Ich brauche dich – heute Nacht
Marie Ferrarella
Tiffany Duo 047–01 01/92 Scanned & corrected by SPACY
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Ich brauche dich – heute Nacht
Marie Ferrarella
Tiffany Duo 047–01 01/92 Scanned & corrected by SPACY
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Wie kann ein Mann nur so hinreißend verführerisch und doch so kalt wie ein Eisberg sein! Das fragt sich die temperamentvolle Drehbuchautorin Annie, als sie den Schriftsteller Marcus kennenlernt, dem sie bei der Arbeit an einem Drehbuch helfen soll. Weiß dieser rätselhafte Mann, in dessen kobaltblaue Augen sich Annie spontan verliebt hat, überhaupt nicht, was Leidenschaft ist? Erst als die beiden bei einem Ausflug in ein Unwetter geraten und zusammen in einem Zimmer übernachten müssen, lernt annie den wahren Marcus kennen. Wie im Rausch erlebt sie mit ihm eine unvergeßliche Nacht der Ekstase. Doch Marcus hat Angst vor seinen Gefühlen. Aber der Liebe zu Annie kann er nicht entfliehen...
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1. KAPITEL „Weshalb kann ich das Drehbuch nicht selber schreiben? Schließlich stammt der Roman von mir." Diese Frage ging Marcus Sullivan nicht aus dem Kopf, während er ruhelos in seinem Wohnzimmer auf und ab lief. Zum erstenmal hatte er sie vor mehr als einem Monat bei einem Mittagessen mit seinem Literaturagenten gestellt. Sie, hatten über einen Film nach seinem Roman „The Treasured Few" gesprochen, der seit über einem halben Jahr auf der Bestsellerliste der „New York Times" stand. Aber Richard war unerbittlich geblieben. Er hatte die Fingerspitzen zusammengelegt, die Augenbrauen in die Höhe gezogen und seinen wichtigsten Autor eindringlich angesehen. „Mein lieber Marcus", hatte er erklärt. „Sie sind ein Romanschriftsteller. Für dieses Projekt benötigen wir jedoch einen Drehbuchautor. Und zwar einen sehr guten." Natürlich hat Richard recht, gab Marcus zähneknirschend zu. Aber der Roman war sein Lieblingswerk, und er wollte ihn niemand anderem überlassen, ganz gleich, wie gut er war. Außerdem lag ihm nichts am Film. Filme verführten die Zuschauer, und er, Marcus, war alles andere als ein Verführer. Richards Gesicht hatte sich unmerklich gerötet, als Marcus drohte, lieber auf das außerordentlich lukrative Honorar zu verzichten, mit dem Addison Taylor winkte. Addison hatte das beste Angebot von allen gemacht, und weder der Produzent noch Richard hatten mit dem Widerstand des Autors gerechnet. Nach langem guten Zureden hatte Richard endlich einen Kompromiß mit ihm ausgehandelt, und Marcus hatte sich bereit erklärt, dem Projekt wenigstens eine Chance zu geben. Dafür durfte er mit dem Drehbuchautor zusammenarbeiten. Nachdem er noch einmal gründlich über die Sache nachgedacht hatte, fragte Marcus sich jetzt, weshalb er sich auf die Sache eingelassen hatte, Eigentlich war es gar kein -4-
Kompromiß. Nein, in einem Augenblick der Schwäche hatte er auf der ganzen Linie nachgegeben. Und das war Richards Schuld. Diskret hatte der Agent ihn daran erinnert, daß er seinerzeit Marcus verborgenes Talent entdeckt hätte. Außerdem kenne er eine ausgezeichnete Drehbuchautorin, die er zufällig unter Vertrag habe. Am Ende hatte Marcus eingewilligt, und jetzt mußte er sehen, wie er mit den Folgen fertig wurde. Der Wind heulte um das Haus, und der Regen klatschte an die Scheiben. Die Drehbuchautorin verspätete sich bereits um eine Dreiviertelstunde, und Marcus konnte es nicht leiden, wenn man ihn warten ließ. Plötzlich sah er ein Buch unter dem Couchtisch liegen. Verärgert beugte er sich hinab und hob es auf. Er verabscheute Unordnung. Marcus betrachtete den farbenfrohen Band in seiner Hand. Es handelte sich um ein Bilderbuch, das vom vielen Umblättern ziemlich zerfleddert war. Ein Buch seines Patenkindes. Nein, Ken war nicht nur sein Patenkind, er war auch sein Mündel. Das war die juristische Bezeichnung für die beängstigende Tatsache, daß Marcus seit drei Wochen für ein anderes menschliches Wesen verantwortlich war, mit dem er absolut nichts anfangen konnte. Marcus legte das Buch ordentlich auf den Couchtisch und beschloß, es später in Kens Zimmer hinaufzubringen. Wo in aller Welt blieb diese Drehbuchautorin? Zusammenarbeit... Das war ein höchst vager Begriff. Gewiß hätte er sich die Grundlagen für das Schreiben eines Drehbuchs innerhalb kürzester Zeit aneignen können. Statt dessen erwartete Richard, daß er die Dame mit offenen Armen empfing und ihr erlaubte, ihren Namen neben seinen über die Arbeit zu setzen. Marcus liebte die Schriftstellerei. Sobald er an einem Buch schrieb,, spielten Zeit und Raum keine Rolle mehr, und er ging -5-
völlig in seiner Tätigkeit auf. Sie entschädigte ihn für die Einsamkeit seines Lebens. Manchmal verließ er sein Zimmer tagelang nicht und arbeitete wie ein Besessener, bis das Buch fertig war. Wie sollte er solch ein intimes Verhältnis zur Arbeit mit jemandem teilen? Marcus stieß einen Seufzer aus und fuhr sich ungeduldig mit der Hand durch das dichte schwarze Haar. Noch fünf Minuten wollte er der Drehbuchautorin geben, dann würde er die ganze Sache abblasen. Wenn die Dame nicht einmal am ersten Arbeitstag pünktlich erschien, konnte sie garantiert nicht unter Zeitdruck arbeiten. Und ihnen blieben nur genau sechs Wochen bis zum Drehbeginn, Sechs Wochen, um einen 489 Seiten starken Roman in ein Drehbuch für einen zweieinhalb Stunden langen Film zu verwandeln. Er bezweifeite, daß das möglich war. Weshalb warte ich eigentlich noch? fragte Marcus sich. Ich werde Richard sofort anrufen. Marcus war schon auf halbem Weg zum Telefon, da läutete die Glocke. Enttäuscht blickte er zur Tür und bedauerte, daß Holly, seine Haushälterin, nicht da war, um die Frau abzuwimmeln. Es läutete erneut. Also blieb ihm nichts übrig, als die Angelegenheit so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Entschlossen durchquerte er die Diele und riß die Haustür auf. Es war nicht gerade eine einladende Geste, aber das war ihm egal. Die Frau auf der Schwelle war von Kopf bis Fuß in ein riesiges königsblaues Cape gehüllt. „Hallo", sagte sie. „Ich bin Annie de Witt." Ihre fröhliche Stimme stand in krassem Gegensatz zu dem scheußlichen Wetter. „Sie kommen zu spät", verkündete Marcus. „Sind alle Drehbuchautoren so unpünktlich?" Annie wunderte sich nicht über seinen spöttischen Ton. -6-
Richard hatte sie vorgewarnt „Natürlich - wenn ein liegengebliebener Lastwagen ihnen den Weg versperrt." Marcus wußte selber nicht, wie er sich die Drehbuchautorin vorgestellt hatte. Sicher nicht wie die Frau, die jetzt vor ihm stand. Sie war höchstens einssechzig groß und hatte blondes Haar, das unter ihrer Kapuze hervorschaute. Klatschnaß klebte es an ihrer Stirn und hing über ihre Augen. Sie sah aus wie eine nasse Katze. Marcus versperrte ihr die Tür und machte keine Anstalten sich von der Stelle zu rühren. Annie stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte ihm über die Schulter. „Ein hübsches Wohnzimmer haben Sie. Darf ich es mir mal näher ansehen?" Er entdeckte ein winziges Grübchen auf ihrer rechten Wange, während sie lachte. Annie war so zart, daß sein Ärger langsam verflog. Sie ist noch ein halbes Kind, dachte er. Erwartete Richard, daß er mit jemandem zusammenarbeitete, der vermutlich einen Kaugummi beim Sprechen aufblies? Trotzdem trat er beiseite und ließ Annie herein. Der Mann sieht besser aus als auf dem Foto, das auf der Rückseite seiner Bücher abgebildet ist, dachte Annie und betrat das Haus. Außerdem ist er viel größer, mindestens einsfünfundachtzig. Ob seine aristokratischen Züge etwas weicher wurden, wenn er lächelte? Auf dem Foto wirkte er ebenso unnahbar wie jetzt. Nun, Richard hatte ihr ja gesagt, daß die Zusammenarbeit nicht einfach werden würde. Das machte die Aufgabe um so reizvoller. Annie schob ihre Kapuze zurück, so daß ihr dichtes blondes Haar sichtbar wurde. Die Spitzen berührten die Schultern, sogen die Feuchtigkeit auf und wurden dunkler. Schwungvoll zog Annie das Cape aus. Sie trug einen engen grauen Rock, der wenige Zentimeter über dem Knie endete, und eine weiche rosa Bluse, die Marcus ausgesprochen -7-
weiblich fand. Eine Kindfrau, überlegte er. Der würde er sein Buch gewiß nicht anvertrauen. Annie sah aus, als hätte sie nicht die geringste Ahnung vom Leben. Sie sah ihn mit ihren grünen Augen an, und für einen Moment war er verwirrt. Dann merkte er, daß sie ihm das Cape hinhielt. „Richard hat mich übrigens gewarnt, daß Sie schwierig sind", stellte sie nüchtern fest und hob das Cape höher. „Wo kann ich...? Mißmutig nahm er ihr das Kleidungsstück ab. „Ich bin nicht schwierig", erklärte er und hängte das Cape an den antiken Garderobenständer neben der Haustür. „Na, wunderbar. Dann werden wir ja gut miteinander auskommen. Das wage ich ernsthaft zu bezweifeln, dachte Marcus. Er drehte sich wieder zu Annie und wollte ihr sagen, weshalb die von Richard vorgeschlagene Partnerschaft nicht klappen konnte. Doch Annie war schon ins Wohnzimmer gegangen. Marcus folgte ihr, während sie durch den Raum schlenderte, sich neugierig umsah und hier und da etwas berührte. Es war eine ganz natürliche Geste. Aufmerksam betrachtete er die zierliche Gestalt. Annie könnte eher ein Babysitter für Ken sein anstatt eine Drehbuchautorin, überlegte er. Sie war entschieden zu jung, um so gut zu sein, wie Richard behauptete. Sein Agent hatte erzählt, sie wäre neunundzwanzig, aber das war kaum möglich. Wenn doch, war sie eine ausgesprochen junge Neunundzwanzigjährige. Er, Marcus, fühlte sich erheblich älter als einunddreißig. „Haben Sie das gelesen?" fragte Annie und zeigte lächelnd auf das Bilderbuch. „Es gehört meinem Patenkind", antwortete Marcus steif und wünschte, er hätte das Buch fortgeräumt. -8-
„Ein hübsches Buch", sagte sie. „Ich kenne es." „Das ist bestimmt genau der richtige Lesestoff für Sie." Marcus war tatsächlich so scharfzüngig, wie Richard behauptete. Trotzdem war Annie nicht gekränkt. Im Gegenteil, die Antwort gefiel ihr. Sanftmütige Menschen waren ihr zu langweilig. Vor dem Kamin blieb sie stehen und warf einen kurzen Blick auf die verglühenden Holzscheite. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf das Sims. In einer Ecke stand eine kleine Sammlung sorgfältig arrangierter Pokale. Die Inschrift auf dem nächst stehenden wies Marcus als Sieger bei einem Langlauf aus. Vorsichtig fuhr sie mit dem Finger über den Sockel. Die Spitze wurde schwarz. „Sie wischen wohl nicht oft Staub? Verblüfft sah Marcus sie an. „Danke für die Bemerkung." Das hätte ich nicht sagen dürfen, dachte Annie und biß sich auf die Zungenspitze. Manchmal war sie wirklich zu unbedacht. Aber auf diese Weise hatte sie erfahren, was sie wissen wollte. Marcus war eine Herausforderung für sie. Doch ihr sollte es recht sein. Sie kam in Höchstform, wenn sie gefordert wurde. Jeder Auftrag war ein Abenteuer, das man genießen mußte wie das Leben selbst. Diese Begeisterung hatte sie von ihrem Vater geerbt und der sie von seinem. Anne Kathleen de Witt war eine Drehbuchautorin der dritten Generation und hatte schon eindrucksvolle Erfolge aufzuweisen. War es Argwohn, was sie in Marcus' Augen bemerkte, oder bedeutete dieser Blick etwas anderes? Es war schwer zu sagen. Seine Augen lenkten zu stark davon ab. Sie waren von einem tiefen Kobaltblau und schienen irgendeinen Schmerz zu verbergen. Schön im üblichen Sinne ist Marcus nicht, stellte Annie fest. Aber er besitzt eine ungeheure Ausstrahlung. Die Zusammenarbeit mit ihm würde Spaß machen, das spürte sie. Es würde nicht einfach werden, doch mit der -9-
entsprechenden Hartnäckigkeit würde ihr ein Drehbuch gelingen, das noch besser war als der Roman. Und gleichzeitig würde sie einen faszinierenden Mann näher kennenlernen. Gelassen setzte Annie ihren Rundgang fort und blieb am Fenster stehen. Draußen tobte noch immer der Sturm. Langsam ließ sie die Vorhänge zwischen Daumen und Zeigefinger gleiten, drehte sich herum und sah Marcus über die Schulter lächelnd an. Was in aller Welt hat sie vor?, dachte er ungeduldig. Will sie ein Inventar des Zimmers aufnehmen? „Ich habe noch nie mit jemandem zusammengearbeitet", begann Marcus das Gespräch. Er würde Annie wieder nach Hause schicken. Nachdem er sie kennengelernt hatte, wußte er, daß sein erstes Gefühl richtig gewesen war: Es würde, nicht klappen. „Das hat Richard mir gesagt." Sie ließ die Vorhänge fallen und wandte sich um. „Es ist ein bißchen wie in einer Ehe: Man muß sich große, Mühe geben." Sie hielt die Hand über eine Vase, die er als einziges Stück von Zuhause mitgenommen hatte, als er die Ostküste und die kühle Atmosphäre seines Elternhauses für immer verließ. Vorsichtshalber stellte er sich schützend davor. „Müssen Sie alles anfassen?" Annie errötete ein wenig und ließ die Hand sinken. Sie hatte gar nicht gemerkt, was sie tat. Es mußte instinktiv geschehen sein. „Entschuldigen Sie bitte. Wahrscheinlich hilft es." ` „Wobei hilft es?" Wie sollte er mit einer Frau zusammenarbeiten, die nicht einmal vollständige Sätze sprach? „Es hilft mir, Sie richtig kennenzulernen. Wieder tauchte das Grübchen auf. Selbst, mit dem von Wind und Regen zerzausten Haar sah Annie entzückend aus, das mußte Marcus zugeben. Doch hübsch oder nicht, er würde ihr sein Buch nicht anvertrauen. Dann wurde sein Roman eben - 10 -
nicht verfilmt. Es gab größere Tragödien. Plötzlich bemerkte Marcus den Goldreif an ihrem Finger. „Sind Sie verheiratet?" Ohne zu überlegen, sprach er die Frage aus. „Nein, das ist der Ring meiner Mutter. Ich trage ihn aus sentimentalen Gründen. Ich war nie verheiratet." Annie beglückwünschte sich selber, daß ihre Antwort so nüchtern klang. Einen Moment schloß sie die Augen, um die Erinnerungen zu verdrängen. Marcus konnte sich denken, weshalb sie nie geheiratet hatte. „Ich nehme an, Sie haben niemanden gefunden, der es längere Zeit mit, Ihnen aushielt." Sein Spott reizte sie und half ihr über den Schmerz hinweg. Bellende Hunde beißen nicht, dachte sie. „Nein, ich habe den Traumprinzen noch nicht gefunden, von dem die Filme der vierziger Jahre erzählen", erklärte sie keck und bat Charlie stumm um Vergebung. Diesen Herbst war es zwei Jahre her. Absichtlich drehte sie sich zu einem Gemälde an der Wand. Es stellte eine einsame Seelandschaft dar, und einen Moment fühlte sie sich genauso. „Und James Stewart ist etwas zu alt für mich", fügte sie hinzu. Da hat James Stewart aber Glück gehabt, dachte Marcus und merkte, daß Annie sich mit den Büchern beschäftigen wollte, die sich auf dem Regal an der Zimmerwand befanden. Jetzt reichte es ihm. „Setzen Sie sich jemals hin?" fragte er verärgert. Annie drehte sich herum und sah ihn schelmisch an. „Gelegentlich schon." Seine Geduld war fast zu Ende. „Wäre es zuviel verlangt, wenn ich Sie bitten würde, diese Gelegenheit möglichst bald zu ergreifen?" Annie schob das Buch, das sie gerade betrachtet hatte, in das Regal zurück. Die Bände sahen aus, als würden sie kaum - 11 -
angerührt. Las Marcus die Bücher tatsächlich, oder war das Regal reine Dekoration? „Ich mache Sie nervös, nicht wahr?" fragte sie. Wieder lächelte sie breit. Ihr Mund ist zu groß und merkwürdigerweise trotzdem attraktiv, überlegte Marcus. Ob sie ihn je ganz schloß? Wahrscheinlich wußte sie nicht einmal, wie man das tat. „Darf ich offen sein?" fragte er. „Natürlich", antwortete sie sofort. „Sie haben recht. Sie machen mich nervös." „Tut mir leid, das wollte ich nicht." Anne setzte sich auf die makellos weiße Couch. Hatte Marcus nie Gäste? Besonders einladend war das Zimmer nicht, erst recht nicht für kleine Jungen. War er etwa so einsam, wie die Seelandschaft andeutete? Die Couch war viel zu tief. Wenn sie sich anlehnte, reichten ihre Füße nicht auf den Boden. Entschlossen streifte Anne die Schuhe ab und schlug die Beine unter. „Ich hoffe, Sie haben nichts gegen Füße", erklärte sie. „Nur wenn sie auf mir herumtrampeln", erwiderte Marcus schlagfertig. Ihre Miene wurde ernst, und er merkte, daß sie doch älter war als ein Teenager. „Marc... " begann sie. „Marcus" verbesserte er sie, setzte sich ebenfalls und ließ einen großen Abstand zwischen Annie und sich. „Nein", erwiderte sie und schüttelte entschlossen. den Kopf. „Der Name Marcus macht Sie noch spießiger." Ihm gefiel nicht, daß sie ihn so einordnete. „Ich nehme an, ich soll Sie Annie nennen?" Sie lachte. „Es sei denn, Sie ziehen Witty vor." „Wie bitte?" „Einige meiner Freunde nennen mich Witty." „Na, so witzig sind Sie nun auch wieder nicht." - 12 -
„Es ist eine Abwandlung meines Nachnamens", erklärte sie trocken. Marcus holte tief Luft, um das Gespräch hinter sich zu bringen, bevor Annie noch mehr reden konnte. „Ich glaube, ich muß ein Mißverständnis aufklären begann er. Sie legte den Kopf auf die Seite und sah ihn nachdenklich an. „Wieso?" „Ich habe beschlossen, das Drehbuch nicht zu schreiben." Das paßte überhaupt nicht zu dem Mann,: den Richard ihr beschrieben hatte. „Heißt das, Sie überlassen das ganze Projekt mir?" Marcus stand auf. „Ich überlasse das Projekt niemandem, sondern ziehe meine Zustimmung zurück." Das war schon eher Richards Mann. Annie schwieg einen Moment. „Haben Sie Angst?" Er bemerkte den Schalk in ihrem Blick. „Angst wovor?" fragte er. „Daß jemand außer Ihnen einen tieferen Einblick in die Charaktere bekommen könnte." Als er die Stirn runzelte, fügte sie fröhlich hinzu: „Übrigens gefällt mir Ihr Buch." „Danke." Seine Stimme klang eiskalt. „Und ich würde die Charaktere gern auf die Leinwand bringen. Dafür habe ich schon eine Menge Ideen." „Darauf wette ich." Marcus stand hoch über ihr. „Das ändert jedoch nichts an der Tatsache..." Annie ließ sich nicht beirren. Sie setzte sich auf und nahm ein besticktes Kissen in den Arm. „Wissen Sie, ich kann wirklich etwas." „Nein, das weiß ich nicht." Der Kerl ist ein harter Brocken, überlegte Annie. Aber Herausforderungen machten das Leben interessant, und sie .war entschlossen, diese anzunehmen. „Von mir stammt zum - 13 -
Beispiel das Drehbuch zu ,Verwahrloste Kinder`." Sie legte das Kissen wieder hin. „Habe ich nicht gesehen." „Kennen Sie ,Allison am Morgen`?" „Nein." „Oder ,Tränen einer Nation'?" „Auch nicht." Annie zog ihre Schuhe wieder an und merkte, daß Marcus sie dabei beobachtete. „Und wie ist es mit ‚Casablanca'?" Er sah sie vorwurfsvoll an. „Das. Drehbuch stammt nicht von Ihnen." „Nein", gab Annie vergnügt zu. „ich wollte nur wissen, ob Sie überhaupt ins Kino gehen." „Nicht oft." Marcus schob die Hände in die Taschen und verwünschte Richard in Gedanken, der ihn in diese Situation gebracht hatte. Instinktiv ging er ein paar Schritte beiseite, denn. sein Selbsterhaltungstrieb meldete sich.,„Ich beobachte lieber Menschen." „Ausgezeichnet. " Annie stand auf und folgte ihm. „Ich lasse Sie bei der Arbeit zuschauen." Konnte die Frau nicht bleiben, wo sie war? Sie beleidigte seinen Ordnungssinn schon durch ihre. Anwesenheit. Wie sollten sie da zusammenarbeiten? „So war es nicht ge..." begann er, aber Annie ließ ihn nicht ausreden. „Nein, wahrscheinlich, nicht", antwortete sie und erriet seine Gedanken. „Aber es könnte ein guter Anfang sein." Marcus fragte sich, ob. er je gegen dieses rasche Mundwerk ankäme. „Und was wäre ein guter Schluß?" Sie lächelte schelmisch. „Der Abspann des Films." Er fühlte sich langsam in die Enge getrieben. „Sie sind entschlossen, das Drehbuch zu schreiben, nicht wahr?" „Hm.“ „Und weshalb?" „Ich mag Sie, Marc Sullivan." - 14 -
Seine Augen wurden schmal. „Sie kennen mich ja nicht einmal." Wieder legte sie den Kopf auf die Seite und wirkte plötzlich gleichzeitig verletzlich und zuversichtlich. „Sie werden es nicht glauben, ich habe Ihr Buch gelesen", erklärte sie und zwinkerte ihm geheimnisvoll zu. „Ich kenne alle Ihre. Bücher." „Dann kann ich ja als glücklicher Mann sterben." Marcus machte eine kurze Pause. „Und?“ Vermutlich kam jetzt eine Lobeshymne, um ihn milder zu stimmen. Er irrte sich. „Ich glaube, Sie müßten die. Empfindungen und die Gefühle, die Sie in Ihren Büchern ausdrücken, einmal selber erleben." „Wie bitte?" stieß Marcus hervor, bevor er es verhindern konnte. Die Verärgerung war ihm deutlich anzuhören. „Wut wäre kein schlechter Anfang", fuhr Annie fort. Es kümmerte sie nicht, daß sie selber der Grund für seine Verärgerung war. „Mit etwas Glück zieht sie weitere Gefühle nach sich." Mit Worten konnte Annie umgehen, das mußte Marcus ihr lassen. Aber das reichte nicht, um ihn umzustimmen. „Unsere Zusammenarbeit würde höchstens Schwierigkeiten nach sich ziehen", stellte er fest. Sie mußte lächeln. „Das könnte auch interessant sein." Marcus merkte, daß er zu schwanken begann. Annie beunruhigte ihn auf seltsame Weise. Was hatte er zu verlieren außer etwas Zeit? Vielleicht sollte er... Nein, mit dieser Frau ein Drehbuch anzufertigen war unmöglich. ,Andererseits ... „Einverstanden` hörte er sich sagen. „Ich gebe Ihnen eine Woche Zeit." „Für den Anfang." Annie ergriff seine Hand und schüttelte sie. „Oder um Schluß zu machen", entgegnete er. - 15 -
„Wir werden ja sehen." Sie strahlte Marcus an, aber diesmal störte es ihn nicht.` Zu seiner Verblüffung merkte er, daß ihm ganz warm wurde. Eine innere Stimme warnte ihn, daß ihm die Sache über den Kopf wachsen könnte. Eine zweite flüsterte ihm zu, daß er sich um eine einzigartige Erfahrung brächte, wenn er diese Chance ausschlug. Und Neugier war eine wichtige Voraussetzung für die erfolgreiche Arbeit eines Schriftstellers. Trotzdem hatte Marcus den deutlichen Verdacht, daß er soeben einen Sturm in sein Haus gelassen hatte. „Da ist übrigens noch eine Kleinigkeit, Marc." Er hatte es ja gewußt. Marcus ließ Anies Hand los und sah sie eindringlich an. Gegen eine intelligente, konstruktive Kritik von Leuten, deren Meinung er achtete, hatte er nichts einzuwenden. Doch Annie gehörte nicht dazu. „Ja?" Annie spürte, daß dieser Mann nichts auf leere Komplimente gab. Und das war gut so, denn Schmeicheleien lagen ihr; nicht. „Sie könnten etwas mehr Humor gebrauchen." Marcus hatte wahre Horrorgeschichten von Schriftstellern gehört, deren Romane für die Leinwand umgearbeitet worden waren. Mit seinem Buch würde das nicht passieren. „Eines möchte ich von vornherein klarstellen, Miss de Witt..." Er überragte sie um gute fünfundzwanzig Zentimeter und blickte drohend auf sie hinab. Doch wenn er angenommen hatte, er könne Annie damit einschüchtern, irrte er sich gewaltig. Sie schüttelte den Kopf. „Wir kommen nicht weiter, wenn Sie mich ständig wie eine ältere Bibliothekarin aus einem viktorianischen Roman behandeln." Langsam reichte es Marcus. Wenn er Annie mit dem Vornamen anredete, bedeutete dies eine Vertraulichkeit, die er keinesfalls fördern wollte. Sie sagte ihm jetzt schon viel zu freimütig, was sie dachte. Er mußte unbedingt einen - 16 -
professionellen Abstand zwischen der Frau und sich wahren. Doch um weitere Diskussionen und Abschweifungen zu vermeiden, gab er nach. Zumindest fürs erste. „Also gut, Annie. Ich..." „Das ist schon besser", unterbrach sie ihn. Marcus bezweifelte dies. Es wurde höchstens noch schlimmer. Annie gehörte zu jenen Menschen, die die ganze Hand nahmen, wenn man ihnen den kleinen Finger reichte. Dessen war er gewiß. „Besser wäre es, wenn ich jetzt in meinem Arbeitszimmer sitzen und an einem neuen Buch arbeiten würde", antwortete er so kühl und würdevoll wie möglich. Daß seine Kreativität im Augenblick stark zu wünschen übrig ließ, ging sie nichts an. Annie ließ sich nicht beirren. „Das werden Sie gewiß nachholen, sobald Sie das Drehbuch vom Tisch haben", versicherte sie und schlenderte zur Couch. Unbewußt hatte sie genau die richtigen Worte gewählt. Wenn er schon nicht aus dem Vertrag herauskam, wollte Marcus das Drehbuch so bald wie möglich vom Tisch haben. Außerdem hatte er zur Zeit andere Sorgen, und mit denen kam er ebenfalls nicht weiter, wenn Annie sich ständig in seine Gedanken drängte. „Betrachten Sie das Ganze doch einmal von einer anderen Warte. Die Arbeit am Drehbuch könnte ungeahnte Fähigkeiten in Ihnen wecken", fuhr Annie fort. Langsam schob sie das Bilderbuch, das immer noch korrekt ausgerichtet auf dem. Couchtisch lag, mit der Fingerspitze zur Seite. „Es ist ein völlig neues Gebiet für Sie. Vielleicht macht es Ihnen sogar Spaß.' „Spaß..." Marcus schob Kens Buch wieder in die ursprüngliche Lage. Keinesfalls durfte Annie noch mehr Boden gewinnen. „So lustig, wie wenn man in einem Bierfaß die Niagarafälle durchquert, vermute ich." Aufmerksam sah er sie an. Annie wollte das Buch wieder verschieben, unterließ es - 17 -
aber. Sie durfte Marcus nicht ärgern, nur um ihn auf die Probe zu stellen. Außerdem wußte sie längst Bescheid. Er wehrte sich gegen jede Veränderung. „Wenn Ihnen so etwas Spaß macht, ja." Marcus hob die Hand, um das Thema abzuschließen. Er hatte etwas sagen wollen. Aber was? Annie redete so viel, daß ihm der Kopf schwirrte. Dann fiel es ihm wieder ein. „Ich werde nicht zulassen, daß Sie meine Dialoge oder Teile meines Buches verfälschen." „Ich werde sie auf keinen Fall verfälschen, Marc." Annie setzte sich erneut und sah ihn mit unschuldiger Miene an. „Ich werde sie richtig mischen." Den Teufel würde sie tun. Entschlossen setzte sich Marcus neben Annie und versuchte, die Zügel wieder in die Hand zu bekommen. Bisher hatte er bei allen Gesprächen die Oberhand behalten. Nur weil Annie schneller redete, als er denken konnte, brauchte das jetzt nicht anders zu sein. „Ich glaube, wir müssen einige Grundregeln aufstellen", schlug er vor. Dagegen war nichts einzuwenden. „Die täten jeder Partnerschaft gut." Bei Annies Worten rann Marcus ein ahnungsvoller Schauer den Rücken hinab. „In unserem Fall handelt es sich um keine Partnerschaft, sondern um eine zeitlich begrenzte..." Er stand auf und hob beide Hände. „Gemeinheit." Ein anderes Wort fiel ihm nicht ein. Annie stand ebenfalls auf und glättete ihren Rock. Sie hat tolle Beine, fiel Marcus zu seiner eigenen Überraschung auf. „Marc", sagte sie ruhig, „wir kommen nicht weiter, wenn Sie Ihre schlechte Laune an mir auslassen." „Das tue ich gar nicht.“ Doch, überlegte er, Annie hat recht. Was machte diese Frau mit ihm? Er war ein besonnener, ruhiger Mensch, der normalerweise nicht einmal die Stimme hob. - 18 -
„Dann ist es ja gut. Also, wie lauten die Grundregeln, die Sie, aufstellen möchten?" „Ich will nur..." Ach, was sollte es. Annie würde ihm jedes Wort im Mund umdrehen, und er war plötzlich furchtbar müde. Er brauchte etwas Zeit und Abstand, um mit der Situation fertig zu werden. „Wir werden sie während der Arbeit festlegen." „Wunderbar", stimmte sie ihm zu. Am liebsten hätte er ihren schlanken Hals umgedreht. „Wollen Sie gleich anfangen?" fragte Annie und öffnete den Reißverschluß der großen Aktentasche, die sie mitgebracht hatte.
