen zu entkräften vermochte, ließ in ihnen sichtlich die Vorstellung wachsen, daß ich alles reiflich überlegt hätte. Gewiß, ich hatte es eine ganze Weile überlegt. Aber reiflich genug? »Was tun wir hier?« meinte Rylai. »Wir errichten ein paar Palisaden, hinter denen man sich verschanzen kann und Deckung findet ...« »Palisaden ...? Was meinst du damit?« »Wände aus Baumstämmen, ähnlich den Wänden des Tempels. Dahinter finden die Frauen und Kinder Schutz, und die Verwundeten und Toten, die wir dem Teich übergeben müssen.« »Bleibt uns soviel Zeit?« »Ich weiß es nicht. Wenn alle mithelfen, schaffen wir es bestimmt. Mit den Äxten wird es nicht so schwierig sein. Wir werden nichts unternehmen, solange sie nicht
den ersten Schritt tun. Dann werden wir sie noch einmal nachdrücklich warnen. Danach bedeutet es Kampf.« Er nickte bedächtig. Dann sah er mich lange an. »Ich fürchte dich ein wenig, Ubali, Freund. Du bist so anders als wir. Es ist soviel Bereitschaft zur Gewalt in dir. Aber ich weiß, daß du nicht sinnlos tötest. Und es wäre nicht Vitus Wille, daß du für die Thaimoa kämpfst, wenn Böses in dir wäre.« »Es liegt nicht daran, daß ich anders bin«, erwiderte ich. »Ihr habt das Böse auch in euresgleichen. Der Tod ist weniger grausam als das, was aus Ukandars Händen kommt.« Er nickte zustimmend. »Du hast recht. Verzeih meine ... Überheblichkeit, mein Freund.« »Wir haben alle Furcht, Rylai«, sagte ich.
8.
Als wir ins Dorf zurückkamen, dachte ich zum erstenmal daran, daß dies meine erste geruhsame Nacht mit Thamai sein würde – in menschlicher
Gestalt! Vielleicht auch meine letzte. Aber es schien mir, daß wir noch ein oder zwei Tage Zeit haben. Darraco würde sein Lager nicht vorschnell abbrechen. Vielleicht schickte er eine Vorhut. Das war es, was ich hoffte. Masco und Vallie begannen sich sehr wohl im Dorf zu fühlen. Ihre Geschichte hatte weitgehend die Runde gemacht, und kaum einer im Dorf begegnete ihnen feindselig. Sie hatten, wenn auch nicht ganz freiwillig, es ermöglicht, mich und Mirin zu befreien, und der Umstand, daß sie beide von den Piraten geraubt worden waren, trug viel dazu bei, daß allgemein Anteil an ihrem Schicksal genommen wurde. Als wir abends an den Feuern saßen, wurde Masco stürmisch gebeten, aus seinem abenteuerlichen Leben zu erzählen, was er auch bereitwillig tat. Er spürte, daß dies nichts mit Ausfragen über den Feind zu tun hatte, sondern einfache Neugier auf das Unbekannte war. Er erkannte sehr bald, daß diese Menschen noch nie aus ihrem Dschungelreich hinausgekommen waren. Es konnte ihm nicht verborgen bleiben, daß sie mehr oder weniger der Vergangenheit angehörten, daß Jahrhunderte an ihnen spurlos vorübergegangen waren. Sie schmiedeten nicht einmal Eisen, verwendeten Bein und Felle für Werkzeug und Bekleidung. Aber sie waren freundlich. Seit langem war niemand freundlich zu ihm und seinem Mädchen
gewesen. Er begann sich geborgen zu fühlen, und ich hatte das Gefühl, daß es ihm am Morgen schwerfallen würde, weiterzuziehen. Er erzählte ausführlich, während alle gespannt lauschten. Auch wir, Thamai und ich, saßen am Feuer, und obwohl ich selbst weit herumgekommen bin, konnte ich mich dem Bann seiner Geschichte nicht entziehen. Es war eine seltsame Welt, und das Leben der fliegenden Piraten war von ungemeinem Reiz. Ich hatte ja auch schon erkannt, wie wundersam es war, zu fliegen, und die Welt wie einen bunten Teppich unter sich vorbeiziehen zu sehen, mit den Bergen so groß wie Kieselsteine und den Flüssen als kleine silberne Striche. Thamai war es schließlich, die mich fortzog vom Feuer. Ihre Hand war warm und lebendig in der meinen, ihre Augen dunkel wie Vitus Teich. Sie zog mich zwischen die Hütten hinaus auf die Lichtung, abseits vom flackernden Schein der Feuer. »Hier«, sagte sie plötzlich. »Das Gras ist ganz weich. Komm, mein Liebster, laß uns den Himmel ansehen.« »Den Himmel«, wiederholte ich verwundert. Sie legte sich auf den Rücken, und nach einem Augenblick tat ich es ihr gleich. »Was bedeutet dir der Himmel?« fragte ich sie. »Der einzige Ausweg aus diesem Wald«, seufzte sie. »Die einzige Freiheit.«
»Und die Prärie? Hast du nie die Prärie gesehen?« »Doch, aber sie ist so weit ... und leblos. Man ist so schutzlos auf ihr. Es gibt nichts, wo man sich verbergen könnte. Nein, sie ist keine Freiheit.« »Denken alle Thaimoa so wie du?« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Nein, sie lieben den Dschungel. Sie träumen nicht. Du wirst fortgehen, nicht wahr? Wenn dies alles vorüber ist?« fragte sie unvermittelt. Ich wandte mich ihr zu und betrachtete sie. »Ja«, erwiderte ich. »Und ich wünschte, du würdest mit mir kommen, Thamai.« Sie sah mich an. »Du würdest mich mitnehmen ...?« Ich nickte. »In meiner Heimat sagt man: Du hast mein Herz, Gefährtin, meine Hände und meine Welt! Was soviel bedeutet wie: wir haben einen gemeinsamen Pfad, und mögen die Götter uns sicher geleiten, so lange er währt ...« Sie legte die Arme um mich, und ich wußte in diesem Augenblick, daß ich sie niemals hier zurücklassen würde. »Ja, Ubali, ich möchte diesen Pfad mit dir gehen.« »Es ist ein weiter Weg, Thamai. Er führt durch tausend Gefahren und hat vielleicht nie ein Ende, denn ich bin auf der Suche nach meinem König. Wir kommen aus einer anderen Welt, und wenn es uns gelingt, dorthin zurückzukehren, wirst du dein Volk
nicht wiedersehen. Sie werden noch leben, wenn wir längst tot sind. Vitu wird nicht die Kraft haben, uns dort zu beschützen, wo wir hingehen. Liebst du mich und die Freiheit genug dafür?« »Ja, ich liebe dich genug dafür«, flüsterte sie und zog mich an sich. Das Gras war warm, und die Nachtluft angenehm kühl, wie der Wind eines großen schwarzen Fächers. Es war etwas von einer willkommenen Geborgenheit auf dieser Lichtung zu spüren, mit dem Geschrei der Nachtvögel, den Geräuschen des Dschungels, dem fernen Schein der Lagerfeuer und dem halbverwehten Klang menschlicher Stimmen um uns.
