Gruselspannung pur!
Ich fand Störtebekers Schatz
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann »Frauen und Kinder zuerst ...
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Gruselspannung pur!
Ich fand Störtebekers Schatz
von C.W. Bach Dämonenjäger
Mark Hellmann »Frauen und Kinder zuerst in die Boote!« Ich hörte es nur undeutlich, denn in diesem Augenblick setzte die automatische Rückkehr ins Jahr 1998 ein! Tessa Hayden, meine Freundin, hatte ich an der Hand gehalten. Ihr Geist befand sich, von Mephisto dorthin versetzt, im Körper der Lady Manderly. Im Postraum des sinkenden Luxusliner >Titanic< hatte ich auf Leben und Tod mit dem Dämonengott Seth-Suchos gekämpft, Mephistos großem Konkurrenten. Vorher hatte ich mich mit einem Riesenkraken herumgeschlagen und ihm schwer zugesetzt. Mit klaffenden Axtwunden war der Krake geflohen. Mark Hellmann - die Gruselserie, die Maßstäbe setzt! Seth-Suchos hätte mich fast geschafft. In der Gestalt eines riesigen Nilkrokodils war er auf mich losgegangen. Doch jetzt war er tot. Mit dem Messer hatte ich ihm den Bauch aufgeschlitzt und ihm eine Menge Stiche
verpaßt, die auch dieser Superdämon nicht vertrug. Mephisto war Tessa und mir erschienen, hatte mich zu meiner Mission auf der »Titanic« beglückwünscht und so getan, als ob alles in bester Ordnung sei. Die Zeitreise hatte begonnen. Ich hielt Tessas Hand und war überzeugt gewesen, ich würde im Oktober 1998 in Weimar landen, in meiner LoftWohnung in der Florian-Geyer-Straße. Von dort hatte ich die Zeitreise angetreten. Doch irgend etwas mußte schiefgegangen sein. Ich fand mich auf dem Bootsdeck der »Titanic« wieder, das ich mittlerweile gut kannte. Tessa stand neben mir, in einem dunklen, langen Kleid in der Mode der Zeit von 1912. Damals hatte in Deutschland Kaiser Wilhelm II. regiert, in Rußland der Zar Nikolaus II. Großbritanniens Premier hieß Lloyd George, der ehrgeizige 38jährige Winston Churchill war Marineminister. In China hatte der letzte MandschuKaiser abgedankt, und im Februar war die Republik ausgerufen worden. Es hatte in den vergangenen Jahren zahlreiche Krisen und Kriege gegeben. Vor allem auf dem Balkan brodelte es ständig. Tessa und ich waren seit Sonnabend, dem 14. April 1912, an Bord der »Titanic«, dem größten Schiff der Welt. 269 Meter lang, hoch wie ein elfstöckiges Haus und 60.000 Tonnen schwer. Es hatte als unsinkbar gegolten. Am 14. April, um 23.40 Uhr, war dieses Wunderwerk der Technik und Ingenieurskunst durch menschliches Versagen und eine Verkettung tragischer Umstände mit einem Eisberg zusammengestoßen und gesunken. Das riesige Schiff, das luxuriöseste seiner Zeit, sank. Mit 2.227 Menschen an Bord! Die zwanzig Rettungsboote reichten für 1.128 Menschen, also knapp die Hälfte. Seit 0.25 Uhr wurden Frauen und Kinder in die Rettungsboote gebracht, die in Kürze zu Wasser gelassen werden sollten. Das Wasser stand bereits fünfzehn Meter über Kiel in den Quartieren der Besatzung. Die »Titanic« sank über Bug. Tessa und mir war es nicht gelungen, trotz aller Bemühungen, die Katastrophe zu verhindern. Eine höhere Macht zeigte mir wieder einmal deutlich, wie klein ich als Mensch war. Ich konnte das Buch der Geschichte nicht umschreiben, obwohl ich durch die Zeit zu reisen vermochte. Tessa klammerte sich an mich. Um uns herum standen aufgeregte Passagiere oder liefen umher. Herzergreifende Abschiedsszenen spielten sich ab, wenn Männer von Frau und Kind Abschied nahmen, der Bräutigam von der Braut, der Bruder von der Schwester. In der ersten Klasse ging alles relativ gesittet und diszipliniert vonstatten. Die siebenköpfige Bordkapelle unter dem Bandleader Wallace Hartley hatte im Erster-KlasseSalon auf dem A-Deck gespielt und begab sich jetzt auf das Bootsdeck
beim Eingang der großen Freitreppe zur ersten Klasse. Muntere Ragtime-Musik erscholl. Ich fragte mich, wie es den Musikern wohl zumute war, die dafür engagiert worden waren, Stimmung und gute Laune an Bord der »Titanic« zu erzeugen. Jetzt spielten sie beim Schiffsuntergang, um eine Panik zu vermeiden. Das Schiff war noch hell erleuchtet. Ingenieure und Techniker taten ihre Pflicht, um die Lichtanlage so lange wie möglich in Gang zu halten. Im Marconi-Raum, wie der Funkraum in jener Zeit nach der Gesellschaft genannt wurde, die den Funkverkehr auf See betrieb, arbeiteten die beiden Funker. Die Postbeamten, bemühten sich noch um die riesigen Postmengen an Bord, die ihre Regierungen ihnen anvertraut hatten. Im Gymnastik- und Fitneßraum arbeiteten zwei Trainer, um Passagiere, die das Unausweichliche leugneten und sich ablenken wollten, an den Geräten zu helfen. Es war eine unwirkliche Nacht, gleichzeitig grausam real. Der grimmige Tod holte zu einem riesigen Schlag mit der Sense aus. Kapitän Edward J. Smith, 62, ein erfahrener, in Ehren weißhaarig gewordener Seemann, stand vor der schwersten Aufgabe seines Lebens. Seine sechs Seeoffiziere und die Besatzung, vom Maat bis zum Heizer, blieben bei ihrer Pflicht und unterstützten ihn dabei. Tessa und ich froren in unserer klatschnassen Kleidung, die uns am Körper klebte. Wir hatten keine Schwimmwesten, die sonst alle an Deck trugen. Teils grotesk schaute es aus. Ladies in Abendkleidern, mit Nerzmänteln und glitzerndem Schmuck, trugen Schwimmwesten. Manche Lady hielt ihre in der Hand und wußte nicht so recht, was sie mit diesem Ding sollte. Stewards mußten diesen Damen helfen, jedoch gab es auch ungeschickte Männer, die beim Anlegen der Schwimmweste Hilfe benötigten. Benjamin Guggenheim, ein Sproß der steinreichen amerikanischen Bergwerks- und Hüttendynastie, brachte mit seinem Diener zusammen seine beiden Geliebten zu einem Rettungsboot auf der Steuerbordseite. Guggenheim war ein Hasard-Spieler, er hatte Duelle ausgetragen und schon für manchen Skandal gesorgt. Höflich trat er zurück, als seine Ladies im Boot waren, und warf ihnen eine Kußhand zu. »Wir sehen uns in New York«, sagte er zu den beiden ausgesucht schönen Frauen. »Stellt schon den Champagner kalt.« Als er an Tessa und mir vorbeiging, hörte ich ihn zu seinem Diener sagen: »Laß uns Abendkleidung anlegen, Giulio. Die Schwimmweste steht mir nicht. Ich will wie ein Gentleman mit diesem Schiff untergehen.« »Glauben Sie nicht, daß man uns rettet, Sir?« fragte der Diener den mittelgroßen Mann.
»Wie denn? Es sind viel zuwenige Rettungsboote da. Wenn ich schon sterben soll, dann so, wie es mir paßt.« Er dachte keinen Moment daran, einen Platz in einem Boot zu ergattern, solange es Frauen und Kinder an Bord gab. Er verschwand unter Deck. Ich hätte ihm gern die Hand gedrückt, doch wäre das unpassend gewesen und hätte ihn seltsam berührt. Meine Zähne klapperten wie Kastagnetten, Tessas genauso. Lady Lorena Manderley, in deren Körper sich Tessas Geist befand, war fünfundzwanzig Jahre jung, vollbusig und blond. Ihre beiden Kinder Margaret und Tommy, vier und sechs Jahre alt, befanden sich in der Obhut des Kindermädchens Celia Worth. Mit größter Wahrscheinlichkeit waren sie bereits alle in einem Rettungsboot. Lady Lorena hatte mit den Kindern in die USA ausreißen wollen, um sich von ihrem tyrannischen Ehemann Lord Peter zu trennen. Er befand sich jedoch mit an Bord. Ich hatte einige Probleme mit ihm und seinem KillerButler Destry gehabt, der nun als Riesenkrake irgendwo im Rumpf der »Titanic« herumschwamm. Lord Peter und der US-Millionär und Sammler ausgefallener Stücke, Owen Webster, waren in Seth-Suchos' Bann geraten. Ob sie der Dämonengott in Monstren verwandelt hatte, wußte ich nicht. Jedenfalls war ich ihnen nicht begegnet. Ich führte Tessa unter Deck, erst zu ihrer Erster-Klasse-Suite, wo sie sich eilig umzog. Danach suchten wir meine Kabine auf. Auch ich zog das klatschnasse Zeug aus, frottierte mich ab und zog trockene Sachen an. Ein Steward klopfte gegen die Tür. »Ist da jemand? Melden Sie sich, ich habe Sie in die Kabine gehen sehen. Legen Sie Ihre Schwimmweste an und gehen Sie bitte an Deck. - Anordnung des Kapitäns.« »Wir sind schon unterwegs«, antwortete ich. Er entfernte sich. Plötzlich strahlte mein Ring auf; es prickelte in meiner Hand. Mephisto erschien, zynischerweise in der Gestalt eines Stewards in weißer Uniform, aber mit einem Teufelskopf. Diesmal hatte er das Warnsignal meines Rings nicht unterdrückt, was er konnte. Er grinste uns an. Seine Hände waren Klauen, und ich hatte momentan keine Waffe, um es mit ihm aufzunehmen. »Was soll das bedeuten?« fragte ich den Fürst der Finsternis. Er stank nach Pech und Schwefel. »Ich möchte mich nur von dir verabschieden, Mark Hellmann«, sagte er. »Du hast mir einen großen Dienst erwiesen, indem du Seth-Suchos tötetest und mir freie Bahn schufst. Doch du störst meine Kreise. Deshalb ist es mir lieber, wenn du mit der >Titanic< untergehst. Dein Tessalein mit dir. Ihr Geist wird mit dem Körper dieser Frau ertrinken. Tessa Haydens Leib befindet sich in Weimar im Jahr 1998 in der Teufelsgrotte, in der Obhut meines Helfers Samiel. - Hast du schon mal etwas von der Blutgräfin
Elisabeth Bathory gehört? Sie lebte im 18. Jahrhundert in Ungarn, war unglaublich grausam und tötete viele Menschen. Sie ließ junge Frauen, auf die sie es besonders abgesehen hatte, bei eisiger Kälte in Wasserbottichen erfrieren oder peitschte sie mit Ruten, bis sie das Leben aushauchten. Manche warf sie den Wölfen zum Fraß vor. Sie ist eine Vampirin besonders teuflischer Art gewesen. - Ich finde es höchste Zeit, daß ihre Seele aus der Hölle zurückkehrt, und Tessa Haydens Körper ist würdig, diese aufzunehmen. Du siehst also, Mark Hellmann, deine Tessa wird weiterleben, wenn auch ein wenig verändert.« Die Bathory war damals von ihren eigenen Verwandten vergiftet worden, weil sie es gar zu toll trieb. Mephisto grinste und blies feurigen Atem aus seinen Nüstern. Ich ging auf ihn los und schlug ihm mit der rechten Faust den leuchtenden Ring voll ins Gesicht. Der Schlag schmerzte mich bis in die Schulter. Doch ich hatte die Genugtuung, daß Mephisto, der überrascht worden war, zurückflog. Er riß einen Tisch und zwei Stühle um und stürzte zu Boden. Rotes Blut strömte ihm aus dem Teufelsrachen. Ich wollte gleich nachsetzen. Doch eine unsichtbare Barriere, von Mephisto gezaubert, hinderte mich. Höhnisch lachte er hinter dieser. »Du wirst sterben, Mark, und deinen Ring mit auf den Meeresgrund nehmen. Das weiß ich. In fast viertausend Metern Tiefe hole ich ihn mir irgendwann von deinem verwesten Finger.« »Du hast mir dein Wort gegeben!« rief ich. »Ich habe die Aufgabe erfüllt, die du mir stelltest. Seth-Suchos ist vernichtet. - Warum läßt du Tessa und mich nicht in unsere Zeit zurück? Warum störst du unsere Zeitreise?« »Weil es mir so paßt. - Ja, ich habe deinen Ring manipuliert, für dieses eine Mal.« In Weimar, bevor ich durch Zeit und Dimensionen zur »Titanic« aufbrach, hatte ich ihn Mephisto, der mich erpreßte, kurz überlassen. »Gleich zu Beginn der magischen Reise seid ihr auf das Deck der >Titanic< versetzt worden.« Diese Zeitreise war atypisch gewesen. Wir waren nicht nackt angekommen, sondern korrekt angezogen. Auch war mir nicht übel gewesen, wie ich es von meinen bisherigen Zeitreisen direkt nach der Rematerialisation kannte. »Du Bestie!« stieß ich hervor. »Ich sah deinen Schatten auf dem Eisberg, als er die >Titanic< streifte. Hast du ihn gelenkt und diese Katastrophe verursacht?« Mephisto verbeugte sich spöttisch. »Zuviel der Ehre, Hellmann«, antwortete er. »Ich bin nicht derjenige, der die Welt lenkt und steuert. - Ja, ich war da, weil ich mir dieses grandiose Erlebnis nicht entgehen lassen wollte. Doch gelenkt habe ich den Eisberg nicht.«
Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Hast du tatsächlich geglaubt, daß ich mein Wort halten und euch von der >Titanic< wieder runterholen würde? Warum sollte ich das? Läßt die Katze denn die Maus los, wenn sie sie in den Krallen hat? Was hast du erwartet, Hellmann? Du mußt noch viel lernen, wenn du dich jemals in dem großen Kampf zwischen Licht und Finsternis behaupten willst, Hellmann. Dazu bleibt dir jedoch keine Zeit mehr. - Sterbt wohl, alle beide. Ich versetze euch jetzt in eine andere, tiefer gelegene Kabine der zweiten Klasse, nach vorne, zum Bug hin. Sie werdet ihr nicht mehr verlassen. Die letzte Reise wird euch auf den Grund des Atlantiks führen. Ihr könnt euch küssen, während ihr 3.800 Meter tief versinkt. - Ersauft wie die Ratten, hahaha! Ein würdiges Ende ist das für ein Liebespaar.« Allein der Druck unten, 380 Atmosphären, würde uns schon zerquetschen, wenn wir im Schiffsrumpf blieben. Abgesehen davon konnten wir diese Tiefe nicht lebend erreichen. Tessa spuckte auf den Boden, was wenig damenhaft, aber aussagekräftig war. »Du verfluchter Satan!« schimpfte sie. »Ein Lügner und Menschenmörder bist du von Anfang an gewesen.« Hell glühten Mephistos Augen. »So ist es, und so wird es bleiben. Einen Gruß gebe ich euch noch mit auf euren letzten Weg.« Als ich ihm in die flammenden Augen schaute, war mir, als ob ich in den Abgrund der Hölle blicken würde. Ich sah in das Innerste dessen, was sich Mephisto nannte und eins der ältesten Wesen auf unserer Welt war. Lange bevor die ersten Amphibien und Einzeller entstanden, aus denen sich einmal der Mensch entwickelte, war er schon über den kochenden Schlamm und das Magma geschritten, das damals die Erde bedeckte. Der Keim des Bösen war allezeit, die Finsternis kämpfte gegen das Licht. Ich spürte, daß Mephisto nicht glücklich war bei dem, was er tat. Eine böse Energie trieb ihn fortwährend an. Er konnte nicht ruhen und rasten. Wenn er nicht ständig Böses tat, erlitt er immer gräßlicher werdende physische und psychische Qualen. Es ging ihm wie einem Süchtigen, der seine Spritze brauchte. Von seinem Wesen her war er mir vollständig fremd, durch und durch gemein, hinterlistig, böse und tückisch. Er bewegte die Krallenfinger. Mein Ring flammte auf, konnte jedoch Mephistos Zauber nicht bremsen. Tessa und ich wurden aus meiner Kabine wegversetzt und fanden uns, bis zu den Hüften im Wasser stehend, in einer anderen, einfacher eingerichteten Kabine wieder. Mephistos böser Wunsch, daß wir ersaufen sollten, hallte uns noch im Ohr.
* Wasser und Luft waren eiskalt. Von den Passagieren oben waren einige wieder ins Schiffsinnere gegangen, weil sie froren. Viele Passagiere hielten die vom Kapitän angeordneten Maßnahmen auch jetzt noch für eine Notfallübung. Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, daß die »unsinkbare Titanic« untergehen würde, obwohl der Bug des Schiffs bereits deutlich tiefer lag. Die Tragödie der »Titanic« nahm ihren Lauf. Nur zehn bis neunzehn Meilen entfernt befand sich die »Californian«, die Zeit gehabt hätte, die Unglücksstelle zu erreichen und im Wasser schwimmende Überlebende der »Titanic« an Bord zu nehmen. Doch der Kapitän der »Californian« hatte sich schlafen gelegt. Das Funkgerät war ausgeschaltet und fing die verzweifelten Notrufe der »Titanic« nicht auf. Versuche von Besatzungsmitgliedern der untergehenden »Titanic«, über die Morselampe mit der »Californian« Verbindung aufzunehmen, scheiterten. Von 0.10 Uhr bis 1.50 Uhr währte der Sichtkontakt zwischen der »Californian« und der »Titanic«. Um 0.45 Uhr fauchten von der »Titanic« Notraketen hoch und explodierten mit grellem Feuer. Jetzt wußten alle Passagiere Bescheid, denn Seenotraketen wurden nicht zum Spaß abgeschossen. Auf der »Californian« nahmen Besatzungsmitglieder die Raketen wahr. Da diese jedoch kein Geräusch verursachten und niedrig über dem Schiffsdeck zu hängen schienen, wurden sie nicht als Notraketen identifiziert. Niemand auf der »Californian« kümmerte sich weiter darum. Zu jener Zeit war es so, daß die Mutterschiffe von Fischfangflotten Raketen abschossen, wenn der Fang abgebrochen wurde, um ihre Beiboote zu sammeln. Die Lichter der »Californian« entfernten sich weiter und weiter. Und mit ihr die Hoffnung aller Menschen auf der »Titanic«. Erst Stunden später, um 5.30 Uhr, als die »Titanic« längst auf dem Meeresgrund lag, sollte der »Californian« von der »Frankfurt« über Funk, den man inzwischen eingeschaltet hatte, die Meldung vom Untergang des Luxusliners mitgeteilt werden. Das der Unglücksstelle im Nordatlantik am nächsten befindliche Schiff war die »Carpathia«. Kapitän Rostron von der Cunard Line befahl Volldampf trotz der Eisgefahr für sein Schiff. Schnell wie nie pflügte die »Carpathia« durch das Wasser. Doch frühestens in dreieinhalb Stunden würde sie die Unglücksstelle erreichen.