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2. KAPITEL Ich könnte erst einmal einen doppelten Whiskey gebrauchen, dachte Marcus. Annie hatte ihn restlos überrumpelt. Zwar war er auf Schwierigkeiten in der Zusammenarbeit mit einem anderen Schriftsteller gefaßt gewesen, aber er hatte einen normalen Menschen erwartet. Auf eine Frau, die unablässig redete und neben der ein Auktionator wie ein Schlaftrunkener wirken mußte, war er nicht vorbereitet. „Nein, wir beginnen erst morgen beschloß er, obwohl ihnen nicht viel Zeit zur Verfügung stand. Annie runzelte die Stirn und blickte, auf ihre Notizen. Sie hatte Marcus' Buch dreimal gelesen und wollte sich sofort an die Arbeit machen. „Auf diese Weise verlieren wir einen vollen Tag." „Mag sein", stimmte er ihr zu. „Aber es wird meinem Blutdruck guttun." Annie steckte ihre Notizen wieder ein und zog den Reißverschluß halb zu. „Ist er zu hoch?" fragte sie besorgt. Marcus überhörte ihre Besorgnis. Weshalb sollte Annie sich seinetwegen Sorgen machen? Sie waren sich völlig fremd. „Bisher noch nicht.“ „Ach so." Lachend schloß sie die Aktentasche. „Sie werden schon wieder dramatisch. Einen Moment hatte ich richtig Angst." Marcus wollte gerade zur Garderobe gehen. Verblüfft blieb er stehen. „Was heißt ,schon wieder'?" Achtlos ließ Annie die Aktentasche auf das Sofa fallen. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und legte ihm die Hände auf die Schultern. Das war eine sehr persönliche, freundschaftliche Geste, die seiner Meinung nach alten Freunden vorbehalten bleiben sollte. Schelmisch betrachtete sie ihn. „Mein lieber Marc, Sie neigen ein wenig zur Übertreibung." - 20 -
Vorsichtig löste Marcus ihre Hände. Die Berührung war ihm längst nicht so unangenehm, wie er angenommen hatte. Ihm war, als hätten ihre Finger seine Kleidung durchdrungen und lägen auf seiner nackten Haut. Annie glich einem fremden Wesen, das sich langsam, aber sicher in sein ganzes Leben mischte. Nein, schalt Marcus stumm, so übernatürlich ist sie nicht. Sie ähnelt eher einem Bazillus. Dieser Vergleich gefiel ihm schon besser. Einen Bazillus konnte man mit zahlreichen Mitteln bekämpfen. „Ich glaube, in diesem Fall hatte ich gute Gründe dafür", sagte er. „Normalerweise bin ich ein umgänglicher Mann." Geschickt drehte sie die Hände, so daß sie nun seine hielt. „Ich würde sagen, Sie sind ein sehr verkrampfter Mann." Marcus blickte auf seine Hände. Wie hatte Annie das schon wieder geschafft? War es ein Vorzeichen dafür, was ihn erwartete? Würde sie sein Inneres nach außen wenden? „Und ich würde sagen..." Marcus schwieg, denn ein Schlüssel drehte sich: im Schloß, und jemand sagte etwas. Annie konnte nicht erkennen, ob es ein Mann war oder eine Frau. Fragend sah sie Marcus an. „Wohnt hier noch jemand?" Entschlossen machte er sich los. „Ja." In diesem Augenblick öffnete sich die Tür, und Annie betrachtete die beiden Leute, die hereinkamen. „Hallo", sagte sie fröhlich zu Holly Hudson, einer netten untersetzten Frau von Ende Fünfzig, die einen kleinen dünnen Jungen mit riesengroßen Augen vor sich herschob. „Hallo." Holly nickte Annie zu. „Der Film ging früher zu Ende, und er wollte keine Pizza mehr essen", sagte sie zu Marcus und ließ den Blick über Annie gleiten. Mit ihrer breiten Kehrseite schob sie die Tür hinter sich zu. „Du wolltest keine Pizza essen?" Annie ging auf den Jungen zu. „Magst du etwa keine Pizza?" - 21 -
Marcus fand, er müsse seinen Patensohn warnen. Schließlich war der Kleine erst sieben Jahre alt und sicher jemandem wie Annie de Witt nicht gewachsen. Das war er mit seinen einunddreißig ja kaum. „Nimm dich in acht, Ken. Jetzt kommt die, spanische Inquisition." Unsicher blickte Ken mit seinen braunen Augen von Annie zu Marcus und wieder zurück. Holly zog ihm den Regenmantel aus. Wie eine Schneiderpuppe stand er still, bis sie fertig war. Offensichtlich hatte er nicht verstanden, was Marcus meinte. „Wer kommt?" fragte er zögernd. Annie warf Marcus einen Blick über, die Schulter zu, der ihm bewies, daß er sie enttäuscht hatte. „Wenn das Ihre Art von Humor ist, können Sie froh sein, daß ich hier bin." „Ich glaube kaum, daß ‚froh’ der richtige Ausdruck ist“, murmelte er. Annie hatte sich schon wieder zu Ken gedreht und hockte sich hin, um in Augenhöhe mit dem Jungen zu sein. „Hallo", sagte sie, „ich heiße Annie", und reichte ihm die Hand. Ken nahm sie und schüttelte sie feierlich. Das Urbild einer guten Erziehung ... Annie hatte das Gefühl, noch nie ein so altes Kind gesehen zu haben. „Und du bist..." Zwar hatte sie den Namen verstanden, den Marcus genannt hatte, aber vielleicht wollte der Kleine sich gerne selber vorstellen. „Ken Danridge." War der Junge ein bißchen schüchtern? Annie betrachtete ihn näher und merkte, daß der Grund tiefer liegen mußte. Vielleicht geriet der Junge nach seinem Patenonkel. Marcus war als Kind vermutlich ganz ähnlich gewesen. „Ich freue mich, dich kennenzulernen, Ken", sagte sie. „Warum?" Er ähnelte Marcus tatsächlich. „Weil ich hoffe, daß wenigstens ein Mensch in diesem Haus lachen kann." Da Ken - 22 -
nicht auf ihre Worte reagierte, sondern sie weiterhin ernst ansah, fuhr sie fort: „Kannst du lachen?" Seine Mundwinkel verzogen sich ein: wenig, aber seine Augen blieben ernst. Wieder nahm sein Gesicht diesen traurigen Ausdruck an. Annie spürte, einen Stich in der Brust, und sie klopfte Ken aufmunternd auf die Schulter. „Na, das müssen wir noch ein bißchen üben." Nachdenklich stand sie auf. „Gibt es auch etwas, das Sie nicht bearbeiten möchten?" fragte Marcus scharf. Jetzt war er wirklich verärgert. Auch wenn er persönlich keinen Kontakt zu Ken fand und schon als Kind nicht mit anderen Kindern zurechtgekommen war, brauchte Annie dem Jungen mit ihrem unbedachten Gerede nicht unnötig weh zu tun. Ken hatte mehr als einen Grund, ernst zu sein. Annie spürte, daß seine scharfe Bemerkung nichts mit verletztem Stolz oder Besitzanspruch zu tun hatte. War sie in ein Fettnäpfchen getreten? „Ich werde einen. Zeitplan dafür aufstellen“, erklärte sie trocken. „Hat dir der Film gefallen, Ken" fragte Marcus. Er hatte Holly mit dem Jungen ins Kino geschickt, um ihm ein bißchen Ablenkung zu verschaffen, die der Kleine dringend brauchte. Ken zuckte mit den Schultern. „Ja, es ging." Das war noch zu früh, überlegte Marcus. Er merkte, daß die Haushälterin ihn beobachtete. Seine Intimsphäre stand auf dem Spiel. „Ziehen Sie Ken bitte etwas Trockenes an, Holly, und sorgen Sie dafür, daß er etwas ißt." Holly nickte und nahm Kens kleine Hand. Sie sieht aus wie die ideale Großmutter, dachte Annie. Doch Ken schien es nicht zu merken. Gehorsam folgte er der Frau, sagte aber kein Wort. „Weshalb ist der Junge so schrecklich ernst?" fragte Annie, nachdem Holly und der Kleine verschwunden waren. Marcus wunderte sich über den Klang ihrer Stimme. Sie - 23 -
konnte also auch normal sprechen. Vielleicht kann man ja doch mit ihr zusammenarbeiten, dachte er. Das gab ihr aber noch lange nicht das Recht, persönliche Fragen zu stellen. „Ich glaube kaum, daß Sie das etwas angeht; Miss de Witt." „Annie. Vielleicht nicht", stimmte sie ihm zu. „Aber ich möchte es gern wissen. Annies Mut verblüffte ihn. Sie tat gar nicht erst so, als wollte sie sich aus seinen privaten Angelegenheiten heraushalten. Das war unglaublich - und in gewisser Weise faszinierend. „Kens Eltern kamen bei einem Autounfall ums Leben. Das Wetter war an jenem Tag ähnlich wie heute", antwortete Marcus tonlos. Er drehte sich zum Fenster und sah zu, wie der Regen unablässig gegen die Scheibe trommelte. Jason Danridge war sein bester Freund gewesen, der einzige, dem er sich hatte öffnen können. Sie hatten zusammen studiert, dieselben Träume gehabt und ihre Karriere auf zwei völlig unterschiedlichen Gebieten gemacht. Jason hatte schon auf dem College Football gespielt und war anschließend Profispieler geworden. Trotzdem hatten sie viel gemeinsam gehabt. Manchmal fehlte ihm Jason sehr. Aber das ahnte niemand. Wie immer zeigte er seine Gefühle nicht offen. Annie betrachtete Marcus' Rücken und bemerkte die Spannung in seinen Schultern. Instinktiv ahnte sie, daß nicht sie der Grund dafür war. Es mußte am Tod von Kens Eltern liegen. Jede andere Frau hätte jetzt geschwiegen und den richtigen Zeitpunkt abgewartet, bevor sie weitere Fragen stellte. Aber Annie mußte unbedingt noch etwas wissen, um sich ein endgültiges Bild von Marcus zu machen. Er war kein reizbarer Egoist. Es mußte mehr dahinterstecken, viel mehr. „Wie lange ist das her" fragte sie teilnehmend. Ihre leise Stimme drang in sein Bewußtsein, und Marcus - 24 -
antwortete wie von selbst: „Drei Wochen." „Und Sie haben Ken zu sich genommen?" Annie konnte sich kaum vorstellen, daß er das freiwillig getan hatte. „Jason und Linda hatten mich für solch einen Fall zu seinem Vormund bestimmt", sagte er, als erkläre das alles. Marcus erinnerte sich genau an diesen Tag. Sie hatten mehr als ein Glas auf seinen ersten Bestseller geleert, und Jason hatte lachend erklärt, jetzt könne er in Ruhe sterben. Sollte ihm und Linda etwas zustoßen, würde es Ken bei Marcus an nichts fehlen. Marcus hatte lange gezögert. Er hatte gewußt, daß weder Linda noch Jason nähere Angehörige besaßen. Jason war jener Bruder für ihn gewesen, den er nie besessen hatte. Ein Freund fürs Leben. Trotzdem hatte er das Gefühl gehabt, nicht der richtige Mann für solch eine Aufgabe zu sein. Und er hatte es gesagt. Doch Linda und Jason hatten seine Bedenken beiseite geschoben. „Wir haben niemand außer dir, dem wir Ken anvertrauen würden", hatte' Jason feierlich erklärt und war plötzlich völlig nüchtern gewesen. Tief gerührt hatte Marcus zugestimmt, und die beiden hatten ihr Testament so abgefaßt. In seiner Trauer hatte er gar nicht mehr daran gedacht. Einen Tag vor der Beerdigung hatte Jasons Anwalt ihn angerufen, um mit ihm über Kens Zukunft zu sprechen. Und jetzt war der Junge bei ihm, und Marcus hatte. nicht die geringste Ahnung, wie er ihn behandeln sollte. „Die beiden müssen viel von Ihnen gehalten haben", sagte Annie leise und legte die Hand auf Marcus' Arm. Erstaunt über das Mitgefühl in ihrer Stimme, drehte Marcus sich zu ihr. „Ja, wahrscheinlich", murmelte er. Sie nahm ihre Hand fort, denn sie erkannte, daß es ihm unangenehm war. „Sie glaubten, Sie wären in der Lage, ihren - 25 -
Sohn zu erziehen." „Wer sagt, daß ich es nicht bin?" fuhr Marcus sie an. Sie bemerkte den Zweifel in seinem Blick, bevor er sich abwandte. „Niemand", 'erklärte sie fröhlich. Wie in aller Welt waren sie auf dieses Thema gekommen? Marcus wollte nicht über Jason und Linda oder Ken sprechen. Er wollte überhaupt nicht mit dieser Frau reden. Langsam ging Annie zum Garderobenständer und holte ihr Cape. „Stammen Sie aus einer großen Familie, Marcus?" Schon wieder diese Neugier. „Nein, und Sie?" fragte er, ohne nachzudenken. Die Antwort interessierte ihn kein bißchen. „Ich auch nicht." Schwungvoll warf Annie das Cape um ihre Schultern. „Mein Bruder und ich waren allein. Aber ich habe viele Vettern und Cousinen", fügte sie hinzu. Nachdenklich sah sie in die Richtung, in der Ken verschwunden war. „Alle haben inzwischen eigene Kinder. Mein Bruder hatte zwei." Gerade wollte Marcus sie am Ellbogen zur Tür schieben, da drehte sie sich herum und überrumpelte ihn erneut. Das schien langsam zur Gewohnheit zu werden. „Vielleicht kann ich sie einmal mitbringen, damit sie mit Ken spielen." Du liebe Güte, diese Frau übernahm hier tatsächlich das Regiment. „Darüber reden wir noch." Es hatte nur eine Floskel sein sollen, damit sie schwieg. Aber Annie griff den Faden auf. „In Ordnung, morgen, wenn ich wieder da bin." Es klang, als schmiede sie schon den nächsten Plan. „Was morgen betrifft..." Wieder ließ Annie ihn nicht ausreden. „Ich finde, wir sollten lieber bei Ihnen arbeiten anstatt bei mir. Zumindest während der ersten Wochen." Sie ging ins Wohnzimmer und holte ihre Aktentasche. „Vielleicht sind Sie in den eigenen vier Wänden nicht ganz so verkrampft." Marcus hatte den Eindruck, daß eine ganze Handvoll Beruhigungspillen nicht. reichten, um ihn in Annies Nähe zu - 26 -
entspannen. „Um welche Zeit?" fragte er heiser. „Neun Uhr wäre mir recht." Er stand normalerweise um sechs auf. Das gab ihm drei Stunden Zeit, sich für Annie zu wappnen. „Einverstanden." „Dann bis morgen", verkündete sie. Stirnrunzelnd schloß Marcus die Tür. Mit etwas Glück ging die Welt bis morgen unter. Er hoffte es sehnlich. Annie verspätete sich schon wieder. Verärgert ließ Marcus den Vorhang fallen. Hatte er etwas anderes erwartet? Diese Frau machte wahrhaftig keinen zuverlässigen Eindruck. Wenn er es recht bedachte, saß er jetzt wegen des Drehbuchs in einer noch größeren Patsche als bei Vertragsabschluß. Damals hatten Jason und Linda noch gelebt, und er hätte zu seinen Freunden flüchten und seinen Ärger bei ihnen mit einem kühlen Bier hinunterspülen können, falls ihm die Arbeit mit seiner sogenannten Partnerin zuviel wurde. Ruhelos lief Marcus im Wohnzimmer auf und ab. Seit drei Wochen hatte er keine Zeile mehr geschrieben und nur an seinem Schreibtisch gesessen und auf den Bildschirm seines Computers gestarrt. Aber er mußte weitermachen. Schließlich trug er ganz allein die Verantwortung für Ken. Was in aller Welt tat man mit einem siebenjährigen Jungen, der nicht lachte und nicht spielte und nur redete, wenn er gefragt wurde? Marcus hatte nicht die geringste Ahnung, wie er Kens Schmerz lindem sollte. Zu tief saß die eigene Trauer. Vielleicht sollte er das Kind im Herbst in. eine Militärschule schicken. Dort kannte man sich mit kleinen Jungen aus. Zumindest würde er dort eine gewisse Ordnung vorfinden, an die er sich halten konnte. Marcus hörte ein Geräusch an der Tür und blickte über die - 27 -
Schulter zurück. Der Junge hatte den Kopf zur Tür hereingesteckt, verschwand aber sofort wieder. „Ken!" Mit großen Schritten durchquerte Marcus das Zimmer und riß die Tür auf. Ken war nirgends zu sehen. Enttäuscht wandte er sich ab. Ken war schon fast vierzehn Tage bei ihm, und sein Koffer stand immer noch gepackt in der Ecke. Es war, als fühle er sich wie zu Besuch und hoffte insgeheim, seine Eltern holten ihn bald wieder ab. Aber Linda und Jason würden nicht kommen. „Keiner von beiden", murmelte Marcus. Wie gern hätte er dem Jungen das Leben erleichtert, aber er fand nicht die richtigen Worte dafür. Die kamen ihm nur, wenn er schrieb. Und selbst das klappte zur Zeit nicht. Du liebe Güte, wo blieb Annie bloß? In diesem Augenblick läutete es an der Tür. Endlich! Er hörte, wie ein Topf in der Küche abgestellt wurde. „Lassen Sie nur, Holly", rief er. „Ich öffne selber." Mit finsterer Miene riß er die Tür auf. Diesmal würde er der Frau gründlich die Meinung sagen. „Na, stand wieder ein Lastwagen quer, Miss de Witt?" Verblüfft stellte Marcus fest, daß Annie nicht allein war, und seine Wut verflog. Sie hielt zwei Kinder an den Händen. Der Junge war etwas größer als das Mädchen und hatte eine große Einkaufstasche auf dem Arm. Beide Kinder waren zart und blond, und der Junge besaß ein trotzig vorgeschobenes Kinn. Ganz ähnlich wie Annie. Waren das etwa ihre Kinder? Annie öffnete den Mund und schloß ihn wieder, sobald sie Marcus' eindringlichen Blick bemerkte. Ihre Schwägerin Kathy hatte in dem Augenblick angerufen, als sie das Haus verlassen wollte, und sie gebeten, einige Stunden auf Stevie und Erin aufzupassen. Annie lehnte nie ab, wenn ein Familienmitglied ihre Hilfe brauchte. Diesmal hatte sie gezögert und sich vorgestellt, wie - 28 -
Marcus reagieren würde, wenn sie gleich die erste Arbeitssitzung absagte. Dann war ihr Ken eingefallen,, und sie hatte einen Plan gefaßt. Jetzt fürchtete sie allerdings, daß ihr Entschluß doch nicht richtig gewesen war. Marcus sah aus, als würde er ihr am liebsten den Hals umdrehen. Er mußte unbedingt bessere Laune bekommen, wenn sie zusammenarbeiten sollten. „Nein, es stand kein Wagen quer", erklärte Annie und faßte die Hände der Kinder fester. „Im Radio wurde ein Song gespielt, der mir sehr gut gefiel. Deshalb hielt ich an und hörte zu." Er starrte sie ungläubig an. „Das ist doch nicht Ihr Ernst." Das kleine Mädchen versteckte sich ängstlich hinter Annie. Er merkte es und bekam ein schlechtes Gewissen. Und noch etwas stellte er fest. Annie trug weder einen Rock noch eine lange Hose. Sie war wie zu einem Picknick gekleidet und hatte blaue Shorts sowie eine blau-weiß gestreifte Bluse an, die in der Taille geknotet war. Ihre langen schlanken Beine waren golden gebräunt. Sie besaß die schönsten Waden, die er je gesehen hatte. So ging das wirklich nicht. „Nein, das war nicht ernst gemeint. Bitte entschuldigen Sie." Annie bedauerte ihre dumme Antwort aufrichtig. Sie hatte sich über Marcus' Verhalten geärgert und daher das erstbeste gesagt, was ihr eingefallen war. Marcus schüttelte den Kopf. Er wurde aus dieser Frau nicht klug. Angriff ist die beste Verteidigung, überlegte er. Das traf in diesem Fall erst recht zu. Deshalb unternahm er einen weiteren Versuch. „Wenn wir zusammenarbeiten wollen ..." - was die Götter verhüten mögen, fügte er stumm hinzu - „müssen Sie begreifen, daß ich solch eine mangelhafte Arbeitsauffassung nicht dulden kann. Sie sollten schon vor einer halben Stunde hiersein." - 29 -
Annie verspätete sich ungern, und sie ließ sich erst recht nicht gern tadeln. Deshalb hob sie trotzig den Kopf, betrat das Haus und zog die beiden Kinder hinter sich her. „Wieso? Habe ich etwas versäumt?" fragte sie. Marcus warf die Tür hinter sich zu. Sie ging an ihm vorüber und wiegte die Hüften wie die Heldin in seinem letzten Roman. Er versuchte, es nicht zur Kenntnis zu nehmen ohne Erfolg. „Nein, aber ich verliere langsam den Verstand", murmelte er. Er deutete auf die beiden Kleinen. „Wer sind diese Kinder?“ „Schreien Sie nicht so. Sie machen ihnen ja angst." Besänftigend hob sie die Hand. „Mir übrigens auch." Letzteres bezweifelte Marcus entschieden. „Ansonsten sind dies mein Neffe und meine Nichte. Sie wissen sicher noch, daß ich gestern von ihnen erzählt habe." „Ja." Marcus erinnerte sich genau an den gestrigen Tag. Wie ein Alptraum stand er ihm vor Augen. Neugierig betrachtete er die beiden. „Allerdings hatte ich nicht erwartet, daß Sie sie auf der Stelle mitbringen würden." Annie biß sich auf die Unterlippe und fragte sich, wo Ken sein mochte. Sie blickte zur Diele, sah ihn aber nirgends. „Wegen der Kinder komme ich zu spät." Marcus sah die beiden an. Sie betrachteten ihn und sein spartanisches Zimmer neugierig. Zumindest liefen sie nicht wie ihre Tante herum und faßten alles an. Annies flapsige Bemerkung fiel ihm ein. „Die Kleinen, wollten den Song im Radio hören?" Statt gekränkt zu sein, lachte Annie. Es war ein sinnliches Lachen, bei dem ihn ein wohliges Prickeln durchrieselte. Er versuchte, es ebenfalls nicht zur Kenntnis zu nehmen. „Sehr witzig, Marc Sullivan. Noch ist nicht alle Hoffnung bei Ihnen verloren", meinte Annie vergnügt. Marcus betrachtete den Jungen und das Mädchen, und seine schlechte Laune legte sich. Noch mehr Kinder im Haus. Das - 30 -
hatte ihm gerade gefehlt. Das Mädchen sah ihn mit großen Augen unsicher an. Es mußte ungefähr sechs Jahre alt sein, vielleicht auch Anfang Sieben, und erinnerte ihn an eine Puppe. Der Junge war kräftiger und fast einen Kopf größer. Er hielt seine braune Einkaufstüte mit beiden Armen, umschlungen und stand wie zum Schutz neben seiner Schwester. Das gefiel Marcus. Er mochte keine Leute, die sich leicht einschüchtern ließen. „Weshalb haben Sie..." Marcus' Stimme erstarb, denn ihm fiel ein, was Annie gestern vorgeschlagen hatte. „Ich glaube nicht; daß Ken schon soweit ist, zwei Kinder um sich herum zu ertragen, Miss de Witt." Er bleibt förmlich, dachte Annie. Das mußte sie ihm unbedingt austreiben. „Annie", verbesserte sie ihn. Sie wandte den Kopf und sah Ken, der durch die halbgeöffnete Tür schaute, der Junge hatte gelauscht: „Vielleicht sollte Ken das selber entscheiden. Na, wie ist es, Ken?" rief sie laut. Zögernd kehrte Ken zurück. Annie tat, als merke sie nicht, wie schüchtern der Kleine war. „Ken, ich möchte dir gern Erin und Stevie vorstellen." Sie legte den beiden Kindern die Hand auf die Schultern und schob sie vorwärts. „Ich glaube, ihr drei habt eine Menge gemeinsam." „Wie kommen Sie denn auf die Idee?" fragte Marcus und hatte plötzlich das Bedürfnis, Ken zu beschützen. Was bildete sich diese Frau ein? Zumindest hätte sie ihn fragen müssen, ob sie die Kinder mitbringen dürfe. „Ken, wenn du lieber nicht mit den beiden...“ wollte er dem Jungen aus der Verlegenheit helfen. Doch Annie ließ ihn auch jetzt nicht ausreden. Langsam drehte sie sich zu Marcus, legte den Kopf auf die Seite und schluckte. „Sie haben tatsächlich einiges gemeinsam. Erin und Stevie, haben ebenfalls ihren Vater verloren." Als Marcus bei ihren Worten zusammenzuckte, fuhr sie fort: „Es - 31 -
ist schon einige Jahre her, aber. vielleicht können sie trotzdem darüber reden. Manchmal bleibt einem nur das." Sie wandte sich wieder an die Kinder. „Ken, kannst du irgendwo mit Erin und Stevie spielen, während Mr. Sullivan und ich ein bißchen arbeiten? Du würdest mir einen riesigen Gefallen tun." Zögernd blickte Ken zur Treppe, dann nickte er. „Natürlich", antwortete er ernst. „Ich nehme sie mit nach oben, wenn Sie möchten." Stevie faßte seine Einkaufstüte fester und legte einen Arm um Kens Schultern. „Hast- du Videospiele?" fragte er und gab seiner Schwester ein Zeichen mitzukommen.' „Nein." Stevie dachte einen Moment nach. „Macht nichts. Ich habe meine Dinosaurier dabei. Mit denen können wir auch spielen." Weil Erin ihm zu langsam war, ließ Stevie Kens Schulter los und zog seine Schwester hinter sich her. Annie sah zu, wie die drei die Treppe hinaufstiegen. „Sie werden ihm einige Videospiele besorgen müssen", meinte sie. Diese Frau würde einen guten Feldwebel abgeben, dachte Marcus. „Noch etwas?" „Ja. Etwas mehr Freundlichkeit würde nicht schaden." Als er die Stirn runzelte, fügte sie hinzu: „Ich weiß, ich bin manchmal ziemlich streng ..." Marcus hielt das für eine gewaltige Untertreibung. „Die Richterskala ist nach oben offen", antwortete er trocken. Annie gefiel es, daß er sich über sie lustig machte. „Eins zu null für Sie. Trotzdem glaube ich, daß wir besser miteinander auskommen, wenn Sie mir nicht jedesmal widersprechen; sobald ich den Mund öffne." „Und was soll ich Ihrer Ansicht nach statt dessen tun?" Plötzlich wußte Marcus es selbst. Er könnte Annie küssen. Nein, das war ein viel zu zahmes Wort. Noch besser wäre es, er nähme sie gleich ganz in Besitz. - 32 -
Wie komme ich denn auf diesen Gedanken? Marcus erschrak heftig. Er wollte Annie doch nur zum Schweigen bringen. Weshalb sollte er mit einer Frau schlafen, die ihm derart auf die Nerven ging? Annie sah ihn mit unschuldiger Miene an. „Nun,. Sie könnten mir zum Beispiel zuhören." Marcus holte tief Luft, denn beim Anblick von Annies grünen Augen hatte er zu atmen vergessen. „Sie meinen also, ich hätte die Wahl?" „Nein", antwortete sie fröhlich. „Das habe ich mir gedacht." Zu seiner eigenen Sicherheit wandte er sich ab. „Sie hätten mich wegen der Kinder anrufen sollen." Marcus hatte recht. Aber Annie war in Eile gewesen. Außerdem hätte es nichts geändert. „Meine Schwägerin Kathy hatte einen Notfall. Sie wußte nicht, wohin mit den beiden. Sie ruft mich nur an, wenn sie am Rand der Verzweiflung ist." „Die Leute rufen Sie nur an, wenn sie verzweifelt sind?" Annie sah Marcus an. Woher kam diese plötzliche Trauer in seinem Blick? „Manchmal tun sie es auch, weil es ihnen Spaß macht." Marcus konnte sich kaum vorstellen, daß jemand freiwillig mit Annie redete. Zuhören mochte noch angehen, aber reden das gab nur Ärger. Sie verließen die Diele. „Ihr Haus gefällt mir, Marc. Darf ich es mir später einmal ansehen?" Marcus überlegte erneut, ob es Sinn hatte, mit Annie zu arbeiten. Noch konnte er einen Rückzieher machen. „Falls es ein Später gibt...“ Sie, warf. ihm einen belustigten Blick zu. „Oh, das wird es.“ Es war paradox: Je ablehnender er wurde, desto entschlossener ging Annie vor. Wie war das möglich? Gehörte sie zu jenen unangenehmen weiblichen Wesen, die sich in alles einmischten? Die Kinder fielen ihm ein, die Annie mitgebracht - 33 -
hatte. „Der Vater der Kinder..." „Mein Bruder?" „Ja. Wie ist er...“ „Gestorben?" Marcus hatte das Gefühl, unfreiwillig an einem Spiel teilzunehmen, in dem er jeweils die Worte eines Partners, ergänzen mußte. „Ja." „Es fällt Ihnen schwer, das Wort auszusprechen, nicht wahr?", fragte Annie mitfühlend. „Es fällt mir schwer, die Tatsache zu akzeptieren", antwortete Marcus, ohne lange nachzudenken. Annie verstand ihn. Sie wußte noch genau, wie ihr beim Tod des Bruders zumute gewesen war und welch eine Lücke er in ihrer Seele hinterlassen hatte. „Mein Bruder starb an Leukämie. Es ging sehr schnell. Wir erfuhren erst ganz zuletzt, wie krank er war. Er hat Glück gehabt." „Glück?" fragte Marcus ungläubig. Wie konnte der Tod ein Glück sein? „Ja", antwortete Annie ruhig. „Normalerweise leiden Leukämiekranke schrecklich. Daniel hatte gerade noch Zeit, jene Dinge zu sagen, auf die es ankam, dann war alles vorbei." Mühsam unterdrückte sie den Schmerz, von dem immer ein Rest bleiben würde. „Ich habe meinem Neffen und meiner Nichte auf dem Weg hierher von Ken erzählt. Vielleicht hilft es ihm, wenn er mit jemandem in seinem Alter redet, der ebenfalls einen geliebten Menschen verloren hat. Derjenige wäre ich gern für Ken gewesen, dachte Marcus. Aber er hatte die richtigen Worte nichtt gefunden. „Vielleicht." Sie lächelte wehmütig. „Diese Antwort betrachte ich als Dankeschön." „So war sie nicht gemeint." „Ich weiß. Ich nehme, was ich bekommen kann." - 34 -
Darauf wäre Marcus jede Wette eingegangen. Er hatte das ungute Gefühl, daß die nächsten sechs Wochen eine harte Prüfung für ihn bedeuteten. Und er war sich nicht sicher, ob er sie bestehen würde.
