Seewölfe Kosaren der Weltmeere Nr.118
Kelly Kevin
Der Schatz der Maya Seeabenteuer-Roman
1. Donegal Daniel O'Flynn ...
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Seewölfe Kosaren der Weltmeere Nr.118
Kelly Kevin
Der Schatz der Maya Seeabenteuer-Roman
1. Donegal Daniel O'Flynn lag reglos in der Hängematte und lauschte. Er hörte nicht das Klatschen der Wellen gegen die hölzerne Bordwand, er hörte auch nicht das Knarren der Rahen und Blöcke, das die stampfenden, schlingernden Bewegungen des Schiffes wie eine vertraute Melodie begleitete. Dan O'Flynn konzentrierte sich mit jeder Faser auf die Atemzüge der Männer, die rechts und links von ihm im Mannschaftslogis des Vorschiffs schliefen. Fremde Atemzüge. Und Männer, die Dan erst seit ein paar Tagen kannte. Denn auf der Dreimast-Galeone ›Isabella VIII.‹ führte im Augenblick nicht der Seewolf das Kommando, sondern ein größenwahnsinniger bretonischer Piratenkapitän. Dan richtete sich vorsichtig auf und schwang die Beine aus der Hängematte. Er biß die Zähne zusammen. Sein Rücken brannte, die Peitschenstriemen, die er dem verdammten Bretonen verdankte, waren immer noch nicht verheilt. Auch Batuti, der riesige Gambia-Neger, hatte zwanzig Hiebe mit der Neunschwänzigen über sich ergehen lassen müssen. Jean Morro, dem Bretonen, war es schließlich gelungen, seine beiden Gefangenen zum Borddienst auf der unter-
bemannten Galeone zu zwingen. Aber nicht, weil er sie etwa mit seiner Drohung eingeschüchtert hätte, sie sonst an der Rahnock aufzubaumeln oder in der Vorpiek verhungern zu lassen – das ganz gewiß nicht. Dan und Batuti hatten sich nur zum Schein gebeugt. Sie wußten, was das Piratengesindel nicht einmal ahnte: daß die Seewölfe ganz sicher nicht lange auf der Insel bleiben würden, auf der man sie zurückgelassen hatte. Der schwarze Segler war in der Nähe. Ein knüppelharter Sturm hatte ihn von der ›Isabella‹ getrennt, aber Siri-Tong und Thorfin Njal würden die Seewölfe suchen – und finden, davon war Dan O'Flynn überzeugt. Irgendwann würde ›Eiliger Drache über den Wassern‹ die ›Isabella‹ einholen – und bis dahin wollten Dan und Batuti nicht mehr an Bord sein, damit die Piraten sie nicht als Geiseln benutzen konnten. Aber verschwinden konnten sie nicht, wenn sie gefesselt in der Vorpiek lagen oder nach einer zweiten Abreibung mit der Neunschwänzigen nicht mehr fähig waren, sich auf den eigenen Beinen zu halten. Deshalb hatten sie sich geduckt, hatten gehorcht und die Schikanen und Quälereien ihrer Gegner ertragen. Auch so blieb das Unternehmen schwierig genug. Dan und Batuti waren verschiedenen Wachen zugeteilt und ständig von Männern umgeben, die auf sie aufpaßten. Die Chance, etwa unbemerkt ein Boot abzufieren, war gleich Null. Aber inzwischen hatte die ›Isabella‹ die Höhe von Managua passiert, lag dicht unter Land auf Nordwestkurs, und gestern nachmittag hatten die. beiden Seewölfe ein paar-
mal die Küste gesehen. Sie würden schwimmen. Daß sich Jean Morro damit aufhalten würde, die Küste von Nueva Espana nach ihnen abzusuchen, wenn er ihre Flucht entdeckte, bezweifelten sie. Aber Siri-Tongs Crew und die Seewölfe würden zum Beispiel Rauchzeichen richtig zu deuten wissen, wenn sie vorbeisegelten. Oder vielleicht war es auch möglich, irgendwo ein Boot aufzutreiben, mit dem sie den Kurs des schwarzen Seglers kreuzen konnten. Dan O'Flynn warf noch einen letzten Blick auf die schlafenden Männer, die er in der Dunkelheit des Vorschiffs nur schattenhaft zu erkennen vermochte. Vorsichtig stieg er aus der Hängematte, glitt auf nackten Sohlen zum Schott und tastete nach dem Riegel. Schweiß stand auf seiner Stirn, als er – unendlich behutsam, um kein Geräusch zu verursachen – den Durchlaß öffnete. Wie ein Schatten huschte er nach draußen, und genauso behutsam wie vorher schloß er das Schott wieder. Für ein, paar Sekunden verharrte er auf dem Niedergang und lauschte. Das stete Knarren, Knirschen und Ächzen der Takelage hatte sich verstärkt. Schritte erklangen: bedächtige Schritte, nicht das rastlose Klatschen nackter Sohlen auf den Decks, das man bei böigem Wind und unruhiger See hörte. Die ›Isabella‹ lag über Backbordbug und empfing den gleichmäßigen Ostwind raumschots. Sanft schob er sie dahin, unermüdlich, einschläfernd – in einer solchen Nacht brauchten die Männer an Deck kaum eine Hand zu
rühren. Dan wußte, daß Batuti die Steuerbordwache auf der Kuhl ging, zu sammen mit Esmeraldo, diesem einäugigen Hundesohn. Lautlos glitt Dan O'Flynn über den Niedergang. Sein Blick flog über die geblähten, fahl schimmernden Segel, über die Wanten und Pardunen, in denen der Wind sang. Eine Gestalt lehnte am Schanzkleid, noch schwärzer als die Nacht. Aber sie hob sich von dem bewegten, im Sternenlicht glitzernden Spiegel des Pazifik ab, und deshalb konnte Dan die Umrisse des hünenhaften Negers deutlich erkennen. Batuti rührte sich nicht. Und Dan kümmerte sich vorerst nicht um ihn. Er schob sich auf dem Niedergang noch eine Kleinigkeit höher, wandte den Kopf – und jetzt hatte er auch den einäugigen Esmeraldo im Blickfeld. Der lehnte lässig am Großmast und betrachtete angelegentlich die überlangen Rohre der Culverinen, von deren Reichweite und Treffsicherheit er sich bei dem Gefecht mit dem ahnungslosen schwarzen Segler hatte überzeugen können. Auch das Ruderhaus der ›Isabella‹ erregte immer von neuem das Interesse der Piraten. Überhaupt war ihnen inzwischen klargeworden, was für ein außergewöhnliches Schiff sie da in ihre Hand gebracht hatten. Nur die gut verborgenen Schätze in den Frachträumen hatten sie noch nicht gefunden. Und auch nicht die Brandsätze, die die ›Isabella‹ an Bord hatte und mit denen die Piraten ohnehin nichts anzufangen wußten.
Dan O'Flynn packte den Belegnagel fester, den er bei seiner letzten Wache heimlich eingesteckt hatte. Niemand war auf die Idee verfallen, ihn oder Batuti zu durchsuchen. Wahrscheinlich glaubten die Piraten, ihren Gefangenen endgültig das Rückgrat gebrochen zu haben. Dan erschien es, als hätten die Kerle in ihrer Aufmerksamkeit sogar etwas nachgelassen, und er hoffte, daß das auch auf den einäugigen Esmeraldo zutraf, auf ihn – und auf die beiden Kerle drüben auf der Backbordseite. Es waren die beiden Burgunder. Und die steckten dauernd die Köpfe zusammen und tuschelten über das Bordell, das sie in ihrer Heimat gründen wollten, wenn ihr Beuteanteil groß genug war, um mit einem eigenen Schiff den weiten Weg um Kap Horn und quer über den Atlantik zurück in die alte Welt segeln zu können. Nach den Gesprächen der beiden würde das ein Bordell werden, gegen das sich der Palast der Königin von England bescheiden ausnahm. Dan grinste leicht, während er auf die flüsternden Stimmen horchte, die der Wind herübertrug. Ja, die Burgunder waren vollauf damit beschäftig, an ihrem Traum weiterzuspinnen. Dan glitt lautlos über die Kuhl, schlug einen Bogen und näherte sich dem einäugigen Esmeraldo von hinten. Der Pirat hörte nichts. Er schien mit offenen Augen zu träumen. Dan holte aus, nahm Maß – und hieb dem Einäugigen den Belegnagel auf den Schädel. Es klang hohl, fand Dan. Auf jeden Fall ziemlich leise,
genau wie das gedämpfte Röcheln, das der Einäugige noch hervorbrachte. Rasch fing Dan den stürzenden Körper auf und ließ ihn vorsichtig auf die Planken gleiten. Batuti hatte sich umgedreht. Das Weiß seiner Augäpfel schimmerte, und die prächtigen Zähne blitzten im Dunkeln, als er die Lippen zu einem breiten Grinsen verzog. Lautlos huschte Dan zu ihm hinüber. Kein Wort fiel. Irgendwie hatte es der hünenhafte Neger bereits geschafft, eine Leine auszubringen. Dan nickte ihm zu, schwang sich geschmeidig über das Schanzkleid und hartgelte sich Hand über Hand nach unten. Behutsam ließ er sich ins Wasser gleiten, schwamm ein Stück zur Seite und legte den Kopf in den Nacken. Batutis Hünengestalt erschien über dem Schanzkleid. Auch er hangelte sich an der Leine nach unten und glitt vorsichtig ins Wasser. Mit dem Daumen wies er zur Küste. Dans blaue Augen funkelten. Er nickte und wollte sich von der Bordwand lösen. Im nächsten Moment erstarrte er. Jäh wurde es über ihnen an Deck lebendig. Schritte polterten. Jemand stürmte hastig aus dem Vorschiff. Und dann dröhnte bereits die Donnerstimme des bulligen Barbusse, der eigentlich auf Dan hatte aufpassen sollen. »Vermaledeiter Bengel!« brüllte er. »Dieser Giftzwerg ist getürmt, aus dem Logis verschwunden! Verdammt, wo steckt diese Wanze?« Dan und Batuti wechselten einen raschen Blick.
»Wegtauchen«, flüsterte Dan O'Flynn. Batuti nickte nur, weil er wußte, daß sie so oder so keine andere Wahl hatten. * Düster und majestätisch glitt der ›Eilige Drache über den Wassern‹ nach Norden. Der stetige Ostwind blähte die schwarzen Segel an den vier Masten. Das Schiff verschmolz fast mit der Dunkelheit. Jetzt, im fahlen Mond licht, bot es einen unheimlichen Anblick – ein großer, stolzer Segler, gegen den sich die Karavelle, die in seinem Kielwasser segelte, fast wie ein Zwerg ausnahm. Ein gefährlicher. Zwerg allerdings. Und ein Zwerg, der von einer Mannschaft gefahren wurde, die das seemännische Handwerk im Schlaf beherrschte. Philip Hasard Killigrew, der Seewolf, hatte jeden Fetzen Tuch gesetzt, den die drei Masten der ›Santa Monica‹ zu tragen vermochten. Die Karavelle war rank und wendig gebaut, leicht auf Kosten der Armierung: drei Geschütze auf jeder Seite, Vierpfünder mit gegossenen Bronzerohren, außerdem je zwei Serpentinen in drehbaren Gabellafetten an Bug und Heck. Verglichen mit der Bewaffnung des schwarzen Seglers war das lächerlich. Aber dafür war die ›Santa Monica‹ schnell, konnte das Tempo des ›Eiligen Drachen‹ mithalten, und nichts anderes zählte im Augenblick für die See-
wölfe. Sie waren auf der Jagd, auf der Jagd nach ihrem eigenen Schiff, der ›Isabella‹, das ihnen eine Bande von SüdseePiraten abgejagt hatte. Und auf der Jagd, um Dan O'Flynn und Batuti zu befreien, die sich in der Gewalt der Piraten befanden. Jean Morro hieß der Anführer der Horde. Ein gefährlicher Mann, wie Hasard sich eingestehen mußte. Und dennoch würde er gegen die Verfolger keine Chance haben. Mit zusammengepreßten Lippen stand der Seewolf auf dem Achterkastell und starrte in die Dunkelheit. Der Verlust der ›Isabella‹ nagte an ihm. Vor allem die Frage nach dem Schicksal von Dan und Batuti. Wieder und wieder zog die Erinnerung an die letzte Woche in einer Folge messerscharfer Bilder an seinen inneren Augen vorbei. Wieder und wieder fragte er sich, ob er irgendwo einen Fehler begangen hätte. Angefangen hatte es mit dem Irren, den sie auffischten: einem von seiner Mannschaft ausgesetzten Piratenkapitän, der den Verstand verloren hatte und nur noch von seiner Rache faselte. Eines nachts war der Verrückte verschwunden gewesen. Und mit ihm Dan und Batuti, die er wohl gezwungen hatte, ein Boot abzufieren und ihn zu der Insel zu pullen – jener Insel, auf deren Riff die Galeone der, Piraten als zerschmettertes Wrack lag. Als sie zurücksegelten, hatten die Seewölfe nicht ahnen können, daß sich sechzehn Überlebende der Katastrophe auf der Insel verbargen. Hasard selbst hatte den kleinen Suchtrupp angeführt, den die Piraten in einen gemeinen
Hinterhalt lockte. Und danach brauchte Jean Morro, der Bretone, nur noch damit zu drohen, seine Gefangenen einen nach dem anderen umzubringen, wenn man seine Bedingungen nicht erfüllte. Ben Brighton hatte sich in dieser Situation dafür entschieden, die ›Isabella‹ auszuliefern. Und Hasard wußte glasklar, daß er an Bens Stelle genauso gehandelt und nicht einen einzigen seiner Männer geopfert hätte. Das Schicksal war gegen sie gewesen. Sie hatten eine Niederlage einstecken müssen – und sie waren unterwegs, um diese Niederlage wieder auszubügeln. Denn sie kannten das Ziel der Piraten. Chiapas war es, jenes kleine Stück grüner Hülle südöstlich der Landenge von Tehuantepec. Maya-Land! Eine geheimnisvolle, unerforschte Wildnis, in der die Piraten einen legendären Schatz zu finden hofften. Das allerdings konnten die Seewölfe und die Männer der Roten Korsarin zu diesem Zeitpunkt nur ahnen. Denn Dan O'Flynn hatte nicht mehr als das Wort ›Chiapas‹ in einen Felsen ritzen können, bevor er, von der Insel verschleppt wurde. Der Seewolf lächelte grimmig, als er daran dachte, wie sie es geschafft hatten, die verdammte Insel wieder zu verlassen. Die versprengte spanische Karavelle hatte wie gerufen die Insel angelaufen. Noch ehe der schwarze Segler die Insel entdeckte, hatten die Seewölfe die ›Santa Monica‹ gekapert. Und jetzt waren es die Spanier, die auf dem
öden Eiland festsaßen und darauf hofften, daß man sie finden würde. Der schwarze Segler und die kleine Karavelle waren bisher Nordkurs gelaufen. Aber jetzt hatten sie bereits die Höhe von Managua, und wenn die Karten nicht trogen, würden sie bald Land sehen. Hasard spähte unwillkürlich zum Großmars hoch, und Ben Brighton, der neben ihm auf dem Achterkastell stand, warf ihm einen Blick zu. »Glaubst du immer noch, daß wir die ›Isabella‹ vor Chiapas einholen?« fragte er verhalten. Der Seewolf schüttelte den Kopf. Als sie von der Insel aufbrachen, war er überzeugt gewesen, daß sie die Piraten schnell erwischen würden. Die ›Isabella‹ war hoffnungslos unterbemannt, selbst wenn man Dan und Batuti dazuzählte. Aber die See, die ihnen in den letzten Wochen so oft die Zähne gezeeigt hatte, schien ihnen jetzt wie zum Hohn ihr freundlichstes Gesicht zu präsentieren. Stunde um Stunde, Tag um Tag wehte dieser gleichmäßige, sanfte Ost. Nichts wies darauf hin, daß sich das Wetter ändern würde. Der Seewolf hatte mittlerweile ein sicheres Gespür für das Wetter in diesem Teil der Welt entwickelt. Unter solchen Bedingungen segelte sich die ›Isabella‹ fast von selbst. Da würde es schwer, wenn nicht unmöglich sein, ihren Vorsprung aufzuholen. »Wenn wir sie nicht vor Chiapas erwischen, dann eben in Chiapas«, sagte, Hasard hart. »Und wenn wir jede Bucht und jeden Fluß einzeln absuchen.« Er schwieg einen Moment und zog die Brauen zusammen. »Vielleicht
ist es ohnehin besser, bis Chiapas zu warten«, fuhr er fort. »Dort können wir die Kerle aufsplittern. Oder Dan und Batuti im Handstreich auf dem Landweg befreien. Wenn wir die ›Isabella‹ in offener Seeschlacht stellen, werden die Piraten ihre Gefangenen vermutlich als Geiseln benutzen.« »Auch wieder wahr«, murmelte Ben Brighton. »Wir könnten Fühlung halten und…« Er wurde jäh unterbrochen. »Land ho!« sang Bob Grey im Großmars aus. »Land Steuerbord voraus!« Hasards Blick suchte den schwarzen Segler, der weit voraus als Schatten zu erkennen war. Auch dort war der Großmars besetzt, und der Ausguck hatte die Küste sicher ebenfalls gesichtet. Der Seewolf enterte über den Niedergang ab, und wenig später stand er auf dem Vorkastell und spähte durch das Spektiv nach Nordnordost. Ein unregelmäßiger schwarzer Streifen hatte sich zwischen den sternengespickten Himmel und das bewegte, im Mondlicht wie flüssiges Silber glitzernde Wasser geschoben. Das war keine Insel mehr. Ganz davon abgesehen, daß die Karten in dieser Gegend südlich der Fonseca Bai ohnehin keine Inseln verzeichneten. Vor ihnen lag die Küste, die Landenge, die Nueva Espana mit dem südamerikanischen Kontinent verband. Hasard lächelte, als er sich umwandte und mit einem Blick den Stand der Segel prüfte. In der nächsten Sekunde dröhnten seine Kommandos
über das Deck: »Klar zum Anluven! Holt dicht alle Schoten! Pete, höher ran an den Wind!« Längst hatten die Wachen auf Kuhl und Achterdeck ihre Stationen eingenommen. Der Besan wurde zuerst dichtgeholt, dann folgten Großsegel und Vorsegel. »Höher ran«, wiederholte Pete Ballies ruhige Stimme, und Hasard verfolgte, wie die Karavelle an den Wind ging. »Holt durch die verdammten Schoten, ihr lahmen Rübenschweine!« brüllte Ed Carberry von der Kühl. »Willig, willig, oder habt ihr keinen Mumm mehr in den Knochen, ihr kalfaterten Decksaffen, ihr…« Der Profos stockte. Nicht, weil ihm die Fluche ausgingen, sondern weil er in den Wind sprach. In einen sanften, stetigen Ostwind, den sie jetzt von Steuerbord voraus erhielten und der die Karavelle unter perfekt getrimmten Segeln laufen ließ wie Samt und Seide. »Na also«, brummte Edwin Cafberry. Er sah zum Vorkastell hoch und grinste breit, und Hasard wußte genau, was dieses Grinsen bedeutete. Eine verdammte Teufelsbande ist das, sagte dieses Grinsen. Die brauchte man nicht erst anzulüften, die beherrschte ihr Handwerk im Schlaf und mit links. Da waren Carberrys Flüche im Grunde ganz überflüssig. Aber ein fluchender Profos gehörte nun einmal dazu. Und solange Edwin Carberry fluchte, war die Welt noch in Ordnung.
2. Dan O'Flynn hatte das Gefühl, als würden im nächsten Augenblick seine Lungen platzen. Er brauchte Luft. Er mußte auf tauchen: Schon tanzten rote Feüerräder vor seinen Augen. Als sein Kopf die Wasseroberfläche durchstieß, mischte sich das Brausen des Blutes in seinen Ohren mit dem Plätschern und Gurgeln der Wellen und dem heiseren Geschrei an Bord der ›Isabella‹. »Du solltest aufpassen, du Bastard!« Das war Pepe le Mocos Stimme, wahrscheinlich stauchte er Barbusse zusammen. »Wo ist der Nigger, verdammt noch mal? Wenn sie entwischt sind, laß ich dich kielholen, du Penner, du lausiger…« Dan pumpte seine Lungen voll Luft und tauchte wieder. Mit gestreckten Armen und Beinen glitt er durch das dunkle Wasser, die Augen weit geöffnet. Undeutlich spürte er eine Bewegung neben sich: Batuti. Der schwarze Herkules schwamm wie ein Fisch und hielt sich mit Dan auf gleicher Höhe. Sekunden verstrichen, und auch dieses Mal tauchten sie erst auf, als die Atemnot unerträglich wurde. Dan keuchte und sog gierig die frische, salzige Luft ein. Wasser plätscherte, neben ihm, Batutis Kopf tauchte auf.
Der Neger schnappte nach Luft, grinste gleichzeitig, und in dem schwarzen Gesicht blitzten die Zähne. »Da!« brüllte jemand auf der Galeone. »Da sind sie! Steuerbord querab!« Im nächsten Sekundenbruchteil ertönte Jean Morros Stimme: »Beiboot abfieren! Hopp-hopp! Ich will diese Bastarde wiederhaben!« »O verdammt!« flüsterte Dan mit Inbrunst, während Batuti schon wieder wegtauchte. Der drahtige Dan tauchte hinterher. Dabei wurde ihm klar, daß es nicht den geringsten Sinn hatte, stur geradeaus zu schwimmen. Undeutlich sah er die schwarze Hünengestalt vor sich und wie sie nach oben schwenkte. Dan tauchte ebenfalls auf. »Nach links!« zischte er. »Wir müssen sie täuschen, Haken schlagen oder so was.« »Wie Hase?« »Ja, verflucht! Oder wie Haifisch oder…« »Fier weg das Ding!« gellte die Stimme des Bretonen. »Sechs Mann abentern! Nehmt Waffen mit, ihr dreimal verdammten Idioten!« Dan warf sich im Wasser nach links, stieß tief nach unten und versuchte, so weit wie möglich von seinem ursprünglichen Standort wegzuschwimmen. Sein Herz hämmerte, und das Stechen und Brennen in seiner Brust bewies ihm, daß er für längere Tauchstrecken nicht mehr gut genug war. Das Salzwasser biß in den Wunden an seinem Rücken, aber das nahm er kaum wahr. Verzweifelt stieß er die angehaltene Luft aus, schluckte Wasser, und
die blubbernden Blasen vor seinen Augen schienen sich in bunte, explodierende Sterne zu verwandeln. Mit letzter Kraft tauchte er auf und schnappte nach Luft. »Still!« zischte Batutis Stimme dicht an seinem Ohr. »Kerle in Boot suchen Bewegung.« Jetzt erst hörte Dan bewußt die rhythmischen Ruderkommandos, die in seinem Schädel widerzuhallen schienen wie Hammerschläge. »Hool weg! Hool weg!« Das Boot löste sich von der ›Isabella‹. Vier Männer pullten, zwei spähten aufmerksam über das Wasser: Sie waren mit Pistolen, Belegnägeln und Bootshaken bewaffnet – letztere vermutlich, um ihre Opfer aus dem Bach zu fischen, wenn sie sie erst hatten. Vorerst suchten sie in der falschen Richtung. Aber Dan O'Flynn bezweifelte, daß das so bleiben würde. »Weiter!« flüsterte er. Sehr behutsam ließ er sich diesmal unter Wasser gleiten, und auch Batuti vermied es, sich heftig zu bewegen. Dafür gelangten sie auch nicht so schnell vorwärts, und zusätzlich vermieden sie es, das letzte Quentchen Luftreserve zu verbrauchen, um nicht zu unkontrolliert und hastig auftauchen zu müssen. Trotzdem rauschte das Blut in Dans Ohren, als er auftauchte. »Scheiße!« hörte er Batutis Stimme, warf einen Blick über die Schulter und zuckte zusammen. Das Boot hielt auf sie zu. Die Kerle mußten sie entdeckt ha ben.