Der weißbärtige Kapitän der »Titanic« war schockiert, doch er rückte seine Uniformmütze zurecht und sagte: »Tun Sie weiterhin Ihre Pflicht, Funker.« Mit diesen Worten verließ er den Marconi-Raum. Inzwischen steckten Tessa und ich im eisigen Wasser. Es stach wie mit tausend Nadeln. Die Schrägneigung der Einrichtungsgegenstände war deutlich zu erkennen. Zwei Bilder schwammen im Wasser. Das Licht in der Kabine brannte noch. Durchs Bullauge sahen wir Wasser. Es stand draußen bereits höher als im Innern des Schiffs. Tessa schluchzte. »Der verdammte Mephisto! Ihn soll der Teufel holen!« Ich sparte mir die Bemerkung, daß das schlecht möglich sei. Schließlich war Mephisto selber Teufel. Ich watete zur Tür und versuchte, sie zu öffnen. Sie war jedoch versperrt. Halb im Wasser stehend, warf ich mich mit aller Kraft dagegen. Ich bin einsneunzig groß und durchtrainiert. Normalerweise breche ich jede Tür auf, doch an dieser scheiterte ich. Meine Schulter schmerzte heftig, und meine Rippen, die mir Seth-Suchos lange vorher beim Kampf malträtiert hatte, noch mehr. Ich spuckte sogar Blut. Schwer atmend mußte ich mir eingestehen, daß ich die Tür so nicht öffnen konnte. »Was sollen wir tun?« fragte Tessa in Panik, weil das Wasser weiterhin stieg. Schon reichte es ihr bis zur Brust. Ich sagte Tessa, wir müßten die Tür aufbekommen. Jetzt führte ich meinen silbernen Siegelring an das Hexenmal auf meiner Brust. Golden und rot war es. Ein siebenzackiger Stern von der Größe eines Fünfmarkstücks. Mein Ring strahlte auf, als ich ihn dagegenpreßte. Er sandte einen kurzen, laserartigen Strahl aus. Damit schrieb ich Runen des FutharkAlphabets auf die Tür. »Öffne!« bedeuteten sie. Es nutzte jedoch nichts. Die Runen blieben schwach leuchtend an der Tür zu sehen. Sie würden nach einiger Zeit verblassen. »Mark, unternimm etwas!« flehte Tessa. »Sonst ertrinken wir wirklich. Mein Gott, ist das kalt!« Sie klapperte mit den Zähnen. Ich watete zu den Schränken. Dort öffnete ich die Schubladen und suchte nach einem geeigneten Werkzeug, um das Türschloß zu knacken. Mephisto hatte die Tür mit Zauberkräften verschlossen, sie zudem verstärkt. Es konnte jedoch sein, daß ich mit dem Ring seinen Zauber geschwächt oder sogar schon vernichtet hatte. Doch abgeschlossen war die Tür immer noch. Natürlich fand ich keinen Schraubenzieher oder gar Sperrhaken. Doch Tafelmesser und eine Schere mußten es auch tun. Dazu entdeckte ich, unter Wasser tauchend und den Schrank durchsuchend, einen Wollknäuel mit darin steckenden
Stricknadeln. Ich war heilfroh, daß es in dieser Kabine eine Frau gegeben hatte, die strickte. Jetzt war sie wohl an Deck, vielleicht schon in einem Rettungsboot. Rasch bog ich eine Stricknadel zurecht. Die beiden Messer steckte ich ein, die Schere gab ich Tessa. Mit der zurechtgebogenen Stricknadel arbeitete ich am Türschloß. Minuten vergingen. Das Wasser stieg immer höher. Schon waren zwischen seiner Oberfläche und der Kabinendecke nur noch dreißig Zentimeter Platz. »Mark«, sagte Tessa entschlossen, »gib mir die Nadel.« Sie betrachtete sie und betastete unter Wasser das Türschloß. »Mann«, sagte sie dann, »du hast nie gelernt, wie man einen Sperrhaken biegt. Laß es lieber mich versuchen.« »Ich bin nicht bei der Kripo wie du«, entgegnete ich. Tessa nahm die Zähne zu Hilfe, vielmehr die der blonden, bildschönen Lady Lorena Manderley, in deren Körper sie steckte. Angst flackerte in Tessas Augen, als sie tauchte und am Schloß herumhantierte. Klatschnaß tauchte sie wieder auf. »Mark, es nutzt nichts. Liebster, ich kriege das Schloß nicht auf.« Ich unterdrückte die aufsteigende Panik. »Du schaffst es bestimmt«, sagte ich ruhig. »Versuche es noch mal. Diesmal wirst du Erfolg haben.« Tessa holte tief Luft und tauchte wieder. Luftblasen stiegen auf. Sie blieb so lange unten, daß ich schon fürchtete, sie hätte im kalten Wasser einen Herzschlag erlitten. Doch dann tauchte sie wieder auf. »Mark, Mark, es klappt! Ich habe die Tür aufgesperrt.« Ich riß Tessa an mich, für mich war sie Tessa, auch wenn sie einen anderen Körper hatte, und drückte ihr einen Kuß auf die kalten Lippen. »Du bist die Größte.« Die Tür klemmte, eine Folge von Mephistos Zauber. Ich strengte mich mächtig an. Dann endlich gab die Tür ruckartig nach. Im Gang draußen floß das Wasser. Da konnten wir nur noch schwimmen und mußten uns mächtig anstrengen. Noch immer brannte hier Licht. In seinem Schein sah ich zwei tellergroße Glotzaugen auftauchen. Sie gehörten einem Riesenkraken. Ein Tentakel legte sich um meinen Hals, andere nach mir griffen. Mit Mühe streifte ich den Tentakel ab. Er hatte Saugnäpfe, die eine ätzende Flüssigkeit absonderten. Sie brannte wie Feuer. Der große Krake hatte einen Papageienschnabel, mit dem er seine Beute zerkleinerte. Der Krake wies mehrere Wunden auf. Beim Kampf im Postraum hatte ich sie ihm mit Axt und Fleischmesser zugefügt. Eine wütende und zugleich krächzende Stimme drang aus dem Maul des Kraken. »Ich bin Destry. Diesmal entkommt ihr mir nicht. Ich bringe euch um,
oder ihr ersauft.« Rasch schloß ich die Tür und wusch mir die ätzende Flüssigkeit ab. Mißtöniges Gebrüll ertönte draußen. »Mark!« rief Tessa in Panik. »Er läßt uns nicht raus. Wir werden ertrinken.« Nur noch wenige Zentimeter Luft existierten zwischen Kabinendecke und Wasseroberfläche, doch ich gab mich noch nicht geschlagen. Ich hatte ja noch einen Trumpf. Rasch aktivierte ich meinen Ring an meinem siebenzackigen Mal. Nun verwandelte ich die beiden silbernen Tafelmesser, die sich aus unerfindlichen Gründen in die Kabinenschublade verirrt hatten, sowie die lange, spitze Schere in magische Waffen. Mit dem Laserstrahl meines Rings schrieb ich die entsprechenden Runen darauf. Die Messer und die Schere fingen in einem kalten Feuer zu glühen an. Das Silber der Messer leuchtete hell. Ein Messer reichte ich Tessa. Rasch drückte ich ihr einen Kuß auf den roten Mund. Ich hatte Tessa, sie existierte in Lady Lorenas Gestalt, auf der »Titanic« geliebt. Vielleicht war es das letzte Mal gewesen. Gegen den Wasserdruck in der Kabine fiel es mir schwer, die Tür aufzudrücken. Sofort schnellten zwei Tentakel herein und griffen nach uns. Das Kreischen der Killerkrake erscholl wild und böse. Ich stach zu! Ein Tentakel weniger hatte der Krake bereits, aber immer noch sieben. Das Kreischen wurde lauter. Der acht Meter lange Krake peitschte umher und zuckte zurück. Tessa schrie auf. Der Tentakel hatte sie voll getroffen. Sie trieb im Wasser, das fast die Kabinendecke erreichte. Blut sickerte aus ihrem Mund. »Tessa!« rief ich. Sie schlug wieder die Augen auf. »Zeig es dem Butler! Ich schwimme sofort hinter dir her.« Das mußte sie, allein würde sie die Tür nicht mehr öffnen können. Der zweite Tentakel des Killerkraken steckte noch in der Tür und hielt sie auf. Er bestand aus einem ungeheuer zähen und festen Material. Er drückte die Tür weiter auf. Der »Butler« schaute herein und wollte sich in die Kabine quetschen, als ob ein Sektkorken in die Flasche hineinspringen würde. Ich nahm das Messer zwischen die Zähne, die Schere steckte in meinem Ärmel, und schwamm ihm entgegen. * Destry, der Killerkrake, umklammerte mich sofort mit seinen sieben
Armen. Ich drückte ihn in den Kabinengang, in dem das Wasser wie ein reißender Bergbach floß. Es trieb uns ab. Tessa schwamm hinter uns her. Ich konnte ihr nicht helfen, denn ich hatte alle Hände voll mit dem Killerkraken zu tun, um seine Arme abzuwehren. Von der ätzenden Flüssigkeit seiner Saugnäpfe hatte ich ja schon was abbekommen. Ich stach zu, während wir durch die Gänge im Schiffsinnern gespült wurden. Die Schere drang in einen Tentakel-Saugnapf ein. Der Tentakel zuckte weg. Ich verlor die Schere und verätzte mir sofort die Hand. Kaltes Wasser wusch die ätzende Säure teilweise weg, sonst wäre es noch schlimmer geworden. Mir blieb keine Zeit zum Überlegen. Der Instinkt des Kämpfers war es, der meine Handlungen beherrschte, etwas, das man nicht lernen konnte und das aus dem Unterbewußtsein kam. Immer wieder blitzte das silbrig leuchtende Messer auf. Ich säbelte in den Kraken. Mit aller Kraft. Er war ungeheuer stark, seine Arme so dick und so mächtig wie Riesenschlangen. Ein Mörder der Meere war es, den Seth-Suchos, der Teufel vom Nil, als eine seiner letzten Handlungen erschaffen hatte. Es brauste hinter uns. Ein Schott oder eine Wand hatte den Wassermassen nicht mehr standhalten können. Eine eiskalte Sturzflut kam mit weißem Schaum und wirbelnden Wellen, erfaßte mich samt dem Kraken und Tessa und wirbelte uns voran. Wir wurden um die Ecke gespült. Hätte mich der Krake nicht mit seinen Armen umklammert, würde ich mir vielleicht an den Metallwänden und kanten Knochen gebrochen haben. Plötzlich ging es nicht mehr weiter. Die Flut warf uns gegen ein verschieb- und abschließbares Scherengitter zwischen der ersten und der zweiten Klasse. Ich prallte gegen den aufgeblähten, sackartigen Leib des Kraken, der die Wucht des Aufpralls etwas dämpfte. Tessa hatte sich an einer Türkante festgehalten und wurde nicht gegen das Gitter geschleudert. Der Krake umklammerte mich, daß ich mich nicht mehr zu rühren vermochte. Mit einem gurgelnden Laut näherte er seinen riesigen Papageienschnabel meiner Brust, um sie aufzureißen. Er wollte mein Herz fressen. Ich bot alle Kraft auf, aber es nutzte nichts. Das Seeungeheuer war stärker. Ich wäre verloren gewesen. Mit meinem Messer, das ich noch umklammerte, konnte ich nicht mehr zustoßen. Doch da schwamm Tessa herbei. Ich sah sie als einen Schatten. Die Umklammerung des Kraken setzte mir schwer zu. Schon spuckte ich Blut. Da stieß Tessa mit ihrem leuchtenden Silbermesser zu! Sie traf das linke Auge des Riesenkraken. Es blieb darin stecken. In jähem Schmerz zuckte der Killerkrake und
schleuderte mich und Tessa zurück, wie vom Katapult geschnellt, als er seine Fangarme heftig bewegte. Wir flogen bis an die Gangecke, wo wir uns festhielten. Der Krake in seinem höllischen Schmerz zuckte und wand sich im Gang. Vergeblich bemühte er sich, das silberne Messer mit den Tentakeln aus seinem Auge zu ziehen. Es steckte zu tief. Nur ein kurzer Stummel ragte noch aus dem Auge. Der Krake stieß Tinte aus und verlor schleimiges Blut. Er war zu schwer verletzt, um sich noch um uns kümmern zu können. Wir gelangten in den seitlichen Gang, zu dem er uns geschleudert hatte, und stiegen die Treppe hoch. Wir kamen aus dem Wasser, das hinter uns stieg, und gelangten zu einem anderen Durchgang, der nicht verschlossen war. Hinter uns, wo der Krake wütete, erschien auf einer nach oben führenden Treppe, die schon halb unter Wasser stand, ein weißgekleideter Steward. Mit dem Schlüssel fürs Sperrgitter in der Hand fragte er: »Ist da noch jemand?« Dann sah er den Riesenkraken, vor dem ihn glücklicherweise das Sperrgitter schützte, trotzdem floh er schreiend. Die Spukgeschichten wurden später nie bekannt. Alle, die es miterlebten, starben beim Schiffsuntergang der »Titanic«, waren selbst dämonische Wesen oder standen unter einem besonderen Schutz. Wieder klatschnaß stieg ich mit Tessa weiter hinauf. Die »Titanic« war deutlich buglastig. Im vorderen Schiffsteil stand das Wasser schon in den Gesellschaftsräumen der ersten Klasse mit all ihrem Prunk und Pomp. Für die erste und zweite Klasse waren Fahrstühle vorhanden, die sogar jetzt noch, eine gute Stunde nach der Kollision mit dem Eisberg, in Betrieb waren. Es gab einen Turn- und Fitneßraum, ein luxuriöses türkisches Bad und ein großes Schwimmbad, eine gräßliche Ironie, jetzt, wo das Schiff unterging. Das Cafe Parisien, die Nachbildung eines französischen Straßencafes, war der bevorzugte Treffpunkt der Jugend an Bord gewesen. Die »Titanic« war von ihrer Ausstattung her ein schwimmendes Luxushotel. Es brauchte den Vergleich mit den besten der Welt nicht zu scheuen. Die große Freitreppe des Schiffs mit ihrem geschwungenen Aufgang von der ersten Klasse an Deck bestand ganz aus Edelholz, war künstlerisch verziert und eine Sehenswürdigkeit, die sogar die an Bord befindlichen Multimillionäre wie J. J. Astor und Guggenheim beeindruckte. Tessa und ich gelangten in den Rauchsalon. Dort fanden wir mehrere Personen vor. Von Deck erklang die flotte Ragtimemusik der Bordband, die auch die gängigen Schlager jener Zeit spielte. Thomas Andrews, der Erbauer und Konstrukteur der »Titanic« stand am Marmorkamin, von dem wegen der Schräge die wertvolle Uhr heruntergerutscht war. Er starrte trüb
vor sich hin. Sein Lebenstraum und -werk gingen unter, er wollte mit ihnen versinken. Ich berührte ihn am Arm. »Mr. Andrews, Sie haben seemännische Erfahrung und kennen das Schiff wie kein zweiter. Wollen Sie nicht an Deck gehen und mithelfen, Menschenleben zu retten? Sie können die Boote zu Wasser lassen.« Wie aus einem bösen, bitteren Traum erwachend schaute mich der kräftige, braunhaarige Mann, der sonst immer von gewinnendem Wesen gewesen war, an. »Das ist Sache der Besatzung. Aber Sie haben recht. Ich will tun, was ich kann. - Mein Schiff, meine stolze >Titanic
Fahrt aus diesem Grund nicht antreten. Mit Kapitän Edward J. Smith hatte die White Star Line ihren erfahrensten Kapitän für die »Titanic« aufgeboten. Seine Stammpassagiere von früheren Fahrten mit anderen Schiffen nannten ihn liebe- und vertrauensvoll E. J. Noch nie in seiner jahrzehntelangen seemännischen Laufbahn hatte er ein Schiff verloren. Unterwegs hatten der Kapitän und die seemännische Besatzung einige Übungen ausgeführt, um die Manövrierfähigkeit des Riesenschiffs zu erproben. Von den Rettungsbooten waren in Southampton lediglich zwei getestet wurden. Weitere praktische Erfahrung, speziell mit dem Gebrauch der Rettungsboote, hatte die Mannschaft der »Titanic« nicht. Am 11. April, Donnerstag, um 13.30 Uhr hatte die »Titanic« im Hafen von Queenstown auf der Grünen Insel zum letzten Mal die Anker gelichtet. Sie sollte am Dienstag, dem 17. April, in New York eintreffen. Für die Atlantiküberquerung waren somit sechs Tage veranschlagt. Am 11. April legte die »Titanic« 386 Meilen zurück, am 12. waren es 519, am 13. 546 Meilen. Am 13. April wurde ein Schwelbrand im Kohlebunker sechs gelöscht. Am 14. April hätte die »Titanic« einen neuen Tagesrekord aufgestellt. Doch um 23.40 Uhr kollidierte sie mit dem Eisberg… Viele Dinge war zusammengekommen: Der Ausguck hatte keine Ferngläser gehabt. Bei der spiegelglatten See konnte man keine Wellen sehen, die sich an einem Eisberg brachen, so daß er erst sehr spät zu erkennen war. Kapitän Smith hatte außerdem geglaubt, an dem Packeisfeld, in das die »Titanic« mit rund vierzig Stundenkilometern hineinraste, vorbeifahren. »Eisberge sind keineswegs die größte Gefahr für die Schiffahrt«, sagte ich im Rauchsalon zu Tessa, als sie angesichts der Katastrophe fassungslos klagte, wie man Kurs und Geschwindigkeit hatte beibehalten können. »Die mathematische Wahrscheinlichkeit für ein Schiff, mit einem Eisberg zusammenzustoßen, beträgt bei der ungeheuren Weite des Ozeans eins zu einer Million. Ist also in etwa so wahrscheinlich wie ein Haupttreffer bei der Lotterie.« »In Packeiszonen kann diese Rechnung nicht stimmen«, sagte Tessa in dem luxuriösen Salon, der bereits eine deutliche Schräglage hatte. »Stimmt«, räumte ich ein. »Das vergrößert die Wahrscheinlichkeit erheblich.« Zehn Sekunden lang war der Eisberg an der Backbordseite des 60.000Tonnen-Kolosses entlanggeschrammt wie ein riesiges Rasiermesser. Die meisten Reisenden hatten von dem Aufprall nicht mehr gespürt als eine leichte Erschütterung. Manche Passagiere in den Außenkabinen hatten ein
Geräusch gehört, als ob ein riesiger Fingernagel an der Bordwand entlangkratzte. Bei den Heizern und Maschinisten in den Kessel- und Maschinenräumen hatte es anders ausgesehen. Dort war eiskaltes Wasser eingebrochen, hatten sich die Schotte zwischen den einzelnen Abteilungen geschlossen, durch Knopfdruck vom Ersten Offizier auf der Brücke veranlaßt. Die betroffenen Heizer hatten die Feuerstellen der 29 Kessel gelöscht und waren schleunigst aus den Kammern verschwunden, die voll Wasser liefen. 340 Mann Heizungs- und Maschinenpersonal gab es auf der »Titanic«, 495 für die Betreuung und das Wohl der Passagiere zuständige Besatzungsmitglieder und 73 Mann seemännisches Personal. Mit hundertprozentiger Exaktheit würde sich die genaue Zahl der an Bord befindlichen Personen wegen geringer Unstimmigkeiten in der Mannschafts- und Passagierliste niemals feststellen lassen. So war ein Heizer für tot erklärt worden, der sich bester Gesundheit erfreute. Kleinlaut meldete sich der Totgeglaubte später bei seiner Reederei: Er hatte bei einer Zechtour seine Heuerpapiere verloren und sich geschämt, das dem Reedereibüro mitzuteilen. Erst als er seinen Namen auf der Totenliste las, raffte er sich dazu auf. Mittlerweile - 15. April, 0.45 Uhr - stand das Wasser fast achtzehn Meter hoch im Schiff. Der Bug der »Titanic« war tief eingesunken. Immer noch prangte das Schiff in voller Beleuchtung. Die Kapelle spielte auf dem Bootsdeck beim Eingang zur großen Freitreppe unentwegt. Kapitän Smith und seine Offiziere gingen umher und leiteten die Rettungsarbeiten. Auf der Steuerbordseite hatte der erste Offizier Murdoch das Kommando beim Mustern der Passagiere -»Frauen und Kinder nach vorn!« und dem Ausfieren, auf der Backbordseite der Zweite Offizier Lightoller. Tessa und ich befanden uns nach wie vor klatschnaß im Rauchsalon, wo sonst fröhliche oder geschäftliche Unterhaltung stattgefunden hatte, geraucht, gepokert und Whist gespielt worden war. Wir eilten zu meiner Kabine - ich war unter dem Namen Brad Mortimer auf der Passagierliste eingetragen wo ich mir trockene Kleider holte. In Tessas Manderley-Suite zogen wir uns rasch um. Es war höchste Zeit. Diesmal startete Mephisto keine weitere Attacke. Ich war umsonst auf der Hut. Mit dem Ring verwandelte ich ein weiteres silbernes Messer in eine magische Waffe, die ich Tessa gab. Leider hielt sich die Magie auf solchen zu Waffen gewordenen Gegenständen nie sehr lange. Anschließend nahm Tessa mit Lorena Manderley Kontakt auf, deren Geist sich jedoch abkapselte und die Geschehnisse weder miterlebte noch Einfluß darauf hatte. Tessa schilderte Lady Manderley die Sachlage, was
telepathisch geschah, und erntete eine entsetzte Reaktion. Sie wandte sich an mich, nachdem Lady Manderley wieder in ihren Versenkungszustand verschwunden war. »Lorena ist außer sich, daß die >Titanic< untergeht.« Das konnte ich mir vorstellen. »Sie verlangt, daß ich ihr auf der Stelle die Herrschaft über ihren Körper wiedergebe. Ich weiß aber nicht mal, ob ich das kann.« Sie fügte hinzu: »Lorena will mit ihren Kindern ins Rettungsboot. Sie mag sich nicht auf das Kindermädchen verlassen.« Auch das war verständlich. Heiße Mutterliebe und ihre Mutterpflichten verlangten es von der 25jährigen Lorena Manderley. Ich überlegte, wie Tessa jemals ins Jahr 1998 zurückgelangen sollte, wenn wir uns trennten, denn ich konnte und wollte nicht in ein Rettungsboot. Ich wollte bei den Rettungsarbeiten mithelfen, so gut ich das konnte, und wenn sich eine Möglichkeit dazu bot, mit meinem Ring die Rückreise ins Jahr 1998 antreten. Die magische Zeitreise. Dazu bedurfte es einer dämonischen Aktivität oder Ausstrahlung. Wenn das nicht geschah, ging ich mit der »Titanic« unter oder starb im eiskalten Wasser. Auf der Totenliste würde dann der Name Brad Mortimer stehen. Mephisto hatte uns übel hereingelegt. Ich schlug Tessa einen Kompromiß vor. »Wir gehen an Deck. Ich bringe dich zu dem Boot mit den ManderleyKindern. Du gehst in das Boot. Keine Widerrede, denn es ist sinnlos, wenn du an Bord bleibst.« »Was wirst du tun, Mark?« fragte Tessa. Ich sagte es ihr: »Mephisto hat mir eine Menge Wissen und Daten über die »Titanic« und den Schiffsuntergang vermittelt. Auch über Dinge, die jetzt noch nicht geschehen sind. Ich weiß, daß es der Zweite Offizier Lightoller auf der Backbordseite sehr genau nimmt mit der Anordnung des Käptens, nur Frauen und Kinder in die Boote zu lassen. Murdoch, der Erste, interpretiert den Befehl aber lockerer. Dort kommen auch Männer auf freie Plätze. Ich werde an Steuerbord einen Platz ergattern.« Ob ich das tun würde, wußte ich nicht. In der Zweiten und Dritten Klasse gab es hohe Verluste auch unter Frauen und Kindern. Vieles an Bord ging drunter und drüber und hätte besser durchgeführt werden können. Doch wer wollte als unbeteiligter Besserwisser angesichts einer solchen Katastrophe und derartiger Not über andere richten? »Ich lasse dich nicht im Stich, Mark«, sagte Tessa. Sie hatte ein Gesellschaftskleid an, etwas anderes hatte sie in der Eile nicht gefunden. Darüber trug sie einen mit Bordüren besetzten Mantel und die Schwimmweste. Auch ich hatte die Korkschwimmweste angelegt. Mit Lady Lorenas tiefblauen Augen schaute sie mich verliebt an. Wir umarmten
und küßten uns innig. »Du mußt in das Boot gehen«, sagte ich. »Nimm mir die Sorge um dein Leben und das der Lady Lorena. Du kannst ihren beiden Kindern nicht die Mutter rauben, wenn du mit der »Titanic« untergehst. Ich werde einen Platz in einem anderen Boot ergattern und später oder auf andere Weise eine Möglichkeit finden, ins Jahr 1998 zu gelangen. In unsere Zeit. Sollte ich ohne dich in unsere Zeit reisen, hole ich deinen Geist nach. Deinen Körper soll nicht die wiedergeborene Blutgräfin Bathory beleben. Du erhältst ihn zurück.« »Wie willst du das schaffen, Mark?« fragte Tessa. »Das weiß ich noch nicht, ich bin kein Hellseher. Doch Mephisto soll nicht zu früh triumphieren.« Tessa reckte sich und küßte mich wieder. »Mark, in diesem Moment soll nichts zwischen uns stehen. Du bist meine große Liebe, mein ein und alles. - Wenn du es von mir verlangst, gehe ich zu Lorenas Kindern ins Boot.« Ich atmete auf, als Tessa zustimmte. Wenigstens sie würde überleben. Wir liefen durch den Rauchsalon, in dem mehrere Passagiere standen oder saßen, zur prächtigen großen Freitreppe. Die Musikkapelle spielte »Oh you beautiful doll« von dem britischen Komponisten Joyce. Fröhlich klang die Musik, während das erste Rettungsboot gerade zu Wasser gelassen wurde. Nur achtundzwanzig Personen saßen darin, obwohl es fünfundsechzig hätte aufnehmen können. Ich eilte, in brauner Freizeitkleidung im Stil der Zeit, gefolgt von Tessa, zu dem auf der Steuerbordseite kommandierenden Ersten Offizier. »Warum nehmen Sie nicht mehr Personen ins Boot, Mr. Murdoch?« fragte ich. »Verstehen Sie etwas davon?« fragte er mich und bedachte mich von Kopf bis Fuß mit überheblichen Blicken. »Wir haben Angst, daß die Boote durchbrechen. Wir können nichts riskieren. - Treten Sie zurück, stehen Sie nicht im Weg!« Wohl oder übel mußte ich ihm gehorchen. Er hatte das Kommando. * Weitere Notraketen fauchten in die Höhe und Übergossen die Szene mit strahlendem Licht. An Backbord und Steuerbord wurden Rettungsboote herabgelassen. Manche Frauen weigerten sich, an Bord der Rettungsboote zu gehen und den Platz auf dem großen und festen Schiff gegen einen in einer Nußschale einzutauschen, die auch noch aus schwindelerregender Höhe abgesenkt werden mußte. Das geschah mit Winden und Tauen und
erforderte viel Geschicklichkeit. Die Boote schwankten, obwohl bisher noch keins voll besetzt war. Frauen und Kinder in den Booten kreischten manchmal vor Angst. Um uns herum fanden Abschiedsszenen statt. Das Boot, in dem Lorena Manderleys Kinder Margaret und Tommy mit dem Kindermädchen saßen, wurde gerade unter dem Kommando des Offiziers Lightoller in die Tiefe gelassen. Ich schob Tessa nach vorn. »Hier ist die Mutter der beiden Kinder dort!« rief ich Lightoller zu. Der schlanke, große Seeoffizier gab zwei Matrosen einen Wink. »Mutter!« riefen das vierjährige Mädchen und der sechsjährige Junge und streckten die Arme nach Tessa aus. Es hatte Probleme gegeben, nachdem Tessa in Lorena Manderleys Geist übergewechselt war. Diese waren inzwischen behoben. Margaret und Tommy verlangten nach ihrer Mom. Kräftige Matrosenfäuste packten Tessa und hoben sie einfach ins Boot, bevor sie sich weiter von mir verabschieden konnte. Sie wurde förmlich hineingeworfen. »Runterlassen!« befahl Lightoller. Die Seilwinden quietschten. Am Bug und am Heck des Rettungsboots waren die Seile befestigt. Das Boot senkte sich. »Mark!« rief Tessa noch einmal schrill, ehe sie meinen Blicken entschwand. Wenigstens Tessa wußte ich in Sicherheit, glaubte ich jedenfalls. Die Rettungsboote wurden zügig mit Frauen und Kindern sowie mit Besatzungsmitgliedern besetzt, die für ihre seemännische Handhabung und Navigation notwendig waren. J. Bruce Ismay, der Generaldirektor der White Star Line, wies den Fünften Offizier, der auf der Backbordseite mit das Kommando führte, darauf hin, daß er mehr Personen ins Boot setzen sollte. »Dieses Boot ist für fünfundsechzig Personen zugelassen«, hörte ich Ismay sagen. »Einundvierzig sind an Bord. Sie verschenken also vierundzwanzig Menschenleben.« Löwe wies ihn zurecht: »Führen Sie hier das Kommando - oder ich?« Er zog Ismay am Ärmel zur Seite. Ich hörte einen kurzen, erregten Wortwechsel. Darin kam von Seiten des Zweiten Offiziers vor: »Der Aufsichtsrat hat beschlossen, daß nicht mehr Rettungsboote an Bord kommen. Sie haben ebenfalls die Hand gehoben, und jetzt reden Sie mir in meine Befehlsgewalt hinein?« Ismay behauptete, für mehr Boote gestimmt zu haben. Er mochte jedoch nicht weiter mit Löwe sprechen und ging weg. Der Fünfte Offizier befaßte sich wieder mit dem Besetzen der Boote. Ab 1.00 Uhr wurden die Boote allmählich voller beladen, als man sah, daß keines durchbrach. Es gab
jedoch Ausnahmen: zum Beispiel Steuerbordboot 1 mit nur zwölf Personen an Bord bei einem Fassungsvermögen von vierzig Personen. Eine Schande! Auch anderswo handelte man überstürzt. Im Steuerbordboot 1 waren Sir Cosmo Gordon, Lady Duff Gordon, sieben Besatzungsmitglieder und zwei weitere Frauen. Officer Murdoch wurde weiß vor Zorn im Gesicht, als er das Boot bereits dicht über dem Wasser sah. Hochhieven und zurückholen konnte er es nicht mehr. Murdoch konnte nicht überall sein, das Boot war zu Wasser gelassen worden, als er bei einem andern beschäftigt war. Ich sah, wie ein Vater seine zwei kleinen Jungs, vier und zwei Jahre alt, ins Rettungsboot gab, in das er nicht hineindurfte. Er küßte sie und trug ihnen auf, ihrer Mutter seine Grüße zu bestellen und ihr alles Liebe und Gute zu wünschen. Auch hier stand eine Tragödie im Hintergrund. Der Mann hieß Navratil, stammte aus Paris und hatte die beiden Kinder seiner Gattin entführt, mit der er in zerrütteter Ehe lebte. Er wollte mit ihnen in die USA. Der Schiffsuntergang machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Da er mit seinen Söhnen unter falschem Namen reiste, galten die Kinder nach ihrer Rettung zunächst als Waisen. Erst als ihre Mutter in einer französischen Zeitung von der »Titanic«Katastrophe und den »zwei Waisenkindern« sowie ihre Beschreibung las, wurde der Fall aufgeklärt. Mittlerweile hatte es sich herumgesprochen, daß kaum Rettungsboote vorhanden waren. Unter einigen Schiffspassagieren brach eine Panik aus, als Backbordboot 14 voll besetzt mit sechzig Personen herabgelassen wurde. Unter ihnen befand sich der Fünfte Offizier Löwe, den sein Vorgesetzter Lightoller ins Boot kommandierte, um das Überleben der Menschen in den Rettungsbooten auf See draußen zu sichern. Ansonsten waren die Besatzungsmitglieder in den Booten meist niedere Ränge, darunter auch viele Heizer, die nicht viel mehr als rudern konnten. Zu dem Zeitpunkt war noch ungewiß, ob und wann andere Schiffe am Unglücksort eintreffen würden. Eine Gruppe von Männern und ein paar Frauen drängten nach vorn und wollten ins Boot 14 hineinspringen, das dadurch überladen worden wäre. Es hätte zerbrechen oder kentern können. Ich sah, wie der Officer Löwe seine Pistole zog. Drei Schüsse krachten. »Zurück!« brüllte Löwe. Er feuerte in die Luft. Die in Panik Geratenen wichen zurück. Boot 14 wurde tiefer gesenkt von den Matrosen, die trotz der eisigen Kälte vor Anstrengung schwitzten. Auch anderswo krachten vereinzelt Schüsse, jedoch nur sehr wenige. Die Funksprüche der »Titanic«, abgegeben von dem 24jährigen Funker Phillipps und seinem 22jährigen Kollegen Bride, klangen verzweifelt.