Ich schlief schlecht den Rest der Nacht. Mirin und seine Männer besaßen wenig Erfahrung. Alles mögliche mochte inzwischen geschehen sein. Bei Sonnenaufgang brach ich mit drei Dutzend Männern auf. Ich wollte nicht länger abwarten. Ich wollte mit eigenen Augen sehen, was geschah. Wir begegneten am Vormittag einem Späher, der auf dem Weg zu uns war. Mirin meldete uns, daß eine Vorhut von dreißig Männern in den Dschungel eingedrungen sei. Das Lager sei aber noch nicht abgebrochen worden. Der Bote meinte, die Piraten
könnten höchstens ein oder zwei Stunden hinter ihm sein. Er hatte recht. Wir sahen sie eine Stunde später. Sie schlichen vorsichtig durch den Dschungel. Wir ließen sie an uns vorüber und folgten ihnen unbemerkt. Als sie Rast machten, verteilte ich meine Männer im Dickicht und gab ihnen genaue Anweisungen. Dann trat ich zu ihnen auf den Lagerplatz. Die Überraschung hätte nicht größer sein können. Sie sprangen erschrocken auf. Ich zeigte ihnen meine leeren Hände, um ihnen klarzumachen, daß ich in Frieden kam und mit ihnen reden wollte. Ich hatte bereits gesehen, wer der Anführer war, und wandte mich an ihn. »Wie lautet dein Auftrag?« Er sah mich erstaunt und spöttisch an. »Du denkst doch nicht, daß ich dir das auf die Nase binden werde, Schwarzhaut ...« »Es wäre besser«, sagte ich drohend. »Ich habe eurem Anführer deutlich zu verstehen gegeben, daß wir sein Eindringen in diesen Dschungel nicht gestatten werden.« »Nun hört euch das an«, meinte der Pirat höhnisch. »Als ob ein Zweifel bestünde, wer hier wem etwas gestattet. Was meint ihr, ob wir ihm seine schwarze Haut abziehen und sehen, wie blaß er darunter ist?« Die Männer lachten schallend.
Ich ließ mich nicht beirren. »Ihr werdet umkehren und Darraco folgende Botschaft ...« Er unterbrach mich. »Darraco empfängt keine Botschaften, nur Beute. Und du scheinst mir ein recht passables Stück, tot oder lebendig, ganz wie du willst.« Bei diesen Worten zog er sein Schwert und hielt mir die Klingenspitze an die Brust. »Fesselt ihn!« Bevor die Männer aufspringen konnten, hob ich die Hand ein wenig – das verabredete Zeichen. Ein kurzer gefiederter Pfeil steckte plötzlich in seiner Kehle. Der Mann sah mich erstaunt an, und seine Gefährten stierten nicht minder überrascht auf den Todesboten, der so lautlos gekommen war. Dann brach er röchelnd zusammen und lag still. Ich stand abwartend. Einer starrte mich an, weiß vor Wut. Er riß seinen Dolch aus dem Gürtel. Mit einem Aufschrei griff er sich an die Schulter, aus der ein Pfeil ragte. Ein zweiter fuhr ihm in die Brust. Er brach schreiend zusammen. Bleich vor Entsetzen starrten mich die Männer an. »Du kannst uns nicht alle fertigmachen, verdammte Schwarzhaut. Und wenn wir dich erst in den Fingern haben, wollen wir sehen, ob deine Freunde noch zu schießen wagen. Vorwärts, Männer! Packt ihn!« Ich rührte mich nicht, um nicht in die Schußlinie zu geraten. Ein wahrer Hagel von Pfeilen erfüllte die Luft. Ein Dutzend Männer ging zu Boden, andere sprangen
leicht verwundet in Deckung. Der ganze Platz war vom Schreien und Stöhnen der Verletzten und Sterbenden erfüllt. Ich sprang nun ebenfalls in Deckung. Es war besser gelaufen als erwartet – und doch auch schlechter. Ich wollte nicht töten, aber sie hatten mir keine Wahl gelassen. Ich hoffte, daß sie wenigstens nicht umsonst gestorben waren und daß Darraco etwas daraus lernte. »Ergebt euch!« rief ich. »Ihr habt keine Chance. Wir haben euch umzingelt. Ergebt euch, oder wollt ihr, daß noch mehr sterben?« Einen Augenblick regte sich nichts, dann kamen sie mit vorgestreckten, leeren Händen aus den Büschen und standen abwartend da. Ihre braunen Gesichter waren blaß. Sie blickten ängstlich um sich. Zwölf von ihnen schienen unverletzt. Zwei weitere taumelten blutüberströmt zu ihnen. »Der erste geht nach links zwischen die Bäume«, befahl ich und trat zwischen sie. Der am weitesten links stand, gehorchte. Als er zwischen den Bäumen verschwunden war, nahmen ihn meine Männer in Empfang und fesselten ihn. Dann schickte ich den zweiten los. Es gab keine Zwischenfälle. Zu sehr saß ihnen der Schreck in den Gliedern. Schließlich hatten wir sie alle aneinandergeschnürt – bis auf einen. »Du wirst Darraco berichten, was geschehen ist. So
