Thorin Band 10 Der Schatz von Samorkand von Al Wallon Der Drache herrscht in König Fodors Reich wer kann ihn besiegen?
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Thorin Band 10 Der Schatz von Samorkand von Al Wallon Der Drache herrscht in König Fodors Reich wer kann ihn besiegen?
Sie sind eine verschworene Gemeinschaft: eine junge, schöne Prinzessin, ein alter, weiser Magier, ein wilder Steppenkrieger und Thorin, der Nordlandwolf. Gemeinsam ziehen sie hinaus, um einen schrecklichen Feind zu besiegen - und am Ende ihres Weges wartet ein Preis, der ihre kühnsten Träume übersteigt. Aber dafür müssen sie Opfer bringen... * Irgendwann zwischen Mitternacht und Morgengrauen erhob sich der blonde Krieger von seinem Lager und blickte hinüber zu den Resten des schwach glimmenden Feuers. Es war still geworden in der einsamen Höhle am Ende der Welt. Thorin hörte nur das schwache Atmen der schlafenden Menschen, die in ihren Träumen zu vergessen versuchten, welch schlimmes Schicksal ihnen widerfahren war. Denn die jetzige Welt hatte nichts mehr gemein mit dem einst so vertrauten Leben... Sein Blick blieb etwas länger auf der schlafenden Gestalt von Lorys haften. Erst gestern hatte er sie nach einer Ewigkeit wieder gesehen und jetzt musste er schon Abschied nehmen. Aber das Schicksal das Nordlandwolfes war ein anderes als das der ehemaligen Fürstin von Samara. Ihm war es bestimmt, für die Mächte des Lichts zu kämpfen und alles dafür zu tun, die alte Ordnung wiederherzustellen - und genau das war die Aufgabe, die er sich gestellt hatte. Wehmütig wandte Thorin den Blick ab und griff nach dem Fellbündel, das er sich auf den Rücken schnallte - genau wie die blitzende Klinge des Götterschwertes Sternfeuer, die mittlerweile zu einem Teil seiner selbst geworden war. Dann erhob er sich lautlos von seinem Lager und schlich sich auf leisen Sohlen zum Höhlenausgang. Er wollte niemanden aufwecken, wenn er jetzt ging, sonst würde ihm der Abschied von seinem Volk noch schwerer fallen. Es waren die Letzten der Nordmänner, die hier in der Eiseinöde ihr kümmerliches Leben fristeten - in einer Schutzzone des Lichts, die von Mächten auf der Erde errichtet worden war, die noch über denen der ihm bekannten Götter und Dämonen standen. Eines dieser unbegreiflichen Wesenheiten war 4
Thorin während seiner Gefangenschaft in der Blase aus Licht und Energie kurz begegnet - er nannte sich FÄHRMANN und war älter als das Universum, über dessen Ausmaße und Entstehung Thorin bei dieser Gelegenheit zum ersten mal etwas erfahren hatte. All dies war so unfassbar, dass Thorin sich immer wieder fragte, ob all dies nicht nur Gespenster seiner wirren Träume gewesen waren, die ihn in dieser Zeit heimgesucht hatten. Aber dann wurde ihm klar, dass er zu den wenigen Sterblichen gehörte, denen es vergönnt war, einen winzigen Blick in die EWIGKEIT zu schauen. Er hatte den Höhlenausgang schon beinahe erreicht, als er plötzlich Schritte hinter sich vernahm. Thorin drehte sich um und erkannte die hagere Gestalt des alten Kriegers Trondyr, der wohl bemerkt hatte, dass sich Thorin einfach davonschleichen wollte. Der Blick des alten Mannes war eine Mischung aus Tadel und Kummer, weil er natürlich längst geahnt hatte, was Thorin tun wollte. »Ich weiß, dass du gehen musst«, sagte der Mann, der Thorin schon als Kind gekannt hatte. »Aber es schmerzt dennoch zu wissen, dass wir uns vielleicht nie mehr wieder sehen werden, Thorin.« »Wenn nicht in diesem Leben, dann doch am Sammelplatz der Kriegerseelen«, erwiderte Thorin daraufhin. »Ich muss jetzt gehen, Trondyr. Wirst du...« Er brach ab und überlegte kurz nach den passenden Worten, bevor er dann weiter sprach. »Wirst du mit Lorys sprechen und ihr sagen, dass ich nicht anders handeln konnte?« Er sah, wie Trondyr nickte. »Ich werde es tun«, versprach er Thorin. »Es ist schwer, zu begreifen, wenn höhere Mächte das Leben eines Sterblichen bestimmen. Lorys wird es sicher verstehen - wenn auch nicht sofort. Mach dir deshalb keine Sorgen, Thorin. Sie wird es einsehen - eines Tages...« Er ergriff Thorins Hand und drückte sie kurz, aber heftig. »Geh, Sohn unseres Volkes«, sagte Trondyr zum Abschied. »Wir werden alle für dich beten und hoffen, dass du das erreichst, was du dir vorgenommen hast. Vergiss nie, dass du einer von uns bist...« Thorin nickte und wandte sich dann rasch ab, damit der alte Mann nicht sah, wie sehr ihn diese Worte berührt hatten. Er sah nicht zurück, als er nun die Höhle verließ und hinaus in eine Welt trat, die sich 5
sehr verändert hatte. Ewiges Eis bedeckte diesen Teil der Welt, den Trondyr Zuflucht genannt hatte. Auch zu dieser Stunde war es nie richtig dunkel, denn ganz fern am Horizont erkannte Thorin eine eigenartig rötlich schimmernde Nebelwand, die die Grenze zum anderen Teil der Welt darstellte. Wie es jenseits dieser Nebelzone aussah, das konnte Thorin nur vermuten. Aber genau deswegen hatte er sich entschlossen, den Schutz der Zuflucht zu verlassen und sich den neuen Herausforderungen zu stellen. Ein geradezu gigantisches Vorhaben, wenn sich Thorin vor Augen hielt, was er durch den FÄHRMANN erfahren hatte. Und dennoch schritt er weiter voran, ignorierte den kalten Wind, der ihn frösteln ließ. Sein Ziel war klar und nichts würde ihn davon abhalten, jetzt wieder umzukehren, das Schicksal der menschlichen Welt lag in seinen Händen. So jedenfalls war es ihm aufgezeigt worden und Thorin hatte diese Botschaft verstanden. Während er weiter durch den knöcheltiefen Schnee in Richtung Horizont stapfte, erinnerte er sich wieder an eine Zeit, wo er kaum etwas über Götter und höhere Mächte gewusst hatte. Es war eine Zeit gewesen, wo er als junger und tatendurstiger Krieger noch nach Ruhm und Abenteuer gesucht hatte. Geld und Erfolg, das waren seine Ziele gewesen... * Die Sonne stand schon hoch über der Felswildnis von Toltaykan, als sich von Süden her ein einsamer Reiter dem Geröllfeld näherte. Hufe schlugen hart auf dem steinigen Boden auf, als die großen Sandsteinfelsen in Sicht kamen, die diesen Landstrich prägten. Der Reiter zügelte sein Pferd und ließ dann seine Blicke über die einsame und öde Landschaft schweifen, bevor seine Rechte zum Wasserbeutel griff, den er in seinem Packen am Sattel festgeschnallt hatte. Die kräftige Hand des Mannes öffnete den Verschluss und ließ dann die laue, abgestandene Flüssigkeit langsam die Kehle hinunterlaufen. Das Wasser war alles andere als frisch, aber es war immer noch besser als gar nichts. 6
Der Mann im Sattel des Rappen machte einen kriegerischen Eindruck. Langes, ungezügeltes blondes Haar, das nur von einem Stirnband gebändigt wurde, fiel bis auf die breiten muskulösen Schultern seines sonnenverbrannten Körpers. Er war noch jung, aber sein Gesicht war bereits gezeichnet von dem wilden Leben, das er führte. Es waren die Züge eines unerschrockenen Nordlandkriegers, der immer auf der Suche nach neuen Abenteuern war. Die auffälligste Waffe an ihm war ein großes Schwert, das in einer Scheide quer über dem breiten Rücken steckte. Im grellen Sonnenlicht glitzerten und funkelten die Juwelen, mit denen der Griff besetzt war. Schon allein deswegen war es eine wertvolle Waffe. Aber nur der blonde Krieger wusste, welche Kräfte wirklich in der scharfen Klinge steckten. Es war eine Waffe, die von den Göttern selbst geschmiedet worden war. Sternfeuer war ihr Name und sie bildete ein Bollwerk gegen die finsteren Mächte der Dämonen, die sich auf dieser Welt immer mehr ausbreiteten. Thorin war schon seit dem Morgengrauen unterwegs nach Norden. Wochen des Kampfes lagen hinter ihm. Anstrengende und sehr schwere Tage waren das gewesen, aber mit Hilfe seiner einzigartigen Waffe hatte er bisher jede Gefahr überwinden können. Den Rappen, den er jetzt ritt, hatte er an der Küste einem diebischen Händler für wenig Geld abgekauft. Thorin musste jetzt noch im stillen darüber lächeln, dass es eigentlich der Händler hätte sein müssen, der ihn hereinlegen wollte. Es war ein gutes Geschäft gewesen, denn bis jetzt hatte ihn das Pferd nicht enttäuscht. Und schon bald würde er sein Ziel erreicht haben - die Stadt der Bettler und Kaufleute, nur drei Tagesreisen von hier entfernt. An der Küste ging das Gerücht, dass ein Heer aufgestellt werden sollte, das nach Osten zog, um dort gegen einen grausamen Tyrannen zu kämpfen. Das war genau das Richtige für einen Krieger wie Thorin. Wo eine Schlacht geschlagen und ein starker Arm benötigt wurde, da war er sofort zur Stelle. Vorausgesetzt natürlich, dass man ihn auch für seine Dienste gebührend entlohnte. 7
Während er den Wasserbeutel absetzte und wieder verschloss, dachte er an das Schwert, dessen Gewicht er trotz seiner eigenen Stärke auf dem Rücken spürte. Es war noch gar nicht lange her, seit er diese mächtige Waffe sein Eigen nennen konnte. Jetzt suchte er natürlich nach einer Möglichkeit, das Beste daraus für sich zu machen. Schließlich nützte ihm Sternfeuer nichts, wenn man die Macht der Klinge nicht anwendete. Aber die Mächte der Finsternis waren allgegenwärtig und bestimmt würde die scharfe Klinge bald wieder ihr tödliches Lied singen. Thorin wollte seinen Rappen gerade wieder antreiben, als seine Augen zwischen den Felsen plötzlich eine huschende Bewegung erkannten. Täuschte er sich, oder hatte er dort die Gestalt eines Mannes gesehen? Hier in dieser menschenleeren Einöde lebte doch gar niemand! Oder spielte ihm die flimmernde Sonne womöglich ein Trugbild vor? Dennoch beschloss er weiter zu reiten. Sollten dort wirklich finstere Gesellen auf ihn lauern, dann würde er es ihnen schon zeigen. Schließlich nannte man ihn in den Eisländern nicht umsonst den Nordlandwolf. Er gab dem Pferd die Zügel frei und ritt los - geradewegs auf den schmalen Einschnitt zu, wo die Felsen zu beiden Seiten hoch emporragten... * »Ein Reiter kommt!«, rief der Mann mit dem zerschlissenen braunen Umhang seinem Gefährten zu, der mit ihm zusammen Wache hielt. »Geh und sag Gedor Bescheid!« Der andere nickte stumm und kletterte hastig die Felsen hinab, auf das Lager zu, das sich in der Talsohle befand. Seine Augen funkelten jetzt schon voller Vorfreude, als er daran dachte, dass der fremde Reiter schon bald tot und ausgeraubt sein würde. Es war eine Bande von Mördern und Räubern, die in der Felsenwildnis von Toltaykan ihr Unwesen trieb - in einem einsamen Landstrich, den die meisten Reisenden gewöhnlich mieden, weil sie die Gefahren kannten, die hier lauerten. Wer hier von den Halunken überfal8
len wurde, der tauchte niemals wieder auf und blieb für alle Zeiten verschwunden. Der Wachposten grinste, als er sah, dass der Reiter genau auf die Felsen zukam. Ein blonder Hüne war es und er trug ein gewaltiges Schwert bei sich. Hinter ihm erklangen jetzt schwere Schritte. Der Wächter drehte sich um und sah Gedor an, den Anführer der Mörderbande. Er war ein wüster Bursche mit einem finsteren Gesicht und sein Wort war ungeschriebenes Gesetz in diesem Haufen. »Gedor, siehst du den fremden Reiter?«, sagte der Wächter zu ihm und trat einen Schritt zur Seite. »Er hat ein prächtiges Schwert es könnte viel wert sein...« Auch Gedor hatte das längst bemerkt. Gier trat in seine kalten Augen und er zog sein eigenes Schwert aus der Scheide, prüfte mit dem Daumen die scharfe Klinge, bevor er sich dann wieder an den Wächter wandte. »Ruf die Männer zusammen!«, befahl Gedor dann dem Wachposten. »Dieser Kerl hat es gewagt, unser Gebiet zu betreten. Dafür gibt es nur eine Strafe - wir werden ihn töten und alles an uns nehmen, was er besitzt. Worauf wartest du noch?« Der Wächter nickte heftig und beeilte sich, die Befehle seines Anführers auszuführen. Er kannte Gedor schließlich lange genug, um zu wissen, dass man in bestimmten Situationen nicht zögerte, sondern Eile an den Tag legte. Er spurtete sofort los und nur wenige Augenblicke später hatte sich die Mörderbande auch schon in den Felsen verborgen und wartete mit gezogenen Klingen auf den ahnungslosen einsamen Reiter... * Steil wuchteten die roten Felsen zu beiden Seiten des Weges hervor, der sich durch diese Einöde wand. Der ewige Wind hatte seine Spuren in das Gestein gegraben, dass sie wirkten wie steinerne Götzen, wie mächtige Tempel einer längst vergangenen Zeit. Auf Thorin wirkten sie erdrückend und drohend zugleich. 9
Misstrauisch ließ er seine Blicke schweifen, denn er hatte nicht vergessen, was er vorhin gesehen hatte. Und dann wurde ihm klar, dass er sich nicht getäuscht hatte. Er bemerkte die in Felle gekleidete Gestalt oben auf dem Hügel, die sich dunkel vor dem hellen Sonnenlicht abhob. In seiner linken Hand hielt der Unbekannte eine Lanze, die auf Thorin gerichtet war. »Halt Fremder!«, schrie er mit lauter Stimme. »Wohin willst du?« »Nach Norden!«, rief Thorin zurück. »Willst du mich daran hindern?« Der andere lachte gehässig und wies dabei auf die gegenüberliegende Felsenseite. Thorin erblickte fünf weitere Männer, die ebenso plötzlich wie der erste aufgetaucht waren. Sie alle waren bewaffnet und sahen nicht sehr vertrauenserweckend aus. »Du kannst weiter reiten, Fremder!«, rief ihm der Kerl jetzt zu. »Aber nur, wenn du dein Schwert hier lässt. Hol es aus der Scheide und wirf es zu Boden - nun mach schon!« »Du Hund!«, rief Thorin, als er die unverschämten Worte des Wegelagerers vernahm. Sofort riss er Sternfeuer mit einer geschmeidigen Bewegung aus der Scheide und reckte die Klinge hoch empor, so dass sich das Licht der Sonne darin spiegelte. »Du und deine Gesellen - ihr wollt also mein Schwert? Dann kommt doch und versucht es zu holen!« Herausfordernd streckte er die Waffe den Feinden entgegen, während das Pferd unter ihm nervös zu werden begann. Es schien den bevorstehenden Kampf zu ahnen. »Bringt mir den Kopf dieses Großmauls!«, brüllte nun der bullige Anführer des Räuberhaufens. »Er wird gleich sehen, was es heißt, gegen Gedors Männer zu kämpfen!« Noch bevor seine letzten Worte verhallt waren, hatte er auch schon ausgeholt und warf die Lanze mit einer gewaltigen Wucht nach Thorin. Aber der hatte das geahnt und lenkte das Pferd zur Seite. Die Lanze schoss an ihm vorbei und bohrte sich mit einem knirschenden Geräusch in den kargen Boden, wo sie mit wippendem Schaft stecken blieb. 10
Gleichzeitig gingen die Räuber zum Angriff über. Mit lautem Geschrei sprangen sie von den Felsen herunter und eilten auf Thorin zu, der in der Zwischenzeit ganz schnell vom Pferd gestiegen war, um beweglicher zu sein. Mit der Klinge in der Hand stellte er sich seinen Gegnern. »Ihr werdet euch blutige Köpfe holen!«, rief er ihnen höhnisch zu und damit reizte er die Halunken noch mehr. Sieben Kerle drangen nun auf ihn ein, denn zwei weitere, die der Nordlandwolf vorher nicht gesehen hatte, waren noch aus einem Felseneinschnitt herausgekommen. Mordlust stand in ihren Augen geschrieben. Thorins scharfe Klinge erwischte den ersten der Angreifer, der sich zu weit vorgewagt hatte. Jetzt zahlte er die Zeche für diese Tollkühnheit. Wie ein Rachegott wütete Thorin unter seinen Gegnern. Breitbeinig stand er da und teilte gezielte Schläge nach allen Seiten aus. Schon waren zwei weitere Räuber kampfunfähig zu Boden gegangen und den anderen war es noch nicht einmal gelungen, den starken blonden Krieger auch nur verwunden zu können. »Ihr Feiglinge!«, brüllte Thorin herausfordernd. »Wenn es gegen einen richtigen Mann geht, dann traut ihr euch wohl nicht, wie?« Die Horde der Plünderer bekam langsam Angst vor diesem unerschrockenen Krieger. Drei von ihnen hatte dieser Bastard schon getötet und die übrigen hatten noch nichts erreichen können. Wachte vielleicht eine höhere Macht über ihn? Gedor stieß einen zornigen Wutschrei aus, als er mit ansah, wie der Fremde unter seinen Männern zu wüten begann. Nun mischte auch er sich in den Kampf ein und wartete genau den Augenblick ab, wo Thorin gerade zwei vordringende Feinde abwehren musste. »Stirb, du Hund!«, brüllte Gedor und holte mit seiner Klinge aus. Sie traf Thorin von hinten in die Schulter und dieser schrie vor Schmerz laut auf. Dennoch wuchs er in diesem Moment über sich selbst hinaus, wirbelte herum und versetzte dem hinterhältigen Angreifer einen Hieb, der ihn zurücktaumeln ließ. Blut lief Thorin den Rücken hinunter und er spürte, wie seine Kräfte zu erlahmen begannen. Er musste fliehen, sonst war es zu spät! 11
Nochmals wehrte er sich gegen die weiter vordringenden Räuber, die jetzt erkannt hatten, dass Thorin geschwächt war und bahnte sich einen Weg zu seinem Pferd, das abseits von dem Kampfgetümmel wartete. Stöhnend zog sich Thorin rasch in den Sattel und trieb das Pferd sofort an. Das Tier bäumte sich wild auf und schlug mit den Hufen um sich, so dass Thorins Gegner in diesem Moment nicht näher zu kommen wagten. Das war genau die Zeitspanne, die Thorin benötigte. Das Pferd preschte mitten durch die Feinde, während Thorin spürte, dass er noch schwächer wurde. »Lasst ihn nicht entkommen!«, hörte er hinter sich eine zornige Stimme. »Jagt ihm nach!« Thorin achtete nicht mehr darauf, sondern blickte nur noch nach vorn. Eine Schmerzwelle überfiel ihn und er musste die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut zu schreien. Er musste sein Pferd weiter antreiben, wenn er seinen Feinden entkommen wollte, denn die würden gewiss nicht so schnell aufgeben. Aber Thorins Pferd war stark und ausdauernd und schließlich wurden die wütenden Rufe der Verfolger schwächer, verebbten schließlich ganz. Wahrscheinlich hatten sie eingesehen, dass sie Thorin auf seinem schnellen Pferd nicht mehr einholen konnten und ließen nun ab von ihrem Vorhaben. Thorin zügelte das Tempo des Pferdes, als er spürte, dass ihm zumindest jetzt keine unmittelbare Gefahr mehr drohte. Mühsam richtete er sich dann im Sattel auf und schaute sich um. Die Landschaft war noch wilder und zerklüfteter geworden. Irgendwo weiter westlich musste sich der namenlose Strom sein Bett graben. Wenn er den erreichte, so musste er ihm nur noch nach Norden folgen. Dann würde er die Stadt der Bettler und Kaufleute erreichen, die sein Ziel war. Die Wunde pochte jetzt wie wild. Es war ein unbeschreiblicher Schmerz, der Thorin peinigte und ihn fast willenlos machte. Die Erschöpfung und die Anstrengung des harten Kampfes forderten nun ihren Tribut. Der Rappe fiel in einen langsamen Trab, als er spürte, dass sein Reiter am Ende war. Vor Thorins Augen tanzten feurige Schleier und er nahm seine Umgebung kaum noch wahr. Bilder huschten unzusammenhängend 12
durch sein Gehirn, als er schließlich das Gleichgewicht verlor und dann aus dem Sattel stürzte. Hart schlug Thorin auf dem Boden auf, aber das spürte er nicht mehr, denn sein Bewusstsein war schon längst in dunkle Schwärze getaucht. Nervös tänzelte das Pferd hin und her und stieß Thorin leicht an. Aber der rührte sich nicht... * Derwan wischte sich den Schweiß von der Stirn und hielt einen winzigen Augenblick inne. Seine erfahrenen Augen schweiften über das felsige Gelände jenseits der Anhöhe, auf der er sich gerade befand. Er seufzte, denn noch war es ein weiter Weg bis zu dem verheißenen Ziel - und er führte mitten durch diese menschenleere Gegend, von der keiner wusste, welche Gefahren hier lauerten. Er brach seine trostlosen Gedanken ab und starrte hinunter in die Senke, wo die anderen auf ihn warteten. Moran, der Magier, Cotinyo, dieser schlitzäugige Steppenkrieger aus dem Osten sowie Flavur, der Dieb - und schließlich noch Prinzessin Arlina, die der Grund für diese beschwerliche Reise war. »Was ist?«, rief der ungeduldige Cotinyo zu Derwan hinauf. »Siehst du die Straße?« Derwan schüttelte stumm den Kopf und ging zu seinen Gefährten zurück, die an dieser Stelle eine kleine Rast eingelegt hatten. Schon seit Stunden waren sie unterwegs und jetzt forderte die Hitze ihren Tribut. »Nichts als Felsen, wohin man auch blickt«, sagte der ehemalige Hauptmann der versprengten Garde zu dem Steppenkrieger. »Wir können uns nur nach der Sonne richten, Cotinyo.« »Bei den Göttern der Steppe!«, entfuhr es dem ungeduldigen Cotinyo, der Wolfsfelle trug und sein Haar mit Streifen aus Pferdehaut zu langen gefetteten Strähnen geflochten hatte, die einen strengen Geruch verströmten. »Gib doch wenigstens zu, dass wir uns verirrt haben!« 13