An Bord der ›Isabella‹ wurde im selben Augenblick ein zweites Boot abgefiert, weil der Bretone offenbar keinerlei Risiko eingehen wollte. Angriff ist die beste Verteidigung, dachte Dan. Und Batuti kleidete den gleichen Gedanken in schlichtere Worte: »Nix hauen ab! Besser hauen drauf, rumms!« »Ja, rumms! Wir tauchen, packen sie von zwei Seiten, schaukeln ein Bißchen, entern und hauen die Bastarde mit den Riemen zu Brei!« »Rumms!« wiederholte Batuti, begeistert. Und mit dem nächsten Atemzug war er schon wieder verschwunden. Dan tauchte ebenfalls. Sehr steil diesmal, so daß er sich im Wasser drehen konnte, denn die Kerle sollten ja annehmen, daß ihre Opfer an Abhauen und nicht an Draufhauen dachten. Mit aufgerissenen Augen glitt Dan auf den plumpen Schatten des Bootes zu. Batuti verschwand bereits hinter diesem Schatten, Dan hielt sich an der Backbordseite. Unmittelbar über ihm zogen die Riemenblätter durchs Wasser: Dan wartete, bis sie achtern waren, spannte die Muskeln und schnellte wie ein Tümmler dicht an der Bordwand hoch. Jemand brüllte erschrocken. Dans Körper blockierte die Riemen, seine Hände umklammerten das Dollbord, stemmten sich dagegen, gleichzeitig spürte er den Zug von der anderen Seite. Das Boot krängte nach Steuerbord. Mit fuchtelnden Armen versuchten die Kerle, die in Bug und Heck knieten, das Gleichgewicht zu halten.
»Hopp!« schrie Dan gellend, und der jähe Gegenruck ließ das leichte Fahrzeug fast kentern. »Du dreckige Wanze!« brüllte einer der Rudergasten und riß den Riemen hoch. Dan packte mit beiden Händen zu, um den Kerl außenbords zu ziehen. Das schaffte er auch: der Bursche nahm lieber ein Bad, als den Riemen fahren zu lassen. Der zweite Rudergast auf der Backbordseite hatte Dans Kopf aufs Korn genommen. Aber da war plötzlich kein Kopf mehr, der Hieb ging ins Leere, und auch dieser Kerl sprang dem im Wasser verschwindenden Riemen nach. Damit war der Trimm beim Teufel. Wie eine Nußschale schlug das Boot um. Gebrüll brandete auf. Auch Batuti schrie – ein kurzer, abgehackter Schrei. Er hatte die Kante des Dollbords an den Kopf gekriegt, aber das konnte Dan O'Flynn nicht sehen. Drei Mann stürzten sich wie die Berserker auf Dan O'Flynn. Er tauchte weg, bevor sie ihn zerquetschen konnten. Einem der Kerle rammte er von unten den Schädel in den Bauch. Der Bursche krümmte sich im Wasser. Dan glitt zur Seite, schnellte auf das Boot zu, das sie entern wollten, also wieder aufrichten mußten, aber er suchte Batuti vergeblich. Eisiger Schrecken krampfte seinen Magen zusammen. Blindlings schlug er um sich, als sich einer seiner Gegner von hinten über ihn warf. Nummer zwei erwischte er mit einem Fußtritt, aber der erste saß ihm wie eine Katze im Nacken und versuchte, seinen Kopf unter Wasser zu
drücken. Dan stieß die Hand mit gespreizten Fingern nach oben. Er traf nichts und hörte grelles, triumphierendes Gelächter. »Hierher!« schrie jemand – und wie ein Schemen glitt das zweite Boot über das Wasser. Mit der Kraft der Verzweiflung stieß Dan noch einmal zu. Diesmal fuhren seine gespreizten Finger dem Piraten ins Gesicht, und der Kerl schrie gellend auf. Der Würgegriff lockerte sich, Dan rang nach Luft, wollte wegtauchen und wußte zugleich, daß er keine Chance mehr hatte. Nur verschwommen sah er den Rumpf des zweiten Bootes dicht vor sich. Etwas krachte von oben auf seinen Schädel. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er das Gefühl, sein Kopf fliege auseinander, dann fühlte er überhaupt nichts mehr. Als er wieder zu sich kam, lag er bäuchlings auf den Planken der ›Isabella‹, und jemand bearbeitete seine Rippen mit Fußtritten. »Rabenaas, verdammichtes!« hörte er eine vertraute Stimme. »Wenn kleines O'Flynn umbringen, Batuti macht Picadillo aus dir…« »Kleines O'Flynn, kleines O'Flynn!« äffte Pepe le Moco wütend. »Dein kleines O'Flynn – wird kielgeholt, du schwarzer Bastard!« »Mistiges Hund! Sohn von verlaustes Wanderhure und triefäugiges Ziegenbock, du…« Der nächste Tritt krachte in Batutis Rippen. Dan stöhnte vor Wut. Als er die Augen Öffnete, sah er die hochgewachsene Gestalt von Jean Morro, der das Achterkastell
verließ, und gleichzeitig sah er die Bewegung, mit der Pepe le Moco von neuem zutreten wollte. Dan O'Flynn federte schneller hoch, als irgend jemand denken konnte. Mehr war allerdings nicht drin, da sich sofort ein paar Mann an seine Arme hängten und ihm fast die Schultern auskugelten. Dan warf den Kopf in den Nacken. Er konnte hören, wie der Tritt in Batutis Rippen krachte. Mit einer wilden Bewegung spuckte der blonde O'Flynn Jean Morro an und fauchte erbittert, weil er nicht getroffen hatte. »Mann!« sagte der Bretone. Es klang beinahe anerkennend. »Dich müssen sie wirklich auf einer Kanonenkugel gezeugt haben.« »Worauf du dich verlassen kannst, du feiger Bastard!« fauchte Dan, dem jetzt alles egal war. Der Bretone schüttelte den Kopf. Ein paar von seinen Leuten zerrten Batuti auf die Füße – oder besser, sie verhinderten, daß er auf die Füße und gleich auch noch Jean Morro ins Gesicht sprang. Der schwarze Herkules sah furchterregend aus. Eine tiefe Wunde klaffte an seinem Kopf, Blut lief über sein Gesicht. Es war ein Wunder, daß er sich überhaupt noch auf den Beinen halten könnte. Pepe le Moco taumelte keuchend gegen das Schanzkleid. Er hatte ebenfalls einiges abgekriegt, stellte Dan zufrieden fest. Wut und Rachsucht flackerte in den blutunterlaufenen Augen des Piraten wie ein Feuer. »Auf was warten wir noch?« schrie er. »An die Rah mit
den Bastarden!« »An die Rah! Zieht ihnen die Hälse lang!« »Wer gibt hier eigentlich die Befehle?« fuhr der Bretone dazwischen. Pepe le Moco knirschte mit den Zähnen. »Du, Jean! Willst du sie etwa nicht aufknüpfen oder kielholen lassen?'? »Nein«, sagte der Bretone. »Aber – aber du kannst doch nicht…« »Nein!« wiederholte Jean Morro schneidend. »Sperrt sie in die Vorpiek! Der nächste, der etwas an meinen Befehlen zu mäkeln hat, kriegt die Neunschwänzige zu spüren!« Dan O'Flynn war immer noch ziemlich verdattert, als das Schott der Vorpiek hinter ihnen dichtgerammt wurde. Er wurde nicht schlau aus dem Bretonen. Aber er begann zu ahnen, daß sie den Kerl wohl irgendwie nicht ganz richtig eingeschätzt hatten. * Die Strahlen der Morgensohne tanzten über das Wasser wie glitzernde Pfeile. Der schwarze Viermaster und die ranke Karavelle segelten dicht unter Land nach Nordwesten. Die Küste lag querab: Palmen, leuchtende Strände, wie ein dunkelgrüner Gürtel dahinter die üppige tropische Vegetation des Urwalds, und noch weiter landeinwärts die steil anstei-
genden Berge, deren Gipfel bereits hinter Hitzeschleiern verschwammen. Hasard stand am Steuerbord Schanzkleid des Achterkastells und suchte die Küstenlinie mit dem Spektiv ab. Vor einer knappen Stunde hatte Siri-Tong die Fahrt des Viermasters verlangsamt und der auf segelnden Karavelle signalisiert, auf Rufweite heranzudrehen. In der tropischen Hitze waren sämtliche Wasservorräte des schwarzen Seglers verdorben. Die Rote Korsarin und der Wikinger wollten Frischwasser an Bord nehmen, möglichst bevor sie auf die ›Isabella‹ stießen und vielleicht in unvorhersehbare Verwicklungen gerieten. Das war vernünftig. Hasard fand es überdies ganz nützlich, sich an Land umzusehen und die Gegend ein wenig kennenzulernen, bevor es ernst wurde. Jetzt luvte der schwarze Segler an und drehte auf die Küste zu. Sein Bugspriet zielte auf eine Stelle, wo die Palmen zurückwichen. Hasard hatte den schmalen Einschnitt ebenfalls entdeckt, konnte jedoch noch nicht erkennen, um was es sich handelte. Aber wenn es eine Bucht war, die dem schwarzen Segler Platz bot, würde die kleine Karavelle es ebenfalls schaffen. Der Seewolf setzte das Spektiv ab. »Klar zum Anluven! Dichter holen die Rahen! Gei auf Groß- und Marssegel! Ruder hart über!« »Hart über!« bestätigte Pete Ballie. »Hoch mit den Lappen, ihr Säcke!« rief der Profos, und »Aye, aye«, ertönte die Bestätigung von den Männern an
Geitauen und Brassen. Die ›Santa Monica‹ ging an den Wind und blieb unter Fock und Besan im Kielwasser des »Eiligen Drachen«. Auch auf dem schwarzen Schiff wurden Segel weggenommen. Die Donnerstimme des Wikingers dröhnte über das Wasser, das Bugspriet des Viermasters verschwand im undurchdringlichen Grün des Dickichts. Etwas wie ein gigantischer Rachen schien das Schiff zu verschlingen, aber das täuschte. Über den dunklen Buckeln des Buschwerks konnte Hasard die Mastspitzen des schwarzen Seglers sehen, dem Stand der Flögel, die wie kleine Wimpel über dem Gebüsch schwebten und sich tief er ins Landinnere bewegten. Platz bot die Bucht offenbar genug. Auch der Bugspriet der Karavelle zielte jetzt auf den grün schimmernden Rachen, und Hasard ließ das Ankergeschirr klarlegen. Minuten später glitt die ›Santa Monica‹ sanft durch die Einfahrt der Bucht. Die Segel begannen sofort zu killen, da der Wald die Bucht wie mit dünkelgrünen Wänden umgab und den Wind wegnahm. Platz war genug: das ruhige Wasser lag schimmernd in der Sonne wie ein riesiger kreisrunder Spiegel. Der schwarze Segler war mit der letzten Fahrt nach Steuerbord gelaufen, die Karavelle wandte sich nach Backbord. Pete Ballie legte Ruder, und die ›Santa Monica‹ beschrieb einen sanften Bogen, bis von See her allenfalls noch ihre Mastspitzen zu sehen waren. »Fallen, Anker!« rief Hasard über Deck.
»Aye, aye«, erfolgte Ben Brightons Bestätigung. Die Ankertrosse rauschte aus, und Minuten später lag die Karavelle wie ein Klotz auf dem Wasser. Hasard ließ ein Faß im Boot ver stauen, da er ebenfalls die Gelegenheit, wahrnehmen wollte, die Wasservorräte zu ergänzen. Er nahm acht Mann mit, schwer bewaffnet, die Gegend sah zwar friedlich und ruhig aus, aber das konnte täuschen. Auch auf dem schwarzen Segler wurde ein Boot abgefiert, und schließlich war es eine ziemlich starke Gruppe, die an der Ostseite der Bucht an Land ging und die beiden Fahrzeuge auf den schmalen Uferstreifen zog. Siri-Tongs Mandelaugen leuchteten flüchtig auf, als sie dem Seewolf zulächelte. Thorfin Njal und die vier anderen Wikinger waren bereits dabei, den Waldsaum abzusuchen, dieses grüne, dampfende, vom ohrenbetäubenden Konzert der Vögel und Affen erfüllte Dickicht, das gerade die fünf Nordmänner ganz besonders verabscheuten. Hasard mußte lächeln, als er Thorfins grimmig verzogenes Gesicht sah. Der bärtige Hüne murmelte etwas, das sich wie ›dreimal verdammter Scheiß-Wald‹ anhörte. Und der Stör, der die Angwohnheit hatte, ständig die letzten Worte seines Kapitäns nachzuplappern, konnte es natürlich auch diesmal nicht lassen. »Dreimal verdammter Scheiß-Wald!« sagte er mit Inbrunst. »Recht hat er«, knurrte Ed Carberry. »Da drüben scheint es übrigens so was wie einen Pfad zu geben.«
»Pfad? Du bist wohl nicht ganz dicht, Mann!« Sam Roskill hatte das gesagt, und ehe ihn der Profos packen konnte, flitzte der schlanke schwarzhaarige Mann bereits über den Uferstreifen zu der Stelle, wo zwischen Gestrüpp und Schlinggewächsen eine dunkle Öffnung klaffte. Sam blieb verblüfft stehen, runzelte die Stirn und stieß schließlich einen Pfiff aus. »Da ist wirklich ein Pfad! Ich werd verrückt!« »Das bist du sowieso, du Stint«, grollte der Profos. Genau wie die anderen trat er nä her heran, um sich den Pfad – oder was immer es war – genauer anzusehen. Hasard tat ein paar Schritte und schob einige Ranken beiseite, die von einem der Baumriesen herühterhingen. Die schmale Lücke im Dickicht beschrieb eine Kurve und führte tiefer ins Landinnere. Es war ein Pfad. Und er mußte wohl auch regelmäßig benutzt werden, da der Urwald ihn mit seiner gierigen Vegetation sonst längst überwuchert hätte. »Vielleicht ein Wildwechsel?« fragte der Bootsmann des schwarzen Seglers gedehnt. Siri-Tong schoß ihm einen vernichtenden Blick zu. »Wildwechsel? Kannst du mir erzählen, welche Art Wild wohl an den Strand kommen und Salzwasser saufen sollte?« Dem war nichts entgegenzusetzen. Die Rote Korsarin zog die Unterlippe zwischen die Zähne und sah Hasard an. Der zuckte mit den Schultern. »Die Bucht ist ein guter Ankerplatz«, meinte er. »Vielleicht wird sie regelmäßig von Leuten angelaufen, die
ihren Schlupfwinkel im Landinneren haben. Oder die Indianer stellen hier Posten auf, damit sie gewarnt sind, wenn spanische Schiffe aufkreuzen. Ich könnte mir vorstellen, daß sich eine ganze Menge Mayas in den Regenwäldern versteckt hält.« »Und Spanier gibt es garantiert in der Nähe«, sagte Ferris Tucker. »Die lassen doch nichts aus.« Er schwieg einen Moment und kratzte in seinem roten Haarschopf. »Vielleicht sollten wir uns ein bißchen beeilen. Nicht, daß ich keine Lust hätte, mal wieder ein paar Dons zu verhackstücken, aber das würde uns jetzt nur unnötig aufhalten.« »Richtig«, sagte Hasard ruhig. »Also folgen wir dem Pfad Ferris, Matt – wir bilden die Vorhut. Ed, du suchst dir ein paar Leute und sicherst nach hinten. Fertig?« »Aye, aye«, ertönte es im Chor. Siri-Tongs Augen blitzten, aber sie sagte nichts. Sie war wütend – wie immer, wenn Hasard etwas über ihren Kopf hinweg bestimmte, das auch nur entfernt danach aussah, als wolle er sie Absichern. Ihre Nasenflügel vibrierten leicht, mit einem Ruck warf sie das schwarze Haar auf den Rücken. Der Wikinger, der sie beobachtet hatte, grinste still vor sich hin. Minuten später setzte sich der ganze Trupp in Bewegung. Der Seewolf hatte die Spitze. Er lauschte und versuchte angestrengt, aus dem vielstimmigen Zirpen, Keckern und Krächzen ringsum ungewöhnliche Geräusche herauszuhören. Viel sehen konnten sie nicht in der grünen Dämmerung. Hoch über ihnen bildeten die Kronen der riesi-
gen Bäume ein fast undurchdringliches Dach, durch das einzelne Sonnenstrahlen wie Pfeile stachen. Der Boden war mit grüngoldenen Flecken gesprenkelt, die Luft so feucht, daß sie das Atmen erschwerte und sich wie eine zähe, klebrige Schicht über die Haut zu legen schien. Schon nach zwei Dutzend Schritten war Hasard in Schweiß gebadet. Die Kleidung klebte wie eine zweite, etwas faltenreichere Haut an seinem Körper, und den anderen ging es genauso. Trotzdem verfiel keiner von ihnen auf den Gedanken, etwa Hemd oder Jacke auszuziehen. Die Lektion, daß man im Urwald den Myriaden summender Plagegeister möglichst wenig nackte Hautflächen bietet, hatten sie schon in der Fieberhölle von Guayana gelernt. Und denjenigen unter Siri-Tongs Männern, die auf guten Rat nicht hatten hören wollen, war die gleiche Lektion im Amazonasgebiet auf ziemlich unangenehme Weise eingetrichtert worden. Jetzt kannten sie die Tücken dieser Landschaft und wußten sich auch im tropischen Urwald recht gut zu behaupten, wenn er ihnen deshalb auch um keinen Deut sympathischer geworden war. Der Pfad wand sich in engen Biegungen weiter und führte immer tiefer ins Landinnere. Schwärme von buhten Vögeln stoben vor den Männern auf, Insekten umtanzten sie in ganzen Schwärmen. Affenherden, die in ihrer Ruhe aufgeschreckt wurden, veranstalteten ein Höllenkonzert, und es grenzte an ein Wunder, daß es Hasard trotz allem gelang, das Rauschen und Gurgeln eines nahen Bachlaufs wahrzunehmen.
Eine Viertelstunde später hatten sie die Quelle gefunden, eine ergiebige Quelle mit klarem, überraschend kühlem Wasser, das in Kaskaden über ein paar Steine sprudelte und sich in einem runden Becken sammelte, bevor es im Dickicht verschwand, um sich seinen Weg zu einem der größeren Flüsse zu suchen. Hasard probierte mit der hohlen Hand – es gab nichts auszusetzen. Die Männer tranken und gingen dann daran, die mitgebrachten Fässer zu füllen. Der Seewolf spielte Kavalier und reichte der Roten Korsarin einen Becher von dem köstlichen Naß. Über den Rand hinweg lächelten ihre Augen ihn an. Wenn man vom schrillen Konzert der Vögel, Affen und Insekten absah, war es bemerkenswert still. Nicht einmal Ed Carberry brüllte in der gewohnten Art herum, weil er in diesem unbekannten Gebiet so wenig Lärm wie möglich veranstalten wollte. Eine Viertelstunde später war die Kolonne wieder zum Abmarsch bereit. Jetzt gelangten sie mit den schweren Fässern wesentlich langsamer vorwärts als auf dem Hinweg. Hasard glaubte bereits, die salzige See zu riechen. Auch Ferris Tucker schnupperte prüfend und grinste dann breit. »Gleich haben wirs geschafft«, verkündete er. Ein peitschender Knall riß ihm das letzte Wort von den Lippen. Erschrocken blieben die Männer stehen, Siri-Tong wirbelte herum, daß ihre Mähne flog. Der Seewolf kniff die Augen zusammen, lauschte – und in der nächsten
Sekunde fielen in dichter Folge weitere Schüsse. Irgendwo hinter ihnen im Urwald war die Hölle los. Musketen und Pistolen knallten. Stimmen schrien durcheinander – spanische Stimmen. Die Dons schienen jemanden zu verfolgen, und dieser Jemand versuchte, sich über denselben Pfad zu retten, den auch Siri-Tongs Piraten und die Seewölfe benutzten. Seine Schritte näherten sich. Wie vom Teufel gehetzt jagte er weiter, und so mochte er sich wohl auch fühlen. Ein einzelner Mann, hinter dem die Spanier mindestens im Dutzend herwaren. Der Bursche stolperte, landete offenbar halb im Dickicht, raffte sich wieder auf, und im nächsten Moment erschien er stolpernd und taumelnd hinter der Biegung des Pfades. Es war ein schlanker, braunhäutiger Mann in zerfetzter Kleidung. Er trug eine Art Zopf, mit buntenßändern umwickelt, aber daß er kein Chinese war, ließ sich auf den ersten Blick erkennen. Das dunkle, schweißbedeckte Gesicht verzerrte sich. Er prallte zurück, seine braunen, eigentümlich sanften Augen wurden so weit, daß das Weiße der Augäpfel gespenstisch schimmerte. Ein Maya, durchzuckte es Hasard – und im selben Moment versuchte der Mann, sich herumzuwerfen. Sein Fuß verhakte sich irgendwo. Mit einem Aufschrei stolperte er und stürzte. Als habe die jähe Bewegung den letzten Rest seiner Kraft verbraucht, unternahm er keinen Versuch mehr, wieder aufzuspringen, sondern blieb einfach liegen.
* Um dieselbe Zeit hatte auch die ›Isabella VIII.‹ eine Bucht an der Küste von Chiapas angelaufen. Dan und Batuti erlebten das Ankermanöver in der Vorpiek. Sie wußten, was jetzt folgte: ein langer Marsch durch den tropischen Urwald, mit einer obskuren Schatzkarte als einzigem Hilfsmittel. Und sie wußten auch, daß sie bei diesem Marsch dabeisein würden, denn Jean Morro und seine Piratenbande hatten sie sicher nicht am Leben gelassen, damit sie sich auf die faule Haut legten. Tatsächlich sprang ein paar Minuten später das Schott auf. Pepe le Moco und der einäugige Esmeraldo – wie gehabt. Hinter ihnen waren die Mündungen von schußbereiten Musketen zu sehen, und Dan hörte das typische Schnaufen des bulligen Barbusse. Esmeraldos einziges Auge funkelte böse. Auch Pepe le Moco sah ausgesprochen unzufrieden aus, weil er seine Opfer viel lieber an die Haifische verfüttert hätte. »Raus!« knurrte er. »Ganz schnell, bevor ich euch anlüfte!« Dan verzog das Gesicht, Batuti knurrte etwas Unverständliches. Da nur ihre Hände gefesselt waren, konnten sie dem Befehl folgen. Vor den Musketen, die Barbusse und der Burgunder auf sie richteten, marschierten sie über den Niedergang an Deck, und dort blieben sie stehen und warfen einen raschen Blick in die Runde. Auf der ›Isabella‹ herrschte Aufbruchstimmung.