wird es allen ergehen, die unser Reich betreten. Wenn er diese Männer wiederhaben will, dann soll er schnellstens dieses Gebiet verlassen.« Der Mann nickte. Möglicherweise standen seine Überlebenschancen nicht sehr gut, wenn er Darraco mit dieser Botschaft gegenübertrat, aber das war seine Sache. Ich gab ihm zwei meiner Männer mit, um sicherzugehen, daß er die Meldung auch wirklich überbrachte. Sie sollten ihn bis an das Lager heranbringen und dann Verbindung mit Mirin aufnehmen und ihn unterrichten. »Was tun wir mit den Toten?« »Wir lassen sie liegen«, sagte ich bestimmt. »Der Dschungel wird sich um sie kümmern. Es gefiel meinen Männern nicht, das war deutlich zu sehen. Ich hatte sie soweit, daß sie töteten. Aber den endgültigen Tod zu geben, davor scheuten sie zurück. »Vitu wird uns zürnen«, meinte einer. »Es ist in Vitus Sinn«, widersprach ich. »Wie stellt ihr euch das überhaupt vor? Wenn ihr sie in den Teich werft, und sie erhalten tatsächlich ein neues Leben, was hätte sich dann wohl geändert? Selbst als Tiere wären sie eure Feinde, und ihr müßtet sie wieder töten. Wir haben Krieg! Wir haben ihn nicht gewollt. Wir wehren uns nur unserer Haut. Aber diese Männer sind das Töten gewöhnt. Sie haben nicht viel anderes getan in ihrem Leben als Töten und Rauben, Morden und
Brennen. Wenn sie einmal dieses phantastische Geheimnis des Teiches kennen, werden sie nicht ruhen, bis sie ihn besitzen. Sie werden ihn sich mit Gewalt nehmen, wie sie alles mit Gewalt genommen haben. Ihre Zahl ist größer als unsere. Nur so können wir das ausgleichen.« Sie nickten schließlich zustimmend, aber mit halbem Herzen. »Es ist Vitus Wille«, sagte ich fest, »daß diese Fremden von hier fortgehen oder sterben. Es ist ihre Wahl. Diese Männer selbst müssen sie treffen.« »Was soll mit den Gefangenen geschehen?« »Wir nehmen sie mit. Wenn Darraco das Lager abbricht und weiterzieht, mag er sie wiederhaben. Wenn nicht, mag Vitu über sie entscheiden.« Das stellte sie zufrieden. Wir machten uns eine weitere Stunde auf den Weg zu Mirins Versteck. Dann ließen wir die Gefangenen unter Bewachung zurück und erreichten am späten Mittag den Waldrand. Mirin berichtete, daß unser Bote in Darracos Lager verschwunden war und daß sich seither noch nichts getan hatte. Wir beobachteten das Lager den ganzen Nachmittag, doch es regte sich nichts. Es kamen allerdings auch keine ihrer Jäger in den Wald. Es mußte ihnen zu gefährlich scheinen.
Am frühen Abend beschloß ich aufzubrechen, um eine Falle vorzubereiten, in die Mirin Darracos Männer locken sollte, wenn sie einen neuen Vorstoß in den Dschungel machten. Meine Sorge um die zurückgelassenen Gefangenen erwies sich als unbegründet. Sie waren noch alle gut verschnürt und ein wenig von den Fliegen zerstochen, sonst aber wohlauf. Wir schlugen ein Lager auf, machten Feuer und versorgten uns und die Gefangenen. Ich stellte mehrere Wachen in genügender Entfernung auf, um rechtzeitig gewarnt zu sein, wenn sich etwas Unvorhergesehenes ereignete. Gegen Mitternacht kam einer von Mirins Boten und brachte uns die beunruhigende Nachricht, daß gut zehn Dutzend Piraten in den Dschungel eingedrungen seien. Es wurde also Ernst. Meine Männer wirkten von dieser Nachricht leicht mitgenommen, so daß ich grinsen mußte. Nun begannen sie endlich die tödliche Gefahr zu sehen, in der wir alle schwebten. Wir hatten nicht einmal die Hälfte hier. Bei Rylai befanden sich vielleicht noch zwei Dutzend kampffähige Männer im Dorf. Der Bote hatte wahrscheinlich keinen großen Vorsprung. Wir durften keine Zeit verlieren! Ich schickte zwei Boten ins Dorf, um Rylai zu warnen. Es war leicht möglich, daß von uns keiner überlebte. Ich gab mich keinen Träumen hin.
Rasch erklärte ich meinen Plan. Wir zwangen die Gefangenen, ihre Kleider abzulegen. Dann bearbeiteten wir ihre helle Haut mit Erde, bis sie dunkel aussah, und gaben ihnen Felle. So setzten wir sie um das Feuer und fesselten sie. Die herankommenden Piraten würden erst im letzten Augenblick erkennen, daß es ihre eigenen Leute waren. Da saßen sie schon in der Falle. Ein Teil wenigstens. Ich schickte den Boten zurück zu Mirin, um ihn zu unterrichten. Den Gefangenen am Feuer machten wir klar, daß wir sie beim geringsten verdächtigen Laut töten würden. Einen Mann ließ ich bei ihnen. Er sollte das Feuer von Zeit zu Zeit schüren, damit es weit zu sehen war. Dann teilte ich meine Männer. Ein Dutzend behielt ich bei mir. Zu uns würden jeden Augenblick die beiden Vorhuttrupps stoßen. Die übrigen zwei Dutzend schickte ich dem Feind entgegen. Sie sollten sich rechtzeitig in den Bäumen verstecken, die Piraten vorüberziehen lassen und erst zu schießen beginnen, wenn wir es taten, wenn also die Falle zu war. Ich untersagte ihnen, sich auf einen Nahkampf einzulassen. Dazu waren sie zu ungeübt. Wenn die Lage aussichtslos wurde, sollten sie die Flucht ergreifen. Aber auf keinen Fall in Richtung des Dorfes. Von dort mußten wir die Piraten unter allen Umständen fernhalten.