»Derwan findet den Weg«, fiel ihm nun Prinzessin Arlina ins Wort. »Du musst ihm nur Zeit geben, Cotinyo. Sei nicht so ungeduldig, sonst kommen wir nie ans Ziel...« Der Steppenkrieger musterte griesgrämig die schöne Prinzessin, wegen der er sich auf dieses Wagnis überhaupt erst eingelassen hatte. Sie war eine atemberaubende Schönheit von graziler Gestalt. Langes, dunkelblondes Haar fiel ihr bis tief in den Nacken und ihre großen Augen konnten so manchen Mann um seinen Verstand bringen. Nun gut, ein Streit war ihm die ganze Sache nicht wert. Hauptsache, sie erreichten die Burg und den Schatz, der dort auf den Finder wartete. »Ich gäbe jetzt drei Goldstücke für deine Gedanken, Cotinyo«, meldete sich der bucklige Flavur aus dem Hintergrund. »Du kannst es wohl kaum abwarten, bis wir am Ziel sind und...« »Schweig, du Missgeburt!«, fuhr ihn der Steppenkrieger an. »Oder ich schneide dir deine Kehle durch. Du widerst mich an, wenn ich dich sehe!« »Aber du brauchst mich - genau wie wir uns alle brauchen«, antwortete der in verwaschene Lumpen gekleidete Dieb frech, ohne eine Spur von Angst zu zeigen. »Und deshalb tust du gut daran, deinen Zorn zu zügeln.« »Geduld ist das Wesen aller Dinge«, fügte nun der weißbärtige Magier Moran hinzu. »Wenn wir lernen, sie zu meistern, werden wir weiterkommen.« »Alles nur Geschwätz!«, fauchte Cotinyo und musterte den Magier voller Verachtung. Ihm waren ein Sack Goldstücke lieber als ein Haufen leerer Worte. Deshalb war er ja mitgekommen - und natürlich auch wegen der schönen Arlina, die er begehrte und die ihm bis jetzt nur die kalte Schulter gezeigt hatte. Und das machte ihn immer wütender. »Wir sollten etwas essen«, schlug der grauhaarige Derwan vor, der noch am besonnensten von allen war und der Prinzessin treu zur Seite stand. »In einer Stunde reiten wir dann weiter. Nutzen wir diese Zeit, um wieder zu Kräften zu kommen.« Mit diesen Worten machte er sich an seinem Proviantsack zu schaffen, teilte einige Streifen Dörrfleisch und trockenes Brot aus, die sie dann alle mit Wasser hinunterspülten. Es war ein karges Mahl, aber 14
sie hatten nichts anderes. Sie besaßen aber dennoch den festen Willen, ihr Ziel zu erreichen. Plötzlich durchdrang ein lautes Wiehern die Stille. Derwan und Arlina hoben überrascht den Kopf, als sie plötzlich ein fremdes Pferd zwischen den Felsen auftauchen sahen. Das Tier musste die Nähe der Menschen gewittert haben. Cotinyo sprang sofort auf und trat dem Pferd entgegen. Der Steppenkrieger kannte sich mit diesen Tieren aus wie kein anderer und deswegen wirkte seine Stimme beruhigend auf das Pferd. Es blieb stehen und ließ es zu, dass Cotinyo die Zügel an sich nahm. »Am Sattel ist Blut!«, rief er nun zu den anderen herüber. »Sein Reiter ist entweder verletzt oder schon tot!« »Vielleicht ist er noch hier in der Nähe und braucht Hilfe«, schlussfolgerte die Prinzessin. »Wir sollten nach ihm suchen.« »Ein guter Vorschlag«, meinte Derwan. »Cotinyo und ich werden das tun. Ihr anderen wartet hier auf uns.« Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand er mit dem Steppenkrieger zwischen den Felsen. Den Krummsäbel in der Hand, ging Cotinyo voran. Er war ein Meister dieser Klinge, denn in den Steppen seiner Heimat galt er als gefürchteter Kämpfer. Das war auch einer der Gründe, warum ihn Arlina ausgewählt hatte. »Sei vorsichtig«, riet ihm der grauhaarige Söldner. »Du weißt nicht, wer dort in den Felsen lauert...« »Das werde ich sehen, wenn sich mir jemand in den Weg stellt«, erwiderte der schlitzäugige Krieger. »Wenn du Angst hast, dann bleib dort stehen, wo du bist, Derwan. Oder macht dir dein Alter schon zu schaffen?« Der Mann, der einst Hauptmann einer Königsgarde gewesen war, schwieg. Er wusste genau, dass Cotinyo ein wilder Bursche war, den man so nehmen musste wie er nun mal war. Aber er konnte kämpfen, wenn es die Lage erforderte - und das war wichtiger. Das kurze Wortgeplänkel war schnell vergessen. Cotinyos gelbe Augen huschten zwischen den Felsen hin und her. Wenn dort wirklich Feinde lauerten und das herrenlose Pferd nur dazu gedient hatte, den Trupp auseinander zu bringen, dann musste er auf der Hut sein! 15
Aber nichts geschah. Niemand erschien und die Spannung, die sich in dem Steppenkrieger aufgebaut hatte, flaute allmählich wieder ab. Er schritt weiter und suchte die Gegend ab. Und dann fand er die regungslose Gestalt unterhalb eines Einschnittes. »Komm, Derwan!«, rief er dem ehemaligen Hauptmann zu. »Hier liegt einer...« Er wartete ab, bis Derwan neben ihm stand und näherte sich dann erst der hünenhaften Gestalt, die mit dem Rücken zu ihnen auf dem harten Boden lag. Die beiden Männer trennten sich und kamen von zwei Seiten, denn schließlich konnte man nicht vorsichtig genug sein. Cotinyo musterte den muskulösen Mann, der an der Schulter eine tiefe Wunde hatte. Was ihm aber noch mehr ins Auge stach, das war das kostbare Schwert, das nur wenige Schritte entfernt von dem Bewusstlosen lag. Eine gefährliche und zugleich kostbare Klinge war das. Der handliche, weit heruntergezogene Griff war mit Juwelen besetzt und die Klinge selbst war aus gutem Stahl geschmiedet und mit seltsamen Runen verziert. Eine solche Waffe war der Wunsch eines jeden Mannes - und da machte auch der schlitzäugige Steppenkrieger keine Ausnahme. So eine gute Waffe hatte er noch nie gesehen. »Er lebt noch, Cotinyo!«, riss ihn die Stimme des grauhaarigen Söldners wieder in die Wirklichkeit zurück. Derwan hatte sich zu dem Bewusstlosen hinuntergebeugt und ihn kurz untersucht. »Er hat zwar viel Blut verloren, aber er wird durchkommen.« »Hast du das Schwert gesehen?«, fragte der Steppenkrieger stattdessen, der seinen Blick nur schwer von der Klinge abwenden konnte. »Eine solch prächtige Waffe ist mir noch nie unter die Augen gekommen.« »Du hast nur Waffen und Weiber im Kopf!«, bekam er dann von Derwan zu hören. »Fass lieber mal mit an. Wir müssen ihn ins Lager tragen. Der Krieger hat einen schweren Kampf hinter sich.« »Meinetwegen«, brummte Cotinyo und half Derwan, den Bewusstlosen hochzuheben. Der verletzte Krieger war nicht leicht. Sein Körper war muskelbepackt - einer, vor dem man sich in acht nehmen musste. 16
Mit dem Verletzten kehrten sie zu den anderen zurück. Flavur, der Dieb, sah sie zuerst kommen und er machte seine Gefährten darauf aufmerksam. »Bringt ihn hier herüber!«, rief Arlina den beiden Männern zu, als sie erkannte, was geschehen war. Behutsam legten Derwan und Cotinyo den bewusstlosen Krieger vor der Prinzessin zu Boden und Arlina sah in ein junges, aber dennoch männliches Gesicht, das von einer hässlichen Blässe gezeichnet war. Genau in diesem Moment schlug der Fremde die Augen auf! * Wie durch einen unsichtbaren Schleier hörte Thorin mehrere Stimmen, die aber unendlich weit entfernt schienen. Krampfhaft versuchte er die Augen zu öffnen, aber er war noch zu schwach dazu. Der Weg zurück ins Leben war mühsam und jetzt spürte er wieder die pochenden Schmerzen in seiner Schulter. Zugleich erinnerte er sich wieder daran, dass er um Haaresbreite den Räubern entkommen war. Thorin schlug die Augen auf und erblickte eine Fülle goldener Haare, die ein ebenmäßiges Antlitz mit großen blauen Augen umgaben. War er etwa doch die lange Reise in Odans Reich angetreten und war das eine Walküre, die ihn im Reich des Weltenzerstörers willkommen hieß? »Wo bin ich?«, kam es mit krächzender Stimme über seine Lippen, während er den Kopf zu heben versuchte. Dicht neben der blonden Schönheit sah er undeutlich weitere Gestalten. Einen schlitzäugigen Krieger, einen alten Mann, einen grauhaarigen Söldner und einen buckligen Gnom. Eine seltsame Gesellschaft war das, die Odan zu sich gerufen hatte! »Du bewegst dich besser noch nicht«, mahnte ihn die blonde Schönheit. »Du bist ziemlich schwer verletzt, Fremder.« »Bin ich nicht in Odans Reich?«, fragte Thorin mit unsicherer Stimme und sah, wie das Mädchen jetzt lächelte. »Noch weilst du unter den Lebenden«, sagte sie daraufhin. »Ich bin Prinzessin Arlina und die anderen dort sind meine Gefährten Co17
tinyo, Derwan, Flavur und Moran. Wir sind auf dem Weg nach Westen zur Burg meines Vaters. Und wer bist du?« »Ich heiße Thorin und komme aus den Eisländern des Nordens«, antwortete er. »Wo ist mein Schwert?«, fragte er dann besorgt, als er spürte, dass die Waffe nicht mehr in der Scheide auf seinem Rücken steckte. »Ich habe das Schwert für dich aufgehoben«, meldete sich nun der Krieger namens Cotinyo zu Wort. »Aber jetzt bist du ja erwacht.« Er zeigte dabei auf das Schwert, das nur wenige Schritte entfernt von Thorin auf einer Felsplatte lag. »Bist du jetzt beruhigt?« Etwas war in Cotinyos Augen, das Thorin eher beunruhigte. Aber er fühlte sich noch zu schwach, um länger darüber nachzudenken. Was er jetzt am dringendsten benötigte, waren Schlaf und Ruhe. »Ich danke euch allen, dass ihr mir geholfen habt«, sagte er zu den Männern und der Prinzessin. »Ich werde mich dafür erkenntlich zeigen...« In diesem Moment versagte seine Stimme und von einem Atemzug zum anderen war er wieder abgetaucht ins Reich der Dunkelheit. * Als er das zweite mal die Augen öffnete, war es Nacht. Im Hintergrund flackerten die Flammen eines kleinen Feuers, an dem mehrere Gestalten saßen. Gemurmel drang zu Thorin herüber und jetzt erst bemerkte er die Prinzessin an seiner Seite. »Jetzt wird es dir bald wieder besser gehen, Thorin«, meinte sie und hielt ihm einen Becher mit einer dampfenden Flüssigkeit entgegen. »Hier, nimm das und trink es aus. Es wird dir helfen.« Thorin erhob sich ächzend und stellte fest, dass man seine Wunde verbunden hatte. Der Schmerz war zwar noch da, aber schon längst nicht mehr so schlimm wie zuvor. Er trank die Flüssigkeit aus dem Becher, die nach verschiedenen Kräutern schmeckte und gab dem Mädchen dann den Becher zurück. Wie war doch gleich ihr Name gewesen? Arlina? 18
»Deine Augen stellen viele Fragen, Thorin«, sagte sie nun zu ihm. »Ich will sie dir alle beantworten, wenn du das wissen willst.« Thorin nickte. »Ein seltsames Land ist das«, sagte er. »Noch vor wenigen Stunden war ich auf dem Weg zur Stadt der Bettler und Kaufleute, bis ich in einen Hinterhalt von Mördern und Plünderern geriet, die mich töten wollten. Einige von ihnen konnte ich niederschlagen und dann fliehen. Von euch weiß ich aber nichts außer euren Namen. Was habt ihr in dieser Einöde verloren?« »Ich bin die Tochter König Fodors von Samorkand, dessen Reich jenseits des Schneepasses liegt«, klärte ihn Arlina nun auf. »Wir lebten friedlich auf unserer Burg, bis eines Tages ein großes Unglück geschah. Mein Vater regierte das Land weise und gerecht, bis eines ein fremder Magier nach Samorkand kam und ihm seine Dienste anbot. Mein Vater ahnte nichts Schlimmes und willigte ein. Aber schon kurz darauf geschahen seltsame Dinge. Geflügelte Dämonen suchten unser Land heim. Der fremde Magier beschwor einen Drachen - ein Ungeheuer aus den Abgründen der Zeit. Der Drache sollte die Dämonen vertreiben, wie der Magier meinem Vater einredete. Doch das Ungeheuer wütete entsetzlich unter der Bevölkerung und tötete auch meinen Vater, der sich der Bestie noch entgegenzustellen versuchte. Mit Hilfe meines treuen Hauptmanns Derwan konnte ich noch fliehen, aber ich musste zusehen, wie sich der Drache in der Burg breitmachte. Seitdem suche ich nach einer Möglichkeit, meinen toten Vater zu rächen und die Burg wieder zurückzuerobern. Ein Jahr hat es gedauert, bis ich die richtigen Gefährten gefunden habe und jetzt sind wir auf dem Weg zum Schneepass. Dahinter beginnt das Reich des toten Königs Fodor - meine Heimat...« Thorin wandte den Kopf in Richtung des Feuers, wo die anderen saßen. »Was sind das für Männer, mit denen du in solch einen Kampf ziehen willst?« »Jeder von ihnen stellt etwas Besonderes dar«, meinte Arlina. »Schau dir Derwan an. Er war Hauptmann in der Garde meines Vaters und steht treu zu mir. Cotinyo ist nur mitgekommen wegen des Goldes 19
in den königlichen Schatzkammern - ich habe ihm einen Anteil dafür versprochen, dass er sein Leben für mich einsetzt. Der bucklige Flavur mag vielleicht unscheinbar wirken, aber er ist ein geschickter Dieb und kommt an Orte, die sonst kaum jemand erreicht. Moran ist ein kundiger Magier, auf dessen Hilfe wir angewiesen sind, wenn wir den Drachen besiegen wollen.« »Um ein Ungeheuer zu besiegen, ist nur ein starker Arm und eine scharfe Klinge nötig«, brummte der Nordlandwolf, während er einen misstrauischen Blick auf die hagere Gestalt des Magiers am Feuer warf. »Solchen Zauberern traue ich nicht.« »Du redest genau wie Derwan«, lächelte die Prinzessin. »Der glaubt auch nur an das, was er sieht und mit seinen eigenen Waffen vernichten kann. Aber wir brauchen einen Mann wie Moran...« In diesem Moment erinnerte sie sich wieder an den Tag, wo sie in der Taverne in der Stadt der Bettler und Kaufleute gesessen hatte - zusammen mit den übrigen Gefährten. Dort war sie dem Magier Moran zum ersten mal begegnet... * Der grauhaarige Söldner spähte argwöhnisch zu dem Tisch hinüber, wo der Bucklige und der schlitzäugige Steppenkrieger saßen und einen Humpen sauren Wein nach dem anderen tranken. »Du hast wilde Gesellen angeheuert, Arlina. Pass auf, dass sie dir nicht bei der nächsten Gelegenheit in den Rücken fallen. Eine kleine Armee hätte mehr ausgerichtet.« »Du irrst dich, Derwan«, fiel ihm Arlina ins Wort. »Ich will nicht nur Soldaten, sondern mutige Kämpfer mit unterschiedlichen Fähigkeiten. Du kannst kämpfen, das weiß ich. Cotinyo ist ein tollkühner Bursche, der alles riskiert, wenn man ihn nur dafür bezahlt. In den östlichen Steppen erzählt man sich viele haarsträubende Geschichten über ihn. Deshalb will ich ihn haben, verstehst du?« »Was richtet einer von der Sorte schon gegen einen Dämon aus?«, fragte Derwan, der immer noch daran zweifelte, ob Arlinas Entscheidung richtig gewesen war. 20
»Du wirst es sehen, wenn die Stunde gekommen ist«, hielt sie ihm entgegen. »Und falls du es nicht wissen solltest - der bucklige Flavur ist der König der Diebe. Auch er verfügt über spezielle Kenntnisse und Fähigkeiten, die für uns von Nutzen sind. Ein Soldat, ein Kämpfer und ein Dieb - was uns jetzt noch fehlt, ist ein Magier!« »Bist du verrückt geworden?«, ereiferte sich der grauhaarige Derwan. »Hast du vergessen, was dieser schreckliche Ugor angerichtet hat? Und solche einem willst du vertrauen?« »Schwert und Magie sind es, die das Böse besiegen können«, antwortete Arlina. »Wenn du länger darüber nachdenkst, wirst du mir zustimmen. Ein bekannter Magier hält sich übrigens in dieser Stadt auf. Sein Name ist Moran und er gilt als weiser Mann in seiner Heimat. Ich habe nach ihm rufen lassen - er wird bald hier sein.« »Prinzessin, als treuer Söldner deines Vaters muss ich dir dennoch sagen, dass ich an deiner Stelle lieber vorsichtig wäre und...« »Es ist meine Entscheidung und ich trage dafür auch die Verantwortung«, winkte Arlina ab. »Derwan, du kannst mir vertrauen - du kennst mich doch schon lange genug, um zu wissen, wie ich denke, oder?« Der grauhaarige Hauptmann kam nicht mehr dazu, darauf etwas zu erwidern, denn in diesem Moment öffnete sich die Tür der Taverne. Im Eingang stand ein Mann, der die Aufmerksamkeit vieler Gäste auf sich zog. Er war groß und trug lange, dunkle Gewänder. Das war das erste, was Arlina an ihm auffiel. Dann erst sah sie die weißen Haare und die Augen in dem bärtigen, hageren Gesicht, die seltsam stechend dreinblickten. Der Alte schaute sich einen Augenblick in der Taverne um. Dann ging er hinüber zum Wirt und sprach mit ihm. Der Wirt sah dabei immer wieder hinüber zu Derwan und Arlina und nickte mehrmals. Schließlich kam der Mann im dunklen Gewand zu ihnen. »Ich bin Moran, der Magier aus dem Küstenland«, stellte er sich mit leiser Stimme vor. »Ihr habt nach mir gerufen und ich bin gekommen, Prinzessin!« 21
»Siehst du, Derwan?«, sagte Arlina und warf dem Hauptmann einen triumphierenden Blick zu. »Es kommt doch alles so, wie ich es mir gewünscht habe...« Sie bat Moran, mit hinüber an den Tisch zu kommen und dieser willigte sofort ein. Er war kein Mann großer Worte, dieser Magier. Aber Arlina hatte um so mehr Geschichten über ihn gehört - und das genügte ihr, um zu wissen, was sie von ihm zu halten hatte. Moran war das letzte Stück des Kreises, der sich jetzt geschlossen hatte! * »Hatte ich das eben richtig verstanden?«, riss die Stimme des Nordlandwolfs die Prinzessin aus ihren Gedanken. »Da war doch die Rede von einem Schatz?« Natürlich hatte er das nicht überhört - denn vielleicht gab es hier ja eine Möglichkeit, mehr Goldstücke zu verdienen als in der Stadt der Bettler und Kaufleute. »Willst du dich uns anschließen, Thorin?«, erriet Arlina seine Gedanken. »Wenn du für mich kämpfen willst, soll es dein Schaden nicht sein. Ich werde dich für deine Dienste gut bezahlen.« Thorin überlegte noch einen winzigen Moment und deshalb hakte Arlina gleich nach. »Was zögerst du noch?«, fuhr sie fort. »Du wolltest dich doch ohnehin als Söldner anheuern lassen. Ist es dann nicht egal, für wen du dein Schwert schwingst? Es wartet ein guter Lohn auf dich und vielleicht auch noch mehr - wer weiß?« Ihre Augen hefteten sich intensiv auf Thorin. Es waren Blicke, deretwegen ein Mann schon seinen Verstand verlieren konnte, aber der Nordlandwolf blieb nach wie vor gelassen. »Gut, ich werde euch begleiten«, entschied er schließlich. »Die Geschichte, die ich gerade gehört habe, reizt mich. Du kannst auf die Kräfte meines Schwertes zählen.« Arlinas Blicke glitten hinüber zu Sternfeuer, das neben Thorin lag. »Eine prächtige Klinge«, meinte sie. »Von welchem Schmied hast du sie anfertigen lassen?« 22
»Von keinem, den du kennst«, antwortete Thorin. »Es ist eine Waffe, wie es sie kein zweites mal gibt. Sie trägt den Namen Sternfeuer.« »Wie kommt ein Krieger wie du an solch eine wertvolle Waffe?«, fragte ihn die Prinzessin, die jetzt mehr wissen wollte. »Sag, wo hast du das Schwert her?« »Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte Thorin ausweichend. »Vielleicht werde ich sie dir irgendwann einmal erzählen. Jetzt bin ich aber müde und möchte schlafen. Ich muss rasch wieder zu Kräften kommen, denn zur Last fallen will ich euch nicht.« »Das tust du nicht«, sagte Arlina und eine Spur eines Lächelns zeichnete sich auf ihren ebenmäßigen Gesichtszügen ab. »Wir wären diese Nacht sowieso nicht weiter gezogen. Es spielt somit keine Rolle, oder?« Der Nordlandwolf nickte stumm und wandte das Haupt zur Seite. Er blickte hinüber zum Feuer, an dem die Gefährten der Prinzessin saßen und sich unterhielten. Gerade in dem Moment, wo Thorin die Männer beobachtete, drehte auch der schlitzäugige Steppenkrieger den Kopf. In seinen gelben Augen lag keine Freundlichkeit. Eher ein unbestimmbares Gefühl von Hass und Eifersucht. Thorin ahnte jetzt schon, dass er von diesem Mann nichts Gutes zu erwarten hatte. Er wusste nicht, wie Arlina zu ihm stand, deshalb musste er um so mehr aufpassen, dass er mit Cotinyo nicht aneinander geriet. Solch einer wie der sah recht streitsüchtig aus... * Kurz nach Sonnenaufgang brach der kleine Trupp auf. Während das wärmende Licht der Sonne sich langsam über die Felsenwildnis ergoss und das einsame Land in gleißende Strahlen tauchte, sattelten die Männer und die Prinzessin ihre Pferde. Wenig später ritten sie los. Arlina machte den Anfang, gefolgt von Thorin und Derwan. Dann folgten Cotinyo, Flavur und der Magier. Ihr Weg führte nach Westen in Richtung des Schneepasses. Die ersten Ausläufer des gewaltigen Gebirges zeichneten sich schon am 23
fernen Horizont ab - aber dort würden sie erst gegen Abend ankommen. Jetzt galt es zunächst einmal, die öde, menschenleere Ebene hinter sich zu bringen. Das Gelände sah fast überall gleich aus. Kein Wunder, dass Derwan zeitweise die Orientierung verloren hatte, obwohl er das Land eigentlich gut kannte. Sandsteinrote, zerklüftete Felsen ragten zu beiden Seiten des Weges empor, wirkten bedrückend und bedrohlich. Auf einer mächtigen Felsenbrücke, unter der sich der Fluss sein Bett gegraben hatte, überquerten sie den namenlosen Strom. Der Wind pfiff um sie her und die Wasser in der Tiefe schäumten und tosten. Die Pferde begannen unruhig zu werden und die Männer mussten absteigen, zogen die Tiere dann am Zügel weiter. Aber dank Cotinyos unglaublicher Geschicklichkeit mit Pferden erreichten sie sicher die andere Seite der Schlucht. Cotinyo war es auch, dessen scharfe Augen in der Ferne etwas erspähten. Sofort zügelte er sein Pferd und rief den anderen eine Warnung zu. »Haltet an! Dort vorn zwischen den Felsen habe ich eine Bewegung gesehen!« »Hast du gestern Abend vielleicht etwas zuviel Reiswein getrunken, Cotinyo?«, lästerte der bucklige Flavur. »Schau dich doch um! Hier ist nirgendwo eine Menschenseele zu entdecken. Du wirst geträumt haben...« »Sei still, du elender Wicht!«, fuhr ihn der Steppenkrieger an. »Sonst bringe ich dich schneller zum Schweigen als dir lieb ist. Wenn ich sage, dass ich da vorn etwas gesehen habe, dann war da auch was!« »Hört auf euch zu streiten!«, mischte sich Arlina in das Wortgeplänkel ein. »Cotinyo hat recht. Wir müssen vorsichtig sein. Es ist am besten, wenn Thorin und Cotinyo sich dort vorn einmal umsehen.« Thorin nickte stumm. Er sah kurz zu dem Steppenkrieger und trieb dann auch schon sein Pferd an. Cotinyo folgte ihm, während Thorin wachsam nach beiden Seiten Ausschau hielt. Sternfeuer hatte er schon längst aus der Scheide gezogen. Falls hier jemand lauerte, so wollte er dagegen gewappnet sein. 24