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3. KAPITEL Annie war da, und Ken war oben beschäftigt. Es gab keine Ausrede mehr, er mußte mit dem Drehbuch beginnen. Plötzlich merkte Marcus, daß er keine Ahnung hatte, wie er vorgehen sollte. Wie arbeitete man mit einem anderen zusammen? Annie wußte es, jedenfalls behauptete sie es. Aber es ging um sein Buch, und er wollte die Kontrolle darüber nicht verlieren. Die, Hände in die Taschen gesteckt, betrachtete er den Baum auf der Vorderseite des Hauses und überlegte, was er sagen sollte. „Sie haben also mein Buch gelesen." Das war eine dumme Bemerkung, denn sie hatte es ihm bereits erzählt: Verärgert schob er die Hände tiefer. Wieder wünschte er, er hätte seine Zustimmung zu dem Drehbuch nie gegeben. Annie hätte Marcus den Anfang gern erleichtert, aber sie wußte nicht recht, wie sie an ihn herankommen sollte. Auf die freundliche Weise klappte es nicht. Es hatte den Anschein, als nähme dieser Mann absichtlich Anstoß an allem, was sie sagte. Sie mußte unbedingt herausfinden, weshalb. „Jedes goldene Wort habe. ich gelesen", antwortete sie. Er betrachtete ihre Antwort als Spott und ärgerte sich darüber. „Dann haben Sie also nichts dagegen, über die Handlung zu reden." Marcus sah Annie an und warnte sie stumm, nur keinen Einwand zu erheben. Ihre Mundwinkel zuckten. Was ist denn jetzt schon wieder so lustig? überlegte er. Das wäre eine Methode, um anzufangen, dachte Annie. Ihre Notizen und ihr tragbarer Personalcomputer lagen zwar im Wagen, aber die konnte sie später noch holen. „Nein, ich habe nichts dagegen." Steif deutete er auf das Sofa. „In Ordnung. Dann sollten wir uns setzen und mit der Arbeit beginnen." - 36 -
Annie setzte sich auf das Sofa. Sie streifte die Sandaletten ab und schlug die Beine unter, wie sie es am Vortag getan hatte. Sie sieht aus, als fühlte sie sich rundum wohl, überlegte Marcus. Leider galt das nicht für ihn. Annie lenkte ihn zu stark ab und verunsicherte ihn. Plötzlich erinnerte er sich nicht einmal mehr an die Handlung seines Buches. Was war mit ihm los? Panik erfaßte ihn. Ohne hinzusehen, setzte er sich ebenfalls und fuhr gleich darauf erschrocken wieder hoch, denn er hatte etwas Weiches berührt. Er räusperte sich und bemerkte ihren belustigten Blick. „Entschuldigung", murmelte er. „Keine Ursache. Es ist ein einfaches physikalisches Gesetz, daß zwei Körper nicht denselben Platz einnehmen können." Ihr Grübchen am Mundwinkel war wieder da, während sie lachte. Sie rutschte in eine Sofaecke und sah zu ihm auf. „Ist es so besser?" Ihr rechter Arm hing lässig über der Lehne, die Beine hatte sie untergeschlagen. Marcus hätte ihr den Hals umdrehen können, weil sie ihn so unschuldig anblickte und dabei sein Blut ins Wallen brachte. Wenn diese sogenannte Zusammenarbeit in irgendeiner Form klappen sollte, mußte er sie als neutrales Wesen betrachten. Besser noch, er hielt sie. für eine Art Herausforderung der Götter - oder seines Agenten. Ergeben setzte Marcus sich auf die Sofakante und sah sie lange eindringlich an. „Weshalb tragen Sie Shorts?" Annie blickte an sich hinab. Sie hatte sich keine Gedanken über ihre Kleidung gemacht. So war sie immer angezogen, wenn sie arbeitete. Nur mit dem Haar hatte sie sich heute etwas mehr Mühe gegeben. „Weil ich mich darin wohl fühle", antwortete sie. Marcus war gekleidet, als hätte er eine offizielle Besprechung. Sein Jackett lag über der Sofalehne. Wahrscheinlich hatte er es gerade erst ausgezogen. „Während Sie sich offensichtlich in - 37 -
Schlips und Kragen wohl fühlen.“ Marcus ging nicht auf ihre Bemerkung ein. „Darum geht es jetzt nicht. Wir sind Profis." Niemand bestritt das. Aber was hatte das mit ihrer Kleidung zu tun. „Na und?" Annie stichelte schon wieder. Wie konnte er mit ihr zusammenarbeiten, wenn sie sich ständig stritten? „Ich finde, wir sollten uns auch entsprechend kleiden." Er hatte immer einen gewissen Halt in den Sitten und Gebräuchen gefunden. Annie begriff immer noch nicht, worauf Marcus hinauswollte. „Wie die Mannequins?" „Ärgern Sie mich absichtlich?" „Nein, nicht absichtlich. Hören Sie..." Sie reichte hinüber und legte die Hand auf Marcus' Arm. „Ich glaube, wir kommen besser miteinander aus, wenn wir uns etwas lockerer geben." Sie sprach bewußt in der Mehrzahl, um höflich zu bleiben, aber Marcus wußte, daß er gemeint war. „Erlauben Sie?" Sie faßte seine Krawatte. „Mein Vater behauptete, dieses Ding wäre eher eine Schlinge als ein modisches Accessoire." Ohne Marcus aus den Augen zu lassen, löste sie den Knoten. „Es unterbindet nur den Blutkreislauf zum Gehirn." Marcus hielt ihre Hände fest. Sie waren so klein und zart. Richtig zerbrechlich. „Mein Kreislauf ist völlig in Ordnung", stellte er fest. Außer, wenn es um Sie geht, fügte er stumm hinzu. „Können wir diese Spielerei jetzt lassen und mit der Arbeit beginnen?" Ergeben hob Annie die Hände und spreizte die Finger. Die Krawatte hing locker an seinem Hals. „Deshalb bin ich ja hier." „Gut zu wissen“, murmelte er und rückte die Krawatte wieder zurecht. Es stimmt, dachte er plötzlich. Das Ding ist wirklich zu eng. Aber das wollte er jetzt gewiß nicht zugeben. Annie neigte lächelnd den Kopf zur Seite. Er würde ihr das Lächeln schon austreiben und... Marcus dachte den Satz vorsichtshalber nicht zu Ende. Er - 38 -
holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. Jetzt fühlte er sich schon besser. Entschlossen hob er den Kopf. „Die Geschichte beginnt mit..." Annie sah ihn mit großen Augen an. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, als wolle sie genießen, was er zu sagen hatte. Aber er bekam, keinen Ton mehr heraus. Zu seinem Entsetzen war sein Kopf restlos leer. Aufmerksam beugte Annie sich vor und legte die Hände auf die Knie. Sie schien den kleinen Raum um ihn herum ganz auszufüllen. Wie hatte der Abstand zwischen ihnen verschwinden können? Marcus erinnerte sich nicht, näher an Annie herangerückt zu sein. ,,Ja?" fragte sie und nahm an, daß Marcus bewußt zögertet um sie auf die Probe zu stellen. Er wollte unbedingt erreichen, daß sie die Zusammenarbeit von sich aus aufgab. Das hätte sie auch ohne Richards Vorwarnungen gemerkt. Marcus war es noch nie so schwer gefallen, seine Gedanken zusammenzuhalten und sich auf etwas zu konzentrieren, obwohl ihm das zur zweiten Natur geworden war. Daß es diesmal nicht klappte, mußte an Annie liegen, auch wenn er nicht begriff, weshalb. „Beantworten Sie mir bitte eine Frage." „Ja, gern. Was möchten Sie wissen?' Er war am Ende seiner Geduld. „Sind Sie eine Strafe der Götter?" Noch nie hatte ihn jemand derart zur Weißglut gebracht. „Nein." Schelmisch sah sie ihn an. „Haben Sie denn eine erwartet?“ Wenn ein Mann eine Retourkutsche verdient hatte, dann er. Seine Verärgerung wuchs. Allerdings wußte Marcus nicht, auf wen er wütender war: auf Annie oder auf sich, weil er so heftig auf sie reagierte. „Nein, ich erwartete eine Schriftstellerin." - 39 -
Annie breitete die Hände aus. „Nun, die haben Sie ja bekommen." „Durchaus nicht. Bekommen habe ich entsetzliche Kopfschmerzen, die die nächsten sechs Wochen garantiert nicht wieder vergehen werden." Marcus räusperte sich erneut. Was nützte es, wenn er mit Annie stritt? Er betrachtete ihre gebräunten Beine. „Würden Sie morgen bitte eine lange Hose anziehen?" Sie lächelte befriedigt. „Lenken die Shorts Sie ab?" „Nein", erwiderte er und war sicher, daß Annie ihn längst durchschaut hatte. „Ja." Annie dachte über seine Worte nach. „Also lenken sie Sie halb ab. Das freut mich. Es macht Sie menschlich." Im Moment viel zu menschlich, dachte Marcus, und das durfte nicht sein. Vorsichtig legte sie die Hand auf seinen Unterarm und spürte, wie er erstarrte und sich anschließend große Mühe gab, seinen Körper wieder zu entspannen. Es war schön, solch eine Wirkung auf diesen Mann zu haben. Etwas an Marcus ließ ihr keine Ruhe. Das war gestern schon so gewesen, als sie ihn zum ersten Mal getroffen hatte. Noch wußte sie nicht, was es war. „Wollen Sie mir nicht erst einmal Ihr Haus zeigen? Vermutlich werden Sie dann etwas lockerer." Marcus konnte sich gerade noch zusammenreißen. „Ich wünschte, Sie würden aufhören, mich ständig zu analysieren." „Ich analysiere Sie nicht", verbesserte sie ihn, „sondern versuche, Ihnen zu helfen." „Wenn Sie mir wirklich helfen wollen..." Kommen Sie bitte nicht wieder, hätte er beinahe gesagt. Aber das ging nicht. Deshalb griff er zur zweitbesten Antwort: „Ziehen Sie bitte in Zukunft etwas Passenderes an." „Morgen komme ich in Sack und Asche", versprach Annie und hob ergeben die Hände. - 40 -
Manche Kriege werden gewonnen, indem man den Rückzug antritt und den Kampf auf den nächsten Tag verschiebt, überlegte Marcus. Er brauchte unbedingt Zeit, um wieder klar denken zu können. „Kommen Sie, ich führe Sie herum." Annie reichte ihm die Hand, und er ergriff sie instinktiv. Die seltsamsten Gefühle durchrieselten ihn, während sie die Finger mit seinen verschlang. Sein Körper straffte sich und begann leise zu beben. Annie war viel zu nahe. Er roch den zarten weiblichen Duft ihrer Haut. Alle seine Sinne öffneten sich angesichts der Ausstrahlung, die von dieser Frau ausging. Obwohl Annie in Gedanken vermutlich ganz woanders war, strahlte sie eine ungeheure Sinnlichkeit aus: Selbst wenn Marcus vor sich hinbrütet sieht er gut aus, überlegte Annie. Vielleicht sogar besser als sonst. „Sie sind richtig süß; wenn Ihre Nasenflügel sich so blähen", stellte sie fest. Vorsichtig machte Marcus sich los und ließ ihre Hand fallen. „Ich hatte keine Ahnung, daß sie das tun." „Sie tun es." Kameradschaftlich legte sie ihm die Hand auf die Schulter. Sie war solch einen Widerstand nicht gewohnt. Die Leute mochten sie. Sie wollte doch nur gut Freund mit Marcus sein. Nein, das stimmt nicht, verbesserte die innere Stimme sie. Sie wollte mehr. Aber zuerst brauchte sie Freundschaft und Vertrauen. Alles andere nützte nichts, wenn man sich nicht gegenseitig vertraute. „Ich beiße nicht, Marc." Er zog die Augenbrauen zusammen. „Davor kann ich Sie auch nur warnen: Ich bin giftig." Unsere Zusammenarbeit wird sehr, sehr anregend werden, dachte Annie. Marcus würde sie auf Trab halten, und das gefiel ihr. Er interessierte sie als Schriftsteller und als Mann. Sie lächelte unbewußt, und ein bittersüßes Gefühl erfaßte sie. Doch sie verdrängte es sofort. Jetzt war nicht der richtige - 41 -
Augenblick dafür. „Kommen Sie. Zeigen Sie mir Kens Zimmer", forderte Annie Marcus auf und ergriff erneut seine Hand. Ihre Miene verriet ihm, daß Annie die Situation richtig genoß. Offensichtlich fühlte sie sich rundum wohl. Plötzlich merkte er, daß sein Unbehagen und seine Teilnahmslosigkeit verschwunden waren. Zumindest das hatte sie erreicht. „Hier entlang." Holly kam in dem Augenblick aus der Küche, als sie die Diele betraten. Sie sah, daß Marcus und Annie sich an den Händen hielten, doch sie verzog keine Miene. „Wie viele Personen werden zum Lunch hiersein, Mr. Sullivan?" erkundigte sie sich. Marcus machte sich sofort los. „Haben Sie vor zu bleiben, Annie?" fragte er. Bis zum Mittag waren es nur noch gut zwei Stunden. „Ich glaube, das wäre nicht schlecht", antwortete Annie nachdenklich. „Vielleicht könnten wir mit den Kindern essen." Erwartungsvoll legte sie den Kopf auf die Seite. Die Mahlzeiten mit Ken waren bisher quaivoll ruhig und förmlich verlaufen. Vielleicht würden diese Frau und die Kinder, die sie mitgebracht hatte, das Eis brechen. Wie Ken wohl mit den beiden zurechtkam? Hoffentlich besser als er mit Annie. „Wir werden zu fünft sein, Holly", antwortete Marcus endlich. Holly nickte und kehrte in die Küche zurück. „Wissen Sie was, Marc", sagte Annie und hängte sich bei ihm ein. „Noch ist nicht alles für Sie verloren.“ Wieder hing sie an ihm. Diese Frau war ja lästiger als eine Klette. „Vielen Dank für das Kompliment.“ Sie ging nicht auf seinen kühlen Tonfall ein. „Gern geschehen." Annie war einfach unmöglich. Marcus wußte beim besten - 42 -
Willen nicht, weshalb er unwillkürlich lächeln mußte. Aber es tat ihm gut. Ebenso gut wie ihre Hand auf seinem Arm. Als sie den Treppenabsatz erreichten, scholl ihnen Kinderlachen entgegen, und Marcus sah Annie verblüfft an. ,,Ist das Ken?" fragte sie und kannte die Antwort im voraus. Stevie lachte wie ein junger Eichelhäher, und Erin kicherte beinahe lautlos. „Ich weiß nicht-recht:" Als fürchtete er, er könnte sich irren, ging Marcus langsam den Flur entlang. „Er muß es sein." Mit dem Kopf gab Annie ihm ein Zeichen, die Tür, zu Kens Zimmer zu öffnen. Die drei Kinder lagen auf dem Boden und spielten mit den Dinosauriern, ohne die Stevie nie aus dem Haus ging. „Das ist ein Fleischfresser", erklärte der Junge und deutete auf die Figur, die Ken für Marcus und Annie in die Höhe hielt. „Aber ich kann ihm davonfliegen." Zum Beweis ließ er seinen Saurier durch die Luft gleiten. Um nicht zurückzustehen, verkündete Erin rasch: „Und ich bin eine Prinzessin." Stevie runzelte die Stirn. „Damals gab es noch keine Prinzessinnen", wies er seine Schwester zurecht. „Sie kann ruhig eine Prinzessin sein, wenn sie will", meinte Ken besänftigend. „Vielleicht eine Höhlenprinzessin." Annie lächelte. Ken war tatsächlich ein so gutherziger Junge, wie sie vermutet hatte. Erin gefiel Kens Vorschlag, und Stevie willigte zähneknirschend ein. Er bereitete schon den nächsten Angriff mit seinem Flugtier vor. „Wir sehen uns beim Lunch", sagte Annie zu den Kindern: Sie zog Marcus am Arm und nickte in Richtung Flur. Er folgte ihr, verblüfft und erleichtert zugleich. „Sie wußten, daß es so kommen würde, nicht wahr?" Annie nickte. „Ich habe es zumindest gehofft. Wenn es einem schlecht geht, braucht man jemanden, mit dem man - 43 -
darüber reden kann. Also bat ich Stevie, Ken von seinem: Vater zu erzählen und einmal zu überlegen, wie er den Jungen ein bißchen aufheitern könnte. Sie paßte sich Marcus' Schritt an. „Stevie nahm diese Aufgabe sehr ernst. Deshalb hoffte ich, daß es klappen würde. So einfach war das." „Ja so einfach." Mit Annie war das nicht so leicht. „Hier ist mein Schlafzimmer", fuhr Marcus fort. Unbehaglich öffnete er die Doppeltür und beobachtete ihr Gesicht. Annie schaute nicht nur hinein, sondern betrat entschlossen den Raum. Marcus hatte das Gefühl, daß sie ihn beinahe in Besitz nahm. Die Hände auf die Hüften gestützt, sah sie sich neugierig um. Ich hätte es aus einem Dutzend Zimmern herausgefunden, dachte Annie. Es paßte genau zu Marcus. Alles war sehr sauber und sehr ordentlich. Jede Falte der schwarzen Vorhänge mit dem kühnen Blumenmuster fiel korrekt. Das französische Bett mit dem passenden Überwurf war gemacht, viele Kissen lagen in exakt demselben Abstand am geschnitzten Kopfteil. Kein Hausschuh war zu sehen, keine Krawatte hing herum, keine gewechselte Wäsche lag auf der Kommode. Dies war kein Schlafzimmer, sondern ein Raum aus einem Museum. Freudlos und Ehrfurcht einflößend. Annie mußte an das Durcheinander in ihrem eigenen Schlafzimmer denken. „Schlafen Sie hier wirklich?" Marcus blieb auf der Schwelle stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Natürlich. Weshalb?" Am liebsten hätte Annie die Schranktüren aufgerissen, um sich zu überzeugen, daß die Kleidung der Größe nach aufgehängt war. „Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein Mensch so ordentlich ist." Wenn Annie es aussprach, wurde aus der Tugend ein Übel. „So etwas ist angeboren." „Muß es wohl." Sie drehte sich zu ihm. „Ich selbst lebe in - 44 -
einem mittleren Chaos." Nicht nur das, dachte Marcus. Sie verbreitete es auch um sich herum. „Nur in einem mittleren?" fragte Marcus. Zum ersten Mal erkannte Annie eine Art von Belustigung in seinem Blick. Das war eine Wende zum Besseren. Selbst schlecht gelaunt war Marcus schon sexy. Jetzt wirkte er geradezu unwahrscheinlich anziehend. „Sie haben recht", gab sie zu. „Es ist nicht nur ein mittleres." Sie kehrte auf den Flur zurück. „Trotzdem finde ich alles wieder. Wenn ich mich nicht ständig darum kümmern muß, ob alles ordentlich ist, habe ich viel mehr Zeit für andere Dinge." „Mir fällt es nicht schwer, beides miteinander zu verbinden.“ Marcus zeigte ihr das Gästezimmer, aber sie sah kaum hinein, sondern beobachtete ihn aufmerksam. „Das bezweifle ich nicht." Zumindest äußerlich traf das wohl zu. Niemand kann so ordentlich und so beherrscht sein, ohne eines Tages zu explodieren, dachte Annie. Ob sie dann gerade hier sein würde? Ein Schauer durchrieselte sie bei dem Gedanken. Gewiß kamen eine Menge Gefühle und Empfindungen an die Oberfläche, wenn Marcus sich endlich gehen ließ. Er war ein leidenschaftlicher Mann. Das ging aus seinen Büchern eindeutig hervor. Niemand konnte schreiben wie er, wenn er nicht tief im Herzen so empfand. Weil Annie ihn dazu aufforderte, zeigte ihr Marcus das ganze Haus. Sie sah sich Zimmer für Zimmer an, stellte Fragen und nickte ein paar Mal, als stimme sie einem Gedanken zu, der ihr gerade gekommen war. Die Stille wurde Marcus langsam peinlich. Er wollte wissen, was in Annies chaotischem Kopf vorging. Vorgewarnt ist gut, gewappnet, sagte er sich. Und er mußte so gut wie möglich gegen diese Frau gewappnet sein. - 45 -
Weshalb war es so wichtig, wie die Zimmer eingerichtet waren und ob er das Mobiliar ausgewählt hatte? Natürlich hatte er sich selber darum gekümmert und sich nicht auf einen Innenarchitekten verlassen. Auch das hatte sie geahnt. „Wie kommen Sie darauf?" fragte Marcus, während sie ins Wohnzimmer zurückkehrten. „Ganz einfach. Sie sind kein Mensch, der anderen solche Entscheidungen überläßt. Sie möchten selber die Kontrolle behalten." Zumindest das hatte sie begriffen. „Vergessen Sie das nie", riet er ihr, auch wenn wenig Hoffnung darauf bestand. „Ich werde es versuchen." Sie betonte das letzte Wort. Marcus war ziemlich sicher, daß es bei diesem Versuch blieb. „In Ordnung, wir haben das Haus besichtigt. Jetzt sollten wir uns endlich an die Arbeit machen." „Wie Sie wünschen." Annie ging in Richtung Haustür. „Wo wollen Sie hin?" rief er hinter ihr her. „Schnell etwas holen." Kurz darauf war Annie mit ihrer Aktentasche in der einen und einem tragbaren PC in der anderen Hand zurück. Marcus nahm ihr den Computer ab und führte sie in sein, Arbeitszimmer. „Sie sind ja plötzlich so liebenswürdig", meinte er. Das Mißtrauen war ihm deutlich anzuhören. Er glaubte nicht, daß Annie sich kommentarlos seinem Wunsch beugen würde. Das Arbeitszimmer war ebenfalls sauber und ein bißchen streng. Der Duft nach Leder, Holz und Politur milderte diesen Eindruck zwar, trotzdem wirkte der Raum genauso unberührt wie das restliche Haus. Wäre der Computer nicht gewesen, hätte Annie niemals erraten, daß Marcus hier arbeitete. Vorsichtig legte sie ihre Aktentasche auf eine Ecke des Schreibtischs und öffnete den Reißverschluß. „Ich bin immer liebenswürdig." - 46 -
„Das ist mir neu", murmelte er und stellte ihren Computer neben seinen. Ihr tragbares Gerät wirkte beinahe wie ein Spielzeug neben seiner soliden Profi-Anlage. Eigentlich, passen die Computer nicht zusammen, stellte er fest. Doch sie stammten vom selben Hersteller und sollten sich gegenseitig ergänzen. Vielleicht war das ja ein gutes Omen. Ich bin ungerecht gegenüber Annie, überlegte Marcus, aber er konnte es nicht verhindern. Tief im Inneren ahnte er, daß sein Leben nie mehr so wie früher sein würde. Neugierig betrachtete er die Blätter, die Annie in einem unordentlichen Stapel auf den Schreibtisch legte, und unterdrückte das Bedürfnis, sie sauber auszurichten. „Was ist das?" fragte er. „Das sind meine Notizen", antwortete sie fröhlich und drehte einen Stuhl so, daß er seinem gegenüberstand. In diesem Augenblick erkannte Marcus, daß er nicht nur Gefahr lief, sein früheres Leben aufzugeben. Es passierte bereits.
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4. KAPITEL Annie hatte ihn gestern ganz schön auf Trab gebracht, das mußte Marcus zugeben. Sie hatte ihm keine Zeit gelassen, darüber nachzudenken, ob er unter einer typischen vorübergehenden Schreibblockade litt oder nie eines kreativen Gedankens mehr fähig sein würde. Bis zum Abend waren ihm ein Dutzend Möglichkeiten eingefallen, diese Frau schnellstens wieder loszuwerden. Wenn das nicht kreativ war... Den ganzen Nachmittag hatten Annie und er sich gestritten. Es hatte den Anschein, als könnten sie sich über keinen einzigen Punkt einigen. Doch obwohl er sich anfänglich furchtbar geärgert hatte, war er abends richtig erfrischt gewesen. Als mache ihm die Spannung zwischen ihnen langsam Spaß. Nein, das ist nicht. richtig ausgedrückt, überlegte Marcus und rutschte unbehaglich auf dem Beifahrersitz neben Richard hin und her. Wie würde er diese Situation in einem Buch beschreiben? Es war keine normale Spannung - sie war sexuell. Das war nicht möglich. Marcus erstarrte innerlich. Doch wenn er ehrlich war... Richard und er waren auf dem Weg zu den Shalimar Studios, und er versuchte, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Wenn er es genau bedachte, war die Zusammenarbeit mit Annie gar nicht so schlimm gewesen, wie er befürchtet hatte. In ihrer chaotischen Art hatte sie einige ganz vernünftige Vorschläge gemacht. Marcus ärgerte nur, daß er ohne sie vermutlich nichts erledigt hätte. Sie war jener Ansporn, den er leider brauchte das Feuer, das ihn in Schwung brachte. Trotzdem wollte er nicht ständig auf der Hut sein, und es gefiel ihm erst recht nicht, daß er sein Werk vor den „kreativen Beträgen" eines Produzenten schützen mußte, der den Film als - 48 -
sein Eigentum betrachtete. Zu viele Köche verdarben bekanntlich den Brei. Richard hielt seinen Bentley vor dem Tor des Studios an. Ich sehe immer noch nicht ein, weshalb ich mitkommen soll, Richard", sagte Marcus zu seinem Agenten. „Schließlich zahle ich Ihnen zehn Prozent." Richard zeigte seinen Ausweis vor und wurde von einem Aufseher hineingewunken. Er schob seine Brieftasche ins Jackett zurück und antwortete: „Ich finde, Sie sollten den Mann kennenlernen, der Ihr Konto so prächtig auffüllen wird. Nun tun Sie mir den Gefallen und machen Sie ein freundliches Gesicht." Das war noch lange kein Grund, bei dem Gespräch anwesend zu sein. Erneut rutschte Marcus unbehaglich hin und her und wünschte, er wäre wieder in seinem Arbeitszimmer. „Meine Leser sorgen ebenfalls dafür, daß ich immer Geld in der Tasche habe. Trotzdem habe ich nicht das Bedürfnis, jeden einzelnen von ihnen kennenzulernen. Der rothaarige Mann lächelte einen Moment, dann wurde er wieder ernst. „Sie würden sicher anders darüber denken, wenn es sich um solch eine geradezu unanständige Summe handelte." Marcus dachte an seine schwierigen Anfangsjahre, als er noch mit einer Mahlzeit pro Tag auskommen mußte. „Geld ist niemals unanständig, Richard." Zumindest in diesem Punkt stimmte sein Agent mit ihm überein. „Wie recht Sie haben." Eine blonde Frau im Haremskostüm tauchte vor ihnen auf. Sie lehnte den Kopf zu einem großen muskulösen Mann und scherzte mit ihm. Marcus mußte unwillkürlich an Annie denken und fragte sich, weshalb. Es war schwierig genug, während der Arbeitszeit mit ihr auszukommen. Er brauchte sich nicht auch noch in der Freizeit mit ihr zu beschäftigen. Richard brachte seinen Bentley, auf den er sehr stolz war, vor einer eleganten einstöckigen spanischen Hazienda inmitten - 49 -
des Studiogeländes zum Stehen und drehte sich zu Marcus. „Also heraus mit der Sprache", forderte er seinen Klienten auf. „Seit ich Sie abgeholt habe, haben Sie noch kein Wort über Annie gesagt. Spielen Sie nicht den Eigensinnigen, dafür kenne ich Sie viel zu gut. Wie ist es gestern gelaufen?" Marcus mußte, daran denken, daß Annie ihm den ganzen Tag ins Wort gefallen war. „Sagt Ihnen der Ausdruck organisiertes Chaos etwas?" Richard zog eine Augenbraue in die Höhe. „Wenn ich recht verstehe, lief es also nicht besonders gut." Kopfschüttelnd stieg er aus dem Wagen. Marcus schlug die Wagentür zu und ging mit seinem Agenten zum Eingang der Hazienda. „Das kommt darauf an." Richard läutete. Die ersten Takte des Titelsongs von „The Alamo" tönten aus dem Haus. „Worauf?" „Wie wenig Sie unter dem Wort ‚gut’ verstehen." „Sie übertreiben schon wieder." Marcus lachte kurz auf. „Das wäre in diesem Fall unmöglich." Ein Assistent von Addison Taylor; ein schlanker, intelligent aussehender Mann, der ganz in Braun gekleidet war, öffnete die Tür, begrüßte sie und bat sie herein. Gerade überquerte Marcus die Schwelle, da eilte jemand atemlos hinter ihm her. Ohne sich umzuwenden, wußte er, wer es war. „Hallo!" Annie strahlte Richard an und schob sich zwischen die beiden Männer. „Habe ich etwas verpaßt?" Die Frage galt Marcus, der sie gestern wegen ihrer Unpünktlichkeit getadelt hatte. Er warf seinem Agenten einen vorwurfsvollen Blick zu. „Sie haben mir nicht gesagt, daß Annie ebenfalls anwesend - 50 -
sein würde." Richard hob die Schultern in dem teuren Designerjackett und senkte sie wieder „Sie haben mich nicht danach gefragt." Addison Taylors Assistent führte sie einen breiten Flur erstlang, dessen Wände mit Fotos aller berühmten Schauspieler bedeckt waren, die je in einem Addison-Taylor-Film mitgewirkt hatten. Alle trugen eine persönliche Widmung. Annie sah zu Marcus auf. „Ich bin Ihre andere Hälfte. Haben Sie das vergessen?" Sie mußte sich anstrengen, um mit ihm Schritt zu halten, und betrachtete Marcus neugierig. Er trug einen perlgrauen Anzug mit einem hellblauen Hemd und eine Krawatte von der Farbe seiner Augen. „Hübscher Anzug", stellte sie fest. Sie hatten inzwischen das riesige fensterlose Vorzimmer erreicht, in dem sich ein großer runder Schreibtisch mit drei Sekretärinnen befand. „Ihnen scheint es auch gutzugehen, Richard." „So gut das möglich ist, wenn sich zwei hochbezahlte Kunden von mir gegenseitig an die Gurgel gehen." „Bitte in der Einzahl, Richard. Ich habe nicht die Absicht, jemandem an die Gurgel zugehen. Leider hat Marc immer noch Schwierigkeiten, seine Vorurteile abzulegen." „Bitte, warten Sie hier", bat der Assistent und verschwand in einem Büro. „Meine Vorurteile?" wiederholte Marcus ungläubig. „Nun, ich habe keine", antwortete Annie mit unschuldiger Miene. „Mir macht es nichts aus, mit jemandem zusammenzuarbeiten. Wie geht es Ken?" fügte sie rasch hinzu. Ziemlich geschickt, dachte Marcus und bewunderte Annie beinahe. „Es geht ihm gut." „Das freut mich. Stevie und Erin würden sich freuen, wenn er sie besuchen würde." „Ich habe nichts dagegen." Er blickte auf Madison Taylors verschlossene Tür und fragte sich, wie lange er hier noch stehen mußte, bevor er mit einer Ausrede verschwinden - 51 -
konnte. „Und wann?" Die Frage kam unerwartet. „Was wann?" „Wann kann Ken herüberkommen?" Marcus zuckte mit den Schultern. Er hatte geglaubt, Annie mache nur zwanglos Konversation, während sie warteten. Er hätte es besser wissen müssen. Sie tat nichts ohne Grund. „Brauchen Sie die Antwort sofort?" „Das wäre nett." Marcus blickte unschlüssig drein. „Ich weiß es nicht." Annies Miene verriet ihm, daß sie eine genauere Zeitangabe wünschte. „Sagen wir Sonnabend." „In Ordnung. Ich hole ihn ab." „Meinetwegen. Weshalb grinsen Sie so?" fuhr er Richard plötzlich an. Abwehrend hob der Agent seine Hände, die für einen so kleinen Mann erstaunlich groß waren. „Oh, aus keinem besonderen Grund. Ich habe noch nie einen Film mit Katharine Hepburn und Spencer Tracy im Alltag erlebt, das ist alles.“ „Was soll das denn heißen?" wollte Marcus wissen. Waren denn alle verrückt geworden? „Sehen Sie sich einen an, dann werden Sie es verstehen, mein Lieber." Ich muß den Agenten wechseln, dachte Marcus. Wenn er dieses Spiel noch lange mitmachte, landete er garantiert auf der Couch eines Psychiaters. Der unauffällige Assistent kehrte zurück und ließ die Tür offen. „Mr. Taylor bittet Sie, hereinzukommen", erklärte er. „Na endlich", murmelte Marcus spöttisch und ging an dem jungen Mann vorüber. Annie hakte sich bei ihm ein. „Sind Sie gegen Tollwut geimpft, Marc?" fragte sie süßlich. „Wieso? Wollen Sie mich beißen?" erwiderte er schlagfertig. - 52 -
Sie lachte herzlich. „Eins zu null für Sie. Weshalb hatte ihr Lachen bloß solch eine Wirkung auf ihn? Hatte er nicht ohne Annie schon genügend Probleme? Jasons und Lindas Tod, Ken, seine Blockade beim Schreiben,... Mußte er unbedingt mit einer Frau zusammenarbeiten, die aussah, als sollte sie lieber in einem Bikini am Strand liegen? In einem kleinen dunkelroten Bikini... Marcus verdrängte das Bild, bevor er sich völlig zum Narren machte. „Sie atmen ja plötzlich so schwer", flüsterte Annie. Er blickte starr geradeaus. „Es ist ziemlich schwül." Sie sah Marcus wissend an. „Das wird gleich noch schlimmer.“ Annie ließ seinen Arm los und ging zu dem dünnen, knochigen. Mann, der hinter einem glänzenden schwarzen Schreibtisch saß. „Tag, Addison.“ Der Produzent trug eine runde schwarzgeränderte Brille und erhob sich leicht. Mit beiden Händen ergriff er ihre Hand. „Annie, Sie werden jeden Tag hübscher." Seine Herzlichkeit klang echt. Marcus betrachtete die junge Frau. Sie trug ein hübsches weißes Kostüm mit engem Rock und einer leuchtend roten Seidenbluse: Als brauche sie Farbe, um in Schwung zu kommen. „Sie kennen sich?" fragte er. Annie blickte über die Schulter zurück, und Addison ließ sie los. „Natürlich." Wieso hatte er etwas anderes angenommen? Marcus ermahnte sich, nicht die Geduld zu verlieren. Je früher dieser Besuch vorüber war, desto schneller saß er wieder an seinem Arbeitsplatz. Er reichte Addison die Hand. Für solch einen kleinen Mann besaß Taylor einen erstaunlich festen Händedruck. „Ich bin Marcus Sullivan." „Ich weiß. Wenn er lächelte, sah Addison Taylor wie ein - 53 -
Junge aus, der einen Erwachsenen spielte. „Schließlich muß ich Ihnen eine Menge Geld zahlen." Marcus sah Richard fragend an, und der lächelte geduldig zurück. Nichts konnte den Agenten erschüttern. Addison deutete auf die blauen Brokatstühle vor seinem Schreibtisch. Annie nahm den Stuhl, der dem Produzenten gegenüberstand. Das Zentrum des Sturms, dachte Marcus. „Dieses Treffen findet vor allem Ihretwegen statt, Marcus", begann Addison das Gespräch. Marcus straffte sich innerlich. Weshalb? überlegte Annie. Erwartete er einen Angriff? Was für ein schreckliches Leben, ständig auf der Hut zu sein und das Schlimmste zu befürchten. Ob Marcus immer so gewesen war? Oder hatte ihn ein bestimmtes Ereignis so mißtrauisch gemacht? Sie hörte kaum zu, was Addison sagte. Viel mehr interessierte sie der Mann, der jetzt rechts von ihr saß. „Ich möchte die Leute kennenlernen, mit denen ich arbeite", fuhr Addison fort, „und meine Gedanken mit ihnen austauschen.“ Addison Taylor sprach von Leuten, mit denen er arbeitete, und nicht von Menschen, die für ihn arbeiteten. Das gefiel Marcus; und er korrigierte seine Meinung über den Mann ein wenig. Allerdings wollte Addison seine Gedanken mit ihm austauschen. „Über den Roman, nehme ich an", antwortete Markus vorsichtig. ,,Nein, gewiß nicht. Über das Drehbuch", verkündete Addison lebhaft und rieb sich unbewußt die Hände. „Der Roman gehört Ihnen allein. „Den Film...“ Er beugte sich in seinem dickgepolsterten Sessel vor und sah das Trio an. „Den Film machen wir dagegen zu dritt." Annie merkte, daß Marcus die Vorstellung, seine Geschichte gehöre allen, nicht gefiel. Eine winzige Falte - 54 -
bildete sich über seiner Braue, und seine Miene wurde härter. Auf keinen, Fall darf es jetzt zu einem Streit kommen, überlegte sie. Obwohl Addison Taylor ein genialer Geschäftsmann war, konnte das passieren. Er besaß einen eisernen Willen und erwartete, daß man seiner Meinung zustimmte. „Über dem Titel des Films wird mein Name stehen", fuhr der Produzent fort und beschrieb mit den Händen ein unsichtbares Banner. „Deshalb werden Sie verstehen, daß ich erheblich mehr als nur Geld in dieses Projekt investiere." „Ja, sicher", sagte Marcus. Er begriff nur allzu gut, war aber nicht bereit, klein beizugeben. Manche Dinge mußten von vornherein klargestellt werden, gleichgültig, welche Folgen es hatte. „Ich, verstehe durchaus." Er blickte nach links. Annie hatte die Hand auf seinen Arm gelegt, als könnte sie ihn mit dieser kleinen Geste besänftigen. „Ich habe die Unterlagen mit Ihren Wünschen bekommen, Addison", mischte sie sich in das Gespräch, bevor die Männer zu streiten begannen. „Natürlich werden wir sie berücksichtigen." Inständig bat sie Marcus mit ihren, Blicken, unbedingt zu schweigen. „Aber meinen Sie nicht, daß Sie erst einen Entwurf des Drehbuchs haben sollten, bevor wir weiter darüber diskutieren?" „Weiter?" wiederholte Marcus. „Wir haben bisher...“ „Wir haben", unterbrach Annie ihn. „Sie vielleicht", verbesserte er sie. Ihm gefiel schon nicht, wenn man in seiner Gegenwart über seine Arbeit redete - hinter seinem Rücken mochte er es erst recht nicht. Der Druck verstärkte, sich. Annie preßte seine Handfläche fest auf die geschnitzte Armlehne. „Derzeit bin ich ein Teil dieses „Wir"', erinnerte sie ihn leise. Aber nicht mehr für lange, wenn ich es verhindern kann, dachte Marcus, „Da ist noch etwas..." „Wofür er Ihnen danken möchte", fiel Richard ein und - 55 -
übernahm Annies Rolle. Er kannte die Gefahrenzeichen bei Marcus besser als sie. „Marcus hatte keine Ahnung, was die Zusammenarbeit mit einer Partnerin bedeutet, und findet..." „...daß Sie eine hervorragende Wahl getroffen haben", ergänzte Annie. „Wie immer," Addison Taylor verzog seine schmalen Lippen zu einem breiten Lächeln, das seine Jungenhaftigkeit unterstrich. Das Produkt meines Geistes befindet sich in den Händen eines Teenagers, dachte Marcus entsetzt. „Nun, nachdem alles seinen geregelten Gang geht und Sie meine Unterlagen haben, brauche ich mich wohl nicht zu wiederholen. Wenn keiner von Ihnen etwas dagegen hat, werden wir unsere Zusammenkunft beenden. Ich erlebe zur Zeit eine Komödie in Studio 6, die alles andere als komisch ist." Addison stand auf und kam um den Schreibtisch herum. Zu Marcus' Überraschung war er kaum größer als Annie. Wieder reichte ihm der Produzent die Hand. „Nett, Sie endlich kennengelernt zu haben, Marcus. Ich bin seit langem ein Fan von Ihnen." Marcus umschloß die schlanken Finger mit seiner großen Hand. „Danke." Er meinte es aufrichtig. Selbst wenn die Leute seine Bücher nicht mehr kauften, würde er weiterschreiben. Für ihn war Schreiben ebenso wichtig wie die Luft zum Atmen. Trotzdem war es schön zu hören, daß die Menschen seine Bücher mochten. Das war nicht selbstverständlich. Addison ging vor ihnen nach draußen, gefolgt von seinem Assistenten. „Was sollte das Ganze?" fragte Marcus. Er nahm Annies Arm und schob sie in Richtung Ausgang. „Was das sollte?" Annie nickte Addisons Sekretärin zu, als sie an denn Schreibtisch vorübereilten. Die Frau wunderte sich, daß Marcus sie so fest im Griff hielt. „Es ist alles in Ordnung. Er liebt den körperlichen Kontakt", - 56 -
klärte Annie sie auf. Neidisch blickte die Frau ihnen nach. Das ist ja ein Alptraum, dachte Marcus, während sie auf den Korridor traten. „Mußte das wirklich sein?" „Was?" Annie fragte sich, wie lange er dieses Tempo durchhielt. Mit der flachen Hand schob Marcus die Haustür auf und ließ Annie immer noch nicht los. „Mußten Sie derart die Aufmerksamkeit auf sich - auf uns lenken?" „Wer schiebt denn hier wen hinaus?" erwiderte sie. Als Marcus sie sofort losließ und schuldbewußt dreinblickte, tat er ihr beinahe leid. Deshalb fuhr sie fort: „Wollten Sie vorhin eine Frage stellen?" Richard war inzwischen ebenfalls herausgekommen. Er stand ein wenig abseits und beobachtete vergnügt das Wortgeplänkel. Annie hatte ihn so verwirrt, daß Marcus seine Frage vergessen hatte. Deshalb zeigte er mit dem Finger auf das Gebäude und schimpfte: „Was sollte das Getue da drinnen?" Weshalb war Marcus so eigensinnig? Begriff' er nicht, daß, sie ihm einen Gefallen getan hatte? „Wollten Sie etwa mit Addison über die Veränderungen an Ihrem Roman reden?" „Nein", stieß er hervor. „Wollten Sie ihm bestätigen, daß Sie alle seine Wünsche in das Drehbuch übernehmen werden?" Als Marcus sie nur finster ansah, fuhr sie fort: „Nun, falls Sie es nicht gemerkt haben: Ich habe Ihnen gerade eine Menge Ärger erspart. Addison ist gleich viel milder gestimmt, wenn seine Leute harmonisch zusammenarbeiten." Nach Marcus' Ansicht war das höchstens eine Hinhaltetaktik, mit der sie das Unabwendbare nur hinausschoben. „Und was passiert, wenn das Drehbuch auf seinen Tisch kommt und die Veränderungen nicht darin enthalten sind?" „Er wird keine Schwierigkeiten machen, solange die - 57 -
Geschichte in Ordnung ist." Annie strahlte Marcus an. „Vertrauen Sie mir." Das war ja das Problem: Marcus konnte Annie nicht vertrauen. Die innere Stimme sagte ihm, daß es sehr gefährlich werden konnte, wenn er es tat. Vertrauen zog Enttäuschung nach sich. „Ich nehme an, Sie haben so etwas schon erlebt", meinte er und beobachtete fasziniert, wie die Sonne in ihrem Haar spielte. Annie merkte, daß Marcus sie betrachtete, und ihr Puls beschleunigte sich einen Moment. „Ungefähr sechs- oder siebenmal." Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Es war erst zehn, zu früh zum Mittagessen. „Ich glaube, ich schulde Ihnen eine Tasse Kaffee." Sie lächelte vergnügt. „Mindestens." Marcus antwortete vorsichtshalber nicht auf diese Bemerkung. Plötzlich fiel ihm sein Agent wieder ein, und er wandte sich an Richard. „Kommen Sie mit?" Richard hob beide Hände. „Mir liegt nichts daran, beim Ausbruch eines Kriegs in der ersten Reihe zu sitzen. Außerdem er sah ebenfalls auf die Uhr. „Außerdem habe ich um elf einen Termin. Bringen Sie Marcus nach Hause" fragte er Annie und küßte sie auf die Schläfe. „Wenn er mich läßt...“ Marcus stutzte. Plötzlich wurde ihm klar, daß er in letzter Zeit kaum noch über sein eigenes Leben bestimmen konnte. Nicht, wenn es nach Annie ging. „Feigling", schrie er hinter Richard her. „Viel Spaß noch", rief sein Agent fröhlich zurück. Einen Moment standen Marcus und Annie sich verlegen gegenüber. Dann deutete sie nach links. „In dem Block hinter dem Filmgelände ist ein kleines Restaurant, falls es Ihnen ernst war mit dem Kaffee." Marcus hatte keine Ahnung, weshalb er diese Einladung - 58 -
ausgesprochen hatte. Vorübergehende Geistesgestörtheit schien ein Teil seines Lebens zu werden. „In Ordnung", antwortete er gleichmütig und ging zu ihrem Wagen. „Haben Sie etwas dagegen, wenn ich fahre?" „Wenn Sie möchten..." Annie reichte ihm die Schlüssel und setzte sich auf den Beifahrersitz. Marcus schloß die Tür etwas zu heftig und ging vorn um den Wagen herum. „Immer den anderen eine Nase voraus. Ist das Ihr Grundsatz?" „Wie haben Sie das erraten?" Annie ließ Marcus einen Moment Zeit und sah zu, wie er den Wagen startete. Seine Hände waren groß und kräftig. Sicher wußte er instinktiv, wie er eine Frau liebkosen mußte, damit sie sich nach mehr sehnte. Sie holte tief Luft, lehnte sich zurück und schob alle weiteren Gedanken beiseite. Dafür war es noch viel zu früh.