Während zwei Dutzend meiner Männer loszogen, verbargen wir uns auf den Bäumen rund um das Lager. Wril, einer von Rylais Männern blieb am Feuer. Er würde auf mein Zeichen warten und dann verschwinden. Zwei der Männer, die ich bei mir behalten hatte, besaßen Bogen, die anderen hatten Blasrohre, und ich war in dieser Lage sehr angetan von ihrer heimtückischen Wirksamkeit. Einen der Blasrohrschützen behielt ich bei mir. Es war ein junger Bursche namens Saron, dessen Treffsicherheit mir besonders aufgefallen war. Wenn kein anderes Mittel half, wollte ich Darraco erledigen – wenn es sein mußte, durch einen Schuß aus dem Hinterhalt. Ich war sicher, daß dies weiteres Blutvergießen verhindern würde. Ohne ihn würden seine Männer vielleicht friedlich nach Nordwesten weiterziehen. Es dauerte nicht lange, und der erste Spähtrupp tauchte auf. Rasch verteilte ich die zwölf Männer auf den Bäumen. Ich erfuhr, daß Mirin sich beim zweiten Trupp befand und dafür sorgte, daß der Feind eine deutliche Spur hatte. Er und seine Männer tauchten kurz darauf auf. Sie waren ziemlich erschöpft. Der Feind war dicht hinter ihnen. Zwei waren von Pfeilen verwundet worden. Offensichtlich hatte auch Darraco erkannt, daß er gegen einen unsichtbaren Gegner nichts mit Schwertern ausrichten würde. Ich schickte die Verwundeten gleich weiter ins Dorf,
wo sie sich mit dem heilenden Wasser behandeln konnten. Mirins restliche Männer beorderte ich ein Stück weiter, wo sie ebenfalls in den Bäumen Posten beziehen sollten, um einzugreifen, falls dem Feind ein Durchbruch gelang. Kaum war Mirin verschwunden, als die Vorhut des Feindes auftauchte. Ich gab Weril das Zeichen. Er legte noch kräftig Holz aufs Feuer, damit wir gut Licht hatten. Dann verschwand er. Einer der Gefangenen wollte aufspringen, aber meine Männer handelten rasch. Zwei Pfeile bohrten sich ihm in die Brust, daß er ohne Laut zusammensank. Die anderen wagten keine Bewegung. Die Vorhut – es war in der Dunkelheit schlecht abzuschätzen, wie viele es waren – hatte offenbar das Feuer bemerkt und pirschte sich vorsichtig heran. Bald konnten wir die ersten im Feuerschein ausmachen. Wir zählten zehn, aber es waren mehr. Was dann geschah, mußte meinen Männern mit letzter Deutlichkeit klarmachen, daß von den Piraten keine Gnade zu erwarten war. Sie schlichen an das Lager heran und schöpften keinen Verdacht. Sie vermuteten uns dort. Sie dachten gar nicht daran, daß es ihre eigenen Männer sein könnten. Ein Hagel von Pfeilen spickte den Lagerplatz. Sie hatten ohne Warnung geschossen. Keiner überlebte. Die Männer am Feuer sanken
schreiend zusammen, während die Angreifer hinstürzten, um Überlebenden den Garaus zu machen. Da erst merkten sie, daß sie ihre eigenen Leute umgebracht hatten. Ein Wutgeheul ertönte, das sicherlich die Hauptmacht warnte. Ich hoffte nur, daß meine Männer nicht die Nerven verloren. Dann gab ich das Zeichen zum Angriff. Ein Hagel der kleinen tödlichen Rohrpfeile mähte die Piratenvorhut nieder. Es geschah so lautlos und rasch, daß die wenigen Überlebenden der ersten Salve viel zu spät merkten, was geschah. Die zweite Salve folgte. Dann rührte sich nichts mehr unter uns. Ich sah, wie kurz darauf einige meiner Männer ihre Verstecke verließen und den Toten die Waffen abzunehmen begannen. Ich fühlte mich nicht ganz wohl dabei. Aber nichts geschah. Die Hauptmacht hatte sicherlich den Tumult vernommen – auf jeden Fall aber das Geheul. Vermutlich berieten sie, was zu tun sei. Sie würden auf eine Meldung der Vorhut warten. Wenn die nicht kam, was würden sie dann tun? Diese Frage quälte mich. Eine gute Stunde geschah nichts. Dann erschien einer von meinen Männern, die die Nachhut angreifen sollten. Er war sehr aufgeregt. »Wir konnten nicht angreifen«, stieß er hervor. »Wir waren mitten unter ihnen. Sie hätten uns sofort entdeckt. Die Hauptmacht lagerte direkt unter uns. Die
Nachhut kam dazu. Sie hatten alle das Geheul gehört und wollten abwarten. Wir konnten alles genau hören. Dieser Darraco vermutete sofort eine Falle. Sie müssen etwa achtzig sein. Und ihnen ist der Dschungel nicht geheuer. Sie wären am liebsten umgekehrt. Aber dann lief ihnen Ukandar in die Arme ...« »Ukandar?« entfuhr es mir. »Täuschst du dich auch nicht?« Er schüttelte heftig den Kopf. »Nein, sicher nicht.« »So muß er geflohen sein«, murmelte ich. »Hör weiter zu, Ubali«, drängte er. »Sie nahmen Ukandar nicht gefangen, sondern er ist jetzt einer der ihren. Er behauptete, er wolle sich an seinem Volk rächen. Wenn sie ihn in ihren Reihen aufnähmen, würde er ihnen das Dorf zeigen, das halbleer sei. Da nahmen sie ihn auf. Sie sind gleich aufgebrochen.« »Dann müssen wir hinterher!« Fluchend rief ich die Männer zusammen und erklärte ihnen die Lage. Die gewonnenen Waffen wurden verteilt. Wir zählten mit den Gefangenen fünfunddreißig Tote. Aber die Übermacht war noch immer erdrückend. Im Eilmarsch setzten wir hinterher. Nach einer Stunde hatten wir sie knapp vor uns. Bis zum Dorf waren es noch immer etwa drei Stunden Weg. Wir mußten versuchen, sie zu überholen, um Ukandar zu erledigen. War er erst zum Schweigen gebracht, konnten wir
sie vielleicht doch noch in eine falsche Richtung locken. Wir brauchten sehr lange, um die Piratenschar zu überholen. Wir mußten einen weiten Bogen machen, da die Späher links und rechts ausgefächert hatten. Vermutlich trauten sie auch Ukandar nicht vorbehaltlos. Aber dann endlich hatten wir sie hinter uns und legten uns in den Hinterhalt. Ich schickte einen weiteren Boten ins Dorf. Die Männer wies ich an, eine Vorhut, oder Spähertrupps ruhig durchzulassen. Die konnten Mirins Leute hinter uns abfangen. Die Hauptmacht mußte so auseinandergerissen werden, daß sie völlig in Verwirrung geriet. Drei der besten Blasrohrschützen postierte ich in meiner Nähe. Sie sollten sich um niemanden kümmern, nur um Ukandar und Darraco. Mir war klar, daß diese beiden nun fallen mußten, wenn wir unser Dorf retten wollten. Dann marschierten die ersten unter uns durch. Es handelte sich nur um einzelne Späher. Um sie brauchten wir uns nicht zu kümmern. Sie blickten sich sehr mißtrauisch um und musterten die Bäume. Vermutlich hatten sie bereits Nachricht über das Schicksal ihrer Vorhut erhalten. Dann kamen die ersten der Hauptmacht. Auch sie marschierten sehr vorsichtig. Der große Haufen f olgte – in der Mitte Ukandar und, von einem dichten Ring aus Männern umgeben, Darraco.