Die Situation spitzte sich zu. Die »Titanic« hatte nur noch eine gute halbe Stunde bis zum endgültigen Ende. Ich stand auf dem Vorderdeck und wurde Zeuge, wie sich die Frau des Kaufhauskönigs Straus weigerte, ins vorletzte Boot zu gehen. »Wir sind vierzig Jahre zusammen gewesen«, sagte sie zu ihrem Mann. »Ich wollte mich nie von dir trennen. Und das werde ich auch jetzt nicht tun.« Ruhig, er legte den Arm um sie, ging das Ehepaar zu zwei Deckstühlen, setzte sich hin und schaute den Rettungsarbeiten zu. Wir Passagiere gingen zum Achterschiff. Die vorderen Boote waren alle weg. Irgendwo da unten im Wasser saß Tessa in einem Boot und drückte Lorena Manderleys Kinder an sich. Fast gab es eine Kollision im Wasser, als direkt nach dem vollbesetzten Steuerbordboot 13 Steuerbordboot 15 die Wasseroberfläche erreichte. Durch kraftvolles Rudern brachten sich die Menschen im Boot 13 mit knapper Not in Sicherheit. Der Bug der »Titanic« tauchte inzwischen in den Ozean ein. Noch immer brannten die Lichter in aller Pracht. Die Bordkapelle spielte in der eisigen Nacht »The merry widow« und danach »The chocolate soldier«. Plötzlich strahlte mein Ring auf. Und ich hörte in meinem Gehirn ein Wispern: »Mark Hellmann, ich bin noch da. Ich, Seth-Suchos, der Dunkle Pharao. Gleich werde ich dich vernichten.« * Ich erschrak. Die Nachricht war für mich ein Schock. Sollte denn alles umsonst gewesen sein, wofür ich die Zeitreise ins Jahr 1912 angetreten hatte? Die »Titanic« hatte ich nicht vor dem Untergang retten können. Die Mächte des Schicksals waren stärker. Und Seth-Suchos, der Teufel vom Nil, uralt, unglaublich böse und monströs, lebte immer noch. Auch Tessa hatte ich nicht in unsere Zeit 1998 zurückschicken können. Mephisto, der uns übel getäuscht hatte, kam unbeschadet davon. Dafür also alle Mühen, der Schweiß und das Blutvergießen. Einen Moment war ich so verzweifelt, daß ich am liebsten über Bord gesprungen wäre. Doch ich faßte mich rasch. Seth, dachte ich. Höllenschlange, zeig dich mir, damit ich dich endgültig
zur Hölle schicken kann.
In meinem Gehirn vernahm ich hämisches Lachen. Dann erhielt ich SethSuchos' Antwort, in einer Sprache, die ich nicht verstand.
Gemach, Menschlein. Der Sohn Seths, für den Jahrtausende nur ein Augenblick sind, hat keine Eile. Alles zu seiner Zeit.
1.40 Uhr: J. Bruce Ismay, der Generaldirektor der White Star Line, hatte tatkräftig beim Besetzen der Boote und der Aufrechterhaltung der Disziplin an Bord mitgeholfen. In der zweiten und dritten Klasse waren bereits mehrere Passagiere ertrunken sowie einige Besatzungsmitglieder, die es nicht schnell genug geschafft hatten, die vollaufenden Kammern zu verlassen. Das letzte Steuerbordboot wurde zu Wasser gelassen. Als Ismay, ein großer, dunkelhaariger, immer sehr elegant gekleideter Mann mit Schnurrbart sah, daß in diesem Notboot C noch Plätze frei waren, schwang er sich über die Reling ins Boot. Er duckte sich zusammen und preßte die Hand aufs wild schlagende Herz. Als er noch einmal über die Reling blickte, schaute er Murdoch in die Augen, dem Ersten Offizier. Er las die Anklage in William Murdochs Augen, weil er von Bord ging und Frauen und Kinder ihrem Schicksal überließ. Ismay senkte den Blick. Es gab Männer an Bord, die sich geweigert hatten, einen freien Platz in einem Rettungsboot einzunehmen, solange noch Frauen und Kinder an Bord waren. Murdoch winkte mit beiden Armen, das Boot zu Wasser lassen. J. Bruce Ismay schwebte hinunter, dem Wasser entgegen. Er würde Frau und Kinder wiedersehen. Dennoch spürte er keine Freude, und er würde sich bis zu seinem letzten Tag fragen müssen, ob er nicht hätte an Bord bleiben und das Schicksal von über 1.500 Menschen teilen sollen, die sich seiner Schiffahrtslinie anvertraut hatten. 1.45 Uhr: Während die »Carpathia« mit Volldampf und glühenden Kesseln zur Unglücksstelle eilte, fing sie den letzten Funkspruch der »Titanic« auf: »Maschinenraum bis zu den Kesseln vollgelaufen. Welldeck komplett unter Wasser. Wasser steigt rasch!« »Jetzt muß jeder für sich selbst sorgen«, sagte er. Ich umklammerte mein silbernes, strahlendes Messer unter der Jacke. Um mich herum schauten die Menschen den flüchtenden Rettungsbooten nach. Die meisten verhielten sich diszipliniert. Doch einige drängten vor. Besatzungsmitglieder bildeten mit verschränkten Armen eine Kette und wehrten sie ab. Backbordboot 2 legte ab, mit fünfundzwanzig Personen an Bord. Vierzig hätte es aufnehmen können. 1.55 Uhr: John Jacob Astor, einer der reichsten Männer der Welt, führte seine schöne junge Frau zum Backbordboot 4. Er fragte, ob er mit einsteigen dürfte, da Plätze frei waren. »Nein, Sir, nur Frauen und Kinder.« Astor verabschiedete sich rasch und ohne Aufregung zu zeigen von seiner 19jährigen, im fünften Monat schwangeren Frau. Mit ihr hatte der 47jährige ein neues Leben beginnen wollen. Er half ihr und anderen
Frauen, in das Boot einzusteigen. Mittlerweile war durch die Schieflage der »Titanic« eine große Lücke zwischen Schiff und Rettungsboot entstanden. Es mußte mit Bootshaken an die Bordwand geholt werden. Der Zweite Offizier Lightoller fuchtelte mit der Pistole herum, als in Panik geratene Passagiere das Boot stürmen wollten. »Zurück! Oder ich schieße!« Besatzungsmitglieder wehrten die Herandrängenden ab. John Jacob Astor und andere Männer trösteten ihre im Boot befindlichen verängstigten Frauen. »Wir werden uns bald wiedersehen. Es kommen Schiffe zu Hilfe; sie sind über Funk verständigt worden«, sagten die Männer wider besseres Wissen. »Kein Grund, sich zu sorgen.« John Jacob Astor winkte seiner Frau zu, als das Boot ablegte. Er lächelte freundlich. Dann trat er zurück und zündete sich eine Zigarette an. Rauchend ging er an mir vorbei, ein gutaussehender Mann mit der brillantinegestylten Mittelscheitelfrisur und dem Schnurrbart in der Mode jener Zeit. Er trug einen teuren Mantel mit Pelzkragen und hatte die Schwimmweste umgebunden. »Wohin gehen Sie, Sir?« fragte ich, als er unter Deck wollte. »Zum Hundezwinger«, antwortete er. »Ich will die Hunde freilassen. Sie sollen nicht im Käfig ersaufen.« Er hatte einen Airedale-Setter mit Namen Kitty an Bord. Der Hundezwinger befand sich auf dem F-Deck neben der dritten Klasse, im Innern des Schiffs. Noch hielten die Schotten dort. Astor hörte die Wassermassen rauschen, als er die Hunde freiließ. Als das Boot 4 im Wasser war und von der »Titanic« weggerudert wurde, versuchte Madeleine Astor, ihren Mann unter den am Heck zusammengedrängten Menschen zu erkennen. Sie sah nur die umherspringende Airedale-Setterin Kitty. Astors Leiche wurde Tage später aus dem Wasser gefischt, eine von 343, die zwei Schiffe der White Star Line bargen. Die anderen behielt die See. Um 2.00 Uhr stand das Wasser knapp drei Meter unter dem Promenadendeck. Um 2.05 Uhr waren wir immer noch 1.500 Menschen an Bord. Ich hätte ins letzte Boot auf der Steuerbordseite gekonnt. Doch ich brachte es nicht fertig. Viele Frauen und Kinder würden im Wasser sterben, aus der ersten Klasse nur ein Kind, aus den andern viel mehr. Auch wenn Plätze frei blieben, hielt mich eine innere Barriere zurück, einen davon einzunehmen und die anderen armen Teufel ihrem Schicksal überlassen. Außerdem fürchtete ich, Seth-Suchos würde auftauchen und das Boot angreifen, in dem ich mich befand. Da wollte ich ihm lieber auf der sinkenden »Titanic« oder später im eisigen Wasser die Stirn bieten. Zuletzt
wurde Notboot D auf der Steuerbordseite mit Frauen und Kindern besetzt. Ein Offizier der »Titanic« fuchtelte mit der Pistole in der Luft herum und schoß einen Passagier nieder, als ein Ansturm auf das Boot einsetzte. Als der Getroffene niedersank, stoppte der Pulk. »Mörder!« rief es aus der Menge. »Was haben wir euch getan, daß ihr uns wie die Ratten ersaufen laßt?« »Das Boot ist voll!« rief Lightoller, der Zweite Offizier. »Runter damit!« Er schoß in die Luft, obwohl noch drei Plätze unbesetzt waren. Dieses Boot mußte nur noch knapp acht Meter tief ins Wasser abgesenkt werden. Das Vorderschiff der »Titanic« sank komplett unter Wasser. Die Decksneigung wurde immer steiler. Ich unterhielt mich kurz mit dem Colonel, wie er nach seinem früheren militärischen Rang genannt wurde. J. J. Astor wirkte gefaßt. Nachdem er die Hunde freigelassen hatte, gab es für ihn nichts mehr zu tun, als dem Tod ins Auge zu sehen. Er jammerte nicht, obwohl er bestimmt ein angenehmes Leben führte. »Die meisten Frauen und Kinder sind in den Booten«, sagte er. »Das ist das Gesetz der Zivilisation.« Mein Ring strahlte plötzlich! Ich spürte die Gegenwart von Seth-Suchos und wußte, daß er sich getarnt hatte und mich belauerte. Er konnte jede Gestalt annehmen. Sicher hatte er eine teuflische Freude an diesem Schiffsuntergang, wobei uns das Massensterben noch bevorstand. Um 2.10 Uhr suchte Kapitän Smith die Funkkabine auf und entband die Funker Bride und Phillips von ihren Pflichten. Phillips arbeitete weiter und versuchte, um 2.17 Uhr einen letzten Funkspruch abzusetzen. Die Boote waren alle weg. Notboot B und Notboot A waren eingeklemmt und konnten nicht zu Wasser gelassen werden. Kapitän Smith teilte den Besatzungsmitgliedern mit, ihr Dienst an Bord sei zu Ende. »Jetzt muß jeder für sich sorgen.« Noch einmal schaute er über sein Schiff, das sein ganzer Stolz gewesen war. Eine Frau mit einem Baby auf dem Arm trat an ihn heran. »Kapitän«, fragte sie in gebrochenem Englisch, »ist noch ein Bootsplatz für mich da?« Der weißbärtige, uniformierte Mann mit der Kapitänsmütze schüttelte stumm den Kopf. Er konnte nicht sprechen. Mit steifen Schritten ging er nun auf die Brücke, um dort auf sein Ende zu warten. Allein wollte er sein. Die Bordkapelle spielte noch immer, jetzt den Choral »Näher, mein Gott, zu dir!« Seth-Suchos rief mich. Ich spürte es deutlich. Mein Ring strahlte schwächer und stärker. Dem pulsierenden Ring und meinem Instinkt folgend suchte ich noch einmal den Rauchsalon erster Klasse auf, in den bald das Wasser eindringen mußte. Schon war der Boden naß. Der von
zigtausend Tonnen Wassermassen überlastete Schiffsrumpf ächzte. Den Gewalten, die an ihm zerrten, war er nicht länger gewachsen. Major Archibald Butt, der Berater des US-Präsidenten, saß mit drei seiner Freunde in voller Uniform an einem Tisch. Sie wirkten vollkommen ruhig. Von draußen ertönten die Schreie Verzweifelter. Die siebenköpfige Kapelle verstummte nach dem letzten Choral. Buchstäblich bis zur letzten Minute hatte sie auf dem sinkenden Schiff gespielt. Butt, ein großer, stattlicher Mann, Schnurrbartträger wie fast alle in dieser Zeit, und die anderen drei hatten mit ihrem Leben abgeschlossen. Thomas Andrews, der Erbauer der »Titanic« stand wieder an dem Platz, von dem ich ihn zuvor weggeholt hatte. Diesmal sprach ich ihn nicht an. In einer Ecke des Rauchsalons klammerten sich ein paar verzweifelte Menschen aneinander. Andere plünderten die Bar betranken sich. Hinter der nächsten Tür spürte ich deutlich Seth-Suchos' dämonische Ausstrahlung. Entschlossen ging ich dahin, obwohl ich bis zur Hüfte ins eiskalte Wasser mußte. Retten, dachte ich, konnte ich mich nicht mehr. Doch eins blieb mir zu tun übrig: Gleich würde das Schiff untergehen, und ich hatte vor, mit ihm zu versinken und Seth-Suchos mit mir ins Jenseits zu nehmen. Bevor ich starb, wollte ich die Welt noch von diesem Teufel befreien, auch wenn ich Mephisto damit einen Gefallen erwies. * Margaret und Tommy klammerten sich an Tessa Hayden, die in der Gestalt ihrer Mutter war. Das Boot ruderte wie die anderen von der »Titanic« weg, da man fürchtete, der Sog des untergehenden Schiffs würde es sonst in die Tiefe reißen. Ein Maat war der Führer des Boots, in dem Tessa mit Lorena Manderleys Kindern und deren Kindermädchen Celia Worth saß. Tessa drückte die Kinder an sich. Sie sah die »Titanic« vom Rettungsboot aus. Der Bug zeigte ins Wasser. Alle Bullaugen des Riesenschiffs waren erleuchtet, auch an Deck brannten die Lichter. Die »Titanic« bot einen schönen Anblick gegen den klaren Sternenhimmel. Die Klänge des letzten Liedes waren längst verklungen. Die 34 technischen Offiziere, Ingenieure, Elektriker, die Klempner und die Männer aus den Kesselräumen sorgten bis zuletzt für elektrischen Strom. Keiner von ihnen sollte den Untergang überleben. Der Atem wehte weiß von den Mündern der Menschen im Rettungsboot. Die Ruder gluckerten leise im Wasser. Eisschollen begleiteten sie. Tessa sah, wie sich die
»Titanic« mehr und mehr nach vorn neigte und immer rascher sank. Sie weinte. * Ich stemmte die Tür auf. Ein Wasserschwall schwemmte mir entgegen und spülte mich gegen eine Säule vor der Wand, wo ich mich festklammerte. Ein riesiger Rachen klaffte. Seth-Suchos kam jetzt nicht als ein Nilkrokodil, sondern in seiner Gestalt als Dämonengott. Riesengroß, mit muskelstrotzendem Männerkörper. Auf seinen Schultern saß ein Krokodilskopf, dessen Augen rot und bösartig glühten. Er hatte eine Rastafrisur, trug eine altägyptische Tiara auf dem Kopf und war mit Brustschild und einem Rock aus Metallitzen bekleidet. In der einen Hand hielt er einen Insignienstab mit abgewinkeltem, Tförmigen Ende, in der anderen eine Art Reichsapfel mit einem Kreuz darauf, ein Zeichen, das älter war als das Christentum. Dies waren magische Waffen und Machtsymbole. »Jetzt wird abgerechnet, Knecht des Mephisto«, grollte er den Namen seines und meines Widersachers. Ohne ein weiteres Wort stürzte er sich, auf mich. Die krallenartigen Hände griffen nach mir. Ich wich blitzschnell aus, drehte mich und donnerte Seth-Suchos meine verschränkten Fäuste ins Genick. Der Schmerz durchzuckte mich. Es war, wie wenn ich auf Fels schlagen würde. Doch ich hatte bereits Erfahrungen in den Kämpfen mit Seth-Suchos gesammelt. In der Kabine des Millionärs Owen Webster und bei anderen Gelegenheiten hatte ich ihm gegenübergestanden. Er wirbelte herum. Sein Krokodilsrachen, dem sich ein heiseres Bellen entrang, klappte mit einem Geräusch zu, als ob zwei Bretter aufeinanderschlagen würden. Um Haaresbreite verfehlte der Biß meinen zurückzuckenden Kopf. Als ich einen Moment zurückschaute, sah ich, daß das einströmende Wasser stillstand und Major Butt und die anderen wie die Statuen dasaßen. Ich begriff sofort, daß Seth-Suchos eine Zeitmagie anwendete. Für unsere Umgebung stand die Zeit still. Ich aber kämpfte, während aus einer Sekunde für unsere Umgebung eine Stunde wurde, mit dem Dämonengott auf Leben und Tod. Blitzschnell ließ ich mich fallen, packte Seth-Suchos an beiden Händen und stemmte ihm die Füße gegen die Brust. Obwohl er so schwer war wie ein Fels, schleuderte ich ihn über mich hinweg. Er krachte gegen die Ziersäule, die im selben Augenblick zerbrach. Was Seth-Suchos und ich
bewirkten, ging schnell. Alles andere stand still. Der Teufel vom Nil erhob sich sofort wieder. Ich aktivierte meinen Ring an meinem Hexenmal, obwohl ich seine Energie allmählich schonen mußte. Er sandte einen kurzen Laserstrahl aus. Mit dem Ring und dem leuchtenden silbernen Tafelmesser trat ich Seth-Suchos entgegen. »Armseliger Menschenwurm!« dröhnte er. »Ich werde dich in den Staub treten.« »Großmaul«, erwiderte ich großspurig. Die Augen des Dämonengotts glühten auf, um meine Augen und mein Gehirn wie mit Mikrowellen zu zerkochen. Oder mich in seinen hypnotischen Bann zu bringen. Beides verhinderte mein Ring, der eine unsichtbare Schutzbarriere erzeugte. Ich foppte ihn mit dem silbrig strahlenden Messer und stach zu. Seth-Suchos' erzene Haut konnte ich mit dem stumpfen Messer jedoch nicht durchdringen. Seth-Suchos' Stab und der Reichsapfel waren eins mit seinem Körper geworden. Ein Rückhandschlag des Dämonengotts schleuderte mich mehrere Meter weit durch Luft. Klatschend landete ich im Wasser. Seth-Suchos kam, packte mich, stemmte mich mit beiden Händen empor und wollte mich gegen den marmornen Kamin werfen, an dem wie ein Denkmal der Erbauer der »Titanic« - Andrews - stand. Doch ich zog den leuchtenden kurzen Laserstrahl des Rings über die rotglühenden Augen des Krokodilskopfs. Es gab einen Knall. Rauch stieg aus Seth-Suchos' Augen. Geblendet taumelte er, und ich konnte mich aus seinem Griff befreien. Während er um sich schlug, um mich blind zu treffen, wartete ich auf eine günstige Gelegenheit. Sie kam. Nach einem wahren Tigersprung landete ich dem Teufel vom Nil auf dem Rücken, klammerte mich fest und rammte das Messer mit aller Kraft dorthin, wo ich verwundbare Stellen an ihm vermutete. Er verlor die Tiara, die sofort unterging. »Stirb!« rief ich. »Bei Ra!« Das war der ägyptische Sonnen- und Schöpfergott, der Gegenpart des bösen und dunklen Seth, mit dem Seth-Suchos in engem Zusammenhang stand. Vergeblich versuchte mich Seth-Suchos abzuschütteln. Ich schrieb mit dem Strahl meines Rings das keltische Wort für »Tod« in Runen auf seinen Krokodilskopf und gleich noch das entsprechende ägyptische Hieroglyphenzeichen, das ich mir eingeprägt hatte, dazu. Seth-Suchos brüllte. Die Zeichen brannten sich tief in seinen Krokodilsschädel. Einer Eingebung folgend zeichnete ich ihm noch das Symbol des Sonnengottes Ra und der obersten ägyptischen Göttin Isis auf, die sich gleichfalls einbrannten. Die Prozedur schmerzte Seth-Suchos, brachte ihn jedoch nicht um. Er lief
zur Wand, während ich wieder wie besessen auf ihn einstach und nach einer verwundbaren Stelle an seinem Körper suchte. Er wollte sich mit aller Kraft gegen die Wand werfen und mich, der auf seinem Rücken saß, dabei zerquetschen. Weil die Messerstecherei nichts half und der Ring, abgesehen von der kurzfristigen Blendung von Seth-Suchos Augen, nichts half, ließ ich mich vom Rücken des Nilteufels fallen. Er schnappte mit seinem Krokodilsrachen wieder nach mir! Zum Glück für mich, ganz knapp vorbei. Bis zur Wand wich ich zurück. Seth-Suchos folgte mir, fast im Wasser liegend, wie ein groteskes Krokodil. Als er wieder den Rachen aufriß, steckte ich ihm mit nach oben stehender Klinge das Messer hinein. Fast wäre ich meine rechte Hand losgeworden, als er zubiß. Die eigene Wucht trieb ihm die leuchtende Silberklinge durch den flachen Oberkiefer. Sie ragte oben heraus. Das zudem mit dem magischen Ring behandelte Silber fügte ihm enorme Schmerzen zu. Seth-Suchos grollte und gab heisere Laute von sich. Er holte seinen Insignienstab und den Reichsapfel hervor und betrachtete beides mit seinen wieder rotglühenden Augen. Dann warf er den Stab und den Reichsapfel nach mir. Der Stab wurde zur Schlange, die ich in der Luft fing und kurz unterhalb des Kopfes packte. Der Reichsapfel verwandelte sich in einen Skorpion. Letzterer klatschte knapp neben mir ins Wasser und ging unter. Ich war überzeugt, daß der Skorpion unter Wasser auf mich zukroch, deshalb lief ich ein Stück weg. Den Kopf der Schlange, die ich in der Hand hielt, zerschmetterte ich neben dem reglosen Thomas Andrews am Marmorkamin, der schon halb im Wasser stand. Seth-Suchos kam, das Messer durch den Krokodilsrachen gebohrt, und packte mich. Seinen Krokodilsrachen konnte er nicht mehr öffnen. Statt dessen wollte er mich bei seiner Umarmung regelrecht zerquetschen. Mephistos Information, wie er im Jahr 2.300 vor Christus im Alten Reich von Khemet - Ägypten - besiegt und gebannt worden war (bis zum Jahr 1911), fiel mir ein. Der Wüstenrufer, ein wilder Eremit, hatte ihn mit seinem Meteoritendolch seiner übernatürlichen Kräfte beraubt, ihm das Herz aus der Brust geschnitten und durch ein Wachstäfelchen ersetzt. Ich griff also unter den Brustpanzer, konnte diesen heben und spürte eine Kerbe in Seth-Suchos' erzener Brust. Schon knackten meine Knochen in seiner Umarmung. Da gelang es mir, in seine Brust zu fassen. Ich spürte, während ich bereits rote Nebel sah und mir Blut aus Mund und Nase floß, die Wachstafel. Unter Aufbietung meiner letzten Kräfte konnte ich die Wachstafel zerdrücken. Der Teufel vom Nil krümmte sich. Ich zog die Wachstafel hervor. Sein Griff lockerte