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5. KAPITEL Das Restaurant auf dem Filmgelände war hell und laut. Eine breite Theke lief an der Wand entlang. Fast alle Plätze waren von kostümierten Gästen besetzt. Annie und Marcus waren die einzigen in Straßenkleidung. Er hätte es wissen müssen. „Das Restaurant ist beinahe Tag und Nacht geöffnet und bekannt für seine Besucher." Annie nickte zu einer Ecke. Dort saßen zwei Gestalten, deren Geschlecht er nicht erraten konnte, weil sie als Früchte verkleidet waren. Fragend sah er Annie an. „Wahrscheinlich drehen sie einen Werbespot. Oder einen Science-fiction-Film." Die ganze Situation gleicht einem Science-fiction-Film, dachte Marcus. „Möchten Sie an der Theke sitzen?" Annie deutete auf zwei freie Plätze zwischen einem Kanonier und einem Wikinger. „Nein, lieber am Tisch." Schon bahnte sie sich einen Weg durch die Menge. „Ich habe es geahnt." Eine große Frau mit einer rosa Federboa um die Schultern streifte Marcus absichtlich und warf ihm einen einladenden Blick zu. Ihre Boa kitzelte ihn in der Nase, und er hätte beinahe geniest. „Ich wünschte, Sie würden aufhören, ständig meine Gedanken zu erraten", sagte er und folgte Annie. „Einverstanden, Wenn Sie etwas gegen Ihren Typ tun." „Was für ein Typ bin ich nach Ihrer Meinung denn?" Sie setzte sich an einen freien Tisch und sah Marcus mit unschuldiger Miene an. „Ein zurückhaltender." Wieder brachte sie sein Blut ins Wallen. Wären die Leute ringsum nicht gewesen, hätte er Annie an sich gezogen und sie fest auf den Mund geküsst, um ihr zu beweisen, wie zurückhaltend er war. Nein, nicht die Leute hielten ihn davon ab, es war seine Vernunft. Marcus wußte, wie gefährlich so etwas war, und er - 60 -
hatte nicht die Absicht, ohne Netz zu arbeiten. Oder doch? Weshalb saß er mit Annie hier? Holly hatte jede Menge Kaffee zu Hause. Marcus wußte keine Antwort auf diese Frage. Er hatte nur eine seltsame Vorahnung. Marcus trank den Kaffee und dachte über seine Lage nach. Der Kaffee war überraschend gut. Das kam in amerikanischen Restaurants nicht oft vor. Ein Problem war nur, daß Annie so dicht neben ihm saß. Sie brachte ihn auf Gedanken, die absolut nichts mit dem Schreiben des Drehbuchs zu tun hatten, und das durfte nicht sein. „Sind Sie oft hier?" Aus dem Mund eines Bestsellerautors war das eine erbärmliche Frage. Annie tat, als merke sie es nicht. „Nur wenn ich eine Besprechung mit Addison habe." „Kennen Sie ihn schon lange?" Der Gedanke gefiel Marcus nicht. Noch weniger gefiel ihm, daß es ihm nicht gleichgültig war. Dazu bestand kein Anlass. Endlich einmal eine persönliche Frage, dachte Annie. Die Mauer um ihn herum scheint zu bröckeln. Es wurde auch langsam Zeit. „Schon eine Ewigkeit", antwortete sie. „Früher kam Addison oft zu uns nach Hause in das Haus meiner Eltern", fügte sie hinzu. Marcus' Blick war derart düster geworden, daß eine solche Klarstellung ratsam erschien. „Er war ganz versessen darauf, alles über das Filmen zu lernen, und hatte den einzigen Wunsch, wirklich gute Filme zu drehen. Mein Vater freute sich über diesen Eifer. Deshalb nahm er Addison unter seine Fittiche und machte ihn mit vielen wichtigen Leuten bekannt." Sie beugte sich über den kleinen Tisch, der sie trennte. Marcus hätte nicht sagen können, weshalb diese Bewegung so - 61 -
vertraulich war. Langsam bekam er das Gefühl, daß Annie sogar die Lektüre eines Telefonbuchs zu einem intimen Erlebnis machen konnte. „Wenn Addison seinen Namen für einen Film nach Ihrem Roman hergibt, wird das eine großartige Sache. Er vertraut voll darauf." „Genügend, um mir alles allein zu überlassen?" „Der Mann würde nicht mal den Göttern trauen. Annie lachte. „Den allerersten Film unter seinem Namen drehte er nach einem Buch meines Vaters. Addison war überall gleichzeitig. Er führte Regie, prüfte die Kameraeinstellungen, die Drehorte etc. Kurz gesagt, er mischte sich in alles ein und ließ den Fachleuten keine Chance. Als der Streifen abgedreht war, hatte er alle verrückt gemacht, sich selber eingeschlossen. Aber es wurde ein wunderbarer Film." Annies Augen leuchteten so sehr, daß Marcus die nächste Frage unbedingt stellen mußte. „Haben Sie ein Verhältnis mit ihm?" Außerordentlich feinfühlig, schalt er sich gleich darauf. „Mit Addison?" Annie lachte erneut. Der Produzent war wie ein Bruder für sie. „Nein, nicht in dem Sinn, den Sie meinen." Sie konnte nicht widerstehen. „Wie kommen Sie auf diese Frage?" Marcus zuckte mit den Schultern und rührte bedächtig seinen Kaffee um. „Aus keinem bestimmten Grund. Es war nur so ein Gedanke." „Aha." Annie verbarg ihr Lächeln hinter der Kaffeetasse. Sie brauchte einen Moment, um sich wieder zu fassen. Wenn sie jetzt lachte, würde Marcus aufstehen und für immer aus ihrem Leben verschwinden. „Addison hat wirklich ein sehr gutes Urteilsvermögen, Marc. An Ihrer Stelle würde ich mir seine Vorschläge - und meine - gründlich überlegen.“ Ja, das würde sie sicher tun. Aber er nicht. „Addison hat mein Buch gekauft und damit auch meine Auffassung von den Hauptgestalten." - 62 -
„Richtig", stimmte Annie ihm zu. „Aber man kann nicht beinahe fünfhundert Seiten auf die Leinwand bringen. Zumindest nicht, ohne den Zuschauern erhebliche Blasenprobleme zu bereiten." Als Marcus eine Lösung dafür vorschlagen wollte, fuhr sie rasch fort: „Abgesehen davon, lassen sich manche Dinge nicht in einen Film übertragen, so gut sie sich auch lesen." Sie ahnte, daß Marcus diese Bemerkung nicht gefiel. „Ich fürchte, wir müssen ganze Abschnitte aus Ihrem Buch streichen." Annie sprach schnell, und Marcus hatte Mühe, aufmerksam zu bleiben, um sein Buch zu verteidigen. Doch er lauschte nur wie gebannt ihren Worten. Endlich schüttelte er den Kopf, um wieder klar denken zu können. „Das klappt nie." „Was klappt nicht?" Einen Moment glaubte sie, eine Einladung in seinem Blick zu erkennen, und die Fantasie ging mit ihr durch. Vielleicht passierte ja etwas sehr, sehr Schönes zwischen ihnen. Genau das wünschte sie sich. Und sie würde erst wieder aus seinem Leben verschwinden, nachdem es geschehen war. „Das mit dem Drehbuch oder die Sache zwischen uns?“ „Zwischen uns?" Annie erriet seine Gedanken entschieden zu gut. Er hatte recht, wenn er die Zusammenarbeit beenden wollte. „Ja, zwischen uns." Sie fühlte sich stark zu Marcus hingezogen. Aber vielleicht wurde nichts daraus, weil er sich zu sehr dagegen wehrte. Noch brauchten sie beide die Lüge, um das Gesicht zu wahren. Deshalb fügte sie hinzu: „Unsere Zusammenarbeit.“ Er trank seinen Kaffee aus und stellte die Tasse heftig ab. „Beides wird nicht klappen." „Sie irren sich." Marcus fragte sich, ob sie je eine Antwort unwidersprochen ließ. „In welchem Punkt?" „In beiden." Sie lächelte, um das Beben zu überspielen, das - 63 -
ihren Körper durchlief. „Alles wird klappen, wenn Sie es nicht verhindern." Seine Brust wurde plötzlich eng, und sein Atem ging schwer. Annies Anwesenheit genügte, und er bekam kaum noch Luft. „Und wenn ich mich weigere, mein Buch aus der Hand zu geben und mit dem Strom zu schwimmen?" Es wäre entschieden einfacher, Annie nicht wiederzusehen. Er brauchte das Drehbuch nicht. Geld und Ruhm waren ihm gleichgültig. Er besaß von beiden mehr als genug, und weder das eine noch das andere hatte ihn glücklich gemacht. Sein Instinkt riet ihm, das Band zu kappen und das Weite zu suchen. Weshalb tat er es dann nicht? Jeder Mensch trägt einen selbstzerstörerischen Zug in sich, überlegte Marcus. Dies war seiner. „Dann werden Sie gewaltigen, juristischen Ärger bekommen. Sie haben Verträge unterschrieben, mein Lieber. Addison mag in manchen Dingen butterweich sein. Aber er nimmt sein Geschäft - und seine Verträge - sehr, sehr ernst." Annie schob ihre Tasse beiseite. „Weshalb wollen. Sie nicht mit jemandem zusammenarbeiten? Liegt es an mir?" Vor zwei Tagen', wäre es noch einfach gewesen, jetzt ja zu sagen. Diesen Zeitpunkt hatte er verpaßt. Deshalb beschloß Marcus, auf Nummer Sicher zu gehen. „Ich mag meine Gedanken nicht mit jemandem teilen. Aus diesem Grund habe ich noch nie mit einem Partner gearbeitet. Wenn er das tat, lag er wie ein offenes Buch vor Annie. Er war ihr ausgeliefert und wurde verletzlich. Und genau das wollte er nicht. Aber ich möchte, daß Sie Ihre Gedanken mit mir teilen, antwortete Annie stumm. Ich möchte wissen, was Sie denken und weshalb. Ich möchte, daß Sie mir alles erzählen. „Vielleicht ist es an der Zeit für eine neue Erfahrung." Annie reichte ihm als neue Erfahrung. Marcus dachte an - 64 -
ihren ständigen Streit über die Auslegung seines Buches. Der Schlagabtausch hatte gestern kein Ende genommen. Der Duft ihres Parfüms war ihm noch lange in der Nase geblieben, nachdem sie mit den beiden Kindern gegangen war. „Ich bin nicht sicher, ob ich Tag für Tag mit jemandem zusammenarbeiten kann.“ Das war zumindest ehrlich. Daß seine Hände in ihrer Gegenwart feucht wurden, selbst wenn er noch so wütend auf sie war, brauchte sie nicht zu wissen. Schallendes Gelächter erscholl hinten im Restaurant, und fünf Weltraummänner schlenderten hinaus. Ihre Antennen wippten beim Gehen. Annie betrachtete sie flüchtig und lächelte unbewußt. „Wir haben uns bereits auf die Grundregeln und die Haupthandlung geeinigt. Der Rest sollte nicht mehr allzu schwierig sein." War das ihr Ernst? War denn Annie gestern nicht selber dabeigewesen? Sie hatte eine Prostituierte aus einer Barszene streichen wollen, weil die Frau ihrer Ansicht nach dem sympathischen Charakter des Haupthelden schadete. Beinahe drei Stunden hatten sie darüber gestritten. „Sind Sie immer so optimistisch?" Es klang spöttisch, aber sie überhörte es absichtlich. „Fast immer. Nur wenn ich zur Vorsorge zum Zahnarzt muß, bekomme ich ein bißchen Angst. Aber dann sage ich mir: Weshalb das Schlimmste annehmen? Meistens ist gar nichts kaputt." Weil das größte Loch in Ihrem Kopf ist, hätte er beinahe geantwortet. Annie stemmte die Ellbogen, auf den Tisch, legte die Hände zusammen und stützte das Kinn darauf. Sie merkte nicht, daß die Kellnerin mit der Rechnung kam. Marcus erinnerte sie an einen herrenlosen Welpen, der viel Liebe und Verständnis brauchte. Sicher, er wollte seine Arbeit nicht aus der Hand geben, aber es steckte noch mehr dahinter. Schon bei der Lektüre seines ersten Buches hatte Annie sich - 65 -
mit dem Mann hinter den Worten beschäftigt. Nach dem sechsten Buch war sie absolut fasziniert gewesen. Und hätte sie noch Zweifel gehabt, hätte der verstorbene Jason Danridge sie ausgeräumt, der Marcus sein eigenes Kind anvertraut hatte. Annie interessierte sich nicht für American Football, doch Jasons Namen kannte sie. Die Welt hatte ihm zu Füßen gelegen, und er hätte jeden zum Freund haben können. Aber er hatte Marcus gewählt. Und das mußte einen Grund haben. Diesen Grund wollte Annie erfahren. Vielleicht erklärte er, weshalb ein so empfindsamer Mann, der so aufrüttelnde Geschichten schrieb und soviel Einfühlungsvermögen in seinen Büchern bewies, als Mensch derart abweisend blieb. Annie war der Meinung gewesen, daß sie sich nicht noch einmal himmelhochjauchzend verlieben könnte. Normalerweise war sie fröhlich und kam mit allen Menschen gut aus. Aber einen kleinen Rest von sich hielt sie zurück. Den hatte sie nur Charlie offenbart, und sie hatte geglaubt, daß er mit ihm gestorben sei. Es war schön, daß sie sich geirrt hatte. Und gleichzeitig ein bißchen beängstigend. „Nun, nachdem wir jetzt so angeregt sind..." Annie stand auf, und Marcus ging zu ihr und zog ihren Stuhl zurück. „Wie bitte?" Annie brauchte nur den Mund zu öffnen, schon war er verwirrt. „Vom Kaffee." Sie sah ihn schelmisch an. Wieder hatte er sie nicht verstanden, und er fragte sich, ob dieses Wunder irgend jemandem gelang. „Ach so." Er ließ ein Trinkgeld auf dem Tisch und führte sie hinaus. „Sind Sie bereit, wieder an die Arbeit zu gehen, oder müssen Sie es sich noch einmal überlegen?" fragte Annie. Marcus gehörte nicht zu den Menschen, die sich vor einer Verantwortung drückten. „Ich glaube, je früher wir es hinter uns bringen, desto schneller kann ich wieder ein normales - 66 -
Leben führen." Sie nahm seinen Arm und ging mit ihm zum Wagen. „Mein lieber Marc, Sie haben eine einmalige Gabe, einer Frau das Gefühl zu geben, der Mittelpunkt Ihrer Welt zu sein." Die Sonne stand hoch am Himmel, und ein leichter Dunst hing in der Luft. Der Parkplatz war mit Kies bestreut und entsetzlich staubig. „Marcus", verbesserte er sie. „Es wäre mir lieber, wenn Sie mich Marcus nennen würden." Annie steckte den Schlüssel in die Tür und sah ihn fragend an. „Nur wenn ich Sie offiziell zum Duell herausfordere. Möchten Sie wieder fahren?" Marcus wunderte sich, daß sie ihm den Wagen zweimal an einem Tag überlassen wollte, und setzte sich ans Lenkrad. „Können Sie nie ernst sein?" „Doch." Das Schloß des Sicherheitsgurts rastete hörbar ein. „Wann?" „Wenn ich arbeite. Die Arbeit ist mit sehr, sehr wichtig." Sie entdeckte Bekannte, die in das Restaurant gehen wollten, und winkte ihnen aus dem Fenster zu. „Mir ebenfalls." Marcus bog mit dem Wagen auf die Straße. „Schön, dann sind wir uns endlich über etwas einig. Der Rest wird schon kommen." Der Verkehr war ausgesprochen dicht, und sie kamen nur mühsam voran. Wie eine, Lawine", antwortete Marcus. Es wurde immer wärmer. Annie schloß das Fenster und schaltete die Klimaanlage ein. „Wir müssen unbedingt etwas gegen Ihre pessimistische Lebenseinstellung tun, Marc", erklärte sie tadelnd. „Sie könnten mir zum Beispiel sagen, daß dies alles ein Alptraum ist. Vielleicht wache ich dann voller Optimismus auf." „Nein", antwortete sie und schüttelte den Kopf. „Das hat man einmal im Fernsehen gezeigt. Niemand, hat es geglaubt." „Dann sitzen wir in der Klemme." - 67 -
„Das fürchte ich auch." Bestimmt nicht so, wie ich, dachte, Marcus. Ganz bestimmt nicht. „Kennen Sie sich mit Autos aus?" Erschrocken sah Marcus auf. Annie und er hatten sechs Stunden ernsthaft gearbeitet und sich die meiste Zeit gestritten. Erschöpft hatte er bei mehr als der Hälfte der Punkte nachgegeben. Soll sie ihren Willen bekommen, sagte er sich. Solange er noch glauben konnte, daß er sich hätte durchsetzen können, wenn er hartnäckig geblieben wäre, konnte er damit leben. Doch tief im Innern fürchtete er, daß niemand gegen diese Frau ankam. Vor fünf Minuten hatte Annie sich verabschiedet, und er freute sich auf einen ruhigen Abend. Und jetzt stand sie wieder da und sah nicht halb so müde aus wie er. „Ob ich was kann?" „Kennen Sie sich mit Autos aus?" wiederholte Annie und deutete nach draußen. „Mein Wagen steht in Ihrer Einfahrt und sagt keinen Ton." Nehmen Sie sich ein Beispiel an ihm, hätte Marcus beinahe geantwortet. Aber er wollte nicht gehässig sein, selbst wenn Annie es verdient hatte. „Was ist damit los?" „Wenn ich das wüßte, hätte ich Sie nicht gefragt", fuhr sie ihn an. Na, na, na, dachte Marcus belustigt. Also gab es doch etwas, das Annie aus der Ruhe brachte. Das war ermutigend. „Nein, mit Autos kenne ich mich nicht aus. Dafür um so besser mit dem Telefon." Er griff zum Hörer. „Soll ich meine Werkstatt anrufen, damit der Wagen abgeschleppt wird?" Annie nickte. Sie brauchte nicht zu fragen, ob es eine gute Werkstatt war. Wenn Marcus sein Cabrio dort reparieren ließ, - 68 -
konnte sie sich darauf verlassen. Sie warf einen Blick auf das Papier, das sauber neben dem Drucker gestapelt war. Heute hatten sie eine Menge geschafft. Es war ein guter Anfang gewesen. Vielleicht wurden sie sogar früher fertig als geplant. Ich wette, Marcus freut sich darüber, dachte Annie. „Die Werkstatt schickt morgen früh jemanden her verkündete Marcus und wollte auflegen. Annie nickte, nahm ihm den Hörer ab und blickte sich suchend im. „Wo haben Sie die Gelben Seiten?" fragte sie. Natürlich lagen die Telefonbücher bei Marcus nicht frei herum. Er zog den schweren Band aus der unteren Schublade und reichte ihn ihr. „Wen wollen Sie anrufen?" „Ein Taxi." Rasch blätterte sie die Seiten durch und fand, was. sie suchte. „Ich nehme nicht an, daß ich hier draußen kampieren soll, bis der Wagen repariert ist. Außerdem muß ich mich um meine Hündin kümmern. Sie bekommt nämlich Junge." Marcus war selten impulsiv. Das war er nur bei Jason und Linda gewesen. Bei ihnen hatte er sich geben können, wie er war. Trotzdem drückte er plötzlich die Gabel nieder und unterbrach die Leitung. Annie sah ihn an und wartete auf eine Erklärung. „Ich fahre Sie nach Hause." „Wenn es Ihnen keine Mühe macht..." antwortete sie vorsichtig, damit Marcus es sich nicht anders überlegte. „Das schon", antwortete er ungewöhnlich heftig, weil er sich über sich selber wunderte. „Weshalb..." „Wollen wir auch darüber streiten?" „Nein, nein. Einem geschenkten Gaul guckt man bekanntlich nicht ins Maul. Hier." Sie reichte ihm die Schlüssel. „Der Mechaniker wird sie morgen brauchen." Geistesabwesend steckte Marcus die Schlüssel in die - 69 -
Tasche, schrieb rasch ein paar Worte für Holly und ging mit Annie hinaus. Er wollte nicht darüber nachdenken, weshalb er ihr das Angebot gemacht hatte. Er war müde und brauchte frische Luft. Mehr steckte nicht dahinter. Marcus schaltete die Zündung ein und drehte sich zu Annie. „Wo wohnen Sie überhaupt?" Annie nannte ihm ihre Adresse in Malibu?" „Das ist in der Nähe des Strands, nicht wahr?" sagte er und fuhr los. „Nein, es ist direkt am Strand", verbesserte Annie ihn. „Nachts höre ich die Wellen ans Ufer schlagen. Das ist sehr beruhigend." Nach Charlies Tod hatte sie ausziehen wollen, weil die Erinnerungen zu schmerzlich gewesen waren. Aber sie liebte das alte Haus, und sie wußte, daß sie die Erinnerungen mitnehmen würde. Sie blieben immer ein Teil von ihr und gehörten zu ihrer Persönlichkeit. „Der Grund und Boden ist dort sehr teuer." Das stimmte. Zahlreiche Makler hatten sich schon an sie gewandt und ihr fantastische Preise genannt, falls sie das Haus verkaufen wollte. „Das Haus ist bereits lange in Familienbesitz. Mein Großvater hat es gekauft, als er hierherzog. Er hat es mir nach seinem Tod vermacht.“ Er hörte die Zärtlichkeit in ihrer; Stimme. „Haben Sie sehr an' ihm gehangen?" Marcus wußte nicht, weshalb er das fragte. Vielleicht weil er sich immer nach der Wärme einer Familie gesehnt hatte. Bei ihm zu Hause hatte man kein Gefühl gezeigt. Beide Eltern hatten sich heftig gewehrt, als er ihnen als kleiner Junge seine Zuneigung beweisen wollte. Schließlich hatte er erkannt, daß er sie durch seine Anwesenheit in Verlegenheit brachte. Deshalb hatte er das Elternhaus nach der High School verlassen und war nie mehr dorthin zurückgekehrt. Aber manchmal fehlte ihm eine Familie. Er vermißte die Nähe. Annie hatte als Kind vermutlich - 70 -
allen nahegestanden, selbst dem Postboten. Wenn Annie an ihren Großvater dachte, fielen ihr seine starken Hände ein, die sie hochgehoben hatten, und sein dröhnendes Lachen, mit dem er sie aufforderte, nach dem Himmel zu greifen. „Ja, ich habe sehr an meinem Großvater gehangen", sagte sie leise. „Für mich kam er gleich nach dem lieben Gott oder zumindest nach Walt Disney. Ich habe lange in Disneyland gewohnt, müssen Sie wissen", fügte sie hinzu. „Das hätte ich mir eigentlich denken können." „Und was ist mit Ihnen?" Marcus blickte auf die lange kurvenreiche Straße. „Was soll mit mir sein?" Annie beobachtete das Spiel der Schatten auf seinem aristokratischen Gesicht. Marcus besaß den Charakterkopf eines Dichters. Kein Wunder, daß sich ihr Puls bei diesem Mann beschleunigte. „An wem haben Sie besonders gehangen?" „An niemandem." Die Antwort klang so endgültig, daß es weh tat. "Und was war mit Jason? Haben Sie und er..." „Wir, sind zusammen zur Schule gegangen." Mehr sagte Marcus nicht. Doch gleichzeitig kehrten die Erinnerungen zurück. Seine Eltern hatten ihm die Liebe vorenthalten, deshalb hatte er sich nicht zu jenem Menschen entwickelt, derer sonst vielleicht geworden wäre. Jason hatte gemerkt, was in ihm verborgen war, und es an die Oberfläche gebracht. Wie einen Familienangehörigen hatte er ihn behandelt, und das war schön gewesen. Aber es war vorbei. „Und Sie...“ Konnte diese Frau ihn nicht in Ruhe lassen? Die anderen taten es doch auch. Nur Jason hatte nicht zugelassen, daß er sich in sein Schneckenhäuschen verkroch. Der Freund wäre auch mit jemandem wie Annie fertig geworden. Er, Marcus, - 71 -
hatte keine Ahnung, wie er das anstellen sollte. „Ich möchte nicht über Jason reden." Annie begriff, daß die Wunde noch zu frisch war. Einen Freund zu verlieren, jemanden, der einem nahestand, tat sehr weh. Das hatte sie selber zweimal erlebt. „In Ordnung, worüber wollen Sie dann reden?" „Für heute abend reicht es mir. Ich würde lieber schweigen." „Wenn Sie möchten..." „Ich möchte es." Die Stille dauerte nur rund drei Minuten, dann schaltete Marcus das Radio ein. Johnny Mathis sang einen weichen, romantischen Song, und er wechselte den Sender. Trommelund Gitarrenklänge dröhnten durch den Wagen. Zehn Minuten später hatten sie Annies Haus erreicht, und Marcus brachte sie zur Tür. „Hereinkommen möchten Sie wohl nicht?" Erwartungsvoll schaute Annie zu ihm hoch. Beinahe hätte Marcus es getan, um ihr zu zeigen, daß sie sich geirrt hatte. Aber er war müde und besaß keine Kraft mehr, weiter mit ihr zu streiten. „Ich glaube, es ist sicherer für mich, wenn ich Ihr Reich nicht betrete." Es war der reinste Selbsterhaltungstrieb, der ihn zu dieser Antwort veranlaßte. Je weniger er von Annie wußte, desto besser. Dadurch blieb die Schranke zwischen ihnen unversehrt. Nachdenklich blickte Marcus ihr in die Augen, und merkte im selben Moment, daß es ein Fehler war. Zu leicht konnte er sich in deren Tiefe verlieren. Es waren die sinnlichsten Augen, die er je gesehen hatte, und sie paßten zu Annies übrigem Körper. Instinktiv hob er die Arme und nahm ihren Kopf zwischen beide Hände. Wieder handelte er spontan. Das konnte zu einer gefährlichen Gewohnheit werden und paßte überhaupt nicht zu - 72 -
ihm. Langsam fragte Marcus sich, was für ein Mensch er tatsächlich war. Er schob die Finger in die blonden Wellen und senkte die Lippen, auf Annies Mund. So hatte er schon viele Frauen liebkost, aber er erinnerte sich an keine einzige. Diesen Kuß würde er sein Leben lang nicht vergessen. Bisher war Annie ihm wie ein Wirbelwind vorgekommen. Etwas Exotisches hatte er nicht an ihr bemerkt. Doch ihr Kuß erinnerte ihn an fremde, geheimnisvolle Länder, in denen Seide raschelte und die Luft erfüllt war von süßen Düften. Das war eine wunderbare, einzigartige Überraschung. Marcus hatte Annie küssen wollen, um seine Neugier zu befriedigen, die an ihm nagte, seit sie zum ersten Mal tropfnaß auf seiner Schwelle gestanden hatte. Jetzt reichte es ihm nicht mehr. Deshalb vertiefte er den Kuß, denn er weckte Gefühle in ihm, die er noch nie verspürt hatte. Leidenschaftlich zog er Annie an sich und wurde immer erregter. Ein Dutzend widersprüchliche Empfindungen durchströmten seinen Körper, während er ihren Mund in Besitz nahm. Immer wieder preßte er seine Lippen auf Annies Mund, gab ihn kurz frei und verschloß ihn erneut. Ihre Zungen berührten sich erst zögernd und scheu, dann immer kühner, und das Blut begann in ihren Adern zu rauschen. Weder Annie noch Marcus blieben davon unberührt. Der Kuß, den er aus Neugier begonnen hatte, wurde rasch fordernder, bis Marcus kaum noch Luft bekam und ihm der Kopf so schwirrte, daß er nicht mehr klar denken konnte. Er hatte das ungute Gefühl, ein Streichholz an eine sehr gefährliche Lunte zu halten. Die Explosion, die zwangsläufig folgen mußte, würde eine bleibende Wirkung auf sein künftiges Leben haben. Annie hatte dies nicht erwartet. Sie hatte gehofft, daß sie so - 73 -
etwas eines Tages erleben würde, war aber bisher nicht einmal in die Nähe solch einer Erregung gekommen. Ihr Kopf dröhnte wie bei einem Feuerwerk. Die Realität war versunken, wichtig war nur der Mann, der sie in den Armen hielt, dessen Körper sie stützte und verhinderte, daß sie zu Boden sank. Trotzdem glitt sie immer tiefer in einen dunklen Tunnel, an dessen Ende ein helles Licht lockte. Bebend ließ Marcus die Hände fallen und riß sich los. Wenn er jetzt nicht innehielt, würde er Annie auf die Arme heben, sie ins Haus tragen und unmittelbar hinter der Tür in Besitz nehmen. Annie wußte nicht, was sie sagen sollte; Marcus' Kuß war zu überwältigend gewesen und hatte ihr restlos den Verstand geraubt. Sie war völlig verblüfft und mehr denn je davon überzeugt, daß es diese ungeheure Anziehungskraft zwischen ihnen tatsächlich gab. Ich könnte mich jetzt entschuldigen, überlegte Marcus, oder auf der Stelle kehrtmachen und gehen. Es ist nicht auszuschließen daß Annie in dem Kuß mehr sieht, als er bedeutet hat. „Fassen Sie das nicht falsch auf", warnte er sie und war entsetzt, wie rauh seine Stimme klang. „Kann man das bei einem Kuß überhaupt?" Ihr schelmisches Lächeln verriet nicht, wie aufgewühlt sie innerlich war. Was sollte er darauf erwidern? Am besten war es, er zog sich zurück, bis er wieder klar denken konnte. „Durchaus", sagte er daher nur. „Bis morgen. „Darauf können Sie sich verlassen." Annie verschränkte die Arme vor der Brust und sah zu, wie Marcus zu seinem Wagen eilte und sich schleunigst in Sicherheit brachte.