Nur Sekunden später zischte etwas gefährlich nahe an seinem Gesicht vorbei - ein tödlicher Pfeil! »Eine Falle, Cotinyo!«, schrie Thorin dem Steppenkrieger eine Warnung zu. Aber dieser war bereits vom Rücken seines Pferdes abgesprungen und hechtete jetzt auf die Stelle zu, wo der hinterhältige Pfeil auf Thorin abgefeuert worden war. Bevor Thorin etwas unternehmen konnte, hatte Cotinyo bereits die Felsen erklommen und stieß einen gutturalen Schrei aus - den Kampfruf der Steppenkrieger. Nur Atemzüge danach erklang oben ein lautes schmerzhaftes Brüllen, gefolgt von einem hämischen Lachen Cotinyos. Dann tauchte der Steppenkrieger wieder in Thorins Blickfeld auf - und in seiner Linken schwenkte er das Haupt des erschlagenen Feindes. Das war das Signal für die restlichen Gegner, ihre Deckung zu verlassen und auf Thorin und Cotinyo loszustürmen. Thorin sprang nun ebenfalls aus dem Sattel, als er die Kerle erkannte, die ihnen hier aufgelauert hatten. Das waren doch die Mörder, die ihm schon einmal den Garaus hatten machen wollen. Aber anscheinend hatten sie nichts begriffen. Nun sollten sie endgültig erfahren, was es bedeutete, sich diesmal mit zwei Kampf erfahrenen Männern anzulegen. Cotinyo war indes die Felsen wieder hinab gestiegen und stellte sich mit gezücktem Krummschwert neben Thorin. »Kommt nur näher, ihr Bastarde!«, schrie er den Halunken zu. Und dann begann auch bereits der Kampf Mann gegen Mann. Wild und grausam tobte er in den Felsen. Arlina hatte schon von weitem gesehen, welche Gefahr Thorin und Cotinyo drohte. Deshalb schickte sie auch Derwan los, um den beiden Kriegern beizustehen. Obwohl Derwan nicht mehr der Jüngste war, schwang auch er seine Klinge gut und treffsicher. Thorin und Cotinyo kämpften ohnehin wie Berserker. Zu dritt drängten sie nun die Feinde zurück, die zu spät begriffen hatten, dass es besser für sie gewesen wäre, wenn sie diesen Reisenden nicht aufgelauert hätten. Unter Thorins und Cotinyos Schwerthieben gingen die Halunken zu Boden und hauchten ihr verruchtes Leben aus. Der Kampf war schnell vorbei. Thorin blickte nachdenklich auf die Klinge in seiner Hand. Er hätte es nicht geschafft, wenn ihm Cotinyo 25
nicht den Rücken freigehalten hätte. Derwans Eingreifen hatte schließlich den Ausschlag gegeben. »Räuber und Plünderer sind das!«, schimpfte der Hauptmann und blickte verächtlich auf die blutigen Leichen zu ihren Füßen. »Sind das die, dich verfolgt hatten, Thorin?« »Ich hätte wissen müssen, dass sie keine Ruhe geben«, nickte Thorin. »Dabei hatte ich doch geglaubt, sie abgeschüttelt zu haben.« »Die Felsenwildnis von Toltaykan ist eine Welt für sich«, ergriff nun Cotinyo wieder das Wort. »Niemand weiß genau, wer hier lebt und was einen erwartet, wenn man dieses Gebiet durchquert. Wir sollten so schnell wie möglich zusehen, dass wir von hier wegkommen. Oder hast du noch mehr Feinde, die hinter dir her sind, Thorin?« Die letzte Frage klang spöttisch. Thorin nahm dies als erneuten Beweis dafür, dass Cotinyo etwas gegen ihn hatte. Was vielleicht doch damit zusammenhing, dass Prinzessin Arlina sich so aufopfernd um seine Wunde gekümmert hatte. So wie er benahm sich nur ein Mann, in dem die Eifersucht brannte. »Wenn es dich beruhigt, dann kann ich dir sagen, dass das die einzigen waren, Cotinyo«, erwiderte Thorin und steckte Sternfeuer zurück in die Scheide. »Kommt jetzt - hier haben wir nichts mehr verloren. Oder wollt ihr diese Bastarde vielleicht noch begraben?« Derwan schüttelte den Kopf und wandte sich als erster ab. Als die drei bei den übrigen Gefährten ankamen, war in den Augen der Prinzessin große Erleichterung zu erkennen, dass weder Thorin noch den beiden anderen Männern etwas zugestoßen war. Und wieder sah es so aus, als wenn Arlina sich besonders um Thorin gesorgt hätte. Oder kam ihm das nur so vor? »Vergessen wir das, was hinter uns liegt!«, rief Derwan und trieb sein Pferd an. »Reiten wir weiter nach Westen. Am Horizont warten die Schneeberge auf uns!« * Je weiter sie in die Bergregionen vordrangen, um so rascher änderte sich auch das Wetter. Während unten in der Felsenwildnis von Toltay26
kan noch strahlender Sonnenschein das Land in Wärme tauchte, hing hier oben dichter Nebel zwischen den schneebedeckten Gletschern. Es war kalt auf dem Weg zum Pass. Thorin hatte sich eine Decke um die breiten Schultern geschlungen, die aber den beißenden Frost kaum abzuhalten vermochte. Zu allem Unglück begann es jetzt auch noch zu schneien. Innerhalb weniger Stunden war das ganze Land in einen weißen Teppich gehüllt, der das Vorwärtskommen ziemlich erschwerte. Die Pferde schnaubten gequält angesichts dieses plötzlichen Wetterumschwunges und wären am liebsten wieder umgekehrt. Der Weg führte weiter in Richtung Pass. Samorkand war das Ziel der Prinzessin und ihrer Getreuen - und weder Schnee noch Eis würden sie davon abhalten. Von ferne hörten sie lautes Donnergrollen. Jedes mal dann, wenn eine Ladung Schnee zu Tal fuhr und alles mit sich riss, was sich ihr in den Weg stellte. Schließlich konnten sie nicht mehr länger reiten, sondern mussten absteigen und ihre Pferde am Zügel mit sich führen, weil der Weg so steil geworden war. Prinzessin Arlina besaß ein gutes Durchhaltevermögen. Thorin bewunderte sie, dass ein so zierliches Mädchen wie sie Kälte und Winter fast unbekümmert trotzte. Obwohl ein eisiger Wind von den Hängen herunter pfiff und ihre rosigen Wangen dunkel färbte, ließ sie dennoch keinen Klagelaut von sich hören. Sie hatte nur eins im Sinn - so schnell wie möglich die Burg ihres toten Vaters zu erreichen. Und kein Schneesturm oder sonst irgendein Unwetter konnte sie an diesem Vorhaben hindern! Derwan wusste, dass direkt hinter dem Pass Fodors Reich begann - oder besser gesagt, was davon noch übrig war. Als der Hauptmann mit der Prinzessin die Burg fluchtartig hatte verlassen müssen, waren die Bewohner der umliegenden Dörfer schon längst geflohen. Fast ein Jahr war seitdem vergangen und was in der Zwischenzeit alles auf der anderen Seite des Passes geschehen war, darüber konnte Derwan nur vage Vermutungen anstellen. Aber er spürte, dass er und Arlinas Gefährten mit dem Schlimmsten rechnen mussten. Der grauhaarige Söldner senkte den Kopf, als ihm der aufkommende Wind Eiskörner ins Gesicht wehte, die schmerzhaft wie Nadeln 27
gegen seine Wangen prasselten. Schließlich drehte sich Derwan zu seinem Gefährten um. »Es hat keinen Sinn - der Sturm ist zu stark! Wir müssen uns hier irgendwo einen Unterschlupf suchen!« Das war ein Gedanke, der der Prinzessin gar nicht behagte, denn die Schneelandschaft wirkte ziemlich unheimlich auf sie. Diese eisige sturmdurchtoste Öde war so, als sei sie für andere Geschöpfe geschaffen worden. »Cotinyo und Thorin«, wandte sie sich dann an die beiden Krieger, um ihre düsteren Gedanken zu vergessen. »Geht hinauf und seht euch um. Vielleicht gibt es irgendwo dort oben eine Höhle, wo wir die Nacht verbringen können.« Die beiden Männer gingen sofort los, weiter den Pass hinauf und gegen den heulenden Wind ankämpfend. Schon bald konnten sie die anderen Gefährten gar nicht mehr erkennen, so dicht war mittlerweile der dichte Schnee. Der Nordlandwolf ließ sein Blicke über die Felsen schweifen. So wie sich dieser Pass seinen Blicken bot, musste es eigentlich irgendwo Schluchten oder Einbuchtungen geben, wo der Wind nicht all zu stark pfiff und ihnen so genügend Schutz bieten konnte. Es dauerte zwar lange, aber dann hatten seine Augen eine solche Stelle ausfindig gemacht. Ein dunkles Loch klaffte in der Felswand, schon halb vom Schnee zugeweht - aber immer noch groß genug, um einen passenden Unterschlupf zu bilden. »Dort hinauf!«, rief Thorin gegen den Wind und zeigte Cotinyo die Stelle. »Da ist eine Höhle! Geh zurück und hol die anderen. Ich sehe mir das schon mal näher an!« Das brauchte er Cotinyo nicht zweimal zu sagen. Der Steppenkrieger, der den beißenden Sturm ebenfalls schon lange verfluchte, drehte sich rasch um und eilte mit schnellen Schritten den Weg hinab, den sie beide eben hinaufgestiegen waren. Thorin sah ihm nur noch kurz nach, dann galt seine Aufmerksamkeit jedoch dem Einschnitt in den Felsen. 28
Rein instinktiv griff er nach Sternfeuer und zog die Klinge aus der Scheide. Schwer stapfte er durch den Schnee, als er dem Pfad folgte, der direkt zu dem Loch in der Felsenwand führte. Jetzt konnte er auch den Eingang schon etwas besser erkennen. Thorin war sich eigentlich sicher, dass sie alle hier genügend Schutz vor der Kälte des Windes finden würden. Thorin war ja solch ein Klima eigentlich gewöhnt, denn in dieser Heimat herrschte ohnehin ewiger Winter. Jedoch hier am Schneepass hatte sich eine beißende Kälte ausgebreitet, wie man sie selbst in den Eisländern nur selten vorfand. Der Nordlandwolf stand jetzt im Höhleneingang und spähte vorsichtig ins Innere. Dunkel schimmerte es ihm entgegen. Erst allmählich gewöhnten sich seine Augen an das dämmrige Licht, je weiter er in die Höhle hineinging. Groß und geräumig war der Raum. Der Boden war ziemlich eben und bot somit gute Möglichkeiten, hier ein Lager aufzuschlagen. Da der Eingang sich weiter seitlich befand, bildete diese Stelle hier ebenfalls einen geschützten Platz vor dem eisigen Wind. Plötzlich erklang im Hintergrund der Höhle ein dumpfes, grollendes Geräusch. Es war so seltsam und furcht erregend, dass selbst Thorin im ersten Augenblick erschrocken zusammenfuhr. Zwei rote Augen glühten in der Dunkelheit auf und Thorin entdeckte auf einmal einen plumpen, schattenhaften Körper, der sich aus dem finsteren Hintergrund direkt auf ihn zuwälzte. Ein riesenhafter Bär war es - mit einem weißen Fell. Die Bestie hauste offenbar in dieser Höhle und fühlte sich jetzt von dem fremden Eindringling bedroht. Der gewaltige Bär richtete sich auf seinen Hinterläufen auf und hob die Pranken hoch, die mit messerscharfen Krallen besetzt waren. Thorin zögerte keine Sekunde mehr. Mit dem Schwert in der Hand stürmte er auf die riesige Kreatur zu, die ihn gut um eine Mannslänge überragte. Er roch den fauligen Atem des Bären und vernahm erneut das tiefe Grollen aus dessen Kehle, das sehr bedrohlich klang. Thorin stieß mit der Klinge vor und traf den Bären in der linken Flanke. Das weiße Fell färbte sich rot, als Thorin sein Schwert wieder 29
herausriss. Für einen winzigen Moment achtete er jetzt aber nicht auf die Pranken des Bären. Erst im letzten Augenblick konnte er einem todbringenden Prankenhieb noch ausweichen. Dennoch streiften ihn dabei die Klauen an der Brust und rissen seine Haut auf. Thorin verbiss den Schmerz und drang nun um so heftiger auf die Bestie ein. Er kämpfte wie ein Löwe, um sich den Bären vom Leib zu halten, denn das Tier war viel stärker als er. Wenn er siegen wollte, dann musste er schnell sein. Er wich weiter zurück, als die Bestie ihm gefährlich nahe kam. Er musste versuchen, den Bären aus der Höhle zu locken, denn dort draußen hatte er mehr Bewegungsfreiheit als in diesem dämmrigen Raum. Wieder versetzte er dem wilden Tier einen Stich, der es rasend machte. Erneut sprang Thorin zurück und der Bär folgte ihm sofort. Jetzt hatte er den Eingang der Höhle erreicht und atmete etwas auf. Wieder schlug er nach dem Bären, verfehlte ihn jedoch diesmal. Der Bär nutzte diese Sekunde, um erneut seine gefährlichen Pranken zu schwingen. Thorin konnte sich gerade noch ducken und führte stattdessen mit Sternfeuer einen gewaltigen Hieb aus. Das Ungeheuer brüllte laut auf und begann zu taumeln. Wild hieben die gefährlichen Pranken nach allen Seiten, aber Thorins Schwertschlag hatten die Bestie mitten ins Leben getroffen. Der Bär brüllte ein letztes mal auf, bevor er wie ein gefällter Baum zu Boden stürzte und sich nicht mehr regte. Dennoch wartete Thorin einige Sekunden ab, bis er es wagte, an den Bären heranzutreten und sich noch einmal davon zu überzeugen, dass jetzt keine Gefahr mehr drohte. Es war ein Kampf gewesen, der Thorins ganze Kraft gefordert hatte. Erst jetzt spürte er den Schmerz in der Brust, den die Krallen des Bären verursacht hatten und er fühlte ebenfalls, dass die kraftvollen Hiebe seinen Schwertarm fast taub gemacht hatten. Nun aber konnte Thorin seinen Blick von dem getöteten Bären abwenden und sah den Weg hinunter, wo Cotinyo mit den übrigen Gefährten gerade auftauchte. Prinzessin Arlina blickte entsetzt auf den riesigen Kadaver des Bären, während Thorin die blutige Klinge wortlos im Schnee reinigte. 30
»Bei allen Göttern!«, entfuhr es ihr. »Diese Bestie hätte dich zerreißen können, Thorin. Du kannst froh sein, dass du noch am Leben bist...« »Es ist überstanden«, winkte Thorin ab. »Außerdem brauchen wir einen Platz zum Schlafen, oder? Entweder Mensch oder Tier - nur einer konnte siegen.« Er sprach nicht weiter darüber, sondern begab sich wieder ins Innere der Höhle. Die anderen zogen die Pferde mit und folgten ihm. * Die Flammen des Feuers tauchten die Höhle in eine unwirkliche Helligkeit und warfen bizarre Schatten an die rauen Felsenwände. Derwan hüllte sich noch tiefer in seinen langen Mantel, denn ihm machte die Kälte am meisten zu schaffen. Auch der Magier Moran sah ziemlich blass aus und blickte finsterer denn je drein. Ein Mann seines Alters saß normalerweise zuhause vor einem warmen Feuer. Stattdessen war auch er noch einmal in den Kampf gezogen - für einen Preis, von dem niemand wusste, ob er jemals Wirklichkeit werden würde. »Wo ist Thorin?«, fragte der bucklige Flavur und griff mit flinken Fingern nach einem Fleischstück, das sie über dem offenen Feuer gebraten hatten. Saft tropfte ihm die Mundwinkel herab, als er kräftig zubiss. »Hat der Bursche denn keinen Hunger?« »Er ist noch draußen«, entgegnete Derwan und legte etwas Holz aufs Feuer. »Er zieht dem toten Bären das Fell ab. Was weiß ich, was er damit anfangen will...« »Vielleicht glaubt er, dass die Kraft des Bären auf ihn übergeht, wenn er sein Fell trägt«, fügte Cotinyo spöttisch hinzu und trank einen Schluck von dem Reiswein, den er immer mit sich führte. »Bei diesen Barbaren aus dem Norden weiß man ja nie, woran man ist.« »Schweig, Cotinyo!«, fuhr ihn die Prinzessin an, die das nicht hören wollte. »Er hat tapfer gekämpft - das weiß jeder von uns. Ich hätte gerne gewusst, wie du im Kampf gegen diese Bestie ausgesehen hättest...« 31
Cotinyos gelbe Augen funkelten kurz auf, aber er hatte sich rasch wieder in der Gewalt. »Bei uns in den östlichen Steppen gibt es viele Raubtiere«, sagte er. »Ich habe einige von ihnen gejagt und auch getötet, Arlina. Das, was dieser ungebildete Barbar kann, das kann ich schon lange!« »Keiner zweifelt an deinen Fähigkeiten, Cotinyo«, ergriff nun der weißbärtige Magier das Wort. »Du wirst das noch zur Genüge unter Beweis stellen können - genau wie wir anderen auch!« Cotinyo winkte ab und widmete sich wieder dem Reiswein. Seine Gedanken weilten jetzt bei dem Goldschatz in der Felsenburg des toten Königs Fodor. Hoffentlich war sein Anteil daran so groß, dass er damit eine gewisse Zeitspanne gut leben und sich alles kaufen konnte, was er begehrte. Wein, Waffen und Frauen. Dabei schaute er wieder zu Arlina, deren Augen im Licht des Feuers geheimnisvoll schimmerten. Der Steppenkrieger spürte immer stärker, wie sehr ihn die schöne Prinzessin verwirrte. Sein Verlangen nach ihr wurde mit jeder Minute stärker. »Ich gehe hinaus und sehe nach Thorin«, sagte Arlina und erhob sich rasch bei diesen Worten. Cotinyo lag eine heftige Erwiderung auf der Zunge, aber er verstummte, als sich Derwans Hand mit hartem Griff um seinen Arm legte. »Die Prinzessin ist alt genug, um zu wissen, was sie tut«, meinte der erfahrene Söldner zu dem Steppenkrieger. »Wenn sie sich um Thorin kümmern will, dann lass sie es tun. Du hast ihr nichts zu befehlen, Cotinyo!« Der Magier und der bucklige Dieb warfen sich beide hämische Blicke zu, als sie Zeuge wurden, wie Derwan den Steppenkrieger zurechtwies. Cotinyo fügte sich schließlich. Er wusste nämlich, dass er gegen Derwan und Arlina zusammen nichts ausrichten konnte. Wütend schüttelte er die Hand des alten Soldaten ab. »Weiber!«, brummte er abfällig und griff dann nach einem Stück Bratenfleisch, das über dem Feuer schmorte. Dabei verbrannte er sich die Finger, als er zu hastig zulangte. 32
* Das Schneetreiben hatte nachgelassen. Es blieb zwar noch ziemlich kalt, aber wenigstens war der beißende Wind abgeflaut. Die Sonne war noch nicht vor allzu langer Zeit hinter den Bergen versunken und Dämmerung herrschte ringsherum, als Thorin daran ging, dem toten Bären das Fell abzuziehen. Eine schweißtreibende Arbeit war das, denn der Kadaver war sehr schwer. Aber Thorin hatte nur das weiße, wärmende Fell vor Augen, das ihn vor der Kälte schützen sollte. Deshalb setzte er seine Klinge geschickt an und hatte es nach vielen Mühen beinahe auch geschafft, das Tier aus der Decke zu schlagen. Das blutige Fleisch des Bären dampfte in der Kälte, als er den Pelz herunterzog. Er war so sehr in seine Arbeit vertieft, dass er die Prinzessin erst sah, als sie schon fast neben ihm stand. Sofort wirbelte er herum, die Klinge in der Hand auf den vermeintlichen Gegner gerichtet. Arlina sprang ganz erschrocken zurück und hob abwehrend beide Hände hoch. Für einen winzigen Moment stand Furcht in ihren Augen. »Weshalb rufst du nicht, wenn du dich mir von hinten näherst, Prinzessin?«, fragte Thorin etwas wütend. »Ein richtiger Gegner wäre jetzt längst tot...« Die blonde Arlina schluckte krampfhaft, als sie Thorin so reden hörte. »Wir haben uns alle gefragt, warum du nicht in die Höhle kommst, Thorin«, richtete sie nun das Wort an ihn. »Die Nacht wird kalt und niemand weiß, welche Gefahren sonst noch hier draußen lauern. Du solltest besser aufhören und mit hineinkommen.« »Nicht bevor ich dies vollendet habe«, erwiderte Thorin und wies auf den Kadaver des Bären. »Sein Fell ist dicht und wird mich Wärmen. Wenn ich es jetzt nicht tue, dann ist er morgen früh so steif gefroren, dass ich das Fell nicht mehr abziehen kann. Deshalb muss ich es jetzt machen.« Während er das sagte, vollendete er die letzten erforderlichen Handgriffe und schließlich hatte er das Fell des getöteten Bären vollständig abgezogen. 33
»Du bist wirklich ein Mann der Tat«, meinte Arlina, die ihm interessiert zugesehen hatte. »Seit ich meine Heimat verlassen habe, habe ich viel gesehen und erlebt«, sagte Thorin. »Ich habe gelernt, keinem Menschen zu vertrauen, den ich noch nicht genau kenne. Das gilt auch für eine Frau. Bestimmt bist du nicht zu mir gekommen, um zuzusehen, wie ich dem Bären das Fell abziehe. Also was willst du von mir?« »Der Weg nach Samorkand ist noch weit, Thorin«, antwortete sie und bemühte sich nicht anmerken zu lassen, dass Thorin sie bereits durchschaut hatte. »Ich brauche Männer, auf die ich mich jederzeit verlassen kann. Starke Kämpfer so wie du es bist. Ob ich den anderen ganz trauen kann, weiß ich noch nicht. Derwan ist der einzige, der mir treu zur Seite steht. Alle anderen denken nur an den Goldschatz - und du?« Thorin legte sein Schwert beiseite und richtete sich zu seiner vollen Größe auf. »Du hast mich für Gold angeheuert, Prinzessin«, sagte er. »Hast du das schon wieder vergessen? Was darüber hinaus noch sein wird, vermag ich nicht zu sagen - nicht hier und heute...« Eine eigenartige Spannung lag über dem Nordlandwolf und der blonden Schönheit. Arlina hob den Kopf. Ihre Augen schienen in die Thorins zu tauchen. Der war kein Mann großer Worte. Er packte die Prinzessin einfach an den Schultern und zog sie fest an sich. Seine Lippen pressten sich auf ihren roten Mund und für einen winzigen Moment spürte er ihre Gegenwehr. Dann aber gab Arlina nach und erwiderte den Kuss voller Leidenschaft. Ihre Arme schlangen sich um seinen Nacken, als sie beide hinunter auf das Fell des Bären sanken und die Welt um sich herum vergaßen. Beide tauchten ein in einen Strudel aus unbeschreiblichen Gefühlen und Arlina erschrak selbst innerlich, als sie mit jeder Faser ihres Körpers ganz deutlich spürte, zu welchen Empfindungen ihr Herz fähig war. Keiner von ihnen spürte mehr die Kälte des Winters in diesen Minuten... * 34
Cotinyo blickte unruhig zum Eingang der Höhle. Für ihn schien schon eine Ewigkeit verstrichen zu sein, seit Arlina hinausgegangen war, um nach Thorin zu sehen. Da kam ihm doch so manches ziemlich merkwürdig vor und deshalb beschloss er, selbst nachzusehen, was dort vor sich ging. »Wohin willst du, Cotinyo?«, fragte Derwan, der den Steppenkrieger die ganze Zeit über nicht aus den Augen gelassen hatte. »Ich bin gleich wieder da«, antwortete er und verließ dann auch schon die Höhle, ohne Derwan eines weiteren Blickes zu würdigen. Seine Gedanken kreisten um die schöne Prinzessin, die diesen Thorin offensichtlich bewunderte. War sie ihm deshalb nachgeschlichen wie eine läufige Hündin? Er musste der Sache auf den Grund gehen, sonst würde er keine Ruhe mehr finden. Er trat hinaus in die Dämmerung und suchte die Stelle, wo der Kampf mit dem Bären stattgefunden hatte. Seine Fellstiefel knirschten im hohen Schnee, als er dorthin ging, wo er Thorin und Arlina vermutete. Als er wenige Schritte später erkannte, wie Arlina und Thorin sich eng umschlungen auf dem Fell des Bären wälzten, traten seine Augen ungläubig aus den Höhlen hervor. Eine plötzliche, unbeschreibliche Welle des Zorns erfasste den Steppenkrieger. Seine Vernunft setzte aus und Hass bestimmte sein weiteres Vorgehen. Er riss das Krummschwert heraus und stürmte einfach los. Arlina sah den heranstürmenden Schatten im letzten Moment und schrie erschrocken auf. Thorin rollte sich geistesgegenwärtig rasch zur Seite und gab der Prinzessin noch einen Stoß, der sie außer Gefahr brachte. Dann war Cotinyo auch schon zur Stelle und sein Schwert stieß vor. Aber Thorin traf die Klinge dennoch nicht mehr, denn dieser hatte sich instinktiv beiseite gedreht, so dass die Klinge sich in den Schnee bohrte. »Ich töte dich, du Hund!«, keuchte der schlitzäugige Steppenkrieger, der rasend vor Eifersucht war und kaum klar denken konnte. 35