sich für einen Moment, und ich konnte mich ihm entwinden. Rücklings klatschte ich ins Wasser. Der Teufel vom Nil stand wie ein Berg über mir und setzte mir den rechten Fuß auf die Brust. Unter Wasser drückte er mich auf den Boden. Ich schluckte reichlich Salzwasser. Wie Feuer brannte es in meinen Lungen. Ich glaubte, daß er mich umbringen würde, übermannsgroß, ungeheuer stark und viele Zentner schwer, wie er war. Seth-Suchos würde mich glatt zertreten und erdrücken. Mit letzter Kraft, im Reflex gewissermaßen, während ich unter Wasser Blut spie, zerdrückte und quetschte ich die Wachstafel. Plötzlich war der mir tonnenschwer erscheinende Fuß weg. Ich stand auf, sah rote Nebel und Sterne und hustete und spuckte Salzwasser. Wie Feuer brannte es in meinen Lungen. Als sich mein Blick wieder klärte, sah ich, daß sich SethSuchos' Körper grotesk verformt hatte. Das hing damit zusammen, daß ich die Wachstafel knetete. Ich formte kleine Kugeln daraus. Seth-Suchos' Körper wurde auseinandergerissen. Die Reste wurden rund, wie die Kügelchen in meiner Hand. Ich ließ sie ins Wasser fallen, in dem auch Seth-Suchos' Überreste schwammen. »Hoffentlich bist du jetzt tot«, stöhnte ich. Schon einmal hatte ich geglaubt, den Teufel vom Nil ausgeschaltet zu haben. Gerade wollte ich seine dämonische Ausstrahlung benutzen, um mit dem Ring das Ritual durchzuführen und in meine Zeit zurückzukehren. Da spürte ich glühend wie Feuer einen Schmerz unterhalb vom linken Knöchel. Gleichzeitig zwickten mich Zangen tief in den Fuß. Ich griff unter Wasser an meinen Fuß, wurde nochmals gestochen und holte den hochgiftigen Skorpion empor, der aus Seth-Suchos' Reichsapfel entstanden war. Der schwarze Skorpion war zwanzig Zentimeter groß. Eine ernste Bedrohung! Ich hatte ihn so gepackt, daß er mich nicht stechen konnte. Doch seine Chitingliedmaßen bewegten sich heftig. Seine Beine zerkratzten mir die Hand, die schon arg unter der ätzenden Flüssigkeit des Killerkraken gelitten hatte. Lange konnte ich ihn nicht halten. Entschlossen und mit aller Kraft knallte ich den Kopf des Skorpions ein paarmal gegen den Marmorkamin. Dann warf ich den zuckenden Gliederfüßler weg. Er versank im Wasser. Noch einmal würde er mich nicht stechen zwicken können. Jetzt rauschte und schäumte das Wasser wieder. Ich sah, wie Major Butt und die drei anderen Männer am Tisch weggespült wurden, Thomas Andrews und die andern im Rauchsalon desgleichen. Auch ich konnte mich nicht mehr halten und schwamm mühsam in Richtung Ausgang zum Oberdeck. Die Möglichkeit, unter Nutzung der dämonischen Ausstrahlung von SethSuchos' Überresten damit automatisch die Rückreise in meine Zeit anzutreten, war damit vertan. Ich befand mich wieder im normalen
Zeitablauf. Die Wunde des Skorpionstichs am Knöchel brannte höllisch. Ich spürte das Gift in den Adern. Der kalte Schweiß brach mir aus. SethSuchos' Skorpion hatte mir nach allem, was ich vermutete, eine tödliche Dosis verpaßt. Jetzt war nur die Frage, ob ich mit der »Titanic« untergehen oder schon vorher an dem Skorpiongift sterben würde. * Von Schmerzen gemartert schaffte ich es an Deck und fand ein Inferno vor. Die letzten Augenblicke der »Titanic« vor dem Untergang waren angebrochen. Das Heck hob sich immer höher und ragte steil aus dem Wasser. 2.17 Uhr war es. Am hinteren Ende des Bootsdecks scharten sich verzweifelte Passagiere der zweiten und dritten Klasse um Pater Thomas Byles. Wie ein Fels stand der Pater im dunklen Anzug, hielt sich an einem Geländer fest, hörte Beichten und erteilte die Absolution. Über hundert Passagiere tröstete er so und gab ihnen Kraft und Halt für den Weg ins Jenseits. Die Bordkapelle hatte zu spielen aufgehört. Passagiere und Besatzungsmitglieder sprangen von dem untergehenden Schiff. »Und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid und Geschrei noch Schmerz, denn das Erste ist vergangen«, zitierte Pater Byles den Lärm überschreiend mit starker Stimme die Offenbarung des Apostels Johannes. »Wer überwindet, der wird es alles ererben, und ich werde sein Gott sein, und er wird mein Sohn sein.« Ich war nicht besonders religiös, in der DDR sozialistisch erzogen und hatte mit vierzehn die Jugendweihe erhalten. Doch ich bewunderte den wortgewaltigen Pater für seinen Glauben, und daß er die Kraft hatte, ihn anderen mitzuteilen und sie damit in ihrer Todesstunde zu trösten. Ich hatte die Heckreling erreicht. Die letzten Sekunden waren angebrochen. Der vordere Schornstein der »Titanic« brach ab. Er erschlug eine große Anzahl von Passagieren. Wasser spritzte auf. Die Notboote A und B kamen frei, als sich das Heck des Riesenschiffs mehr und mehr aus dem Wasser hob. Menschen rutschten die Schräge hinunter. Viele zerschlugen sich die Knochen an Decksaufbauten. Ihre Schreie gellten. Um 2.18 Uhr rutschte alles, was auf der »Titanic« beweglich war, auf den untergetauchten Bug zu. Es gab ein ungeheures Getöse, als sich tonnenschwere Maschinen und Teile der Feuerungsanlagen aus ihren Verankerungen rissen und zum steil nach unten ragenden Bug rasten.
Meilenweit konnte man den Lärm auf dem Ozean hören. Es hörte sich wie eine Explosion an. Zugleich fielen Berge von Tellern und sonstigem Geschirr in der Bordküche klirrend und scheppernd von den Regalen. Eine Reihe Bullaugen nach der anderen verschwand im Meer. Die Beleuchtung flackerte noch einmal für ein paar Sekunden. Dann gingen auf der »Titanic« die Lichter aus. Hunderte von Passagieren wurden ins eiskalte Wasser geschleudert. Unmenschlich gellten ihre Schreie. Die riesigen Schrauben der »Titanic« hatten sich aus dem Wasser gehoben. Zwanzig oder dreißig Sekunden stand die »Titanic« fast senkrecht im Wasser. In dieser Zeitspanne brachen auch die drei restlichen Schornsteine ab. Der Schiffsrumpf war noch nicht ganz unter Wasser, als er in der Höhe des dritten Schornsteins auseinanderbrach. Ich wurde durchgeschüttelt, sah, wie schreiende Menschen ins Wasser klatschten. Das Vorderschiff rauschte in die Tiefe. Das Heck verursachte eine gewaltige Flutwelle und stellte sich wieder gerade. Es dauerte zwei Minuten, die mir endlos erschienen, bis es voll Wasser lief. Noch einmal stellte sich das Achterschiff steil mit dem Heck in die Höhe und drehte sich dabei von den Rettungsbooten weg. Mit einer Bewegung, die an eine Pirouette erinnerte, folgte das Heck dann dem Bug auf den Meeresboden. Eine riesige Preßluftblase zerplatzte an der Wasseroberfläche. Ich holte tief Luft, als das Heck absank und das Wasser heranrauschte. Ich wußte, ich mußte weg von dem Schiff, sonst riß mich der Sog in die Tiefe. Dann war es soweit. In meiner Nähe klammerten sich nur noch eine Handvoll Menschen an die Reling. Das Wasser erreichte mich, und ich stieß mich mit aller Kraft mit den Beinen ab. Obwohl ich schon vorher in den nassen Kleidern gefroren hatte, war das kalte Wasser ein Schock. Es stach wie mit tausend Nadeln. Mich riß es hinab in die Tiefe, dem Heck der »Titanic« folgend, weiter und weiter hinab wie ein umherwirbelndes Blatt. Der Wasserdruck bohrte wie mit Dolchen in meinen Trommelfellen. Fast beneidete ich die Toten, die es schon hinter sich hatten. Ich kämpfte mit aller Kraft, bewegte Arme und Beine, um nach oben zu gelangen. Der Sog war jedoch stärker. Wieder glaubte ich an mein Ende. * Tessa sah die »Titanic« auseinanderbrechen und untergehen. Sie hielt
den beiden Kindern nicht die Augen zu. Sie waren Zeugen einer der größten Schiffskatastrophen der Menschheit und hatten ein Recht, sie mit anzusehen. Wo ist Mark, dachte Tessa? Die fürchterlichen Schreie der weit über tausend im Wasser schwimmenden Menschen war ein Schock für die Kripobeamtin. »Rettet uns!« wurde geschrien. »Helft uns! Nehmt uns mit in die Boote!« Doch kein Boot kehrte um, obwohl welche nur zur Hälfte oder noch weniger besetzt waren. Die Menschen in den Booten hatten zuviel Angst, in den Bereich der verzweifelt im eisigen Wasser um ihr Leben Kämpfenden zu rudern. Diese Menschen würden in ihrer Todesangst alles tun, um in ein Boot zu gelangen, das dann unweigerlich kentern würde. »Ihr könnt sie doch nicht einfach sterben lassen«, sagte Tessa. Sie ergriff ein Ruder. »Wir müssen zurück und Schiffbrüchige an Bord nehmen.« Eisiges Schweigen antwortete ihr. Frauen, die zuvor beim Abschied von ihren Männern herzzerreißend geschluchzt und die später um sie gejammert und geklagt hatten, sagten kein Wort. Der Lebenswille war stärker als das Mitleid mit den Mitmenschen. »Kehrt um!« rief Tessa nochmals. Sie wandte sich an den Maat, der das Kommando führte. »Haben Sie denn kein Herz im Leib?« »Halten Sie den Mund!« gab der Maat barsch zurück. »Wir müssen uns selbst retten. Für jene dort können wir nichts tun.« Tessa schwieg, als sie keine Unterstützung erhielt. Nur ein Boot kehrte später um. Es stand unter dem Kommando des Fünften Offiziers der »Titanic« - Löwe. Er hatte mehrere Rettungsboote miteinander verzurren lassen und Leute umsteigen lassen. So wurde im Boot 14 Platz geschaffen, um Schiffbrüchige an Bord zu nehmen. Mit Leuten von der Schiffsbesatzung ruderte Löwe zurück. Er rettete sechs Menschen das Leben, sechs von 1.523, kurz vor dem Morgengrauen. Zahllose Leichen sahen die Männer in Boot 14, in den Schwimmwesten treibend, im eiskalten Wasser an Unterkühlung gestorben. Eine Stunde nach dem Schiffsuntergang war alles ruhig gewesen, die Schreie verstummt. Die Kälte hatte ihr Werk getan. An der Wasseroberfläche erinnerte nur noch ein wenig Schaum an die »Titanic«. Nach und nach kamen Trümmer aus dem Wrack an die Oberfläche. Zwanzig Rettungsboote, eins gekentert, eins überflutet, schwammen im Ozean. Die intakten Rettungsboote hatten 699 Menschen aufgenommen. *
Ich sank immer tiefer. Verzweifelt strampelte ich mit Armen und Beinen, um nach oben zu gelangen. Der Sog des sinkenden Hecks riß mich in die Tiefe. Dunkel wurde das Wasser, dann schwarz, dessen eisige Kälte mein Herz stillstehen lassen wollte. Weiße Luftblasen von dem sinkenden Achterschiff wirbelten um mich herum. Der Wasserdruck bohrte und stach in meinen Ohren wie mit Messern. Ein jäher Schmerz zuckte durch meinen Schädel. Ich war sicher, einen Trommelfellriß zu haben, verursacht durch den hohen Wasserdruck. Ich schätzte, siebzig, achtzig Meter tief unter Wasser zu sein, was nur ein geübter Perlentaucher halbwegs unbeschadet überstand. Ich schluckte Salzwasser. Es brannte in meinen Lungen. Der Schmerz drohte mich zu zerreißen. Meine Lungen gierten nach Sauerstoff. Blut quoll mir aus Mund und Nase. Und mein Ring schien mir nicht mehr helfen zu können. Plötzlich verließen mich alle Schmerzen. Ich spürte einen tiefen, inneren Frieden und eine Gelassenheit, die nichts mehr erschüttern konnte. Ich hatte mich aufgegeben. Die weißen Luftblasen, die mich umtanzten, wirkten jetzt lustig, wie prickelnde Luftperlen in einer Sektflasche. Dann verließ mich das Bewußtsein. Als ich wieder zu mir kam, hatte ich zunächst keine Freude daran. Ich glaubte, in eine Hölle geraten zu sein. Die Schmerzen waren teuflisch. Die Korkschwimmweste hatte mich an die Wasseroberfläche getragen. Mein Organismus reagierte, ich fing wieder an zu atmen. Meine bärenstarke Zehnkämpferkonstitution zahlte sich aus. Ich spuckte Salzwasser und blutigen Schleim. Der Husten zerriß mich fast. Blut strömte mir übers Gesicht. Die Eiseskälte des Wassers drang mir bis ins Innerste. Meine Umgebung sah ich nur noch verschwommen. Eine Weile litt ich derart, daß ich mich nicht freuen konnte, noch am Leben zu sein. Mein Herz hämmerte wild. Zwölfhundert Menschen oder noch mehr waren im Wasser, lauter Todgeweihte, die das auch wußten und die verzweifelt hinter den Rettungsbooten herschrien. Nie werde ich die blassen, verzerrten Gesichter vergessen, die Panik und Todesangst in den weitaufgerissenen Augen, die schreienden Münder, den Schmerz und die Qualen. »Kehrt um!« wurde gerufen. »Nehmt uns auf! Das könnt ihr nicht machen!« »Bitte«, rief eine Frau, die in meiner Nähe schwamm, »wo sind denn die Schiffe, die uns an Bord nehmen sollen? Ist denn niemand da?« Die im Wasser Treibenden klammerten sich an aus dem Wrack aufgestiegenen Trümmern und an den zwei im Wasser treibenden Notbooten A und B fest. Eins davon war gekentert, das andere voll Wasser
gelaufen. Die Notboote aufzurichten und zu besetzen, war nicht möglich. Nachdem der Ozean die »Titanic« verschlungen hatte, war rundum alles dunkel. Allmählich erst gewöhnten sich meine Augen ans Sternenlicht. Ich sah die im Wasser schwimmenden Menschen deutlicher und erkannte in weiter Ferne die Schatten der davonrudernden Boote. In diesem Moment haßte ich die Menschen an Bord dieser Rettungsboote, auch Tessa. Sie ließen uns alle im Stich. Ich biß die Zähne zusammen, um nicht selbst schreien zu müssen, und schwamm zu einem treibenden Wrackteil. Es war ein zerbrochener Mahagonischrank. Als das Schiff auseinanderbrach, war er ins Wasser geraten. Zwei Männer und eine Frau klammerten sich bereits daran. Ich kam noch hinzu. Wir froren entsetzlich. In unserer Nähe blies ein Mann, der sich an einen treibenden Balken klammerte, auf einer Bootsmannspfeife, die er irgendwo ergattert hatte. »Die Boote werden uns retten«, stammelte er zähneklappernd, »werden uns retten, retten, retten.« Dann trillerte er wieder. Eine Frau aus der dritten Klasse schwamm mit einem Säugling in den Armen im eisigen Wasser. Das Kind hatte bereits aufgehört zu schreien. Seine Mutter hielt es über Wasser in ihren Armen, während sie selber starb. Ein Mann schwamm zu uns, wahnsinnig geworden in dem Inferno. Mit irre flackernden Augen wollte er mich unter Wasser drücken. »Du hast das Schiff versenkt!« rief er. »Du, du, du.« Im ersten Moment glaubte ich, es wäre Lord Peter Manderley oder Owen Webster, die beide in Seth-Suchos' Bann geraten und seine Sklaven geworden waren. Doch es war ein Wildfremder. Von Manderley und Webster sah ich nie wieder etwas. Der »Butler«, der Killerkrake Destry, war mit dem Schiff untergegangen. Ich wehrte mich gegen den Mann, der mich angriff. Mit einem Kinnhaken schlug ich ihn bewußtlos. Mir blieb keine andere Wahl. Er trieb davon, die Strömung hatte eine Geschwindigkeit von zwei Knoten. Es war sein Todesurteil. Aus der Ohnmacht würde er nie wieder erwachen. Helfen konnte ich ihm nicht. In der eisigen, sternklaren Nacht waren die Schreie der Menschen weit zu hören. Es war ein Massensterben, das keinen verschonte, sechs Menschen ausgenommen, die das Boot 14, geführt von dem Fünften Offizier Löwe, später retten sollte. Wir trieben mit unserem Schrank zu dem Notboot A, das richtig herum schwamm, aber vollgelaufen war. Zwei Dutzend Menschen klammerten sich daran fest, unter ihnen der Zweite Offizier Lightoller. Er war bis zuletzt an Bord geblieben und unmittelbar vor dem Absinken des Achterschiffs ins Wasser geschleudert worden. Er würde gerettet werden, hätte ich ihm
sagen können, und das ranghöchste überlebende Besatzungsmitglied sein. Das Seegericht fragte ihn später: »Haben Sie das Schiff verlassen?« »Nein, Sir.« »Hat das Schiff Sie verlassen?« »Ja, Sir.« In ein paar anderen Fällen sah ich, obwohl verzerrt, Gesichter von Leuten, die ich auf der »Titanic« flüchtig kennengelernt hatte. Mir schien es Ewigkeiten zu dauern, bis die Schreie der im Wasser Treibenden schwächer wurden, bis weniger Menschen schrien und bis schließlich Schweigen herrschte. Die Ruhe des Todes. Mit dem rechten Ohr hörte ich wegen des lädierten Trommelfells nichts. Es summte in diesem Ohr und stach heftig. Die eisige Kälte des Wassers lähmte mich allmählich. Nur die Frau, die sich mit mir an dem Schrank festklammerte, lebte noch. Die beiden Männer waren tot, krallten sich jedoch noch mit starren Fingern fest. Unsere Schwimmwesten hätten uns auch ohne das Wrackteil über Wasser gehalten. Es war jedoch bequemer, sich daran festzuklammern, und gab die Illusion von etwas Festem, von einem Halt. Um uns herum trieben Eisschollen. Überlebende Augenzeugen der Katastrophe, unter anderem die beiden Ausguckmatrosen, sagten später, der Eisberg, der knapp übers Bootsdeck ragte, hätte annähernd die Form des Felsens von Gibraltar gehabt. Die Frau, die sich mit mir an den treibenden Schrank klammerte, hatte rote Haare und grüne Augen. Sie war noch jung und recht hübsch. »Ich bin Lehrerin«, stammelte sie. »Aus Dublin. Ich hatte Ärger in Irland und wollte in den USA ein neues Leben anfangen. - Wir werden doch gerettet? Es sind Schiffe unterwegs, aber das Wasser ist so mörderisch kalt.« Ich mochte ihr nicht die bittere Wahrheit sagen, deshalb griff ich zu einer Lüge. »Ja, wir werden gerettet. Halten Sie noch eine kurze Weile aus.« Sie lächelte. Bald konnte sie nicht mehr sprechen. Als ich wieder zu ihr hinüberschaute, waren ihre Augen weit offen und ohne alles Leben. Ihr nasses Haar war zu Eis gefroren. Ich hätte brüllen können vor Schmerz und Zorn. Doch ich brachte keinen Laut mehr über die Lippen. Mein Herz pochte langsam. Bald würde es stillstehen, von der Kälte gelähmt, die mich längst unterkühlt hatte. Nur noch vereinzelte Schreie und Seufzen klangen über das Wasser. Meine Hände waren bereits so erstarrt, daß ich die Finger nicht mehr bewegen konnte. Mein Haar und die aus dem Wasser ragenden Teile meiner Kleidung waren starr gefroren, wie nasse Wäsche im Winter auf einer Leine. Selbst an den Wimpern hatte ich Eis. Der Tod griff nach mir!