Jacko, Valerio und der fette Toma so fierten bereits das zweite Boot ab, die Männer hatten sich mit Säcken und Seekisten bewaffnet: Behältnisse die offenbar dafür bestimmt waren, das legendäre Maya-Gold zu transportieren. Dan O'Flynn unterdrückte ein ab fälliges Grinsen. Für seine Begriffe war es mehr als fraglich, ob die Kerle in der grünen Hölle dort. drüben auch nur einen Schimmer von Gold finden würden. Dabei hätten sie nur die Augen zu öffnen und die gute alte ›Isabella‹ etwas genauer zu untersuchen brauchen, um direkt vor ihren Füßen unzählige Kostbarkeiten zu entdecken. Sie hatten es nicht getan, und das war auch gut so. Dans Blick wanderte zum Achterkastell hinauf, wo der Bretane die Hände auf die Schmuckbalustrade stützte. Für ein paar Sekunden kreuzten sich ihre Blicke, und Jean Morro zog die Lippen von den Zähnen und lächelte. »Hört zu«, sagte er hart. »Ich habe darauf verzichtet, euch kielholen zu lassen, weil ich jede Hand brauche. Wir haben einen langen Marsch vor uns, und ihr werdet so bepackt werden, daß euch sämtliche dummen Gedanken vergehen. Wer unterwegs quertreibt, erhält ein paar Kugeln in die Beine und wird zurückgelassen. Und diesmal ist es mir Ernst, darauf könnt ihr euch verlassen. Haben wir. uns verstanden?« »Du kannst mich«, sagte Dan. Er wußte, daß sie so oder so keine Chance mehr kriegen würden, also sah er auch keinen Grund, mit seiner Meinung hinter dem Berg zu halten.
Der Bretone grinste nur. »Wir werden sehen«, sagte er trocken. »Schneidet ihnen die Fesseln durch! Und dann ab in die Boote!« Ein paar Sekunden später hatten Batuti und Dan die Hände frei. Allerdings, zielten immer noch zwei Musketen auf sie. Sie wußten, daß es völlig sinnlos war, jetzt loszulegen. Vielleicht ergab sich später eine Möglichkeit, wenn sie durch, den Urwald marschierten. Die grüne Hölle war dicht und undurchdringlich, und wenn in dieser Wildnis erst einmal jemand verschwand, würde es verdammt schwer sein, ihn wiederzufinden. Der blonde Mann und der hünenhafte Neger wechselten einen Blick. Dan drehte fast unmerklich den Kopf in Richtung Küste. Batuti nickte, genauso unmerklich. Sie hatten sich verstanden, und sie wehrten sich nicht, als sie jetzt zum Schanzkleid hinübergestoßen wurden, wo die Piraten eine Jakobsleiter belegt hatten. Nur drei Männer blieben zurück: Valerio, Tomaso und ein spindeldürrer Bursche, der sich den Fuß verstaucht hatte und nicht laufen konnte. Die beiden Boote legten ab. Batuti hockte im vordersten, Dan in dem zweiten Fahrzeug, das von dem Bretonen geführt wurde. Eine ganze Menge an Ausrüstung war zusammengekommen, und Dan fluchte lautlos, weil er bereits ahnte, daß sich Jean Morros Piratenbande nicht überanstrengen würde. Er sollte recht behalten.
Er und Batuti wurden wie Maultiere bepackt. Jean Morro stand mit gezogener Pistole dabei, ein dünnes Lächeln auf den Lippen. Dan grinste ihn so unverschämt an, als habe er sein ganzes Leben lang nichts anderes getan, als Lasten durch den Urwald zu schleppen. »Viel zu schwer für kleines O 'Flynn«, murmelte Batuti grollend. »Quatsch mit Soße!« fauchte Dan. »Die lahmarschigen Kakerlaken werden sich umschauen, wenn sie glauben, daß einer von uns schlappmacht. Schau dir die Idioten doch an! In einem Urwald ist von denen noch keiner gewesen.« Er hatte recht: Jean Morros Piraten hatten keine Ahnung von den Tücken des tropischen Regenwaldes. Der feuchten Hitze suchten sie dadurch zu begegnen, daß sie Jacken und Hemden ablegten. Ein paar von den Männern schienen sogar die Absicht zu haben, ihre Stiefel bei den Booten zurückzulassen, aber Jacahiro, der Maya, schüttelte den Kopf. »Stifel gegen Schlangen«, sagte er mit seiner dunklen, kehligen Stimme. »Und Kleider gegen Stechmücken.« »Quatsch«, brummte Pepe Je Moco, »Ein paar Mückenstiche werden uns ja wohl nicht schaden.« »Mückenstiche nicht. Aber Insekten legen Eier in Wunden, Maden fressen Haut Viel Eiter, viel Schmerzen.« Der Maya wies mit dem Kopf auf Dan und Batuti, die sich so weit wie möglich vermummt hatten. »Sie kennen Urwald. Sie wissen.« Pepe le Moco schnitt ein ziemlich zweifelndes Gesicht.
Dan und Batuti schwiegen, ihnen war es völlig gleichgültig, ob sich ihre Gegner mit entzündeten Wunden würden herumschlageh müssen. Jean Morro traf die Entscheidung. Der Maya kenne das Land, meinte er also habe man sich gefälligst nach seinen Ratschlägen zu richten. Eine Viertelstunde später war die Kolonne abmarschbereit – dreizehn Männer, die in den dichten Dschungel von Chiapas eindrangen. Jacahiro übernahm die Führung und richtete sich nach der Karte, die der alte Valerio dem Bretonen überlassen hatte. Der Maya kannte das Land, er kannte auch die Legende von dem sagenhaften. ›Schatz der Götter‹. Ohne ihn hätten sich die Piraten wahrscheinlich niemals auf die Suche begeben, sondern Valerios Karte und sein Geschwätz über das Maya-Gold als Humbug abgetan. Dan O'Flynn erschien es zumindest sehr zweifelhaft, daß Valerios Schatzkarte echt war. Während Batuti dem Schluß der Kolonne zugeteilt worden war, marschierte Dan O'Flynn, bewacht von Pepe le Moco und Esmeraldo, direkt hinter den Bretonen. Noch war der Wald ziemlich licht, da es in der Nähe der Küste Felsen gab, die ein allzu üppiges Wuchern der Vegetation verhinderten. Aber weiter im Landesinneren schlossen sich Baumriesen, Unterholz und ein Gewirr von Schlingpflanzen zu dichten Wänden zusammen. Trotz aller Tücken und Gefahren hatte diese Wildnis auch eine Ausstrahlung von dunkler, unwiderstehlicher Lockung. Das Land der Maya! Es war genauso geheimnisvoll wie das legendäre El
Dorado, das Goldland der Inkas, das die Seewölfe entdeckt hatten. Bei allen Wut auf Jean Morros Halsabschneider mußte Dan sich eingestehen, daß ihm das Abenteuer dieser Schatzsuche beinahe Spaß zu bereiten begann.
3. Daß der Maya auf dem schmalen Urwaldpfad nicht bewußtlos war, wurde Hasard erst klar, als er ihn an der Schulter packte und umdrehte. Der Mann versteifte sich. Aus aufgerissenen Augen starrte er den Seewolf an, dann die anderen, dann wieder den schwarzhaarigen Riesen mit den eisblauen Augen. Der Indianer schien damit zu rechnen, in der nächsten Sekunde umgebracht zu werden. Hasard hob rasch beide Handflächen zu der uralten, in jeder Sprache verständlichen Geste des Friedens. »Wir sind Engländer«, sagte er auf Spanisch. »Ingles! Kannst du mich verstehen?« Der Maya nickte stumm. Hasard reichte ihm die Hand und half ihm auf die Beine. Dabei lauschte er auf das Geschrei und die Geräusche von brechenden Ästen und trampelnden Schritten, die sich näherten. »Spanier?« fragte er knapp. »Spanier.« Die Stimme des Maya klang dunkel und kehlig, der Blick seiner eigentümlich sanften braunen Augen bohrte sich in die eisblauen des Seewolfs.
»Ich heiße Yuka«, sagte er überraschend flüssig. »Sie wollen mich hängen, weil ich einen Spanier getötet habe. Ich mußte ihn töten. Er wollte ein Mädchen schänden, das fast noch ein Kind war.« »Und,du konntest fliehen?« »Sie sind hinter mir her. Sie werden mich töten, aber ich werde viele von ihnen mitnehmen. Mit einer stolzen Geste warf der Maya den Kopf zurück. Daß er unbewaffnet war, schien er im Moment völlig vergessen zu haben. Hasard lächelte. »Ich habe eine bessere Idee«, sagte er. »Wir schlagen die Spanier in die Flucht und bringen dich in Sicherheit, Yuka. Unsere Schiffe liegen dort drüben in der Bucht. Willst du mit an Bord gehen?« In dem bronzenen Gesieht zuckte kein Muskel. »Ja«, sagte Yuka einfach – und dann kam niemand mehr dazu, die Unterhaltung fortzusetzen. Die ersten Spanier erschienen auf dem Pfad. Nichtsahnend, ohne die, leiseste Spur von Vorsicht stürmten sie um die Biegung. Messer und Degen blitzten in ihren Fäusten, ihre grimmigen Gesichter verrieten, daß sie mit ihrem Opfer kurzen Prozeß zu machen gedachten, daß etwas nicht stimmte, begriffen sie erst, als sie schon fast mit den Seewölfen zusammenstießen. Mit einem wilden Schrei fuhr der Anführer der Meute zurück. Der nächste Mann prallte gegen ihn und trat ihm in die Hacken. Er schwankte und ruderte mit den Armen, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. Vielleicht hätte er es
geschafft, aber da war Hasard schon heran, nahm Maß und knallte dem ersten Spanier so wuchtig die Faust unter das Kinn, daß dem der Kopf in den Nacken flog und treffsicher auf der Nase seines Hintermannes landete. Der Bursche stieß ein Geheul aus, das mühelos das schrille Konzert der Affen ringsum übertönte. Hasard grinste, als er die beiden Kerle zur Seite fegte und sich den nächsten vornahm. Der Bursche schwang einen Degen, aber er schwang ihn nur solange, bis der Seewolf seine eigene Waffe freihatte und den ersten Hieb führte. Der Degen des Spaniers lag plötzlich am Boden. Über den Handrücken des Besitzers zog sich ein blutiger Schnitt. Voller Entsetzen begann er, zurückzuweichen. »Himmel, Archibald und Kabelgarn!« brüllte Ed Carberry erbittert, weil er auf dem schmalen Pfad nicht richtig loslegen konnte. Während die Spanier nicht wußten, ob sie vor oder zurück sollten, brach der Profos mit funkelnden Augen und entschlossen vorgerecktem Rammkinn durch das Dickicht. Ferris Tucker folgte ihm, mit seiner mächtigen Axt schon mal probeweise auf die armdicken Schlinggewächse einschlagend. Hinter ihm stürmten Big Old Shane mit einer Eisenstange, Thorfin Njal, der in seinen zottigen Fellen an einen Vorzeit-Riesen erinnerte, Jeff Bowie mit dem scharfgeschliffenen Eisenhaken anstelle der linken Hand – und für die Dons war dieser Anblick mehr, als sie verkraften konnten. Sie ergriffen kampflos die Flucht. Eine sich überschlagende Stimme kreischte etwas von
›Satan‹ und ›Höllenteufel‹, die Männer warfen sich verzweifelt herum und rannten. Auch die beiden Kerle, die zu Boden gegangen waren, hatten sich wieder aufgerappelt und schlugen sich blindlings in die Büsche. Binnen Sekunden war der ganze Trupp wie ein Spuk verschwunden. Edwin Carberry spuckte auf den Boden und knurrte unzufrieden. »Diese feigen Ratten! Nicht den kleinsten Spaß gönnen sie einem. Sollen wir sie verfolgen und zu Haferbrei verarbeiten?« »Du spinnst wohl«, sagte Hasard trocken. »Wir können uns nicht da mit aufhalten, eine spanische Siedlung anzugreifen. Daß die Kerle nicht von den Bäumen gefallen sind, dürfte dir ja wohl klar sein, oder?« Der Profos zuckte mit den Schultern. »Na schön! Radieren wir die Siedlung eben auf dem Rückweg aus. Was heißt überhaupt Siedlung? Muß doch eigentlich ein ziemlich trauriges Kaff sein, was, wie?« Hasard fragte den Maya. Während sie zurückmarschierten, langsam wegen der schweren Wasserfässer, berichtete Yuka, was er über die spanischen Stützpunkte in dieser Gegend wußte. Und das ergab ein Bild, das ganz und gar nicht geeignet war, die Seewölfe und Siri-Tongs Crew zu beruhigen. Die Siedlung, aus der die Verfolger stammten, war tatsächlich nur ein ziemlich trauriges Nest. Aber es gab einen Verbindungsweg nach Managua – und dort, so wußte Yuka zu berichten, lag eine mittlere
Flotte vor Anker. Uninteressant, solange sie dort liegenblieb. Genau das jedoch bezweifelte Hasard. Wenn die Spanier in Managua erfuhren, was gesehen war, würden sie sich brennend dafür interessieren, wer da dreist vor ihren Küsten aufkreuzte. Und der Gedanke, mit den paar Kanönchen der ›Santa Monica‹ in ein Seegefecht zu gehen, war alles andere als erfreulich. Eine halbe Stunde späterverließen der schwarze Segler und die ›Santa Monica‹ die Bucht, um weiter an der Küste entlangzusegeln. Sie hatten beschlossen, möglichst dicht zusammenzubleiben, da sie damit rechnen mußten, daß die Spanier ihren Aufbruch beobachtet hatten und etwas unternehmen würden. Matt Davies übernahm die Wache im Großmars. Als sie die ›Santa Monica‹ kaperten, hatte er sich ausgerechnet seine gesunde Hand verstaucht, und zwar am eisernen Helm eines Spaniers. Jetzt konnte er für eine Weile nicht viel tun, vor allem keine Rumbuddel halten, und seine Laune war entsprechend miserabel. Auf dem Achterkastell standen Hasard, Ben Brighton, Carberry und Old O'Flynn mit Yuka, dem Maya, zusammen. Der Mann sprach ein ausgezeichnetes Spanisch und konnte sich mühelos verständigen. Hasard hatte ihm berichtet, was sie, die Engländer, in den Regenwäldern von Chiapas suchten. Er hatte ihm auch von der Vermutung erzählt, daß die Piratenbande des Bretonen hinter
irgendwelchen Schätzen her sei, vielleicht eine Art neues El Dorado suchte, und der Maya nickte bedächtig. »Der Schatz des Himmelsgottes«, sagte er mit seiner dunklen Stimme. »Mag sein, daß sie Itzamnas Tempel suchen, das Gold der Götter. Sie wer den sterben. Alle….« Hasard fühlte einen leisen Schauer auf der Haut. »Wieso?« fragte er sachlich. »Weil der Tempelschatz dem Himmelsgott Itzamna geweiht ist. Das Gold ist tabu, und die Priester werden jeden erbarmungslos töten, der seine Hände danach ausstreckt.« Er stockte, als er die ungläubigen Gesichter der Seewölfe sah, und lächelte dunkel. »Chiapas ist keine verlassene Wildnis«, sagte er. »Als die Spanier über mein Volk herfielen, hat es sich aus den Hochtälern in den Urwald zurückgezogen, in die alten Städte, in die Ruinen, die noch übriggeblieben waren von unserem ersten Reich. Die Königsstädte sind wieder aufgebaut worden, hier und anderswo. Das Volk der Maya ist mächtig. Mächtiger, als die Spanier ahnen.« Hasard preßte die Lippen zusammen. »Du willst sagen, daß in der Nähe dieses Tempels ein Maya-Stamm lebt? Daß es dort Krieger gibt?« »Ein Reich und ein Heer«, sagte Yuka stolz. »Und wehe denen, die den Frieden meines Volkes stören.« »Ach, du liebe Zeit«, murmelte Old O'Flynn erschüttert. »Aber wir haben gar nicht vor, den Frieden der Maya zu stören«, sagte Ben Brighton, der ebenfalls perfekt Spanisch sprach. »Wir wollen unser Schiff wiederhaben und unsere Freunde befreien, das ist alles.«
»Und wenn die Piraten Dan und Batuti mit zu dem verdammten Tempel schleppen?« Hasard biß die Zähne zusammen und wandte sich dem Maya zu. »Du kennst den Tempel, nicht wahr? Könntest du uns hinführen?« Yukas Augen wurden weit. Er schüttelte ablehnend den Kopf. »Tut es nicht«, sagte er tonlos. »Ihr würdet alle sterben. Die Männer, von denen du gesprochen hast, sind schon so gut wie tot. Sie sind verloren, und sie würden euch mit in den Untergang reißen.« »Wenn wir nichts unternehmen, werden sie unsere Freunde mit in den Untergang reißen. Wir haben keine Wahl, wir müssen sie finden. Aber es ist deine Entscheidung, Yuka. Wir werden dich nicht zwingen.« Für ein paar Sekunden blickte der Maya prüfend in Hasards Augen, dann neigte er mit einer ruhigen Bewegung den Kopf. »Du hast mich vor den Spaniern gerettet«, sagte er leise. »Mein Leben gehört dir. Ich werde euch führen.«
4. »Deck!« ertönte die Stimme von Matt Davies ein paar Stunden später aus dem Ausguck. »Mastspitzen genau achteraus! Drei Schiffe! Nein, vier! Ein ganzer Verband!« Philip Hasard Killigrew preßte die Lippen zusammen. Er hatte es geahnt. Er hatte sich so gar schon mit Siri-
Tong und dem Wikinger über ihre Taktik verständigt. Es war sinnlos, zu versuchen, den Gegnern davonzusegeln. Denn die Spanier würden ihnen auf den Fersen bleiben und dann wahrscheinlich in einem Augenblick wieder auftauchen, in dem man sie am wenigsten gebrauchen konnte. Hasard ließ zu ›Eiliger Drache‹ hinüber signalisieren, daß ein spanischer Verband von achtern aufsegele. Auf dem Viermaster hatte man verstanden, was sich darin ausdrückte, daß Siri-Tong Segel wegnehmen ließ und die Fahrt verminderte, bis die beiden Schiffe fast nebeneinander lagen. Gefechtsklar waren sie bereits, seit sie die Bucht verlassen hatten. Jetzt senkte sich atemlose, gespannte Stille über die Decks, während Hasard auf dem Achterkastell angestrengt durch das Spektiv spähte. Die Spanier hatten sich verhältnis mäßig rasch genähert, da der schwarze Segler und die ›Santa Monica‹ langsamer geworden waren. Fünf Schiffe, in Kiellinie gestaffelt. Der Seewolf konnte zwei dickbäuchige Galeonen und drei Karavellen erkennen. Damit war die Marschroute klar. Gegen einen so massierten Angriff konnten sie sich nicht mit normalen Mitteln wehren, erst recht nicht mit der ›Santa Monica‹, die alles andere als ein Kriegsschiff war. Dies hier war wieder einmal eine Gelegenheit, bei der sie die Brandsätze einsetzen mußten, die der schwarze Segler an Bord hatte und die, da sie nur begrenzt zur Verfügung standen, im allgemeinen für Notfälle aufgespart wurden. Fast taten Hasard die Spanier leid, die da im Vollgefühl
ihrer Überlegenheit heransegelten. Bisher waren sie in Kiellinie gesegelt, jetzt fächerten sie auseinander. Die Absicht war klar: sie wollten von achtern aufsegeln und ihre Opfer in die Zange nehmen. Die beiden dickbäuchigen und vermutlich schwerbewaffneten Galeonen würden das Gefecht eröffnen. Und die Karavellen sollten dann wohl vorbeiziehen, bevor die Gegner wieder feuerbereit waren, und ihnen den Fangschuß verpassen. Von den Spaniern aus betrachtet mußte das geradezu simpel sein. Daß sie in eine tödliche Falle liefen, konnten sie nicht ahnen. Als sie auf etwa eine halbe Meile heranwaren, gingen im Achterschiff des schwarzen Seglers zwei Luken auf, und die beiden Bronzegestelle zum Abschießen der Brandsätze wurden sichtbar. »Achtere Raketen Feuer!« schrie Siri-Tong. Zischend lösten sich die beiden Geschosse von den Bronzegestellen, flogen im Bogen durch die Luft, senkten sich über den beiden spanischen Galeonen – und zerplatzten fast im selben Sekundenbruchteil. Feuer regnete auf die Schiffe nie der. Ein vielstimmiger. Entsetzensschrei gellte über das Wasser. Segel fingen Feuer, Dutzende von Brandnestern flackerten an allen Ecken und Enden auf. Beide Galeonen liefen jäh aus dem Kurs. Eine wandte der ›Santa Monica‹ die Breitseite zu, als Hasard anluven ließ und an den Wind ging. Auf dem Schiff herrschte ein unbeschreibliches Durcheinander.
Männer rannten über die Decks, fierten Segeltuchpützen außenbords und versuchten verzweifelt, das immer mehr um sich greifende Feuer zu löschen. Daß es ihnen nicht gelang und nicht gelingen konnte, dräng erst allmählich in ihr Bewußtsein. Das chinesische Feuer war nicht zu löschen. Aber vorerst hatte der Capitan der Galeone noch nicht begriffen, daß sein Untergang besiegelt war. Er hielt mit dem letzten Rest von Fahrt auf die ›Santa Monica‹ zu und versuchte, das kleinere, wesentlich schwächer armierte Schiff mit einer vollen Breitseite zu erwischen. »Klar zum Anbrassen!« rief Hasard über das Deck. »Klar bei Bugserpentinen und Backbordgeschützen! Al, Luke – schießt ihm das Ruder weg!« »Aya, aye!« tönte es zurück. »Herum mit dem Kahn!« dröhnte Ed Carberrys Donnerstimme. »Be wegt euch, ihr kalfaterten Schlafmützen! Hopp-hopp, bevor ich euch mit den Ankerklüsen die Ohrläppchen verziere, was, wie?« Die ›Santa Monica‹ ging über Stag. Die beiden Serpentinen in ihren drehbaren Gabellafetten hämmerten in der Sekunde los, in der die Karavelle der brennenden Galeone den schmalen Bug zuwandte. Fast gleichzeitig dröhnte die Breitseite der Spanier: zwölf Siebzehnpfünder-Culverinen, die Tod und Verderben spuckten. Flammenzungen leckten, Pulverrauch wölkte auf, und der Bug der ›Santa Monica‹ hob sich leicht, als der ganze Segen unmittelbar vor der Karavelle ins Wasser klatschte.