Ich machte die Schützen auf ihre Ziele aufmerksam. Sie nickten und setzten die langen Rohre an die Lippen. Ich stieß den Vogelschrei aus, der das Angriffsignal war. Im nächsten Augenblick war die Nacht von Schwirren erfüllt. Schreie kamen von unten. Ich sah befriedigt, wie Ukandar sich an den Hals griff und zu Boden fiel. Der Mann vor Darraco taumelte zurück und schrie gleich darauf auf, als ihn ein zweiter Pfeil traf, aber für Darraco bestimmt gewesen war. Darraco duckte sich tiefer und hielt den Körper des Toten wie einen Schild über sich. Dann sprang er ins Unterholz in Deckung wie die meisten anderen auch. Bis auf die Toten war der Boden leergefegt. Einige Bogen begannen zu singen, aber sie schossen aufs Geratewohl, denn sie konnten uns in den Bäumen kaum sehen. Dann herrschte Stille – bis auf ein langanhaltendes Stöhnen, das plötzlich abbrach. In der Stille hörten wir weit hinter uns Mirins Männer, die die Späher überfielen. Schreie, die rasch verklangen. Darraco mußte glauben, wir hätten uns bereits so weit zurückgezogen. Er wußte nicht, daß wir uns geteilt hatten. Er rief Befehle, und seine Männer strömten aus dem Dickicht und stürmten vorwärts, um den Spähern zu Hilfe zu kommen. Wir bedachten sie mit einem erneuten Pfeilhagel. Es
war schwer, in der Finsternis Ziele zu finden. Das spärliche Mondlicht zeigte nicht viel mehr als Schatten. Dennoch kündeten zahlreiche Schmerzensschreie, daß eine Anzahl der Pfeile traf. Dann war wieder alles still, der Dschungel scheinbar leergefegt. Wir warteten reglos, während der Mond über den Horizont sank, und der Dschungel immer finsterer wurde. Aber bald kam die Morgendämmerung und brachte eine neue vage Helligkeit. Langsam wurde es Morgen. Ich gab das Zeichen zum Rückzug. Nach und nach verschwanden wir von unseren Bäumen. Wir hätten Affen alle Ehre gemacht, obwohl es nicht ganz lautlos vor sich ging. Es war ziemlich schwierig, sich in der Dunkelheit in den Bäumen zu bewegen, noch dazu möglichst leise. Darraco wagte sich jedenfalls nicht aus seinem Versteck. So schien es mir. Doch ich hatte Darraco unterschätzt. Er hatte ebenfalls die Dunkelheit genützt, und er hatte unsere Absicht vorausgesehen.
9.
Wir zogen uns zurück bis zu dem Punkt, an dem ich Mirin vermutete. Wir hatten den Boden erreicht und bewegten uns vorsichtig weiter nach hinten. Hinter uns war nichts zu vernehmen. Die Piraten mußten noch in ihrer Deckung liegen. Plötzlich stolperte ich über eine menschliche Gestalt. Ein Toter. Er war noch warm. Und er war nackt wie unsere Männer. Das Blasrohr neben ihm bestätigte meine Vermutung. Hier lag einer von Mirins Männern. Aber er konnte noch nicht lange hier liegen. »Langsam«, flüsterte ich. »Hier stimmt etwas nicht.« In diesem Augenblick kam ein Schrei aus dem Unterholz zu unserer Rechten. »Ubali, eine Fal ... aa-aahhh!« Der Schrei brach gurgelnd ab. Dann war alles um uns voller Gestalten. Schreie, Keuchen, Flüche, Verwünschungen ... Nun hatte ich das, was ich zu vermeiden gesucht hatte: ein Handgemenge, in dem meine Männer niedergemäht würden. Aber ich hatte keine Zeit, darüber nachzudenken. Ich hatte mein Schwert in der Rechten, den Dolch in der Linken und einen Baum im Rücken. Ich sah die Gestalten vage vor mir. Meine
Klinge biß zwei oder drei, bevor ich selbst einen Stich im Schenkel abbekam, für den mein Dolch sich rächte. Die Dunkelheit machte alle ziemlich gleich. Sie war uns ein guter Helfer. Gute und schlechte Fechter hatten die gleichen Schwierigkeiten, weil sie nichts sahen. Wir hatten eine Menge Waffen von der Vorhut erbeutet, und rechts und links erkannte ich an den Geräuschen, daß sie gute Verwendung fanden. Die Männer mochten nicht viel vom Umgang mit Schwertern verstehen, aber sie teilten kraftvolle Hiebe aus, unter denen so mancher Pirat zu Boden ging. Aber die Übermacht war erdrückend. Der Jäger neben mir ging schreiend zu Boden, und ich streckte seinen Gegner mit einem einzigen Hieb nieder. Mein Dolch fand einen weiteren Körper in der Finsternis, der lautlos fiel. Dann nahm ich mein Schwert in beiden Händen und stapfte in die angreifende Schar. Hier waren wir verloren. Die Feinde waren vor und hinter uns. »Wir müssen durch!« brüllte ich. »Vorwärts. Folgt mir!« Wenn ich gedacht hatte, von meinen Männern wären die meisten bereits gefallen, so mußte ich erfreut feststellen, daß mein Ruf nicht ohne Wirkung blieb. Die Piraten bekamen keine Gelegenheit, mir in den Rücken zu fallen. Die Thaimoa schossen auf, und unser plötzlicher Vormarsch brachte die Reihen vor uns ins
Wanken. Sie standen einander ohnehin im Weg, aber nun drängten die Vordersten zurück und trampelten die hinteren nieder. Ein Tumult begann, den ich weidlich ausnützte. Mit wütenden Schwertstreichen nach links und rechts öffnete ich eine Gasse. Etwas stach in meine Seite, aber ich spürte den Schmerz kaum. Ein Schlag auf den Rücken ließ mich vorwärtstaumeln. Es brannte wie glühendes Eisen, und ich spürte das Blut herabrinnen. Ich fuhr herum. Der Jäger hinter mir verschwand unter den trampelnden Füßen, aber schon schloß der nächste auf und sprang in die Lücke. Wir waren nicht mehr viele, das sah ich mit diesem kurzen Blick. Vielleicht gab es noch versprengte Gruppen. Aber jene, die sich mir angeschlossen hatten, waren nur noch ein halbes Dutzend. Und noch immer ließ der Ansturm der Feinde nicht nach, obwohl sie vor unseren Klingen niedersanken. Die Arme ermüdeten langsam. Das erschöpfte Keuchen meiner Gefährten sagte mir deutlich genug, daß der Kampf für uns zu Ende ging. Fluchend warf ich mich mit letzter Kraft vorwärts, und die Mauer der Angreifer öffnete sich. »Durch«, keuchte ich. »Bei allen Parias, wir sind durch!« »Noch nicht ganz, Schwarzhaut«, sagte eine Stimme. Eine dunkle Gestalt trat mir in den Weg.