Da sah ich einen weißen Nebel über dem Wasser. Er verdichtete sich, nahm feste Gestalt an. Im Sternenlicht glaubte ich, eine Halluzination, verursacht vom nahen Tod, würde mich narren. Denn vor mir entstand als geflügeltes Wesen Seth-Suchos, der Teufel vom Nil. Über die vielen Toten und Sterbenden an der Untergangssteile hinweg flog er mit mattem Flügelschlag, von einem geisterhaften Licht umgeben. Dann bemerkte er mich und flog auf mich zu. Es gab keinen Zweifel, es war tatsächlich der Dämonengott, den ich schon zweimal getötet hatte. Schwerfällig, bereits von den Todesschatten betroffen, die sich über mich senkten, überlegte ich, wie er wieder auftauchen konnte und weshalb er Flügel hatte. Dann verstand ich: Es handelte sich um sein Ka, das da flog und mich suchte. Nach dem Glauben der alten Ägypter hatte der Mensch zwei Seelen, das Ka und das Ba. Während das Ba nach dem Tod bei der sterblichen Hülle verblieb, war das Ka geflügelt, verließ sie und konnte jeden beliebigen Ort aufsuchen. Was für Menschen galt, traf genauso auf den Dämonengott Seth-Suchos zu. Als er über mir schwebte, erschien er mir nicht so fest wie jener Krokodilsköpfige, mit dem ich beim Rauchsalon der »Titanic« einen mörderischen Kampf ausgetragen hatte. Während die Todesseufzer Sterbender über das Wasser wehten, krächzte Seth-Suchos: »Hier also finde ich dich. Ich werde zusehen, wie du stirbst. Ich aber werde eine Stadt auf dem Meeresgrund errichten und mir ein neues Reich gründen. Es soll ewig währen.« Tausendjährige und ewige Reiche kannte ich und hatte eine bestimmte Meinung darüber. Seth-Suchos' Ka bot mir eine Möglichkeit. Es hatte eine dämonische Ausstrahlung. Während das Ka mit mattem Flügelschlag über mir in der Luft hing, wollte ich meinen Ring aktivieren und mit Runenbuchstaben das keltische Wort für »Reise« schreiben. So hoffte ich, in meine Zeit zurückzukehren. Wenn andere im Wasser Treibende das Ka des Seth-Suchos sahen, würden sie es für eine Halluzination halten. Von den Überlebenden in den Rettungsbooten und jenen sechs, die später nach dem Schiffsuntergang von Boot 14 aus dem eisigen Wasser gerettet wurden, berichtete niemand von gespenstischen Erscheinungen. Meine Hände waren wie Eisklumpen. Es dauerte Minuten, bis ich den Ring an die Brust brachte. Er leuchtete auf, als er den siebenzackigen Stern berührte, den ich dort wie ein Muttermal hatte. Der kurze Laserstrahl zuckte. Mit zitternder Hand, mehr tot als lebendig, mühte ich mich, die Futhark-Runen zu schreiben, so benannt nach den ersten sieben Buchstaben des altgermanischen Runenalphabets. Doch meine Hand
gehorchte mir nicht. Zitternd sank sie herab. Nun stürzte sich das lebensgroße Ka des Teufels vom Nil mit einem krächzenden Schrei auf mich. Krallenhände, die es im Gegensatz zum lebenden Seth-Suchos hatte, zielten nach meinen Augen. * Es ging auf den Morgen zu. Tessa Hayden fror. Lorena Manderleys Kinder Margaret und Tommy schliefen im Heck des Rettungsboots, mit Mänteln zugedeckt, tief und friedlich, genauso das dritte Kind, das an Bord war. Das Kindermädchen der Manderleys saß bei den drei Schlafenden. In dem Rettungsboot gab es weder Lebensmittel noch Trinkwasser. Tessas Uhr zeigte 3.10 Uhr. An der Untergangsstelle der »Titanic« waren die Schreie der im Wasser Treibenden verstummt. Der Schein der an einer Stange aufgehängten Laterne fiel auf die Gesichter der Menschen im Boot. Die zehn Besatzungsmitglieder ruderten langsam. Man fuhr in die Richtung, in die der Bug der »Titanic« vor ihrem Untergang gezeigt hatte, und wartete auf die Aufnahme durch herbeigeeilte Schiffe. Von den anderen Booten hatten nicht alle Lichter. Mit drei Booten befand sich die Besatzung des Boots, in dem Tessa fuhr, auf Rufweite in Kontakt. Weitere Boote und ihre Lichter waren weiter entfernt schemenhaft zu erkennen. Schwaches Licht am Himmel verstärkte sich, verschwand wieder, leuchtete erneut auf und blieb für einige Zeit bestehen. Tessa fragte ein Besatzungsmitglied, ob das schon die Morgendämmerung sei. Der Mann wußte es auch nicht, er war ein Heizer, der bei seinen Seefahrten im stickigen, dumpfen Schiffsinnern blieb, in der Hitze und im dröhnenden Lärm der nahen Maschinen. Ein Matrose erklärte Tessa, das Licht, das sie sah, sei das Nordlicht. Es strahlte über den Nordhimmel, mit einem schwachen Streifen zum Polarstern. Tessa verfolgte trotz Trauer und Grauen das Naturschauspiel. Die See war sehr ruhig. Tessa trampelte wegen der Kälte leicht auf den Boden, um sich warm zu halten. Die Menschen im Boot hielten nach Lichtern Ausschau, die die Rettung ankündigen würden. Es wurde wenig gesprochen im Boot. Man dachte an die Mitreisenden, die nicht sehr weit entfernt still und tot im Wasser trieben, und man war dankbar, in einem Boot zu sein. Um 3.30 Uhr bemerkte jemand an Bord einen schwachen Lichtschein im Südosten. Kurz danach erschien ein Licht am Horizont über der See, wo der erste Lichtschein gesehen worden war, danach noch eines. »Das sind Raketen!« rief der Maat, der das Kommando im Boot führte.
»Sie werden von einem Schiff abgeschossen!« Hochrufe erschollen im Rettungsboot. Tatsächlich näherte sich ein Schiff, das seine Ankunft mit Leuchtraketen angezeigt hatte. Es entpuppte sich als ein großer Dampfer mit einem Schornstein und erleuchteten Bullaugen. Für Tessa und alle anderen in den Rettungsbooten war es das wunderbarste Schiff von der Welt - die »Carpathia« der Cunard Line. Männer und Frauen an Bord von Tessas Boot weinten vor Erleichterung und vor Freude. Der Maat lenkte mit dem Steuerruder herum. Die Besatzung ruderte mit den anderen Booten auf das Schiff zu, das sie aufnehmen sollte. Der Bootsführer schlug vor, Lieder zu singen, um die letzten Strapazen zu überspielen und die Lebensgeister aufzumöbeln. Auf dem Weg zur »Carpathia« durchkreuzten Tessas Boot und zwei andere Backbordboote die Untergangsstelle der »Titanic«. Trümmer, Wrackteile und Leichen schwammen im Wasser. Die Ruderer bemühten sich, die erfrorenen Leichen nicht zu berühren, als ob sie Angst hätten, die Totenruhe zu stören. Im Wasser schwammen zudem faustgroße Stücke Eis und dümpelten in der Strömung wie ein grausamer Hohn, der auf die Präsenz des Eises hinwies. Um 4.10 Uhr nahm die »Carpathia« das erste Rettungsboot der »Titanic« auf. Um 6.30 Uhr, nachdem ihr Boot um einen großen Eisberg hatte herumfahren müssen, dessen Eissporne unter Wasser weit vorragten, legte Tessas Boot bei der »Carpathia« an. Zwei Taue hielten das Boot vorn und achtern. Als letzte Frau, nach Lorena Manderleys Kindern, stieg Tessa die Strickleiter hinauf. Freundliche Hände halfen ihr an Bord. Beheizte Räume und heiße Getränke und Speisen standen für die Schiffbrüchigen der »Titanic« bereit. Tessa war so dankbar, wieder feste Schiffsplanken unter den Füßen zu spüren, daß sie diese hätte küssen können. Viel mehr Dankbarkeit verspürte sie für die beiden tapferen Funker der »Titanic« die die Hilfe herbeigerufen und den Untergang mit dem Leben bezahlt hatten. Boot 14 unter Officer Löwe brachte sechs Überlebende, die aus dem Wasser gefischt worden waren, zur »Carpathia«. Der tief erschütterte Löwe machte sich Vorwürfe, nicht früher umgekehrt und mehr Menschenleben gerettet zu haben. Um 8.30 Uhr wurde das letzte Rettungsboot der »Titanic« von der »Carpathia« aufgenommen. Der Wind hatte in der letzten Stunde aufgefrischt, die See war unruhig geworden. Die letzten Schiffbrüchigen hatten eine weitere Angstpartie erdulden müssen. Um 8.50 Uhr verließ die »Carpathia« das Gebiet des Schiffsuntergangs, nachdem dort von ihr und der um 8.30 Uhr eingetroffenen »Californian« vergeblich nach Überlebenden im Wasser gesucht worden war. 705 Überlebende der »Titanic« waren nun an Bord der »Carpathia«, 1.523
Menschen hatten den Tod gefunden. Die »Carpathia« nahm Kurs auf New York. J. Bruce Ismay, der Generaldirektor der White Star Line, der den Schiffsuntergang überlebt hatte, kabelte an das New Yorker Büro seiner Schiffahrtslinie: Teile in tiefem Bedauern mit, daß die »Titanic« heute morgen nach Kollision mit Eisberg gesunken ist; schwere Verluste. Alle Einzelheiten später. Die an der Rettungsaktion beteiligten Schiffe und die Funkstation auf Cape Cod verbreiteten die Nachricht in alle Welt. Sie traf die zivilisierte Welt wie ein Schock. Tessa stand auf dem Vorderdeck der »Carpathia« an der Reling, schaute über den wellenbewegten Ozean und dachte an Mark Hellmann. Sie sorgte sich sehr um ihren Freund. In einiger Entfernung von der »Carpathia« und der »Californian«, die zu spät erschienen war, schwammen mächtige Eisberge im Wasser. In der Morgendämmerung, als die Sonne höher stieg, waren sie von einem rosa Licht überstrahlt gewesen. Jetzt sahen sie unheilvoll aus, von einer schaurigen Schönheit, funkelnd und glitzernd im Sonnenlicht, tödlich weiß, so daß sie eher wie gefrorener Schnee denn als durchscheinendes Eis wirkten. Übersät mit weißen, rauhen Bergspitzen, unregelmäßig geformt, ragte das obere Zehntel von ihnen aus der bewegten See. Schaudernd starrte Tessa zu den Eisbergen hinüber. * Zuvor war dieses geschehen: Seth-Suchos' Ka krallte nach meinen Augen. Mein Ring rettete mich. Er bildete einen unsichtbaren Schutzschild, den das Ka nicht durchdringen konnte. Der Teufel vom Nil kratzte am magischen Schutzschirm herum. Aus meinem tiefsten Kern flossen mir Energien zu, von denen ich nicht mal was geahnt hatte. Noch einmal bot ich im Todeskampf all meine Energie auf. Ich stieß die Faust mit dem Ring durch den Schutzschirm. Mir bot er keinen Widerstand. Doch als ich Seth-Suchos packen wollte, stellte sich heraus, daß sein Ka ein Gespenst war, nicht stofflich. Ich faßte durch es hindurch und fand keinen Halt. Doch ich bäumte mich noch einmal auf. Seth-Suchos' Erscheinen hatte mich die Kältestarre abschütteln lassen. Mit dem einen halben Meter langen Laserstrahl des Rings fuhr ich quer durch seinen Körper wie bei einer Laseroperation. Das Ka kreischte schrill. Es verlor einen Krallenarm, der nur noch an Fetzen hängend schlaff herabbaumelte.
Abermals gebrauchte ich den Ring wie ein Laserschwert und zog dem Ka den Strahl zickzackförmig über den läßlichen Krokodilsschädel und den Körper. Ich trennte Seth-Suchos den halben Unterkiefer ab, teilte seinen Körper und trennte ihm einen grün-schwarzen Flügel ab. Aufkreischend zappelte der Dämon über dem eiskalten Wasser, konnte sich nicht mehr in der Luft halten und stürzte hinein. Das Wasser spritzte nicht auf. Von dem Ka hatten sich Teile gelöst und trieben in der Luft herum, direkt über der mit Wrackteilen übersäten Untergangsstelle der »Titanic«. Seth-Suchos' Ka ging nicht unter, im Gegenteil, es schwebte empor. Vor seinen Augen fügten sich die Teile wieder zu einem Ganzen. Die Wunden, die ich dem gespensterhaften Ka zugefügt hatte, schlossen sich. Triumphierend kreischte Seth-Suchos. Ich wartete nicht ab, bis er mich abermals angriff und sich dabei vielleicht etwas Neues überlegte. Eiskalt nutzte ich seine dämonische Energie ms und schrieb, diesmal mit fester land, das keltische Wort für »Reise«. Bedauernd dachte ich, daß ich Seth-Suchos nicht endgültig hatte vernichten können. Vielleicht würde ich ihm wieder begegnen, denn er haßte mich bitter, soviel war gewiß. Der Ring an meiner Hand brannte wie Feuer, es prickelte stark. Die Kältestarre löste sich. Mit einem letzten Rundblick überschaute ich meine Umgebung und sah die vielen im Wasser treibenden Leichen. Tiefe Trauer um diese tapferen, wertvollen Menschen erfüllte mich,! einem tragischen Schiffsunglück zum Opfer gefallen waren. Seth-Suchos sah ich nur aus dem Augenwinkel. Mein Herz war bei den tapferen Musikern. Bis buchstäblich zur letzten Minute war die Wallace-Hartley-Band zusammengeblieben und hatte den Passagieren mit ihrer Musik Kraft und Hoffnung vermittelt. Für mich waren diese Musiker Helden. Überhaupt hatten die meisten Passagiere und Besatzungsmitglieder angesichts der Katastrophe eine Haltung gezeigt, die mir Hochachtung abnötigte. Das Schreien im Wasser war etwas anderes gewesen. Das war die körperliche, existentielle Qual, auf die keiner mehr Einfluß hatte. Ich weinte eine eisige Träne. Seth-Suchos' Ka flog kreischend herbei. Ich reckte ihm, ob er das nun begriff oder nicht, den erhobenen Mittelfinger entgegen. Es stach mir wie eine feurige Lanze ins Gehirn, was jedoch nicht SethSuchos' feuriger Blick war, sondern der Beginn der Zeitreise. Ich hörte Sphärenklänge und sah einen hellen, pulsierenden Schacht, in den ich hineinfiel. Leuchtende Sterne wurden zu Strichen und rasten an mir vorbei. Eine unbekannte Kraft schickte mich durch die Zeit und die Ewigkeit, über einen finsteren, gräßlichen Abgrund hinweg, in dem es von scheußlichen Wesen
nur so wimmelte und wo die Seelen der Verdammten aller möglicher Intelligenzwelten schrien. Ich sah ferne Galaxien, linsenförmig und wie Spiralnebel, hatte einen Einblick, wenn auch nur im Vorbeirasen, in die Wunder des Alls. So verließ ich die Grabstätte der »Titanic« die etwa um diese Zeit auf dem Grund des Ozeans aufschlug. Das größere Vorderschiff grub sich dabei tief in den Schlamm. Das Heck landete sechshundert Meter von ihm entfernt. Für dreiundsiebzig Jahre und ein paar Monate waren die Menschen in den Rettungsbooten, die die »Titanic« hatten untergehen sehen, die letzten, die dieses stolze Schiff sahen. Ab 1980 wurde nach dem Wrack gesucht. Nach drei Expeditionen, die Fehlschläge waren, entdeckte am 1. September 1985 eine französisch-amerikanische wissenschaftliche Expedition unter der Leitung von Dr. Robert Ballard das Wrack und fotografierte es. Im August 1986 kehrte Dr. Ballard mit einer zweiten Expedition zurück. Er landete mit dem bemannten Tauchboot »Alvin« auf dem Deck der »Titanic« und erforschte das Wrack mit einem ferngesteuerten Unterwasserroboter. Dieser hatte Video- und Einzelbildkameras, Scheinwerfer, Antriebsaggregate, Meßgeräte sowie Greifarme und Sonar. Gegenstände wurden aus dem Wrack geborgen; man fotografierte sogar in dem Wrack. Manches war erstaunlich gut erhalten, wie Porzellanteller, die unbeschadet die Reise auf den Meeresgrund überstanden hatten. Auch der Porzellankopf einer Puppe wurde gefunden, die einem Kind aus der ersten Klasse gehört haben mußte. Von den Leichen an Bord fand man nichts mehr. Nicht mal Knochen waren übrig, nur Gürtelschnallen, Damenstiefeletten, Heizerstiefel und dergleichen. Vieles andere dagegen war zertrümmert. Jedoch befand sich das riesige zweiteilige Wrack in einem verblüffend gut erhaltenen Zustand. Für mich war es ein Grab, und ich stand Bestrebungen, das Wrack der »Titanic« zu heben, ablehnend gegenüber. Nach den beiden ersten Expeditionen von Dr. Ballard fanden weitere Tauchfahrten zur »Titanic« statt. 1991, '94 und '97 gab es vielbesuchte Ausstellungen mit Filmmaterial und Bergungsstücken von der »Titanic« in Stockholm, London, Memphis und Hamburg. 1998 brach der Monumentalfilm »Titanic« des kanadischen Regisseurs James Cameron alle Kinokassenrekorde und gewann elf Oscars. Die »Titanic« war eine Legende geworden, nicht nur wegen der Größe der Katastrophe, sondern auch wegen der menschlichen Schicksale und Handlungen, die damit verknüpft waren. Ich, Mark Hellmann, konnte frank und frei von mir behaupten: Ich war dabeigewesen. Ich war auf der
»Titanic« gefahren, genauso Tessa Hayden. Wir waren Augenzeugen der größten maritimen Katastrophe der zivilen Schiffahrt geworden. Meine Zeitreise endete. Mein Körper materialisierte in meiner Dachgeschoßwohnung in der Florian-Geyer-Straße in Weimar, ehemalige DDR. Ich landete, rollte über den Boden, weil ich das Gleichgewicht nicht gleich wiederfand. Ich war splitternackt, und ich hatte nur meinen magischen Ring dabei. Ich war ziemlich benommen. Ich spürte ein Ziehen in den Gliedern und war so schwach und taumelig, daß ich nicht aufstehen konnte. Bei mir mußte sich physisch und psychisch alles erst einmal sortieren. Ich saß da, den Kopf zwischen Knien, zusammengekrümmt wie ein Embryo. Mein Blick klärte sich. Der Radiowecker zeigte 19.13 Uhr. Demnach wären während der Zeit, die ich mich in der Vergangenheit aufhielt, eine Stunde und zehn Minuten vergangen. Die Erlebnisse, die ich gehabt hatte, würde ich nie vergessen. * Gegenwart, 1998: Diesmal hatte mir Mephisto bei der Zeitreise keinen Streich gespielt. Nach einer Weile ging es mir besser. Die Zeitreise hatte wie immer meine Wunden geheilt, jedenfalls die körperlichen. Die Verätzungen von den Saugnäpfen des »Butlers« waren weg, das geplatzte Trommelfell und die anderen Wunden verheilt oder vielmehr total regeneriert. Ich war praktisch wie neu. Körperlich war auch die gräßliche, klamme Todeskälte aus meinen Gliedern gewichen, die mich in dem eisigen Wasser beinahe umgebracht hatte. Aber ich spürte sie noch in meiner Seele. Diesmal war ich psychisch vollkommen erschöpft. Am liebsten hätte ich mich ins Bett gelegt und nichts als geschlafen. Was ich erlebt hatte, wirkte mehr in mir nach als bei anderen Zeitreisen. Doch ich durfte mir keine Ruhe gönnen. Tessa Haydens Geist befand sich noch in der Vergangenheit. Sie mußte zurückgeholt werden! Mephisto hatte uns verraten, daß Tessas Körper in der Teufelsgrotte von seinem Diener, dem Erzschurken und Unterteufel Samiel, gefangengehalten wurde. Der Geist der Blutgräfin Elisabeth Bathory sollte in Tessas Körper fahren, die Blutgräfin praktisch wiedergeboren werden. Als dämonisches Wesen wollte sie im Verein mit Mephisto und Samiel schlimmere Greuel- und Schandtaten begehen als jemals zuvor. Das wollte ich unbedingt verhindern. Allein konnte ich nicht zu der
Teufelsgrotte, dazu war ich zu ausgelaugt. Also telefonierte ich, nachdem ich wieder im Besitz meiner Kräfte war und mich angezogen hatte, nach Pit Langenbach. Er war mit Susanne verheiratet, einer 31 jährigen, bildhübschen Blondine mit langen Haaren. Sie hatten die achtjährige Tochter Anna, die Floh genannt wurde, weil sie, wie ihre Mutter meinte, ständig umhersprang. Die Langenbachs hatten ein glückliches Familienleben, wenn ich mal davon auftanken wollte, besuchte ich sie und war immer willkommen. Am Telefon meldete sich eine Kinderstimme. »Anna Langenbach.« »Floh, ich bin es, der Onkel Mark. Ist dein Papa zuhause? Wenn nicht, gib mir deine Mutter ans Telefon.« »Papa und Mama joggen im Wald. Ich weiß nicht, wann sie zurück sind.« Ich bat Anna, ihrem Vater auszurichten, daß er mich anrufen sollte. Es sei sehr wichtig. Anna versprach, das auszurichten. Dann wollte sie mir unbedingt von der Schule und von einem Spiel erzählen, das sie mit zwei Freundinnen gespielt hatte. Ich hörte kurze Zeit zu, obwohl Annas Worte an meinem Ohr vorbeirauschten. Unter einem Vorwand beendete ich das Gespräch. Nach einem Glas Saft und einer Dusche ließ ich mich in den Sessel fallen. Mein Geist war noch nicht richtig in die Gegenwart zurückgekehrt. Ständig dachte ich an den Untergang der »Titanic«, an Leute, die ich auf dem Schiff getroffen und kennengelernt hatte. Wie es Tessa wohl in dem Rettungsboot erging? Und den Manderley-Kindern? Diese Menschen waren mir alle sehr nahe, keine Schemen oder Kinofiguren. Ich hatte ihr Schicksal geteilt. Endlich klingelte das Telefon. Mit einem Sprung war ich dort und meldete mich. »Hallo, Pit?« Am anderen Ende sprach eine Frauenstimme, die ich als die der Studentin Natascha aus Jena erkannte. Anscheinend war sie von mir immer noch begeistert. »Hallo, Mark. Welchen Pit meinst du denn? Hast du es neuerdings auch mit Männern?« Ich lachte gezwungen. »Natascha, mein Schatz, was kann ich für dich tun?« »Weißt du das nicht, Liebling?« Natascha war eine russische Austauschstudentin mit einem Temperament wie ein eine Wölfin. Heiße Liebesworte drangen durchs Telefon und brachten den Draht zum Glühen. Doch im Moment war mir absolut nicht danach. Ich hatte Sorgen. Mit meinen Gedanken war ich bei Tessa, und Natascha schien es zu ahnen. »Du hast eine Frau bei dir, gesteh es!« rief sie. »Aber das stört mich