Er riss seinen Arm mit der tödlichen Waffe hoch, um sie Thorin dann in die Brust zu stoßen. Doch dieser stemmte ihm gerade noch rechtzeitig seinen starken Arm entgegen. Verbissen rangen die beiden Männer miteinander. Es war ein lautloser, aber um so erbitterter Kampf. Beide gingen hart aufeinander los und Arlina verfolgte die Auseinandersetzung mit vor Schreck geweiteten Augen. Sie wollte schreien, aber die Stimme versagte ihr den Dienst. Thorin zog die Beine an und versetzte Cotinyo einen Stoß, der ihn einige Schritte zurückschleuderte. Fluchend rappelte er sich wieder auf und wollte Thorin erneut angreifen, als plötzlich etwas vor seinen Füßen mit einem dumpfen Geräusch einschlug - ein Pfeil! Drüben bei den Felsen stand der grauhaarige Derwan. In der Hand hielt er einen großen Bogen, auf dessen Sehne er bereits einen weiteren Pfeil gelegt hatte, der genau auf den Steppenkrieger zielte. »Wirf dein Schwert weg, Schlitzauge!«, rief er drohend. »Sonst trifft dich der nächste Pfeil ganz sicher!« Cotinyo hielt inne und blickte Derwan voller Wut an. Schließlich senkte er aber seine Waffe angesichts dieser tödlichen Bedrohung. Arlina lief erleichtert zu Thorin und stellte sich an seine Seite. Thorin legte einen Arm um ihre runden Schultern und strich ihr sanft durch das lange Haar. »Du verschwindest besser von hier, Cotinyo«, riet ihm Derwan. »Geh zurück in die Höhle und kümmere dich um deine eigenen Dinge!« Seine Augen blickten zornig drein. »Arlina ist alt genug - habe ich dir das nicht vorhin gesagt? Sie entscheidet selbst, wen sie will...« Cotinyo warf Arlina und Thorin einen vernichtenden Blick zu und ließ das Schwert in der Scheide verschwinden. Er hatte sich bereits abgewandt, als ihn Derwans Stimme stoppte. »Du hast etwas vergessen, Cotinyo! Entschuldige dich bei der Prinzessin für deine große Torheit!« Cotinyo drehte sich unendlich langsam um. Sein Gesicht war eine ausdruckslose Maske. Er war ganz ruhig, als er zu Arlina sprach. 36
»Ich entschuldige mich, Prinzessin«, sagte er mit gezwungener Beherrschung. »Ich wusste nicht, was ich tat.« Arlina reichte das und daraufhin verschwand der Steppenkrieger zwischen den Felsen. Nun ließ Derwan den Bogen sinken und schüttelte tadelnd den Kopf. »Du warst unvorsichtig, Arlina«, sagte er mit einem kritischen Blick zu der Prinzessin und auch zu Thorin. »Du solltest dir deine Gefühle aufsparen bis zu dem Tag, wo wir unser Ziel erreicht haben.« »Reden wir nicht mehr darüber, Derwan«, sagte Arlina knapp und löste sich von Thorin. Der schöne Augenblick war endgültig vorbei. Aber Thorin dachte nicht mehr daran, ob auch er sich vielleicht falsch verhalten hatte. Es hatte sich eben so ergeben und ob da noch mehr kam, würde die Zukunft zeigen. Gemeinsam gingen die drei zur Höhle zurück. Irgendwo draußen in der winterlichen Wildnis erklang der lang gezogene Ruf eines einsamen Wolfes, während bleiches Mondlicht die Nacht erhellte... * Irgend etwas schreckte Moran aus dem Schlaf hoch, aber er wusste nicht, was es war, als er die Augen öffnete und in die Dunkelheit sah. Das Feuer besaß nur noch eine schwache Glut und konnte nur noch die unmittelbare Umgebung der Höhle erhellen. Der alte Magier stemmte sich langsam aus den Decken hoch und spähte umher. Rings um das Feuer hatten die anderen Gefährten ihren Schlafplatz. Aber dort rührte sich gar nichts. Erst als Moran hinüber zum Höhleneingang blickte, erkannte er dort die Umrisse einer buckligen Gestalt, die sich vor dem hellen Licht des Mondes schwach abzeichnete. Flavur konnte offensichtlich keinen Schlaf finden. Der verwachsene Mann stand dort und schien ganz in seinen eigenen Gedanken versunken zu sein. Moran erhob sich und tappte auf leisen Sohlen hinüber zu der Stelle, wo Flavur stand. »Warum schläfst du nicht?«, flüsterte der alte Magier so leise, dass die anderen es nicht hören konnten, sondern nur Flavur - und der 37
fuhr erschrocken zusammen, als habe man ihn auf frischer Diebestat ertappt. Dann aber hatte er sich rasch wieder beruhigt. »Ich mache mir nur Sorgen um die nächsten Tage«, flüsterte er. »Derwan sagte, dass wir morgen König Fodors Reich erreichen. Aber niemand weiß, was uns dort erwartet.« »Hast du Angst?«, hakte Moran sofort nach. »Wir sind doch schon soweit gekommen, dass wir den Rest auch noch schaffen werden. Das ist es aber nicht, was dir Sorgen bereitet. Ich kann in deinem Gesicht lesen wie in einem offenen Buch, Flavur. Du fürchtest dich davor, dass dich die anderen um deinen Anteil betrügen könnten...« Flavur fühlte sich ertappt und blickte betreten zu Boden. »So ist das also«, fuhr Moran fort. »Aber darüber musst du dir nicht den Kopf unnötig zerbrechen - ich wüsste eine Lösung, die für uns beide gut ist. Wir beide könnten uns doch zusammentun, bis wir den Schatz gefunden haben. Vier Augen sehen bekanntlich mehr als zwei.« »Du traust den anderen auch nicht«, schlussfolgerte der Bucklige aus dieser Bemerkung. »Cotinyo ist ein lausiger Bastard, dem man nicht den Rücken zukehren darf. Arlina und Derwan halten ohnehin zusammen wie Pech und Schwefel - und jetzt haben sie auch noch Thorin auf ihre Seite gezogen.« »Denk nicht lange nach, sondern versuch jetzt zu schlafen«, riet ihm der weise Magier. »In mir hast du einen wahren Freund, der dich nicht im Stich lässt - das schwöre ich dir.« Das schien den Dieb doch sehr zu beruhigen. Er kroch wieder hinüber zu seinen Decken und wickelte sich fest hinein. Augenblicke später erklang sein regelmäßiger Atem - ein Zeichen dafür, dass er nun fest schlief. Nur Moran blieb noch eine Zeit lang wach, weil seine Gedanken um viele verschiedene Dinge kreisten. In seinen weisen Augen war das Wissen um Dinge, die noch niemand ahnte. Dinge, die schrecklicher Natur waren! * 38
Früh am nächsten Morgen brachen sie auf. Cotinyo verlor kein Wort mehr darüber, was sich in der vergangenen Nacht abgespielt hatte. Es sah so aus, als habe er sich wieder beruhigt. Aber Arlina fühlte trotzdem, dass es in dem Steppenkrieger brodelte und das würde irgendwann wieder zum Vorschein kommen. Thorin und Derwan würden also aufpassen müssen. Sie brauchten nicht lange, bis sie den Schneepass erreicht hatten. Thorin, der sich mittlerweile in das Fell des Bären gehüllt hatte und dadurch noch barbarenhafter wirkte, ritt mit Derwan an der Spitze. Sie passierten Gletscher und herunterhängende Schneewächten. Hier hatte die Natur ein grandioses Werk geschaffen. Ringsherum wirkte alles menschenfeindlich und verlassen, je höher sie dem Pass folgten. Derwan zügelte schließlich sein Pferd oben auf dem höchsten Punkt. Seine Augen weiteten sich, als er hinunter auf die andere Seite des Gebirges blickte, das sich tief unter ihm erstreckte. »Dort beginnt Samorkand, Thorin«, sagte er zu dem Nordlandwolf. »Es sieht unscheinbar von hier oben aus - aber wenn wir erst die Ebene erreicht haben, wirst auch du den Hauch des Verderbens spüren. Von nun an müssen wir noch mehr auf der Hut sein...« Thorin nickte stumm. Er drehte sich um zu der Prinzessin, die ihre alte Heimat nun auch zum ersten mal wieder sehen würde. Sie sah ebenfalls nachdenklich aus. »Was ist?«, fragte Thorin ungeduldig. »Geht es nun weiter, oder wollt ihr hier oben in stiller Ehrfurcht erstarren? Es gilt, ein Ungeheuer zu besiegen und das schaffen wir nicht, wenn wir hier bleiben.« »Du hast recht«, sagte Derwan und war froh über diese kühnen Worte. Dann trieb er sein Pferd an und lenkte es den Weg hinunter. * Das kleine Steinhaus erblickten sie erst, als sie schon fast daran vorbei geritten waren. Es stand in den niedrigen Kiefern verborgen und die Felder rings um das bescheidene Anwesen wirkten verwahrlost und 39
verkommen. So als wenn schon seit Jahren hier niemand mehr nach dem Rechten gesehen hatte. »Was hältst du davon, Cotinyo?«, fragte ihn der grauhaarige Hauptmann, der ebenfalls zu dem Haus hinüberschaute. »Sollen wir nachsehen?« Cotinyo überlegte kurz, bevor er schließlich zu einer Antwort ansetzte. »Ich vermisse die Vögel, Derwan«, sagte er dann. »Keine Geräusche von ihnen weit und breit. Das gefällt mir nicht - aber nachsehen müssen wir dennoch. Schließlich müssen wir erfahren, was in der Zwischenzeit hier alles geschehen ist. Wir kommt mit mir?« Thorin und Flavur boten sich an und damit war der Steppenkrieger einverstanden. Die drei näherten sich langsam dem einsamen Gehöft, während Derwan mit Arlina und Moran zurückblieb. Cotinyo erreichte als erster die kleine Hütte. Nirgendwo regte sich ein Lebenszeichen, als er sein Pferd zügelte und im Begriff war, abzusteigen. Thorin inspizierte die Büsche um das Anwesen herum, aber auch hier fand er nichts. »Pass auf unsere Pferde auf, Flavur«, sagte er zu dem Dieb. »Cotinyo und ich werden uns im Haus umsehen. Wenn du irgend etwas Verdächtiges bemerken solltest, warnst du sofort die anderen. Verstanden?« Der Bucklige nickte heftig. Er fühlte sich in seiner Haut nicht wohl. Sich in dunklen Gassen oder auf Märkten an arglose Menschen heranschleichen und ihnen unbemerkt ihre Habseligkeiten stehen - das war leicht. Diese Sache hier war viel gefährlicher, denn keiner von ihnen wusste, was sie hier erwartete. Trotzdem zwang er sich zur Ruhe und sah zu, wie Cotinyo und Thorin das Innere des Steinhauses betraten. Die Tür war so morsch, dass sie fast zusammenfiel. Cotinyo blickte sich in dem ziemlich heruntergekommenen Raum um. Tische und Stühle waren zerbrochen, als hätte hier ein Trupp Plünderer gehaust. Nirgendwo war jemand zu sehen. Die beiden Krieger wollten schon wieder hinausgehen, als sie plötzlich ein leises Stöhnen vernahmen. Thorin blickte hinüber zu einer 40
Nische, die von einem Vorhang verdeckt wurde. Er sah Cotinyo kurz an und dieser gab ihm ein Zeichen weiterzugehen, während er mit gezücktem Krummschwert abwartete. Thorin riss den Vorhang beiseite, rechnete jetzt mit einem gefährlichen Gegner. Aber alles, was er sah, war ein alter dürrer Mann auf einem verfaulten Strohlager, der gierig nach Luft schnappte und leise stöhnte. Er sah sehr krank aus und würde wahrscheinlich bald sterben. Tief lagen die Augen in den dunklen Höhlen und bildeten einen krassen Gegensatz zu der blassen Haut. »Der Mann ist dem Tod nahe«, murmelte der Nordlandwolf. »Ob er die Pest hat? Dann sollten wir vorsichtig sein.« Der Steppenkrieger zuckte mit den Achseln. Stadessen sah er, wie der Blick des Kranken auf einmal klar wurde. »Flieht«, hörten Thorin und Cotinyo ihn dann wispern. »Ihr müsst fliehen, sonst ist es zu spät für euch...« »Rede kein wirres Zeug, Alter!«, fuhr ihn der Steppenkrieger an. »Sag uns lieber, was hier vorgefallen ist. Wo sind die Untertanen von König Fodor?« Der todkranke Mann versuchte zu antworten, aber ein plötzlicher heftiger Hustenanfall hinderte ihn daran. Es dauerte eine Zeit, bis er sich wieder gefangen hatte und Luft holen konnte. »Alle tot... oder geflohen«, stöhnte er und die dünnen Hände verkrallten sich ins faulige Stroh. »Der Hauch des Drachen... hat sie alle vertrieben. Der Drache... ah... hütet euch vor dem... Drachen!« »Wir sind zurückgekommen, um diese Bestie zu töten, Alter«, sagte Thorin und bemerkte dann den erschrockenen Blick des Sterbenden. »Erzähl uns mehr.« »Ich weiß nicht viel«, kam es krächzend über die Lippen des Mannes, der zusehends schwächer wurde. »Als sie flohen, ließen... sie mich hier zurück. Ich bin alt und... krank... meine Zeit ist abgelaufen. Ihr aber geht besser. Das Land... ist dem Tod geweiht. Ich muss...« Erneut überfiel ihn ein Hustenanfall, der seinen ganzen Körper schüttelte. Er bäumte sich noch ein letztes mal auf, dann fiel er zurück. Blicklose Augen starrten an die Decke der schäbigen Hütte. 41
»Er hat es hinter sich«, murmelte Cotinyo und sah nachdenklich auf den Toten. »Er redete seltsames Zeug, Thorin.« »Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich so wirr ist, wie es uns erschien«, meinte der Nordlandwolf. »Wenn die Menschen alle geflohen sind, dann muss es einen guten Grund dafür gegeben haben.« »Wir werden es herausfinden«, fügte Cotinyo hinzu. »Gehen wir besser zu den anderen zurück. Für den da können wir so sowieso nichts mehr tun.« Draußen vor der Hütte wartete der sichtlich nervöse Flavur. »Was ist los?«, fragte er stotternd. »Habt ihr was gefunden?« »Nichts was dich interessieren könnte«, sagte Cotinyo und stieg in den Fellsattel seines Tieres. »Wir haben nur einem alten Mann beim Sterben zugesehen.« »Du wirst es gleich erfahren, Flavur«, sagte Thorin, um den Dieb zumindest etwas zu beruhigen. »Warte, bis wir bei den anderen sind. Aber dass es nicht mehr ganz so friedfertig zugehen wird - darauf solltest du dich besser einstellen...« * Sie ritten durch ein menschenleeres Land, das einmal besiedelt gewesen war. Hin und wieder kamen sie durch kleine Siedlungen, wo vielleicht acht oder zehn Häuser zusammenstanden - aber sie waren alle von ihren Bewohnern im Stich gelassen worden. Sie waren geflohen vor etwas unsagbar Bösem! Fast schien es, als hätte in diesen Häusern schon seit vielen Jahren niemand mehr gewohnt, denn alles machte einen heruntergekommenen Eindruck. Felder waren vom Unkraut durchwachsen und die Wiesen waren schon lange nicht mehr gemäht worden. Türen hingen in den Angeln und quietschten, wenn sie der Wind berührte. Alles war von einem Hauch des Bösen umgeben und immer noch konnten sie niemanden sehen. Sie wussten aber, dass der Atem des Drachen sie bald streifen würde, wenn sie erst die Burg von Samorkand erreicht hatten. 42
Thorin ritt neben Arlina an der Spitze des kleinen Trupps. Die schöne Prinzessin wirkte sehr niedergeschlagen. Schließlich war sie in diesem Land aufgewachsen, das früher ganz bestimmt ein herrlicher Flecken Erde gewesen war. Jetzt konnte jeder erkennen, was in der Zwischenzeit Schreckliches geschehen war. Seit ihr das bewusst wurde, war sie sehr wortkarg geworden. »Wir werden dieses Ungeheuer vernichten«, versprach ihr Thorin, der die Trauer Arlinas spürte. »Dein Vater wird gerächt werden.« »Ich weiß, dass ihr mir alle helfen wollt«, erwiderte die Prinzessin. »Keiner von euch wird vor einem Kampf zurückschrecken. Es ist dieses Land, Thorin. Kein Mensch ist mehr zu sehen - alle sind geflohen. Das ist es, was mich aufwühlt. Selbst wenn wir siegen, mir bleibt nur noch ein Reich ohne Untertanen...« »Wenn die Bestie erst vernichtet ist, wird alles wie früher werden«, versprach ihr Thorin - auch wenn er wusste, dass dem nicht so war. Denn er konnte sich kaum vorstellen, wie aus dieser Öde wieder ein blühendes Reich werden sollte. Arlina wollte gerade darauf etwas erwidern, als sie plötzlich im Westen etwas sah. Thorin folgte ihren Blicken und erkannte es dann auch. Weit drüben bei den Bergen erhob sich ein gewaltiges Bauwerk von einer wilden Schönheit, das hoch über der Ebene empor thronte. »Der hohe Samorkand«, murmelte Arlina ergriffen. »Das ist unser Ziel!« Thorin hob die Hand über die Augen, um sich vor der Sonne zu schützen und sah ebenfalls in Richtung der Burg, während Arlina ganz aufgeregt mit Derwan einige Worte wechselte. Hier war das Zuhause dieser beiden Menschen gewesen - bis der Drache gekommen war und alles zerstört hatte. In der Tat war die Burg ein Bauwerk von wilder Schönheit. Über den mächtigen, uneinnehmbaren Mauern, die sich nach oben verjüngten, blinkte die Sonne auf Dächern, die einstmals mit Gold beschlagen waren. Jetzt schien das stumpfe Blei zwischen den Resten der Verkleidung durch. Wie viel schöner mochte die Burg erst gewesen sein, als noch bunte Banner von den Türmen wehten und die Höfe von Trom43
petengeschmetter und frohem Lachen widerhallten. Das alles war jetzt Vergangenheit. »Schaut sie euch alle in Ruhe an!«, rief Derwan den anderen zu. »Dort haust die Bestie, die wir töten sollen...« Thorin bemerkte, wie Cotinyo über Derwans Worte zu grinsen begann. Genau wie Thorin war er nur wegen des versprochenen Anteils am Goldschatz mitgekommen. Der Nordlandwolf empfand zwar viel Sympathie für die Prinzessin und deren Situation, aber auch er dachte jetzt an den Reichtum, auf dem der Drache hockte und den sie ihm entreißen würden. »Beim Gott aller Diebe - was ist das?«, rief der bucklige Flavur plötzlich und deutete ganz aufgeregt nach vom. »Siehst du es auch, Moran?« Der Magier schüttelte stumm den Kopf. Seine Augen waren anscheinend nicht mehr die besten. Er bemühte sich aber trotzdem, das zu erkennen, was Flavur gemeint hatte. »Es sind Vögel«, murmelte Derwan, als klar wurde, was Flavur gesehen hatte. »Gibt es also doch noch Leben in diesen Mauern?« Gespannt blickten sie zur Felsenburg, wo etwas am Himmel kreiste, das sich jetzt dem kleinen Reitertrupp näherte. Thorin starrte hinauf in das ferne Blau. Es schienen ungewöhnliche Vögel zu sein. Sie hatten große ausgebreitete Schwingen von fast zwei Armlängen Spannweite. Thorin zuckte zusammen, als er die schreckliche Wahrheit begriff. Das waren keine Vögel, denn nun bemerkte er die menschenähnlichen Köpfe und die behaarten Leiber. »Passt auf!«, rief er seinen Gefährten eine Warnung zu, während er Sternfeuer aus der Scheide riss. Arlina schrie laut auf, als sie die geflügelten Dämonen deutlicher sah. Ihre teuflischen Gesichter waren grässlich verzerrt und sie gaben laute, durchdringende Schreie von sich, als sie sich mit rauschenden Schwingen den Menschen entgegenstürzten. »Odan, steh mir bei«, murmelte Thorin und reckte die Klinge des Götterschwertes den geflügelten Ungeheuern entgegen. Kampfeslust 44
und wilde Entschlossenheit leuchteten in seinen Augen, während er den Zusammenstoß erwartete. »Cotinyo!«, brüllte Thorin zu dem Steppenkrieger hinüber. »Achte auf die Prinzessin!« Zu mehr kam er nicht, denn in diesem Moment wurde er von einer der Bestien angegriffen. Sein Pferd scheute, wollte beim Anblick dieses grässlichen Wesens ausbrechen und davon stürmen. Aber Thorin konnte die Zügel noch herumreißen und duckte sich dann im Sattel, als ihn die Bestie mit ihren tödlichen Schwingen streifte. Messerscharfe Krallen streckten sich nach ihm aus, versuchten ihn aus dem Sattel zu reißen. Aber der Versuch misslang. Stattdessen zuckte Thorins Schwert vor und traf den Dämon - aber er hatte nicht heftig genug geschlagen. Er riss sein Pferd herum und erwartete den zweiten Angriff der Bestie. Aus den Augenwinkeln konnte er kurz sehen, wie Cotinyo aus Leibeskräften auf die Ungeheuer eindrosch, die sich in Arlinas Nähe befanden. Dann war der Dämon wieder heran. Krächzend schlug die Bestie mit den gewaltigen Flügeln, als sie sich erneut auf Thorin stürzte. Der Nordlandwolf wehrte sich so gut er konnte. Immer wieder zuckte seine Klinge vor und ebenso musste er sich erneut ducken, um den scharfen Klauen zu entgehen. Wenn die ihn richtig trafen, war es aus mit ihm! Sternfeuer sang sein tödliches Lied, als es sich in den pelzigen Bauch des geflügelten Dämons bohrte. Das Ungeheuer brüllte laut auf und beendete seinen Angriff. Der schwere Körper stürzte zu Boden und verendete mit einem grässlichen Röcheln. Thorin sah sofort hinüber zu Arlina, die von den Bestien stärker bedrängt wurde. Aber Cotinyo war bereits zur Stelle und hieb wie ein Besessener nach den geflügelten Dämonen. Auch Derwan führte seine Klinge gut und sicher. Flavur dagegen war in arge Bedrängnis geraten. Eine der Bestien war ihm gefährlich nahe gekommen und auch der alte Magier konnte ihm jetzt beistehen, denn dieser musste sich selbst gegen eines der Ungeheuer wehren. Moran wusste sich aber dennoch zu helfen. Bannsprüche kamen ihm über die Lippen und hinderten den Dämon daran, ihn mit seinen Krallen vom Pferd zu reißen. Die Bestie zog 45