Der Ruderkopf der Galeone existierte nicht mehr. Al Conroy und Luke Morgan grinsten sich an, während sie in fliegender Eile begannen, die Serpentinen nachzuladen. Die ›Santa Monica‹ schwang nach Steuerbord herum, und jetzt war sie es, die dem Spanier die Breitseite zeigte. »Backbordgeschütze Feuer!« schrie der Seewolf. Die drei Kanönchen mit ihren Bronzerohren wummerten. Es war, weiß der Himmel, nicht viel, was die ›Santa Monica‹ zu bieten hatte. Aber alle drei Kugeln lagen genau im Ziel, jede einzelne riß ein beachtliches Loch in die Wasserlinie der Galeone – und es dauerte nur Sekunden, bis sich die Wirkung zeigte. Die brennende, steuerlos treibende Galeone sackte schwer achteraus. Sie würde auf Tiefe gehen, daran gab es keinen Zweifel. Noch drückten Wind und Strömung sie nach Westen, und Hasard mußte zusehen, aus dem Bereich des brennenden Schiffes zu verschwinden. Ein Blick zeigte ihm, daß der schwarze Segler inzwischen gehalst und die zweite Galeone gleichsam nebenbei in Fetzen geschossen hatte. Jetzt lief der Viermaster hart am Wind auf eine der Karavellen zu. Der spanische Capitan ließ abfallen und ging mit dem Heck durch den Wind. Er versuchte, am Bug des schwarzen Seglers vorbeizuscheren und ihm dabei die Takelage zu zerfetzen – und genau das war es, was Siri-Tong und der Wikinger gewollt hatten. Noch bevor die Karavelle mit ihren Steuerbordgeschüt-
zen zum Schuß gelangte, schickte der schwarze Segler den nächsten Brandsatz auf die Reise. Auch die Karavelle erwischte es. ›Eiliger Drache über den Wassern‹ fiel weiter ab, feuerte dem Gegner eine Breitseite ins Rigg und stieß an seinem Bug vorbei auf die zweite Karavelle zu, die ihre Fahrt sichtlich verlangsamt hatte. Der Spanier schien zu begreifen, daß dieses unheimliche Schiff nicht zu bezwingen war, daß es kein Mittel gab gegen das gespenstische, unlöschbare Feuer, dem bereits drei Schiffe des Verbandes zum Opfer gefallen waren. Die beiden schweren Galeonen hatte die See verschlungen. Eine Karavelle brannte lichterloh, und die Mannschaft versuchte verzweifelt, Boote aufs Wasser zu bringen. Der Capitan der zweiten Karavelle suchte sein Heil in der Flucht. Ganz plötzlich luvte er an, ging über Stag und segelte am Wind in Richtung Küste. Der schwarze Segler setzte ihm nach, um ihm ebenfalls einen Brandsatz zu verpassen. Die Seewölfe nahmen sich die dritte Karavelle vor. Das Schiff lief raumschots auf sie zu in der Absicht, ihnen eine Breitseite anzubieten. Der Capitan hatte begriffen, daß das tödliche Feuer nur von dem schwarzen Segler kam, und er stürzte sich mit verzweifelter Wut auf die ›Santa Monica‹ mit ihrer schwächeren Armierung. Die spanische Karavelle verfügte immerhin über je fünf Greschütze an beiden Seiten. Sie hätte die Seewölfe empfindlich treffen können, aber der Capitan eröffnete das Gefecht zu überhastet.
Sekunden, bevor der Spanier feuerte, hatte Hasard »Klar zum Abfallen« befohlen. An der Bordwand des Spaniers schienen fünf gespenstische Feuerblumen aufzublühen. Dröhnend und orgelnd flogen die schweren Eisenkugeln heran, aber da wandte die ›Santa Monica‹ dem Gegner bereits das schmale Heck zu. Eine Kugel durchlöcherte den Besan, eine zweite streifte das Schanzkleid. Gleichzeitig gab der Seewolf den Feuerbefehl für die achteren Serpentinen. Die beiden Schüsse donnerten so rasch hintereinander, daß sie fast wie ein einzelner klangen. Der blonde Stenmark stanzte dem Don ein Loch knapp über die Wasserlinie. Smoky, der Decksälteste, hatte völlig gelassen den Fockmast der Karavelle anvisiert – und was er einmal anvisierte, das traf er meistens. »Ha!« brüllte Ed Carberry. »Ich freß meine Stiefel! Er hat dem Don eins verplättet!« »Arwenack!« schrie Ferris Tucker begeistert. Und im nächsten Moment schien es über das Wasser zu dröhnen wie Donnerrollen: »Arwenack! Ar-we-nack! Arwe-nack!« Auf der spanischen Karavelle hing der geborstene Fockmast wie ein gebrochener Arm über das Deck. Das Schiff krängte schwer nach Steuerbord, Männer liefen schreiend durcheinander, holten Äxte und begannen wie die Wahnsinnigen, auf das Gewirr von Wanten und Pardunen einzuhacken, um den Mast über Bord gehen zu lassen. Die ›Santa Monica‹ luvte an, drehte langsam mit,
und Hasard spähte aus schmalen Augen zu dem Gegner hinüber. »Klar bei Brandpfeilen!« rief er. »Stenmark, Smoky – zieht ihm ein paar Zähne!« »Aye, aye!« »Schneller, ihr Rübenschweine!« brüllte der Profos und ließ noch ein paar ausgesucht fürchterliche Drohungen folgen, auf die niemand hörte. Big Old Shane, der Schmied von Arwenack, stand wie ein Denkmal auf der Heckgalerie und spannte den mächtigen Langbogen. Auch Smoky und Stenmark ließen sich nicht stören und visierten in aller Ruhe zwei Stückpforten der feindlichen Karavelle an. Diesmal krachte Smokys Serpentine eine Viertelsekunde eher. Wo eben noch ein Geschützrohr aus der Stückpforte geragt hatte, war jetzt gar nichts mehr. Krach und Geschrei verrieten, daß sich die Kanone aus ihren Brooktauen gerissen hatte, quer über das Deck raste und auf der Steuerbordseite das Schanzkleid durchbrach. Mit sich überschlagender Stimme kreischte der spanische Capitan den Feuerbefehl für die Backbdrdkanonen. Aber als sich die Geschützführer endlich ermannten, hatte Stenmark der Karavelle bereits den nächsten Zahn gezogen. Drei Geschütze gelangten noch zum Schuß, aber sie ließen lediglich Wasserfontänen hochspritzen. Dafür jagte Big Old Shane dem Spanier unverdrossen Brandpfeile in die Takelage – und jetzt endlich begriffen die entnervten Dons dort drüben, daß sie löschen muß-
ten, wenn sie nicht das Schicksal der brennenden Karavelle teilen wollten, die – ziemlich weit nach Westen vertrieben – soeben über den Bug wegsackte. »Klar zum Wenden!« ertönte Hasards scharfe Stimme. »Anluven, Pete! Wir gehen über Stag, segeln von achtern auf und geben ihnen den Fangschuß!« »Aye, aye, Sir!« Pete Ballie legte Ruder, der Profos tobte über die Kuhl, um die Männer an den Brassen anzulüften. Die ›Santa Monica‹ luvte an und schwang herum zu einer schnellen, eleganten Wende. Flüchtig streifte Hasards Blick die dritte Karavelle und den schwarzen Segler, die sich weiter südlich ineinander verbissen hatten. Siri-Tong und der Wikinger zogen es jetzt vor, ihre Brandsätze zu sparen. Die Karavelle nahm sich gegen den großen Viermaster ohnehin aus wie ein David gegen einen Goliath. Aber wie ein hilfloser, völlig entnervter David, der nur noch an Flucht dachte und gegen den überlegenen Gegner nicht den Schimmer einer Chance hatte. Wieder fühlte der Seewolf fast so etwas wie Mitleid mit den Angreifern, die sich ihrer Sache so sicher gewesen waren und eine so fürchterliche Schlappe hatten einstecken müssen. Unter anderen Umständen hätte sich Hasard vielleicht dafür entschieden, den kläglichen Rest des Verbandes ziehen zu lassen. Hier und jetzt konnte er sich das nicht leisten. Die überlebenden Spanier mochten sich in die Boote retten und zur Küste pullen. Das würde seine Zeit dauern und ihnen die Chance nehmen,' eine größere Verfol-
gungsjagd in Gang zu bringen. Aber auf keinen Fall durfte es eins der Schiffe schaffen, nach Managua zurückzukehren, und deshalb ließen die Seewölfe und die Crew des schwarzen Seglers ihre Beute nicht mehr aus den Klauen. Die ›Santa Monica‹ segelte raurnschots auf die spanische Karavelle zu, die sich ohne Fockmast und mit brennendem Großsegel wie eine flügellahme Ente bewegte. Der Capitan brüllte Befehle. Er war fest davon überzeugt, daß der Gegner an seiner Backbordseite vor beiziehen würde, wo er nur noch drei Geschütze hatte. Aber Hasard dachte nicht daran, ihm diesen Gefallen zu tun. Im letzten Augenblick luvte die ›Santa Monica‹ an, schwang am Bug des Spaniers vorbei, fiel wieder ab – und packte die feindliche Karavelle aus der Luvposition. »Backbord-Kanonen Feuer!« rief Hasard. »Feuer, ihr Salzheringe!« fluchte Ed Carberry. »Raus mit dem Schrott, in drei Teufels Namen! Denkt ihr, der Don geht von selbst auf Tiefe, was, wie? Wollt ihr wohl feuern ihr Hurensöhne, ihr…« Das Krachen der Breitseite riß ihm das Wort von den Lippen. Drei bronzene Rohre spuckten je eine schwere Eisenkugel aus – und dreimal lag der Treffer exakt auf der Wasserlinie des Spaniers. Vergeblich brüllte der Capitan seinen Feuerbefehl. Als die Geschützmannschaften, an seiner Steuerbordseite aufwachten, war die ›Santa Monica‹ längst vorbeigezogen und schickte der feindlichen Kara-
velle noch ein paar eiserne Grüße aus den Heck-Serpentinen hinüber. Knapp zehn Minuten später war das Gefecht vorbei, das die Spanier aus der Position des vermeintlich sicheren Siegers begonnen hatten. Der schwarze Segler und die ›Santa Monica‹ hatten die See leergefegt und zwei schwer bewaffnete Galeonen sowie drei Karavellen in einen Haufen treibender Trümmer verwandelt. Zwischen Planken, zerfetzten Schotts und Spieren und Resten von Segeltuch dümpelten Beiboote auf dem Wasser, deren Besatzungen sich bemühten, Überlebende an Bord zu ziehen. Die Spanier befanden sich in einem Zustand heller Panik. Sie hatten den Eindruck, daß sämtliche Teufel der Hölle über sie hergefallen waren, um sie zu vernichten. Sie befürchteten jeden Moment, daß die Kanonen der beiden feindlichen Schiffe von neuem Feuer spucken und auch noch die Boote in Fetzen schießen würden – und es dauerte eine Weile, bis sie begriffen, daß die kleine Karavelle und der unheimliche schwarze Viermaster sie ziehen ließen. Die ›Santa Monica‹ und der ›Eilige Drache‹ schwenkten wieder auf ihren alten Kurs ein. Sie ließen ein Trümmerfeld hinter sich zurück und waren ziemlich sicher, daß sie mit den Spaniern zumindest in den nächsten Tagen keinen Ärger mehr kriegen würden.
* Jean Morro, der Bretone, blieb ruckartig stehen. Hinter ihm verharrte die ganze Kolonne, die sich seit Stunden durch den tropischen Urwald schlug. Die Männer waren erschöpft, halb verdurstet, fast am Ende ihrer Kraft. Sie hatten sich nach der Karte des alten Valerio gerichtet, aber je länger sie marschierten, desto größer waren ihre Zweifel geworden. Die meisten hatten wohl nicht mehr daran geglaubt, daß sie den geheimnisvollen Tempel mit dem Schatz tatsächlich finden würden – und jetzt lag dieser Tempel vor ihnen. Es war ein gigantisches Bauwerk. Unvermittelt und wuchtig wuchs es aus der Umklammerung des Urwalds hoch, eine Pyramide aus Steinquadern, zu deren Spitze eine endlos lange Treppe aus unzähligen Stufen hinaufführte. Am Fuß des Tempels krochen Ranken und Schlingpflanzen empor, als biete die Natur alle ihre Kräfte auf, um das Gebilde von Menschenhand wieder zu verschlingen. Das eigentliche Gebäude hoch oben auf diesem künstlichen Berg wirkte winzig aus der Entfernung, Schweigend standen die Piraten im Schatten der letzten Baumriesen und starrten aus großen Augen zu den Säulen und Quadern des Tempels hoch. Selbst der primitivste unter den Männern fühlte sich seltsam angerührt angesichts dieses stummen Zeugen einer uralten Kultur, deren Macht und Reichtum sich nur noch ahnen ließen.
Dan O'Flynn wischte sich den Schweiß von der Stirn und sah sich nach Batuti um, der als einer der letzten in der Kolonne marschiert war. Der hünenhafte Gambia-Neger grinste unverdrossen und zeigte sein Raubtiergebiß. Auf dem ganzen Weg hatten die beiden Gefangenen vergeblich nach einer Chance gesucht, sich seitwärts in die Büsche zu schlagen. Aber noch gaben sie nicht auf. Vielleicht kam ihre Stunde, wenn die Piraten hier tatsächlich einen Schatz fanden und im Taumel der Begeisterung nicht aufpaßten. Und selbst wenn es keinen Schatz gab, wenn alles vergeblich gewesen war – auch die Enttäuschung würde dazu führen, daß Jean Morros Halsabschneider in ihrer Aufmerksamkeit etwas nachließen. Vorerst allerdings war es noch nicht so weit. Der Bretone setzte sich in Bewegung, und Dan O'Flynn empfing einen Stoß mit der Musketenmündung in den Rücken. Esmeraldo, dachte er grimmig. Diesem einäugigen Schuft würde er bei Gelegenheit noch einiges heimzahlen. Mit zusammengebissenen Zähnen begann er die endlose Treppe hinaufzuklettern. Obwohl er ziemlich bepackt war, wirkten seine Bewegungen immer noch elastischer als die der meisten anderen. Die Treppe kostete die Männer den letzten Rest ihrer Kraft. Dan zählte die Stufen nicht, aber er nahm an, daß es Hunderte waren. Selbst der zähe Bretone wurde allmählich langsamer. Auf halber Höhe legte er eine Pause ein, und jetzt endlich fiel ihm ein, daß es ziemlich sinnlos war,
die gesamte Ausrüstung bis auf die höchste Spitze der Pyramide zu schleppen. Auch ohne Gepäck bewältigten sie die zweite Hälfte der Treppe nicht schneller als die erste. Dan grinste in sich hinein, weil hinter ihm das Schnaufen und Keuchen des bulligen Barbusse immer heftiger wurde. Auch Pepe le Moco und der einäugige Esmeraldo hatten sichtlich und vor allem hörbar Koriditionsschwierigkeiten. Lediglich Jacahiro, der Maya, glitt die steinernen Stufen so leichtfüßig hinauf, als habe er das seit Jahren jeden Tag trainiert. Jean Morro und die anderen kostete es Mühe, ihm zu folgen. Fast eine halbe Stunde war vergangen, als die Männer keuchend und erschöpft die oberste Plattform des Tempels erreichten. Der Schatten eines säulengeschmückten Vorbaus nahm sie auf. Jacahiro betrachtete einen Moment die schwere Tür mit den geheimnisvollen eingeschnitzten Symbolen. Das bronzene Gesicht des Maya hatte sich gespannt: zum erstenmal, seit Dan und Batuti ihn kannten, zeigte er so etwas wie Furcht oder hatte doch zumindest seine unerschütterliche Gelassenheit verloren. Sekundenlang zögerte er, als habe er Angst davor, an etwas Verbotenem, etwas Gefährlichem zu rühren. Dann hob er die Rechte, tastete über eine bestimmte Stelle des Tors, und wie von Geisterhand bewegt schwangen die beiden Flügel zurück. Ein großer, dämmriger Raum voller Statuen öffnete sich vor ihren Blicken. Es waren gespenstische Statuen mit rie-
sigen Köpfen, monströse Gebilde, weder Mensch noch Tier. Über einem steinernen Altar befand sich ein Wesen, das wie eine Mischung aus Vogel und Schlange aussah. Die gefiederte Schlange! Jener seltsame weißhäutige, bärtige Gott, der einer uralten Maya-Überlieferung zufolge das Land Yucatan gen Osten verlassen und seine Rückkehr prophezeit hatte. Für diese Gottheit hatten die Maya-Krieger damals die ersten spanischen Eroberer gehalten, und deshalb hatten die grausamen Konquistadoren so wenig Widerstand gefunden, obwohl sie auf ein kriegerisches, wehrhaftes Volk gestoßen waren. Jacahiro legte eine Hand an seine Stirn und verneigte sich vor der steinernen Statue. Sein Gesicht wirkte hart und ausdruckslos, als er sich umwandte. Er hob die Schultern in einer ratlosen Geste. »Ich war nie hier. Ich weiß so wenig wie ihr, wo der Schatz der Götter versteckt ist.« »Dann suchen wir eben«, sagte Jean Morro in die Stille. »Ich nehme an, es gibt unterirdische Gewölbe unter diesem Raum. Wir haben nichts weiter zu tun, als den Zugang zu finden.« Die Männer nickten. Zögernd, fast widerwillig gingen sie daran, den großen, dämmrigen Raum zu durchsuchen. Esmeraldo, Barbusse und Pepe le Moco blieben bei den beiden Gefangenen zurück. Besonders konzentriert wirkten sie allerdings nicht. Vielleicht hätten Dan und Batuti jetzt eine Chance gehabt, sich abzusetzen.
Aber erstens wäre es eine, sehr dünne Chance gewesen, da die endlos lange Treppe keinerlei Deckung bot, und zweitens hatte der Augenblick auch sie in Bann geschlagen. Sie waren kaum weniger fasziniert und gespannt als die Piraten. Schon nach wenigen Minuten stieß der Burgunder einen unterdrückten Ruf aus. Er hatte hinter den steinernen Altar geschaut, jetzt fuchtelte er aufgeregt mit den Armen. Sein Kumpan der ›andere Burgunder‹, eilte zu ihm, Jean Morro trat hinzu, Esmeraldo und Pepe le Moco stießen die Gefangenen vorwärts. Die ganze Bande drängte sich in der schmalen Lücke zwischen dem Altar und der Statue der gefiederten Schlange – und alle starrten sie stumm auf die quadratische Steinplatte mit dem reich verzierten, gelblich schimmernden Metallring im Boden. »Gold!« flüsterte Pepe le Moco mit glänzenden Augen. »Das ist Gold, pures Gold!« »Vor allem ist es eine Falltür«, stellte der Bretone fest. Seine Stimme klang sachlich, nur ein unmerklich rauher Unterton verriet Erregung. »Pepe! Barbusse! Versucht mal, das Ding anzuheben!« Barbusse schnaufte unschlüssig: er hatte Jacahiros Reaktion gesehen und teilte offenbar dessen instinktives Unbehagen. Bei Pepe le Moco dagegen überwog die Gier nach Gold alles andere. Er bückte sich hastig, schob die rechte Faust durch den Metallring und zerrte mit aller Kraft daran, ohne erst auf Barbusse zu warten. Ein leises Surren erklang.
Überraschend leicht schwang die Falltür hoch, irgendeinem geheimnisvollen Mechanismus folgend. Pepe le Moco, der sein ganzes Gewicht in den Zug gelegt hatte, kostete es Mühe, die Balance zu halten und nicht zu stürzen. Eine schwarze Öffnung gähnte vor den Füßen der Männer. Grabeskälte wehte herauf. Nichts war zu sehen außer den ersten drei, vier Stufen einer steinernen Wendeltreppe. Jean Morro starrte einen Moment hinunter, dann hob er den Kopf. »Fackeln!« befahl er rauh. Pechfackeln wurden entzündet. Der Bretone preßte die Lippen zusammen, als er sich eine davon schnappte, Um voranzugehen. Seine Nackenmuskeln spannten sich, während er den Fuß auf die oberste Treppenstufe setzte. Jacahiro, der Maya, folgte ihm schweigend. Dan O'Flynn erhielt einen Stoß in den Rücken, der ihm sagte, daß man ihm die Ehre zugedacht habe, der Vorhut anzugehören. Batuti wurde die gleiche Ehre zuteil. Esmeraldo, die Burgunder, selbst der gierige Pepe le Moco hielten es offenbar für gesundheitsfördernd, zunächst einmal bescheiden im Hintergrund zu bleiben. Ziemlich zögernd stiegen sie hinter den Gefangenen die enge Wendeltreppe hinunter. Der Rest der Bande folgte ihnen, und Dan O'Flynn fluchte in sich hinein, weil es seiner Meinung nach wesentlich klüger gewesen wäre, zumindest eine Wache in dem Tempel zurückzulassen.