nicht. Ich komme vorbei, dann machen wir einen flotten Dreier.« Im Augenblick wirkte dieser Gedanke abstoßend auf mich, obwohl ich kein Kostverächter bin. Ich war einfach nicht in der Stimmung, hatte keine Lust auf Sex. Das Massensterben war mir noch zu gegenwärtig. Damit mußte ich erst einmal seelisch fertig werden. Also teilte ich Natascha mit, daß sie nicht kommen könnte. »Arschloch!« rief sie ins Telefon. »Auf dich bin ich nicht angewiesen. Es gibt genug Kerle, die mich flachlegen wollen.« Ein obszönes Wort folgte. Natascha drückte sich gern deutlich aus. Ich sagte, es wäre schön, daß sie nicht auf mich angewiesen sei, legte und atmete auf. Nach einer Weile klingelte das Telefon wieder. In der Meinung, daß es Natascha sei, die ihrem Unmut nochmals Luft machen wollte, meldete ich mich mit »Städtische Leichenhalle«. »Tickst du nicht richtig?« fragte Pit Langenbach. »Ich erkenne doch deine Stimme, Mark, und so verkalkt, daß ich die falsche Nummer gewählt hätte, bin ich noch lange nicht. Floh sagte mir, daß du angerufen hast. Wo brennt es?« »Kannst du sofort herkommen?« fragte ich. »Frag nicht am Telefon, bitte.« Der Kripohauptkommissar bewies wieder einmal, daß er mein bester Freund war. »Ja. In zehn Minuten bin ich da.« Ich tigerte in der Wohnung auf und ab. Die Sonne stand bereits tief. Wir mußten Tessa der Gewalt des Teufels Samiel entreißen, bevor die Blutgräfin Bathory in ihrem Körper reinkarnierte. Sonst wußte ich nicht, ob ich die Bathory jemals wieder daraus verjagen konnte. Es wäre furchtbar für mich gewesen, Tessas Körper pfählen oder sonstwie umbringen zu müssen, um die Bathory zu vernichten. Ich wußte nicht, ob ich damit hätte weiterleben können. Hand an mich gelegt hätte ich niemals. Aber es gab ausweglose Situationen, zum Beispiel im Kampf gegen die Mächte des Bösen, in die ich mich hineinbegeben und darin untergehen und sterben konnte. Ungeduldig wartete ich auf Pit Langenbach. Einmal hörte ich im Hof unten einen Hund kläffen. Ich dachte sofort an Mephisto, der mir in Gestalt eines Pudels erschienen war, als er mich auf die »Titanic« schickte (Siehe Mark Hellmann Band 14). Doch der Oberteufel zeigte sich nicht. Er hatte mich übel hereingelegt, Tessa mit. Noch einmal würde ich ihm nicht vertrauen. *
In der Teufelsgrotte war es schon dämmrig. Auf ein Zeichen Samiels hin leuchtete ein diffuses bläuliches Licht, dessen Herkunft nicht zu erkennen war. Die Teufelsgrotte glich einem düsteren Kuppeldom. Sie befand sich am Ende von einer Schlucht am Großen Ettersberg, mitten im Wald. Westlich von der Blutstraße, die von Weimar zum ehemaligen KZ Buchenwald führte, das jetzt ein Mahnmal gegen die Verbrechen des Nationalsozialismus und eine Gedenkstätte war. Die Wände der großen, weitverzweigten Grotte waren mit Moos und Flechten bewachsen. Ein paar Baumwurzeln reichten in die Grotte hinein. Fette Spinnen hatten an der Decke der Teufelsgrotte und in den Spalten ihre Netze gewoben. Es roch muffig, nach kaltem Rauch und noch immer nach Schwefel. Es war ein verrufener Ort. Hier hatten Selbstmorde, Teufelsbeschwörungen und anderes Schreckliche stattgefunden. Jetzt bewachte dort der Teufel Samiel die auf einem bemoosten Stein sitzende Tessa Hayden, vielmehr ihre geist- und seelenlose körperliche Hülle. Die superschlanke Kripobeamtin trug Lederjeans, eine schicke Bluse, Jacke und Stiefeletten. Mephisto hatte sie am Vortag aus Ihrer Wohnung entführt, in die sie nach Dienstschluß zurückgekehrt war. Dabei hatte der Satan Mark Hellmanns Gestalt angenommen. Nach einem Hexensabbath, an dem sie gezwungenermaßen teilnehmen mußte, schickte er Tessas Geist morgens um 4.38 Uhr in die Vergangenheit. Auf die »Titanic«! Dann hatte er Tessas Körper in die Teufelsgrotte gebracht, wo seitdem Samiel auf sie aufpaßte. Der Unterteufel sah aus wie ein etwas über mittelgroßer, gebückt gehender Mann mit einem leichten Buckel. Dünne, schwarze Haarsträhnen waren über seinen Glatzkopf gelegt, aus dem ihm zwei kleine Hörner wuchsen. Er hatte Krallenhände und ein grünlich-fahles Gesicht. Wie eine Wasserleiche. Oft rollte er mit den Augen; Samiel war ein sehr nervöser und schreckhafter Teufel, schnitt Grimassen, oder ein Tic verzerrte ihm das Gesicht. Er trug einen blauen Frack und grüne Hosen und stank durchdringend nach faulen Eiern, Schwefel und Pech und Verwesung. Jetzt rieb er sich raschelnd die Krallenhände. »Es ist Zeit, daß mal was passiert.« »Zu Diensten, scheene junge Frau«, sagte der Widerling. »Wollen wir jetzt die Beschwörung durchfieren, die uns der große Mephisto hat aufgetragen? Oioioi! Wird wohl ein wenig weh tun, aber das schadet nichts. Was ist Beschwörung ohne Schmerz, Grauen und Entsetzen? Fangen wir gleich an. Wollen Sie vorher noch eine Stärkung haben?« Samiel hielt Tessas unbeseeltem Körper einen abgehackten Hahnenkopf vor den Mund. Der Hahn hatte bei einer Teufelsbeschwörung dran glauben
müssen. In dem Kopf krochen längst die Maden. Tessa reagierte nicht. Samiel verschlang den widerlichen Hahnenkopf seelenruhig, fuhr seinen rechten Arm teleskopartig aus und pflückte als Zugabe mehrere fette Spinnen aus ihren Netzen. Auch sie fraß er auf, rieb sich den Bauch und rülpste. »Joi, ist sich Teufel manchmal arm dran«, sagte er in seinem verdrehten Deutsch. »In Olymp, wo ist sich Zeus gewesen, haben die Getter Nektar und Ambrosia gegessen. Unsereins frißt in der Not sogar Fliegen. - Fangen wir an.« Tessa saß reglos. Samiel zerriß ihre Bluse, starrte gierig auf ihre Brüste und malte dann mit einem herbeigezauberten Pinsel rote und blaue Zeichen auf Tessas nackten Oberkörper und ihr Gesicht. Er bespritzte sie mit Blut, das er gleichfalls herbeizauberte. Dann sprang er wie ein Irrer im Kreis herum, als ob er gejagt würde, warf die Hände empor und rief immer wieder Elisabeth Bathorys Namen. Der Unterteufel Samiel wurde zu einer glühenden Kugel, die wie ein Kugelblitz umherjagte. Flämmchen zuckten davon aus und umzüngelten Tessa, auf deren Haut einige Brandblasen entstanden. Der seelenlose Körper schüttelte sich und gab unartikulierte Schmerzenslaute von sich. Samiel verwandelte sich von einer Kugel wieder in seine übliche Gestalt. Er zog eine lange Nadel aus dem Ärmel, stach Tessa damit, die wieder zusammenzuckte, und schrieb mit der blutigen Nadelspitze fremdartige Zeichen in die Luft. Rot wie Blut blieben sie dort stehen. »Aus den glühenden Feuern der Hölle, aus der Finsternis und dem Abgrund von Qual und Verdammnis rufe ich dich, Bathory!« brüllte Samiel diesmal fehlerfrei. Von den Wänden der Teufelsgrotte hallte es wider. »Erscheine! - Erscheine! - Erscheine! - Hier ist ein Körper für dich, aus dem nur der Tod dich je wieder vertreiben soll.« Fremdartige Worte in der Sprache der Hölle folgten. Schauriges Geheul und Gelächter erscholl, Knurren, dämonische Laute, als ob lauter unsichtbare Unwesen und Dämonen die Szene beobachten würden. Dann wurde es ruhig. Tessa saß immer noch wie zuvor. Samiel stieß sie an. »Na, ist sich Elisabeth Bathory da? Ist Beschwörung gelungen?« Im nächsten Moment erhielt er eine schallende Ohrfeige, die nicht von schlechten Eltern war. Tessa setzte sich auf. Ihre Augen glühten rot. Ihr Gesichtsausdruck war völlig verändert und unsagbar grausam. »Du wagst es, mich anzufassen, Domestik?« kreischte sie. »Mich, die Blutgräfin, vor der sogar Höllenteufel zittern? Nicht genug, daß du die Beschwörung stümperhaft durchführtest und mich dabei quältest, jetzt wirst du auch noch vertraulich, du Hund! Wenn Mephisto das hört, kannst du dich auf eine längere Zeit im Höllenfeuer gefaßt machen.«
»Oioioi, nicht in das hellische Feuer, nicht in das siedende Pech!« rief Samiel und warf sich der auf die Erde zurückgekehrten Blutgräfin zu Füßen. »Kennt Ihr mir noch eynmal verzeyhen? Will ich alles wiedergutmachen, Euch Opfer bringen, scheene junge Mädchen, die Ihr zu Tode foltern und ihr Blut trinken könnt.« »Deshalb bin ich hergekommen«, erwiderte die Blutgräfin grausam. »Meine früheren Taten will ich weit Übertreffen. Warten wir hier auf Mephisto. - Wann hat er sich angekündigt?« »Der Zeitpunkt ist unbestimmt«, antwortete Samiel. »Mephisto kommt, wann er kommt. Läßt sich nichts befehlen Mephisto. Müssen wir warten. Aber kann ich ein Mädchen bringen. Kann sich Frau Gräfin damit die Zeit vertreiben.« »Ich bitte darum, Samiel. Vergiß nicht, einen Kelch mitzubringen, aus dem ich ihr Blut trinken kann. Es soll mich beleben und stärken. Ich fühle mich noch etwas schwach.« Samiel, dessen fahlgrüne Fratze sich heftig verzerrte, verbeugte sich. Im nächsten Moment fuhr er wie ein Blitzstrahl durch einen Spalt in der Decke und aus der Teufelsgrotte hinaus, die ihrem Namen zur Zeit alle Ehre machte. * Pit Langenbach schaffte es tatsächlich, in den versprochenen zehn Minuten bei mir zu sein. Nach dem Joggen hatte er sich nicht mal geduscht, sondern nur rasch andere Kleider angezogen. Der große, schlanke und durchtrainierte Kripohauptkommissar mit dem dunklen, üppigen Schnauzer stürmte in meine Wohnung. Rasch erklärte ich ihm, was anlag. Zu meinem Erstaunen sagte Pit Langenbach: »Du irrst, wenn du glaubst, du wärst nur eine Stunde fort gewesen. Tessa hat heute den ganzen Tag im Dienst gefehlt.« Er nannte das Datum. »In der Gegenwart verstrichen ein Tag, eine Stunde und zehn Minuten, während du in der Vergangenheit warst.« Ich hatte mir schon überlegt, wie es mit dem Zeitablauf in der Gegenwart hinkommen würde. Tessa hatte mir auf der »Titanic« erzählt, was sie erlebte, nachdem Mephisto sie entführte. Wann ihr Geist in die Vergangenheit versetzt worden war. Wäre ich jetzt in die Gegenwart zurückgekehrt und hätte etwas unternommen, zum Beispiel bevor sie am Hexensabbath teilnahm und von Mephisto in die Vergangenheit geschickt wurde, hätten wir ein Problem gehabt.
Nämlich ein Zeitparadoxon, zwei verschiedene Zeitabläufe. Das aber konnte es nach meiner bisherigen Erfahrung nicht geben. Diesmal hatte meine Zeitreise, was das Verstreichen der Zeit in der Gegenwart betraf, wesentlich länger gedauert als sonst. Ich nahm an, daß dies mit Tessas Geistreise oder -Wanderung ins Jahr 1912 zusammenhing. Andere Gründe wußte ich nicht, es konnte jedoch welche geben. Das mochte nun sein, wie es wollte, ein Tag war weg, wir mußten schleunigst los, um Tessa aus der Vergangenheit in ihren in der Teufelsgrotte befindlichen Körper zu holen. Ich nahm meine SIG Sauer P 6 aus der Schublade, ein paar Silberkugeln, ein Kreuz und jenen armenischen, mit koptischen Zeichen verzierten langen Dolch, den ich von meinem Freund Rudi Oertzen in Eisenach erhalten hatte. (Siehe Mark Hellmann Band 9). Außerdem nahm ich das »Ars niger et dammnatus« vom Regal, jenes 1523 in Rotterdam von dem Schwarzmagier Adolphus van Weyden geschriebene Standardwerk über die stärksten Beschwörungen, die Wesen der Sieben Kreise der Hölle und einiges andere. Mein Ring glimmte schwach, als ich das in Leder gebundene Buch berührte. Es war ein Originaldruck. Van Weyden hatte den Folianten selbst mit seinem Blut signiert. Ich fand die Stellen, die ich suchte, und ließ die betreffenden Beschwörungen vom Computer ausdrucken. Im Prinzip hätte ich auch gleich vom Computer per Stichwortsuche die Beschwörungen suchen können. Doch ich bevorzugte, was altmodisch sein konnte, zunächst einen direkten Kontakt mit dem alten Folianten und seinem geschriebenen Wort. Ulrich Hellmann, mein Adoptivvater, hatte in mühevoller Arbeit den Inhalt des »Ars niger et damnatus« mit einem Textverarbeitungsprogramm abgeschrieben und gespeichert. Ein Einlesen war bei dem alten Buch nicht möglich gewesen. Pit Langenbach rüstete sich mit einem Weihwasserflakon und zwei Kreuzen aus. Außerdem mit Fackeln und Stricken. Eine Batterielampe und geweihte Silberkugeln, die ich mit dem Ring magisch aufrüstete, vervollständigten unsere Ausrüstung. Wir steckten alles in meine Sporttasche und verließen die Wohnung. Im Erdgeschoß wollte gerade mein Hauswirt seine Wohnung verlassen. Als er mich sah, verschwand er blitzartig und mit entsetzter Miene wieder in seiner Wohnung. Vielleicht war dem Pantoffelhelden und Hausdespoten, einem kleinwüchsigen Sachsen, schlecht bekommen, daß er am Vorabend in meiner Wohnung Mephisto persönlich in Teufelsgestalt gesehen hatte. Das vertrug nicht jeder. Ich hoffte nur, daß dieser Respekt anhalten würde und mir der Hauswirt aus dem Weg ging. Ich lebte mit ihm in einer ständigen Fehde. Wäre die Wohnung nicht so
schön und preiswert gewesen und hätte ich nicht soviel in sie investiert, um sie nach meinem Geschmack herzurichten, wäre ich längst ausgezogen. Wir stiegen vorm Haus in meinen BMW und fuhren los. In der Nähe der Gedenkstätte Buchenwald parkte ich den BMW. Die Sonne war bereits vor einer Dreiviertelstunde untergegangen. Die Dämmerung brach herein. Wir steckten einen Teil der Ausrüstung in die Taschen und stiegen die Schlucht hinauf zu der Teufelsgrotte. Ein Käuzchen schrie. Es war dämmrig und unheimlich in der Schlucht, an deren Ende sich die Teufelsgrotte befand. Mein Ring prickelte und leuchtete bereits. »Du bist tatsächlich auf der >Titanic< gewesen?« sagte Pit Langenbach. »Ein großartiges Erlebnis. Mancher »Titanic«-Fan würde Jahre seines Lebens dafür geben, dieses Schiff original zu erleben.« »Ich hätte darauf verzichten können«, murmelte ich. »Schweig bitte, Pit. Ich muß mich konzentrieren.« Bald standen wir vor dem Gittertor, das der Magistrat der Stadt Weimar nach ein paar Selbstmorden und unheimlichen Ereignissen vor dem Eingang der Teufelsgrotte hatte anbringen lassen. Ich fand das Gittertor offen. Mein Ring strahlte stärker. Vorsichtig drückte ich die Zweige des Haselnußbuschs zur Seite, der den Höhleneingang verdeckte. Aus der Grotte erklang der entsetzte Aufschrei eines Mädchens. Es war nicht Tessas Stimme, wie ich gleich erkannte. »Nein!« schrie das Mädel. »Gnade, Erbarmen!« Höhnisches Lachen erschallte als Antwort. »Ich werde dich jetzt zu Tode peitschen!« ertönte es grausam aus einem Frauenmund. Ich erschrak. Das war Tessas Stimme. Sollte die Blutgräfin bereits von ihr Besitz ergriffen haben? Ich gab Pit einen Wink, deutete erst auf mich, dann auf ihn und auf die Sporttasche, die ich ihm reichte. Er hängte sie um. Wir zogen unsere Pistolen mit den geweihten und magisch hergerichteten Geschossen. Dann sprang ich, die SIG Sauer im Anschlag, durch den Spalt in die Teufelsgrotte. Pit folgte mir einen Moment später. Über den Lauf der Neun-MillimeterPistole schauten wir in die Grotte, die bläuliches Licht schaurig erhellte. Ein schrecklicher Anblick bot sich uns. Tessa, deren zerfetzte Bluse den Oberkörper umflatterte, hielt eine geflochtene Lederpeitsche in der Hand. Sie holte zum Schlag aus. Vor ihr stand, bis auf einen Slip nackt, ein sechzehnjähriges, blondes Mädchen. Ich kannte sie aus Weimar vom Sehen, wußte jedoch nicht, wie sie hieß und wer ihre Eltern waren. Die Hände des schlanken, gutgebauten Mädchens waren mit Stricken zusammengebunden und an eine Kette
gefesselt, die durch einen in der sechs Meter hohen Decke verankerten Ring lief. Eine Winde, die es hier noch nicht lange geben konnte, war im Boden verankert. Die Kette war auf die Winde aufgewickelt, die einen Griff zum Drehen und eine Vorrichtung zum Arretieren hatte. Tessas Gesicht zeigte einen Ausdruck unglaublicher Grausamkeit, den ich bei ihr nie zuvor wahrgenommen hatte. Die Miene stammte nicht von meiner Freundin. Elisabeth Bathorys Geist war in sie gefahren. Neben der Blutgräfin, wie ich Tessa von da an nannte, stand ein etwas über mittelgroßes Teufelsscheusal. Samiel, den Mephisto auf der »Titanic« erwähnt hatte. Der aus der Oper »Der Freischütz« von Carl Maria von Weber bekannte Teufel hatte sich raschelnd die Hände gerieben und schaute nun mich und Pit Langenbach an. Im Hintergrund stand ein Kelch aus getriebenem Metall auf einem Felsblock. Messer und eine Vorrichtung, um das Blut abzuzapfen, waren zu erkennen. »Apanage, Samiel!« rief ich, was soviel hieß wie »Fahr aus, verschwinde, zurück in die Hölle!« Und: »Hände hoch, Blutgräfin.« Elisabeth Bathory lachte mit Tessas Mund. Sie lachte mich aus. »Du kannst mir nichts tun, Mark Hellmann«, spottete sie. »Wenn du schießt, verletzt du den Körper von deiner Freundin Tessa. - Samiel, hilf, gib es ihnen!« Der farbenprächtig gekleidete Teufel mit dem fahlgrünen Gesicht und den kleinen Hörnern auf der mit Haarsträhnen überdeckten Glatze griff in die Tasche. Er riß eine Kugel hervor, die er sofort nach uns warf. In der Luft wuchs die schwarze Kugel. Aus welchem Material sie bestand, konnte ich nicht feststellen. Pit und ich schossen gleichzeitig. Die Schüsse krachten ohrenbetäubend in der Felsengrotte. Samiel wurde zweimal in die Brust getroffen. Er flog auf den Rücken. Der heranfliegenden Kugel wichen Pit und ich aus. Die Kugel traf die Felswand und zerbrach. Sofort brannte es dort wie Höllenfeuer. Napalm war nichts gegen das Höllenfeuer, das Samiel auf uns geschleudert hatte. Ein Spritzer davon hätte genügt, um uns das Fleisch von den Knochen zu brennen. Das erfaßte ich instinktiv. Ich hatte vom Höllenfeuer gehört und gelesen, das eine Waffe der Mächte der Finsternis war. Samiel setzte sich auf. Zwei faustgroße rauchende Löcher klafften in seiner Brust. »Oioioi«, sagte er, »habt ihr geschossen den Samiel, Hundsfotte, miserablige! Will ich euch eynen Vorgeschmack von der Hölle geben.« Damit stand er auf, tot, erledigt oder weggebannt war er keineswegs. Samiel riß den Mund auf und spuckte Feuer wie ein Flammenwerfer. Ich sprang vor und stoppte den höllischen Feuerstrahl, indem ich meinen Ring mit ausgestrecktem Arm vor mich hielt. Der silberne Ring wurde im Feuer
gebadet. Zunächst spürte ich keine Hitze. Doch dann wurde mir immer heißer. Samiel zog eine weitere Kugel aus seiner anderen Tasche. »Paß auf, Pit!« rief ich. Der Kripohauptkommissar zerschoß Samiels Arm mit den speziellen Silberkugeln. Die Kugel fiel Samiel aus der Hand und zerbarst am Boden. Sein Arm baumelte nur noch an Hautfetzen. Zum Glück stand Samiel ein Stück von der Blutgräfin und ihrem armen Opfer entfernt. Das Mädchen aus Weimar und meine Tessa hätten sonst bei lebendigem Leib verbrennen können. Elisabeth Bathory wäre dabei nicht getötet worden. Wieder flammte das Höllenfeuer und erfaßte Samiel. Im Nu stand er lichterloh in Flammen. Ein lautes Röhren von sich gebend, stapfte er auf uns zu. Dabei wuchs er und wurde zu einer überdimensionalen Teufelsgestalt mit einem dreizackigen Spieß in der Hand. Wir konnten kaum noch atmen. Glühend heiß und rauchgeschwängert war die Luft. Samiels Gestank machte sie nicht erträglicher. Wieder schoß Pit. »Das hat keinen Zweck!« rief ich, sprang zu ihm und riß ihm den Weihwasserflakon aus der Jackentasche. »Nimm das Kreuz! Sprich mir nach!« Ich schleuderte mit einem Bannspruch des van Weyden sowie dem Ausruf »Apanage, Dämon!« das Weihwasser gegen den Teufel. Der Flakon zerbrach. Es zischte viel lauter und mehr, als es der Menge des Weihwassers entsprach. Pit zog ein silbernes Kreuz aus der Tasche, das einzige, das wir hatten, und streckte es Samiel entgegen. Die Blutgräfin sprang hinzu. Mit wutverzerrtem Gesicht und fauchend wie eine Katze schlug sie mit der Lederpeitsche auf Pit Langenbach ein. »Warum störst du mich bei dem Blutfest?« kreischte sie. »Stirb, du Bastard!« Der brennende Teufel stutzte und blieb stehen. Mit einem Sprung war ich bei der Blutgräfin, entriß ihr die Peitsche und versetzte ihr einen harten Stoß, daß sie zu Boden fiel. Das mit hochgezogenen Armen an der Kette hängende Mädchen brachte keinen Laut mehr hervor. Vor Entsetzen gelähmt stand sie da und rang mühsam nach Luft. Pit Langenbach beging einen Fehler. Statt Samiel mit dem Silberkreuz zu bannen, es in der Hand zu behalten und den Teufel in die Enge zu treiben, warf er es gegen ihn. Das silberne Kreuz prallte von dem brennenden Teufel ab und fiel zu Boden. Mein Ring leuchtete und prickelte heftig. Samiels Arme schrauben sich teleskopartig vor. Wie brennende Zangen griffen die großen Teufelsklauen nach uns. Der Dreizack, den Samiel in der Hand gehalten hatte, entwickelte ein Eigenleben. Gleichfalls brennend und glühend raste er wie eine Rakete auf mich zu, von Samiels Willen gesteuert.