Darraco! Meine Männer prallten gegen mich. Der feindliche Sturm hatte momentan nachgelassen, als Darracos Stimme erscholl. Aber jeden Augenblick mochten sie vorwärtsdrängen, um uns den Todesstoß zu versetzen. »Ring bilden!« murmelte ich. Sie gehorchten. Es war gut, den Rücken gedeckt zu wissen. »Sind genug tot? Soll es unter uns beiden ausgehandelt werden?« rief ich Darraco zu. Er lachte. »Nein. Dazu stehen die Chancen für euch zu schlecht.« »Dann hast du deine noch nicht überdacht«, erwiderte ich, aber, das beeindruckte ihn nicht. »Genug geredet, Schwarzhaut ...« Einer meiner Männer schrie auf, taumelte zur Seite und fiel, mit einem Pfeil in der Brust. »Auf den Boden!« brüllte ich. Aber ich gab den Rat nicht für mich. Während die Männer sich fallen ließen, schnellte ich vor und bohrte dem überraschten Darraco die Klinge bis ans Heft in den Leib. »Ein Leben für ein Leben!« schrie ich. Er kippte nach hinten, und ich mit ihm, und das Schwert bohrte sich in die Erde wie ein großer Nagel. Ich sah, daß Darraco noch lebte, sein Schwert zu heben versuchte und kraftlos zurücksank. Er stieß einen markerschütternden Schrei aus – und starb.
Einen Augenblick war Totenstille. Dann, während meine letzten vier Gefährten aufsprangen, löste sich ein einziger Wutschrei von den Lippen der Piraten. Sie stürmten vorwärts wie eine Rotte wilder Bestien. Ich riß Darraco das Schwert aus der leblosen Hand, ließ meine Männer an mir vorbei und wich nicht zurück, als die Piraten herankamen. Meine Entschlossenheit bremste die vorderen gerade genug, daß die hinteren gegen sie prallten. In dem Gedränge zuckte meine Klinge vor und zeichnete zwei mit einem roten Mal des Todes. Sie fielen den Nachdrängenden vor die Füße, die stolperten und leichte Beute selbst für meine müden Arme waren. Doch der Ansturm war zu heftig. Ich mußte zurück. Einer der Jäger ging neben mir zu Boden. Blieben noch drei. Wie lange? Es war zu eng, um das Schwert noch wirkungsvoll zu gebrauchen, so verschaffte ich mir mit einem letzten gewaltigen Hieb Luft und riß den Dolch aus dem Gürtel. Ich riß einen der Gegner an mich und hielt ihn wie einen Schild vor mich. Er schrie auf, als sich ein halbes Dutzend Klingen in seinen Leib bohrten. Die Klingen seiner eigenen Kameraden. Ich ließ den Sterbenden los und wich rasch zurück. In dieser Bewegung traf mich ein geschleuderter Dolch mit solcher Wucht an der Schulter, daß ich hintenüber
ins Dickicht stürzte. Während ich mich mühsam erhob, kamen sie mit Triumphgeheul auf mich zu. Der Dolch entfiel meiner Faust. Der Arm war wie gelähmt. Das war das Ende, durchzuckte es mich. Da geschah etwas Seltsames, etwas, mit dem ich am allerwenigsten gerechnet hätte. Die Angreifer prallten zurück wie vor einer unsichtbaren Mauer. Sie stürzten vor meine Füße. Kleine Blasrohrpfeile ragten aus ihren Körpern. Aus der Dämmerung des Dschungels tauchten wie aus einem Traum die dunklen Gestalten von Thaimoas auf. Sie stürmten vor, auf die verblüffte Schar der Piraten zu, setzten erneut die Rohre an den Mund. Schreiend brach ein halbes Dutzend Piraten zusammen. Sie waren vielleicht noch dreißig, und sie sahen sich einer fast ebenso starken Gruppe gegenüber, die sich nun hinter Bäumen in Deckung warf und wieder ihre tödlichen Pfeile auf den Weg schickte. Diese dritte Salve brach den Widerstand der Piraten endgültig. Einen Moment war ein heilloses Durcheinander von fliehenden und sterbenden Männern. Ich versuchte, den Dolch aus meiner Schulter zu reißen. Ich schaffte es auch, dabei wurde mir schwarz vor den Augen. Jemand fing mich. »Sieht so aus, als wären wir gerade im rechten
Augenblick gekommen«, sagte eine vertraute Stimme. »Rylai, dich müssen die Götter schicken«, murmelte ich. »Eine davon ist Thamai«, meinte er. Er ließ mich vorsichtig zu Boden gleiten. Jetzt, da die Gefahr vorüber schien, fühlte ich eine abgrundtiefe Schwäche. »Bleib ruhig liegen, mein Freund«, sagte Rylai. »Du hast viel Blut verloren. Ich komme wieder.« Die nächsten Eindrücke waren die von Schmerzen – und von Thamais Stimme. Sie sagte: »Nein, Vater. Das Wasser schließt diese Wunden nicht mehr. Sie sind zu tief. Er ist bereits zu weit am Rand des Lebens. Nur Vitu kann ihm noch helfen ...« Und eine männliche Stimme, die ich nicht kannte, sagte beruhigend: »Hab keine Angst, mein Kind, er hat soviel für unser Volk getan. Sicher wird Vitu ihm ein neues Leben gewähren. Ja, ich bin ganz sicher.« »Ich hoffe es, Vater. Ich hoffe es so sehr.« »Liebst du diesen Mann?« »Ja, ich liebe ihn, Vater. Mein Blut für seines. Mein Herz für seines ...« Da kam wieder die Dunkelheit. Schließlich dieses bereits vertraute Eingeschlossensein in kalter Nässe.