»Hirnrissige Hammelherde«, murmelte Batuti, der offenbar ähnliche Gedanken hegte. Dan nickte grimmig. Eingedenk der Tatsache, daß sie mit den Piraten zwar nicht im selben Boot saßen, aber sehr leicht in dieselbe Falle geraten konnten, entschloß er sich den Kerlen ausnahmsweise ein bißchen auf die Sprünge zu helfen. »Jean Morro!« zischte er. »He, du bretonischer Bastard! Hast du dir schon überlegt, was du tust, wenn uns ein freundlicher Maya-Priester die verdammte Falltür über den Köpfen zuschlägt?« Der Bretone fuhr herum. In seinen grauen, harten Augen glänzte das Licht der Fackel. Einen Moment starrte er den blonden O'Flynn an, dann lächelte er schmal. »Du hast recht, Kleiner. Barbusse, anderer Burgunder – ihr geht zurück und paßt oben auf.« »Aye, aye, Sir«, sagten Barbusse und der andere Burgunder einstimmig, aber wenig begeistert. »Der Teufel ist dein Kleiner!« fauchte Dan aufgebracht, doch da hatte sich der Bretone schon wieder abgewandt und stieg weiter die Stufen hinunter. Die Treppe schien sich endlos um die steinerne Spindel zu winden, bevor sie schließlich abrupt aufhörte. Ein Gang begann an ihrem Fußende, ein breiter, gewölbter Gang, in dem die modrige Kühle einer Gruft herrschte. Langsam gingen die Männer weiter, folgten einer scharfen Biegung und blieben vor einer schweren eisenbeschla-
genen Tür stehen. Es war eine versiegelte Tür, wie Dan O'Flynn feststellte. Sieben Siegel, die aus irgendeinem formbaren Karmesinfarbenen Material bestanden, in das jeweils ein bestimmtes geheimnisvoll verschlungenes Symbol eingeprägt war. Jacahiro trat einen halben Schritt zurück, und wieder berührte er mit den Fingerspitzen seine Stirn in einer halb unbewußten Geste der Ehrfurcht. »Itzamnas Zeichen«, murmelte er. »Das Zeichen des Himmelsgottes.« »Und was bedeutet das?« fragte Jean Morro nüchtern. Jacahiros bronzenes Gesicht sah plötzlich fast grau aus. Aber vielleicht lag das auch nur an dem geisterhaft huschenden Licht der Pechfackeln. »Daß der Schatz den Göttern geweiht ist«, sagte der Maya leise. »Das Gold ist tabu! Wer seine Hände danach ausstreckt, den wird Itzamnas Fluch treffen.« Für einen Moment blieb es still. Der einäugige Esmeraldo atmete so tief, daß es fast wie ein Stöhnen klang. Ein paar Männer bekreuzigrten sich. Batuti murmelte etwas in seiner Heimatsprache. Dan O'Flynn starrte mit einer Mischung aus Unbehagen und Neugier den Bretonen an, der sich mit einer zumindest äußerlich gelassenen Geste das graue Haar aus der Stirn strich. »Und was heißt das genau?« fragte er. »Ich weiß nicht«, murmelte Jacahi ro. »Gut! Ich bin ein Hugenotte, genau wie die meisten von uns. Das heißt, daß wir nicht an diesen komischen Itz– Dingsda glauben und uns folglich auch den Teufel um
seinen Fluch kümmern.« Er hob rasch die Hand, als er das Aufblitzen in den Augen des Maya erkannte. »Niemand will deine Götter beleidigen, Jacahiro. Aber wir haben für diesen verdammten Schatz zu viel Blut und Schweiß vergossen, um jetzt aufzugeben.« Jacahiro antwortete nicht. Der Bretone wandte sich mit einer entschlossenen Bewegung der Tür zu, hob die Hand und brach eins nach dem anderen der sieben Siegel. Danach zerrte er den mächtigen eisernen Riegel zurück und stemmte sich mit der Schulter gegen die Tür. Knarrend begann einer der schweren Flügel zurückzuschwingen. Der Widerschein der Fackel fiel in den Raum dahinter, fahler, tanzender Widerschein, der sich in leuchtendem Goldglanz brach, im kalten Schimmer von Silber, im funkelnden, sprühenden Feuer unzähliger, vielfarbiger Edelsteine. Für ein paar endlose Sekunden war es so still, daß man eine Stecknadel fallen gehört hätte. Die Männer standen und starrten. Ein Gewölbe lag vor ihnen – ein ganzes Gewölbe voll von den erlesensten Kostbarkeiten. Statuen standen an den Wänden gleich stummen Wächtern, Göttergestalten, überlebensgroße Figuren aus purem Gold, deren Edelsteinaugen die Eindringlinge kalt und ausdruckslos zu beobachten schienen. Das Abbild Itzamnas, des obersten Himmelsgottes, thronte an der Stirnwand des Gewölbes. Pures Gold war die Gestalt, massives Silber der Sockel, auf dem sie sich erhob. Zu ihren Füßen glitzerte und schimmerte es, als
seien Perlen über die Steinquader verstreut worden – und erst beim zweiten Blick begriffen die Männer, daß es nicht nur so aussah, sondern daß es tatsächlich Perlen, waren. Jean Morros Rechte krampfte sich so hart um den Griff der Fackel, daß die Knöchel weiß und spitz hervortraten. Irgendein Impuls ließ den Bretonen einen halben Schritt zurückweichen. Der gleiche Impuls, der seine Kumpane in Schweigen bannte, der die Stille andauern ließ, der Dan O'Flynn einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Für einen kurzen Augenblick fühlten selbst die hartgesottenen Piraten, daß sie in eine verbotene Sphäre eingedrungen waren und hier an etwas rührten, an das Uneingeweihte nicht rühren durften. Es war Pepe le Moco, der das Schweigen brach. Seine, Augen flackerten fiebrig und fast irre. »Der Schatz!« sagte er heiser. Und dann schrie er, schrie mit überkippender Stimme, während sich die Worte in dem Gewölbe zu hundertfältigem Echo brachen: »Der Schatz! Der Schatz! Das Maya-Gold! Wir haben es gefunden!«
5. Es war Diego Valeras, der im Großmars des schwarzen Seglers die ›Isabella‹ sichtete. Die Galeone lag in einer der Buchten mit den schmalen, fast unsichtbaren Einfahrten, die typisch für diesen Küs-
tenabschnitt waren. Ein kleines Schiff wäre dort völlig unsichtbar gewesen, aber die überlangen Masten der ›Isabella‹ ragten über den grünen Dickichtgürtel der Landzunge hinaus. Diego Valeras meldete seine Entdeckung zum Achterkastell, und wenig später signalisierte der Stör aufgeregt zu der im Kielwasser des ›Eiligen Drachen‹ segelnden Karavelle hinüber. Beide Schiffe fielen zunächst ein mal ab und hielten etwas nach Westen, um von den Piraten nach Möglichkeit nicht sofort entdeckt zu werden. Wenig später drehten sie bei, und Hasard, Ben Brighton, Ed Carberry und Big Old Shane pullten von der ›Santa Monica‹ zu dem schwarzen Segler hinüber. Im Achterkastell des ›Eiliger Drachen‹ fanden sie sich mit Siri-Tong, dem Wikinger und dem Boston-Mann zu einer kurzen Lagebesprechung zusammen. Viel zu besprechen gab es allerdings nicht. Denn was sie unternehmen mußten, ergab sich ohnehin aus der besonderen Lage. Dan O'Flynn und Batuti befanden sich als Gefangene an Bord der ›Isabella‹. Davon jedenfalls mußten die Seewölfe und die Crew des schwarzen Seglers ausgehen, und deshalb lief ihre Taktik vor allem darauf hinaus, zu verhindern, daß Jean Morros Halsabschneider ihre Gefangenen als Geiseln benutzten, um die Gegner zu erpressen. Ganz davon abgesehen, daß Philip Hasard Killigrew seine ›Isabella‹ nicht als Trümmerhaufen wiederhaben
wollte. Es war sinnlos, die Bucht offen anzulaufen. Das konnte allenfalls als Ablenkungsmanöver dienen – und genau darauf basierte der Plan des Seewolfs. In knappen Worten erläuterte er, was er vorhatte. Siri-Tong hörte mit funkelnden Augen zu. Der Wikinger atmete tief und ließ krachend seine mächtige Faust auf den Tisch der Kapitänskammer fallen. »Bei Odins Raben!« grollte er tief in der Kehle. »Ich bin dabei! Ich freue mich schon darauf, es diesen Mistkerlen zu besorgen! Das wird endlich mal wieder ein Spaß, verdammt noch mal!« »Hoffentlich!« sagte Ed Carberry düster. Der eiserne Profos brauchte Arbeit für seine Fäuste, wenn er sich wohlfühlen wollte. Und in letzter Zeit war es für seinen Geschmack zu oft passiert, daß sich der erhoffte Spaß als Kinderspiel herausgestellt hatte, das eher für Sonntagsschüler taugte denn für eine Bande von Teufelskerlen wie die Seewölfe. Edwin Carberry hatte richtige Sehnsucht nach einem handfesten Kampf, bei dem die Fetzen flogen. Es mußte wohl eine Art sechster Sinn sein, der ihm sagte, daß dies vorerst noch nicht geschehen würde; Jedenfalls schnitt er ein ziemlich zweifelndes Gesicht. Hätte er ahnen können, was in Wahrheit auf ihn zukam, wäre seine Miene wohl noch viel grimmiger gewesen. *
Die Männer, die Edwin Carberry so liebend gern in ihre Einzelteile zerlegt hätte, befanden sich um diese Zeit in einem wahren Freudentaumel. Das Gefühl des Fremden, Gefährlichen, der ungreifbaren Drohung – das alles war beim Anblick des unermeßlichen Schatzes dahingeschmolzen wie Eis an der Sonne. Was blieb war purer Triumph, gierige Euphorie, ein Rausch, der in seiner lautlosen, gespenstischen Intensität an Wahnsinn grenzte. Die Männer schrien nicht, jubelten nicht, redeten überhaupt sehr wenig, und wenn, dann im Flüsterton. Aber sie stolperten mit fiebrig glühenden Augen von einer Ecke des Raums zur anderen, sie taumelten fast, berührten das Gold, das Silber, die funkelnden Edelsteine und gebärdeten sich wie Kranke im Fieberwahn, die Phantasie und Wirklichkeit nicht mehr auseinanderzuhalten vermochten. Außer Dan und Batuti gab es nur zwei, die der Taumel nicht angesteckt hatte. Jacahiro, der Maya, stand reglos und wie versunken am Fuß der Wendeltreppe. Sein bronzenes Gesicht war unbewegt, über seine Augen schien sich der Ausdruck dunklen Wissens wie ein Vorhang gesenkt zu haben. Für den Maya gab es keine Zweifel: dies war der Tempelschatz Itzamnas, und der Fluch der Gottheit würde die Frevler treffen. Jacahiro hatte keinen Anteil mehr an dem triumphierenden Rausch, der seine Leute mitriß. Der Maya stand stumm daneben, gleichsam in sich selbst und sein eigenes mythisches Drama versponnen, und etwas von der dunklen
Melancholie in seinen Augen schien sich auch Jean Morro mitzuteilen. Der Bretone stand ebenfalls stumm da, gespannt, konzentriert, als lausche er mit jeder Faser seiner Nerven. Seine grauen Augen hatten sich verhärtet. Er sah sich um, prüfte, überlegte und versuchte offenbar, die Situation in den Griff zu kriegen. Schließlich straffte er sich, atmete tief durch, und als er sprach, war seine Stimme von schneidender Scharfe. »Hört endlich auf, verrückt zu spielen! Wühlen könnt ihr in dem Gold, wenn wir es an Bord haben. Also reißt euch zusammen! Ich habe keine Lust, länger als unbedingt nötig in diesem verdammten Loch zu bleiben. Wir werden jetzt zunächst einmal alles nach draußen schaffen, was wir tragen können. Was wir wirklich tragen können, wohlgemerkt! Wir müssen mit dem Zeug nämlich eine ziemlich lange Strecke zurücklegen. Esmeraldo?« Der Einäugige wandte sich um. Er hatte an einer riesigen goldenen Statue gezerrt, die auch ein Dutzend Männer nicht hätten bewegen können – jetzt zog er die Finger zurück und duckte sich unter Morros Worten wie unter Peitschenhieben. Auch Pepe le Moco, Jacko und der Burgunder wandten sich um. Jean Morro stand breitbeinig mitten in dem Gewölbe, die Fäuste in die Hüften gestemmt, und seine schneidende, befehlsgewohnte Stimme brachte es fertig seine Leute aus einer Rotte von Halbirren wieder in eine Crew einigermaßen vernünftiger, zurechnungsfähiger Männer zu verwandeln.
Binnen Minuten hatte er es geschafft, so etwas wie eine vernünftige, zweckmäßige Organisation auf die Beine zu stellen. Der Bretone hatte Format, stellte Dan O'Flynn fest. Er war ein nüchterner Mann, der sich nicht das Gehirn verriebein ließ, auch nicht vom Anblick dieser unermeßlichen Reichtümer. Wenn das Gold ihn blendete, dann wußte Jean Morro das jedenfalls mit eiskaltem Verstand und einer gehörigen Portion Augenmaß auszugleichen. Er hielt sich nicht erst mit dem Versuch auf, eine der überlebensgroßen goldenen Statuen von ihrem Platz zu rücken. Wie Peitschenhiebe fielen seine Befehle. Knappe, eiskalte Kommandos, die keinen Widerspruch duldeten. Mit eingezogenen Köpfen gingen die Piraten daran, die verstreuten Perlen einzusammeln. Edelsteine auszubrechen, kleinere Statuen von ihren Sockeln zu heben, und schließlich begannen die ersten Männer, keuchend unter der Last wieder die endlose Wendeltreppe emporzuklimmen. Dan und Batuti schleppten gemeinsam ein goldenes Abbild der gefiederten Schlange, dessen Gewicht sie gerade noch tragen konnten. Vor ihnen keuchte Jacahiro unter der Last einer vogelähnlichen Statue, deren Gefieder aus farbigen Edelsteinen geschnitten war. Der Maya hatte sich schweigend Jean Morros Befehlen gefügt. Ein Schweigen, in dem nach Dan O'Flynrns Gefühl pure Resignation lag. Jacahiro hatte sich in sein Schicksal ergeben, wie auch immer dieses Schicksal seiner
Meinung nach aussehen mochte. Dan konnte nicht verhindern, daß das dunkle, wie zu Stein erstarrte Gesicht des Maya ihm einen gelinden Schauer über den Rücken jagte. Batuti schien es ähnlich zu gehen. Jedenfalls preßte der schwarze Herkules die Lippen zusammen und sagte kein Wort. Beide waren sie froh, als sie aus dem düsteren Tempel wieder ins Freie traten, und auch Jean Morros Piraten wirkten sichtlich erleichtert. Der Bretone hatte angeordnet, alles, was transportiert wurde, zunächst einmal über die endlose Treppe bis an den Fuß des Tempels zu schaffen. Ein vernünftiger Befehl. Es war sinnlos, blindlings Schätze ans Tageslicht zu schaffen, ohne an die unumgängliche Realität des Rückmarsches zu denken. Um all die Kostbarkeiten aus dem Gewölbe des Tempels an Bord der ›Isabella‹ zu bringen, hätten die Männer eine Woche gebraucht. Und so viel Zeit hatten sie nicht. Jacahiro wußte es, Dan und Batuti ahnten es nur – und Jean Morro mußte es entweder ebenfalls ahnen oder einfach aufgrund kühler, nüchterner Überlegung annehmen. Breitbeinig blieb er auf einem der mächtigen Steinquader am Fuß des Tempels stehen und ließ den Blick über seine erschöpften, von fiebriger Gier erfüllten Kumpane gleiten. »Hört zu!« sagte er ruhig. »Hört genau zu. Ich werde nämlich jeden er barmungslos über den Haufen schießen, der später quertreibt. Wir haben den verdammten Schatz gefunden. Aber wir werden darüber nicht den Verstand
verlieren. Ich bin genauso wild auf das Gold wie ihr, aber ich habe keine Lust, irgendwo im Urwald neben einem Haufen Gold zu krepieren. Wir werden das, was wir haben, jetzt zurückbringen und an Bord schaffen. Danach erkunden wir erst einmal die Gegend, damit wir nicht in eine Falle laufen. Und dann holen wir Stück um Stück den Rest. Ohne verrückt zu spielen oder uns zu übernehmen! Wir haben nämlich Zeit. Wir können auf Nummer Sicher gehen, und genau das ist es, was wir tun werden. Noch Fragen?« Niemand sagte etwas. Für ein paar Sekunden schien sich das Schweigen wie ein Mantel herabzusenken. Und dann, als die Stille jählings zerbrach, waren es nicht die Piraten, die dafür sorgten. Von einer Sekunde zur anderen wurde es ringsum in der Wildnis lebendig. Ein Schrei ertönte. Ein kehliger, tremolierender Schrei. Das Dickicht teilte sich. Braunhäutige, wilde Gestalten brachen aus den Büschen, Speere und Lanzen schwirrten, eine Wolke von Pfeilen ging mit hellem, vibrierenden Singen auf die Gruppe der Männer am Fuß des Tempels nieder – und für ein paar Sekunden waren die Piraten viel zu überrascht, um Schrecken zu empfinden, geschweige denn den unvermuteten Angriff mit irgendeiner vernünftigen Reaktion zu beantworten. Maya-Krieger, durchzuckte es Dan O'Flynn. Und dann schien ringsum mit einem Schlag die Hölle loszubrechen.
6. Aus zusammengekniffenen Augen spähte der Seewolf durch die dichten grünen Zweige in die Bucht. Die ›Isabella VIII.‹ lag vor Anker. Nichts rührte sich an Bord, die Stille wirkte fast gespenstisch. Hasard wandte den Kopf und warf Ed Carberry, der neben ihm kauerte, einen Blick zu. »Wetten, daß die Kerle schon unterwegs sind?« fragte der Profos flüsternd. »Wir werden sehen. Am besten starten wir von dort drüben. Die Strecke müßte zu schaffen sein.« Der Seewolf zeigte auf eine Stelle, wo sich eine schmale Landzunge ein Stück in die Bucht schob. Vorsichtig zogen sich die beiden Männer zurück und stießen zu den anderen, die im Gebüsch warteten. Das Enterkommando bestand aus zwölf Männern: eine Zahl, die Hasard für ausreichend hielt, da mit jedem Mann mehr die Gefahr wuchs, daß die Gruppe vorzeitig entdeckt wurde. Erwartungsvoll funkelnde Augen sahen ihnen entgegen, Ferris Tucker trug seine riesige Axt am Gürtel. Jeff Bowie hatte seinen Haken nachgeschliffen, Big Old Shane packte die lange Eisenstange fester, Blacky und Smoky waren ebenfalls da, mit schweren Handspaten bewaffnet, außerdem Stenmark und Sam Hoskill und
von der Besatzung des schwarzen Seglers der Wikinger, der Bootsmann Juan und der Boston-Mann. Schweigend setzten sie sich auf Hasards Wink hin in Bewegung, und wenig später erreichten sie die kleine Landzunge. Die ›Isabella‹ erschien ihnen jetzt zum Greifen nahe. Immer noch zeigte sich niemand an Deck, aber darauf wollten sich die Männer nicht verlassen. Die Strecke bis zur Steuerbordseite der Galeone würden sie unter Wasser hinter sich bringen. Eine Jakobsleiter hatten die Piraten freundlicherweise bereits außenbords gehängt, also stand dem Unternehmen nichts mehr im Wege. »Fehlt bloß noch der rote Teppich«, brummte Carberry unzufrieden. Hasard hob die Brauen. »Du willst es wohl unbedingt schwierig haben, was?« fragte er. »Vorsicht jetzt! Immer schön einer nach dem anderen. Sam, du bildest den Schluß und paßt auf, ob sich jemand an Deck zeigt.« »Aye, aye, Sir!« Der schlanke schwarzhaarige Mann mit den dunklen Augen grinste. Hasard warf noch einen prüfenden Blick zum Schanzkleid der ›Isabella‹, bevor er sich vorsichtig durch die letzten Zweige der Büsche zwängte und ins Wasser gleiten ließ. Er holte tief Luft, tauchte und bewegte sich mit kräftigen Schwimmstößen vorwärts. Das Wasser schimmerte in hellen Grün- und Goldtönen, nahm dann schlagartig die Farbe von dunklem Smaragd an, und Hasard wußte, daß er sich im Schatten der Bordwand befand. Dicht neben der Jakobsleiter tauchte er auf und legte den Kopf in den Nacken.
Auf der ›Isabella‹ rührte sich nichts. Der Seewolf wandte den Kopf und verfolgte den dunklen Schatten, der durchs Wasser glitt und sich zwei Sekunden später als Ferris Tucker entpuppte. Ed Carberry folgte, der Boston-Mann, Juan, Blacky und Smoky – und dann der Wikinger, der mit seinem triefenden Bartgestrüpp und dem unvermeidlichen Kupferhelm ein eher groteskes Bild abgab. Minuten später war die Gruppe komplett. Hasard enerte als erster auf, langsam und vorsichtig. Ein Blick zeigte ihm, daß Ed Carberry unmittelbar hinter ihm war, Batutis Morgenstern am Gürtel und ein breitklingiges Messer zwischen den Zähnen. Knapp unterhalb des Schanzkleides verharrte der Seewolf noch einmal und lauschte, dann schwang er sich geschmeidig wie eine Katze an Deck. Die Kuhl lag leer vor ihm. Oder nein, nicht völlig leer: im Schatten des Großmasts hockte eine Gestalt auf einer Taurolle und döste. Es war der weißhaarige Alte, den die Piraten Valerio nannten. Jetzt hob der Bursche mit einem verhaltenen Gähnen den Kopf – und vor Überraschung blieb ihm buchstäblich der Mund offenstehen. Drei Männer standen auf der Kuhl: der Seewolf, Ed Carberry und Ferris Tucker. Nummer vier, der Boston-Mann, schwang sich gerade über das Schanzkleid. Valerios Augen flackerten auf. Er holte Luft und wollte schreien, doch da stand Philip Hasard Killigrew schon mit zwei, drei langen Sätzen vor ihm.
Der Seewolf schlug kurz und trocken zu. Ehe Valerio auch nur einen Laut herausbrachte, hatte er das Gefühl, als fliege sein Kopf davon. Etwas schien tief in seinem Schädel zu explodieren, und dann wurde es so plötzlich dunkel um ihn, daß nicht einmal mehr der Schmerz sein Bewußtsein erreichte. Hasard fing die stürzende Gestalt ab und ließ sie lautlos auf die Taurolle gleiten. In den letzten Sekunden hatte er Geräusche registriert, die aus der Kombüse drangen. Geschirr klapperte. Offensichtlich nutzte da jemand die Gelegenheit, sich gründlich mit den Vorräten der ›Isabella‹ zu. vergnügen. Hasard verständigte sich durch einen Blick mit Carberry und Tucker. Die drei Männer glitten auf das Schott zu, und im selben Augenblick wurde es von innen geöffnet. »Die Suppe ist…« begann ein dürrer junger Mann mit engstehenden Augen. »Fertig, ja?« fragte Hasard freundlich. Und bevor der Dürre wußte, wie ihm geschah, traf ihn ein Tritt unter das Kinn, der ihn rückwärts in die Kombüse beförderte. Hasard glitt hinterher und packte den Kerl am Kragen, ehe er sich auf die Herdplatte setzen und ein großes Geschrei veranstalten konnte. Der zweite Mann im Raum, Tomaso, wühlte gerade in dem Säckchen mit den getrockneten Früchten. Er kaute noch. Jetzt verschluckte er sich, lief rot an, würgte, hustete – und spuckte Rosinen aus, als sich Ed Carberrys harte Faust in seinen schwabbelnden Bauch bohrte.
»Uuh!« röchelte der dicke Tomaso. »Rcks!« fügte er hinzu, als ein Haken unter sein Doppelkinn ihn wieder aufrichtete. Seine Augen verdrehten sich, er fiel wie ein nasser Sack zusammen und rührte sich nicht mehr. Der Kerl in Hasards Griff war nur wenige Sekunden bewußtlos gewesen. Jetzt begann er zu zappeln – und versteifte sich, als er wieder einigermaßen durchblickte. Der Seewolf starrte ihn an, und der Ausdruck in den eisblauen Augen ließ den Burschen wie Espenlaub zittern. »Wo sind die Gefangenen?« fragte Hasard durch die Zähne. »Heraus mit der Sprache, oder ich stopfe dich eigenhändig ins Feuerloch!« »W-w-weg!« stotterte der Dürre. »Wieso weg? Wo stecken die ande ren? Wer ist außer euch noch an Bord?« Der Dürre starb fast. »N-n-nur V-v-valerio«, brachte er heraus. »Sie s-sind alle weg! An L-l-land! Den Sch-sch-schätz suchen.« Hasard atmete tief durch. Er wandte sich Carberry zu und mußte unwillkürlich grinsen. »Pech für dich, Ed«, sagte .er troc ken. »Du mußt dein Vergnügen noch etwas auf schieben.« * Die Luft hallte wider von den kehligen, tremolierenden Schreien.