Im letzten Moment ließ ich mich fallen und spürte den Gluthauch des brennenden Dreizacks, der über mich wegzischte. Der Dreizack traf krachend die Felswand, drehte sich in der Luft, pendelte und richtete sich wieder auf mich aus. Wenn ich nicht höllisch aufpaßte, wurde ich aufgespießt und konnte von Samiel als ein Hellmann-Schaschlick triumphierend über dem Höllenfeuer gebraten und Mephisto serviert werden. Doch noch war nicht aller Tage Abend. Ich schoß mit der Pistole mehrfach auf den brennenden, glühenden Dreizack, wich ihm abermals aus und feuerte die letzte Kugel ab. Mehrere Kugeln hatten getroffen. Die letzte Kugel ließ den Dreizack abstürzen. Nur ein verbogenes Gebilde blieb davon zurück. Samiel jagte Pit Langenbach. Pit warf sich zu Boden. Samiel stolperte mit seinen brennenden Beinen über ihn. Das Höllenfeuer verzehrte den Teufel nicht, er war immun dagegen. Als Pit wieder aufsprang, warf ich ihm das silberne Kreuz zu, das ich vom Boden aufgehoben hatte. Pit fing es auf. Mit einem Holzkreuz hielt ich Samiel mühsam in Schach. Er starrte das Kreuz an und murmelte eine Beschwörung in einer mir völlig unbekannten Sprache. Das Holzkreuz fing plötzlich zu brennen an. Ich mußte es fallen lassen. Hinter mir geiferte und wütete die Blutgräfin. Sie sprang mir auf den Rücken, umklammerte mich mit Armen und Beinen und würgte mich. Unter der Last taumelte ich einen Moment. Dann ging alles schnell. Geistesgegenwärtig warf Pit Langenbach das Silberkreuz, als Samiel den Mund aufriß, um wieder Flammenwerfer zu spielen. Der Teufel verschluckte sich an dem Kreuz. Er krümmte sich fürchterlich. Als er es endlich ausspuckte, hatte er zu brennen aufgehört und war zusammengeschrumpft. Er war höchstens noch einssiebzig groß. Ich setzte ihm mit Beschwörungen zu und schüttelte die Blutgräfin ab. Dann riß ich den armenischen Dolch aus der Sporttasche. Mein Ring leuchtete hell. Ich stach mit dem Dolch zu und hackte nach Samiel. Er sprang hin und her und wich aus. Doch dann haute ich ihm mit einem raschen Schlag des Dolches den Teufelsschwanz ab. Die Klinge funkelte dabei bläulich. »Oi!« plärrte Samiel. »Das werde ich Lucifuge Rofocale sagen.« Den Höllenkaiser würde es wenig interessieren, falls er sich überhaupt herabließ, mit dem Unterteufel Samiel zu sprechen. Ein letzter Bannspruch von mir, und Samiel verschwand ohne Schwanz als ein Blitz aus der Grotte. Durch einen Spalt in der Decke fuhr er aus. Pit und ich atmeten auf, so gut das in der heißen, stickigen, von Samiels Ausdünstungen verpesteten Luft möglich war. Rasch überwältigten wir die Blutgräfin und fesselten sie mit Stricken.
Dann befreiten wir das Mädchen, das ihr Opfer hatte werden sollen. Die Kleine nannte uns ihren Namen: Jenny Harig. Wir verließen alle die Höhle und husteten dabei kräftig. Die Blutgräfin starrte mich in der Schlucht vor der Teufelsgrotte mit rotglühenden Augen an. »Was willst du tun, um mich aus diesem Körper zu vertreiben?« fragte sie. »Entweder bringst du ihn um, um mich daraus zu vertreiben, oder du mußt ihn mir lassen.« Sie lachte mich höhnisch an. * Inzwischen war es dunkel geworden. Wir stiegen durch die Schlucht hinunter. Die sechzehnjährige Jenny Harig bedankte sich ein ums andere Mal für ihr Rettung. Samiel hatte sie einfach von der Straße entführt, als sie mit dem Fahrrad nach Hause gefahren war. Er hatte sie weggezaubert, das Fahrrad lag irgendwo. Die Sechzehnjährige hatte sich plötzlich in der Grotte wiedergefunden und Todesängste ausgestanden. Samiel kehrte nicht zurück. Auch Mephisto, sein Herr und Meister, mit dem ich noch ein Hühnchen zu rupfen hatte, ließ sich nicht blicken. Im Wald angelangt, banden wir die Blutgräfin an einen Baum. Die Sporttasche hatte ich mitgebracht. Wir steckten die Fackeln in Pentagrammform in den Boden. Die mehrfarbige Kreide, um damit Linien zu ziehen, konnte ich auf dem Waldboden nicht einsetzen. Es mußte reichen, daß ich die Linien mit der Schuhspitze durchs dürre Laub und ins Moos zog. Die sechzehn Pechfackeln brannten, als ich der Blutgräfin den magischen Ring an die Stirn preßte, eine Beschwörung sprach und Tessas Namen rief. Vorher hatte ein leichter Wind geweht. Jetzt brauste es in den Lüften. Baumwipfel bogen sich, Äste wurden gezaust und geschüttelt. »Über den Abgrund der Zeit, durch die Ewigkeit, kehre zu mir zurück, Tessa Hayden!« rief ich. Die Blutgräfin krümmte sich. Doch sie blieb in dem Körper von Tessa. Jetzt aktivierte ich den Ring an meinem Hexenmal an der Brust. Mit dem kurzen Laserstrahl schrieb ich Tessas Namen auf ihre Stirn und in die Herzgegend. Dazu zeichnete ich ein Kreuz. Die leuchtenden Buchstaben blieben stehen. Schreckliches Geschrei drang aus Tessas Mund. »Fahr aus von ihr, Blutgräfin!« befahl ich. »Böser Geist, ich verbiete dir, diesen Körper noch länger mit deiner Gegenwart zu besudeln. - Elisabeth Bathory, kehre zurück in den Schoß der Hölle, der dich ausgespien hat! Fahre aus!«
Dreimal wiederholte ich die Beschwörung. Tessa riß weit den Mund auf. Die Baumwipfel bogen sich, und es rauschte und brauste, als ob die Wilde Jagd darüber hinwegfahren würde. Die Blutgräfin spuckte mir grünen Schleim ins Gesicht. Ich wischte ihn ab und zeigte ihr ein Holzkreuz. »Das nutzt dir auch nichts, unreiner Geist! Hebe dich hinweg!« Pit Langenbach stand im Hintergrund, Jenny Harig ein Stück entfernt. Sie wagte nicht, herzusehen. Ich wies Pit an, zu ihr zu gehen und sie mit dem Kreuz zu schützen, was er sofort tat. Der Geist der Blutgräfin verließ Tessas Körper. Er war unsichtbar. Ich spürte, daß er davonjagte, in anderen Dimensionen verschwand und in die Hölle zurückkehrte. In meinem Gehirn vernahm ich die Botschaft: »Wir sehen uns wieder, Mark Hellmann.« Dann war es vorbei, der böse Geist ausgetrieben. Der Exorzismus hatte mich viel Kraft gekostet. Abermals rief ich Tessa. Das Sausen und Brausen hatte aufgehört. Die Mondsichel stand am Himmel, und die ersten Sterne leuchteten. Tessa lächelte plötzlich. Überglücklich fiel sie mir um den Hals und küßte mich heftig, obwohl noch, mit dem Ringstrahl geschrieben, leuchtend ihr Name auf ihrer Stirn und in der Herzgegend stand. »Mark!« rief sie. »Ich bin wieder da. Du hast es geschafft, ich bin wieder in meinem Körper, im Jahr 1998.« Daß sie Pit Langenbach sah, verriet es ihr. »Gott sei Dank. Ich fürchtete schon, ich müßte in der Vergangenheit bleiben.« Ich drückte Tessa an mich. In dem Moment faßte ich alle möglichen guten Vorsätze für die Zukunft mit ihr. »Ja, Tessa«, sagte ich. »Wir haben es geschafft. Du bist wieder in deiner - in unserer Zeit. Mephisto und die Blutgräfin irrten sich, als sie sprachen, das würde nicht möglich sein. Auch die Hölle ist nicht unfehlbar. Wie ist es im Jahr 1912 ausgegangen, mit den Kindern von Lorena Manderley und ihrer Trennung von ihrem Mann? Gehörte Lord Peter zu den Überlebenden der >Titanic« »Nein. Laß uns nach Hause gehen. Den Rest werde ich dir später erzählen.« Wir verließen die Grotte. Den Teufelsschwanz ließen wir liegen. Durch die Schlucht gingen wir zu meinem BMW. Ich hielt Tessa bei der Hand, heilfroh, sie wiederzuhaben. Pit Langenbach stützte die sechzehnjährige Jenny, die sich in der Grotte, wo ihre Kleider gelegen hatten, wieder angezogen hatte. Die Sechzehnjährige war völlig fertig. »Was soll ich denn nur meinen Eltern erzählen, wo ich gewesen bin und was da passierte?« fragte sie, als wir dann in meinem BMW saßen. »Was wirklich geschah, werden sie mir niemals glauben.« Wir überlegten uns einen Ausweg. Es machte tatsächlich wenig Sinn,
Jennys Eltern in die unheimliche Geschichte einzuweihen, zumal das Mädchen keinen Wert darauf legte. Das einzige, was sie interessierte, war, daß sie so etwas nicht noch einmal erleben mußte. Ich war überzeugt, das das klappen würde, denn sie war ein zufälliges Opfer gewesen. Da Jennys Eltern ihr wohl nicht glauben würden, schlug Pit Langenbach vor, den Eltern nur einen Teil der Wahrheit zu sagen. Jenny Harig sollte ihnen eine Entführungsgeschichte auftischen, sie wäre von einem Irren mit Teufelsmaske gekidnappt und im Auto in die Teufelsgrotte verschleppt worden. Die Polizei hätte sie dann befreit. Hauptkommissar Pit Langenbach würde diese Geschichte als Amtsperson bestätigen. Da man keinen Verhafteten vorweisen konnte, würde er angeben, der Täter sei entkommen, nach ihm würde gefahndet. Pit hielt diese Version für gerechtfertigt, zumal sich die blonde Sechzehnjährige nicht lange in der Gewalt des Unterteufels Samiel befunden hatte. Die Schreckenstage von Weimar (Siehe Mark Hellmann Band 1) hatten genug Aufsehen erregt. Seitdem war wieder Ruhe eingekehrt im tausendjährigen Weimar, das Kultur und Geschichte in den letzten Jahrhunderten geprägt hatte, wie man es bei einem Städtchen dieser Größe nicht hätte erwarten sollen. Goethe und Schiller hatten hier gewohnt und bedeutende Werke geschaffen. Herder, Franz Liszt, der Maler Cranach hatten in Weimar gewohnt. Weimar war die Wiege der ersten parlamentarisch-demokratischen Staatsform Deutschlands, der Weimarer Republik. Der Bauhaus-Stil war in Weimar entstanden und hatte 1919 eine Revolution in Architektur und Kunst ausgelöst. Die Gründung der Weimarer Republik hatte im selben Jahr stattgefunden. Bis 1933 hatte die krisengeschüttelte und niemals stabile Weimarer Republik bestanden. Und war vom Nationalsozialismus abgelöst worden. Dieser Weg führte in die Katastrophe und endete mit der Teilung Deutschlands. Nach scheinbar endlosen Querelen, nach Kaltem Krieg und fürchterlichem Konkurrenzkampf zwischen beiden deutschen Staaten kam es dann doch noch zur Wiedervereinigung. Der Traum vieler Deutschen, war somit erfüllt worden, und irgendwann würde alles immer noch irgendwie Trennende verschwunden sein. Die Zeit heilte alle Wunden. Weimar war also eine kleine Stadt mit großer Vergangenheit und Bedeutung. Jetzt lebte ich dort, nach Goethe, Schiller und den anderen Geistesgrößen. Bedeutende Werke in Kultur und Dichtung würde ich nie hervorbringen. Doch ich war Träger des Rings und Kämpfer gegen das Böse in seiner unheimlichen, übernatürlichen Form. Das war auch etwas, das von Weimar ausging.
Pit Langenbach nahm Tessa mit ins Polizeipräsidium, wo er alles weitere regeln wollte. Tessa suchte kurz ihre Wohnung auf. Ich wartete gähnend im Auto. Das Titanic-Abenteuer hing mir noch nach. Ich war psychisch vollkommen ausgelaugt und völlig erschöpft. Nach einer Weile erschien Tessa wieder, im Übergangsmantel und mit einem Köfferchen unter dem Arm. Wir fuhren zu meiner Wohnung in der Florian-Geyer-Straße. Mein Hauswirt, der despotische kleine Sachse, ließ sich nicht blicken, was mich sehr freute. Er gehörte zu jenen Menschen, die am angenehmsten sind, wenn man sie nicht sieht. Der Schrecken, den Mephisto ihm in meiner Wohnung eingejagt hatte, steckte ihm noch in den Knochen. Der Hauswirt hieß übrigens Arthur Stubenrauch, ein zu ihm passender Name. Wenn er auftauchte, rauchte es in der Hütte und war dicke Luft angesagt. Stubenrauch schwärmte übrigens heute noch von der Zeit, als er ein schneidiger Vopo-Unteroffizier gewesen war, wobei er sich nicht entblödete zu sagen, damit sei er weiter als Hitler gekommen. Der wäre nur Gefreiter gewesen. Stubenrauchs ständige Redewendungen begannen mit »Unter Ulbricht (oder auch Honecker) hätte es das nicht gegeben. Früher war alles besser. Die Wende hat uns nur Unheil gebracht. Wir sind an den Kapitalismus verkauft und verraten worden«. Er vergaß dabei, daß er beim Sozialismus niemals ein Mietshaus hätte sein eigen nennen dürfen. Ich ging diesem Stammtischschwafler nach Möglichkeit aus dem Weg und gab ihm, wenn überhaupt, mit Vorliebe dumme Antworten. In meiner Wohnung legte Tessa den Mantel ab. Bis auf die hohen Stiefel, die sie trug, war sie nackt darunter. Sie leckte sich über die Lippen. »Jetzt wollen wir einmal sehen, ob du mich liebst oder die andere, Mark.« »Welche andere?« »Lorena Manderley. Du warst hingerissen von ihren vollen Brüsten und sinnlichen Formen.« Ich hatte Tessa auf der »Titanic« in der Gestalt Lorena Manderleys geliebt, in deren Körper ihr Geist gewesen war. Der Komplex wegen ihr kleinen Apfelbrüste war Tessa nicht auszutreiben. Sie hatte schon Busenvergrößerungen durch Silikon-Implantate erwogen, doch ich hatte ihr stets energisch abgeraten und sie dann immer halbwegs überzeugen oder überreden können. Ich gab mir viel Mühe, Tessa an diesem Abend zu erzählen, daß sie die Schönste und Beste sei. Nach Mitternacht konnte ich dann endlich schlafen. In Tessas Armen vergaß ich endlich die »Titanic« und verlor die Todeskälte, die ich psychisch immer noch spürte, aus meinen Gliedern.