Gefühl
von
Der Teich! Und Vitus Stimme: »Es ist viel getötet worden. Der Tod ist wie Gift in allen Herzen. Es wird lange währen, bis es aus der Erinnerung gewaschen ist. Der Tod kostet mich soviel Kraft. Ich bin müde, Fremder, müde ...« Ich tauchte auf und fühlte, daß Wasser nicht mein Lieblingselement war. Mein Körper arbeitete sich hastig ans Ufer. Dort stand ich vor einer Menge Leute. Oh, ihr Götter! Nein! Ich starrte auf die großen schwarzen Pranken und knurrte verzweifelt. Vitu, ist das dein Dank? Ein Pantherleben für das eines Kriegers. Es war ein Leben – mehr als Sterbliche erwarten durften! Aber in diesem Augenblick wünschte ich, tot zu sein. Wie sollte ich es nur ertragen? Dieses Herz, das unter dem schwarzen Fell schlug ... es schlug für Thamai. Sie sah mich mit erschreckten Augen an. Dann kam sie auf mich zugelaufen und schlang die Arme um mich. Tierliebend waren sie hier wenigstens. Und ich war ja nicht der einzige. Alle die Männer, die mit mir gekämpft hatten und an meiner Seite gefallen waren, unter ihnen auch Mirin – sie erstanden als Verwandelte. Sie empfanden es vielleicht nicht so. Sie waren sehr alt, nach der Zeit meiner Welt gerechnet, vielleicht Hunderte von Jahren. Sie hatten
sicher viele solche Leben hinter sich, als Menschen und als Verwandelte. Sie nahmen es, wie es kam. Sie würden hier weitere Hunderte von Jahren leben. Was bedeutete es für sie, ein paar Sommer oder Regenzeiten als Leoparden, Gazellen, Affen, Bären zu verbringen. Zeit bedeutete für sie sicher nicht soviel wie für mich. Denn ich wollte keine Unsterblichkeit. Ich wollte nicht bei lebendigem Leib hier verwesen in dieser Einsamkeit und Abgeschiedenheit. Sie erschienen mir im Grunde nicht glücklicher oder unglücklicher als das Baumvolk. Die Welt außerhalb ihres Dorfes gab es für sie nicht. Aber für mich! Sie war meine Welt. Und sie hätte Thamais Welt sein können. Unsere Welt. Der Pfad, den wir gemeinsam gehen wollten. Vielleicht sollte ich Geduld lernen. Aber wie sollte ich Geduld haben auf der Suche nach meinem König. Ich war ihm so nah gewesen. Es war teuflisch, nicht sprechen zu können! Tausend Dinge auf der Zunge zu haben und sie niemandem sagen zu können. Ein Mädchen zu lieben und ... ein Panther zu sein.
Eine große Beratung fand statt, was mit den toten Piraten geschehen solle. Ihr eingefleischtes Denken ließ
gar keine andere Möglichkeit zu, als sie Vitu anzuvertrauen. Und ich konnte ihnen nicht einhämmern in ihre so lebensfreundlichen Schädel, daß sie damit ihre eigenen Grabstätten errichteten. Ich lief fauchend umher und versuchte sie niederzubrüllen. Aber Fauchen und Brüllen sind keine guten verständlichen Gründe. Sie erkannten zwar, daß ich dagegen war, aber sie erklärten mir ihren Standpunkt. Und für sie war es so viel leichter. Man wagte zwar nicht, die Piraten mit den eigenen Toten zusammen in den Teich zu werfen. Irgendeine Scheu hielt sie davor zurück. Vielleicht, weil sie fürchteten, von dem Bösen würde etwas auf sie übergreifen. Ich hätte ihnen sagen können, daß der ganze Teich davon vergiftet würde. Das hätten sie vielleicht begriffen. Aber nicht in meiner Sprache. Talohe, Thamaias und Sibiles Vater, ein würdiger, trotz seines jugendlichen Aussehens alt wirkender Herr, rief mich zu sich, und Thamai stellte ihn mir freudestrahlend vor. Die Dankbarkeit des Mannes war ein wenig Balsam auf meine wunde Seele. Ich erfuhr, daß alle Parias ihre menschliche Gestalt wiederbekommen hätten und daß dies nur mit Ukandars Tod zusammenhängen könne. Jedenfalls war Ukandar der letzte, den sie dem Teich übergeben würden. Sie hatten Angst, ihr altes Los
könnte wieder beginnen. Aber sie brachten es auch nicht fertig, ihn einfach für alle Zeiten tot sein zu lassen. In ihren Augen war es das größte Verbrechen, und kein Haß, keine Rache, keine Furcht entschuldigte es. Sie waren Narren. Einfache, liebenswerte Narren. Nur etwa zwei Dutzend der Piraten hatten den Kampf überlebt und waren geflohen. Rylai und seine Männer beobachteten das Lager. Die Piraten waren noch immer eine stattliche Anzahl von fast zweihundert, aber der größere Teil davon waren Frauen und Kinder. Nach Darracos Tod war es wohl auch um ihre Einigkeit nicht gut bestellt. Nein, sie würden keinen Angriff mehr wagen. Sie würden weiterziehen. Dies war die zweite Schlappe, die sie erlitten hatten. Das reichte ihnen für eine Weile. Ohne die Wolken waren sie nicht mehr als Nomaden. Vielleicht würden sie sich irgendwo niederlassen. Ich konnte mich durchaus mit ihnen vergleichen. Ich hatte auch nicht viel Auswahl. Ich konnte mich hier niederlassen und darauf hoffen, daß es vielleicht in ein paar Jahren mit einer neuerlichen Verwandlung klappte. Wie lange lebte so ein Panther? Ich hatte keine Ahnung. Es war beunruhigend. Am Nachmittag lagen alle Leichen der Piraten vor dem Teich. Hundertzweiunddreißig, wie mir Sibile
vorzählte. Und einer, der abseits lag – Ukandar. Ich fragte mich, als was diese Piraten wieder auftauchen würden. Ich hoffte, als etwas Genießbares; etwas mit gutem, saftigem Fleisch. Ich würde wenigstens nicht hungern. Aber bevor sie damit beginnen konnten, die ersten dem Teich zu übergeben, begann das Wasser unruhig zu werden. Die glatte Oberfläche kräuselte sich. Kleine Wellen plätscherten an das Ufer. Das war noch nie geschehen, meinten alle, und starrten gebannt auf den Teich. Die Luft war völlig ruhig. Der Aufruhr konnte nur aus dem Innern, aus der unergründlichen, dunkelgrünen Tiefe kommen. Nur Talohe schien zu wissen, was es bedeutete. »Vitu wird zu uns allen sprechen«, murmelte er. Mit einemmal öffnete sich das Wasser, und ein strahlendes Nebelgebilde tauchte daraus hervor, als würde das Wasser kochen. Dann schwebte es eine Manneshöhe über dem Wasser. Es war eine Gestalt, aber dieses funkelnde Nebelkleid, das sie trug, ließ nicht erkennen, ob sie männlich oder weiblich war. Mir erschien sie nicht einmal menschlich. Ein Geist – der in diesem Wasser herrschte, um Leben zu geben. Ich hatte noch nie dergleichen gesehen. Diese Welt mußte den Göttern näher sein, daß sie zu den Menschen sprachen ... Die wohlbekannte Stimme Vitus hob an zu