Von einer Sekunde zur anderen schienen die braunhäutigen Krieger überall zu sein: im Dickicht, auf der Treppe, auf den riesigen Steinquadern des Tempelbauwerks. Drei, vier von den Piraten brachen schreiend im Pfeilhagel zusammen, und Dan und Batuti ließen blitzartig die goldene Statue fallen. Das Ding rollte über die Stufen und fegte ein halbes Dutzend Maya von den Füßen. »Weg!« zischte Dan. Wie eine Katze sprang er die letzten Stufen hinunter, warf sich nach rechts in den Schatten zwischen Gestrüpp und Schlinggewächsen, und unmittelbar hinter ihm brach Batuti durch die Büsche. Die beiden waren gezwungen worden, die Piraten zu begleiten. Sie hatten nicht das leiseste Interesse daran, gegen die Maya zu kämpfen, die ja nur ihre Heiligtümer verteidigten. Der Bretone und seine Bande von goldgierigen Halunken mochten sehen, wie sie mit den Maya fertig wurden. Dan und Batuti dachten nicht daran, sich auf die Seite der Piraten zu stellen, und sie hatten nicht die geringsten Gewissensbisse, sich seitwärts in die Büsche zu schlagen. Nur daß es mit dem In-die-Büsche-schlagen nicht so klappte, wie sie sich das vorstellten. Die Büsche wimmelten nämlich von Maya-Kriegern. Die halbnackten braunhäutigen Männer mit den kühnen Gesichtern und den seltsamen zopfartigen Haartrachten bewegten sich geschickt wie Wildkatzen im Dickicht.
Rechts und links von Batuti erklangen die kurzen, tremolierenden Rufe, als verständigten sich die Jäger über den Standort des Wildes. Als die beiden Flüchtenden wenig später eine winzige Lichtung erreichten, sahen sie sich zwei Dutzend braunhäutigen Kriegern gleichzeitig gegenüber. Dan und Batuti fanden nicht ein mal Zeit zu überlegen, ob sie kämpfen oder besser versuchen sollten, sich irgendwie mit den Maya zu verständigen. Die braunhäutigen Krieger debattierten nicht erst, sie griffen an. Und sie wollten ihre Opfer lebend, das war an der Art zu sehen, wie sie ihre Speere als Schlagwaffen benutzten. Von allen Seiten stürzten sie sich auf die beiden Seewölfe. Zwei Dutzend Angreifer. Sie er hielten Verstärkung, immer mehr Krieger stürzten aus dem Dickicht. Dan kämpfte wie ein leibhaftiger Tornado, Batuti mähte mit seinen wie Dreschflegel wirbelnden Fäusten sieben, acht Gegner nieder, aber gegen die Lanzenschäfte, die gleich dutzendfach auf seinen schwarzen Krauskopf prasselten, war auch er machtlos. Ohnmächtig brach er zusammen. Dan ging mit fliegenden Fahnen unter und verlor ebenfalls das Bewußtsein. In den Augen der keuchenden, reichlich angeschlagenen Maya-Krieger dämmerte Bewunderung auf, als sie ihre Opfer endlich einsammeln konnten.
* Der schwarze Segler und die kleine Karavelle waren in die Bucht gelaufen, und die Seewölfe hatten ihre alte ›Isabella‹ wieder in Besitz genommen. Anstelle von Dan und Batuti hockten jetzt der alte Valerio, Tomaso und der Dürre gefesselt in der Vorpiek. Sie hatten bereitwillig alles erzählt, was die Seewölfe wissen wollten. An Widerstand dachten sie nicht. Denn die Tatsache, daß die Männer, die sie immer noch hilflos auf der Insel wähnten, so plötzlich über sie hergefallen waren, hatte die drei Piraten bis ins Mark getroffen. Bei den Seewölfen wollte kein rechter Jubel aufkommen. Noch nicht! Zuerst mußten sie Dan und Batuti finden. Und dazu brauchten sie die Hilfe des Maya, den sie vor den Spaniern gerettet und mit an Bord genommen hatten. Yuka stand neben Hasard, Ben Brighton, Siri-Tong und dem Wikinger auf dem Achterkastell. Das dunkle Gesicht des Maya wirkte ernst und verschlossen. Er hatte gehört, daß sich die Piratencrew mit ihren Gefangenen bereits auf dem Marsch durch den Urwald befand, unterwegs zum Tempel Itzamnas, um den Schatz der Götter zu plündern. Yuka wußte auch, daß Philip Hasard Killigrew seine Männer nicht im Stich lassen würde. Trotzdem versuchte der Maya alles, um die Seewölfe von ihrem Vorhaben abzubringen. »Die Männer des Bretonen werden sterben«, sagte er, »Sie sind jetzt schon so gut wie tot. Itzemnas Fluch wird sie treffen. Sie werden auf dem heiligen Stein der Gefie-
derten Schlange geopfert werden, um die Götter zu versöhnen.« »Genau das wollen wir ja verhindern«, sagte Hasard trocken. »Wenigstens bei Dan und Batuti. Mit dem Bretonen können eure Priester meinetwegen anstellen, was sie wollen.« »Sie werden ihm bei lebendigem Leibe das Herz herausschneiden. Und auch euch werden sie überwältigen. Sie sind zu stark. Ihr könnt sie nicht besiegen.« »Himmel!« murmelte Ben Brighton. Die Sache mit dem Herzherausschneiden war ihrn auf den Magen geschlagen. Auch die Rote Korsarin wurde bleich, und Hasard war nicht mehr ganz so sicher, ob es ihn wirklich einen Dreck kümmerte, was die Maya-Priester mit den Männern des Bretonen anstellten. Der Seewolf atmete tief durch. »Wir wollen keinen Krieg führen«, sagte er. »Wir wollen Dan und Batuti befreien, und zwar nach Möglichkeit, ohne dabei mit den Maya aneinanderzugeraten. Je eher wir aufbrechen, desto besser sind die Chancen dafür. Du wirst uns führen, Yuka, aber deine Landsleute brauchen dich nicht zu sehen.« »Ich habe keine Angst, ich…« »Das behauptet auch niemand. Aber ich nehme an, du willst nicht dahin zurück, wo dich die Spanier suchen. Dein Platz, ist bei deinem Volk. Ben, sorg dafür, daß er andere Kleidung erhält, vor allem irgendeine Kopfbedeckung. Thorfins Helm wäre gut.« »Mein Helm? Bist du des Teufels? Ha! Wer sich unter-
steht, meinen Helm anzufassen…..« »Schon gut, schon gut!« Hasard mußte grinsen. »SiriTong, du bleibst mit denen Leuten hier in der Bucht für den Fall, daß die Piraten auf einem anderen Weg zurückkehren, einverstanden?« »Einverstanden«, sagte die Rote Korsarin knapp. »Ben, du übernimmst das Kom mando über die ›Isabella‹. Bill und Old O'Flynn bleiben bei dir und…« »Wieso?« ertönte es zweistimmig. Hasard schoß einen Blick auf den alten O'Flynn ab, der sich auf seine Krücken stützte, die Schultern gereckt und das Kinn entschlossen vorgeschoben. »Weil wir einen Marsch durch den Dschungel vorhaben«, sagte der Seewolf trocken. »Und weil ich drei Mann auf der ›Isabella‹ zurücklassen möchte.« Das letzte galt Bill, dem fünfzehnjährigen Schiffsjungen, der vor Tatendrang brannte. »Sonst noch irgendwelche Diskussionsbeiträge?« Bill zog den Kopf ein, und Old O'Flynn rammte erbittert, aber stumm sein Holzbein auf die Planken. Die Männer schwiegen. Wenigstens solange, bis Siri-Tong und der Wikinger wieder zu dem schwarzen Segler hinüberpullten. Danach ließ Hasard die Beiboote abfieren – und Edwin Carberry nutzte die Gelegenheit, mal wieder ausgiebig sein Repertoire an Flüchen zu strapazieren. Es fing damit an, daß sie alle verlauste Rübenschweine seien, die der Wassermann im Suff mit einer triefäugigen Gewitterziege gezeugt haben müsse. Und es endete mit
der sattsam bekannten Drohung, Haut in Streifen von Affenärschen abzuziehen und zum Trocknen an die Kombüse zu nageln. Sir John, der Papagei, hockte auf der Rahnock, plusterte sich auf und wiederholte einige Flüche als krähendes Echo.
7. Donegal Daniel O'Flynn hatte das Gefühl, einen völlig verrückten Traum zu erleben. Er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als er wieder aus der Bewußtlosigkeit erwachte, und im ersten Augenblick hatte er auch keine Ahnung, wo er sich befand. Solide hölzerne Gitterstäbe zerteilten sein Blickfeld. Er sah eine Tempelpyramide ganz ähnlich der, in der sie den Schatz gefunden hatten. Aber hier wucherte kein Urwald um den Fuß des gewaltigen Bauwerks, hier gab es andere Gebäude, fremdartige Häuser, Straßen, Menschen. Gerade marschierte ein langer Zug von den braunhäutigen Männern mit den seltsamen Haarzöpfen vorbei. Als Dan den Kopf wandte, um ihnen mit den Augen zu folgen, beobachtete er, wie sie durch einen weiten, gemauerten Torbogen im grünen Schatten des Urwalds verschwänden. Noch etwas bemerkte Dan: daß er selbst ganz schlicht in
einem Käfig hockte, einem einfachen, sinnreichen und ungemein stabilen Holzkäfig. Einem in einer ganzen Reihe, wie Dan mit dem nächsten Blick erkannte, und für ein paar Sekunden verschlug es ihm glatt die Sprache. »Kleines O'Flynn wach?« dröhnte Batutis grollende Stimme von links. Dan vergaß sogar, gegen den Ausdruck ›kleines O'Flynn‹ zu protestieren. Er drehte sich um. Unmittelbar neben ihm kauerte Batuti ebenfalls im Käfig. Er hielt zwei hölzerne Gitterstäbe mit seinen Pranken umfaßt, fletschte die Zähne und rollte so furchterregend mit den Augen, daß die Maya sich vermutlich schon gefragt hatten, ob ihnen da wirklich ein Mensch oder nicht vielmehr ein unheimlicher schwarzer Dämon in die Hände gefallen war. »Mann!« flüsterte Dan erschüttert. »Wo, zum Teufel, sind wir denn hier gelandet?« »Batuti weiß nicht. Weiß nur, daß vermaledeites Krieger wieder ausgezogen sind, Rest von dämliches Piraten jagen, Maya-Kerls haben gefangen vier Mann und gehauen bretonisches Bastard auf Kopf. Boing!« Letzteres freute den schwarzen Herkules offenbar. Dan konnte auch nicht behaupten, daß er Jean Morros Halsabschneider bedauerte. Er drehte sich um und musterte die Käfige auf der rechten Seite, um zu sehen, wer außer ihm und Batuti in Gefangenschaft geraten war. Jacahiro! Der Maya hatte sich mit halb geschlossenen Augen zusammengekauert, schien in sich hineinzulauschen und
seine Umgebung kaum wahrzunehmen. Neben ihm stand Jean Morro aufrecht in seinem Käfig und umklammerte die Gitterstäbe. Das Gesicht des Bretonen war blutverschmiert, in seinen grauen, zusammengekniffenen Augen lag ein ungläubiger Ausdruck. Außer ihm waren noch der einäugige Esmeraldo da und der ›andere Burgunder‹, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht den linken Arm hielt. Die Männer wirkten wie betäubt, als glaubten sie zu träumen. Sie konnten nicht fassen, was ihnen passiert war, und daß es hier, mitten in der weglosen Wildnis des Urwalds, eine uralte, prachtvolle Stadt mit kriegerischen Bewohnern gab. Die neugierigen, aus sicherer Entfernung herüberstarrenden Frauen und Kinder, die die Gefangenen wie seltene Tiere im Zoo betrachteten, taten ein übriges, um die Situation noch unwirklicher werden zu lassen, »Jacahiro!« Die Stimme des Bretonen klang drängend. »Jacahiro! Schläfst du, verdammt noch mal?« »Der Maya hob den Kopf. Seine Augen schienen durch alles hindurchzugehen, seine Stimme klang dunkel wie ein Orakel. »Jacahiro schläft nicht.« »Was, zum Teufel, wird passieren?« Morro wartete ein paar Sekunden, dann kauerte er sich an den Gitterstäben des Käfigs auf die Fersen. »Was wird passieren?« wiederholte er. »So sprich endlich!« »Jacahiro hat euch gewarnt.« »Das weiß ich, verdammt! Aber wir sind nicht dem
Fluch irgendeiner obskuren Gottheit zum Opfer gefallen, sondern einer verdammt realen Übermacht von Menschen aus Fleisch und Blut. Und davor hast du uns nicht gewarnt, wenn ich mich richtig erinnere.« »Ich wußte nichts davon. Jacahiro wußte nicht, daß das Volk der Maya in die alten Königsstädte zurückgekehrt ist. Der Oberste Priester lebt. Er wird Gericht halten.« »Heiliger Bimbam«, murmelte Morro. Dan O'Flynn hatte den Eindruck, daß auch der Bretone erst vor Minuten aus der Bewußtlosigkeit erwacht war, denn allmählich kehrte in die grauen Augen wieder der Ausdruck von Nüchternheit und Härte zurück. »Er wird also Gericht halten«, wiederholte Morro heiser. »Und was bedeutet das genau?« Jacahiro hob die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Ich weiß nicht. Die Priester befragen das Orakel. Jacahiro wird als Abtrünniger sterben. Ihr anderen…« Er breitete die Arme aus und kehrte die Handflächen nach oben. »Der schwarze Mann wird im Käfig bleiben, für immer.« Der ›schwarze Mann‹ fuhr senkrecht in die Höhe. »Batuti in Käfig? Du dummy im Kopf! Warum Batuti in Käfig bleiben?« »Als Ausstellungsstück, was sonst?« knurrte Dan sarkastisch. Er starrte den Maya an. »Und wir? Haben wir auch Chancen, dem Zoo einverleibt zu werden?« »Vielleicht. Vielleicht habt ihr auch Glück, vielleicht will ein Mädchen euch zum Mann. Viele Maya-Mädchen lieben es, einen Mann mit einer weißen Haut zu nehmen. Oder einen Mann mit hellen Haaren, wie du oder der Bre-
tone.« »Na denn«, murmelte Dan ergriffen. Batuti als Ausstellungsstück im Käfig, er selbst als Ehemann eines Maya-Mädchens, das auf helle Haut und blondes Haar versessen war – die Aussichten hätten erheiternd sein können, wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre. Auch dem Bretonen schien jeder Funke Humor abhanden gekommen zu sein. Er biß die Zähne zusammen, bis seine Kiefernmuskeln wie Stränge unter der Haut hervortraten. »Und wenn wir Pech haben?« frag te er leise. »Dann wird man uns alle opfern, um die Götter zu versöhnen. Oder vielleicht auch nur einige. Dich, Jean! Oder den blonden jungen Teufel! Auch die Götter ziehen Opfer mit einer hellen Haut und hellem Haar vor.« Für einen Moment blieb es still. Dan O'Flynn war zumute, als habe ihn ein Maultier getreten. Sein Blick wanderte wieder zu den Neugierigen, die die Käfige aus sicherer Entfernung begafften, und widerwillig gestand er sich ein, daß sie sich tatsächlich ganz besonders für ihn, und den hellhaarigen Bretonen interessierten. Unter den gegebenen Umständen war das eine ziemlich zweifelhafte Ehre. Genauso zweifelhaft wie das Wohlwollen von Maya-Göttern oder Maya-Mädchen, die beide blond liebten. Wenn schon, dann war es immer noch besser, unter der Haube zu landen als auf dem Opferstein, aber da hatten die Betroffenen ja leider nicht mitzureden. Mist, dachte Dan O'Flynn mit Inbrunst und schloß die
Augen, um das verdammte Käfiggitter nicht mehr sehen zu müssen. * »Halt!« sagte Hasard leise. Dicht neben Yuka, der mit seinem ausgefransten Strohhut völlig verändert wirkte, verharrte der Seewolf auf dem schmalen Urwald-Pfad. Hinter ihm hob Ed Carberry die Hand und brachte den Rest des Zugs zum Stehen. Hasard kniff die Lider zusammen, lauschte – und im nächsten Augenblick konnte er das Geräusch, das ihn alarmiert hatte, ganz deutlich hören. Hastende Schritte. Zweige brachen, ein unterdrückter Schrei erklang, dann keuchende Atemzüge. Die Situation war fast genauso wie jene in der Bucht, wo sie auf Yuka getroffen waren, nur daß sich diesmal mindestens zwei Männer näherten. Sekunden später stolperten sie aus dem grünen Schatten. Jacko und Pepe le Moco! Sie taumelten, keuchten und hatten einen fast irren Ausdruck in den Augen. Beim Anblick der Seewölfe prallten sie erschrocken zurück. Einen Moment sah es so aus, als wollten sie sich herumwerfen und wieder in die entgegengesetzte Richtung fliehen, dann trokelten sie einfach weiter, und ihre Gesichter verzerrten sich vor Entsetzen. »Sie kommen! Weg hier! Sie kommen!«
»Wer?« Hasard hatte den drahtigen schwarzhaarigen Jacko einfach am Kragen gepackt und schüttelte ihn. Als der Bursche zappelte, drehte der Seewolf ihm kurz und trocken die Luft ab. Jacko würgte, lief blau an und war froh, als er wieder atmen konnte. »Wer kommt?« wiederholte Hasard seine Frage. »Die Mayas! Sie bringen alle um! Sie sind hinter uns her!« Pepe le Moco war es, der das in höchster Angst kreischte. Der große Mann hing in Ed Carberrys Griff wie ein Bündel Lumpen, Auch der Profos schüttelte das Opfer und für den Piraten war das ungefähr so, als hocke er bei einem tropischen Wirbelsturm im Großmars. Sagen konnte er danach überhaupt nichts mehr. Aber das war auch nicht nötig. Denn was in den nächsten Minuten geschah, ließ alle Fragen überflüssig werden. Zuerst taumelte ein weiterer über lebender Pirat über den Urwaldpfad: der Burgunder. Ihm schien es völlig gleich zu sein, wer da den Weg versperrte, solange es nur keine Maya-Krieger waren. Er fiel fast dem rothaarigen Ferris Tucker in die Arme. Kehlige, tremolierende Schreie er klangen hinter ihm, dann schien plötzlich der ganze Urwald lebendig zu werden. Braunhäutige halbnackte Gestalten erschienen, muskulöse Männer, Lanzen, Speere und kleine, leichte Kampfbögen schwingend, das blauschwarze Haar zu seltsamen zopfähnlichen Gebilden geflochten, Sie tauchten von allen Seiten auf und bewegten sich geschmeidig wie
Raubkatzen im Dickicht. Die Luft erzitterte unter ihren tremolierenden Schreien. Der wilde, massierte Angriff erfolgte so plötzlich, daß die Seewölfe für die Dauer eines Herzschlags völlig überrascht waren. Für die Dauer eines Herzschlags – nicht länger! Philip Hasard Killigrew war der erste, der reagierte. Er hielt immer noch den drahtigen Jacko am Kragen, jetzt riß er ihn kurzerhand hoch und benutzte ihn als Sense. Jackos Stiefel mähten zwei Maya-Krieger nieder, und da er wie ein Derwisch heulte und zappelte, trat er einem dritten die Nase platt und renkte einem vierten den Kiefer aus. Hasard fand, daß das ein recht gutes Ergebnis – war, aber auf dem schmalen Pfad konnte er nicht richtig Schwung holen. Seine Zähne blitzten, als er den halb ohnmächtigen Jacko seitwärts ins Gebüsch feuerte, einen Maya auf die Figur, und sich den nächsten Gegner von Ferris Tuckers Rücken pflückte. Der rothaarige Schiffszimmermann hatte ohnehin besseres zu tun. Er hieb mit seiner Axt um sich, knallte die flache Schneide gegen Köpfe, zerhackte Schlingpflanzen, um den Kampfplatz zu erweitern, und wühlte auf diese Art allmählich eine Lichtung in den Urwald, Den Maya-Kriegern mangelte es gewiß nicht an Mut, aber vor diesem tobenden Riesen mit der fürchterlichen Axt und den nicht weniger fürchterlichen Flammenhaaren wichen sie zurück. Genau wie vor Ed Carberry, der Batutis Morgenstern
kreisen ließ, Angreifer durch die Luft wirbelte und junge Bäume entwurzelte. Und genau wie vor dem Seewolf, diesem wilden schwarzhaarigen Teufel, dessen Augen wie kaltes Gletschereis gleißten und der mit dem Degen unter den Gegnern aufräumte – einem Degen, der die Maya an eine geschmeidige, blitzartig zustoßende Schlange gemahnte. Mehr instinktiv als bewußt benutzte der Seewolf die flache Klinge, um seine Widersacher außer Gefecht zu setzen, ohne sie zu töten. Die Maya waren hier, um ihre Heiligtümer zu verteidigen, sie verfolgten die Frevler, die diese Heiligtümer in blinder Gier entweiht und geschändet hatten. Hasard wußte, daß er und seine Männer um ihr Leben kämpften. Er war sich auch klar darüber, daß er nicht kaltblütig hätte zusehen können, wie die drei Piraten niedergemetzelt wurden. Aber trotz allem empfand er Achtung für die Krieger, die die weißen Eindringlinge nicht gerufen hatten und keine Schuld an der fatalen Situation trugen, und es widerstrebte ihm, unter den Maya ein Blutbad anzurichten. Die anderen Seewölfe dachten genauso, obwohl es ihnen vielleicht gar nicht bewußt war, warum sie es nach Möglichkeit vermieden, ihre Gegner, zu töten. Ed Carberry und Ferris Tucker hatten richtige Breschen ins Dickicht geschlagen. Hasard trieb die Angreifer auf dem Pfad zurück, Big Old Shane schwang seine Eisenstange, Blacky und Smoky hieben mit Handspaten um sich. Sam Roskill, Bob Grey und Luke Morgan, alle drei
schlank, drahtig, eher klein geraden, glitten wie Katzen durch das Gestrüpp, sprangen immer wieder blitzartig den einen oder anderen Gegner an und kämpften wie die Teufel. Selbst der schmalbrüstige Kut scher wußte sich Respekt zu verschaffen. Er hatte – Hasard registrierte es mit einem amüsierten Grinsen – seine schwere eiserne Bratpfanne von der ›Isabella‹ mitgenommen, und dieses Instrument eignete sich vorzüglich, um Speerspitzen oder schwirrende Pfeile aufzufangen und anstürmenden Angreifern die heilige Furcht in die Schädel zu hämmern. Nach noch nicht einmal fünf Minuten schienen die Maya-Krieger zu der Ansicht zu gelangen, daß sie den Teufel persönlich am Schwanz gezogen hatten – oder jedenfalls das Wesen, daß in ihrer Mythologie die Rolle des Teufels spielte. Die ersten braunhäutigen Männer wandten sich zur Flucht. Die kehligen, tremolierenden Kampfschreie der anderen klangen plötzlich überhaupt nicht mehr so kampflustig. Und als dann auch noch der zähe, hagere Gary Andrews aus voller Lungenkraft ›Arwenack‹ brüllte und die anderen donnernd einfielen, gab es kein Halten mehr. Die Seewölfe brauchten nur noch die Bewußtlosen einzusammeln. Und das taten sie auch. Denn von diesen Männern hofften sie, Näheres über das Schicksal von Dan O'Flynn und Batuti zu erfahren.