Tessas Wärme, Sinnlichkeit und Zärtlichkeit halfen mir dabei. Sie brachte mich, von dem ein seelischer Teil noch immer im eiskalten Ozean schwamm, von im Todeskampf Schreienden umringt, in die Gegenwart zurück. Ich konnte mich endlich seelisch von dem Schock und der Todesangst befreien, die in mir noch nachwirkten. Ich weinte in Tessas Armen im Gedenken an die Opfer der »Titanic« und schämte mich dieser Tränen nicht. In dieser Nacht kamen wir uns so nahe wie noch niemals zuvor. Am Morgen beim Frühstück beschlossen wir, meinem schönen Heimatstädtchen Weimar für ein paar Tage den Rücken zu kehren. Wir wollen auf der Insel Usedom Urlaub machen, wo Tessas 27jährige Schwester Annette mit ihrem Ehemann Uwe und den zwei Kindern im Strandbad Bansin wohnte. Dort wollten wir uns erholen. Dank ihrer guten Beziehungen zu ihrem Vorgesetzten Pit Langenbach hatte Tessa keine Probleme, den Urlaub genehmigt zu bekommen. Ich brauchte sowieso niemanden zu fragen, mich nur bei meinen Adoptiveltern und ein, zwei Freunden abzumelden. Wir packten, stiegen in meinen BMW und fuhren nach Norden. »Jetzt werde ich endlich das tun, was ich schon eine Weile vorhabe«, sagte ich unterwegs zu Tessa. »Und das wäre?« »Klaus Störtebekers Schatz suchen und heben«, antwortete ich. »Du weißt, daß ich Störtebekers Maat gewesen bin.« (Nachzulesen in MH 9) »Das werde ich nie vergessen«, sagte Tessa und erschauerte. »Du erwähntest schon einmal, Klaus Störtebeker hätte dir im Jahr 1401 genau beschrieben, wo er auf der Insel Usedom einen riesigen Schatz versteckte.« »So ist es. Wir werden reich, Tessa, unverschämt reich! Wir werden teure Reisen machen, dicke Autos fahren und und und.« »Männer sich doch alle große Kinder«, sagte Tessa. »Sie sind Träumer und brauchen viel Spielzeug. - Finde erst mal Störtebekers Schatz, dann sehen wir weiter. - Apropos Spielzeug. Hast du noch mal Kontakt mit Lorena Manderley gehabt, ehe ich dich in die Gegenwart zurückholte?« »Ja, an Bord der >Carpathia<. Zweimal.« Tessa hatte im Körper der aufregend gebauten blonden Lorena dominiert und mit Lorena, deren Geist abgekapselt war, Verbindung aufnehmen können. »Lord Peter, ihr Gatte, ist beim Untergang der >Titanic< ums Leben gekommen. Lorena, die sich ohnehin von diesem brutalen und üblen Patron trennen wollte, konnte nicht um ihn trauern. Zunächst wollte sie mit ihren zwei Kindern in den USA bleiben. Über die weitere Zukunft war sie sich noch nicht im klaren. Aber ich glaube nicht, daß sie besondere Probleme hat, und ich spüre, daß
sie in ihrem Leben glücklich wurde.« Jetzt, 1998, war Lorena, die 1912 beim Untergang der »Titanic« fünfundzwanzig gewesen war, schon viele Jahre tot. Es war für mich seltsam, mir diese blühende, bildschöne junge Frau, deren Körper ich an Bord der »Titanic« in meinen Armen gehalten hatte, als Greisin vorzustellen. Lorena war 1887 geboren, ich 1970. Ganz würde ich mich an die Folgen der Zeitreise nie gewöhnen können. Gegen Abend erreichten wir Bansin. Das Seebad lag an der Ostseite der Insel Usedom, die Landschafts- und Vogelschutzgebiet war. Die Badesaison war vorbei, die Strandkörbe verschlossen und zusammengestellt. Die Brauns, wie Tessas Schwester und ihr Mann hießen, stellten uns ihr Gästezimmer zur Verfügung. Es war schon dunkel, als ich den BMW bei dem nicht mehr ganz neuen Bungalow der Brauns abstellte. Ich trug das meiste Gepäck. Tessa hatte die angenehme Angewohnheit, nicht mit Riesenkoffern zu verreisen. Uwe Braun, Studienrat, ein großer, schlaksiger, bärtiger Anfangsdreißiger mit randloser Brille, öffnete uns und begrüßte uns freundlich. Er war dunkelblond, ein passionierter Naturschützer, antiautoritär, PDS-Mitglied. »Hat es euch auch wieder einmal hierher verschlagen?« fragte er. »Kommt rein, zieht euch aus und hängt euch auf. Annette wartet schon mit dem Essen.« Er meinte, wir sollten die Jacken ausziehen und aufhängen. Die schwarzhaarige, dralle Annette meldete sich aus der Küche. Die Kinder Christian, vier, und Ines, drei, schliefen natürlich noch nicht, weil Besuch eintraf. Wir begrüßten sie alle, aßen von dem Labskaus, den Annette zubereitet hatte, plauderten ein wenig und gingen dann früh ins Bett. Tessa ließ sich im Bad Zeit. Ich wurde immer müder und nickte ein, was sonst nicht meine Art war. Eine Berührung an der Schulter weckte mich. Ich sah Tessa in schwarzer Reizwäsche vor mir. »Bist du in Trauer?« fragte ich, was ich für lustig hielt, Tessa jedoch überhaupt nicht komisch fand. Sie schmollte, bis ich sie in die Arme nahm und allmählich auftaute. Dann schlief ich ein. Ich träumte, ich sei wieder an Bord des »Roten Teufels«, wie Störtebekers Schiff getauft worden war. Ich saß mit dem löwenmähnigen, bärtigen Anführer der Vitalienbrüder, wie jene Piraten geheißen hatten, bei einem Krug Holsteiner Bier in seiner Kapitänskajüte. Wir hatten, als wir zusammen segelten, gut miteinander gekonnt, wie man landläufig sagte. Wir waren Freunde gewesen. Noch heute schmerzte es mich, wenn ich daran dachte, wie Störtebeker am 23. Oktober 1401 auf der Hamburger Elbinsel Brook mit dem Schwert enthauptet worden war. An fünf seiner Vitalienbrüder, darunter auch mir, war er noch ohne Kopf
vorbeigegangen, bis ihm der perfide Henker, der sich um sein Geld gebracht sah, einen Holzblock vor die Füße warf. Da war der Kopflose gestürzt und nicht mehr auf die Beine gekommen. Mir und den vier anderen Piraten hatte seine übermenschliche Leistung das Leben gerettet. Der Rat der Freien und Hansestadt Hamburg hatte uns freigelassen, wie es der Absprache mit Störtebeker entsprach. Jenen Scharfrichter, einen gewissen Rosenfeld, hatte ich eine Weile danach abgepaßt, ordentlich vermöbelt und in eine Fäkaliengrube geworfen, als Rache für seine perfide Tat und weil er mir meinen Ring gestohlen hatte. Den holte ich damals wieder. Danach war ich in die Gegenwart zurückgekehrt. Jetzt träumte ich also, und im Traum sah ich Störtebeker - »Gottes Freund und aller Welten Feind«, wie er sich manchmal genannt hatte. Störtebeker stieß mit mir an. Er war immer ein froher und trinkfester Zecher gewesen. Und er hatte den richtigen Namen. Stürz den Becher bedeutete er. »Mark«, sagte er, »noch bist du es nicht würdig, meinen Schatz zu besitzen. Ehe ich dich damals in meine Mannschaft aufnahm, mußtest du drei Proben bestehen. Diesmal ist es nur eine. Eine große Gefahr droht den Bewohnern der Insel Usedom und nach ihnen allen, die die Ostsee befahren. - Suche das versunkene Schiff, finde mein Schwert und das Tor des Schreckens. Beseitige das Verderben. Nur wenn dir das gelingt, wirst du den Schatz erhalten.« »Klaus«, sagte ich, »ich bin noch niemals besonders geldgierig gewesen. Mehr als eine Hose kann ich nicht anziehen, von einer Portion Essen werde ich satt, und die habe ich. Wenn du willst, daß ich dem Schrecken entgegentrete, falls da einer ist, tue ich dir sofort den Gefallen. Geld und Gold sind dabei zweitrangig.« »Gut gesprochen. So habe ich dich eingeschätzt. Einmal kann ich dir helfen, wenn du in größter Gefahr bist. Wir sind Blutsbrüder und Freunde. Selbst aus den Feuern der Hölle werde ich kommen; kein Paradies kann mich halten, wenn es dir beizustehen gilt, Mark. - Jetzt schau dir die Karte an, wo du das Schiff des Verderbens findest.« Ich sah eine handgezeichnete Karte und hörte Störtebekers exakte Schilderung von der Position des versunkenen Schiffs. »Er, der sein Unwesen treiben will, hier und in fünf anderen Meeren, hat eine Stadt auf dem Grund des Ozeans«, berichtete Störtebeker. »In der Nähe des größten Passagierschiffs aller Zeiten, das auch das Schiff der Träume genannt wurde, ist sie. - Sei auf der Hut, Mark. Der Feind ist sehr mächtig.« Was er von dem Grund des Ozeans und dem größten Passagierschiff aller Zeiten gesagt hatte, traf auf die »Titanic« zu. Ich fragte Störtebeker direkt.
Er antwortete ausweichend. »Ich habe in einer Zeit gelebt, in der die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer wurden. In der Unterdrückung und Tyrannei an der Tagesordnung waren und Ehrlichkeit und Anstand ins Hintertreffen gerieten. - Da habe ich aufbegehrt.« Störtebeker sprach zeitlose Worte. Sein trotziges, störrisches Herz und sein edler und mutiger Sinn hatten ihn auf den Weg geführt, den er dann letztendlich gegangen war. Bis er durch Verrat gestellt und überwältigt durch das Schwert endete. Er winkte mir zu. Die Umgebung verschwamm. Als ich erwachte, lag ich neben Tessa im Gästezimmer, spürte ihre warmen, weiblichen Formen und hörte ihren regelmäßigen Atem. Ich steckte wieder mitten in einem übernatürlichen Abenteuer. Anscheinend brauchte mich jeder, um ihm die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Erst Mephisto, jetzt Störtebeker. Wobei letzterer selbstlos handelte und nicht mehr in der Lage war, so wie ich selbst aktiv zu sein. * Am folgenden Tag tauchte ich mit Tessa im Neoprenanzug in der Pommerschen Bucht. Mit Sauerstoffflaschen auf dem Rücken und bleibeschwerten Gürteln schwammen wir in achtzig Meter Tiefe über dem Meeresboden. Die Lichtstrahlen unserer Helmlampen fraßen sich in die Dunkelheit. Wir waren beide geübte Sporttaucher, auch Tessa hatte einmal dieses Hobby gehabt. Obwohl ich damit rechnete, staunte ich doch, als das Wrack auf dem Meeresgrund vor uns erschien. Der mittlere Mast des Holks war abgebrochen, und er lag schräg hin zur Steuerbordseite, war mit Muscheln und Tang überwuchert. Ich gab Tessa ein Zeichen mit der Hand. Mit rudernden Bewegungen der Schwimmflossen tauchten wir zu dem Wrack, die Harpune in der Hand, das Tauchermesser am Gürtel. Denn Störtebeker hatte von einer Gefahr gesprochen. Über dem Wrack verharrten wir. Es lag genau an der Stelle, die mir Störtebeker seemännisch exakt genannt hatte. Da ich mit Gefahr rechnete, hatte ich die Harpunen und Tauchermesser bereits mit meinem magischen Ring behandelt und in schwach silbrig glänzende Waffen verwandelt. Mein Ring leuchtete plötzlich auf! Gefahr hieß das. Ich zeigte ihn Tessa und vollführte Gesten, um ihr die weiteren Schritte mitzuteilen. Tessa nickte. Sie mochte gelegentlich ihre Launen haben, der ausgeglichene, immer gut aufgelegte Typ war sie nicht. Aber sie war eine erstklassige Gefährtin, auf die man sich bei Gefahr verlassen konnte.
Tessa sicherte mit schußbereiter Harpune, während ich zum Deck hinunterschwamm. Im Schein meiner Helmlampe sah ich einen rostigen, schlicküberzogenen Brustpanzer, den ein Schwert an den Mittelmast nagelte. Störtebeker hatte mir von diesem Kampf erzählt. Er hatte mit seinem »Roten Teufel« einen Hamburger Hanse-Holk angegriffen, dessen Kapitän als besonders grausam galt. Dieser Käpten pflegte gefangenen Piraten die Augen ausstechen und ihnen die Zunge herausreißen zu lassen, ehe er sie über die Planke schickte. Oder er brachte sie, in Heringstonnen übereinandergestapelt, zur weiteren Aburteilung in die Hansestadt Hamburg. Das letztere konnte nur geschehen, wenn er schon auf der Rückfahrt war. Sonstwohin mitnehmen und durchfüttern tat er sie nicht. Störtebeker hatte mit jenem Kapitän Adrian Brodersen einen furchtbaren Kampf geführt, während das von Kanonen zerschossene und vom »Roten Teufel« gerammte Hanseschiff bereits unterging. Endlich hatte Störtebeker, aus vielen Wunden blutend, mit einem furchtbaren Streich dem Brodersen die Schulter zerhauen. Und dem Wankenden dann in seinem Zorn sein Schwert durch und durch gerammt, daß es durch den Brustpanzer Brodersens tief in den Mast drang. Störtebeker hatte das Schwert nicht mehr herausziehen können und es gerade noch geschafft, das sinkende Hanseschiff zu verlassen und auf sein Schiff zurückzukehren. Ich schwamm auf die Klinge zu, packte den Griff und wischte ihn ab. Einen Moment war ich abgelenkt, weil ich mich nur auf den handwerklich schön gearbeiteten Schwertgriff konzentrierte. Die Parierstange war leicht nach hinten gebogen und am Ende geteilt. Am Anfang war die Stahlklinge, die ich sah, mit Ziselierungen versehen. Das war Störtebekers Schwert »Mannenköpper«, das er immer bei sich getragen hatte. Da er es bei dem Kampf gegen Kapitän Brodersen verlor, hatte er sich ein anderes anfertigen lassen, das genauso aussah. Dieses, das er genauso nannte, hatte ich bei ihm gesehen, als ich als sein Maat mit ihm gefahren war. Mit Störtebekers Mannenköpper hatte ich einmal die Klingen gekreuzt, ehe ich in seine Mannschaft aufgenommen wurde und mit ihm zusammen den Fliegenden Holländer jagte. Jetzt war ich tief bewegt. Dann packte ich das Schwert Störtebekers am Griff, stemmte die Füße gegen den Mast und zog mit aller Kraft. Das Schwert löste sich. Vielleicht war ich stärker als Störtebeker, vielleicht spielten die Jahrhunderte, die der Mast im Wasser gelegen hatte, eine Rolle. Jedenfalls schwang ich das Schwert. Da brauste und wirbelte das Wasser. Ein Tor entstand, wie eine
schimmernde Tunnelöffnung. Aus ihr faßten lange Tentakel. Ich sah tellergroße Glotzaugen sowie einen riesigen Krokodilsschädel. Aus dem Tunnel, der sich wieder schloß, tauchten zwei alte Bekannte auf: SethSuchos, der Teufel vom Nil, dessen Ka ich in der Vergangenheit am Morgen des 15. April 1912 im eisigen Wasser bekämpft hatte. Und Destry, der Butler, wie ich ihn immer nannte. Jener Butler, den der Dämonengott in eine riesige, menschenfressende Krake verwandelt hatte. Die Ankündigung des Ka, der geflügelten Seele des Seth-Suchos, fiel mir ein, als ich ihm zuletzt begegnet war. »Ich aber werde eine Stadt auf dem Meeresgrund errichten und mir ein neues Reich gründen. Es soll ewig währen.« Seth-Suchos schien seinen Plan verwirklicht zu haben, in welchem Umfang, wußte ich nicht. Jetzt schickte er Fühler aus und suchte neue Wege, um unter anderem auch in der Ostsee sein Unwesen zu treiben, wie mir Störtebeker im Traum gesagt hatte. Der Krake wollte mich packen. Ihm fehlte ein Arm, und er wies alte Narben auf, die ich ihm auf der »Titanic« zugefügt hatte. Eines seiner Augen war trübe. Er war aber noch größer und wilder geworden. Tessa schwamm herbei. Wir schossen unsere leuchtenden Harpunenpfeile in Seth-Suchos' »Butler« hinein. Der Krake krümmte sich. Ich warf mein Tauchermesser nach Seth-Suchos. Verächtlich fegte es der Dämonengott zur Seite. Mit einem breiten und langen, rotschimmernden Schwert in der Hand schwamm er auf mich zu. Mir blieb gerade noch genug Zeit, Störtebekers Schwert mit meinem Ring in eine magische Waffe zu verwandeln. Plötzlich konnten wir durch seine Magie auf dem glitschigen, schrägliegenden Deck des gesunkenen Holks kämpfen, als ob es an der Oberfläche gewesen sei. Tessa schoß abermals auf den »Butler«, den SethSuchos mit gebieterischem Wink auf sie hetzte. Sie schwamm, ebenso der Killerkrake. Ich sah, wie der Krake Tessa mit seinen Fangarmen umschlang und sie durchs Wasser wirbelte. Der Strahl von Tessas Helmlampe zuckte umher. Ihr Tauchermesser blitzte. Dann hatte ich alle Hände voll zu tun, gegen Seth-Suchos zu kämpfen. Unsere Klingen klirrten. Mehrmals rutschte ich auf dem glitschigen Deck ab und mußte aufpassen, von Seth-Suchos nicht einen Kopf kürzer gemacht zu werden. Die Harpune hatte ich längst verloren. Mit Störtebekers Schwert kämpfte ich einen furchtbaren Kampf gegen den Dämonengott und wurde mehrfach verwundet. Dann geschah es! Ich rutschte am Vorderdeck aus, fiel auf den Rücken, und Seth-Suchos, in der Gestalt eines übergroßen Mannes mit einem Krokodilskopf, altägyptisch bekleidet, stand über mir und holte mit
dem Schwert aus. Mein Schwert war weg. Ich wäre verloren gewesen. Doch da entstand ein leuchtender Schein. In diesem Glanz, der Seth-Suchos blendete und sich abwenden ließ, erkannte ich Störtebeker, mit Bart, Löwenmähne, goldener Halskette und Wams, mit trotzigem Blick, wie ich ihn im Gedächtnis hatte. Er hob die Hand gegen Seth-Suchos. »Selbst aus den Feuern der Hölle werde ich kommen, kein Paradies kann mich halten, wenn es dir zu helfen gilt«, klang es in meinem Gehirn. Und: »Ringträger, steh auf!« Ich gewann neue Kraft unter Klaus Störtebekers Griff, sprang auf, packte den Mannenköpper und haute mit aller Kraft auf den Dämonengott ein. Mein zuvor erlahmter Arm, vom Parieren der furchtbaren Schwerthiebe des Teufels vom Nil kaum noch brauchbar, war voller Kraft wie zuvor. Wir kämpften unter Wasser, sonst wären die Funken gesprüht. »Hau ihm den Schädel herunter, Mark!« hörte ich Störtebekers Stimme in meinem Gehirn. Ich sah nur noch einen schwachen Schein aus dem Augenwinkel, Klaus erblickte ich nicht mehr. Ich trieb Seth-Suchos zum Achterschiff. Als ich eine Lücke in seiner Deckung bemerkte, täuschte ich, griff beidhändig die Klinge und führte einen gewaltigen Hieb. Störtebekers Schwert trennte Seth-Suchos den Krokodilskopf vom Rumpf. Der Rumpf löste sich zuckend auf. Ich hatte eine Vision von einer fernen Unterwasserhöhle, die seltsam grünlich schillerte. Im Hintergrund befand sich eine Öffnung, durch die Licht hereindrang. Die Wände sahen aus wie aus dunkelgrünen Blasen oder auch Schlangenschuppen. Die Form von der Höhle war unregelmäßig, wie im Innern eines Körpers. Im Vordergrund befand sich eine bildschöne, blonde, fast nackte Frau mit wohlgeformten, großen Brüsten, für die ich ein Faible hatte. Sie trug nur einen knappen Tangaslip. Unter ihr lag eine tote Schlange, aus deren Rippen sie sich emporschälte. Oder war sie aus dieser Schlange gekrochen, in einer unheimlichen, seltsamen Häutung? Die Schöne stützte die linke Hand auf ein Schwert, Kronen und Schmuckstücke, die wohl irgendwas mit Störtenekers Schatz zu tun hatten. Die rechte Hand war in dunkles Wasser getaucht, das leicht widerspiegelte, was es zu sehen gab. Die Frau hatte blaue Augen. Blut tropfte von ihrem Mund auf diese herrlich anzuschauenden Brüste und auf den Hals der scheinbar toten Schlange. Diese Frau war sehr schön. Sie schien mich direkt anzusehen. Ein Flüstern drang mir ins Gehirn. »Ich bin Boadicea, und ich warte auf dich in der Stadt auf dem Meeresgrund, viele Tausend Jahre schon. Wir werden uns sehen, Geliebter.«
Aus ihrem Mund klang das Wort Geliebter wie eine Drohung, ähnlich der jener Spinnenweibchen, die ihre Männchen nach der Paarung auffraßen. Das Bild löste sich auf. Der Tunnel, durch den Seth-Suchos und sein »Butler« gekommen waren, entstand nicht wieder. Ich nahm nun mein Tauchermesser vom Deck und nagelte Seth-Suchos' Krokodilskopf, der zu einem Skelettschädel geworden war, an den Mast. Genau an der Stelle, wo sich zuvor der rostige Brustpanzer befunden hatte. »Gut gemacht, Maat«, hörte ich Störtebekers Stimme in meinem Gehirn. Das bedeutete mir mehr als ein Orden. Der Lichtschimmer verschwand. Störtebekers Geist, der mein Leben gerettet und ausgeführt hatte, was er mir 1401 in einer Weinlaune an Bord seines Freibeuterschiffs versprach, verschwand. Mit dem Schwert schwamm ich zu Tessa, die heftig gegen den »Butler« kämpfte. Ich haute der Killerkrake vier Arme ab und zerteilte ihr dann den Schädel. Tot fiel sie auf den Meeresgrund. Die Fangarme zuckten noch eine Weile wie Schlangenleiber. Tessa lächelte hinter dem Sichtfenster des Froschmannhelms und machte tapfer das V-Zeichen. Wir tauchten auf und stiegen ins Motorboot, das Uwe Braun, ihr Schwager, steuerte. Als er wegen unserer zerfetzten Neoprenanzüge und Verletzungen fragte, sagten wir, das würden wir ihm später erklären. Ich legte Störtebekers Schwert ins Motorboot. »Hast du Seth-Suchos jetzt endgültig erledigt?« fragte Tessa. »Dank Störtebeker, ja«, antwortete ich und war davon überzeugt. * Der Rest ist schnell erzählt. Störtebekers Schatz im Norden von Usedom zu finden, war keine Kunst, nur viel Grabarbeit. Es gab einen riesigen Medienrummel. Ich kam in die Presse, ins Fernsehen und wurde zu Talkshows eingeladen und als Entdecker von Störtebekers Schatz gefeiert. Als ehrlicher Finder. Ich bezeichnete mich als Reporter, Altertumsforscher und Okkultisten. Punktum. Auch die Entdeckung des Wracks auf dem Meeresgrund, vor allem der riesige Krokodilsschädel, den man an den Mast genagelt fand, und die Überreste der Riesenkrake warfen zahlreiche Fragen auf. Ich beantwortete sie nicht. Mit den Meck-Pomms, den Beamten von Mecklenburg-Vorpommern, Kuratorium für Denkmalspflege, Landesmuseumsamt und der Landesregierung hatte ich eine Menge Ärger. Störtebekers Schwert durfte ich behalten. Das rückte ich nicht heraus. Doch den Schatz kassierte die Landesregierung als Landesherr und Grundeigner.
Zehn Prozent davon sprach man mir zu und wollte in Raten zahlen. Wegen der angespannten Haushaltslage. Gutachten waren nötig, um den genauen Wert des Schatzes zu bestimmen. Doch das gehört mit zu anderen Geschichten. Mannenköpper hängte ich bei mir in der Wohnung an die Wand. An der anderen Wand hing ein großes Bild von der »Titanic« gleich nach dem Stapellauf. Wenn ich das Schwert betrachtete, glaubte ich, das Brausen des Windes zu hören, die Seeluft zu riechen und die Planken von Störtebekers Schiff unter den Füßen zu spüren. Ich erinnerte mich an den Kampf, an Stürme und die Romantik der Seefahrt mit dem großen Piraten. Über Wogengebraus klangen mir seine stolzen Worte im Ohr: »Gottes Freund und aller Welten Feind.« Und ich hatte die Ahnung, Störtebekers Geist nicht zum letzten Male begegnet zu sein.
ENDE Dichter Nebel waberte über den Asphalt der Greifswalder Brüggestraße. Ein Leichenwagen fuhr vor dem Haus mit der Nummer 38 vor, und zwei Herren vom Bestattungsinstitut Knobus stiegen aus. Sie läuteten bei der Familie Keick, die erst vor drei Wochen dort eingezogen war. Angela Keick öffnete die Tür. und die Männer erklärten, sie kämen, um die sterblichen Überreste ihres Gatten abzuholen. Da erlitt Frau Keick einen Schreikrampf, denn ihr Mann erfreute sich bester Gesundheit. Er war gerade im Badezimmer. Ob er sich wirklich dort befindet und noch lebt, erfahren alle Leser des >C.W. Bach<-Romans
Der Todesbote von Greifswald In diesem 16. Band der noch jungen Gruselserie begeben wir uns mit dem Autor auf die Fährte des Schwarzen Drak. Das ist ein Kastenteufel, der nach ewigen Zeiten wieder das Licht der Freiheit sofort für höllische Zustände sorgt…