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6. KAPITEL Marcus stand an dem Sprossenfenster und starrte auf die Regenbogenfarben, die sich beim Brechen der Sonnenstrahlen in dem dicken Glas bildeten. Doch seine Gedanken waren ganz woanders. Hinter sich hörte er die gedämpften Klänge eines Oldies, an den er sich nur vage erinnerte. Annie hatte ihm dieses Zugeständnis am dritten Morgen abgerungen. Sie arbeitete besser bei Musik, hatte sie behauptet. Er war auf Beethoven gefaßt gewesen und hatte die Beatles bekommen. Trotz der Musik hörte er das rhythmische Klicken der Tasten. Annie hatte eine neue Idee und arbeitete sie aus. Obwohl sie gleichzeitig reden und schreiben konnte, unterhielt sie sich glücklicherweise nur mit dem Computer. Selbst mit dem Rücken zu ihr sah Marcus das Bild deutlich vor sich. Ein totales Chaos. Annie schrieb inmitten eines entsetzlichen Durcheinanders und merkte es nicht einmal. Stapel von Notizen waren ohne System um sie herum ausgebreitet. Auf seiner Seite des Schreibtischs herrschte dagegen peinliche Ordnung. Wenn er arbeitete, mußte alles aufgeräumt sein. Die Sonnenstrahlen, die durch das Fenster fielen, tauchten, sein Arbeitszimmer in warmes Licht. Marcus drehte sich um und beobachtete Annie. Nach ihrer Miene zu urteilen, war sie sehr zufrieden. Schade, daß das nicht lange andauern würde. Sobald er gelesen hatte, was sie da zu Papier brachte, würden sie sich gewiß wieder streiten. Annie schreibt erheblich bessere Dialoge als ich, mußte Marcus zugeben. Die Gestaltung der Unterhaltung auf dem Papier geriet ihr zur zweiten Natur. Er selber formulierte lieber Gedanken und beschrieb Stimmungen. Auf ihre Weise ist Annie wirklich gut, überlegte er. Zwar - 75 -
anders, aber nicht schlecht. Das bedeutete allerdings noch lange nicht, daß er sie in sein Privatleben einlassen wollte. Die letzten eineinhalb Wochen waren ihm wie ein ständiger Kampf vorgekommen, und er war ganz entschieden kriegsmüde. Zum Glück war seine Schreibblockade vorüber. Zweifellos hatte sein Selbsterhaltungstrieb die Oberhand gewonnen. Wäre sein Verstand nicht wieder tätig geworden, hätte Annie ihn überrollt und ungestört weitermachen können. Annie war immer bestens vorbereitet, das mußte Marcus ihr lassen. Ausgerüstet mit ihrem PC, Stapeln von Notizen und einer geradezu sträflich guten Laune, kam sie zwar spät, aber sie kam. Offensichtlich lebte sie nach einer inneren Uhr, die noch nicht von der Umwelt verstellt worden war. Außerdem war sie entschlossen, sich nicht nur um seine Arbeit zu kümmern. Sie steckte ihre Nase auch in sein Privatleben, wie er es früher nur Jason und Linda erlaubt hatte. Nichts konnte sie davon abbringen, weder Eiseskälte noch Spott. Das Wort Intimsphäre kannte sie nicht. Sogar mit seiner Haushälterin duzte sie sich inzwischen. Zum ersten Mal seit Marcus sie kannte, machte Holly kein grimmiges Gesicht. Am wichtigsten war jedoch Annies erstaunliche Wirkung auf Ken. Sie hatte erreicht, was er, Marcus, vergeblich versucht hatte. Der Junge, der am Anfang zu schüchtern gewesen war, um sein Arbeitszimmer zu betreten, entwickelte sich inzwischen von einem stillen Gast zu einem ganz normalen siebenjährigen Kind. „Was in aller Welt ist das" hatte Marcus erst heute morgen gefragt. Schwankend unter der Last hatte Annie mit ihrer Aktentasche und - einem ziemlich großen Karton auf der Schwelle gestanden, den er ihr sofort abgenommen hatte. „Ist Ihnen schon mal der Gedanke gekommen, daß man auch - 76 -
zweimal zum Wagen gehen kann?" „Das würde viel zu lange dauern.“ Sie war ziemlich außer Atem gewesen, und ihre Stimme hatte heiser geklungen. Unwillkürlich hatte er sich gefragt, ob sie auch so klang, nachdem sie mit einem Mann geschlafen hatte. Wenn er klug war, versuchte er lieber nicht, es herauszufinden. Annie war keine Frau, die durch sein Leben ging, ohne Spuren zu hinterlassen. Das war ihm schon klar geworden, als er sie geküßt hatte. Deshalb durfte er ihr nicht zu nahe kommen. „Sie sind es doch, der immer Zeit sparen will“, erklärte sie und betrat das Arbeitszimmer. Marcus stellte den Karton auf seine Seite des Schreibtischs, denn auf ihrer war kein Platz. „Sie sparen nichts, wenn Sie sich einen Bruch heben." „Nanu, Marc." Achtlos warf Annie die Aktentasche auf den Stuhl. Sie rutschte weiter und fiel zu Boden. „Sie machen sich ja Sorgen um mich." Kokett klimperte sie mit den Wimpern und lachte leise. Wie immer erregte ihn dieses Lachen sofort. „Ich mache mir Sorgen, ob wir das Drehbuch rechtzeitig fertig bekommen." Sie zuckte mit den zarten Schultern, die heute nackt waren, denn Annie trug ein königsblaues trägerloses Oberteil. „Auch gut." Ihre Handtasche glitt ebenfalls zu Boden. „Wo ist Ken?" Marcus hätte die Sachen gern aufgehoben und ordentlich hingelegt, aber er riß sich zusammen. „Wahrscheinlich geht der Junge ungeduldig, im Wohnzimmer auf und ab und wartet auf Sie." „Zumindest einer im Haus freut sich auf mich." Annie lächelte Marcus reizend an und lief los, bevor er etwas antworten konnte. „Dann will ich ihn nicht länger auf die Folter spannen." Auf der Schwelle holte Marcus sie ein. „Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet." - 77 -
Annie hatte ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden. Er wippte, wenn sie sich bewegte, und erinnerte ihn an eine Werbung für Haarshampoo. „Oh, tut mir leid. Was hatten Sie gefragt?" „Ich wollte wissen, was Sie jetzt schon wieder mitgebracht haben." „Eine Videoanlage." Marcus sah sie verständnislos an. „Und was soll ich damit?" Lebte er hinter dem Mond? „Sie für, Ken aufbauen, damit der Junge üben kann." „Üben?" „Besonders originell sind Sie heute nicht gerade, Marc." Lächelnd tätschelte sie seine Wange. Die Berührung erinnerte Marcus an den einzigen Kuß, den sie getauscht hatten. Sein Blick glitt zu ihrem Mund, aber das machte die Sache noch schlimmer. Es gab keine Stelle an Annie, die er gefahrlos betrachten konnte. „Stevie und Erin würden sich freuen, wenn sie Ken bald wieder besuchen dürften." Annie hatte Ken, wie ausgemacht, am Sonnabend zu ihrer Schwägerin gefahren, und die Kinder hatten sich rasch angefreundet. Das wollte sie nutzen. „Ich dachte, sie könnten sich Videos ansehen, damit sie Sie nicht stören." „Sehr fürsorglich." Weshalb hatte Richard ihm keinen Mann geschickt? Oder wenigstens jemanden, der nicht so gut roch und nicht so zarte gebräunte Schultern besaß wie Annie. Marcus war es nicht gewöhnt, bei der Arbeit abgelenkt zu werden, und bei ihr verlor er immer wieder den Faden. Da Marcus zwei linke Hände besaß, bestand Annie darauf, die Anlage sofort selbst anzuschließen. Insgeheim freute er sich, daß die Augen des Jungen vor Freude leuchteten. Annie war wie ein Sonnenschein in sein Leben gekommen. Zumindest in Kens Leben, verbesserte Marcus sich. - 78 -
Nachdem sie ein Video-Spiel ausprobiert hatte, war Annie in sein Arbeitszimmer zurückgekehrt und hatte sich mit demselben Schwung an ihr gemeinsames Drehbuch gemacht. Das Drehbuch... Seit wann war es ihr gemeinsames Drehbuch und nicht mehr ausschließlich seines? Den genauen Zeitpunkt hätte Marcus nicht nennen können. Während der letzten eineinhalb Wochen hatten sie dauernd über die Auslegung seines Textes und die notwendigen Umstellungen gestritten. Annie hatte tatsächlich die Frechheit besessen, ihm seine eigenen Gestalten erklären zu wollen. „Frauen legen die Dinge eben anders aus als Männer", hatte sie erst vor ein paar Minuten behauptet. Marcus kannte den Grund und behielt. ihn klugerweise für sich. Und noch etwas stellte er fest Ganz gleich, wie heftig die Diskussionen wurden, nur er regte sich dabei auf. Annie wurde niemals laut. Nicht einmal ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Das hatte er nur einmal erlebt, in der vorigen Woche. Genauer gesagt, vor acht Tagen bei seinem Kuß. Und er verfolgte ihn jede Nacht. „Frauen sind gefühlvoller als Männer", antwortete Marcus endlich. Annie schaute von ihrem Bildschirm auf. „Aus Ihrem Mund klingt das wie ein Vorwurf.“ „Das ist auch einer. Marcus drehte sich wieder zu ihr. „Gefühle sind gut in Büchern. Im Alltag stören sie nur. Sie trüben die Urteilskraft, so daß wir alles wie durch eine farbige Brille betrachten." „Farbe.“ Annie griff den Gedanken auf und zeigte mit dem Finger in die Luft. „Das ist das richtige Wort. Ohne Gefühle gäbe es keine Farbe, nur Grautöne." Marcus stritt mit ihr, weil sie ihn ständig reizte. Doch tief im Innern stimmte er mit ihr überein. Nur in einem Punkt - 79 -
unterschieden sie sich. Er war der Ansicht, daß Grautöne zu seinem Seelenzustand paßten, und sagte es ihr. Annie betrachtete Marcus einen Moment schweigend. Der Blick in ihren Augen gefiel ihm nicht. Er merkte, daß es in ihrem Innern arbeitete, und bedauerte, ihr seinen Schmerz gestanden zu haben. Annie stand auf und legte ihm die Hand auf die Schulter. Doch er betrachtete diese Geste als Mitleid und wandte sich ab. Marcus hat einmal großes Leid erlebt, dachte Annie. „War es jemand, den Sie sehr geliebt haben?" fragte sie teilnahmsvoll. Marcus wollte nicht antworten, doch er wußte, sie würde ihn drängen, bis er es tat. „Wer?" versuchte er auszuweichen. „Ich erkenne den Schmerz in Ihren Augen", antwortete sie leise. „Haben Sie jemanden verloren, den Sie sehr liebten?" Plötzlich beneidete Annie die Frau, die Marcus in sein Leben einbezogen hatte. Vielleicht täte es ganz gut, wenn er mit jemandem darüber redete, dachte Marcus. Doch es fiel ihm schwer, sich einem Menschen zu öffnen. Als Kind hatte man ihm so lange eingeschärft, seine Gefühle nicht zu zeigen, daß er es am Ende nicht mehr konnte, selbst wenn er es wollte. „Es ist kein Schmerz in meinen Augen", sagte er: „Ich blinzele nur, weil die Sonne mich blendet." Er zog an der Gardinenschnur, und die Vorhänge schlossen sich und sperrten das Tageslicht aus. Annie forschte nicht weiter nach. Wenn sie Marcus zu stark drängte, stieß sie ihn nur ab. Er würde reden, wenn die Zeit gekommen war. Jeder mußte eines Tages seinen Schmerz herauslassen. „Wie Sie meinen." Zumindest gewährte sie ihm noch eine Gnadenfrist. „Danke." „Gern geschehen." Annie lehnte sich zurück, faltete die - 80 -
Finger und streckte die Arme langsam über den Kopf. Es war ein langer Tag gewesen, und sie spürte es. Marcus beobachtete sie fasziniert. Nichts auf der Welt konnte es mit Annies erstaunlich weiblichen Körper aufnehmen. Jede Bewegung von ihr war hinreißend und brachte ihn fast um den Verstand. Das quälende Verlangen ließ sich nicht mehr leugnen. Seufzend legte Marcus die Seiten nieder, die er gerade durchgeblättert hatte. „Bitte tun Sie das nicht." Verblüfft hielt Annie inne. Sie saß doch ganz friedlich auf ihrem Stuhl. „Was soll ich nicht tun?" „Sich so strecken", antwortete er hilflos. Annie entspannte sich sofort. „Macht es Sie nervös?" Erstaunt riß sie die Augen auf und war plötzlich richtig froh. „Ja." Weshalb sollte er es abstreiten? Selbst wenn er es täte, würde sie es ihm anmerken, „Das ist gut.“ Annie stand auf und ging zu ihm. „Ich muß nämlich zugeben, daß Sie mich ebenfalls nervös machen." Solch eine Frau hatte er noch nie erlebt. „Sagen Sie immer, was Sie denken?" Sie lächelte über das ganze Gesicht, und er fiel unwillkürlich ein, obwohl er keinen Grund dazu hatte. „Jetzt verrate ich Ihnen aber nicht, was ich denke", erklärte sie. Ein Dutzend Antworten fielen ihm ein, doch Marcus bekam keinen Ton heraus. Stattdessen empfand er ein ähnliches Verlangen wie vor acht Tagen. Langsam legte er die Arme um Annie und streichelte ihren Rücken. Jeden Zentimeter prägte er sich ein. Ihre nackte Haut erregte ihn so sehr, daß er sich ernsthaft Sorgen machte. Es war, als hätte er keine Kontrolle mehr über das, was er dachte und was er tat. Das war ihm noch nie passiert. Weibliche Gesellschaft war angenehm, aber er konnte durchaus darauf verzichten. Und er hatte sich stets Frauen als - 81 -
Begleiterinnen gesucht, die ihn nicht ständig analysierten. Diesmal hatte er keine Wahl. Er begehrte Annie und hatte dieses Verlangen so lange wie möglich verdrängt. Jetzt ging es nicht mehr. Er brauchte Annie nur zu berühren, schon regte sich sein Begehren und verband sich mit der Erinnerung an die Lust, die er bei ihrem ersten Kuß verspürt hatte. Er würde sie immer begehren, dagegen war nichts zu machen. Natürlich paßte Annie nicht in seine Welt. Sie bedeutete Chaos, Unordnung und ständige Spannung. Es gab tausend Gründe, sich schleunigst zurückzuziehen, und nur einen, es nicht zu tun. Aber Marcus wollte keinen Rückzieher machen. Schließlich hatte er noch nie getan, was man von ihm erwartete. Verlangend zog er Annie an sich und preßte die Lippen auf ihren Mund. Gleichzeitig verwünschte Marcus sich, daß er so schwach war, und er verwünschte Annie, weil sie ihn so schwach machte. Doch sein schlechtes Gewissen legte sich schnell. Er wollte Annie küssen und die seltsame Mischung aus Geborgenheit und atemlosen Rausch erneut spüren. Bisher hatte er so etwas Ähnliches nie erlebt und es auch nicht für möglich gehalten. Doch jetzt hielt er das Erlebnis mit beiden Händen fest und genoß es in vollen Zügen. Annie wunderte sich über die Kraft seines Kusses und die Art und Weise, wie sie darauf reagierte. Marcus rührte all jene Bedürfnisse in ihr auf, die sie tief in sich vergraben hatte. Jetzt waren sie wieder da und wurden von einem Mann an die Oberfläche geholt, der behauptete, nichts für sie zu empfinden und nichts zu fühlen. Das hatte sie ihm nie geglaubt, und nun besaß sie den Beweis. Obwohl sie eine Ahnung von Marcus' Leidenschaft aus seinen Büchern hatte, ging die Wirklichkeit weit darüber hinaus. Sein Kuß war feurig und verlangend, und ihre Knie wurden weich wie Wachs. Sie hatte - 82 -
angenommen, daß sie mühelos mit solch einer Situation fertig wurde. Nun wußte sie, daß sie sich gründlich geirrt hatte. Außerdem hatte sie Angst. Marcus brachte Empfindungen ans Licht, die sie für immer verdrängt glaubte. Obwohl sie sich freute, daß es nicht der Fall war, rief der Gedanke daran neue Ängste in ihr wach. Sie hatte jemanden verloren, den sie sehr geliebt hatte. Konnte sie solch ein Risiko noch einmal eingehen? Sollte sie es tun? Noch dazu mit einem Mann, der sie küßte, als ärgerte er sich darüber, daß er sie begehrte? Annie preßte die Finger in Marcus' Unterarme und machte sich los. Sie schloß die Augen und öffnete sie erneut, bis sie wieder klar denken konnte. „Das nächste Mal warnen Sie mich bitte vorher. Mein Luftvorrat ist zu Ende." Marcus antwortete nicht. Trotz seines Verlangens war ihm die Verärgerung immer noch anzumerken. Wie lange würde sie anhalten? Würde sie überhaupt vergehen? „Müssen wir uns auch darüber streiten?“ fragte Annie schließlich. „Wovon reden Sie?“ Er mußte sich zusammenreißen, um Annie nicht wieder an sich zu ziehen. Dabei hätte er sie am liebsten nie wieder losgelassen. Annie wußte nicht aus noch ein. Ihre Beziehung zu Marcus sollte unbeschwert und vollkommen sein. Als sie das letzte Mal geliebt hatte, war alles einfach gewesen. Jetzt war es keinesfalls so. „Sie sehen aus, als ärgerten Sie sich." „Das tue ich auch." Einen Moment ließ Marcus die Maske fallen. Er wollte Annie nicht anlügen, auch wenn es viel einfacher, gewesen wäre. „Ich will Sie nicht derart begehren.“ „Tun Sie es denn?" Ihm gefiel nicht, daß ihre Augen so strahlten. Wußte sie nicht,: daß solch ein Zustand nur kurze Zeit hielt? Daß das Glück, wenn es sich überhaupt einstellte, nicht ewig dauerte? „Ja", antwortete er endlich. „Verstehe." Ihr Herz klopfte wie wild, aber sie riß sich - 83 -
zusammen. Im Augenblick reichte ihr, daß sie wußte, was Marcus für sie empfand. Alles Weitere würde sich während der gemeinsamen Arbeit finden. Deshalb versuchte sie es mit einem Scherz. „Ich könnte morgen in Sack und Asche erscheinen." Am liebsten hätte sie Marcus gefragt, weshalb es so schlimm war, daß er sie begehrte. Aber sie hatte Angst vor seiner Antwort. „Das haben Sie schon einmal versprochen." Außerdem würde es nicht helfen. Unter ihrer Kleidung blieb Annie immer die unglaublich aufreizende, begehrenswerte Frau. Trotzdem lächelte Marcus bei dieser Vorstellung. „Ach ja, das hatte ich vergessen. Annie hätte ihm gern versichert, daß alles in Ordnung war. Aber diesmal wußte sie nicht, wie sie es anstellen sollte. „Das scheint mir auch so." Er seufzte. „Machen wir lieber mit dem Drehbuch weiter." „In Ordnung." Annie setzte sich wieder. Zum Glück war der Text, den sie vorhin geschrieben hatte, noch auf dem Bildschirm. Die grünen Buchstaben hoben sich gegen den schwarzen Untergrund ab. Sie mußte sich scharf konzentrieren, damit ihr wieder einfiel, woran sie gearbeitet hatte. „Ich finde immer noch, daß die Liebesszene vorverlegt werden muß, damit die Zuschauer neugierig werden." Wie viele Liebhaber hat Annie schon gehabt? überlegte Marcus und spürte einen Anflug von Eifersucht. Dabei ging es ihn nichts an, wer mit Annie ins Bett gestiegen war und sie geküßt und geliebt hatte. „Was verstehen Sie den von Liebesszenen?" Die Frage klang nicht so harmlos, wie er beabsichtigt hatte. Aber jetzt war es zu spät. Annie hob den Kopf, ohne Marcus zu sehen. „Genug.“ Ihre Stimme klang so melancholisch, daß er erstaunt aufsah. Am liebsten hätte er nachgeforscht und weitere Fragen gestellt. - 84 -
Aber damit stieß er nur neue Schleusen auf, die besser geschlossen blieben. Trotzdem konnte Marcus das Verlangen, Annie erneut in den Armen zu halten, nicht abschütteln. Es lag nicht nur an der Eifersucht, die er empfand. Nein, er hatte einen Anflug von Schmerz in ihren Augen entdeckt. Also hatte sie auch jemanden geliebt und wieder verloren. Gern hätte er Annie getröstet - obwohl, sie sein Leben in ein Chaos verwandelt hatte. Marcus hatte das, unbehagliche Gefühl, stetig und unabwendlich im Treibsand zu versinken. Und kein Ast oder sonstiger Gegenstand war in der Nähe, an den er sich hätte klammern können.