8. Stille lag über der Stadt der Maya. Eine feierliche – und gespenstische Stille. Die Straßen waren leer, kein Neugieriger trieb sich mehr in der Nähe der hölzernen Käfige herum, um die Gefangenen zu betrachten. Das Orakel hatte gesprochen. Das Orakel sagte, daß die Götter nach Blut verlangten – und auf der höchsten Spitze des Tempelbaus waren die Vorbereitungen für das grausame Opfer-Ritual im Gange. Dan O'Flynn kauerte reglos am Boden seines makabren Gefängnisses. Er hatte sich unwillkürlich so nahe wie möglich an Batutis Seite gedrängt. Der Holzkäfig links von Dan war leer. Denn Jacahiro, den abtrünnigen Maya, hatten die Priester als erstes Opfer ausersehen – genau wie er es selbst vorausgesagt hatte. Jetzt stand er hoch oben auf den Stufen des Tempels: eine winzige Gestalt, nur zu erkennen an dem rituellen Gewand, das er trug. Er stand sehr aufrecht, flankiert von zwei hünenhaften Wächtern. Die Priester in ihren wallenden blutroten Gewändern bildeten einen dichten Ring um den Opferstein. Aus der Entfernung war nicht viel von der Szenerie zu sehen, aber Jacahiro hatte – auf Jean Morros eindringliche Fragen –
alles erklärt, was er von dem schrecklichen Ritual wußte oder selbst gesehen hatte. Jetzt hockte der Bretone bleich wie ein Laken in seinem Käfig. Noch gab es keinen Hinweis darauf, was nach Jacahiros Tod geschehen würde. Ihn, den Abtrünnigen, zu bestrafen, war den Maya offenbar besonders wichtig gewesen. Aber Jacahiro hatte auch prophezeit, daß es nicht bei dem einen Menschenopfer bleiben würde. Und nach allem, was er sonst noch erzählt hatte, war dem Bretonen nur zu klar, daß er selbst mit seiner hellen Haut, den grauen Augen und dem glatten grauen Haar alle Chancen hatte, in die engere Wahl genommen zu werden. Bessere Chancen als er hatte eigentlich nur noch Dan O'Flynn, der zwar von der Sonne dunkelbraun gebrannt, aber dafür weizenblond und blauäugig war. Dan hatte sich eine Weile mit Jacahiros Versicherung getröstet, daß man die hellhaarigen Männer unter Umständen auch mit vornehmen Maya-Damen verheiraten würde, statt ihnen auf dem Opferstein bei lebendigem Leibe das Herz herauszuschneiden. Aber das war ein schwacher Trost – vor allem, da die Priester, die Jacahiro abholten, ausgesprochen blutrünstig aussahen. Genauso wie Batuti, wie Jean Morro, der einäugige Esmeraldo und der leichenblasse ›andere Burgunder‹ beobachtete Dan O'Flynn die makabren Vorbereitungen auf der TempelPyramide – und wenn er ehrlich zu sich selbst war, mußte er sich eingestehen, daß das Gefühl in seinem Innern fatale Ähnlichkeit mit ordinärer Angst hatte. Die nächste halbe Stunde schien sich zu einer höllischen
Ewigkeit zu dehnen. Trommeln begannen zu dröhnen, dumpf und unheilverkündend. Auf der Spitze der Tempelpyramide nahm das Ritual seinen Lauf. Einer der Priester trat vor, breitete die Arme aus und erhob seine Stimme zu einem seltsam eintönigen, endlosen Singsang. Von Zeit zu Zeit fielen weitere Stimmen ein und wiederholten im Chor ein paar Worte. Weder Dan noch die anderen verstanden irgend etwas, aber sie konnten sich vorstellen, daß die Priester dort oben ihre Götter anriefen, das Opfer gnädig anzunehmen. Das Opfer, das jetzt mit ruhigen Schritten auf den unheimlichen schwarzen Steinquader zuging. Jacahiro wehrte sich nicht. Auch nicht, als ihn die beiden hünenhaften Wächter packten und rücklings auf den Stein warfen, wo sie ihn an Händen und Füßen festhielten. Der Oberpriester ließ die ausgebreiteten Arme sinken. Ein paar Atemzüge lang verharrte er reglos und versunken, dann wandte er sich gemessen ab und trat hinter den Opferstein. Als er wieder die Arme hob, hielt er ein langes, gekrümmtes Messer in der Rechten. Dan O'Flynn schloß die Augen. Er hörte Jacahiro schreien – ein wilder, gellender Schrei, der auf dem Höhepunkt abbrach und wie abgeschnitten verstummte Dumpf dröhnten die Trommeln. Wieder erklang der seltsame Singsang, dunkler und erregter diesmal. Dan öffnete die Augen wieder und starrte zu dem
Steinquader hinauf, der nicht mehr schwarz war, sondern in Blut schwamm. Batuti murmelte etwas in seiner Heimatsprache. Sein Gesicht wirkte in diesen Sekunden wie aus schwarzem Basalt gehauen. Genauso starr wie das bleiche Gesicht Jean Morros, dessen Fäuste die Gitterstäbe umklammerten. Seine grauen Augen hatten sich verdunkelt, die Lippen zuckten, und Dan begriff plötzlich, daß Jacahiro für den Bretonen mehr gewesen war als ein Werkzeug, das man benutzt und wegwirft. »Friede seiner Seele«, murmelte Jean Morro fast tonlos. Es War das letzte, was er in den nächsten Stunden sagte. Und auch die anderen waren nicht wild auf eine Unterhaltung. Das unheimliche Schweigen schien wie ein Tonnengewicht auf ihnen zu lasten und sie langsam zu erdrücken. * Fünf gefangene Maya-Krieger standen mit gefesselten Händen im grünen Schatten des Urwalds. Sie standen aufrecht, mit stolz erhobenen Köpfen. Nur ihre Augen verrieten die Furcht, die sie vor dem rothaarigen Riesen empfanden, der sich vor ihnen aufgebaut hatte. Ferris Tucker hatte den Gefangenen mit seiner Axt vor der Nase herumgefuchtelt und sie nacheinander auf Englisch und Spanisch angesprochen, beide Male vergeblich, und jetzt versuchte er es mit furchterregenden Bli-
cken. Der Wortführer der Maya antwortete in seiner Heimatsprache, obwohl – oder vielleicht gerade weil – er annehmen mußte, daß seine Gegner davon kein Wort verstehen konnten. Die Stimme des Kriegers klang dunkel, rauh und vibrierte vor Haß. Ohne jedes äußere Zeichen von Furcht schleuderte er den Seewölfen seine Verachtung entgegen – und er ahnte nicht, daß es unter den Männern jemanden gab, der ihn verstand, weil er die gleiche Sprache hatte, Yuka, der Maya, hatte sich sofort als Dolmetscher angeboten. Aber Hasard wollte nicht, daß der Mann bei seinem Volk künftig als Verräter galt. Außer Sichtweite der gefangenen Krieger hatte der Seewolf Yuka in den Schatten eines mächtigen Urwaldriesen geschoben. Der Maya konnte zuhören, ohne gesehen zu werden, und jetzt erwies sich, daß das durchaus reichte. Yukas Züge spannten sich. Seine dunklen Augen suchten Hasards Blick. »Er sagt, daß sie Männer gefangen und in die Stadt der Könige gebracht haben«, flüsterte der Maya. »Sechs Gefangene! Einen Abtrünnigen, vier weiße Männer und einen schwarzen Dämon.« Hasard biß die Zähne zusammen. Batuti, dachte er. Mit dem ›schwarzen Dämon‹ konnte nur der Gambia-Neger gemeint sein. Bei dem Abtrünnigen handelte es sich vermutlich um Jacahiro, den Maya, der zur Crew des Bretonen gehörte. »Und weiter?« fragte der Seewolf knapp.
Yukas Augen flackerten. Über seine stolzen, schönen Züge, die so wenig zu dem lächerlichen Strohhut paßten, senkte sich ein Ausdruck dunker Trauer. »Er sagt, daß die Maya uns besiegen werden, weil sie unter dem Schutz der Gefiederten Schlange stehen. Er sagt, daß alle weißen Männer noch heute auf dem Stein Quetzalcoatls geopfert werden, um die Götter gnädig zu stimmen.« Hasard zuckte zusammen. »Geopfert?« echote er flüsternd. »Auf die Art, wie du es uns erzählt hast?« »Ja«, sagte der Maya. Hasard schloß die Augen, und öffnete sie wieder. Der Gedanke an Dan und Batuti und an das fürchterliche Ritual, das ihnen Yuka geschildert hatte, schien sich wie ein glühender Nagel in sein Gehirn zu bohren., Er mußte sich zwingen, nüchtern und sachlich zu überlegen. »Stadt der Könige«, wiederholte er gepreßt. »Dort sollen die Männer gefangengehalten werden, sagst du?« Und als Yuka nickte: »Kennst du den Ort? Kannst du uns hinführen?« Wieder nickte der Maya. Sein Gesicht wirkte undurchdringlich. Hasard ahnte, daß es viel war, was er von dem Mann verlangte, daß er vielleicht kein Recht hatte, es zu verlangen, aber schwerer als alles andere wog für den Seewolf der Gedanke an das grausame Schicksal, das Dan und Batuti erwartete. Hasard überlegte einen Augenblick, dann traf er seine Entscheidung.
Er konnte die gefangenen Maya nicht laufenlassen, schon deshalb nicht, weil diese Männer ihnen ganz sicher auf den Fersen geblieben wäre, Und er wollte sich auch nicht mit den Piraten belasten, die ohnehin den Eindruck von Halbirren erweckten. Jacko, Pepe le Moco und der Burgunder wurden ebenfalls gefesselt. Hasard ließ sämtliche Gefangenen so aneinanderbinden, daß sie sich gegenseitig strangulieren würden, falls sie zu flüchten versuchten. Auf diese Weise genügten drei Männer, um die Piraten und die Maya-Krieger an Bord der ›Isabella‹ zu bringen. Hasard schickte Will Thorne, den Kutscher und Jeff Bowie zurück – letzteren, weil sein scharfgeschliffener Haken so ungemein geeignet war, störrische Kerle zur Räson zu bringen. Auf den Versuch, das Dickicht nach weiteren Überlebenden zu durchsuchen und vielleicht wenigstens Dan O'Flynn zu finden, verzichtete der Seewolf. Dan hielt sich ohnehin meist in der Nähe seines schwarzen Freundes auf. Batuti gehörte mit Sicherheit zu den Gefangenen. Und der Maya hatte gesagt, daß sämtliche Gefangenen noch heute als Opfer für die Götter sterben würden. Vierzehn Männer waren es, die sich wenig später unter Yukas Führung wieder in Marsch setzten. Sie hatten es eilig. Sie mußten es eilig haben, wenn sie Dan und Batuti retten wollten. Der Gedanke an das Schicksal, das den beiden drohte, ließ sie die Anstrengungen des Urwald-Marsches überhaupt nicht wahrnehmen.
9. Langsam und majestätisch schritt der Priester in seinem wallenden blutroten Gewand an der Reihe der Käfige vorbei. Zwei Dutzend anderer Männer folgten ihm, Priester zum Teil, ebenfalls rot gewandet, Würdenträger in verschiedenfarbigen Roben, stämmige halbnackte Krieger, die ebenfalls eine besondere Funktion haben mußten, da sie nicht mit den üblichen Speeren und Kampfbögen bewaffnet waren, sondern mit Ungetümen von Schwertern. Dan starrte in die Gesichter, suchte die Blicke der dunklen, mitleidlosen Augen. Für die Maya waren sie goldgierige, gewissenlose Frevler, die die Heiligtümer der Götter geschändet hatten. Im Grunde konnte es Dan diesen Burschen nicht einmal verdenken, daß sie jetzt dafür Rache nahmen. Der Oberpriester blieb stehen. Noch einmal glitten seine Augen über die Gefangen. Dann hob er die Hand, und sein Finger wies auf den grauhaarigen Bretonen. Jean Morro biß die Zähne zusammen. Er wußte, daß er keine Chance hatte. Vielleicht hätte er versuchen können, dem Oberpriester die Waffe zu entreißen und an die Kehle zu setzen, aber die Priester waren
nicht bewaffnet. Achselzuckend stand der Bretone auf, als vor ihm die hölzerne Gittertür zurückschwang, und verließ sehr aufrecht den Käfig. Wieder hob der Priester die Hand. Und diesmal war es der blonde, blauäugige Dan O'Flynn, auf den sein Finger zeigte. »Mistkerl!« brüllte Batuti und rüttelte wild an dem Käfiggitter. »Verdammtes Bastard! Ich dich fressen auf mit Haut und Haaren, wenn du…« Niemand achtete auf ihn. Die Tür von Dans Käfig wurde geöffnet. Die Priester schienen zu erwarten, daß er sich wie ein Lamm zur Schlachtbank führen ließ. Aber Dan stemmte nur die Fäuste in die Hüften und bleckte die Zähne. »Holt mich doch, ihr Enkel eines verlausten Ziegenbocks!« fauchte er. »Ich bin doch nicht verrückt, ihr blutrünstigen Bastarde! Wenn ihr was von mir wollt, ihr Rübenscnweine, müßt ihr euch schon zu mir hereinbemühen.« Das taten sie auch, obwohl sie Dans Worte ganz sicher nicht verstanden hatten. Zwei von den Kerlen mit den riesigen Schwertern traten auf den Käfig zu – und in der nächsten Sekunde passierten eine Menge Dinge gleichzeitig. Batuti stieß einen urigen Schrei aus und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen das Gitter des Käfigs. Es gab einen scharfen Krach. Holz splitterte, der Käfig überschlug sich und war plötzlich Kleinholz. »Arwenack!« schrie Dan O'Flynn begeistert, schnellte
auf seine Gegner in der Käfigtür zu wie eine Katze – und jetzt endlich witterte auch der Bretone wieder eine Chance. Fünf Minuten lang ließen die drei Männer mitten in der alten Ruinenstadt im Urwald eine Hölle los, von der die Maya-Krieger vermutlich noch ihren Enkeln erzählen würden. In diesen fünf Minuten kriegte der Oberpriester die Trümmer des Holzkäfigs um die Ohren gehauen, verwandelten sich rote Gewänder in, Fetzen und gewannen die Krieger mit den Riesenschwertern die Erkenntnis, daß sie mit ihren Mordinstrumenten einen Schädel nur spalten konnten, wenn der Betroffene ihn hinhielt. Batuti gelang es, eins dieser Schwerter zu erobern. Mit beiden Händen schwang er es hoch über dem Kopf. Schreiend wichen die Priester zurück – und es wäre ihnen übel ergangen, wenn nicht einer der Maya-Krieger den schwarzen Herkules von hinten mit einem Stein gefällt hätte. Auch Dan O'Flynn und den Bretonen erwischte es schließlich. Batuti wurde mit zähen Lederriemen verschnürt und in einen der heilgebliebenen Käfige geworfen. Auch Dan und Jean Morro waren gefesselt; als sie aus der Bewußtlosigkeit erwachten. Sie fühlten sich beide lausig, aber immerhin hatten sie etwas Zeit gewonnen. Denn bevor die Maya-Priester endgültig zur Tat schreiten konnten, mußten sie erst mal ihre Schrammen verarzten und ihre Gewänder reparieren.
* Yuka blieb ruckartig stehen. Er hielt den Atem an und lauschte gespannt. Hasard warf ihm einen fragenden Blick zu, während hinter ihm auch der Rest der Kolonne stoppte. Der Seewolf hatte lediglich einen rauhen Vogelschrei gehört, der sich ein paarmal wiederholte, aber der Maya kannte den Urwald natürlich besser. »Das war kein Vögel«, sagte er nach ein paar Sekunden leise. »Und was dann?« fragte Hasard mit gerunzelter Stirn. »Krieger! Sie wissen, daß wir kommen. Sie warten.« »Um uns daran zu hindern, die Stadt zu erreichen«, sagte der Seewolf gedehnt. »Wir haben keine Chance, wenn wir es mit der Brechstange versuchen.« Er überlegte einen Moment, dann wandte er sich um und winkte Ferris Tucker und Ed Carberry zu sich. »Maya-Krieger?« fragte der rot haarige Schiffszimmermann hellsichtig. Hasard nickte. »Hört zu«, sagte er ruhig. »Ihr werdet diese Krieger hier ablenken. Liefert ihnen einen Kampf, aber erschreckt sie nicht gleich wieder so, daß sie die Flucht ergreifen! Meinetwegen könnt ihr euch ruhig ein bißchen zurückziehen und die Kerle glauben lassen, daß sie eine Chance haben, euch auch noch für Ihre Götter zu kassieren. Ihr sollt sie nicht besiegen, versteht ihr? Ihr müßt sie hier binden, sie hinhalten und ihnen das Gefühl geben, daß sie die Situa-
tion im Griff haben.« »Verstanden«, sagte Tucker gelassen. Und mit einem Seitenblick auf den Profos: »Also bezähm dich ein bißchen, Ed, klar? Am besten versteckst du dich, damit die Burschen nicht auf und davon laufen, wenn sie dein Gesicht sehen.« »Halt bloß die Klappe, du rothaariger Affe!« Carberry schob sein Rammkinn vor und kniff die Augen zusammen. »Und wer haut in der Zwischenzeit Dan und Batuti heraus?« , »Matt, Stenmark, Big Old Shane und ich. Und natürlich Yuka. Ohne ihn würden wir den Weg nicht fin den.« Der Maya nickte nur. Ed Carberrys zernarbtes Gesicht spiegelte deutlich die Enttäuschung, daß er bei dem Kommandounternehmen nicht dabeisein würde. Aber er wußte, daß sie jetzt keine Zeit für Diskussionen hatten. Und Hasard war der Meinung, daß Ed Carberry seine Talente hier nutzbringender entfalten konnte. Bei dem bevorstehenden Kampf mit den Maya-Kriegern war ein brüllender, tobender Profos überhaupt nicht zu ersetzen. Minuten später schlugen sich der Seewolf und sein kleiner Stoßtrupp unter Yukas Führung seitwärts in die Büsche. Die anderen marschierten weiter. Nach kaum einer Viertelstunde er reichten sie eine Lichtung im Urwald – und dort passierte es. Wie aus dem Boden gewachsen war plötzlich eine Übermacht von mindestens dreißig Maya-Kriegern da.