sprechen. Ich weiß nicht, ob sie nur in den Gedanken war oder wirklich sprach, aber sie war so deutlich zu vernehmen, als spräche jemand neben mir. »Volk der Thaimoa, daß ihr das Leben so achten wollt nach alldem, was geschehen ist, daß ihr sogar euren Feinden diese Möglichkeit einräumen wollt, das gibt mir Vertrauen in die Zukunft und beweist mir, daß eure Herzen trotz aller Gewalt rein geblieben sind. Aber dies ist ein Fluch, der vor euch liegt.« Ein funkelnder Arm wies auf die ausgebreiteten Toten. »Ihr Leben würde neuen Tod bedeuten, neue Gewalt, bis schließlich doch ein Schatten auf euren Seelen wäre. Übergebt sie nicht diesem Wasser, das in ihnen nur den Tod wieder lebendig machen würde. Begrabt sie in der Erde. Und vergeßt sie. Es hat sie nie gegeben. So möge es sein. Auch Ukandar soll tot bleiben. Er hat meinen Gesetzen zuwidergehandelt. Er hat das Leben mißbraucht. Er ist schlimmer als sie. Er mag ihr Schicksal teilen. Wagt es nicht, dieses Wasser des Lebens zu beschmutzen.« Das Schimmern verschwand. Ein Schleier von Nebel senkte sich langsam auf das Wasser hinab und wurde eins mit ihm. Während die meisten anderen Verwandelten wieder in den Dschungel hinauszogen, weil sie dieses freie Leben gewöhnt waren, blieb ich mit Mirin im Dorf und sah dem mühseligen Begräbnis zu. Sie verwendeten zum
Teil die Fallgruben, aber die reichten nicht. Fast das ganze Dorf beteiligte sich an den Arbeiten. Es war ohnehin sehr geschrumpft. Mehr als die Hälfte der Männer waren im Kampf gefallen und hatten im Teich ihre Gestalt verwandelt. Aber man war zuversichtlich. Es hatte auch schon früher schwere Zeiten wie diese gegeben, mit Plagen und Krankheiten. Vitu würde ihre Hand über sie halten, wie sie es immer tat – auch wenn sie sich manchmal seltsamer Hilfsmittel bediente, wie dieses fremden schwarzen Mannes Ubali. Ich hätte gern gegrinst, aber es wurde nur ein Fletschen der Zähne daraus. Es war etwas sehr Beeindruckendes am Gleichmut und Vertrauen dieser Menschen. Masco und Vallie befanden sich noch immer im Dorf. Sie wollten gerne bleiben, und das war etwas, daß der neue Rat am nächsten Tag billigen oder ablehnen würde. Sie hatten alle Äußerlichkeiten abgelegt. Ihre Haut war heller als die der Thaimoa, aber die Sonne würde sie nach und nach bräunen. Selbst Vallie schien sich daran gewöhnt zu haben, ohne Kleidung zu leben. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß sie für immer bleiben wollten. Wer einmal das Abenteuer und die Vielfalt der Welt gesehen hat, der vergräbt sich nicht irgendwo, auch nicht für eine Ewigkeit.
Aber eine Weile – um zur Ruhe zu kommen, die alten Ängste loszuwerden und Frieden zu genießen, wie es ihn vielleicht sonst nirgends auf dieser Welt gab (und auf allen anderen auch, wie ich glaube), ja das war ein Geschenk der Götter für einen, den nichts vorwärtstrieb ... Ich beneidete sie fast ein wenig um die Möglichkeit, einander zu lieben, die mir verwehrt war. Aber war sie verwehrt? Die Liebe der Sinne in jedem Fall. Ich spürte nicht den Funken einer Leidenschaft, wenn ich Thamai ansah. Dieser schwarze Raubtierkörper empfand es nicht. Er brauchte andere Reize. Pantherweibchen etwa. Aber dennoch spürte ich im Herzen, daß mich etwas unwiderstehlich zu Thamai hinzog. Es war für mich leichter, denn ich sah sie als das geliebte Mädchen vor mir. Aber wie mußte es für sie sein. Sie sah nur ein Tier. Doch ich konnte es an ihren Blicken erkennen, daß sie nicht aufgehört hatte, für mich zu fühlen. Ich begab mich zu Rylais Männern, um das Lager der Piraten zu beobachten. Sie hatten es bereits zum Großteil abgebrochen. Es sah alles nach Aufbruch aus. Nach hastigem Aufbruch. Vieles würde zurückbleiben, da sie nicht alles tragen konnten und keine Lasttiere hatten. Manches
Brauchbares würde für die Thaimoa dabei sein. So ganz unberührt gingen sie aus diesem Zusammentreffen nicht hervor. Neugier war in ihnen geweckt – wie in Thamai. Als ich am Abend des nächsten Tages ins Dorf zurückkam, hatte das gewohnte Leben bereits weitgehend wieder begonnen. Talohe und seine alten Ratsmitglieder, die Ukandar nach und nach aus dem Weg geräumt hatte, wurden einstimmig zu den Oberhäuptern gewählt. Masco und Vallie waren sehr glücklich, weil es ihnen gestattet worden war, zu bleiben. Und noch jemand war glücklich und aufgeregt. Thamai berichtete mir freudestrahlend, daß Vitu zu ihr gesprochen hätte. »Vitu wird uns helfen, Ubali, mein Liebster«, sprudelte sie nur so heraus. »Wir müssen zu ihr kommen, dann wird sie dir deine wahre Gestalt wiedergeben. Oh, Ubali!« Sie legte die Arme um meinen Hals und barg ihren Kopf hinter meinen Ohren, ein Gefühl, das sogar den Panther in mir mit Behagen erfüllte, ganz abgesehen von der frohen Botschaft. »Wir müssen zur Pforte ihres inneren Reiches. Der Weg ist sehr schwierig und voller Gefahren, und nur wer starken Herzens ist und von Liebe erfüllt, der wird diesen Weg finden. Wir werden ihn finden, nicht wahr,
mein Liebster? Wir werden ihn finden.« Ja, dachte ich, das werden wir, Thamai, und wenn wir die ganze Welt danach absuchen müßten! ENDE Nach Ubalis Abenteuern im Reich der Tiermenschen blenden wir zu Dragon um. Der Atlanter, der in Aerula-thane, der durch sein Eingreifen befreiten Wanderwolke, zugleich einen verläßlichen Weggenossen und ein schnelles Transportmittel gefunden hat, verläßt Odalik und seine Stammesgenossen schon nach kurzem Aufenthalt. Der Grund für Dragons Aufbruch ist DAS ERBE DES TRÄUMERS ... DAS ERBE DES TRÄUMERS so lautet auch der Titel des nächsten Dragon-Bandes, der ebenfalls von Hans Kneifel geschrieben wurde.