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7. KAPITEL Wie immer kostete es Annie große Anstrengungen, den Schmerz zu überwinden, den die Erinnerungen in ihr hervorriefen. Doch es war nicht gut, die Vergangenheit wieder aufleben zu lassen, wenn es in der Gegenwart einen Menschen gab, der sie brauchte. Im Radio sang ein Mann ein Lied über ein Mädchen, das süße sechzehn war. Annie war schon eine ganze Weile keine sechzehn mehr, und sie hatte lange nicht mehr so für einen Mann empfunden. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht. „Wissen Sie was, Marcus Sullivan? Wenn Sie möchten, daß ich aufgebe, müssen Sie sich schon etwas mehr anstrengen." Sie ging um Marcus herum zum Fenster und wollte es öffnen, denn sie brauchte frische Luft. „Ich habe mit den eigentümlichsten Leuten zusammengearbeitet und noch nie ein Projekt vorzeitig verlassen." Sosehr sie sich bemühte, der Fensterflügel rührte sich nicht. Marcus beobachtete Annie. Wie lange würde es noch dauern, bis sie ihn um Hilfe bat? „Im Vergleich zu denen sind Sie zahm wie ein Kater." Sie blickte um den Flügel herum. Wie in aller Welt ging er auf? „Wie soll ich denn das verstehen?" „Im besten Sinne des Wortes", antwortete sie. Ihre Unterarme spannten sich, und ein Nagel brach ab. Trotzdem rührte sich das Schiebefenster keinen Zentimeter. Annie schimpfte still vor sich hin. „Ich weiß immer noch nicht, was ich von Ihnen halten soll", gestand Marcus. Und ich sollte lieber gar nicht erst versuchen, es herauszubekommen, fügte er stumm, hinzu. „Auch nur das Beste." Sie drehte sich halb zu ihm. „Also, worin besteht der Kniff? Wie macht man das Fenster auf?" Marcus trat hinter Annie, griff zu beiden Seiten um sie herum und faßte den Rahmen an. Auf diese Weise ging es zwar - 86 -
nicht besonders bequem, aber darauf, kam es jetzt nicht an. „Sie müssen den Flügel erst auf der einen, dann auf der anderen Seite leicht rütteln. Er zeigte es ihr. „Er ist ziemlich eigenwillig." Marcus streifte ihren Körper, und sein warmer Atem strich über ihren Rücken. Jeden Augenblick konnte sie eine Gänsehaut bekommen. Eine Gänsehaut. Annie lächelte unwillkürlich bei dem Gedanken, und sie genoß die pulsierende Erregung, die ihren Körper durchrieselte. „Ebenso eigenwillig wie vieles andere hier", murmelte sie und drehte sich langsam herum, damit sie Marcus ansehen konnte. Sie standen dicht voreinander. „Sie haben eine Art, die einem ganz schön unter die Haut geht." Geistesabwesend spielte Marcus mit einer Haarsträhne, die vom Wind, angehoben wurde, der durch das offene Fenster hereinwehte. Er bemerkte das Verlangen in ihren Augen. Es war ebenso groß wie seines. Auf diese Weise kamen sie zwar mit der Arbeit nicht weiter, aber das war ihm gleichgültig. „Ich habe auch einiges dafür getan", antwortete Annie. Marcus blickte auf sie hinunter. Annie hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt. Lächelnd ließ er die Hände zu ihrer schmalen Taille gleiten und legte die Finger auf die weiblichen Rundungen ihrer Hüften. Er begehrte Annie geradezu unwahrscheinlich stark. So etwas war ihm noch nie passiert. Wenn er sonst mit einer Frau ins Bett ging, dann ohne lange zu überlegen, um den Augenblick der Lust zu nutzen. Er erinnerte sich nicht, daß sein Puls dabei je so wie jetzt gerast war. Sein ganzer Körper pochte und schmerzte vor Verlangen. Annie schlang die Arme um seinen Nacken. „Küß mich, Marc. Ich kann nicht ewig auf den Zehenspitzen stehen. Gleich - 87 -
bekomme ich einen Wadenkrampf." Marcus zog sie so eng, an sich, daß er die verlockenden Rundungen ihrer Brüste an seinem Oberkörper spürte. „Das muß ich unbedingt verhindern." Zärtlich knabberte er an ihrer Unterlippe und verschloß ihren Mund. Dies tue- ich nur, weil Annie mich darum gebeten hat, sagte er sich. In Wirklichkeit küßte er sie, weil er sonst innerlich zersprungen wäre. Er staunte und war besorgt, wie schnell sein Begehren wuchs. Sobald er Annies Lippen berührte, verlor er jedes Gefühl für Zeit und Raum. Er konnte nur noch an sie denken und gab sich ganz der verzehrenden Leidenschaft hin. Einladend öffnete Annie die Lippen. Sie zitterten unmerklich. Marcus reizte ihre Zunge mit seiner und wurde immer erregter. Es war wunderbar, Annie zu küssen - sie war wunderbar. Marcus kam sich wie in einem Rausch vor und hatte das Gefühl, jeden Moment in das Universum zu entschweben. Dabei wollte er niemanden an sich heranlassen. Der Schmerz bei einer Zurückweisung war zu groß. Deshalb hatte er sein Herz schon als Kind mit einer Mauer umgeben und sich eingeredet, er brauche die Liebe nicht und wolle selber auch nicht lieben. Wenn er anfing, etwas für Annie zu empfinden, und es ihm nicht gleichgültig war, ob sie wieder ging, würde es eine Katastrophe geben. Zunächst hatten seine Eltern ihn emotional abgelehnt, später hatten Jason und Linda ihn verlassen. Das Risiko, sich zu öffnen und anschließend zum dritten Mal im Stich gelassen zu werden, durfte er nicht eingehen. Marcus holte tief Luft und gab Annies Mund frei. Verwirrt öffnete sie die Augen. Ihr Lippenstift war von seinen Küssen verwischt. „Wir dürfen das nicht", murmelte er. Annie fiel es schwer, klar zu denken. Noch schwieriger war es, die Barriere niederzureißen, die Marcus um sich aufgebaut - 88 -
hatte. „Weshalb nicht?" fragte sie. Aus tausend Gründen. Weil ich Angst habe. Weil es zwischen uns nie klappen könnte. Weil, ich zuviel für dich empfinde, dachte er. „Weil unsere Arbeit sonst nie fertig wird", antwortete er stattdessen. Wieder versteckte Marcus sich hinter einer Ausrede, und Annie blieb nichts anderes übrig, als sich damit abzufinden. Aber so einfach wollte sie es ihm nicht machen. Deshalb trat sie zurück und lächelte vielsagend. „Der Mensch lebt nicht nur, um zu arbeiten." Marcus fuhr sich mit der Hand durchs Haar und wünschte, er könnte sein Leben ebenfalls so leicht wieder in Ordnung bringen. „Ich schon", erklärte er. Sie betrachtete ihn prüfend. Marcus kämpfte stark mit sich. „Das, glaube ich dir nicht." Seine Augen wurden schmal. Annie bildete sich ständig ein, ihn besser zu kennen, als er sich selbst. „Dann irrst du dich." Langsam schüttelte sie den Kopf. „Hm, hm." Am liebsten hätte er ihre Schultern gepackt und sie geschüttelt. „Bist du immer so selbstgefällig?" „Nur wenn ich recht habe." Marcus hatte von einer fleischigen Pflanze gehört, die eine giftige Substanz absonderte, wenn man sie berührte. Vielleicht sollte er Annie ein Exemplar davon schenken. Sie faßte alles an. Annie sah ihn immer noch an und versuchte, seine Beweggründe zu verstehen. Marcus hatte ein attraktives, ebenmäßiges Gesicht. Manchmal, wenn er es zuließ, wirkte es richtig freundlich. Doch das war selten der Fall. Nichts sollte ihn innerlich berühren, keiner durfte ihm zu nahe kommen. Vielleicht nicht einmal Ken. Und der brauchte ihn dringend, wenn ihre Menschenkenntnis sie nicht restlos im Stich ließ. Marcus innere Abwehr mußte für mehr als nur einen - 89 -
Moment zusammenbrechen. Dafür wollte sie sorgen. Um Kens willen und um ihrer selbst willen. Trotzdem bezähmte sie ihre Ungeduld. Für heute mußte sie nachgeben. Wenn sie Marcus zu sehr drängte, machte sie höchstens etwas kaputt. Entschlossen wandte Annie ihre Aufmerksamkeit wieder dem Bildschirm zu. Marcus und sie kämen erheblich schneller mit der Arbeit voran, wenn er nicht ständig mit ihr stritt. Obwohl sie seit über eine Woche zusammenarbeiteten, betrachtete er sie immer noch nicht als gleichberechtigte Partnerin. „Das ist dein Problem", erklärte sie laut. Was soll das schon wieder? überlegte Marcus. Es war ausgesprochen ärgerlich, daß Annie ihn nicht über den Fortgang ihrer Gedanken auf dem Laufenden hielt. „Mein Hauptproblem besteht vor allem darin, deinen Gedankengängen zu folgen", antwortete er gereizt. „Mir scheint, du fütterst mich nur mit einigen Brocken aus einer Unterhaltung, die sich in deinem Kopf abspielt." „Du hast völlig recht", antwortete Annie und war richtig froh, daß Marcus sie durchschaut hatte. Entschlossen drückte sie auf die Speichertaste. „Ich glaube, unser Hauptproblem besteht darin, daß du meinem Urteil nicht traust." Marcus war erleichtert, daß sie von der Arbeit sprach. Dafür besaß er zumindest eine solide Grundlage. Er sah zu, wie Annies Finger über das Keyboard glitten, und fragte: „Entschuldige bitte, aber weshalb sollte ich deinem Urteil trauen?" Annie tippte den Dateinamen ein und drückte auf die Return Taste. Der Computer begann leise zu schnurren. „Gutes Argument." „Gutes Argument?" Mißtrauisch sah er sie an. Annie stimmte ihm zu bereitwillig zu. Sie führte etwas im Schilde. „Ja. Es ist ein gutes Argument. Der Grund, weshalb du mein Urteil nicht anerkennst und mich nicht als gleichberechtigt - 90 -
betrachtest, liegt darin, daß du keine einzige Arbeit von mir kennst. Ich habe alle deine Bücher gelesen, während du nach eigenem Eingeständnis keinen meiner Filme gesehen hast." Wenn Annie sich einbildete, daß er deshalb ein schlechtes Gewissen bekam, irrte sie sich gewaltig. „Ich begreife nicht." Sie blickte auf den Bildschirm. Er war wieder leer. Zufrieden schaltete sie das Gerät aus. „Nein, aber du wirst es begreifen, nachdem du einen gesehen hast." „Nachdem ich was getan habe?" Es fehlte nicht viel, und Marcus gab einem weiteren Impuls nach und legte die Hände um ihren schlanken Hals. Vielleicht konnte er etwas herausquetschen; das mehr Sinn machte. Aber er bezweifelte es. Annie sah ihn an und wunderte sich, daß Marcus ihr nicht folgen konnte. Dabei war die Sache völlig klar. „Na, einen meiner Filme. ‚Bis morgen' läuft immer noch." „Und den soll ich mir ansehen?" Sie lächelte vergnügt. „Ja." „Wann? „Heute." „Nein." Annie stemmte die Hände in die Hüften. Wenn sie jetzt ärgerlich wurde, erreichte sie nichts. Andererseits durfte Marcus nicht mit seinem Eigensinn durchkommen. „Nachdem du einen meiner Filme gesehen hast, hörst du vielleicht auf, dich wie Moses zu verhalten, der den Menschen die Zehn Gebote bringt, und betrachtest mich nicht nur als niederen Ziegenhirten, der dir dabei zuschauen darf:" Annie faselte schon wieder. Er, Marcus, hielt sich lieber an Tatsachen. „Hirten sind Männer..." „Über das Geschlecht können wir uns später streiten. Komm jetzt." Annie ging auf seine Seite des Schreibtischs und blickte auf den Monitor. Er war leer. „Muß noch etwas gespeichert werden?" Sie wußte zwar, daß nichts mehr zu tun war. Doch - 91 -
wenn sie das Gerät ausschaltete, ohne Marcus zu fragen, wurde er bestimmt böse. „Nein, aber..." Sie waren längst nicht so weit mit dem Manuskript, wie er sich für heute vorgenommen hatte. Außerdem hatte er keine Lust, mit Annie ins Kino zu gehen. Er war immer noch der Ansicht, je weniger er über sie wußte, desto besser konnte er sie in Schach halten. „Gut." Annie schaltete den Computer aus. Marcus wußte nicht recht, ob er Annies Mut bewundern oder ihr den Hals umdrehen sollte. „Du bist mir etwas zu selbständig." „Ja ich weiß", antwortete sie fröhlich. „Das liegt an meinem Selbsterhaltungstrieb." Mit einer schwungvollen Bewegung ihrer Hüften schob sie den Stuhl unter den Tisch. „Holen wir Ken.“ Schon lief sie aus dem Zimmer. Marcus eilte ihr nach und faßte ihren Arm, um sie zurückzuhalten. „Weshalb sollen wir Ken mit in die Sache hineinziehen?" „Weil er endlich etwas mit dir gemeinsam unternehmen muß." Sofort merkte Annie, daß sie ihre Grenzen überschritten hatte. Schon wieder... „Abgesehen davon, ist es ein sehr unterhaltsamer Film", fügte sie rasch hinzu. „Ab 16 Jahren wurde er nur eingestuft, weil einige mal ‚verflucht’ und ,verdammt’ darin vorkommen. Von dir hört Ken sicher viel schlimmere Wörter." „Ich fluche nicht in Gegenwart des Jungen." „Ein sehr erfreulicher Vorsatz", meinte Annie spöttisch. „Übrigens: Redest du nur in seiner Gegenwart oder auch mit ihm?" Diese Frau kann einfach nicht anders, sie muß sich einmischen, dachte Marcus. Und es gelingt ihr immer besser. „Ich rede mit ihm", antwortete er verärgert. „Seit wann bist du Psychologin?" - 92 -
„Ich wurde 1962 geboren", antwortete Annie schelmisch. Da gab Marcus es auf. „Ken!" rief Annie, während sie die Diele betrat. Doch es kam keine Antwort. Einem Instinkt folgend, ging sie ins Wohnzimmer. Der Junge saß mit gekreuzten Beinen vor dem Fernseher. Auf dem Bildschirm machte sich gerade ein grüner Kobold mit einer Prinzessin davon. Ken drückte auf die Fernbedienung und versuchte, die Prinzessin, zu retten. „Ken, wir gehen ins Kino. Möchtest du mitkommen?" Der Junge reagierte nicht. Er hielt die Fernbedienung fest in der Hand, starrte wie gebannt auf den Bildschirm und versuchte, einen Treffer zu landen. Es mißlang. Die Prinzessin verschwand in der düsteren. Burg des Kobolds. „Na, da habe ich ja etwas Schönes angerichtet", meinte Annie zu Marcus. Der dachte vor allem an die Wirkung, die sie auf ihn hatte. „In mehr als einer Weise", murmelte er. Annie sah ihn neugierig an. Sie wußte nicht recht, ob seine Bemerkung ein Scherz gewesen war oder nicht. Aber sie ging nicht näher darauf ein. „Hallo, Ken." Vorsichtig tippte sie dem Jungen auf die Schulter. Er zuckte zusammen und merkte erst jetzt, daß er nicht allein war. „Ich glaube, du solltest mal eine Pause machen. So dringend mußt du Stevie doch nicht schlagen, oder?" Ken lächelte schüchtern und schüttelte den Kopf. Der wird einmal die Herzen vieler Mädchen brechen, dachte Annie zärtlich. Sie nahm ihm die Fernbedienung aus der Hand, legte sie auf den Fernsehapparat und schaltete das Gerät aus. „Marc und ich wollen uns einen meiner Filme ansehen. Er heißt ,Bis morgen'. Willst du mitkommen?" Ken stand auf. „Einen Film von dir?" wiederholte er. „So - 93 -
etwas wie ein Video?" „Nein, ich habe das Drehbuch dazu geschrieben. Weißt du, was ein Drehbuch ist?" Ken hatte gehört, wie Marcus sich mit einem Mann, der Richard hieß, am Telefon darüber unterhalten hatte. Besonders freundlich hatte es nicht geklungen. „Das ist die Geschichte für den Film, glaube ich." „Genau. Du weißt ja gut Bescheid", antwortete Annie und legte ihm den Arm um die Schultern. „Ich würde gern deine Meinung über den Film hören. Oder hast du etwas Besseres vor?" „Nein, bestimmt nicht!" Das Videospiel. war schon vergessen. „Dann ist es abgemacht. Wir lassen uns von Marc ins Kino einladen." Sie ging mit Ken in Richtung Tür, und der Junge strahlte über das ganze Gesicht. Marcus ließ Ken und Annie vor sich hinausgehen. Ken freute sich offensichtlich, daß er mit durfte. Die Verwandlung des zurückhaltenden, mürrischen Jungen in den ganz normalen Siebenjährigen war erstaunlich. Nur wenn er mit ihm allein war, reagierte der Kleine immer noch etwas scheu. Trotzdem war Marcus nicht auf Annie eifersüchtig. Er freute sich aufrichtig, daß Jasons Sohn sozusagen zu den Lebenden zurückgekehrt war. Daß sie dasselbe Wunder auch bei ihm vollbrachte, merkte Marcus nicht. Annie drehte sich zu ihm, während er die Haustür verschloß. „Du hast doch nichts dagegen, wenn wir meinen Wagen nehmen?“ Er stieg die drei Stufen zu ihr hinab. „Und wenn ich es hätte?" „Dann würden wir deinen nehmen Er war schon auf halbem Weg zu seinem Auto, da fügte sie hinzu: „Aber ich kenne den Weg zum Kino besser." - 94 -
Marcus wäre lieber selber gefahren. Auch im Verkehr behielt er gern die Kontrolle. Aber es gab Wichtigeres, um das er kämpfen mußte. Deshalb gab er nach und nickte Ken zu. Erfreut sah Annie, daß der Junge neben ihr auf den Beifahrersitz kletterte und Marcus die Rückbank überließ. Sie drehte sich nach hinten. „Magst du dich etwa nicht herumkutschieren lassen?" Er zog die Tür zu. „Ehrlich gesagt", antwortete er aufrichtig, „ich kann es nicht ausstehen.“ „Ach ja, ich vergaß Du willst alles unter Kontrolle behalten." Sobald Marcus angeschnallt war, schoß sie mit dem Wagen aus der Einfahrt. „Haben wir es sehr eilig?" fragte Marcus. Annie wechselte die Spur, um ein Auto zu überholen. „Nein, nicht unbedingt." Die Frau fuhr, wie sie redete. „Weshalb willst du dann unbedingt die Schallmauer durchbrechen?" „Entschuldigung." Sie nahm den Fuß vom Gaspedal. „Reine Gewohnheit. Ich fahre. immer schnell, wenn ich allein bin." „Wahrscheinlich fährst du deshalb allein", murmelte er atemlos. „Welchen Film wollen wir uns eigentlich ansehen?" Marcus hat den Titel schon wieder vergessen, dachte Annie. Das war ein eindeutiger Beweis. Was sie sagte, war ihm nicht wichtig genug, um ihren Worten besondere Aufmerksamkeit zuschenken. „Das habe ich doch gesagt: ‚Bis morgen'. Es ist wirklich ein lustiger Film." Marcus blickte aus dem Seitenfenster und sah zu, wie die Landschaft vorüberglitt. „Das hätte ich nie erraten." Annie warf einen kurzen Seitenblick zu dem Jungen neben sich. „Du kennst Marcus besser, Ken. Ist er immer so brummig, oder ist das bei mir etwas Besonderes?" „Ich glaube, du bist etwas Besonderes." - 95 -
Ihr Hals schnürte sich zusammen, als sie Kens Worte hörte. Dies war einer jener kostbaren Augenblicke, die man nicht häufig erlebte. Dankbar drückte sie dem Kleinen die Hand. „Du bist auch etwas ganz Besonderes, Ken." Marcus kam sich, beinahe wie ein Eindringling vor. Sie brauchten nicht weit zu fahren. Annie merkte sich die Kinos genau, in denen ihre Filme liefen, denn der Gedanke daran erregte sie noch immer. Diesmal lag das Filmtheater in einem gutbesuchten kleinen Einkaufszentrum. Sie parkte ihren Wagen so nahe wie möglich beim Eingang. „Bis morgen’ lief im Kino Nr. 3. „Wir sind da", verkündete sie und schaltete den Motor aus. Marcus rührte sich nicht. Während der Fahrt hatte er einen Entschluß gefaßt. Zwar wollte er sich gelegentlich tatsächlich einen Film von Annie ansehen, aber das brauchte nicht heute zu sein. Bisher hatte er selber über sein Leben bestimmt. Jetzt war sie wie ein Wirbelwind, hereingefegt und gab zu jedem Schritt ihren Kommentar. Sie war schuld, daß er sie zu den unmöglichsten Augenblicken begehrte, und sie brachte ihn völlig durcheinander. Er mußte einen festen Standpunkt einnehmen, bevor sie ihn restlos an die Wand drängte. Annie stieg aus, schloß ihre Tür und sah in den Wagen. Marcus saß noch auf der Rückbank und machte keine Anstalten, auszusteigen. Fragend sah sie Ken an. Der Junge zuckte nur mit den Schultern. „Dies ist kein Autokino, Marc. Wir müssen hineingehen, wenn wir den Film sehen wollen." Sie kannte diesen Blick. „Nicht immer." Er hatte gewußt, daß sie ihm widersprechen würde. „Weshalb sind wir dann hier?" Warum ist Marc so eigensinnig? überlegte Annie. „Weil wir meinen Film ansehen wollen." „Obwohl wir eigentlich arbeiten sollten." - 96 -
Annie wurde langsam ungeduldig. Es kränkte sie, daß Marcus den Film mit ihrem Drehbuch nicht sehen wollte. „Du wärst wohl kaum mitgekommen, wenn du es nicht gewollt hättest", stellte sie fest. „Ich wollte die Szene abschließen, an der wir gerade arbeiteten. Nach einem Kinobesuch war mir nicht zumute." Verblüfft öffnete Annie den Mund und schloß ihn wieder. Wenn Marcus ihren Film nicht sehen wollte, konnte sie es nicht ändern. „Wenn es so ist, brauchst du ja nicht mitzukommen. Aber es wäre sehr schade, umsonst hierhergefahren zu sein. „Ich gehe jedenfalls hinein." Marcus war zutiefst verärgert. Er hatte den Eindruck, an der Nase herumgeführt zu werden. „In Ordnung." Ken beobachtete Annie neugierig. Sie hätte den Jungen gern mitgenommen. Aber sie durfte sich nicht zwischen die beiden stellen. Dann wäre Ken gezwungen, sich zu entscheiden, und solch eine Belastung wollte sie ihm nicht zumuten. „Du kümmerst dich um den Jungen, ja?" sagte sie zu Marcus und tat, als bemerke sie Kens enttäuschte Miene nicht. Verblüfft sah Marcus zu, wie Annie zum Schalter ging, eine Eintrittskarte kaufte und, ohne sich noch einmal, umzudrehen, das Kino betrat. Sein Versuch, die Oberhand zu behalten, war kläglich gescheitert. Daß er sich wie ein Dummkopf benommen hatte, war ihm egal. Aber wenn er sich nicht irrte, hatte er Annie gekränkt, und das tat ihm leid. Er hatte ihr nur etwas beweisen wollen, das jetzt keine Rolle mehr spielte. Außerdem wäre er gern mit ihr ins Kino gegangen. „Mr. Sullivan?" Kens helle Stimme schreckte ihn auf. Er hatte den Kleinen ganz vergessen. „Ja?" Der Junge kletterte zu ihm auf die Rückbank. „Ich finde, wir - 97 -
sollten mitgehen." Unsicher sah er Marcus an, als hätte er Angst, etwas Falsches gesagt zu haben. Das finde ich auch, dachte Marcus. „Weshalb?" fragte er neugierig. Ken brauchte eine Weile, bis er seine Gefühle in Worte fassen konnte. „Sie ist doch eine Frau, und sie ist allein", sagte er schließlich. „Müssen wir sie nicht beschützen? „Ich glaube, man sollte eher die Welt vor ihr beschützen", antwortete Marcus lachend und zerzauste Kens Haar. Der Junge lächelte schüchtern. Es war das erste Mal, daß sie körperlichen Kontakt hatten, stellte Marcus fest. Bisher war der Junge so verschlossen gewesen, daß er die Brücke zu ihm nicht hatte überqueren können. Das Gespräch über Annie hatte den Ausschlag gegeben. Das paßt wieder mal, dachte Marcus. Soviel Mühe er sich auch gab, offensichtlich konnte er sich Annies Einfluß nicht entziehen. „Möchtest du den Film wirklich sehen?" Ken nickte. „Weshalb?" „Ich gehe gern ins Kino." Wie wenig wußte er über dieses Kind, das plötzlich in sein Haus gekommen war. „Wirklich?" Wieder nickte Ken. „Daddy und ich..." Er schwieg plötzlich. „Ja?" forschte Marcus freundlich nach. Ken räusperte sich. Daddy und ich sind jedesmal ins Kino gegangen, wenn er in der Stadt gespielt hat. Manchmal sogar noch in die Spätvorstellung." Er lächelte versonnen bei der Erinnerung. „Daddy mochte am liebsten Science-FictionFilme." „Ja, das stimmt." Marcus betrachtete das kleine zarte Gesicht. Ken hatte Lindas sanfte Augen und ihre Kopfform geerbt, aber er lächelte wie Jason. Auf dem College hat mich dein Vater in alle möglichen schrecklichen Filme geschleppt. ‚Flash Gordon and the Mole Woman' war einer seiner - 98 -
Lieblingsstreifen. Ich mußte ihn mir dreimal ansehen." Ken schlug die Beine unter und setzte sich auf. „Ist das wahr?" „Bestimmt." Marcus merkte, daß der Junge ihn interessiert betrachtete. „Vielleicht können wir ihn einmal gemeinsam anschauen. Sicher gibt es irgendwo ein Video davon. „Super!" Jetzt würden sie allerdings keinen Science-Fiction-Film sehen, sondern ein Lustspiel von einer Frau, die sich derart in sein Leben gedrängt hatte, daß es längst nicht mehr zum Lachen war. „Ich glaube, wir gehen lieber hinein und suchen Annie, schlug Marcus vor und blickte zum Kino hinüber. Er stieg aus und hielt dem Jungen die Wagentür auf. Ken krabbelte hinaus. „Können wir nicht drinbleiben und uns den Film ansehen?" „Natürlich, weshalb nicht?" Vorsichtig führte er den Jungen über die Straße. „Und Popcorn dabei essen?" fragte Ken, während Marcus der Frau an der Kasse einen Zehndollarschein reichte. Marcus lächelte über Kens lebhafte Stimme. „Was wäre Kino ohne Popcorn?" Ken legte den Kopf auf die Seite und wagte sich noch etwas weiter. „Mit Butter?" „Natürlich." Glücklich betrat der Junge mit Marcus das Kino.
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8. KAPITEL Annie hielt ihre Popcorntüte auf dem Schoß. Sie hatte es nicht gekauft, weil sie hungrig war, sondern um etwas in den Händen zu haben. Bisher hatte sie das Popcorn nicht angerührt. Ihr Blick war auf die Leinwand gerichtet, doch ihre Gedanken waren bei den beiden in dem blauen Wagen auf dem Parkplatz. Vielleicht war sie etwas zu selbstherrlich gewesen. Manchmal neigte sie dazu, alles allein zu entscheiden. Annie lächelte kläglich. Nicht manchmal, eher in achtundneunzig Prozent der Fälle. Dabei wollte sie es gar nicht, es passierte einfach. Von allein, wenn ihr etwas wichtig war. Vielleicht hätte ich lieber so lange schmeicheln sollen, bis Marcus freiwillig mit ins Kino kam, überlegte sie. Das Problem war nur, daß sie nicht wußte, wie man das machte. Ihr Eifer und ihre guten Absichten waren ihr dabei im Weg. Wahrscheinlich winkte Marcus jetzt gerade einem Taxi und fuhr mit Ken im Schlepptau nach Hause. Annie ärgerte sich über Marcus, über sich selbst und über die Tatsache, daß sie ihn nicht dazu brachte, seine Gefühle ihr gegenüber einzugestehen. Dabei war sie sicher, daß er sie mochte. Doch jedesmal, wenn sie einen kleinen Schritt vorangekommen war, baute er die unüberwindliche Mauer um sich herum wieder auf, und die Feindseligkeit kehrte zurück. Annie nahm eine Handvoll Popcorn aus der Schachtel, biß auf ein nicht aufgesprungenes Korn und verzog das Gesicht. Sie nahm das Korn aus dem Mund und rollte es zwischen Daumen und Zeigefinger. Es erinnerte sie an Marcus, der sich ebenfalls selbst unter größtem Druck nicht löste. Vielleicht war er auf diese Weise glücklich, aber sie bezweifelte es. Alle Menschen wollten im Grunde ihres Herzens friedlich sein und nicht allein leben. Daran glaubte Annie fest. Deshalb wirkte sie auf die Leute ein, und ganz besonders auf Marcus. - 100 -
Abgesehen davon fühlte sie sich trotz seines abweisenden Verhaltens zu ihm hingezogen, sobald sie in seiner Nähe war. „Irgendwie und irgendwann wird es passieren", murmelte sie und merkte nicht, daß sie laut gesprochen hatte. „Was wird passieren?" Marcus fing Annies Popcorntüte auf, bevor sie auf den Boden fiel. Verblüfft sah Annie zu, wie er sich neben sie setzte. Eine ungeheure Befriedigung erfaßte sie. „Oh, lauter angenehme Dinge antwortete sie und nickte zu der Schachtel in Marcus' Hand. „Gut gefangen." „Jason liebte Passierbälle und brauchte einen Fänger zum Üben." Annie versuchte, sich vorzustellen, wie Marcus rückwärts lief, während der Freund ihm einen Ball zuwarf. Es war ein schönes Bild. Sie beugte sich vor und sah an ihm vorüber zu Ken, der rechts von Marcus saß. „Mußtest du ihm den Arm verdrehen, damit er mitkam?" „Nein, er fand, es wäre eine gute Idee." Zwei Reihen vor ihnen drehte sich jemand um und zischte verärgert. „Ich glaube, wir stören", flüsterte Annie Marcus zu. Er ist also freiwillig mitgekommen, dachte sie glücklich. Ein wahres Wunder. Marcus konnte ihr Gesicht nicht sehen. Die Szene auf der Leinwand spielte in einer mondlosen Nacht, und der Zuschauerraum lag im Dunkeln. Trotzdem hätte er sechs Monatsraten des Honorars für sein letztes Buch gewettet, daß sie außerordentlich selbstgefällig dreinblickte. Sie hatte ihn genau durchschaut. Woran lag es, daß er ihr nichts abschlagen konnte? „Jetzt bist du wohl sehr zufrieden, nicht wahr?" flüsterte Marcus ihr ins Ohr. Annie blickte weiter auf die Leinwand. Doch er spürte, daß sie den Mund verzog. „Nein, ich bin immer so glücklich." - 101 -
„Pst", zischte jemand unmittelbar hinter ihnen. „Der Mann hat recht", antwortete Annie und beugte sich zu Marcus. „Du solltest dir kein Wort von dem da oben entgehen lassen." Mit dem Popcorn in der Hand deutete sie auf die Leinwand. Plötzlich hatte sie richtig Appetit. Marcus bezweifelte, daß ihm etwas entgehen würde, wenn er ein paar Zeilen des Dialogs nicht mitbekäme. Aber er wollte fair sein und sich den Film ansehen. Außerdem war er fest davon überzeugt, daß sich die Persönlichkeit eines Menschen in der einen oder anderen Weise in dessen Arbeit spiegelte. Er wollte mehr als nur die Oberfläche dieser Annie de Witt kennenlernen. Es ließ sich nicht leugnen: Annie war ihm nicht gleichgültig. Deshalb mußte er so viel wie möglich über sie erfahren. Wissen war Macht, und die durfte er ihr nicht allein überlassen. Fasziniert beobachtete er Annie. Sie war ganz in den Film vertieft, als wisse sie nicht, wie die Handlung weiterging. Und sie strahlte jedesmal, wenn die Zuschauer im richtigen Moment lachten. Neugierig wandte er sich ebenfalls der Leinwand zu. Ohne es zu merken, wurde er selber von der Handlung gefesselt. Die Dialoge waren frisch, witzig und intelligent geschrieben. Sie konnten, sowohl die Erwachsenen als auch jüngere. Zuschauer in ihren Bann ziehen, das mußte er Annie lassen. Langsam interessierte ihn selber, was mit den Gestalten auf der Leinwand geschah und wie die Geschichte ausging. Das war keine geringe Leistung, gab Marcus im Stillen zu. So leicht war er nicht zufriedenzustellen. Wieder sah er zu Annie hinüber. Als der Abspann kam und ihr Name über die Leinwand lief, atmete sie tief durch. Marcus' Augen wurden schmal. Annie erregte der Gedanke noch immer, daß sie etwas geschaffen hatte, an dem alle Welt ihre Freude hatte. Er kannte dieses Gefühl. Etwas ganz Ähnliches hatte er selber erlebt, als sein erstes Werk von einem - 102 -
Verlag angenommen worden war. Nach dem Erscheinen war er von einer Buchhandlung zur anderen gelaufen und hatte dagestanden und verzückt die Bände mit seinem Namen betrachtet. Irgendwann im Lauf der Zeit hatte diese Erregung nachgelassen und Fleiß, Verantwortungsgefühl und der täglichen Routine Platz gemacht. Annie war zu beneiden, daß sie diese Erregung noch empfand. Annie war enttäuscht. Marcus hatte kein einziges Mal gelacht, obwohl sie die ganze Zeit darauf gewartet hatte. Der Film hatte ihm nicht gefallen, soviel war sicher. Na und? Zigtausende von Menschen mochten den Streifen. Was machte es da, wenn dieser gemeine Kerl nicht dazugehörte? Aber es war ihr nicht gleichgültig. Zusammen mit den anderen Zuschauern verließen Marcus, Annie, und Ken das Kino. Annies Augen gewöhnten sich nur langsam an die strahlende Helligkeit im Freien. Sie holte tief Luft und spürte, daß ihre Lungen schmerzten. Die beiden letzten Stunden war es beinahe unerträglich heiß gewesen. „Ich habe das Gefühl, jeden Moment zu schmelzen", erklärte sie, um irgend etwas zu sagen. Wenn Marcus sich einbildete, daß sie ihn um sein Urteil bitten würde, irrte er sich gewaltig. „Wie wäre es mit einem Eis?" Die Frage war mehr an Ken gerichtet. „Super!" Ken hätte in alles eingewilligt, was Annie vorschlug. Für ihn war sie die schönste Frau, die er je gesehen hatte, und er fühlte sich in ihrer Gegenwart wohl. Sie gab ihm das Gefühl, ihr etwas zu bedeuten. Das hatte er nach dem Tod seiner Eltern bei keinem Menschen mehr gehabt. Schüchtern ergriff er ihre Hand. Annie drückte sie und war richtig gerührt über den - 103 -
liebevollen Ausdruck in seinen Augen. „Ich habe noch nie erlebt, daß jemand ein Eis ablehnt, wenn es so heiß ist wie heute. Komm mit", sagte sie über die Schulter zu Marcus, der hinter ihnen her schlenderte. „Auf der anderen Seite des Kinos ist eine tolle Eisdiele. Sie hat eine Klimaanlage", fügte sie vielsagend hinzu. Marcus mußte sich anstrengen, um mit ihr Schritt zu halten. Selbst bei dieser Hitze war die Frau nicht kleinzubekommen. Der kühle Luftzug, der ihnen beim Betreten der Eisdiele entgegenschlug, war eine willkommene Erleichterung. Gleichzeitig kühlte er Marcus' hitzige Gedanken ab. Annies Oberteil klaffte leicht auseinander, während sie sich setzte, und gab für eine Moment den Blick auf den Ansatz ihrer kleinen festen Brüste frei. Ich könnte jetzt eine lange eiskalte Dusche gebrauchen, überlegte Marcus und setzte sich Annie gegenüber. Ken rutschte, ohne zu zögern, neben sie auf die Bank. Nachdem sie einen Becher nach Art des Hauses für Ken und sich bestellt hatte, lehnte Annie sich zurück und faltete die Hände auf dem Tisch. Erwartungsvoll sah sie Marcus an, doch der tat, als merke er es nicht. „Also gut, ich finde, ich habe mich jetzt lange genug zurückgehalten. „Du?" Marcus lachte auf. Der Begriff „zurückhaltend" paßte beim besten Willen nicht zu Annie. „Gut, daß du mich darauf aufmerksam machst. Ich wäre nie von allein auf den Gedanken gekommen." „Es gibt eine Menge Dinge, auf die du nicht von allein kommst." Sie beachtete seinen finsteren Blick nicht. „Ja, ich habe mich zurückgehalten und nicht gefragt, wie du meinen Film findest." „Das stimmt", gab Marcus zu. Annie wartete einen Herzschlag lang. Nichts. Am liebsten hätte sie ihm eine Ohrfeige gegeben. „Und?" Marcus ärgerte sie absichtlich, dessen war sie - 104 -
gewiß. Aber sie ließ sich durch sein Verhalten nicht beirren. Stolz bedeutete ihr nichts, er stand ihren Zielen nur im Weg. „Du kannst einen ganz schön in Rage bringen." Das Wasserglas in seinen Händen war angenehm kühl. Marcus hob den Kopf und sah ihr in die Augen. „Das muß ansteckend sein." Annie wollte sich nicht länger hinhalten lassen. Sie wappnete sich innerlich gegen eine ablehnende Antwort und fragte: „Also, was hältst du von dem Film?" Er zuckte mit den Schultern. „Ich verstehe nicht viel von Filmen." Annie schnaufte verärgert. „Das haben wir schon früher festgestellt. Das beantwortet aber meine Frage nicht, Sullivan." „Er war besser als die meisten." Annie preßte die Hände auf ihr Herz, verdrehte theatralisch die Augen und keuchte verzückt. „Ein Kompliment! Schnell, Ken, sieh nach, ob der Himmel einstürzt!" Ken begriff, was Annie gemeint hatte, und lachte hell auf. Er schien sich nicht einmal zu wundern. Die Kellnerin staunte dagegen nicht wenig. So schnell sie konnte, stellte sie die Eisbecher auf den Tisch, warf Marcus einen vielsagenden Blick zu und eilte davon. Doch Marcus interessierte sich nicht für die Bedienung, sondern nur für die Frau ihm gegenüber. War Annie übergeschnappt? „Hast du je etwas Ernstes geschrieben?" Annie steckte den. Löffel in die Sahne. „Alles, was ich schreibe, ist ernst." Sie schloß einen Moment die Augen. Das Eis war himmlisch. ;,Das Lustspiel ist eine äußerst ernste Angelegenheit." Ob sie auch gleich am Rand der Ekstase ist, wenn sie mit einem Mann schläft? überlegte Marcus. Es war kaum zu glauben, daß sich ein Mensch so oft freuen konnte. Er riß sich zusammen. Seine Gedanken schweiften schon wieder ab. „Willst du das wirklich alles essen?" Der Becher - 105 -
war bis über den Rand mit verschiedenen Eissorten gefüllt. Sie lächelte. ;,Bis zum letzten Bissen." Marcus beobachtete sie, während er vorsichtig an der einzigen Vanilleeiskugel leckte, die er für sich bestellt hatte. Annie aß einen weiteren Löffel und genoß es, wie die kühle Creme ihre Kehle hinablief. Als sie nach rechts schaute, merkte sie, daß Ken ihr jede Bewegung nachahmte. Unwillkürlich lächelte sie. Wie konnte eine Frau derart sinnlich Eis essen? Was in aller Welt war mit ihm los? Er brauchte nur in Annies Nähe zu sein, schon regte sich sein Verlangen, und er begehrte sie auf die ungewöhnlichste Weise. Ungewöhnlich zumindest für ihn. Annie fand vermutlich nichts dabei, über und über mit Eiscreme bedeckt zu werden, damit er es ablecken konnte. Marcus holte tief Luft und versuchte, wieder klar zu denken. Es mußte an der Hitze liegen, anders war es nicht zu erklären. Um seine Gefühle richtig einzuordnen, überlegte er, wann er zum letzten Mal mit einer Frau geschlafen hatte. Aber es fiel ihm nicht ein. Nur Annies Gesicht tauchte vor seinem inneren Auge auf. Es war zum Verzweifeln. Sie glaubte, er hätte etwas gesagt. Einen Moment sahen sie sich schweigend an, und die Zeit schien stehenzubleiben. Annie erkannte das heiße Verlangen in Marcus' Blick. Kobaltblaue Augen und Verlangen sind eine nicht zu überbietende und unwiderstehliche Kombination, dachte sie. „Mir schmeckt Vanille", sagte Marcus trotzig. Wenn das so weiterging, war er spätestens Ende dieses Monats schwachsinnig. Annie schlug die Augen nieder, um sich ihre Befriedigung nicht anmerken zu lassen. „Das glaube ich dir gern." Erwachsene sind merkwürdig - sogar die netten, dachte Ken - 106 -
und beobachtete die beiden. „Vanille ist lecker", stellte er fest. „Mein Daddy mochte es auch." Verstohlen beobachtete Annie den Jungen. Zu ihrer Freude bemerkte sie keinerlei Anzeichen von Trauer in seinem Gesicht. Zärtlich, legte sie den Arm um seine Schultern. „Vanille schmeckt wunderbar", stimmte sie ihm zu. „Ich glaube, dein Dad mochte lieber Pfefferminz verbesserte Marcus ihn. Ken strahlte plötzlich, denn er erinnerte sich ebenfalls. „Ja, stimmt!" rief er begeistert. Ob die beiden es merken oder nicht, sie haben viel gemeinsam, dachte Annie. Jason Danridge mußte ein kluger Mann gewesen sein., Er hatte das richtige Gespür dafür gehabt, bei wem sein Sohn richtig untergebracht war. „Annie?" fragte Ken zwischen zwei Löffeln Eis. „Ja?" „Hast du diesen Film wirklich geschrieben?" „Ja, das habe ich." Sie beobachtete Marcus. Das nachsichtige Lächeln, das sie erwartete, stellte sich nicht ein. Vielleicht machen wir ja Fortschritte, dachte sie. „Ich fand ihn wirklich toll. Vor allem den Augenblick, als das Boot mit dem Mann unterging." Ja, so etwas gefiel Jungen in Kens Alter. „Das ist eine von meinen Lieblingsszenen", versicherte sie ihm. „Und jetzt schreibst du einen Film mit Mr. Sullivan?" Er hatte die beiden darüber reden hören, konnte sich aber nicht ganz vorstellen, daß die Großen schrieben, was er auf der Leinwand sah. Annie warf Marcus einen eindringlichen Blick zu, den er nicht recht einordnen konnte. „Ich tue mein Bestes", meinte sie. „Sollte das eine Beleidigung sein?" fragte er. Bei Annie wußte er nie, woran er war. Sie schüttelte den Kopf, und eine Strähne löste sich aus ihrem Haar. „Nein, das war eine Feststellung. Sollte ich dich je - 107 -
beleidigen wollen, wirst du es schon merken." Er betrachtete ihren halb geleerten Eisbecher. Schon bei dem Anblick tat ihm der Magen weh. „Falls du nicht vorher platzt." Annie lachte nur und aß weiter. „Macht es dir wirklich Spaß, so etwas Oberflächliches zu schreiben? Marcus wußte selber nicht, weshalb seine Frage so abwertend klang. Annie war auf ihre Weise wirklich gut. Er mußte zugeben, daß das Drehbuch ausgezeichnet geschrieben war. Aber er wollte sie auf Abstand halten, und eine herablassende Bemerkung über ihre Arbeit konnte dazu beitragen. Annie durchschaute ihn und reagierte entsprechend. „Mir macht es. Spaß, gute Unterhaltung zu schreiben, Marc. Wäre es anders, würde ich es nicht tun." Er schwieg einen Moment. „Das kann dich doch unmöglich so befriedigen, wie du vorgibst. Sie sah ihn an, und Marcus fragte sich, ob sie wußte, wie verführerisch sie war. „Stell mich auf die Probe." „Wenn du wirklich so zufrieden bist", antwortete erernst, „beneide ich dich darum. Dann hast du großes Glück gehabt." Glück - was war das? Wenn sie wirklich Glück gehabt hätte, hätte sie nicht nur einen Vorgeschmack dessen bekommen, was wahre Liebe bedeutete. Beinahe hätte sie das zu Marc gesagt, denn sie empfand plötzlich das Bedürfnis, mit jemandem darüber zu sprechen. Aber sie schwieg. Der Schmerz, den sie immer noch in sich trug, war etwas sehr, sehr Persönliches. Er ging niemanden etwas an. Nicht einmal gegenüber ihrer Familie hatte sie ihn gezeigt. Marcus bemerkte die plötzliche Trauer in Annies Blick und hätte sie gern nach dem Grund gefragt. Aber Ken war bei ihnen. Sicher ging es um ein Thema, über das man in Gegenwart eines Kindes nicht reden konnte. Sorgfältig faltete - 108 -
er seine Serviette und legte sie auf den Tisch. Zum erstenmal wurde das Schweigen zwischen ihnen quälend. „Hast du schon immer Drehbücher geschrieben?" fragte Marcus endlich. „Immer", bestätigte sie ihm. „Mein Großvater begann damit, als der Tonfilm noch in den Kinderschuhen steckte. Mein Dad trat in seine Fußstapfen, weil er nichts anderes tun wollte. Für mich hatte er allerdings andere Pläne. Er wünschte mir eine beständigere, sicherere Arbeit." „Aber du hörtest nicht auf ihn“, warf Marcus ein. Einen Moment hatte er Mitleid mit ihrem Vater - und jedem anderen Mann, der mit ihr fertig werden mußte. „Weshalb sollte ich einen Präzedenzfall schaffen?" Annie strich ihren Pony zurück. „Ich wählte denselben Beruf, weil Geschichten schreiben mein ein und alles war und immer noch ist. Dad und mein Großvater hatten zusammen fünf Oscars gewonnen und waren zwölfmal dafür nominiert worden. Ich habe inzwischen ebenfalls einen", fügte sie mit einer Mischung aus Ehrfurcht und Stolz hinzu, die Marcus geradezu hinreißend fand. In gewisser Weise glich Annie einem unschuldigen Kind. Sie hob den Löffel und unterstrich damit ihren nächsten Satz. „Und dieses Projekt könnte uns den nächsten bringen." Erst später wurde Marcus klar, daß er die Bezeichnung „uns" widerspruchslos hingenommen hatte.