es stattdessen vor, von Moran ganz abzulassen und sich einem anderen Opfer zuzuwenden. »Thorin, hilf mir!«, schrie der kleine Dieb außer sich vor Furcht und stach mit seinem Schwert nach dem Ungeheuer, aber er traf es nicht. Der Nordlandwolf eilte zu Flavur und drang nun auf den geflügelten Feind ein. Der Dämon schlug wild mit den Schwingen, aber er erwischte Thorin nicht. Thorin zielte mit einen kraftvollen Schlag gegen die lederartigen Schwingen der Bestie und traf auch. Sternfeuer riss die Schwinge von oben bis unten auf und das Ungeheuer geriet ins Taumeln. Fluguntüchtig geworden, schwankte es hin und her und diesen Moment nutzte Thorin sofort aus. Die Götterklinge traf das furcht erregende Haupt des Dämons, durchtrennte Sehnen und Knochen und der Schädel des Ungeheuers Flog in hohem Bogen davon. Ein Dämon hatte bereits die Flucht ergriffen angesichts der heftigen Abwehr der mutigen Männer. Cotinyo hatte ganze Arbeit geleistet, wie Thorin dann erkennen konnte. Das Wesen, das ihn hatte töten wollen, lag ebenfalls kopflos am Boden. »Thorin!«, erklang nun Arlinas Hilferuf. »Da drüben - Derwan!« Zwei Bestien hatten den Hauptmann von zwei Seiten angegriffen. Thorin ahnte Schlimmes und trieb sein Pferd sofort an. Mit hoch empor gereckter Klinge griff er die geflügelten Schreckenswesen an und die ließen daraufhin sofort von ihrem Opfer ab und erhoben sich mit schlagenden Schwingen wieder in die Lüfte. Cotinyo versuchte noch, ihnen einen Pfeil nachzuschicken, aber dieser Versuch schlug fehl. Der grauhaarige Hauptmann drehte sich im Sattel um. Sein Gesicht war unnatürlich bleich, als er Thorin ansah. Schmerz spiegelte sich in seinen Augen wider und er hatte beide Hände auf seinen Bauch gepresst. Ohne einen Laut von sich zu geben, fiel er plötzlich vom Rücken seines Pferdes. »Derwan!«, rief Arlina, als sie den väterlichen Freund stürzen sah und eilte zu ihm. Noch vor Thorin kam sie bei ihm an, stieg hastig aus dem Sattel und beugte sich dann zu Derwan hinab, der sich nur schwach bewegte. Tränen flossen über ihr schönes Gesicht, als sie 46
dann die schreckliche Wunde sah, die die geflügelten Dämonen gerissen hatten. Gedärme waren ausgetreten und es roch penetrant nach Blut und Tod. »Er ist verletzt!«, wandte sie sich hilfesuchend an die anderen. »Will ihm denn keiner helfen? Moran, komm - du musst etwas tun!« Moran erreichte nach Thorin den stöhnenden Hauptmann. Der alte Magier beugte sich über Derwan, untersuchte ihn kurz - und seine Miene verhieß dabei nichts Gutes. »Er muss es einfach schaffen«, stammelte Arlina mit tränenerstickter Stimme zu Thorin, der sie jetzt in seinen Armen hielt und ihr Trost zusprach. »Er ist der einzige Gefährte aus alten Zeiten, der mir geblieben ist...« Inzwischen hatte Moran seine Untersuchung beendet. Er sah zu Thorin und kurz zu der Prinzessin und schüttelte dann stumm den Kopf. Sein Urteil war eindeutig. Arlina konnte und wollte das einfach nicht glauben. Erneut beugte sie sich über den tödlich verletzten Derwan und der schlug in diesem Moment die Augen auf. Er erkannte Arlina, obwohl die Schmerzen ihn sehr quälten. »Jetzt muss ich dich doch noch... allein lassen, Mädchen«, flüsterte er mit schwacher Stimme und streckte seine Hand aus. Arlina ergriff sie und drückte sie fest. »Diese Ungeheuer haben ganze... Arbeit geleistet.« »Du darfst nicht sterben, Derwan!«, rief sie voller Ohnmacht. »Nicht jetzt, wo wir unserem Ziel so nahe sind...« Die Stimme versagte ihr schließlich den Dienst, weil sie wieder weinen musste. »Ich muss gehen, mein Kind«, erwiderte Derwan und versuchte trotz seiner Schmerzen zu lächeln. »Die Götter... rufen mich zu sich und ich... muss diesen Weg gehen. Denk an... mich, wenn du willst... aber beschützen muss... dich jetzt ein... anderer...« Er sah dabei auf Thorin. »Sie braucht... dich, Thorin«, keuchte er mit ersterbender Stimme. »Wenn ich sie bei dir... in Sicherheit weiß, ist das Sterben... leichter. Schwöre es mir!« »Du kannst dich auf mich verlassen, Hauptmann Derwan«, antwortete Thorin und schwor bei seinen eigenen Göttern, sein Leben für 47
die Prinzessin einzusetzen. »Ihr wird nichts zustoßen, solange ich ein Schwert in den Händen halten kann. Sei unbesorgt.« »Dann ist es... gut«, murmelte der sterbende Hauptmann. Nichts konnte den Tod jetzt noch aufhalten. Er bäumte sich noch einmal kurz auf und sank dann entseelt zurück. Arlina weinte still vor sich hin, als sie ihren treuen Weggefährten tot sah. »Hör jetzt auf zu weinen, Prinzessin«, sagte Thorin. »Ich kann deinen Schmerz verstehen, aber das ändert auch nichts mehr. Wir müssen jetzt tun, was getan werden muss.« * Hoch loderten die Flammen in den Himmel empor. Dunkler Rauch stieg auf und wurde vom aufkommenden Wind in Richtung der Felsenburg getrieben. Sie hatten Derwan auf einem Scheiterhaufen aufgebahrt, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. In voller Rüstung hatten sie den ehemaligen Hauptmann der versprengten Königsgarde auf das Holz gelegt. Seine Augen waren gen Himmel gerichtet und sein Schwert hatten sie ihm in die gefalteten Hände gelegt. Moran, der Magier, hatte einige Worte gesprochen, bevor es Arlinas Pflicht war, das reinigende Feuer zu entfachen. Die Flammen zügelten an dem trockenen Holz rasch empor und fanden Nahrung. Bald waberte eine Feuerlohe hoch, die den Toten einhüllte. Rauch hing in der Luft, als die übrigen Gefährten ihre Pferde bestiegen und weiter in Richtung Felsenburg ritten. Arlina blickte mit stummer Miene auf die lodernden Flammen, die Derwan in das Reich seiner Götter und Helden trugen. Ihr Gesicht war zu einer ausdruckslosen Maske verkümmert, als sie zur weit entfernten Burg blickte. »Derwan wird gerächt werden«, murmelte sie so leise, dass es nur Thorin hören konnte, der neben ihr ritt. »Er soll nicht umsonst gestorben sein...« »Er ist gestorben wie er gelebt hat, Arlina«, fügte Thorin hinzu und sah dabei die in den Himmel aufsteigenden Ascheteile, die Derwans Seele mit sich trugen. »Ein aufrechter Krieger war er. Gibt es 48
etwas Schöneres, als darin seine Erfüllung zu finden? Er wird es nicht wollen, dass du lange um ihn trauerst. Du wirst ihn nie vergessen und nur das ist wichtig.« Arlina hob den Kopf. Wenigstens versuchte sie jetzt wieder zu lächeln. Thorin gab seinem Pferd die Zügel frei und setzte sich zusammen mit Arlina an die Spitze des Trupps. Sie ritten weiter in Richtung Norden und die gewaltige Felsenburg kam immer näher... * Moran stand abseits vom Feuer. Seinen Gefährten hatte er nur gesagt, dass ihm der Kampf mit den geflügelten Dämonen stark zugesetzt habe und er sich deswegen erholen und neue Kräfte schöpfen müsse. Die anderen hatten diesen Wunsch respektiert und ließen ihn zufrieden. Kurz vor den Bergen hatten sie Rast machen müssen, denn die Dunkelheit hatte sich über die weite Ebene gelegt. Niemand wusste, was auf sie zukam. Deshalb hatten sie ihr Lager unterhalb des Berges aufgeschlagen, auf dessen höchsten Punkt sich die Zinnen der Burg erhoben. Cotinyo hatte sich angeboten, die erste Wache zu übernehmen. Danach folgte Thorin. Die beiden Krieger hatten entschieden, sich abzuwechseln, denn sie besaßen die meiste Erfahrung. Während Arlina am Feuer eine Mahlzeit bereitete, blickte Thorin gedankenverloren zu dem Steppenkrieger hinüber, der abseits vom Feuer mit seinem Bogen stand und auf einen unbekannten Feind lauerte. Er war gut beraten, wachsam zu sein, denn es gefiel auch ihm nicht, dass sich in der Burg außer den geflügelten Dämonen weiter nichts gerührt hatte. Überhaupt hatte sich Cotinyo sehr neutral verhalten - aber das hieß nicht, dass er die Schmach vergessen hatte, die Thorin ihm zugefügt hatte. Nach wie vor musste sich der Nordlandwolf vorsehen. So einer wie der schlitzäugige Steppenkrieger war nachtragend. Aber sollte er nur kommen und versuchen, ihn hinterrücks zu ermorden. Thorin würde sich schon zu wehren wissen. Es war jedoch eher unwahr49
scheinlich, dass Cotinyo ausgerechnet jetzt seine finsteren Rachepläne in die Tat umsetzte. Schließlich galt es, den Drachen zu besiegen - nur dann würden sie an den Goldschatz herankommen. »Ich leiste Moran ein wenig Gesellschaft«, meinte der bucklige Dieb zu Thorin. Denn er bemerkte, dass der Krieger keine Lust hatte, mit ihm zu sprechen. So erhob er sich seufzend und entfernte sich aus dem hellen Lichtkreis des Feuers. Seine Schritte verklangen rasch. Der alte Magier zog den Mantel etwas fester um seinen hageren Körper. Wenn man schon so viele Jahre hinter sich hatte, spürte man die Kälte der Nacht unangenehm. Düster sinnend blickte er hoch, als er Flavur näher kommen sah. »Was willst du?«, fragte er mürrisch, als er registrierte, wie sich der Dieb auf einem Felsen niederließ. »Ich möchte allein sein.« »So geschwächt bist du doch in Wirklichkeit gar nicht, Moran«, meinte Flavur, ohne auf die Bemerkung des Magiers einzugehen. »Du hast noch genügend Kräfte in dir - das spüre ich. Mich kannst du nicht so leicht täuschen wie die anderen...« »Was willst du damit sagen, du Missgeburt?« Morans Kopf fuhr herum, in seinen Augen blitzte es zornig auf. »So klingt also die ehrliche Partnerschaft, die du mir angeboten hast!« Flavur lachte kurz und trocken auf. »Du willst mich doch nur für deine finsteren Zwecke einspannen - was anderes willst du nicht. Ich Narr hätte es wissen müssen. Dabei wollte ich jetzt nur mit dir besprechen, wie wir weiter vorgehen sollen. Aber jetzt werde ich das besser vergessen. Dir kann man auch nicht trauen.« »Die Partnerschaft, die ich dir angeboten habe, gilt nach wie vor«, versuchte Moran den Dieb zu beschwichtigen. »Aber ich muss auch daran denken, was wir tun, wenn wir erst vor dem Schatz stehen. Ich will einen großen Anteil daran haben, Flavur. Mein Leben lang habe ich enthaltsam gelebt...« »... und jetzt willst du alles nachholen, wie?« Flavur glaubte, die Gedanken des Magiers genau erkannt zu haben. »Dennoch verfolgst du nur deine eigenen Ziele und ich lasse mich nicht ohne weiteres vor deinen Karren spannen. Entweder du weihst mich jetzt rückhaltlos in deine Pläne ein - oder du musst alles allein machen!« 50
Moran schien einen Augenblick lang zu überlegen, dann blickte er unauffällig hinüber zum Feuer. »Thorin und Cotinyo sind es, die ich hereinlegen will«, sagte er. »Ganz gewiss nicht dich. Wir brauchen die beiden noch, damit sie den Drachen töten. Anschließend werde ich alles tun, um sie gegenseitig aufzuhetzen. Arlina verdreht ohnehin den beiden die Köpfe. Soll sie das ruhig weiter tun - das kann uns beiden doch nur recht sein. Und du kannst mir dann anschließend helfen, unseren Reichtum unter die Leute zu bringen.« Flavur hörte gespannt zu. Der Plan des alten Magiers war nicht schlecht. Arlina blieb somit als einzige übrig - und mit einem schwachen Mädchen wie der Prinzessin würden sie schnell fertig. Er vergaß seine anfängliche Skepsis und erklärte sich schließlich einverstanden. Moran nickte nur und ließ ihn dann zurück zum Feuer gehen. Thorin und Arlina waren in ein Gespräch vertieft, während Cotinyo sich vom Feuer ein Stück Bratenfleisch geholt hatte und gierig daran herumkaute. Ab und zu blickte er zu Arlina hinüber, behielt aber seine düsteren Gedanken für sich. »Moran will immer noch seine Ruhe haben, oder?«, fragte Thorin den buckligen Dieb, der sich wieder ans Feuer setzte und seine Hände wärmte. Schließlich waren die Nächte kalt. »Hat er dich wieder fortgejagt?« Flavur nickte. »Der alte Kauz ist schon ein seltsamer Bursche. Ich weiß immer noch nicht, weshalb er überhaupt mitgekommen ist. Von seinen so genannten magischen Fähigkeiten habe ich bisher kaum was gesehen. Er hat eines der Ungeheuer verjagt - das war aber auch schon alles!« »Tu ihm nicht unrecht, Flavur«, meinte die Prinzessin. »Moran erfüllt ebenfalls eine sehr wichtige Aufgabe. Genau wie du. In seinem Heimatland gilt er als großer Zauberer. Man sagt, dass er Lebewesen in einen anderen Zeitablauf versetzen kann, wenn er es will. Nur mit der Kraft seiner Augen und...« »Davon habe ich wirklich bisher noch nichts sehen können«, spottete der bucklige Dieb. »Aber vielleicht hebt er seine gewaltigen Kräfte für den entscheidenden Moment auf.« 51
»Ich vertraue ihm rückhaltlos«, winkte Arlina ab. »Und ich möchte nicht weiter darüber reden, Flavur. Geh jetzt schlafen, wir werden morgen zeitig aufbrechen.« Der Dieb nickte und ging hinüber zu den Pferden, wo er seine Decken ausgebreitet hatte. Thorin blickte ihm mit gemischten Gefühlen nach. Weshalb hatte er den Blick gesenkt, als Arlina ihm gesagt hatte, dass sie auch Flavur ihr Vertrauen schenkte? Wurde Thorin jetzt auch langsam verrückt, weil er mittlerweile jede Kleinigkeit für verdächtig hielt? Sie mussten doch alle um so mehr zusammenhalten - sonst kamen sie niemals ans Ziel. Auch wenn es schon so nahe war. Aber trotzdem blieben die Zweifel in Thorin... * Flavur wartete geduldig ab, bis Thorin und Arlina ihre Decken ausbreiteten und sich zur Ruhe begaben. Der alte Magier war ebenfalls wieder zurückgekehrt und schlief schon lange. Nur Cotinyo hielt noch einsam Wache. Seine Blicke glitten in Richtung der Burg und sicherlich dachte er schon an den bevorstehenden Kampf. Der Bucklige schälte sich lautlos aus den Decken und spähte dabei immer wieder zu dem schlitzäugigen Steppenkrieger. Aber der sah nach wie vor zur Burg, denn von dort drohte die Gefahr - nicht in seinem Rücken! Um so besser, dachte Flavur. Er konnte Cotinyo sowieso nicht leiden. Der würde sich gewiss sehr wundern, wenn die Dunkelheit Flavur lautlos verschluckte. Flavur hatte lange nachgedacht, bevor er sich zu diesem Schritt entschlossen hatte. Aber er wollte den Schatz des toten Königs für sich allein haben. Sollten die anderen doch ruhig kämpfen, wenn sie wollten. Flavur war kein Mann des Schwertes. Seine Stärke war die List und genau die würde er heute Nacht anwenden... Wenn er es geschickt anstellte, dann konnte er in die Schatzkammer eindringen, ohne dass der Drache etwas davon bemerkte. Er war ein Meister des lautlosen Diebstahls und das würde er bald unter Beweis stellen. 52
Moran war ihm unheimlich. Der alte Magier kochte trotz aller Versprechungen sein eigenes Süppchen - und Flavur war sich gar nicht so sicher, ob Moran ihn am Ende nicht doch noch betrügen würde. Die Pferde gaben keinen Laut von sich, denn sie kannten Flavurs Geruch. Der bucklige Dieb steckte sich einen scharfen Dolch in den Gürtel, den er aus Cotinyos Decken gestohlen hatte und kroch dann langsam auf allen vieren in Richtung der Büsche. Plötzlich sah Cotinyo zu den Pferden. Sofort warf sich Flavur zu Boden und blieb dort einige Augenblicke lang völlig reglos liegen. Er wagte kaum zu atmen, denn wenn ihn der Steppenkrieger jetzt zu fassen bekam, würde er eine Menge unangenehmer Fragen zu beantworten haben - und das war das Letzte, was Flavur beabsichtigte. Von ihm aus konnten sie ruhig alle von dem Drachen getötet werden. Hauptsache war, dass er den Löwenanteil des Schatzes einstreichen konnte. Alles andere kümmerte ihn nicht. Die Büsche lagen jetzt greifbar nahe. Noch vielleicht drei Mannslängen, dann war er sicher vor Cotinyos Blicken. Flavur kroch ganz flach am Boden entlang. Die kurze Entfernung zu den schützenden Büschen schien eine Ewigkeit entfernt zu sein. Der Bucklige war schweißgebadet, als er weiter voran kroch. Jetzt berührten die ersten Zweige sein hässliches Gesicht und Flavur schlich weiter, bis sein Körper vollends im Gebüsch untergetaucht war. Wenn ihn jetzt jemand beobachtet hätte, dem wäre ganz sicher das Grinsen im Gesicht des Diebes aufgefallen. * Etwas traf Thorin mit rauer Wucht in die Seite. Der Nordlandwolf schreckte aus dem Schlaf hoch und sah vor sich die sehnige Gestalt Cotinyos, der ihn mit dem Fuß angestoßen hatte. Über sein schlitzäugiges Gesicht huschte die Andeutung eines Lächelns, das aber seine Augen kalt bleiben ließ. »Du bist dran!«, sagte er zu Thorin. »Du hast einen tiefen Schlaf. Ich hätte dich töten können, wenn ich ein Feind gewesen wäre...« 53
»Du hast es aber nicht getan«, erwiderte der Nordlandwolf grimmig. »Versuch es, wenn du willst. Meine Klinge ist bereit!« »Dazu ist es noch zu früh«, meinte Cotinyo. »Ich werde aber soweit sein, wenn die Stunde kommt...« »Ich habe noch nie einem räudigen Hund jemals getraut«, sagte Thorin und registrierte mit Genugtuung Cotinyos wütenden Blick. »Solche wie dich schlägt man bei uns im Norden einfach tot, um jede Gefahr im Keim zu ersticken. Also nimm dich in acht - auch meine Geduld kennt Grenzen!« Kurz schaute er hinüber zu Arlina, weil er befürchtete, dass der heftige Wortwechsel sie womöglich aufgeweckt hatte. Aber das war nicht der Fall. Die Prinzessin und auch der Magier schliefen den Schlaf der Erschöpfung und den hatten sie sich auch verdient. Flavur lag drüben bei den Pferden. Der konnte gar nichts gehört haben. Cotinyo hüllte sich wortlos in seine Decken und Thorin ging nun auf Wache. Er starrte angestrengt hinaus in die Dunkelheit, aber es war und blieb alles ruhig. Fast eine tödliche Stille, denn nirgendwo waren Geräusche von Tieren oder kleinen Vögeln, die erst in der Nacht zum Leben erwachen, zu hören. Thorin fieberte dem Kampf mit dem Drachen förmlich entgegen. Mit finsteren Kreaturen hatte er schon zur Genüge Bekanntschaft geschlossen und fürchtete sie deshalb nicht mehr. Er wusste, welche Kräfte in der Götterklinge schlummerten. Seine Blicke glitten hinüber zum sterbenden Lagerfeuer. Er sah die schlafende Gestalt der Prinzessin, die seine Sinne verwirrt hatte. Waren ihre Gefühle ernst gewesen, oder hatte auch sie nur mit ihm spielen wollen? Thorin wusste es nicht. Aber er würde es bald erfahren. Die Pferde drüben bei den Büschen blieben ruhig. Das war ein gutes Zeichen, denn wenn sich irgend etwas aus der Dunkelheit näherte, würden das die Tiere spüren. Und da war ja auch noch Flavur, der da drüben schlief. Einer wie er würde es sicher sofort wissen, wenn etwas nicht in Ordnung war. Irgendwie sah er etwas zu lange auf die Stelle, wo Flavur schlief. Etwas gefiel ihm nicht, aber er wusste nicht, was das war. Deshalb 54
ging er hinüber und erkannte dann, dass die Decken leer waren. Flavur war verschwunden! Sofort rannte er zurück zu Cotinyo und rüttelte ihn unsanft an der Schulter. Der Steppenkrieger fuhr aus dem Schlaf hoch und murmelte einen grässlichen Fluch. »Warum lässt du mich nicht schlafen?«, knurrte er. »Flavur ist weg!«, fiel ihm Thorin ins Wort. Das alarmierte den Steppenkrieger. Erregt sprang er hoch und machte dabei einen solchen Lärm, dass die anderen davon aufwachten. Arlina blickte schlaftrunken um sich und verstand überhaupt nicht, was hier gerade vor sich ging. »Warum hast du das nicht bemerkt, Thorin?«, tadelte ihn Cotinyo. »Der Bucklige kann doch nicht einfach verschwunden sein, ohne dass das bemerkt worden wäre.« »Vielleicht war er ja schon weg, als du noch Wache hieltest«, erwiderte Thorin. »Er kann es aber auch mit der Angst zu tun bekommen haben - was weiß ich? Auf jeden Fall ist er weg und ich fürchte, wir werden ihn so schnell nicht mehr zu Gesicht bekommen. Flavur war sowieso ein Einzelgänger...« »Ich glaube, er ist hinauf zur Burg«, meldete sich nun Moran zu Wort, der die letzten Gesprächsfetzen mitbekommen hatte. »Als ich zuletzt mit ihm sprach, redete er nur von dem Goldschatz. Und den wird er sich wohl holen wollen.« »Wir müssen ihm sofort nach!«, rief Cotinyo. »Dieser Bastard wird was erleben, wenn ich ihn erst zu fassen bekomme. Dem schneide ich die Kehle durch!« Er wollte schon zu den Pferden rennen, als ihn Thorins Stimme innehalten ließ. »Warte, Cotinyo. Die Nacht ist unser Feind und wir wissen nicht, was dort oben auf uns lauert. Lass uns abwarten bis zum Morgen.« Der Steppenkrieger schien einen Augenblick lang zu überlegen und nickte dann schließlich. »Du magst recht haben, Thorin«, erwiderte er. »Die Dämonen sollen diesen buckligen Hund in der heißesten Hölle braten - er ist ja selbst schuld an dem, was ihm vielleicht jetzt schon zugestoßen ist...« 55
* Irgendwo in der Ferne erklang das klagende Geheul eines Wolfes. Flavur zuckte unwillkürlich zusammen, als er nur wenige Schritte neben sich im Gebüsch etwas hörte. Sofort griff er an die Hüfte und riss den scharfen Dolch heraus, atmete dann aber erleichtert auf, als er sah, dass es nur ein kleines Tier war, das bei seinem Annähern rasch die Flucht ergriffen hatte. Der bucklige Dieb steckte die Waffe wieder ein. Er schalt sich einen Narren, dass seine Nerven bereits jetzt schon ziemlich gereizt waren - und dabei war er noch gar nicht in unmittelbarer Nähe der Burg. Aber jetzt war es ohnehin zu spät für einen Rückzieher. Er hatte sich dafür entschieden, seinen eigenen Weg zu gehen, denn Morans Pläne gefielen ihm nur wenig - und ob er von den anderen etwas zu erwarten hatte, wusste er nicht. Mit Derwan hatte er sich halbwegs verstanden - das war ein Mensch gewesen, dem man hatte vertrauen können. Aber Derwan war tot und Flavur musste jetzt handeln! Jeden Schritt, den er sich weiter vom Lager entfernte, war ein Schritt ins Ungewisse. Ausgerechnet in diesem Moment dachte er wieder an die geflügelten Dämonen, die ihnen so sehr zugesetzt hatten. Lauerten sie hier irgendwo und warteten nur darauf, ihm den Garaus zu machen? Flavur schob seine düsteren Gedanken beiseite und schlich weiter. Die Nacht war für ihn kein Hindernis, denn als geschickter Dieb hatte er zu solch einer Zeit in der Stadt der Bettler und Kaufleute immer reiche Beute machen können. Und in den Gassen der Heimatstadt war es noch dunkler als in diesen mondbeschienenen Bergen! Der Weg, der hinauf zur Burg von Samorkand führte, war steil und wand sich um den ganzen Berg herum. Deshalb dauerte es viel länger als er ursprünglich vermutet hatte, bis er schließlich die Festung in greifbarer Nähe ausmachen konnte. Trotzdem verharrte er noch eine Zeit lang im Gebüsch und starrte auf die Felsenburg des toten Königs Fodor. Nun hatte er endlich sein 56