Sie griffen sofort an. Mit zehn Männern glaubten sie, leichtes Spiel zu haben. Und als sie ihren Irrtum einsahen, war bereits ein Kampf im Gange, bei dem Edwin Carberry, der eiserne Profos, endlich einmal wieder voll auf seine Kosten kam… * Yuka führte die vier Seewölfe auf Schleichwegen zu der Ruinenstadt im Urwald. Das Gelände stieg an. Sie erreichten einen langgestreckten Hügelrücken – und von dort aus konnten sie die gigantische Tempelpyramide und die uralten, teilweise wieder bewohnbar gemachten Gebäude sehen. Im nächsten Augenblick nahm sie wieder der Urwald auf, dessen grünes Dickicht alles verhüllte. Kein Wort fiel. Die Männer schlichen so lautlos wie möglich weiter und paßten sich den schlangenhaften Bewegungen des Maya an, der mit der Wildnis ringsum zu verschmelzen schien. Längst gab es keinen sichtbaren Pfad mehr. Die Männer schlugen sich quer durch das Dickicht, jede winzige Lücke nutzend – und dann, ganz unvermittelt, stießen sie fast gegen eine hochragende Mauer. Yuka wandte sich um. »Wächter!« flüsterte er. »Dort drüben bei dem Torbogen.« Hasard hatte den Torbogen noch nicht entdeckt, aber er
folgte der Richtung, die der Maya wies. Ein Dutzend lautloser Schritte, dann öffnete sich tatsächlich ein Durchlaß in der Mauer. Das Dickicht wich an dieser Stelle halbkreisförmig zurück. Zwei braunhäutige Krieger standen auf der Lichtung und stützten sich auf ihre Lanzen. Hasard nickte Matt Davies zu. Der Mann mit dem Eisenhaken grinste verwegen. Mit seiner verstauchten Linken konnte er immer noch nicht viel anfangen, und er war stolz darauf, daß ihn der Seewolf trotzdem für dieses heikle Unternehmen ausgewählt hatte. Der Grund war einfach. Wenn es hart auf hart ging, würde viel vom Überraschungseffekt abhängen, von dem Durcheinander unter den Gegnern. In dieser Hinsicht war so eine Armprothese höchst effektvoll. Der unerwartete Anblick des Hakens, der ›Stahlhand‹, hatte schon mehr als einmal Furcht und Schrecken unter Eingeborenen verbreitet. Und Hasard wußte, daß Matt Davies auch mit einer verstauchten Linken ein vollwertiger Kämpfer war – was er in diesen Sekunden schlagend bewies. Er hielt sich dicht neben dem Seewolf. Mit ein paar langen Sprüngen er reichten sie die beiden Wächter. Die Maya-Krieger spürten die Gefahr, hörten die winzigen Geräusche, aber als sie wie auf ein geheimes Kommando herumfuhren, war es bereits zu spät. Hasard hämmerte seinem Mann die Faust an die Schläfe. Matt Davies zog dem anderen Wächter kurz und trocken die gerundete Seite seines Hakens über den Kopf. Beide Maya brachen zusammen. Beide wurden sie auf-
gefangen und schnell und lautlos in die Büsche geschleift. Yuka, Stenmark und Big Old Shane tauchten bereits in den Schatten des Torbogens. Hasard und Matt Davies folgten ihnen. Der Torweg war tief, auch an seiner anderen Seite gab es Schatten. Bauwerke ragten auf: ein Gewirr von ineinander verschachtelten, teils zusammengebrochenen Häusern, deren schwere Steinquader den Urwald zurückdrängten. Eine Stadt im Urwald, dachte Hasard kopfschüttelnd. Eine uralte, verborgene Stadt, die von Macht und Größe des Maya-Volkes zeugte und von deren Existenz die Spanier vermutlich nichts ahnten. Die gepflasterten Straßen und Gassen waren menschenleer. Stille lag über der Stadt, eine drückende, gespenstische Stille, die sich wie ein Mantel auf die Männer senkte und in den dunklen, schwermütigen Augen des Maya etwas wie Furcht aufflackern ließ. »Sie sind alle auf dem Tempelplatz versammelt«, sagte er leise. »Das heißt, daß das Ritual beginnt, daß das Opfer bevorsteht.« »Und wo könnten die Gefangenen stecken?« fragte Hasard mit belegter Stimme. »In den Käfigen! Rasch! Wir müssen uns beeilen!« Yuka lief voran. Mit traumwandlerischer Sicher heit führte er die Seewölfe durch das Gewirr der ausgestorbenen Gassen. Sie näherten sich dem Zentrum der Stadt, dem gigantischen Tempelbauwerk, dessen Spitze im Licht der untergehenden Sonne rot glühte. Ein großer freier Platz öffnete sich
vor ihnen, der die riesige Pyramide umgab. Yuka wandte sich nach rechts, die Seewölfe folgten ihm, und Sekunden später blieben sie stehen wie vom Donner gerührt. Vor ihnen, auf einem langgestreckten, gemauerten Sockel, stand eine Reihe von zwölf stabilen hölzernen Käfigen. Einer davon bestand nur noch aus Trümmern. Die anderen, übermannshoch und völlig schmucklos, sahen so aus, als seien sie dafür bestimmt, große Raubtiere aufzunehmen, Jaguare zum Beispiel. Aber die Maya hatten keine Tiere hineingesperrt, sondern Menschen. Hasard atmete tief durch, als er die Gefangenen erkannte. Der einäugige Esmeraldo! Der Bursche, den die Piraten den ›anderen Burgunder‹ genannt hatten! Und Batuti! An Händen und Füßen gefesselt und zusätzlich mit dem Oberkörper an die Gitterstäbe gebunden. Batuti mußte es gewesen sein, der einen der Käfige zu Kleinholz verarbeitet hatte. Dem hünenhaften Neger war das zuzutrauen, und inzwischen mußten das, wie die Verschnürung bewies, wohl auch die Maya eingesehen haben. Hasard preßte die Lippen zusammen. Sein Blick flog zu dem Tempelbauwerk hinüber, zu der schweigenden Menschenmenge, die ihnen den Rücken wandte und irgend etwas auf der obersten Plattform der
Pyramide beobachtete, etwas, das die Seewölfe nicht genau erkennen konnten. Sie sahen nur Gestalten in blutroten Gewändern, Bewegung, der etwas eigentümlich Gemessenes, Feierliches anhaftete, und Hasard hatte das unheimliche Gefühl, daß sie keine Sekunde mehr verlieren durften. Mit zwei Schritten stand er vor den hölzernen Käfigen. »Keinen Laut!« zischte er. »Wer jetzt Lärm schlägt, dem drehe ich persönlich den Hals um! Yuka!« Batuti hatte sich mit einem Ruck aufgerichtet. Er öffnete den Mund – und schloß ihn wieder. Seine Augen rollten. Neben ihm kauerte der einäugige Esmeraldo in seinem Käfig, als sei er zu Stein erstarrt. Der ›andere Burgunder‹ schnappte nach Luft, schlotterte an allen Gliedern vor Schrecken, aber selbst er brachte es fertig, sich still zu verhalten und keinen Laut von sich zu geben, der die Maya hätte alarmieren können. Yuka hatte ohne ein weiteres Wort verstanden. Rasch lief er auf Batutis Käfig zu und untersuchte das Schloß. Es wirkte fremdartig und bestand aus seltsam geformten Stäben, aber Hasard hatte, mit einem Blick erkannt, daß es wie ein primitives Vorhängeschloß funktionierte. Yuka wandte sich um und vollführte eine resignierende Geste. »Ich kann es nicht öffnen. Man braucht einen Schlüssel!« »Moment mal!« Big Old Shane war es, der den Maya beiseite schob und dem Schloß einen kurzen, prüfenden Blick widmete. Seine riesigen Pranken packten zu, schlossen sich um
zwei der Metallstäbe, begannen zu zerren. Shanes mächtiger Brustkasten wölbte sich unter einem tiefen Atemzug; Seine Muskeln schwollen, die Schläfenadern traten wie Stränge hervor. Der frühere Schmied von Arwenack war ein Kerl, der schon wildgewordene Bullen mit einer Hand gezähmt hatte – und dem war auch das äußerst widerstandsfähige Schloß nicht gewachsen. Mit einem metallischen Schnappen gab es nach. Shane zerrte es aus der Öse, schob es in die Tasche und wandte sich sofort dem nächsten Käfig zu. Und der blonde Stenmark war es, der hastig die Tür öffnete und sein Messer zog, um Batuti von den Fesseln zu befreien. Shane hatte den zweiten Käfig geknackt, als der hünenhafte Gambia-Neger die Reste der zähen Lederriemen abschüttelte. Batutis Gesicht sah grau aus. Jetzt erst bemerkte Hasard, daß der schwarze Herkules verletzt war, übersät mit blutigen Kratzern, Prellungen und Platzwunden. Jeder andere Mann hätte sich in diesem Zustand vermutlich kaum noch auf den Beinen halten können. Aber Batuti schien alle diese Blessuren nicht wahrzunehmen. Er taumelte nur leicht, als er aus dem Käfig sprang, fing sich aber sofort wieder. Mit zwei Schritten stand er vor Hasard und packte ihn am Arm – auf eine Art, daß der Seewolf das Gefühl hatte, in einem Schraubstock festzusitzen. »Kleines Dan!« krächzte der schwarze Herkules. »Kleines Dan und Bretone oben auf Tempel. Maya wollen sie opfern, wollen ihnen Herz herausschneiden…«
Die Worte schienen wie Hammerschläge in die Stille zu fallen. Hasards Gesicht wurde fahlweiß. Big Old Shane fuhr herum, das wilde, bärtige Gesicht zu einer Maske verzerrt. Die Züge von Matt Davies und Stenmark versteinerten, und Yuka, der Maya, schloß für einen Moment die Augen. Nur der Bruchteil einer Sekunde verstrich, aber den Männern erschien er wie eine Ewigkeit. Erst die dünne, zitternde Stimme des ›anderen Burgunders‹ weckte sie aus der Erstarrung. »Bitte!« flüsterte der Mann. »Holt mich hier ,raus! Laßt mich nicht zurück! Bitte…« Hasards Zähne knirschten aufeinander. Er starrte Shane an, und seine Stimme klang wie brechender Stahl. »Hol ihn 'raus«, sagte er hart. »Wir brauchen jeden Mann! Wir werden kämpfen müssen.«
10. Dumpf und unheilvoll begannen die Trommeln zu dröhnen. Dan O'Flynn preßte die Lippen zusammen. Mit auf den Rücken gebundenen Händen stand er neben dem ebenfalls gefesselten Bretonen. Jean Morros Gesicht hatte sich verkantet, seine grauen Augen wirkten hart wie Felsgestein. Der Bretone hatte Mut. Er wußte, daß er verloren
war, und er würde wie ein Mann sterben. Dan wandte den Kopf und lächelte matt. Seit sie hier oben auf der Spitze der Tempelpyramide standen und den rituellen Vorbereitungen für die Opferung zusahen, hatte sich zwischen ihm und dem Piratenkapitän etwas wie ein Band stummen Einverständnisses gebildet. Das gemeinsame Schicksal schmiedete sie zusammen. Sie waren Feinde gewesen und hatten gegeneinander gekämpft, aber jetzt und hier spürten sie beide, daß sie im Grunde aus dem gleichen Holz geschnitzt waren. Aus einem harten Holz. Jenem Holz, aus dem Männer gemacht waren, die die tobende See nicht zerschlagen konnte und die noch dem Teufel trotzten. Und, seltsam genug, schienen das auch die Maya zu spüren, die weit davon entfernt waren, ihre Gefangenen quälen und demütigen zu wollen, sondern sie im Gegenteil mit sichtlicher Achtung behandelten. Weil sie würdige Opfer waren? Weil sie nicht schrien und jammerten, keine Furcht zeigten, sondern das Unvermeidliche mit Fassung trugen? Dan wußte es nicht, Im Grunde war es ihm auch gleichgültig. Er hatte mit seinem Leben abgeschlossen. Es würde kein schöner Tod sein, den er fand, kein Tod im Kampf, wie er ihn sich manchmal vorgestellt hatte, aber in diesen endlosen Minuten des Wartens wurde ihm klar, daß dies vielleicht eine letzte Bewährungsprobe war – größer, als irgendein Kampf auf Leben und Tod sie bieten konnte. »Meine Schuld«, sagte der Bretone neben ihm leise. »Es
tut mir leid, daß ich dich da hereingezogen habe, Dan O'Flynn.« »Unsinn, Jean Morro. Immer noch besser, als am Zipperlein zu sterben, oder?« »Am Zipperlein stirbt man nicht.« Der Bretone schwieg einen Moment, dann verzog sich sein Gesicht zum Zerrbild eines Grinsens. »Ich hoffe, dein schwarzer Freund wird es überleben. Ich nehme an, ihr habt mir die Pest an den Hals gewünscht, aber irgendwann hätten wir uns wohl noch zusammengerauft.« »Irgendwann? Der Seewolf, hatte euch schneller zu Fischfutter verarbeitet, als ihr hättet denken können. Und dich hatte er ganz bestimmt wieder auf der verdammten Insel ausgesetzt.« »Nicht an der Rahnock aufgeknüpft?« »Glaube ich nicht«, sagte Dan nach einem kurzen Schweigen, »wir sind keine Mörder. Und wir sind auch keine Piraten, falls das in deinen Kopf geht.« »Und was seid ihr dann?« »Freibeuter«, sagte Dan O'Flynn stolz. »Freibeuter mit einem Kaperbrief der Königin von England! Wir kämpfen für unser Land.« »Amen«, sagte Jean Morro. Und nach ein paar Sekunden: »Mein Vaterland hat mir das, leider nicht erlaubt. Und meinen Männern auch nicht! Die meisten von uns sind Hugenotten und in Frankreich wegen ihres Glaubens verfolgt worden. Aber auf der freien See fragt niemand danach, auf welche spezielle Art jemand zu seinem Herrgott betet. Auf See sind die Menschen gleich! Dein
schwarzer Freund genauso wie Jacahiro und wir alle.« »Du hättest Prediger werden sollen«, sagte Dan trocken. Der Bretone lächelte. Für einen Moment tanzten silbrige Funken in seinen grauen Augen. »Vielleicht«, sagte er sehr leise. »Du bist dran, glaube ich. Machs gut, Dan O'Flynn!« »Mach's gut, Jean Morro!« Dans Muskeln spannten sich. Er sah die beiden hünenhaften Maya-Krieger auf sich zutreten, und es kostete ihn Mühe, einen Moment der heißen, verzweifelten Schwäche zu überwinden. Das wilde Grinsen des Bretonen half ihm. Er schüttelte die Fäuste ab, die nach ihm greifen wollten, und trat mit stolz Erhobenem Kopf auf den Opferblock zu. Der schwarze Stein war noch ver färbt vom Blut Jacahiros. Dan starrte den, Priester an, der sich umgewandt hatte und das Opfer ansah. Ihre Blicke kreuzten sich. Die dunklen Augen! des Maya funkelten flüchtig auf. Ganz leicht neigte er den Kopf, und Dan wußte, dies war ein Zeichen des Respekts für den Mut des Opfers. Im nächsten Moment schien sich das Gefühl des Unwirklichen wie ein Schleier zwischen ihn und die Umgebung zu senken. Fäuste packten ihn, warfen ihn auf den Opferblock und hielten ihn fest. Dan spürte die Kälte des schwarzen Steins in seinem Rücken. Das Dröhnen der Trommeln schien sich in seinen Ohren zum Orkan zu verstärken. Trotzdem hörte er noch die Schritte des Priesters, die sich
gemessen näherten. Ein Schatten fiel über den Opferstein. Dan sah die hochaufgerichtete Gestalt in den wallenden Gewändern, deren blutiges Rot sich mit der karmesinfarbenen Glut des Sonnenuntergangs mischte. Die dunkle gutturale Stimme der Maya schien zu singen und wiederholte seltsam monoton immer dieselben unverständlichen Worte. Dann hob der Priester mit einer feierlichen Gebärde die Hand – und Dan sah das lange, gekrümmte Messer in seiner Rechten. Ein blutiges Messer! Dazu bestimmt, dem Opfer des schrecklichen Rituals bei lebendigem Leibe das Herz aus dem Körper zu schneiden. Der Priester rief etwas. Die Trommeln verstummten. Jäh fuhr das Messer nieder und Dan O'Flynn schloß die Augen und spannte sich mit jeder Faser, um diesen letzten schrecklichen Moment zu ertragen. Die Sekunden dehnten sich. Endlos. Dan hörte ein seltsames Geräusch, einen dünnen Knall, aber er war nicht fähig, ihn richtig einzuordnen. Jeder Nerv und jede Faser seines Körpers war vorbereitet auf den letzten, entscheidenden Augenblick. Zwei Ewigkeiten vergingen. Sehr fern hörte Dan einen vielstimmigen Aufschrei – und da erst öffnete er wieder die Augen. Der Priester! Hoch aufgerichtet stand er da, das blutige Messer in der Rechten. Aber das Messer raste nicht nieder. Der Priester schwankte, einen ungläubigen, fast törichten Ausdruck in
den Augen. Sein Gesicht verzerrte sich – und jetzt erkannte Dan das kleine schwarze Loch genau auf der Stirn seines Gegners. Der Priester fiel. »O'Flynn!« brüllte der Bretone mit sich überschlagender Stimme. Dan begriff überhaupt nichts, aber das hinderte ihn nicht daran, auf dem Opferstein hochzuschnellen und dem nächstbesten Maya mit voller Wucht den Kopf in den Magen zu rammen. * Blitzartig ließ Philip Hasard Killigrew die zweischüssige sächsische Reiterpistole im Gürtel verschwinden. Er sah den Oberpriester der Maya fallen. In letzter Sekunde hatte er dem Kerl eine Kugel in den Kopf geschossen, bevor er Dan O'Flynn das Messer ins Herz stoßen konnte. Wie ein Tornado jagte der Seewolf die endlose Treppe hinauf, und hinter ihm stürmten Stenmark, Matt Davis, Big Old Shane und die beiden Piraten, die sich wider Erwarten doch noch ermannt hatten, für ihren bretonischen Kapitän zu kämpfen. Auch Yuka stürmte mit. Es war ihm gleich; ob seine Lands leute ihn erkannten und in Zukunft als Abtrünnigen behandeln würden. Er hatte sich entschieden und sich auf die Seite der Seewölfe gestellt. Im Augenblick hatte Hasard andere Sorgen, als
über die Zukunft des Maya zu grübeln. Oben auf der Spitze der Pyramide schnellste Dan O'Flynn wie ein Kastenteufel von dem Opferstein hoch. Der Bretone reagierte gleichzeitig. Seine Hände waren gefesselt, aber das konnte ihn nicht sonderlich beeindrucken. Er hatte die Füße frei. Zweimal trat er blitzartig zu. Zweimal wirbelten Maya-Priester in wallendem roten Roben durch die Luft – und dann bewies Jean Morro, daß er in der Tat ein ausgekochter, von allen Hunden gehetzter, mit allen Salzwassern der sieben Meere gewaschener Pirat war. Wahrscheinlich war es nur natürlich, daß er die Situation um eine Kleinigkeit schneller erfaßte als Dan O'Flynn. Der Bretone handelte. Und Hasard registrierte, daß er zu mindest in diesen Sekunden durchaus nicht egoistisch handelte. Mit einem Panthersatz warf er sich gegen Dan O'Flynn. Beide Männer verloren das Gleichgewicht, stürzten und rollten die endlose Treppe hinunter. Sie rollten auf die Seewölfe zu – und genau das war das einzig Vernünftige, was sie in ihrer Situation noch tun konnten. Dan O'Flynn kollerte Hasard direkt vor die Füße. Der Seewolf hielt den Degen in der Faust. »Still!« zischte er. In einem Befehlston, gegen den es schon von jeher keinen Widerspruch gegeben hatte. Dan erstarrte und rührte sich nicht mehr. Hasard hatte Gelegenheit, blitzschnell seine Fesseln mit dem Degen zu zerschneiden. Gleichzeitig fing Matt Davies den stürzenden Jean
Morro mit seinem Haken auf, und Stenmark stürzte sich mit dem Messer über die Fesseln des Bretonen. Die Gefangenen waren frei, noch bevor die Maya-Krieger überhaupt begriffen hatten, was da passierte. Woher der Wind wehte, brauchte Dan und Jean Morro niemand zu erzählen. Der blonde O'Flynn raste die endlosen Treppenstufen abwärts wie ein Teufel. Der Bretone brachte es noch fertig, dem ›anderen Burgunder‹ im Vorüberlaufen krachend die Faust auf die Schulter zu schlagen. Denn der ›andere Burgunder‹ war über seinen Schatten gesprungen, genau wie der einäugige Esmeraldo, genau wie die Seewölfe, für die das im Gründe selbstverständlich war – und während der wahnwitzigen Flucht über die Stufen der Pyramide verzerrten sich die Gesichter der Männer zu einem unsinnigen, aber nicht wegzuleugnenden Ausdruck wilder Freude. Die Zuschauer am Fuß des Tempelbaus sahen ihnen entgegen. Nach Hasards Schätzung waren es an die zweihundert Maya-Krieger, die zu den Waffen griffen. Zweihundert gegen neun! Aber zweihundert Männer konnten sich rein technisch nicht gleichzeitig auf neun zu allem entschlossene Kämpfer werfen. Und Hasard, Yuka, die drei Piratert und die anderen Seewölfe waren durchgebrochen, bevor die Maya auch nur begriffen, daß sich da ein winziges Grüppchen gegen ihre starke Armee gestellt hatte. Etwa zwanzig braunhäutige Krieger versuchten, den Torweg zu verteidigen, der in den Urwald führte. Batuti stürmte voran.
Die Lanzen der Maya störten ihn nicht im mindesten. Er hatte drei Krieger bewußtlos geschlagen, bevor seine Kameraden überhaupt heran waren. Unmittelbar hinter ihm folgte Big Old Shane – und der schlug mit seiner Eisenstange dermaßen um sich, daß für den Seewolf und die anderen kaum noch etwas zu tun übrig blieb. »Kämpfend zog sich der kleine Trupp in den Urwald zurück. Yuka, der Maya, hatte immer noch die Führung. Er kannte die Wildnis. Und er verstand es, den strategischen Rückzug so zu leiten, daß Hasards Gruppe nach einer Viertelstunde auf den Rest der Crew stieß, der immer noch verbissen mit der Hauptstreitmacht der Maya kämpfte. Für Ed Carberry und die anderen war das das Zeichen, endlich den Hund von der Kette zu lassen. Bis jetzt hatten sie sich nach den Befehlen des Seewolfs gerichtet, sich zurückgehalten, den Angriff nur eben zurückgeschlagen und zeitweise sogar das Hasenpanier ergriffen, um die Maya-Krieger dazu zu bewegen, ihnen nachzusetzen. Jetzt brauchten sie das nicht mehr. Die Gefangenen waren befreit, Dan O'Flynn und Batuti erweckten den Eindruck, daß ihnen überhaupt nichts fehlte, es sei denn eine saftige Keilerei. Selbst der Bretone war da. Seine Männer entpuppten sich ebenfalls als überraschend kampfkräftig – und alles in allem hätte die Situation kaum besser sein können. »Arwenack!« brüllte Edwin Carberry mit voller Lungen-
kraft. »Arwenack!« schrie Dan O'Flynn begeistert. »Ar-we-nack!« tönte das donnernde Echo – und die Maya-Krieger, soweit sie nicht dumm waren, begriffen plötzlich, daß sie bei dem langen Kampf im Urwald regelrecht an der Nase herumgeführt worden waren. Die Seewölfe befanden sich in einem wahren Taumel der Erleichterung. Sie hatten Dan und Batuti wieder. Sie brauchten auf nichts und niemanden mehr Rücksicht zu nehmen, nicht einmal auf die Halunkenbande des Bretonen – und in dieser Situation brauchten sie nur wenige Minuten, um den Kampflatz leerzuräumen. Die Maya-Krieger zogen sich in wilder Flucht zurück. Zurück zogen sich auch die Seewölfe, aber genau in die Richtung, in die sie wollten. Die Nacht senkte sich über den Urwald von Chiapas, als sie die Bucht erreichten, in der ihre Schiffe ankerten. Jubel herrschte. Ein Jubel, den Philip Hasard Killigrew im Moment noch nicht wahrnahm. »Entscheide dich, Yuka«, sagte er sehr ruhig. »Wir verdanken dir unendlich viel. Wenn du willst, kannst du bei uns an Bord bleiben. Ich garantiere dir, daß du ein vollwertiges, gleichberechtigtes Mitglied unserer Mannschaft sein würdest. Und ich würde mich freuen, dich bei uns zu haben.« Der Maya lächelte. »Danke«, sagte er leise. »Ich weiß, daß du es ehrlich meinst, Seewolf. Aber ich gehöre zu meinem Volk. Und
du hast dafür gesorgt, daß mein Volk mich nicht als Verräter betrachten wird. Ich danke dir, Seewolf.« Ein paar Minuten später verschwand Yuka, der Maya, in der grünen Wildnis des Urwalds. Hasard, Ben Brighton, die Rote Korsarin, der Wikinger und Dan O'Flynn standen auf dem Achterkastell der ›Isabella‹. Und Jean Morro! Für den Bretonen ging es jetzt und hier um alles. Er hatte kein Schiff mehr. Wenn die Seewölfe ihn und seine Leute zurückließen, würde er am Ende doch noch den Maya in die Hände fallen. »Was hättest du an unserer Stelle mit uns getan?« fragte Philip Hasard Killigrew gedehnt. Jean Morro lächelte dünn. »Du weißt genau, daß ich euch zurückgelassen hätte und…« »Er hätte uns nicht zurückgelassen«, sagte Dan O'Flynn überzeugt. »Der Bretone ist in Ordnung, Hasard! Bitte, gib ihm die Karavelle.« Hasard wußte, daß er die Piraten einem furchtbaren Tod ausgeliefert hätte, wenn er sie zurückließ. Er stellte ihnen die ›Santa Monica‹ zur Verfügung – und Jean Morro und seine Crew waren froh, daß sie die Küste von Nueva Espana verlassen konnten. Die ›Isabella‹ und der schwarze Segler gingen auf Westkurs. Nichts hinderte sie mehr, ihrem fernen, geheimnisvollen Ziel entgegenzusegeln. Das große Abenteuer lag vor ihnen… ENDE
Nächste Woche erscheint SEEWÖLFE Band 119
Die ManilaGaleone von Roy Palmer Seit Jahren war sie eine Legende, diese Galeone, die einmal im Jahr mit Waren aus China quer über den Stillen Ozean nach Acapulco segelte und mit dem Gegenwert der Waren in Form von Gold und Silber nach China wieder zurückkehrte. Alle Schnapphähne zur See waren scharf auf die Galeone, aber nie wußte man, wann sie Acapulco verließ und welchen Kurs sie nahm. Wahrscheinlich gehörten die Dinge, die dieses Schiff betrafen, zu den bestgehütetsten Geheimnissen der Spanier – bis die Manila-Galeone den Kurs der Seewölfe kreuzte…