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9. KAPITEL Ken schaffte seinen riesigen Eisbecher, obwohl es ihn gegen Ende erhebliche Anstrengungen kostete. Aber Annie sollte nicht glauben, daß er undankbar sei. Dafür bedeutete ihm ihre Freundschaft zuviel. Annie redete auf der Rückfahrt fröhlich weiter. Marcus antwortete ihr gelegentlich, Ken sagte fast gar nichts. An einer Ampel warf sie einen Blick zu dem Jungen hinüber. Er preßte die Hände auf den Magen und hatte offensichtlich Schmerzen. Fürsorglich fuhr sie etwas langsamer. „Was ist los, Ken?" fragte Annie freundlich, als sie sich dem Haus näherten. „Du siehst ziemlich schlecht aus. Ist dir das Eis nicht bekommen?" „Solch ein riesiger Becher kann höchstens jemandem mit einem Stahlmagen bekommen", warf Marcus ein. Annie sah ihn im Rückspiegel an. „Ich habe ihn ebenfalls gegessen." „Ich gebe es auf." Marcus beugte sich zur Seite, damit er Kens Gesicht sehen konnte. Der Junge preßte die Lippen zusammen und nickte hilflos. „Du hättest nicht alles aufzuessen brauchen", erinnerte Marcus ihn. „Doch." Zwar ging es Ken jetzt schlecht, aber das Eis hatte gut geschmeckt. „Es war doch da." Annie lachte liebevoll. Sie bog in die Einfahrt und hielt den Wagen neben Marcus' dunkelblauem Cabrio an. „Ein bißchen doppeltkohlensaures Natrium, und es wird ihm gleich wieder bessergehen." Sie zog die Handbremse an und schaltete den Motor aus. „Falls keines im Haus ist, versuch es mal mit Mineralwasser." „Ich werde gleich nachschauen, ob wir so etwas haben", versprach Marcus dem Jungen. Er stieg als erster aus und öffnete Ken die Tür. Langsam kletterte der Kleine aus dem Wagen. Er sieht ganz - 110 -
grün aus, dachte Marcus und legte ihm tröstend die Hand auf die Schulter, „Komm, Kumpel. Mal sehen, ob wir dich wieder hinkriegen." Ob Marcus merkt, wie ungezwungen er plötzlich mit dem Jungen; umgeht? dachte Annie. Alles Steife, Unnatürliche war verschwunden. Dies war der Mann, den sie näher kennenlernen wollte. Der Marc, der es geistig mit ihr aufnehmen wollte, gefiel ihr auch. Aber der freundliche Mensch unter der Schale des ernsten, anspruchsvollen Schriftstellers weckte ihre schlummernden Gefühle. Er machte sie verletzlich und gab ihr gleichzeitig Sicherheit. Marcus blieb stehen und blickte über die Schulter zurück. „Angesichts dieser Lage sollten wir für heute Schluß machen", schlug er vor. „Wir sehen uns morgen." „In Ordnung", antwortete Annie. Es gefiel ihr sehr, daß Marcus das Wohl des Jungen über seine Arbeit stellte. Sie hatte sich nicht geirrt. Aus einem unerfindlichen Grund wollte Marcus seine netteren Züge vor ihr verbergen. Aber das war hoffentlich nur eine Frage der Zeit. Fröhlich vor sich hinsummend, fuhr Annie nach Hause. Sie war außerordentlich zufrieden mit sich und dem Leben im allgemeinen. Das Drehbuch machte langsam, aber sicher Fortschritte. Auch mit ihrem Plan, Marcus' Abwehrhaltung zu brechen, kam sie voran - wenn auch etwas langsamer. Wichtig war nur, daß sie weiterkam. Sie öffnete die Haustür und wurde gleich darauf stürmisch von einem Fellknäuel auf vier Beinen begrüßt. „Hallo, Beatrice, wie geht es meiner Kleinen?" Annie beugte sich hinunter, um den Hund hinter dem Ohr zu kraulen. Beatrice trommelte wie wild mit dem Schwanz auf den Boden. Annie betrachtete den runden Bauch des Tieres. Er hing - 111 -
beinahe bis zum Boden. „Und was macht die künftige Familie?" Den Nachwuchs verdankte Beatrice einer kurzen, aber leidenschaftlichen Begegnung mit einem Scotchterrier, der eine Straße weiter wohnte. „Er konnte dir nicht widerstehen, stimmt's? Du mußt mir deinen Trick mal beibringen." Zärtlich tätschelte sie den Hund und richtete sich wieder auf. „Komm, jetzt gibt es etwas zu fressen." Der Hund folgte seiner Herrin in die Küche. Annie füllte Beatrices Napf mit frischem Wasser und holte einen Bratenrest aus dem Kühlschrank. Seit sie Nachwuchs erwartete, entwickelte Beatrice eine ausgesprochene Vorliebe für Braten. Annie schnitt den Fleischrest in Würfel und stellte den Teller auf den Boden. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, lehnte sich an den Kühlschrank und sah zu, wie das Tier mit gesundem Appetit fraß. „Weißt du, wir haben eine Menge gemeinsam: Wir essen beide gern, und wir haben unser Herz an Männer verloren, die vom Temperament her das genaue Gegenteil von uns sind." Annie schob die Hände in die Taschen und schlenderte langsam ins Wohnzimmer. In ihre Befriedigung mischte sich ein Anflug von Trauer. Sie wußte, daß sie Abschied von einem Abschnitt ihres Lebens nahm. Ihr Blick wanderte zu dem weißen Klavier, das ihr Vater ihr geschenkt hatte. Seit über einem Jahr hatte sie nicht darauf gespielt. Seit Charlies Tod nicht, Langsam setzte sie sich und hob den Deckel.. Charlie hatte gern gespielt. Manchmal hatte er etwas für sie komponiert, lustige Songs, die keinen Sinn ergaben und über die sie beide gelacht hatten. Nach dem Unfall hatte sie das Klavier nicht mehr anrühren können. Zögernd legte Annie die Finger auf die Tasten und begann zu spielen. Sie schloß die Augen, und die Töne kamen wie von selber. „Moon River" - eines der ersten Lieder, die sie gelernt hatte. - 112 -
Die Melodie erfüllte den Raum und hüllte sie ein. Als Annie die Augen wieder öffnete, hatte sich äußerlich nichts verändert. Nur sie. Sie klappte den Deckel zu, stand auf und nahm den Silberrahmen mit dem Foto, das auf dem Klavier stand. Ein schlanker, dunkelhaariger Mann mit einfühlsamen Blick sah sie an. Charlie. Das Foto war einige Monate nach ihrer Verlobung aufgenommen worden. Eine Woche, bevor Charlie gestorben war. Langsam strich Annie, mit der Fingerspitze über das Glas und erinnerte sich, wie sie diesen Mann liebkost hatte und ihm ganz nahe gewesen war. Das süße Gefühl war immer noch da, aber der Schmerz war verblaßt. „Ich habe einen Mann kennengelernt, Charlie", sagte sie leise zu dem Bild in ihrer Hand. „Er ist ganz anders als du, aber ich glaube, er braucht mich. Ja, ich bin sogar fest davon überzeugt, auch wenn er wahrscheinlich nicht meiner Meinung ist", fügte sie lachend hinzu. Sie drehte; den Rahmen um und löste die Rückseite. Mit bebenden Fingern nahm sie das Foto heraus und ging damit zum Couchtisch, wo ihr Album lag. „Ich werde dich nie vergessen, Charlie, aber ich muß weiterleben. Ich brauche wieder die Sonne." Sie setzte sich auf die Couch und legte das Album auf ihren Schoß. „Ich brauche Liebe und, wichtiger noch, ich muß Liebe geben." Sie blätterte den Band durch und fand eine leere Seite. „Du hast das immer gewußt, nicht wahr? Charlie hätte es verstanden, und dieser Gedanke war hilfreich. Zärtlich legte Annie das Foto auf die leere Seite und bedeckte es mit der Kunststoffolie. Dann schloß sie das Album wieder. Nein, Marc war nicht wie Charlie. Aber er war jemand, den sie lieben konnte. Unter seiner rauhen Schale steckte etwas, das - 113 -
sie anrührte und sie bewegte. Bei Charlie war die Empfindsamkeit deutlich zu erkennen gewesen, bei Marc war das nicht so einfach. Aber sie war vorhanden. Das merkte man an seinem geschriebenen Wort. Auch seine Küsse hatten es angedeutet Marcus brauchte nur etwas Hilfe, um sich zu dem Mann in sich zu bekennen. Wenn ich das nicht schaffe, dachte Annie und stand auf, gelingt es keiner Frau. Marcus wollte sich innerlich nicht so stark aufwühlen lassen, aber genau das tat Annie mit ihm. Er hatte sich an sein geordnetes, leidenschaftsloses Leben gewöhnt. In ihrer Gegenwart war er dagegen hin und her gerissen, und es genügte ein Sonnenstrahl auf ihrem Gesicht, schon wallten schlagartig Gefühlsregungen, Bedürfnisse und Wünsche in ihm auf. Das war geradezu lächerlich. Doch obwohl er die Gefahren kannte, die auf ihn lauerten, wenn er so weitermachte, konnte er nichts dagegen unternehmen. Schon als Kind hatte er erfahren, daß man nur enttäuscht wurde, wenn man seine Gefühle zeigte. Er erinnerte sich an eine Geburtstagskarte, die er seiner Mutter gemalt hatte. Sie hatte sie achtlos beiseite gelegt und ihn für die Unordnung gescholten, die er beim Hantieren mit Farbe und Wasser auf dem Tisch angerichtet hatte. So war es immer gewesen. Bei Jason und Linda hatte er erlebt, was Liebe und Wärme in einer Familie bedeuteten.. Doch seit Ken in seinem Haus wohnte, wußte er, wieviel ihm fehlte, um mit anderen Menschen normal umzugehen. Er konnte sich immer noch nicht öffnen. Niemand hatte ihm dies deutlicher gemacht als Annie. Er wußte jetzt, wie schwer es ihm fiel, andere Gefühle als Wut und Verärgerung zu zeigen. Er war es gewohnt, seine - 114 -
Empfindungen zu verdrängen. In ihrer Gegenwart hatte er dagegen das Bedürfnis, dies nicht zu tun. Doch um zu überleben, blieb ihm nichts anderes übrig. Ruhelos lief Marcus in seinem Arbeitszimmer auf und ab. Vielleicht ging es ihm besser, wenn er sich in die Arbeit stürzte, ohne daß Annie ihn ablenkte. Mechanisch ging er die Seiten durch, die sie heute morgen fertiggestellt hatte, und wollte sie überarbeiten. Aber das war nicht nötig. Es war nur ein Entwurf. Manches daran mußte noch ausgefeilt werden, grundsätzlich waren die Szenen jedoch in Ordnung. Und sie spiegelten sowohl seine als auch Annies Empfindungen wider. Genau das beunruhigte ihn. Die Tatsache, daß das Drehbuch gut wurde, bewies ihm, daß seine Zusammenarbeit mit Annie klappte, Das hatte er nicht erwartet. Langsam brach seine ganze Welt zusammen. Vielleicht irrte er sich auch in anderen Punkten. Heute morgen hatte er keinen Zentimeter nachgeben wollen und sich hartnäckig an jede Bemerkung und jeden Gedanken in seinem Buch geklammert. Doch irgendwie war es Annie gelungen, manches zu mildern und anderes zu betonen. Das Wort „verändern" paßte nicht, denn Annie veränderte im Grunde nichts. Ob er es wahrhaben wollte oder nicht: Sie verstärkte seine eigene Aussage noch. Auch in seiner Beziehung zu Ken hatte sie ein wahres Wunder vollbracht. Das Unwohlsein, daß er in Gegenwart des Jungen empfunden hatte, legte sich immer mehr. Ken und er fanden in ihrer Trauer um denselben Verlust zusammen. Auch das verdankte er Annie. Bewußt oder unbewußt hatte sie ihm geholfen, sich gegenüber dem Jungen zu öffnen. Sie hatte geredet und geschmeichelt, bis sie den Riß in seinem Panzer gefunden hatte. Und dann war sie selber hineingeschlüpft. Annie... Der Name erinnerte ihn an ein kleines Mädchen mit - 115 -
krausem roten Haar und großen dunklen Augen. Diese Annie de Witt war alles andere als das. Für ihn war sie die Frau aller Frauen, eine Drehbuchautorin und ein Wirbelwind. Marcus lächelte versonnen. Eine Menge Bezeichnungen paßten zu dieser kleinen zierlichen Person, die einen entsetzlich großen Platz in seinem Leben eingenommen hatte. Dabei hatte er sich keinesfalls enger mit einer Frau einlassen wollen. Keine sollte ihm so wichtig werden, daß sie über sein Leben bestimmen könnte. Doch die schmerzliche Leere in seinem Herzen ließ ihm keine andere Wahl. Seufzend sah Marcus auf die Uhr. Diesen Zwiespalt würde er heute nicht mehr lösen. Wahrscheinlich war Annie inzwischen zu Hause angekommen. Ohne über die Folgen nachzudenken, wählte er ihre Nummer und hätte beinahe eingehängt, als er ihre weiche, sinnliche Stimme hörte. „Hallo?" Er faßte den Hörer fester. „De Witt?" entschlüpfte es ihm. Ein geborener Romantiker ist dieser Mann wirklich nicht, dachte Annie spöttisch. Was war jetzt schon wieder los? „Marc." Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Als hätte sie gewußt, daß er anrufen würde. „Einschätzbar", hatte sie ihn genannt. Am liebsten hätte Marcus aufgelegt, um ihr das Gegenteil zu beweisen. Doch er tat es nicht. „Hast du heute abend schon etwas vor?" hörte er sich fragen. Annie dachte an das alte Musical, das gleich im Fernsehen gesendet wurde, und lächelte plötzlich. „Nein." Er mußte ihr zuvorkommen, damit sie ihn auf keinen Fall zu sich einlud. „In Ordnung. Dann zieh dich an. Ich führ dich zum Essen aus." „Ich esse niemals nackt zu Abend." Sie wollte ihn necken. Doch sie beschwor ein Bild in ihm - 116 -
herauf, das sich nur schwer abschütteln ließ. Marcus stellte sich vor, wie Annie ihm nackt am Tisch gegenübersaß und der Kerzenschein auf ihre weiche, glatte Haut fiel. Vor Verlangen hielt er es kaum aus. „Marc, bist du noch da?" Viel zu sehr, dachte er und war froh, daß Annie in diesem Augenblick weit weg war. Seine Gefühle waren schon wieder mit ihm durchgegangen. „Ja, ich bin noch da", antwortete er heiser. Beatrice kam heran und wollte gestreichelt werden. Annie beugte sich zu dem Hund hinab. „Wir beide machen wirklich Fortschritte.“ Marcus merkte, daß er immer mehr an Boden verlor, und wollte nicht kampflos aufgeben. „Zur Zeit machen wir Pläne für ein Abendessen.“ „Richtig." Weshalb klang bei Annie alles, als stecke eine ganz andere Bedeutung dahinter? Vielleicht weil es in diesem Fall stimmt, überlegte Marcus: Nur wollte er es nicht wahrhaben. „Wie schnell kannst du fertig sein?" Annie brauchte nicht lange, um sich anzuziehen. „Wann kannst du hier sein?" Marcus sah auf seine Armbanduhr und rechnete kurz. „Ich hole dich in einer Stunde ab." Das war mehr als genügend Zeit. „Dann bin ich in einer Dreiviertelstunde soweit. „Also, bis gleich." Marcus legte auf und bemerkte sein Gesicht im Spiegel. „Ich bin ein Idiot", sagte er laut und; ging nach oben, um sich umzuziehen. Annie hängte ein und strahlte über das ganze Gesicht. „Das war er, Beatrice. Ob du heute abend ohne mich auskommst?" Der Hund fiepte leise. ,,Braves Mädchen." Schon schoß sie davon, um tausend Dinge in fünfundvierzig Minuten zu erledigen. - 117 -
Genau dreiundfünfzig Minuten später war Marcus da. Annie ließ ihn nicht warten. Kaum hatte er geläutet, riß sie die Tür auf. Annie war noch dieselbe wie vorher, und trotzdem sah sie anders aus. Sie hatte ihr Haar locker aufgesteckt. Marcus hatte keine Ahnung, weshalb es so reizvoll aussah. Sie trug ein leuchtend rosa Kleid mit einer Corsage, die hinten tief ausgeschnitten war. Wenn er die Hand auf ihren Rücken legte, um sie hinauszuführen, würde es ihm vorkommen, als wäre sie nackt. Schon bei dem Gedanken daran wurde ihm ganz heiß. Ihr Rock war wie ein Sarong gewickelt. Allerdings ein sehr kurzer Sarong. Annie war zwar klein, aber sie besaß ausgesprochen lange, schlanke Beine. „Weshalb starrst du mich so an?" fragte sie. Marcus' Blick gefiel ihr, und sie wollte wenigstens ein kleines Kompliment von ihm hören. „Sehe ich sehr gut aus oder katastrophal?" Verdutzt wandte Marcus sich ab, weil sie ihn ertappt hatte. „Das erste." „Ich fühle mich geschmeichelt. Du machst Fortschritte." Sie lachte leise und sinnlich, und er faßte die Blumen in seiner Hand fester. Noch hatte er ihr Haus nicht betreten. „Ich mag Blumen sehr. Sind sie für mich?" Ungeschickt drückte Marcus ihr den Strauß in die Hand. „Das war Kens Idee. „Sind die hübsch." Marcus hätte ihr einen Strauß Brennesseln mitbringen können, sie wäre ebenfalls sehr, sehr glücklich darüber gewesen. „Hast du Ken erzählt, daß du mit mir essen gehst?" Ken war in sein Zimmer gekommen, als er gerade gehen wollte. Da hatte er es ihm gesagt. Weshalb freute sich Annie so - 118 -
darüber? Nun, der Junge war ein unverfängliches Thema, und das brauchte er jetzt. „Ja", antwortete Marcus. „Er meinte, du wärest sehr nett." „Ich finde ihn auch sehr nett." Annie ließ Marcus stehen und suchte nach einem Gefäß für die Blumen. Auf dem Regal fand sie eine Vase aus Bleikristall, die ihre Mutter ihr zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Geschickt arrangierte sie den Strauß und stellte ihn auf das Klavier. Dann drehte sie sich wieder zu Marcus. „Und was meinst du?" Marcus wünschte, er hätte einen Drink, um seine Hände zu beschäftigen. „Ich finde, er ist wirklich ein nettes Kind." „Stimmt. Aber ich fragte nach mir." Sie trat einen Schritt vor und drehte sich langsam im Kreis. Als sie ihn wieder ansah, merkte sie, daß Marcus sie argwöhnisch betrachtete. „Was denkst du über mich?" „Ich versuche, so wenig wie möglich an dich zu denken", murmelte er. „Und gelingt es dir?" Marcus hätte lügen können, aber er tat es nicht. Annie hatte ihn längst durchschaut. „Nein.“ Sie hakte sich bei ihm unter. „Das freut mich. Möchtest du noch einen Drink, bevor wir gehen?" Am liebsten gleich ein halbes Dutzend, dachte Marcus. Wie hatte er sich freiwillig in diese Lage bringen können? Aber besaß er noch einen freien Willen? Er war sich nicht sicher.' Ein Drink war verlockend. Doch wenn er jetzt Alkohol trank, verlor er am Ende restlos die Kontrolle über sich. „Nein, danke. Ich habe für neunzehn Uhr dreißig einen Tisch für uns bestellt. Wir sollten lieber losfahren." „Wie du möchtest. Sie reichte ihm einen langen Seidenschal. Da Annie stehenblieb, legte er ihr das Tuch um die Schultern. Ihre Haut war glatt und seidenweich. Marcus ließ - 119 -
seine Finger einen Moment länger liegen als nötig. „Übrigens..." begann er. Es fiel ihm nicht leicht. „Ja?" „Dies ist ein Rendezvous." Damit führte er sie zu seinem Wagen. Ohne sie anzusehen, wußte er, daß Annie still vor sich hin lächelte.