Ziel erreicht - den Ort, wo ein großer Goldschatz darauf wartete, in Besitz genommen zu werden. An den Drachen, der angeblich diesen Schatz bewachen sollte, dachte er überhaupt nicht. Seine Gedanken kreisten ausschließlich um das glitzernde Geschmeide, das irgendwo in den Gewölben verborgen war. Es wartete auf ihn - auf Flavur, den König aller Diebe! Als er sicher war, dass nach wie vor alles still blieb, wagte er es, sein Versteck zu verlassen. Seine Schritte waren schnell, als er hinüber zur großen Mauer hastete und dort keuchend stehen blieb. Das Gestein der Burg war rau und teilweise mit grünem Moos bewuchert. Der Zahn der Zeit hatte auch vor diesem Bauwerk nicht Halt gemacht. Groß und drohend ragten die Türme in den nächtlichen Himmel empor. Zwischen ihnen befand sich ein großes massives Tor. Seltsamerweise schien irgend jemand vergessen zu haben, das Gitter am Tor herunter zu lassen. Auf halber Höhe war es eingerastet und allein das wäre eigentlich schon ein Grund zur erhöhten Vorsicht gewesen - aber Flavur konnte und wollte jetzt nicht mehr umkehren. Er war so dicht vor dem Ziel, er konnte nur noch weitergehen. Vorsichtig hob er den Kopf und spähte nach oben zu dem Fallgitter, als er das Tor durchschritt. Die eisernen Zähne befanden sich direkt über ihm und für einen winzigen Moment dachte der Dieb daran, wie es sein würde, wenn jetzt das Gitter herunterfiel. Dann würden ihn die eisernen Zacken zerreißen! Mit einigen schnellen Schritten brachte er sich aus dem unmittelbaren Gefahrenbereich und blickte aber trotzdem noch einmal zurück. Nichts geschah. Das Fallgitter blieb nach wie vor fest verankert. Grabesstille umgab ihn, als das bleiche Licht des Mondes auf den Innenhof der Felsenburg fiel. Dort, wo einmal reges Leben geherrscht hatte, wo Prinzessin Arlina ihre glücklichsten Jahre verbracht hatte dort gab es nur noch Einsamkeit und Leere. Der Innenhof war groß und geräumig. Dennoch wirkten die wuchtigen Mauern ringsherum drohend und geheimnisvoll zugleich. Hatte Flavur nicht da hinten eine huschende Bewegung gesehen? Der Dieb blickte unsicher auf die betreffende Stelle. Aber wahrscheinlich hatte er sich doch getäuscht. 57
Flavur ging langsam weiter, auf das Hauptgebäude der Felsenburg zu. Die beiden Anbauten, in denen früher die Dienerschaft gewohnt hatte, ließ er ganz außer acht, denn er vermutete natürlich, dass er den Schatz im Herrschertrakt suchen musste. Schließlich war anzunehmen, dass König Fodor seinen Schatz nicht bei den Knechten und Mägden versteckt hatte. Der Eingang schien verschlossen zu sein. Eine große Tür aus massivem Eichenholz versperrte ihm den weiteren Weg. Als der Dieb sich jedoch gegen die Tür zu stemmen begann, schwang sie ganz plötzlich nach hinten und gab den Weg ins Innere frei. Das durchdringende Quietschen der verrosteten Scharniere klang unendlich laut in der Stille der Nacht. Flavur wurde von einem eigenartigen Gefühl gepackt, als er weiterging. Ob er nicht doch besser bei seinen Gefährten geblieben wäre? Aber jetzt war es für Reue viel zu spät und außerdem hatte er Angst vor dem schlitzäugigen Cotinyo, der ihn ganz sicher zur Rede stellen würde, weil er ihm den Dolch gestohlen hatte. Der bucklige Dieb kam jetzt in eine große Halle, wo einst der König geherrscht haben musste. Ein langer Tisch bildete den Mittelpunkt des Raumes und am anderen Ende befand sich ein Thron auf einem Podest. Dort hatte der König wohl gesessen und Gericht gehalten. Jetzt aber lag alles in einem düsteren und unheimlichen Zwielicht. Der Mantel des Vergessens hatte sich über Burg Samorkand ausgebreitet. Irgendwo ganz tief im Inneren der Burg glaubte Flavur ein seltsames Raunen zu hören, aber seine ohnehin gereizten Nerven konnten ihm auch einen Streich gespielt haben. Denn als er wieder in die Dunkelheit lauschte, war alles still. So begab er sich weiter auf die Suche nach der Schatzkammer, die er unten in den Gewölben der Burg vermutete. Er riss im Vorbeigehen eine Hellebarde an sich, die auf dem steinernen Fußboden lag. Jemand musste sie in der überstürzten Flucht vergessen haben. Mit dieser schweren Waffe in der Hand fühlte er sich etwas sicherer. Hoch über ihm an der Decke hingen drei geflügelte Wesen, die Flavur jedoch nicht sehen konnte, weil die Wölbung im Dunkeln lag. 58
Als Flavur jetzt diese Stelle des Raums passierte, bewegte sich eines der Wesen und öffnete die rot glühenden Augen. Flavur wurde beobachtet und ahnte es nicht... * Irgendwo tief unten in den Gewölben der Burg lebte ein Wesen, das nach menschlichem Ermessen eigentlich gar nicht hätte existieren dürfen. Und doch war es da. Es war ein Geschöpf vom Anbeginn der Zeit, dessen Feueratem König Fodor getötet und den Rest der Bewohner vertrieben hatte. Seitdem lag der mächtige, geschuppte Leib in den Gewölben und umschlang den Schatz des toten Herrschers. Die geflügelten Dämonen, die seine Diener waren, wachten darüber, dass sich niemand der Burg näherte. Jetzt aber war alles anders. Ein Mensch war in die Mauern der Burg eingedrungen und die finsteren Sinne der gewaltigen Kreatur spürten das. Das Wesen begann sich zu regen und schlug eines seiner großen Augen auf. Der Drache war erwacht. Seine Gedankenfetzen huschten zu den geflügelten Dämonen, die ganz unter seinem Bann standen. Derselbe urwelthafte Instinkt, der ihn schon einmal aus seinem Schlaf gerissen hatte, wurde auch jetzt wieder wirksam. Befehlende Impulse drangen zu den geflügelten Wesen, die die Botschaft klar und deutlich empfingen. Gewalt und Tod war ihr Inhalt. Und dieser Befehl richtete sich gegen den fremden Eindringling, der es gewagt hatte, die Ruhe des Drachen zu stören. Tötet ihn, wisperten unmenschliche Gedanken durch die Gewölbe und erreichten die geflügelten Wesen. Tötet den Feind unserer Art! Erneut regten sich die Diener des Finsternis und schwärmten aus. Das innere Auge des Drachen verfolgte jetzt jeden weiteren Schritt des Eindringlings, der sich noch unbeobachtet fühlte. Aber der Drache hatte bereits seine Klauen nach ihm ausgestreckt. * 59
Eine Treppe führte in zahlreichen Windungen nach unten. Finsternis schlug Flavur entgegen - so dunkel und unheimlich, dass er Mühe hatte, den Weg zu finden. Aber die Nacht war Flavurs Zuhause. Dort, wo manch anderer schon blind war, erkannte er noch genug, um sich zurechtzufinden. Langsam schritt er die feuchten glitschigen Stufen hinunter. Die Hellebarde hielt er fest in seiner Hand, denn nun musste er jederzeit damit rechnen, auf Dämonen zu stoßen. Der Dieb hoffte jedoch auf sein Geschick, das ihn schon oft aus einer ausweglosen Situation gerettet hatte. Vielleicht auch jetzt und hier... Vielleicht bekam es ja der Drache gar nicht mit, wenn er in die Schatzkammer eindrang und sich einiges von dem Gold nahm. Irgendwo von der Decke klatschte ein kalter Wassertropfen auf seinen Kopf und Flavur fuhr erschrocken zusammen, als er spürte, wie etwas zwischen seinen Beinen hindurch huschte und quiekend wieder in der Dunkelheit verschwand. Ratten, schoss es ihm durch den Kopf. Ratten waren immer dort, wo Tod und Verwesung lauerten. Im Augenblick fühlte er sich ohnehin wie in einer Gruft, so faulig und stickig roch es hier. Schweiß stand ihm in kleinen Perlen auf der Stirn, als er dennoch seinen Weg langsam fortsetzte. Sein Herzschlag war schneller geworden und das mulmige Gefühl in seinem Magen war auch nicht mehr zu ignorieren. Auf Fuße der Treppe schien sich ein großes Gewölbe zu befinden, das in ein unheimliches grünes Licht getaucht war. Gleichzeitig umgab Flavur plötzlich ein Rauschen dunkler Schwingen und er schrie entsetzt auf, als er erst jetzt die geflügelten Dämonen bemerkte. Drei an der Zahl waren es und sie hatten ihn wahrscheinlich schon länger verfolgt. Flavur rannte jetzt ohne zu denken einfach auf das grüne Licht zu. Gleichzeitig riss er die Hellebarde hoch und stieß damit nach den entsetzlichen Kreaturen. Er hatte Erfolg. Eines der Wesen stieß einen schrillen Schrei aus, der von den Wänden des Gewölbes widerhallte. Es fiel zu Boden und wand sich in zuckenden Krämpfen, bevor es schließlich verendete. Aber die beiden anderen Dämonen waren schlauer. Sie 60
waren nun über Flavur, streiften ihn mit ihren harten Schwingen, dass er ins Stolpern geriet und die Hellebarde fallen lassen musste. Eines der Ungeheuer nutzte sofort diese kurze Schwäche des Gegners und Flavur starrte voller Furcht in die Fratze des Dämons, der nun seine scharfen Krallen nach ihm auszustrecken begann. »Lass mich am Leben«, wimmerte der bucklige Dieb, weil er keine Chance mehr hatte und das auch genau wusste. »Ihr Götter, so helft mir doch...« Aber die Flügelwesen kannten keine Gnade mit Flavur. Sie rissen ihn einfach hoch und erhoben sich dann vom Boden, schleppten dabei den unglücklichen Dieb vielleicht eine Mannslänge über die Steinplatten des Gewölbes. Das grüne Licht wurde nun noch heller und intensiver und tauchte das Gewölbe in ein unwirkliches Schimmern. Flavur spürte zwar den Schmerz in seinen Armen, wo die Krallen seine Haut aufgerissen hatten, aber seine eigentliche Aufmerksamkeit galt dem grünen Licht, das auch das Ziel der geflügelten Dämonen war. Augenblicke später sah er die Schatzkammer und den riesigen Drachen inmitten des mit Gold und Juwelen gefüllten Raums. Das Funkeln der vielen Edelsteine blendete ihn, so dass er die Gestalt des Drachens nur schemenhaft wahrnehmen konnte. Impulse drangen in sein Gehirn und Flavur wurde für eine winzige Zeitspanne Einblick in die unbegreiflichen Sinne des Drachen gestattet. Vor ihm öffnete sich wie ein unheimlicher Strudel ein Abgrund der Zeit. Dies war eine Empfindung, die nicht für Sterbliche geschaffen war. Flavur schrie laut auf, als der Wahnsinn ihn packte und wie eine dunkle Woge mit sich fort trug und so spürte er auch nicht mehr die gewaltige Pranke des Drachen, die nun auf ihn zuschoss! * Moran lächelte in sich hinein, als er Thorin und Arlina beobachtete. Und er lachte leise auf, als er dabei das Gesicht Cotinyos sah. 61
»Es macht dich verrückt, nicht wahr?«, fragte ihn der Magier und legte noch etwas Holz ins Feuer. »Du möchtest die Prinzessin besitzen -es steht in deinem Gesicht deutlich geschrieben.« Cotinyo fuhr herum. Seine gelben Augen musterten den hageren weißbärtigen Magier, der seelenruhig am Feuer saß und in die Flammen starrte. »Was gehen dich meine Gedanken an, alter Mann?«, fauchte er zornig. »Kümmere dich lieber um deine eigenen Angelegenheiten!« »Ich sehe und beobachte nur, Cotinyo«, sagte Moran mit einem Lächeln. »Und ich versuche nur zu verstehen, was gerade geschieht. Du hasst Thorin, nicht wahr?« »Selbst wenn es so wäre, ginge es dich immer noch nichts an!«, antwortete Cotinyo. »Seit Thorin bei uns ist, verfolgt uns ohnehin das Unglück. Wir hätten ihn damals zwischen den Felsen einfach liegenlassen sollen. Das wäre das Beste für uns alle gewesen...« »Er ist ein großer Kämpfer«, sagte Moran. »Ich denke, dass er schon viel dafür getan hat, dass wir überhaupt bis hierher gekommen sind. Willst du ihn jetzt töten?« »Ich weiß es nicht.« Cotinyo marschierte unruhig auf und ab. »Irgendwann werden wir aneinander geraten. Moran, ich will Arlina haben - und wenn du mir dabei hilfst, soll es dein Schaden nicht sein...« Moran winkte hastig ab. »Ich bin doch nur ein alter Mann«, meinte er ausweichend. »Wie kann ich dir denn schon helfen bei einer Sache, die nur dich und Thorin etwas angeht? Am besten Wartest du erst einmal ab, bis der Kampf mit dem Drachen vorbei ist. Dann habt ihr beide immer noch genügend Zeit, euch die Schädel einzuschlagen. Der Bessere wird dann gewinnen...« »Und das werde ich sein!«, beendete Cotinyo das Gespräch und griff nach seiner bauchigen Lederflasche. Der scharfe Reiswein rann ihm durch die Kehle und er malte sich schon im stillen aus, wie er Thorin am besten erledigen konnte... * 62
Der kleine Trupp folgte jetzt dem schmalen Pfad, bis hinter einer Wegbiegung die Mauern der Burg zu erkennen waren. Mittlerweile war die Sonne längst aufgegangen und überzog das Land mit ihren wärmenden Strahlen. Kein Laut war ringsum zu hören, als Cotinyo sein Pferd zügelte. Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, als er am eisernen Fallgitter eine Gestalt im Morgenwind hin- und herbaumeln sah. »Flavur...«, murmelte der Steppenkrieger und spürte, wie ihn der Hauch des Todes zu streifen begann. Arlina wandte sich bei diesem schrecklichen Anblick ab. Der bucklige Dieb hatte ein Ende gefunden, das ihm niemand gewünscht hatte. »Dieser Narr«, sagte Thorin kopfschüttelnd. »Warum hat er uns nur verlassen?« »Wir werden es wohl nie erfahren«, meldete sich Moran zu Wort, der als letzter durch das Tor geritten kam. »Er hätte wissen sollen, was ihn hier erwartet. Aber die Gier nach dem Schatz war wohl stärker.« Thorin und Cotinyo machten sich inzwischen bereit, in die Burg einzudringen. Moran hatte vorgeschlagen, die Prinzessin zu beschützen und hier draußen so lange zu warten, bis die Krieger ihm ein Zeichen gaben. Thorin war zwar nicht sehr angetan von dem Gedanken, Arlina hier zurücklassen zu müssen, es war aber dennoch besser so. Sie wussten nicht viel über den Drachen und wollten die Prinzessin deshalb nicht unnötig in Gefahr bringen. Es war ohnehin ein Himmelfahrtskommando, das sie jetzt starteten. »Seid vorsichtig!«, rief ihnen Arlina nach, als Thorin und Cotinyo losgingen. »Wir bringen dir das Haupt des Drachen, schöne Prinzessin!«, rief der Steppenkrieger und schwang dabei sein Krummschwert. Er sah dabei triumphierend zu Thorin, als habe er das Ungeheuer schon getötet. »Große Worte, Cotinyo«, sagte Thorin. »Du wirst noch Gelegenheit haben, deinen Mut zu beweisen. Komm jetzt, wir wissen nicht, wie viel Zeit wir überhaupt haben. Moran, pass gut auf Arlina auf und sei bereit, wenn wir dich brauchen!« 63
* Thorin schaute sich misstrauisch im Innenhof der Burg um, aber er entdeckte nicht das geringste Lebenszeichen einer dämonischen Macht. Wenn Sternfeuer nicht mit einem pulsierenden Leuchten gezeigt hätte, dass hier doch etwas Böses lauerte, hätte man fast glauben können, dass die Burg schon seit Urzeiten verlassen war. »Die Stille gefällt mir nicht«, sagte Cotinyo, dem das Aufleuchten von Thorins Schwert natürlich nicht entgangen war. Aber was er auch davon halten mochte - er schwieg. »Ich habe die geflügelten Dämonen noch nicht vergessen«, meinte er nach einer kleinen Weile zu Thorin. »Wir haben sie nicht alle töten können und wie du weißt, sind sie wieder hierher zurückgeflogen. Sie müssen sich also hier irgendwo verborgen halten...« Während die beiden über den Innenhof gingen, hallte der Lärm ihrer Schritte von den Mauern wider. Es herrschte ein unheimliche Atmosphäre hier, obwohl heller Tag war und die Sonne schien. Wie grausam musste die Burg erst in der Nacht wirken? Flavur hätte es ihnen sagen können. Aber er hatte einen grauenhaften Tod erleiden müssen. Daran musste Thorin nun denken, als er die schwere Tür zu den Räumen der Burg jetzt aufstieß. Feuchte, modrige Luft schlug ihnen entgegen. Das Sonnenlicht fiel nur spärlich durch einige Nischen und ließ den tanzenden Staub sichtbar werden, der hier fingerdick alles bedeckte. Cotinyo blickte sich misstrauisch in der großen Halle um. Sein Blick heftete sich sofort auf den Thron. »Hier hat Arlina also gelebt«, murmelte Thorin und er war froh darüber, dass die Prinzessin den fortgeschrittenen Verfall des alten Thronsaals nicht sehen konnte. Seine Gedanken kreisten jetzt um den Drachen. Wo war diese Ausgeburt der Finsternis? »Wir dürfen uns auf keinen Fall trennen«, riss ihn Cotinyos Stimme aus seinen Gedanken. »Nur zusammen können wir schaffen, was wir uns vorgenommen haben.« 64
Thorin wunderte sich über diese Worte. Aus dem Munde des hinterhältigen Steppenkriegers klangen sie irgendwie eigenartig. Aber dennoch hatte Cotinyo recht. »Lass uns weitergehen«, schlug Thorin vor. »Wir müssen die Schatzkammer finden.« »Und der Drache?«, hakte Cotinyo nach. »An den denkst du wohl gar nicht mehr, wie?« Thorin ließ sich von Cotinyos Bemerkungen nicht aus der Fassung bringen. Stattdessen ließ er nun die weite Thronhalle hinter sich und betrat einen schmalen Gang, der tiefer ins Innere der Burg führte. Cotinyo folgte ihm rasch, spähte dabei aber immer wieder misstrauisch nach allen Seiten. So als erwarte er, dass sich urplötzlich eine der Nischen in der Wand öffnete und ihn eine klauenartige Hand wegriss. Cotinyo war Magie und Dämonen nicht gewohnt und deshalb hatte er Mühe, seine Fassung zu bewahren. Der Gang machte nun eine kleine Biegung und erweiterte sich zusehends. Sie mussten nun nicht mehr gebückt gehen, sondern konnten sich aufrichten. »Ein unheimlicher Irrgarten ist das«, murmelte der Steppenkrieger. »Wie weit ist es denn noch bis zu den Gewölben?« »Woher soll ich das wissen?«, antwortete der Nordlandwolf. »Schrei lieber nicht so laut hier herum. Oder willst du, dass der Drache uns jetzt schon bemerkt?« Cotinyo hätte jetzt am liebsten Thorin mit seiner Klinge niedergestreckt für diese Worte. Aber er brauchte ihn noch - vor allem jetzt, wo der Gang weiter vorn abzweigte und er nicht wusste, welchen Weg sie nehmen sollten. Er wartete nicht, was Thorin tat, sondern eilte ungeduldig nach vorn. Plötzlich kippte der Boden unter seinen Füßen und Cotinyo verlor das Gleichgewicht. Er taumelte nach vorn, in einen dunklen Schacht hinein. Cotinyo griff sofort mit der linken Hand nach dem Rand der Fallgrube und klammerte sich verzweifelt fest. Thorin sprang vor und packte Cotinyos Hand, bevor sie abrutschte und er in die Tiefe stürzte. Thorins mächtige Muskeln spannten sich 65
wie dicke Taue unter der gebräunten Haut, als er Zoll um Zoll Cotinyo hinaufzog, der in der anderen Hand sein Schwert immer noch festhielt. Mit Thorins Hilfe stemmte sich der schlitzäugige Steppenkrieger schließlich über den Rand der heimtückischen Fallgrube und rang keuchend nach Luft. Hastig kroch er ein Stück zur Seite und rappelte sich dann mühsam hoch. »Ein verwunschener Ort ist das«, sagte er, während Thorin sich dem Rand der Fallgrube näherte und versuchte, einen Blick in die Tiefe zu werfen. Aber er konnte nichts in der wabernden Finsternis erkennen. Wenn Thorin darauf hoffte, dass sich Cotinyo für seine Rettung bei ihm bedankte, so wartete er vergeblich darauf. Stattdessen nahm er sein Schwert und ging weiter, als sei nichts geschehen. Sie folgten dem Gang, der nun langsam, aber stetig weiter abfiel. Von den rauen Wänden tropfte Wasser auf den unebenen Boden herab, der ihn feucht und glitschig machte. Thorin begann zu frieren, denn er spürte die Kälte, die ganz sicher nicht natürlichen Ursprungs war. Er wusste nicht, wie lange sie dem Gang bereits gefolgt waren, der immer tiefer in das Innere der Burg führte. Längst waren die steinernen Platten des Bodens nacktem Fels gewichen und immer mehr Wasser tropfte von den Wänden. Die Zeit schien stillzustehen auf diesem Ungewissen Weg. Sie befanden sich jetzt in einer Welt, von der Arlina und der Magier unendlich weit entfernt zu sein schienen. »Was ist das?«, flüsterte Cotinyo und wies nach vorn. »Das grüne Licht dort - siehst du es auch?« »Bestimmt sind das die Gewölbe«, nickte der Nordlandwolf. »Halt dein Schwert bereit, Cotinyo...« Langsam gingen sie weiter, näherten sich dem grünen Licht, das keinerlei Wärme von sich gab. Es wurde noch kälter. Als sie dann das Ende des Ganges erreichten, sah Thorin etwas auf dem Boden blinken. Rasch bückte er sich danach und hob es auf. Es war ein Ring aus Gold mit einem eingefassten Dukaten. Cotinyo riss ihm den Ring aus der Hand. 66
»Der hat Flavur gehört«, murmelte er aufgeregt. »Also sind wir auf dem richtigen Weg. Er kam ebenfalls hier vorbei...« »... und wurde wahrscheinlich ganz in der Nähe getötet«, unterbrach ihn Thorin. »Das solltest du nicht vergessen.« Vor ihren Augen öffnete sich nun ein riesiges Gewölbe. Das grünliche Licht, das die ganze Grotte erhellte, hatte hier seinen Ursprung. Thorin ging voran, während Sternfeuer nun in immer kürzeren Abständen zu pulsieren begann. Die beiden Krieger durchschritten das gigantische Gewölbe, das einst mächtige Baumeister aus den Felsen gehauen hatten, deren Namen niemand mehr kannte - sie waren verschwunden und vergessen im Strom der Zeit. Und dann entdeckten sie das grauenhafte Geschöpf, das sich am anderen Ende des Gewölbes befand. Ein Koloss jenseits aller Vorstellungen - größer als fünf Männer zusammen und ganz mit glänzenden, hornigen Schuppen bedeckt. Der echsenhafte Schädel mit den böse funkelnden Augen starrte ihnen entgegen, so als habe der Drache schon die ganze Zeit auf Thorin und Cotinyo gewartet. Grauenhafte, fremdartige Gedanken und ein unvorstellbarer Zorn stürmten mental auf die beiden Krieger ein. Der Drache versuchte mit seinen dunklen Kräften Thorin und Cotinyo in seinen Bann zu ziehen. Finstere Bilder drangen auf Thorin ein, die seinen Geist vernichten wollten. »Wehr dich dagegen!«, schrie Thorin seinem Gefährten zu. »Sonst sind wir verloren!« Mit einem lauten Schrei befreite er sich von dem mentalen Druck und griff mit blinkender Klinge den gewaltigen Drachen an. Auch Cotinyo gelang es jetzt, sich dem Bann der Kreatur zu entziehen - wenn auch nur ganz mühsam. Dann rannte auch er vorwärts, um Thorin zu helfen. Die beiden Krieger griffen die Bestie von zwei Seiten an, die sich nun langsam zu ihrer vollen Größe aufrichtete. Der Echsenkopf zuckte vor und aus dem weit geöffneten Rachen schoss eine nach Feuer und Schwefel stinkende Rauchwolke empor, die den Kriegern entgegenwehte. Der Hauch des Drachen versengte Cotinyos Augenbrauen und der Steppenkrieger sprang hastig beiseite. Dort wo er vor wenigen 67
Atemzügen noch gestanden hatte, war auf einmal ein riesiger Brandfleck. Thorin nutzte die Sekunden, wo sich das Ungetüm Cotinyo zugewandt hatte. Er stieß mit dem Götterschwert vor und traf den Drachen in der Flanke. Aber die Klinge konnte den Schuppenpanzer nicht durchdringen, sondern glitt ab. Moran, dachte Thorin verzweifelt, als ihm klar wurde, dass er mit Sternfeuer wenig ausrichten konnte. Wo bleibt deine Magie? Aber nichts geschah. Wutschnaubend wandte sich der Drache von Cotinyo ab und widmete sich Thorin. Die gewaltige Pranke schoss vor, aber Thorin konnte ihr gerade noch ausweichen. Sie stieß stattdessen gegen die Wand des Gewölbes, dass dieses zu zittern begann. Thorin zielte diesmal nach dem Bauch des Drachen, wo sich keine Schuppen befanden. Dort hatte er mehr Glück. Die Klinge bohrte sich in den Körper des Drachen und als er sein Schwert wieder herauszog, trat Blut in einem großen Schwall aus der Wunde. Das Untier war also doch zu besiegen - man musste nur wissen, wie man es anstellte! Cotinyo schwang sein Schwert und drang nun von der anderen Seite auf den Drachen ein. Mit einem kühnen Satz sprang Thorin auf den Rücken des Ungeheuers. Als Cotinyo es ebenfalls schaffte, den Drachen am Bauch zu verwunden, setzte Thorin noch einmal nach. Er holte mit Sternfeuer aus und stieß die Klinge der Bestie tief in den Hals, wo es unweit des gewaltigen Rachens ebenfalls noch eine verwundbare Stelle gab. Der Drache gab ein Brüllen von sich, das die Wände des Gewölbes zu erschüttern drohte. Er wankte, als Thorin das Schwert herausriss und sich dann mit einem raschen Satz vor den wild um sich schlagenden Pranken in Sicherheit zu bringen versuchte. Gemeinsam mit Cotinyo hastete er dann auf einige Steinbrocken zu, hinter denen sie sich verbargen und von dort aus den Todeskampf des Drachen verfolgten. Das Ungeheuer bäumte sich noch einmal auf, bevor es zu Boden stürzte. Die Kreatur hauchte ihr unheiliges Leben aus und das rötliche Licht der dämonischen Augen erlosch schließlich. Trotzdem wartete Thorin noch ab, bevor er es wagte, näher zu kommen. Er betrachtete den gewaltigen Kadaver der Bestie, den er 68
mit Cotinyos Hilfe gefällt hatte. Der Geruch von Pech und Schwefel erfüllte das Gewölbe. »Jetzt sind wir am Ziel, Thorin!«, rief der Steppenkrieger voller Erleichterung. »Wir haben das Ungeheuer vernichtet!« Thorin nickte und spähte hinüber zu einem halbrunden Tor, das von einer dicken Holztür mit eisernen Scharnieren verschlossen war. Das musste die Schatzkammer König Fodors sein, die das Ungeheuer bewacht hatte - und dort lag das Gold! »Komm«, forderte Thorin seinen Kampfgefährten auf. Aber das musste er ihm nicht zweimal sagen. Rasch gingen die beiden auf das Tor zu und stemmten sich mit aller zur Verfügung stehenden Kraft gegen die schwere Holztür. Endlose Augenblicke verstrichen, in denen nur das Ächzen und Stöhnen der beiden Männer zu hören war. Aber schließlich hatten sie Erfolg und die Tür gab jetzt eine Winzigkeit nach. Erneut spannte Thorin seine Muskeln an und mit vereinten Kräften gelang es ihnen dann. Die Holztür schwang mit einem quietschenden Laut nach innen und der Weg zur Juwelenkammer war frei. Das grünliche Licht, das das gesamte Gewölbe zuvor erhellt hatte, verblasste allmählich. Aber dieses Licht war nichts gegen das Funkeln und Leuchten der unermesslichen Reichtümer, vor denen Thorin und Cotinyo nun standen. »Das... das...« Cotinyo fehlten die Worte und Thorin war ebenfalls sprachlos, als er die glitzernde Pracht sah. Die Schatzkammer war groß und geräumig. Überall standen Truhen, deren Deckel geöffnet waren und ihren Inhalt den Augen der Betrachter darboten. Goldene Kelche, Juwelen und edles Geschmeide, aber auch Barren und Münzen unterschiedlichster Art - so gewaltig war der Schatz von Samorkand! Cotinyo schritt beinahe ehrfürchtig in die Kammer und ging auf eine der Truhen zu. Er bestaunte einen goldenen Becher, der mit Rubinen verziert war. Er nahm ihn hoch und betrachtete ihn lächelnd von allen Seiten. »Was das wohl wert sein mag?«, sagte er mehr zu sich selbst. »Das sind ja gigantische Schätze - fast zuviel für einen...« Dennoch überkam ihn jetzt die Gier nach Gold. 69
Nicht nur Wein und Weiber - nein, ganze Armeen konnte er sich damit kaufen. In Gedanken sah er sich schon längst nicht mehr als den heimatlosen Krieger, sondern als Cotinyo Khan, den Herrn der Steppe, vor dessen gewaltigem Reiterheer die gesamte Erde zitterte und in stiller Ehrfurcht erstarrte. All dies konnte dieser Schatz ermöglichen. Ihm wurde schlagartig klar, dass er diesen Schatz niemals mit Moran und Thorin teilen würde. An die Prinzessin dachte er dabei gar nicht, denn die würde er sich schon gefügig machen. Zuerst aber musste er erst einmal Thorin beseitigen, denn der war sein gefährlichster Gegner. Der alte Magier zählte nicht, denn den konnte er mit einem Schwertstreich niederstrecken. Nur Thorin musste sterben - je eher, desto besser! Während der Nordlandwolf ebenfalls den sagenhaften Reichtum begutachtete, gelang es Cotinyo, unbemerkt sein Krummschwert aus der Scheide zu ziehen. Seine Handflächen waren schweißfeucht vor Aufregung, als er an sein Vorhaben dachte. Jetzt kehrte ihm Thorin den Rücken zu - eine bessere Chance als dieses würde es nie wieder geben. Teuflisches Funkeln zeichnete sich in den Augen des Steppenkriegers ab, als er mit dem Schwert weit ausholte... * Sein Instinkt warnte Thorin. Blitzschnell fuhr er herum und sah plötzlich Cotinyo mit gezücktem Krummschwert hinter sich stehen. Der Steppenkrieger stürmte in diesem Moment auch schon auf ihn los, aber Thorin duckte sich geistesgegenwärtig und konnte so dem ersten tödlichen Hieb entgehen. »Du Hund!«, keuchte er, während er ebenfalls mit einer geschmeidigen Bewegung Sternfeuer aus der Scheide riss. »Du wolltest mich hinterrücks erschlagen!« Cotinyo grollte, als er sah, dass sein erster Schlag nicht getroffen hatte und dass Thorin sich nun wehren würde. Erneut drang er vor und schlug mit seinem Schwert nach Thorin. Es musste schnell gehen, sonst würde er es nicht schaffen. 70
Thorin sah den Hieb kommen und riss seine eigene Klinge hoch. Beide Waffen prallten mit einer gewaltigen Wucht aufeinander, dass Funken sprühten. Thorin, der noch am Boden kniete, bemühte sich, schnell aufzustehen, denn in dieser Position war er eindeutig im Nachteil. Verzweifelt wehrte er die Hiebe des Steppenkriegers ab, der wie ein Wahnsinniger auf ihn eindrosch, während es in dessen Augen wütend aufblitzte. »Stirb!«, schrie Cotinyo und versuchte einen weiteren Hieb zu landen, aber erneut war das zu hastig vonstatten gegangen. Die Klinge zuckte an Thorin vorbei und diesmal war es der Nordlandwolf, der seinem Gegner eine Wunde am Bein beibrachte. Cotinyo stöhnte und taumelte zurück. Diesen Augenblick nutzte Thorin, um nun endgültig wieder auf die Beine zu kommen. Gnadenlos standen sich die beiden Krieger nun gegenüber, die einst Gefährten gewesen waren. Ihre Schwerter blitzten im Licht der Juwelen und Edelsteine ringsherum. Keiner wollte nachgeben, denn sie beide wussten jetzt, dass nur einer von ihnen die Schatzkammer lebend verlassen würde. »Warum, Cotinyo?«, keuchte Thorin, den der plötzliche Angriff ziemlich außer Atem gebracht hatte. »Der Schatz hätte doch für alle von uns gereicht, oder?« »Cotinyo Khan teilt mit niemandem«, lachte der Steppenkrieger. »Weder einen Schatz, noch eine Frau!« Wieder drang er vor und schwang seine Waffe mit solchem Geschick, dass Thorin allmählich in arge Bedrängnis geriet. Er musste heraus aus dieser Kammer, die für einen solch harten Kampf kaum Platz bot. Thorin wollte nicht noch einmal stolpern, denn das hätte seinen Tod bedeutet. Cotinyo würde solch eine Schwäche sofort ausnutzen! Langsam wich er zurück, bis er in die Nähe der Holztür kam. Cotinyo glaubte, dass Thorin einen Rückzieher machen wollte und setzte deshalb sofort nach. »Bleib stehen, du Feigling!«, brüllte er. »Jetzt werde ich dich gleich zu deinen nordischen Göttern schicken. Hier hast du es!« Wieder prallten die Klingen aufeinander. Keiner wollte nachgeben, keiner wollte dem anderen eine Blöße zeigen. Längst schon ging es 71
nicht mehr um den Schatz König Fodors - es ging um das Schicksal zweier Krieger, von denen nur einer überleben konnte. Thorin focht wie ein Löwe und schlug nun immer stärker auf seinen Gegner ein, der mit einem mal spürte, dass er mit seinem hinterhältigen Angriff Kräfte in Thorin zum Leben erweckt hatte, die er besser hätte ruhen lassen sollen. »Was siehst du mich so erstaunt an?«, höhnte Thorin, als er fühlte, dass Cotinyo langsam zurückzuweichen begann. »Wolltest du nicht den Kampf? Jetzt hast du ihn...« Die Wunde an seinem Bein schmerzte und behinderte Cotinyos Bewegungen. Nun war es nur noch eine Frage der Zeit, bis seine Kräfte zu schwinden begannen. Deshalb ließ Cotinyo nun jede Vorsicht außer acht, weil er wusste, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Er schlug mit dem Schwert wild um sich. Thorin ließ ihn kommen und wartete nur auf den richtigen Moment, wo Cotinyo nicht auf seine eigene Deckung achtete. Dieser Moment kam schon wenige Sekunden später. Thorins Waffenarm stieß vor und traf Cotinyo in der Brust. Als er blitzschnell die Götterklinge wieder herausriss und sich zu einem weiteren Stoß bereit hielt, sah er, dass das nicht mehr nötig war. Cotinyo hielt in seinem Angriff so plötzlich inne, als habe ihn eine unsichtbare Hand gestoppt. Das Krummschwert entglitt seinen kraftlosen Händen und fiel auf den steinigen Boden. »Du Hund...«, stöhnte der Steppenkrieger voller Erstaunen und dann brach er zusammen. Thorin eilte herbei, aber ein einziger Blick sagte ihm, dass dem Steppenkrieger nicht mehr zu helfen war. Sternfeuer hatte zu gut getroffen - nämlich mitten ins Leben! »Du bist selbst daran schuld«, murmelte Thorin und sah, wie der tödlich verletzte Gegner beide Hände auf seine Brust verzweifelt presste. Aber er konnte das rasch austretende Blut dennoch nicht stoppen es rann unaufhaltsam aus seinem Körper. »Du warst... der Bessere«, keuchte Cotinyo vor Schmerzen. »Ich verfluche dich... für all das, was...« 72
Mehr konnte er nicht mehr sagen, denn ein jäher Blutsturz beendete das Leben des Steppenkriegers von einem Atemzug zum anderen. Seine gebrochenen Augen starrten auf einen imaginären Punkt an der Decke. Thorin erhob sich. Der Schatz von Samorkand hatte Cotinyo kein Glück gebracht. Jetzt war er tot, genau wie Derwan und Flavur. Wie viele Opfer würde dieser unselige Schatz noch fordern? Thorin nahm das Schwert in die Hand und verließ die Stätte des Todes. Arlina und Moran warteten bestimmt schon ungeduldig auf ein Lebenszeichen von ihm und deshalb musste er zu ihnen gehen. Er hatte gerade den langen Gang betreten, der ans Tageslicht führte, als er plötzlich einen schrillen und durchdringenden Schrei hörte. Das war doch Arlinas Stimme - sie rief um Hilfe! Thorin hastete los, rannte so schnell er nur konnte. Gleichzeitig überschlugen sich seine Gedanken vor Sorge, was in der Zwischenzeit da draußen geschehen war... * Arlina und Moran hatten es vorgezogen, vor der Burg zu warten, wo die mächtigen Mauern in den stahlblauen Himmel ragten. Den toten Flavur hatten sie zwischenzeitlich geborgen und einige Steine über ihn gehäuft, weil Arlina den Anblick des schrecklich zugerichteten Diebes, der am Fallgitter wie zum Hohn aufgehängt worden war, nicht länger ertragen konnte. Deshalb war sie über ihren eigenen Schatten gesprungen und hatte Moran geholfen, Flavur von dort herunterzuholen. Der alte Magier hatte sich kurz darauf in einen tranceähnlichen Zustand versetzt, um Thorin und Cotinyo beizustehen. Jedenfalls hatte er das so behauptet. Die schöne Prinzessin konnte deshalb gar nichts weiter tun und saß ein Stück abseits auf einem Felsen, spähte hinüber zu der Burg, die selbst im Tageslicht bedrohlich wirkte. Viel Zeit war vergangen, seit Thorin und Cotinyo in die Burg gegangen waren und nichts war seitdem geschehen. Ob sie überhaupt noch lebten? 73
Arlina wollte gar nicht weiter daran denken, denn sie hatte all ihre Hoffnungen auf Thorin gesetzt. Wenn er nicht mehr lebte, dann würde der Drache sie alle verschlingen - dessen war sie ganz sicher. Plötzlich hob sie den Kopf und lauschte. Hatte sie sich geirrt, oder war da gerade ein lautes Brüllen zu hören gewesen? Sie lauschte erneut, aber dann vernahm sie gar nichts mehr. Bedeutete das womöglich, dass unten in den Gewölben jetzt ein Kampf auf Leben und Tod entbrannt war? Verzweifelt blickte sie hinüber zu dem alten Magier, der immer noch in Trance versunken war. Auf einmal durchlief ein Zucken den hageren Körper Morans. Seine Finger öffneten und schlossen sich immer wieder, während er sich in Krämpfen zu winden begann. »Moran!«, rief Arlina voller Sorge. »Moran, was ist mit dir?« Sie eilte zu ihm, beugte sich hinab. Moran lag reglos am Boden. Einige bange Minuten vergingen, bis er sich langsam wieder zu bewegen begann. Kurze Zeit später schlug er die Augen auf. »Den Göttern sei Dank!«, rief Arlina. »Ich dachte schon, dass du...« Der alte Magier winkte schwach ab. Er benötigte einige Augenblicke, bis er wieder in die Wirklichkeit zurückgefunden hatte. Seine Augen richteten sich von der Prinzessin auf die Mauern der Burg. »Der Kampf ist zu Ende«, murmelte er. »Das Schicksal hat sich in den Schatzkammern erfüllt, Arlina...« »Was bedeutet das?«, hakte die Prinzessin sofort nach, während sie Moran beim Aufstehen half. Sie war aufgewühlt angesichts dieser Worte und wollte natürlich mehr wissen. Aber sie kam nicht mehr zu, Moran danach zu fragen, denn jetzt fiel ihr Blick auf die Zinnen der Burg. Dort hoben sich gegen das grelle Sonnenlicht zwei grässliche Gestalten ab - geflügelte Dämonen! Die Augen des Magiers erblickten nun ebenfalls die grauenhaften Kreaturen, die ihre breiten Schwingen schlugen und sich dann in die Lüfte erhoben. Sie würden Arlina und Moran gleich angreifen! Als Arlina die verzerrten Gesichter der Wesen sah, die sich nun von den Zinnen auf sie hinunterstürzten, konnte sie ihre Furcht nicht 74
länger zurückhalten. Das Grauen packte sie mit eiskalten Händen und ihrer Kehle entrang sich ein schriller Schrei! * Thorin eilte vorsichtig, aber dennoch rasch an der Fallgrube vorbei, die vorhin Cotinyo beinahe zum Verhängnis geworden wäre. Mit schnellen Schritten rannte er durch den großen Thronsaal und erreichte wenig später den Ausgang. Keuchend hastete er weiter über den Innenhof und wurde dann Zeuge eines schrecklichen Schauspiels. Die geflügelten Dämonen waren wieder zu ihrem unseligen Leben erwacht. Zwei von ihnen hatten sich gerade auf Arlina gestürzt, die sich mit ihrem Schwert so gut wie es ging zu wehren versuchte. Und Moran stand nicht weit davon entfernt mit weit ausgebreiteten Armen und war machtlos! Thorin brüllte laut auf, um die Aufmerksamkeit der Kreaturen auf sich zu ziehen und das gelang ihm auch. Eines der Wesen, das schon seine spitzen Krallen nach der Prinzessin ausgestreckt hatte, entdeckte nun den neuen Gegner. Genauso wie der zweite Dämon. Beide wendeten sich nun Thorin zu und dieser hatte seine Klinge griffbereit, schlug damit auf die beiden Flügelwesen ein. Eine der Kreaturen traf er sofort und der Dämon kreischte irrsinnig, als sich Sternfeuer in seinen Leib bohrte. Thorin registrierte nur flüchtig, wie das Untier zu Boden stürzte und dort verendete - denn nun griff bereits der zweite Dämon an. Thorin duckte sich und entging so den scharfen Krallen. Dann hieb er mit Sternfeuer auf das geflügelte Wesen ein und die Götterklinge pulsierte in hellem Licht, als sie das Haupt des Dämons spaltete. Keuchend rang Thorin nach Luft. Dieser kurze, aber dennoch unerbittliche Kampf hatte ihm fast alles abverlangt. Arlina kam jetzt zu ihm gelaufen und warf sich erleichtert in seine Arme. »Den Göttern sei Dank - du lebst!«, rief sie und man konnte ihr ansehen, dass ihr ein sprichwörtlicher Stein vom Herzen gefallen war. Erst jetzt sah sie sich nach Cotinyo um, konnte ihn aber nirgendwo entdecken. Ihr Blick war eine einzige stumme Frage, aber Thorin war75
tete noch so lange mit der Antwort, bis schließlich auch der Magier näher gekommen war. Allerdings wunderte er sich schon ein wenig darüber, dass Moran der Prinzessin nicht stärker beigestanden hatte. »Der Drache ist besiegt«, berichtete Thorin. »Aber Cotinyo ist ebenfalls tot. Er wollte mich feige töten, um so an den Schatz zu kommen...« »... und deshalb hast du ihn erschlagen müssen«, fiel ihm Moran ins Wort. »Ich habe es schon geahnt, dass er beim Anblick des Schatzes seine Sinne verlieren würde. Aber es ist gut so - man konnte ihm sowieso nicht richtig trauen.« »Und wo war deine Hilfe, als wir sie nötig hatten, Moran?«, fragte ihn Thorin. »Wir haben nichts davon gespürt, als wir gegen den Drachen kämpften.« »Gegen ein solches Ungeheuer hilft auch die Kraft der Magie nur wenig«, erwiderte er ausweichend. »Ich habe das getan, was in meiner Macht stand. Hat es denn nicht geholfen? Das Ungeheuer ist doch tot, oder?« »Ja, das ist es«, sagte Thorin. »Aber einzig und allein durch die Kraft meines Schwertes konnte das geschehen, Moran. Leicht war es nicht, aber mit Cotinyos Hilfe gelang es. Die Gier nach Gold war zum Schluss eben stärker als die Vernunft.« »Dann können wir ja jetzt in die Burg gehen«, schlug Arlina vor, die sich jetzt wieder etwas gefasst hatte. »Schließlich sind wir die einzigen, die nach all den Schrecken noch am Leben sind - und nun wird mich nichts hindern, mein Erbe anzutreten!« * Das grünliche Licht, das vorhin noch das große Gewölbe erleuchtet hatte, war mittlerweile ganz erloschen. Thorin riss deshalb eine der alten Pechfackeln aus der Halterung an der Wand und entzündete sie mit Hilfe eines Feuersteins. Es dauerte zwar eine Weile, bis er das geschafft hatte, aber dann leuchtete das Licht der Fackel bis weit in den Gang hinein und warf dabei drei bizarre Schatten an die rauen Wände des Gewölbes. 76
Sie gingen weiter, bis sie den Ort erreichten, wo der gewaltige Kadaver des Drachen lag. Auch jetzt noch sah er furcht erregend aus. »So ein Wesen dürfte überhaupt nicht existieren!«, rief der weißbärtige Magier beim Anblick des Drachen. »Welche dämonische Macht hat diese Bestie nur zum Leben erweckt?« »Das sind Dinge, über die wir nicht mehr nachzudenken brauchen«, meinte Thorin. »Warte lieber ab, bis wir erst die Schatzkammer betreten haben, Moran...« Sie gingen langsam an dem toten Drachen vorbei zu dem großen Tor, das noch offen stand. Arlina ging langsam hindurch und sah dann den Schatz, der einst ihrem Vater gehört hatte. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass nun auch der Augenblick gekommen war, wo sie ihr Versprechen einlösen musste. »Thorin und Moran«, wandte sie sich nun an ihre beiden Kampfgefährten. »Euch gehört ein Drittel des Goldschatzes. Greift nur zu und zögert nicht. Ich stehe zu dem Wort, das ich jedem gegeben habe...« Thorin steckte die Fackel in die Haltering an der Wand und beugte sich dann über eine der Schatztruhen. So einen großen Reichtum hatte er noch nie zuvor gesehen. Was hier an Juwelen, Gold und sonstigem Geschmeide lagerte, reichte ganz sicher aus, um mehrere Menschen bis zum Ende ihres Lebens sorglos bleiben zu lassen. Da lagen goldene Münzen aus dem Amazonenland, von denen niemand mehr wusste, wie sie hierher gekommen waren. In einer anderen Truhe erkannte Thorin große Pokale, wie sie in der Felsenstadt Cathar vorkamen - und diese Stadt hatte er noch in ziemlich unangenehmer Erinnerung. Überhaupt - wohin er auch blickte, waren solche Kostbarkeiten zu sehen, dass es kaum möglich war, sie alle einzeln zu registrieren. Arlina bemerkte das und erkannte, dass Thorin angesichts dieses Reichtums unsicher zu werden begann. »Damit kannst du ein bequemes und sicheres Leben führen, Thorin«, sagte sie. »Nach all dem, was du für mich getan hast, ist es ein sehr bescheidener Dank. Ohne dich wären Moran und ich nicht hier. Ich...« 77
Plötzlich brach ihre Stimme ab, als sie den Magier hinter Thorin stehen sah. Moran hielt einen schweren Goldbarren in seinen Händen und Arlinas Augen weiteten sich vor Schreck, als sie sah, wie der Magier damit ausholte und Thorin einen Schlag gegen den Kopf versetzte. All dies geschah so schnell, dass selbst Arlina Thorin keine Warnung mehr zurufen konnte - und natürlich hatte auch Thorin mit solch einem überraschenden Angriff nicht gerechnet. Thorin brach zusammen und bevor sich der schwarze Schlund der Finsternis über sein Bewusstsein legte, glaubte er noch ganz schwach Arlinas verängstigte Rufe zu hören. Dann nahm er gar nichts mehr wahr... * »Bist du verrückt geworden, Moran?«, fuhr die Prinzessin den alten Magier zornig an. »Hat dein Alter dir ganz den Verstand geraubt? Was hat Thorin dir denn getan? Du kannst ihn doch nicht einfach niederschlagen und...« Erneut stellte sie fest, dass ihr die Worte angesichts dieser unerwarteten Heimtücke fehlten. Erst dann erkannte sie einen Glanz in den Augen des alten Magiers, der vorher noch nicht da gewesen war. Ein gefährlicher Schimmer eines Wissens zeichnete sich dort ab, der Arlina jetzt Angst einjagte. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück vor dem Mann, dem sie bisher voll vertraut hatte. »Du begreifst es nicht, oder?«, lachte Moran. »Du hast mit allem gerechnet - nur nicht damit, dass ausgerechnet derjenige, dessen Magie anscheinend versagt hat, am Ende doch als Sieger erscheint, oder?« »Warum nur, Moran?«, stammelte Arlina, als sie die Wand erreichte und dort erstarrte. »Das Gold - du willst alles für dich haben...« Besorgt blickte sie hinüber zu dem reglosen Thorin, dessen Kopf eine blutige Wunde aufwies. »Ich brauche das Gold nicht, Mädchen«, antwortete der Magier. »Sieh mich nur genau an, dann wirst du es begreifen!« 78
Er hob seine Stimme zu einem monotonen Gesang an und plötzlich wurde sein Gesicht durchsichtig und fließend, als sei es aus Wachs. Es nahm allmählich andere Konturen an, die sich nach und nach zu formen begannen. Zuerst sah Arlina den Schädel mit dem vollen dunklen Haar und dann die wissenden Augen, die sie nur zu gut kannte. »Ugor!«, schrie sie entsetzt auf. »Der Magier, der den Drachen heraufbeschworen und dann meinen Vater getötet hat! Verflucht seiest du und deine teuflische Brut!« »Damit hast du wohl nicht gerechnet?« Ugor lachte triumphierend. »Als ich die Herrschaft über diese Burg übernahm, hatte ich einen höllischen Schwur darauf geleistet, dass diese Region für immer und ewig der Finsternis geweiht wird. Du und dieser Derwan - ihr konntet zwar entkommen. Aber ich wusste, dass ihr irgendwann wiederkommen würdet, um den Tod König Fodors zu rächen. Darauf habe ich aber nicht gewartet. Ich habe so lange nach dir gesucht, bis ich dich gefunden habe, Prinzessin - und die Maske des alten Magiers Moran leistete mir dabei vortreffliche Dienste. Meinst du nicht auch?« Wie Schuppen der Erkenntnis fiel es Arlina nun von den Augen. Die ganze Zeit über hatte dieser teuflische Magier Bescheid gewusst. »Aber wenn du Ugor bist - wo ist dann Moran?«, wollte Arlina trotz ihrer stärker werdenden Furcht wissen. »Du sollst es erfahren«, sagte der finstere Ugor. »Nachdem Derwan und dir die Flucht gelungen war, befahl ich dem Drachen, die Schatzkammer zu bewachen. Ich selbst folgte euch, verlor aber die Spur. Derwan war ein guter Soldat und verstand es wie kein anderer, alle Fährten zu verwischen. Aber nach langer Suche stieß ich zufällig auf einen alten Hexer, der sich Moran nannte. Am nächtlichen Feuer kamen wir ins Gespräch und er erzählte mir davon, dass er auf dem Weg in die Stadt der Bettler und Kaufleute sei. Er habe gehört, dass eine junge heimatlose Prinzessin mutige Kämpfer suche. Da wusste ich, wo ich dich finden konnte. Moran hat nicht viel davon gespürt, als ich von seiner Seele Besitz ergriff und ihn tötete. Ich bin ein Meister der Verwandlung und so habe ich dich und Derwan täuschen können. Nur darauf kam es mir an.« 79
»Warum dieses Spiel, Ugor?«, wollte Arlina wissen. »Du hättest doch schon mehrfach Gelegenheit gehabt, uns durch deine Geschöpfe töten zu können...« »Es gehörte mit zu dem Schwur, den ich geleistet habe«, klärte sie Ugor auf. »Hier sind Mächte am Werk, die größer und grausamer sind, als du dir das vorstellen kannst. Ich versprach ihnen eine Bastion für alle Zeiten. Das ist mir auch gelungen. Aber erst, wenn der letzte Spross der Königsfamilie nicht mehr lebt, ist mein Schwur erfüllt - und dieser Moment ist jetzt gekommen. Es hat lange gedauert und die dunklen Mächte werden schon ungeduldig. Ich werde sie aber wieder rasch besänftigen - mit dir als Opfer...« »Du Scheusal«, flüsterte Arlina. »Du bist sogar noch ein schlimmeres Ungeheuer als der Drache!« Ugor erwiderte nichts darauf, sondern zwang Arlina mit seinen magischen Fähigkeiten, ihr in die Augen zu sehen. Seine Stimme hatte solch einen hypnotischen Klang, dass sich die Prinzessin diesem Befehl nicht widersetzen konnte. Schließlich hatte es Ugor geschafft, ihren Geist willenlos und für seine weiteren Pläne gefügsam zu machen. * Irgend etwas drang in sein Gehirn ein und es war fremdartig und zugleich geheimnisvoll. Thorin spürte den ziehenden Schmerz, als er erkannte, dass etwas mit Gewalt ihn daran zu hindern versuchte, das Bewusstsein wieder zu erlangen. Thorin stöhnte leise und schlug die Augen auf. Wabernde rote Schleier tanzten vor seinen Augen. Er hörte eine durchdringende und zugleich furcht erregende Stimme, die immer lauter und fordernder wurde. Dieselbe Stimme, deren Geist jetzt über ihn Macht zu gewinnen suchte! Thorins Blick wurde klarer und dann sah er einen Mann in Morans Gewändern, der aber ansonsten keine Ähnlichkeit mehr mit dem alten Magier aufwies. Der Nordlandwolf konnte natürlich nicht wissen, was in der Zwischenzeit geschehen war, aber er spürte schon wieder die80
ses schreckliche Hämmern im Kopf - und es waren nicht nur die Kopfschmerzen, die der Schlag von hinten ausgelöst hatte. »Ich rufe euch, Herrscher der Finsternis!«, erklang nun die Stimme des unheimlichen Mannes. »Azach, Modor und R'Lyeh - hört ihr mich?« Wieder folgte ein monotoner Gesang, dessen Sinn Thorin nur ahnen konnte. Er sah Arlina, die seltsam steif und starr dastand und den Magier ansah. Ihre Augen waren weit aufgerissen und schienen ihre nähere Umgebung gar nicht mehr wahrzunehmen. Ruh dich aus und schlafe, warnte ihn auf einmal eine drohende Stimme in seinem Hirn. Du bist müde, Krieger. Du brauchst nur wieder
die Augen zu schließen und zu träumen...
»Nein!«, ächzte Thorin und bäumte sich gegen die Wucht der einströmenden fremden Gedanken auf. »Einar, hilf mir...« Als hätte der Name des Gottes etwas bewirkt, so spürte Thorin, dass er für Augenblicke wieder klar denken konnte. Doch das hielt nicht lange an. Erneut peitschten die fremden Gedanken auf ihn ein und diesmal sogar noch stärker als zuvor. Verzweifelt streckte Thorin die Hand aus. Er suchte Sternfeuer. Die Klinge hatte er im Sturz fallen lassen und er musste sie einfach erreichen. Mühsam tastete er nach der Götterklinge, während die fremde Macht weiter seine Sinne zu beeinflussen versuchte. Eine dunkle Macht griff nach seinem Geist, aber in diesem Moment schloss sich Thorins Hand um den Kauf Sternfeuers. Plötzlich spürte er die Erleichterung. Die Klinge strahlte jetzt ein helles Leuchten aus, das die manipulierenden Impulse des Gegners überlagerte und Thorins Kopf frei hielt. Die Götter des Lichts hatten diese Klinge nicht umsonst erschaffen. Sie half auch jetzt wieder. Mit letzter Kraft bäumte sich Thorin auf und eilte auf den Magier zu. Ugor war vom Angriff des Nordlandwolfs so sehr überrascht, dass er gar nicht mehr dazu kam, der nach seiner Brust zielenden Klinge noch ausweichen zu können. Das blitzende Schwert bohrte sich in Ugors Brust! Das war auch der Moment, wo der magische Bann vollends vernichtet wurde. Auch Arlina erwachte jetzt wieder aus der Gefangen81
schaft ihrer Seele und erschrak, als sie den Magier entseelt auf dem Boden liegen sah. »Keine Angst, Prinzessin!«, rief ihr Thorin zu, während er das Schwert aus der Brust des Magiers zog. »Die Gefahr ist vorüber...« Dann aber kam auf einmal ein Beben auf, das tief unter dem Boden der Schatzkammer seinen Ursprung zu haben schien - und es war in dem Moment entstanden, als der teuflische Magier seinen letzten Atemzug getan hatte. »Die Erde ist in Aufruhr...«, murmelte Thorin, als ihm klar wurde, in welch großer Gefahr er und Arlina sich jetzt befanden. »Wir müssen raus hier. Schnell!« Als hätte er das Unheil schon kommen sehen, löste sich plötzlich ein großes Steinstück von der Kuppel des Gewölbes und schlug ganz nah neben Thorin und Arlina auf. Die Prinzessin fuhr zusammen und blickte hinauf zur Decke, wo sich weitere Gesteinsbrocken zu lösen begannen. Thorins griff nach Arlinas Hand und zog sie mit sich - vorbei an dem toten Ugor, den er keines Blickes mehr würdigte. Aber die finsteren Kräfte des Magiers waren selbst nach seinem Tod noch wirksam - sonst wäre dieses Beben nicht ausgelöst worden. Es konnte ihnen somit noch zum Verhängnis werden. Thorin und Arlina rannten um ihr Leben. Der Boden war überall unruhig. Erste Risse bildeten sich im Gestein und tief unter der Erde wurden mächtige Elemente frei, deren Ursprung Thorin nur ahnen konnte. Sie suchten sich nun ihren Weg nach oben und zerstörten dabei alles, was sich ihnen in den Weg stellte. Hinter ihnen polterten große Steine vom Gewölbe herab. Aber Thorin und Arlina erreichten buchstäblich im letzten Moment den Gang, der nach oben führte. Thorin hielt Arlina fest an der Hand, denn sie durfte nicht zurückbleiben. Staub wirbelte hinter ihnen auf, als die schweren Felsen auf den harten Boden schlugen und alles unter sich begruben - den Drachen und den teuflischen Magier ebenso wie die Schatzkammer mit ihren unermesslichen Reichtümern. Rote Lava quoll aus dem Erdinneren hervor und überzog alles mit höllischer Glut. 82
Sie hasteten weiter und gelangten nun in den Thronsaal. Wehmütig blickte die Prinzessin kurz auf den Platz, wo einst ihr Vater gesessen und dieses Land regiert hatte. Das schien aber in einem anderen Leben stattgefunden zu haben, denn wohin ihr Auge jetzt auch sah, erkannte sie nur Chaos und Zerstörung! Arlina seufzte und ließ sich von Thorin mitziehen. Sie rannten hinaus auf den Innenhof der Felsenburg und hörten erneut das dumpfe Poltern und Donnern. Gewaltige Kräfte traten hervor und lösten im Schlund der Erde heftige Reaktionen aus. Der Schatz von Samorkand war mittlerweile längst in der Tiefe der Erde verschwunden - und niemand würde ihn mehr finden können... Draußen vor der Burg konnten sie gerade noch rechtzeitig ihre Pferde erreichen, bevor diese sich mit den Zügeln losrissen und davon stürmten. Das Beben war auch hier draußen deutlich zu spüren und das beunruhigte die Tiere sehr. Thorin und Arlina saßen schnell auf und gaben den Pferden dann die Zügel frei. Währenddessen richtete hinter ihnen die Macht der Zerstörung die Felsenburg zugrunde. Die stabilen Türme gerieten wie von Geisterhand ins Wanken und stürzten schließlich in einer gigantischen Wolke aus Staub und Stein in sich zusammen. Nur wenig später schoss rote Magma aus den Trümmern hervor und breitete sich immer mehr aus. Während Thorin und Arlina sich vom Ort des Schreckens sehr rasch entfernten, wurde die Burg durch die gewaltigen Kräfte des Bebens dem Erdboden gleichgemacht... * In sicherer Entfernung zügelten sie ihre Tiere und blickten zurück auf die Trümmer. Wo einst das stolze Samorkand gestanden hatte, herrschte nun das totale Chaos. Ringsherum bot sich nur noch ein Bild der Verwüstung. »Worauf wartest du noch, Prinzessin?«, fragte sie Thorin, als ihm auffiel, dass Arlina etwas zu lange auf die Trümmer der Burg blickte. »Hier ist nichts mehr, was dich halten kann. Es werden Jahre vergehen, bis wieder Menschen in dieses Land kommen - wenn überhaupt!« 83
Arlina wandte ihre Blicke von ihrem einstigen Zuhause ab und nickte schließlich. »Du hast ja recht - aber es fällt mir sehr schwer, das zu akzeptieren, was geschehen ist. Ich werde weggehen von hier und versuchen, alles zu vergessen.« »Die Zeit heilt die meisten Wunden«, tröstete sie der Nordlandwolf. Er lächelte, als er einen kleinen Beutel aus seiner Kleidung holte und den Inhalt der staunenden Arlina zeigte. »Das ist alles, was uns vom Schatz deines Vaters geblieben ist, Arlina. Ich konnte nicht widerstehen, als, ich vor einer der Truhen stand. Es ist zwar nicht viel - aber immer noch besser als gar nichts. Komm mit mir, Prinzessin.« »Und wohin führt dein Weg?« Arlina blieb noch unentschieden. »Ich weiß gar nicht, wohin ich gehen soll. Ich bin allein und habe niemanden mehr...« »Das Gold in diesem Beutel gehört dir«, sagte Thorin und warf ihn ihr zu. »Eine der wertvollen Münzen behalte ich, aber mit dem Rest wirst du ganz sicher eine Weile gut leben können. Was mich betrifft mein Weg führt weiter nach Osten. Es gibt noch viele ferne Länder, die ich noch nicht gesehen habe. Was ist - willst du mitkommen?« Arlina überlegte nicht lange, sondern traf jetzt schon ihre Entscheidung. »Ja, Thorin - aber ich weiß nicht, für wie lange. Vielleicht trennen sich unsere Wege schon bald wieder, wer weiß?« »Einverstanden«, nickte Thorin und trieb das Pferd wieder an. Bald darauf waren beide am Horizont verschwunden... * Thorin wunderte sich zwar darüber, dass er ausgerechnet jetzt an die dramatischen Erlebnisse auf der Suche nach dem Schatz von Samorkand hatte denken müssen. Aber hier draußen in dieser menschenleeren Einöde drifteten der Geist und die Erinnerungen manchmal ab und ließen fast vergessene Episoden wieder greifbar nahe entstehen. Arlina, die schöne Prinzessin des untergegangenen Samorkand ob sie noch lebte? Thorin hatte seine berechtigten Zweifel daran, denn 84
nachdem die Mächte der Finsternis und ihre grausamen Helfershelfer die Erde heimgesucht und in einen Abgrund des Chaos gestürzt hatten, war nichts mehr geblieben von dem, das Thorin einst einmal vertraut gewesen war. Der FÄHRMANN hatte es ihm auf dramatische Weise klargemacht und Thorin hatte begreifen müssen, dass er nun völlig auf sich allein gestellt war. Er konnte noch nicht einmal mehr auf die Hilfe der Götter des Lichts zählen, denn in den Wirren der letzten verheerenden Schlacht zwischen Licht und Finsternis waren sie besiegt worden. Der Morgen war nicht mehr fern. Ganz weit am fernen Horizont zeigten sich bereits die ersten Schimmer der bevorstehenden Helligkeit. Oder war das nur auf das rötliche geheimnisvolle Schimmern der Nebelbarriere zurückzuführen, die das Ende dieser Schutzzone darstellte? Thorin wusste es nicht, aber er hatte einen heiligen Schwur geleistet, es herauszufinden. Er musste die Nebelzone durchdringen und sehen, was drüben auf der anderen Seite geschehen war. Und er musste nach den Göttern des Lichts suchen, denn er war immer noch überzeugt, dass sie nicht endgültig vernichtet waren. Denn Sternfeuer leuchtete noch. *
Epilog Langsam steuerte der FÄHRMANN seine Barke durch den Strom aus Raum und Zeit. Er war bis zu den Sphären vorgedrungen und hatte somit fast die Grenzen überwunden, die auch für die so genannten Götter ein Hindernis darstellten - aber nicht für ihn... War es mehr ein Zufall oder eine Laune der kosmischen Bestimmung, die ihn seine Barke wieder in jenen Teil des Universums zurücksteuern ließ, wo die Finsternis ihren Einflussbereich dramatisch vergrößert hatte? Das konnte selbst der FÄHRMANN nicht sagen, aber er sah mit einer gewissen inneren Zufriedenheit, (und eine solche Gefühlsregung stellte bei einem Wesen wie ihm eine absolute Ausnahme 85
dar) dass die Inseln des Lichts, die er mit seiner gewaltigen geistigen Kraft auf der Welt der Menschen manifestiert hatte, noch existierten. Die Mächte der Dunkelheit hatten es also nicht geschafft, sie zu vernichten. Selbst die grausamen Skirr, die Wesen von jenseits der unbegreiflichen Flammenbarriere, hatten das nicht ändern können. Da wusste der FÄHRMANN, dass es richtig gewesen war, was er getan hatte und er ließ seine Barke etwas länger im Strom der Zeit verharren, stemmte das Ruder gegen den ewigen Strudel, der keinen Anfang und kein Ende besaß. Er war ein Wanderer zwischen den Universen und konnte die Richtung und auch die Dauer der Zeit bestimmen, wo er sich an einem bestimmten Ort in dieser gewaltigen Schöpfung aufhielt. So verharrte er hier oben und blickte nieder auf die einst so unbedeutende Welt der Menschen, die immer mehr zum Spielball von Mächten wurde, deren dunkle Bestrebungen zu einer großen Gefahr für ganze Universen geworden war. Wer die Sphären manipuliert, musste doch wissen, was er dadurch auslöste! Aber die Skirr schienen sich darum in keinster Weise zu kümmern. Das wissende Auge des FÄHRMANNS tauchte hinab bis in die hintersten Winkel und Verliese der schrecklichen Stahlburgen. Sein Hauch streifte nur für den Bruchteil einer Sekunde die drei gefangenen Götter des Lichts, zu denen der größte Teil der Menschen einst gebetet hatte. Aber der FÄHRMANN schenkte ihnen noch nicht einmal einen Hauch von Aufmerksamkeit. Er suchte nach den Gefahren, die dem Universum drohten und lokalisierte sie schließlich in den dunklen Abgründen der Skirr-Behausungen. Der FÄHRMANN sah die Experimente, die die Skirr - vielleicht auch nichts ahnend - anstellten und fand erneut eine Bestätigung dafür, dass es richtig gewesen war, den Krieger namens Thorin aus der Blase aus Licht und Energie zu befreien und ihn wieder hinab zur Welt der Menschen zu schicken. Er selbst würde jetzt kein zweites mal eingreifen in den Schicksal dieser Welt - denn sein erstes Handeln war im Grunde genommen unwürdig für ein Wesen seiner Art. Die-über-dieman-nicht-sprechen sollte blieben schließlich auch in ihrem Teil des Universums und hatten schon seit Äonen den Kontakt zu allen übrigen Welten und Geschöpfen abgebrochen. 86
Seine feinfühligen Sinne entdeckten Thorin schließlich in einer der Inseln des Lichts und er erkannte ebenfalls, dass Thorin sich einer der Nebelzonen näherte, die die noch intakten Teile der Welt von den dunklen tödlichen Bereichen der Finsternis trennte. Er kam nicht umhin, diesen Sterblichen für seinen Mut zu bewundern, den er mit seinem Vorgehen bewies. Thorin war nur ein Mensch und besaß noch nicht einmal einen Bruchteil des Wissens um die wirklichen kosmischen Zusammenhänge - und doch war er bereit, sein Leben zu opfern. Schließlich galt es, das Gleichgewicht zwischen Licht und Dunkel auf dieser Welt so rasch wie möglich wieder herzustellen, ebenso wie den Einklang des übrigen Universums und dessen zahlreicher Welten. Der FÄHRMANN wandte sich ab von Thorin und beobachtete nun auch die anderen Inseln des Lichts, wo sich ebenfalls wieder menschliches Leben zu regen begann. Die Schöpfung wehrte sich gegen die Finsternis! Er sah einen alten kampferfahrenen Recken, der einst an der Spitze der Heerscharen der menschlichen Armeen gestanden hatte - und es wieder im Begriff war zu tun. General Kang, der tapfere Soldat, der die letzte Schlacht verloren hatte, war an seinem Schicksal jedoch nicht zerbrochen. Nachdem er wieder einige seiner Getreuen um sich versammelt hatte, begann er damit, bereits die ersten Pläne zu schmieden. Der FÄHRMANN sah, dass es gut war und es stimmte ihn zuversichtlich, dass sein erstes Eingreifen in die Geschicke dieser Welt doch etwas zu bewirken begann. Zwar waren es nur kleine Schritte, aber sie waren schon zu erkennen und würden auch den Blicken der Skirr nicht verborgen bleiben - aber nur wenn es diesen Wesen gelang, die Inseln des Lichts und deren Schutzzonen zu überwinden. Mit dem Wissen, das diese unfassbaren Wesenheiten besaßen, hätte es ihnen eigentlich schon gelingen müssen, aber sie waren zu sehr mit ihren Experimenten zugange und übersahen dafür andere Dinge. Das Wesen, das schon vor Geburt dieses Universums existiert hatte, wandte nun seinen Blick ab von den Geschehnissen. Er hatte für den Augenblick genug gesehen und wusste, dass er jetzt und hier nicht länger zu verweilen brauchte. Die Dinge, die er in Bewegung 87
gebracht hatte, würden nun ihren Lauf nehmen. Er selbst ergriff wieder das Steuer der Barke und entfernte sich. Er tauchte wieder ein in den Strudel der Zeit und nahm Kurs auf Regionen jenseits des bekannten Universums. Sein Ziel war erneut die Flammenbarriere und diesmal würde er nach Ewigkeiten erneut in diese unfassbare Region eindringen. Die Geschehnisse erforderten es und er wusste, dass dies ganz sicher denen-über-die-man-nicht-sprechensollte - nicht verborgen bleiben würde. Auch wenn sie sich weit jenseits der Sphären an einem kaum zu begreifenden Ort abgeschottet hatten, so würden sie es spüren, wenn sich ein Wesen wie der FÄHRMANN so massiv einmischte in Dinge, die schon vor Beginn der eigentlichen Zeitrechnung schon immer ihren Lauf genommen hatten. Das Gute kämpfte gegen das Böse und nur einer konnte Sieger sein... Der FÄHRMANN spürte die Aura des Wahnsinns, die die Flammenbarriere ausstrahlte, aber mit seinen Kräften war es für ihn ein Leichtes, auch dieses Hindernis zu durchdringen. Denn selbst ein Wesen wie er hatte viel gelernt in den Ewigkeiten, seit er die Universen durchstreifte. Die Barke erreichte die ersten Hitzewellen und der FÄHRMANN schloss kurz die Augen, als er in ein Meer aus tosender, explodierender Helligkeit eintauchte und bald darin ganz verschwand. Selbst Götter wären angesichts dieser furchtbaren Engergieentladungen für immer vernichtet worden. Dies galt aber nicht für einen der ältesten Wächter des Universums...
Ende
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