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10. KAPITEL Das Restaurant war nur schwach beleuchtet. Die Gäste an den Tischen unterhielten sich so leise, daß sie kaum zu hören waren. Marcus hatte den Eindruck, ganz allein mit Annie in der Nische zu sitzen. Trotzdem war es nicht jene Einsamkeit, die er sonst inmitten von Menschen empfand. Dies war anders, auch wenn er es nicht wahrhaben wollte. Warum hatte er Annie eingeladen? Und weshalb fiel es ihm immer schwerer, ihr zu widerstehen? Erneut war ihm, als stecke er im Treibsand: Je stärker er sich dagegen wehrte, desto tiefer sank er ein. Was hatten Annies mandelförmige Augen an sich, daß er nicht mehr klar denken konnte? Woraus bestand diese Erwartung, die ihn erfaßte, sobald sie ihn ansah? „Du bist schrecklich still", stellte Annie beim Nachtisch fest. Sie hatte gehofft, Marcus endlich richtig kennenzulernen, nachdem er sie eingeladen hatte. Annie schien das Essen zu schmecken. Er selbst merkte gar nicht, was er auf dem Teller hatte. „Du ebenfalls. Ich hätte es nicht für möglich gehalten." Annie legte ihre Gabel hin. „Ich kann durchaus schweigen", erklärte sie. „Ich unterhalte mich nur gern - nach Möglichkeit nicht mit Filmgestalten, sondern mit lebendigen Menschen." Langsam beugte sie sich vor, und Marcus war es, als würde er wie die Kompaßnadel zum Nordpol unweigerlich von ihr angezogen. „Weshalb hast du mich eingeladen?" Weil ich nach mehr als einer Woche Zusammenarbeit mit dir am Rande des Wahnsinns bin, hätte er beinahe geantwortet. Mußte Annie so direkt sein? Ahnte sie nicht, daß er auf so eine peinliche Frage keine Antwort wußte? „Mich muß der Teufel geritten haben", sagte er endlich. - 121 -
Annie lachte und trank einen Schluck Wein. Marcus beobachtete sie, während sie schluckte, und wäre der Spur gern mit der Fingerspitze gefolgt. Noch lieber hätte er die Lippen auf ihren Hals gepreßt und sich restlos in ihrem süßen Duft verloren. Er mußte mit dieser Frau schlafen, bevor die Fantasie mit ihm durchging. Ich bin tatsächlich am Rande des Wahnsinns, dachte er. Es dauert nicht mehr lange, und ich schnappe über. „Manchmal ist der Teufel ein sehr netter Kerl antwortete Annie und sah zu, wie sich das Kerzenlicht in ihrem Weinglas spiegelte. Dann blickte sie Marcus wieder an. Er hatte wunderschöne Augen. „Sei heute abend offen zu mir, Marcus. Bitte, rede nicht um den heißen Brei herum. Du kannst dich so gut ausdrücken, aber..." Sie ergriff seine Hand, und er schloß die Finger um ihre. Es war eine ganz natürliche Geste. „In deiner Gegenwart komme ich mir ziemlich wehrlos vor", antwortete er aufrichtig. Annie schüttelte den Kopf. „Nein, du bist nicht wehrlos. Aber du versteckst dich ständig hinter Worten." Annie ist eine gute Beobachterin, stellte er fest. Sie begriff, daß er die Wörter wie einen Schutzschild benutzte, um nicht verletzt zu werden. Was wußte sie sonst noch von ihm? Annie merkte, daß Marcus sich innerlich von ihr entfernte. Sie wollte nicht ausgeschlossen werden, nicht heute nacht. „Rede mit mir, Marc. Rede offen mit mir", drängte sie ihn. „Als wären wir zwei Menschen, die sich näher kennenlernen möchten." Sie lächelte breit. „Tu einfach so." Das ist bestimmt nicht nötig, dachte Marcus. „Weshalb soll ich so tun?" „Weil dann nette Dinge passieren, die vielleicht zu einem glücklichen Ende führen.“ Das war zwar nicht, was er hören wollte, aber er mußte sich damit begnügen. Annie glaubte, was sie sagte. Er, Marcus, wußte es besser. „Es gibt, kein glückliches Ende.“ - 122 -
„Für eine Weile schon", beharrte sie. Seine Eltern, fielen ihm ein. Und das elternlose Kind, das zu Hause auf ihn wartete. Seine Verärgerung über die Ungerechtigkeit der Welt wuchs. Begriff Annie denn nicht? „Bist du wirklich so naiv?" „Nein", antwortete sie mit fester Stimme, die keinen Widerspruch zuließ. „Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Du kannst dich nicht vom Leben abkapseln, nur weil es schlecht enden könnte. Man darf nicht, immer nur auf das Schlimmste gefaßt sein." „Weshalb nicht?" fragte Marcus verbittert. „Dann wird man wenigstens nicht enttäuscht." Wie tief Marcus' Wunden waren! Es mußte viel mehr dahinterstecken als der Verlust des Freundes. Wie sollte sie ihn dazu bringen, ihr zu vertrauen und ihr alles zu erzählen? „Man erlebt aber auch keine Freude", antwortete sie schließlich. Sie merkte, daß sein Blick hart wurde, und versuchte, ihn mit den eigenen Waffen zu schlagen. „Mußt du mir immer widersprechen?" fragte sie leise. Marcus trank einen großen Schluck Wein. Annie war eine unverbesserliche Optimistin. Jason und Linda hätte sie gefallen. Er mußte sich hüten, die Dinge wie sie zu betrachten. „Wahrscheinlich", stimmte er ihr zu. Annies Ärger verflog. Er hielt nie lange an. „Das glaube ich nicht."' Marcus kam es vor, als blickte Annie ihm bis ins Herz und kenne ihn besser, als er sich selber. „Was glaubst du nicht?" Die Bedienung räumte die Teller ab, doch Annie ließ Marcus nicht aus den Augen. „Daß du der Mann bist, den du vorzugeben versuchst." Er legte seine Kreditkarte auf die Rechnung, die die Kellnerin gebracht hatte. „Ich spiele dir: nichts vor." - 123 -
„Doch. Der wirkliche Mann bist du nur in deinen Büchern.“ Annie war eine zu gute Beobachterin. Sie urteilte über das Leben ebenso scharfsinnig wie über die Scheinwelt. Und sie rüttelte an seiner Festung. „Meine Bücher sind reine Produkte der Fantasie." Annie war nicht überzeugt. „Das Gefühl darin ist echt, Erzähl mir von dir“, forderte sie Marcus erneut auf. Er konnte ihr nichts von sich erzählen. Das fiel ihm zu schwer und tat viel zu weh. „Mein Lebenslauf befindet sich auf der Rückseite meiner Bücher." Das wußte Annie, sie hatte die Zeilen gelesen. Sie sagten praktisch nichts über Marcus aus weder über seine Familie, noch über seine Vergangenheit. Nur daß er im Mittleren Westen zur Schule gegangen war, hatte sie daraus erfahren. Wer war er wirklich?' Weshalb waren seine Augen so furchtbar traurig? „Ich möchte noch mehr wissen." Er antwortete nicht, und Annie faltete die Hände auf dem Tisch. „Was würde in deinem Nachruf stehen, wenn du morgen sterben müßtest?" So leicht gab Annie nicht auf, und Marcus lächelte unwillkürlich. „Ich wußte ja, daß es kein glückliches Ende gibt.“ Annie lachte leise. Wenn es um Worte ging, war sie ihm gewachsen. Vielleicht auch sonst. „Du bist unmöglich." Er prostete ihr mit dem halb leeren Weinglas zu: „Ich versuche mein Bestes." Die Bedienung nahm das Tablett mit Marcus' Kreditkarte. Annie sah einem Paar nach, das an ihrer Nische vorüberging. Hinten im Saal war eine Tanzfläche. Leise Bluesmusik scholl herüber. Plötzlich wünschte sie sich sehnlich, in Marcus' Armen zu liegen. „Wollen wir tanzen?" Das wäre ein riesiger Fehler, überlegte Marcus. Er war heute besonders verletzlich und durfte Annie auf keinen Fall in den
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Armen halten. Dankbar nahm er den Beleg, den die Bedienung ihm brachte, und unterschrieb ihn. „Ich kann nicht tanzen." Sein großer, geschmeidiger Körper war für sanfte Bewegungen und den Tanz wie geschaffen. „Das soll wohl ein Witz sein." Gab sie denn niemals auf? Viele Leute konnten nicht tanzen. „Hast du mich schon mal einen Witz machen hören?" „Nun, dann wird es höchste Zeit; daß du tanzen lernst. Komm." Annie stand auf und nahm seine Hand. Die Bedienung lächelte wissend. Marcus blieb wie angewurzelt sitzen. „Selbst wenn ich wollte, daß du es mir beibringst - wozu ich absolut keine Lust habe -, dann bestimmt nicht auf einer vollen Tanzfläche." Obwohl das im Moment vermutlich der sicherste Platz für ihn war. Annie wußte stets, wann sie den Rückzug antreten mußte. „Entschuldigung." Ergeben hob sie beide Hände und setzte sich wieder. „Ich vergaß, mit wem ich es zu tun habe. Vielleicht finden wir ein Plätzchen in deiner Abstellkammer." Er lächelte belustigt. „Die ist voll." Sie sah ihn vielsagend an. „Das dachte ich mir." Wahrscheinlich war sie vollgestopft mit Skeletten aus der Vergangenheit, die Marcus endlich verschwinden lassen mußte. Marcus fragte vorsichtshalber nicht, was Annie mit ihrer Bemerkung gemeint hatte. „Fertig?" „Nein, aber du bist es ja." Sie nahm ihre Unterarmtasche und stand auf. „Jetzt weiß ich nicht mehr über dich als vorher. Du bist ein guter Schattenboxer." „In letzter Zeit habe ich darin eine Menge Übung bekommen", antwortete er und führte sie hinaus. Die kühle, frische Luft half auch nicht. Marcus begehrte Annie immer noch. Hätte er mit ihr getanzt, hätte er sie
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anschließend garantiert mit nach Hause genommen und sie geliebt, bis sie beide erschöpft und atemlos gewesen wären. Selbst jetzt auf dem Weg durch die enge Straße zu ihrem Haus hätte er sie am liebsten gefragt, ob sie nicht zu ihm fahren wollten. Reines Begehren, redete sich Marcus ein. Und er wollte sich nicht von körperlichem Verlangen oder von Sehnsüchten leiten lassen. Das Licht auf Annies Veranda brannte. Marcus hielt seinen Wagen am Kantstein an und schaltete den Motor aus. Einen Moment saß er schweigend da und sah zu, wie der Mondschein hereinfiel. Es warf Licht und Schatten auf Annies Gesicht. Er hätte nicht sagen können, welche Seite reizvoller war. „Da wären wir sagte er endlich und umklammerte weiter das Lenkrad. „Ich habe das Haus erkannt." Marcus wollte mit hereinkommen. Weshalb bat er sie nicht darum? Niemals aufgeben, dachte Annie. Ein Hindernis hatte Marcus überwunden und war ihr auf halbem Weg entgegengekommen. Den Rest schaffte sie allein. „Möchtest du nicht ein bißchen hereinkommen?" Ja, wahnsinnig gern, hätte er am liebsten gesagt. „Es ist spät", antwortete er stattdessen. „Ich habe selber eine Uhr und weiß, wie spät es ist." Sie hob ihren linken Arm. „Danach habe ich dich nicht gefragt. Sie sah, daß er die Stirn runzelte. Wahrscheinlich war sie ihm wieder zu keck. „Also gut, dann stelle ich dir eine leichtere Frage: Machst du noch einen Spaziergang mit mir? Es ist ein wunderschöner Abend, und ich möchte nicht, daß er schon zu Ende geht." Wenn Annie ihm so ansah, konnte Marcus ihr unmöglich etwas abschlagen. Außerdem: Was würde es schaden? Er wollte ja gern noch ein bißchen mit ihr zusammenbleiben. „Einverstanden." „Eins zu null für mich." - 126 -
Annie lächelte so weich, daß Marcus ihr die Bemerkung nicht übelnahm. Er stieg aus, öffnete die Beifahrertür und nahm ihre Hand. Sie schloß die Finger um seine und ließ sie nicht wieder los. „Die Gegend hier ist wirklich sehr hübsch", erzählte Annie. „Großvater kaufte das Haus, weil er den Ozean liebte. Magst du das Meer auch?" Marcus überließ Annie die Richtung und versuchte, nicht daran zu denken, wie schön es war, Hand in Hand mit ihr zu gehen. Annie war nur für, ein paar Wochen in sein Leben getreten. Es war sinnlos, sich näher an sie zu binden. Schlimmer noch: Es wäre die größte Dummheit. „Leider habe ich nur selten Zeit, ans Meer zu fahren", antwortete er. „Marc", schimpfte sie gespielt, „wir sind in Südkalifornien. Hier ist man nirgends weiter als fünf Meilen vom Wasser entfernt. Du zerstörst ja unser Bild eines Sonnenstaates mit weißem Strand und bunten Surfbrettern." Das Licht der Laternen schien nicht sehr hell. Die Nachtluft war ziemlich warm, aber die Brise vorn Meer verhinderte, daß es zu heiß wurde. Eine richtige Liebesnacht, dachte Marcus. Reiß dich zusammen, Sullivan, schalt er sich. „Ich habe noch nie in ein bestimmtes Bild gepaßt." „Das habe ich auch nicht angenommen." Als sie am nächsten Haus entlangschlenderten, begann ein Hund, wie wild zu bellen. Marcus erschrak. „Das ist Chauncey, der Liebhaber von Beatrice", erklärte Annie. „Er ist erheblich kleiner, als er sich anhört." Marcus sah Annie erstaunt an. Sie war völlig ernst. „Wer in aller Welt ist Beatrice?" „Meine Hündin. Sie hat Chauncey ganz wild gemacht." Zärtlich lächelte Annie bei dem Gedanken an das kleine Fellknäuel. „In den nächsten Tagen bekommt sie Junge." Wenn Beatrice ihrer Herrin ähnelte, hatte der Rüde wahrscheinlich keine Chance gegen sie gehabt. „Das ist ja toll." - 127 -
„Das ist die Liebe immer." Marcus antwortete nicht. Da Annie wußte, daß er die Stille mochte, schlenderten sie eine Weile schweigend weiter. Der Spaziergang war richtig entspannend. Marcus erkannte, daß er sich in Annies Gegenwart seltsam wohl fühlte, obwohl er furchtbar gern mit ihr geschlafen und alle ihre Geheimnisse entdeckt hätte. Aber er war nicht zu einer engeren Beziehung bereit. Die Angst vor der Zurückweisung und dem Schmerz und der Enttäuschung, die sie mit sich brachte, war zu groß. Trotzdem wollte das Bedürfnis, jemandem etwas zu bedeuten und etwas Besonderes für ihn zu sein, nicht verschwinden. Sie erreichten das Ende eines langen Blocks mit einer verdunkelten Kunstgalerie an der Ecke. Im Gegensatz dazu war das Cafe auf der anderen Straßenseite noch hell erleuchtet. Fröhliche Paare saßen an den Tischen. „Ich glaube, ich bringe dich lieber nach Hause", schlug Marcus vor. Annie warf einen Blick auf das Cafe. Weshalb mochte Marcus den Anblick glücklicher Menschen nicht? „Zu mir oder zu dir?" fragte sie und zwinkerte ihm zu. „Zu deiner Türschwelle." „Du bist sehr präzise." Als er sich umdrehen wollte, stellte Annie sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm scherzhaft „Feigling" ins Ohr. Marcus fühlte ihren warmen Atem, und ein Schauer rieselte seinen Rücken hinab. Er vergaß die Leute im Cafe und hatte nur noch Augen für Annie. Zärtlich nahm er ihr Gesicht zwischen beide Hände und küßte sie. Zum ersten Mal fühlte er sich heute sehr lebendig. Marcus' Kuß war grober, als Annie erwartet hatte, aber dafür um so erregender. Ihr Körper bebte vor Erwartung, während sie sich den herrlichen Empfindungen hingab, die Marcus in ihr weckte. Ohne sich dessen bewußt zu sein, stöhnte sie leise. - 128 -
Marcus spürte das leise Keuchen an seinen Lippen. Die Erregung, die es in ihm hervorrief, war auf einer normalen Skala nicht mehr zu messen. Mit beiden Händen strich er ihren Rücken hinab und genoß es, wie Annie sich an ihn schmiegte. Der Kuß, den sie ihm schenkte, war köstlicher als alles, was er heute abend erlebt hatte. Trotz. ihrer Leidenschaft besaß sie ein Urvertrauen und eine Arglosigkeit, die ihn beinahe überwältigte. Annie war verletzlich, das hatte er nicht erwartet. Und das bedeutete Verantwortung für ihn. Mit letzter Kraft machte Marcus sich von ihr los. „Gehen wir", murmelte er. „Bis ans Ende der Welt, wenn du willst." Ihr Lachen erregte ihn ebenso wie ihre Küsse. Wie in aller Welt sollte er die nächsten Wochen lebend überstehen? Er ging schneller. Annie mußte beinahe laufen, um mit Marcus Schritt zu halten. „Weshalb joggen wir plötzlich?" „Das tun wir doch gar nicht. Mir ist nur etwas eingefallen, das ich heute noch erledigen muß." Kurz darauf waren sie vor ihrer Tür. „Es war ein wunderschöner Abend, Marc. Auch wenn du Mühe hattest, aus dem Telefonhäuschen herauszukommen." Marcus wollte gerade gehen. Verblüfft sah er sie an. „Was heißt das denn schon wieder?" Schelmisch sah sie ihn an. „Erinnerst du nicht? Clark Kent, der seine Verkleidung abstreift und sich als Superman zu erkennen gibt." Zärtlich tippte sie mit der Fingerspitze auf seine Brust. „Ich weiß, daß auch in dir einer steckt. Er nahm ihre Hand fort. „Jetzt redest du Unsinn." „Das war bildlich gemeint", verbesserte sie ihn. „Trotzdem war es Unsinn", wiederholte er. Sie tat, als erschaure sie, und rieb sich die Arme. „Es gefällt mir, daß du soviel Kraft besitzt."
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„Du bist die verrückteste Frau, die mir je begegnet ist", schimpfte Marcus und hätte nicht sagen können, weshalb ihm ganz seltsam in der Magengrube wurde. „Danke." Er versuchte, so verärgert wie möglich zu schauen, aber es gelang ihm nicht. „Das war kein Kompliment." Annie merkte seinen. Augen an, daß er schwach wurde. „War es doch." Er schüttelte den Kopf. „Du legst mir schon wieder etwas in den Mund." „Wenn ich dir schon etwas in den Mund lege..." Sie reckte sich wieder auf die Zehenspitzen. „Oder zumindest in die Nähe..." Sie mußte sich auf seine Arme stützen, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren. „Dann dies..." Sie bog ihren Kopf zurück, schloß die Augen zur Hälfte und öffnete einladend die Lippen. Marcus konnte der Versuchung nicht widerstehen, zumal seine Lippen noch vom letzten Kuß brannten. Er hoffte nur, er hätte sich so weit in der Gewalt, daß er sich sofort wieder losmachen konnte. Doch er irrte sich. Der rasche zärtliche Kuß glich einem unscheinbaren Gänseblümchen, das sich zum Erstaunen des Gärtners in eine riesige Sonnenblume verwandelte. Eine Kraft, mit der Annies und seine Leidenschaft aufeinander prallten, erschütterte Marcus zutiefst. Er hörte das Blut in den Adern rauschen und ließ sich in Höhen davontragen, deren Existenz er bisher eigensinnig geleugnet hatte. Jetzt mußte er einsehen, daß es sie gab. Ja, dachte Annie, ja! Sie schmiegte sich an ihn und schob die Finger in sein dichtes dunkles Haar. Sie hatte es sich nicht nur eingebildet. Das Verlangen, die Leidenschaft, das dunkle, erregende Begehren war da. Es erfaßte alle ihre Sinne und gab ihr Sicherheit, obwohl es sie bis an den Rand der Ekstase trieb. - 130 -
Hingerissen strich Marcus mit den Händen ihren Rücken hinauf, und sie klammerte sich noch fester an ihn. Wenn sie seine Arme jetzt losließ, würde sie garantiert ins Universum hinausschnellen, und niemand würde sie je wieder einfangen.' Marcus spürte jeden Zentimeter ihres Körpers. Ihm war, als stünde er am Strand, und die Welle, die eben über ihn hinweggegangen war, zog ihm nun den Sand unter den Füßen fort. Jeden Moment mußte er ertrinken. Als er endlich wieder klar denken konnte, bebte er am ganzen Körper und hielt sich kaum noch aufrecht. Er steckte in einer entsetzlichen Klemme. Er wollte dies alles nicht - konnte es nicht wollen. Und trotzdem wünschte er sich noch mehr. Entschlossen trat er einen Schritt zurück. „Du solltest jetzt schlafen gehen", erklärte er heiser. „Schließlich müssen wir morgen wieder arbeiten." „Du hast recht." Ihre Stimme war kaum zu hören. Ich glaube, das wird großartig, dachte Annie. Jeden Moment konnte etwas absolut Fantastisches passieren. Vielleicht sollte sie es etwas langsamer angehen lassen, sonst stürzte sie am Ende ab und verbrannte wie ein Meteorit in der Erdatmosphäre. Sie blieb auf der Türschwelle stehen, während Marcus zu seinem Wagen ging, und, stand noch da, als er davonfuhr. Marcus hatte keine Ahnung, wie er nach Hause gekommen war. Als er die Tür öffnete, läutete das Telefon. Genau der richtige Zeitpunkt, dachte er und fragte sich, wer mitten in der Nacht noch anrief. Nach dem siebten Läuten nahm er ab. „Hallo?" Er hätte wissen müssen, wer so hartnäckig war. „Ich finde, es ist an der Zeit, bei mir zu Hause weiterzuarbeiten", erklärte Annie. „Wir sollten gleich morgen damit beginnen." „Ich glaube, das haben wir bereits", antwortete er. Aber nur das Freizeichen war zu hören.
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11. KAPITEL Marcus konnte nicht einschlafen. Es lag nicht an dem Sturm, der plötzlich mit Donner und Blitz am Himmel aufgezogen war. Das Blut rauschte so stark in seinen Adern; daß er keine Ruhe fand. Einfacher ausgedrückt, es lag an Annie. Jedesmal, wenn Marcus die Augen schloß, sah er sie willig und einladend vor sich, und sein Mund wurde ganz trocken. Sie glich einer Sirene, die ihn lockte und am Ende ins Verderben stürzen würde. Er hatte Annie die Wahrheit gesagt: Er glaubte nicht an ewiges Glück. Glück kam in kleinen Portionen, verschwand bald wieder und ließ Enttäuschung und Leid zurück. Diese Lektion hatte er von seinen Eltern gelernt und mehr noch nach Jasons und Lindas Tod. So etwas wollte er nicht noch einmal erleben. Deshalb durfte er nichts mit Annie anfangen. Nur wußte er nicht, wie er ohne sie leben sollte. Marcus fluchte stumm und wünschte einen Moment, er wäre ein Trinker. Dann könnte er jetzt seine Sinne betäuben und seinen Verstand vernebeln. Damit löste er zwar seine Probleme nicht, aber er hätte für eine Weile Ruhe. Verärgert warf er das Laken zurück und stand auf. Da hörte er das Geräusch zum ersten Mal. Es war ganz leise, aber es hob sich deutlich gegen das laute Donnergrollen ab. Marcus horchte eindringlicher und versuchte herauszufinden, aus welcher Richtung die Laute kamen. Jemand wimmerte. Ken. Ohne den Morgenmantel überzuziehen, öffnete Marcus die Doppeltür seines Schlafzimmers und trat in die dunkle Diele hinaus. Da hörte er es erneut. Erst kam der Donnerschlag, dann; das ängstliche Wimmern. - 132 -
Wie oft hatte er sich als Kind nachts verkrochen und voller Angst auf den Donner gehorcht? Und niemand war gekommen, um ihn zu trösten. Das würde er nie vergessen. Marcus legte eine Hand auf den Türgriff. Dann zögerte er plötzlich, klopfte und wartete einen Moment. Der Junge sollte Gelegenheit haben, seine Tränen zu trocknen. „Ken, bist du noch wach? Ich kann bei diesem Gewitter nicht schlafen und wollte dich fragen, ob du mir ein bißchen Gesellschaft leistest." Ken wischte die Tränen mit dem Handrücken fort und atmete unregelmäßig. Sein Vater hatte gesagt, daß ein Junge ruhig weinen dürfe. Sein Freund war bestimmt anderer Ansicht. Er wollte Mr. Sullivan nicht mißfallen, denn der war alles, was ihm von seinem Vater geblieben war. „Natürlich." Marcus öffnete die Tür und hoffte, daß er den Jungen nicht verlegen machte. Ken sollte wissen, daß er nicht allein war. Allein zu sein, war das Schlimmste auf der Welt. „Danke." Er betrat das Zimmer und schloß die Tür hinter sich. „Ich..." Und was jetzt? Mit Kindern kannte er sich ebensowenig aus wie mit Frauen. Er wußte nur, daß Ken ihn brauchte, und dem durfte er sich nicht entziehen. Marcus betrachtete das kleine gerötete Gesicht. Ken versuchte, so unbekümmert wie möglich zu sein, aber die Anspannung war ihm deutlich anzumerken. Marcus wurde es ganz warm ums Herz. „Willst du nicht zu, mir herüberkommen? Mein Zimmer ist größer. Dort können wir uns unterhalten." Ken lächelte erleichtert, und Marcus merkte, daß er den richtigen Ton getroffen hatte. „Worüber?" wollte der Junge wissen und kletterte aus dem Bett. Bei Mr. Sullivan fühlte er sich sicher. Der Donner würde ihm nichts anhaben, solange das Licht brannte und er mit jemandem reden konnte. - 133 -
Marcus ließ sich von seinem Instinkt leiten und strich Ken über den Kopf. „Worüber möchtest du denn reden, mein Junge?" fragte er, als sie zu seinem Schlafzimmer gingen. Ich hoffe, dir fällt etwas ein, fügte er stumm hinzu und wünschte, Annie wäre hier. Sie wurde mit so einer Situation besser fertig als er. Halb hoffnungsvoll, halb ängstlich sah Ken zu dem großen Mann auf. „Können wir über Daddy reden?" Marcus zögerte einen Herzschlag lang, denn auf diese Bitte war er nicht gefaßt gewesen. „Wenn du möchtest..." „Ja, ich möchte. Vielleicht hilft es ein bißchen." Besser konnte Ken sich nicht ausdrücken, aber Marcus verstand. Er zog das Laken beiseite und setzte sich auf den Bettrand. „Willst du hineinklettern?" fragte er. „Das Bett ist schön bequem, soweit man das von solch einem Möbel sagen kann." Nichts wollte Ken lieber, als die restliche Nacht unter Marcus' schützenden Fittichen zu verbringen. Zu Hause war er bei jedem Sturm und nach jedem schrecklichen Traum zu den Eltern gekrochen. Sein Vater hatte die Monster immer verscheucht. Sie hätten Angst vor Footballspielern, hatte er behauptet. Nachdenklich betrachtete Ken den Freund seines Vaters und überlegte; ob der ebenfalls Macht über die Monster besaß, Marcus bemerkte den fragenden Blick. „Was ist?" „Haben Monster Angst vor Schriftstellern?" Marcus begriff sofort. „Schreckliche Angst." „Wirklich?" „Ja, unbedingt." Er legte sich ins Bett und überließ Ken die Entscheidung, ob er zu ihm kommen wollte. „Schriftsteller können dafür sorgen, daß sie sich in Luft auflösen, ohne eine Spur zu hinterlassen." Ken hatte sich immer vorgestellt, daß sein Vater die Monster zusammenschlagen würde. Dies war neu für ihn. Vorsichtig - 134 -
krabbelte er in Marcus' Bett, um die Laken nicht durcheinanderzubringen. „Und wie machen sie das?" Marcus beugte sich vor, vergewisserte sich spielerisch, ob niemand horchte, und flüsterte geheimnisvoll: „Sie radieren sie einfach aus." Ken hielt die Hand vor den Mund und kicherte fröhlich. Marcus hatte noch nie ein so herzliches Lachen gehört. Außer von Annie vielleicht. Aber die rührte nicht nur sein Herz an. Unwillkürlich mußte Marcus an sie denken. Annie würde es gefallen, daß er den verängstigten Jungen zu sich geholt hatte. Doch nicht ihretwegen hatte er es getan, sondern weil er in solch einer Lage von beiden Eltern immer wieder zurückgewiesen worden war. Sie hatten ihn aufgefordert, sich wie ein Mann zu benehmen. Viele lange Nächte war er ein verängstigter kleiner Mann gewesen. „Mein Dad hatte keine Angst vor Monstern", erklärte Ken. Liebe und Wehmut lagen in seinen Worten. „Nein", bestätigte ihm Marcus. „Dein Dad hatte nur Angst vor schlechten Zensuren.“ Ken sah ihn ungläubig an. „Warum das denn?" „Weil er dann nicht Football spielen durfte." Marcus beobachtete den Jungen. Der verstand offensichtlich nicht, worum es ging. „Colleges haben bestimmte Regeln. Wer schlechte Zensuren hat, darf nicht im Footballteam spielen." „Ach so." Marcus erinnerte sich an die langen Nächte, die er mit Jason gepaukt hatte. In Mathematik und den Naturwissenschaften war der Freund nicht schlecht gewesen. Aber die Literatur hatte ihm zu schaffen gemacht. Er hatte mit ihm geübt, bis, Jason die Antworten wie ein Papagei wiederholte und am Ende sogar ein Sonett von einem Limerick unterscheiden konnte. Einfach war es nicht gewesen. Zum Dank durfte Marcus behaupten, einer Universität zu ihrem Footballstar verholfen zu haben.
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Später hatte Jason den protestierenden Marcus immer wieder mitgeschleppt, ihn ins Rampenlicht geschoben und ihm Leute vorgestellt, die er als Vorbilder für die Gestalten in seinen Büchern verwenden konnte. Plötzlich merkte Marcus, daß Ken ihm eine Frage gestellt hatte. „Was hast du gesagt?" „War Dad dumm?" Ken konnte es sich zwar nicht vorstellen, aber vielleicht wußte Mr. Sullivan es besser. ,,Dein Dad?" Marcus schüttelte den Kopf. „Nein, der war nicht dumm. Im Gegenteil, er war der schlaueste Mann, den ich je kennengelernt habe." Er meinte es völlig ernst. „Er fand Freude am Leben, genoß es in vollen Zügen und wußte, wie man das Beste daraus machte." Kens Lider wurden schwer, aber er merkte, daß der Mann neben ihm traurig war. „Können Sie diese Freude nicht finden, Mr. Sullivan?"' Marcus lachte ein wenig. „Nicht einmal, wenn du mir eine Karte dafür zeichnen würdest." Ken sah Marcus an. „Ich kann nicht gut zeichnen." Marcus zerzauste Kens Haar. „Dein Vater konnte es auch nicht, mein Junge." Wieder donnerte es heftig, und Ken duckte sich unwillkürlich. Ohne lange zu überlegen, zog Marcus ihn an sich. „Ich erinnere mich genau...“ Mit leiser Stimme erzählte er Ken Geschichten von seinem Vater, bis der Junge eingeschlafen war. Plötzlich wußte er auch das Thema für sein nächstes Buch: Er würde über Jason schreiben. Über die Freundschaft zweier Jungen, die zum ersten Mal auf sich gestellt waren und sich gegenseitig halfen, mit der Welt zurechtzukommen. Vorsichtig zog Marcus seinen Arm von Kens Schultern und gab acht, daß er ihn nicht weckte. Er deckte den kleinen Körper - 136 -
zu und merkte zu seiner eigenen Überraschung, daß er den Jungen liebte. Ja, er liebte Ken wie einen eigenen Sohn. ,,Du brauchst nie wieder Angst vor einem Gewitter zu haben", versprach er ihm. Annies Haus sah bei Tageslicht viel kleiner aus. Auch gemütlicher. Es war schneeweiß. Wahrscheinlich war es vor nicht allzu langer Zeit frisch gestrichen worden. Die salzige Luft hatte der Farbe noch nichts anhaben können. Marcus entspannte sich bewußt. Er hatte keine Veranlassung, wie ein Verehrer bei der ersten Verabredung verlegen auf der oberen Stufe zu stehen. Dies war kein Rendezvous. Das hatte er gestern abend mit Annie gehabt und es unbeschadet überstanden. Allerdings nur so gerade. Heute war ein normaler Arbeitstag. Marcus läutete, doch niemand antwortete. Er klopfte an die Tür. Nichts. Wahrscheinlich schlief Annie noch. Ungeduldig klopfte er erneut. Und noch einmal. Hatte Annie vergessen, daß er zu ihr kommen wollte, und war sie zu ihm gefahren? Nein, das war nicht anzunehmen. Gerade wollte er wieder gehen, da fiel ihm ein, daß sie das Meer sehr liebte. Hatte sie nicht eine Terrasse erwähnt? Wahrscheinlich war sie dort. Marcus ging an dem weißen Lattenzaun entlang, an dem sich unzählige bunte Blumen rankten, und erreichte die Rückseite des Hauses. Das Gelände stieg etwas an, so daß der Garten ein halbes Stockwerk höher lag. Er legte die Hand über die Augen, und blickte hinauf. Annie saß, in einem weißen Rattansessel und hielt eine Tasse in der Hand. Sie war kein bißchen erstaunt, als sie ihn sah. Die ganze Zeit hatte sie an ihn gedacht und alles um sich herum vergessen. „Hallo." - 137 -
„Hast du mich nicht gehört" wollte Marcus wissen. „Ich habe mindestens fünf Minuten lang an deine Tür getrommelt." „Tut mir leid." Sie lächelte zur Entschuldigung, und seine Verärgerung legte sich sofort. „Das Meer übertönt sämtliche Geräusche. Komm doch her!" Sie deutete auf einen Pfad, der zu der Terrassentreppe führte. Mißtrauisch betrachtete er den Weg. Die Steinplatten hörten auf halber Strecke auf. „Dann bekomme ich ja Sand in die Schuhe." Sie lächelte fröhlich. „Schütte ihn wieder aus." Marcus hätte viel lieber Annie aus seinem Kopf und seinen Träumen geschüttelt. Er lief über den Sand und stieg die Treppe hinauf: ein verdrießlicher Romeo, der zu seiner Julia ging. Doch er setzte sich nicht auf den Stuhl, den sie ihm anbot, sondern hielt seine Aktentasche in die Höhe. „Wollen wir etwa hier draußen arbeiten?" „Nein. Wir wollen erst einmal Kaffee trinken und die Aussicht genießen." Schon goß sie ihm eine Tasse ein. Offensichtlich hatte sie auf ihn gewartet. „Anschließend werden wir arbeiten." Marcus wollte es sich nicht gemütlich machen. Das konnte sonst zur Gewohnheit werden. „Ich möchte keine Zeit verlieren", protestierte er halbherzig. „Die Natur zu genießen ist niemals Zeitverschwendung." Ihm blieb nichts übrig, als sich zu setzen und den Kaffee anzunehmen. „Mach es dir bequem", forderte Annie ihn auf und lehnte sich zurück. „Ist der Anblick nicht atemberaubend?" „Ja." Aber er meinte sie und nicht die Aussicht. Annies Lippen waren leicht geöffnet, während sie auf das Meer hinaussah, dessen weißer Schaum den Strand säumte, so weit das Auge reichte. Sie hatte das Haar zurückgebunden und kaum Make-up aufgelegt. „Wirklich atemberaubend", stimmte er ihr zu. - 138 -
Sie sah ihn an und merkte, daß er nicht auf das Meer schaute. Der Glanz in seinen Augen schürte ihr Verlangen. Aber noch hielt die innere Stimme sie zurück. „Ich glaube, wir sollten jetzt an die Arbeit gehen", sagte sie. Sie stand auf und ergriff seine Hand. „Ich habe drinnen eine Ecke für uns freigemacht."... Annie öffnete die gläserne Schiebetür und führte Marcus in ihr Wohnzimmer. Im ersten Moment sah er im Dämmerlicht nichts und stolperte über etwas auf dem Boden. Eine ganze Menge liegt hier herum, stellte er fest. Offensichtlich war Annie keine fanatische Hausfrau. Doch das Bündel, das er angestoßen hatte, bewegte sich. „Vorsicht!" rief Annie und ging in die Knie. „Ist dir etwas passiert?" „Nein, alles in Ordnung", antwortete Marcus bescheiden. Weshalb lag sie auf den Knien? Er war doch nicht gestürzt. Und soweit er Annie kannte, würde sie jetzt bestimmt nicht aufräumen. Verwirrt sah sie zu ihm auf. „Dich habe ich nicht gemeint klärte sie ihn auf. „Ich rede mit Beatrice." „Mit wem?" „Mit meinem Hund. Erinnerst du dich?" Sie nahm die Hündin auf den Arm und stand auf. Zärtlich streichelte sie den Rücken und sprach beruhigend auf das Tier ein. „Beatrice kann jeden Tag Junge werfen, und ich will sie nicht aufregen." Marcus war selber nahe an einem Nervenzusammenbruch. „Ach ja: das Rendezvous mit Chauncey, das nicht ohne Folgen geblieben ist." Die Hündin hatte ein hübsches Gesicht, deshalb streichelte Marcus das Tier. Beatrice begann sofort, seine Hand zu lecken. Erschrocken wich Marcus zurück und merkte, daß Annie, ihn neugierig beobachtete. „Sie fühlte sich so rauh an", erklärte er. „Alle Hundezungen sind rauh." Annie kraulte Beatrice hinter dem Ohr. „Hat dich noch nie ein Hund geleckt?" - 139 -
„Nein." Wahrscheinlich ist sein Hund ein Musterbeispiel an guter Erziehung gewesen, überlegte Annie. Dann kam ihr ein Gedanke. „Hattest du keinen Hund?" „Nein." Niemand sollte nach Annies Meinung ohne ein Haustier sein. Die Lösung lag auf der Hand. „Wenn die Jungen da sind..." Marcus bemerkte ihren Blick und wußte, was in ihr vorging. „Nein", erklärte er und hob zur Verstärkung beide Hände. „Auf keinen Fall. Das schlag’ dir aus dem Kopf. Würdest du Lassie jetzt bitte absetzen, damit wir endlich arbeiten können?" Annie gehorchte. „Lassie wäre zu groß für mich, um sie zu tragen." Er ging nicht auf ihre Bemerkung ein. „Wie kannst du in diesem Chaos arbeiten?" Auf allen nur denkbaren Flächen standen Kleinigkeiten herum. Marcus kam sich wie in einer Falle vor, genau wie er befürchtet hatte. Er wollte nicht in solch einem winzigen Raum mit Annie sein. Es war der reinste Selbstschutz, daß seine Laune sich verschlechterte. „Ich kann überall arbeiten." Sie dachte an sein Arbeitszimmer. ,,Selbst im nüchternsten Raum. Sie erkannte die Spannung zwischen ihnen, der sie sich nicht entziehen konnte. „Küß mich lieber, damit du es hinter dich bringst, bevor wir uns an die Arbeit machen." Marcus wunderte sich schon lange nicht mehr, wie gut Annie seine Gedanken lesen konnte. Und noch weniger überraschte es ihn, wie gern er sie küssen wollte. „In Ordnung. Ich würde alles tun, damit wir das Drehbuch hinter uns bringen", murmelte er an ihren Lippen.
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Er gab Annie keine Gelegenheit zu einer Antwort. Dafür mochte er sie viel zu sehr. Ja, mehr noch, er begehrte sie, als wäre er süchtig. Noch konnte er sein Leben steuern und nein sagen. Aber er wollte es nicht. Nicht jetzt. Aufreizend langsam strich er mit den Lippen über ihren Mund, ihre Wangen und ihre Augenlider, und sein Atem ging ebenso rasch wie sein Herzschlag. Er zerrte das T-Shirt aus ihren Jeans und schob die Hände darunter. Er mußte Annie halten, sie berühren und ihre Haut fühlen. Sie keuchte und drängte sich enger an ihn, und er folgte nur noch seinem Instinkt. Beinahe ehrfürchtig glitt er mit den Händen höher, bis er die sanften Rundungen ihrer Brüste umschließen konnte. Annie wollte sich ganz den Empfindungen hingeben, die Marcus in ihr weckte. Seine Hände waren warm, zärtlich und besitzergreifend. Wie sehr begehrte sie diesen Mann. Ein heftiges Verlangen erfaßte sie, und ihr Herz schlug wie wild gegen ihre Rippen. Bisher hatte sie nur einem Mann erlaubt, sie körperlich und gefühlsmäßig derart aufzuwühlen, und sie sehnte sich danach, den letzten Schritt zu tun und erneut zu lieben. Marcus küßte sie leidenschaftlich und verzehrend. Sie spürte seine Lippen in ihrem Gesicht, an ihrem Kinn und an ihrem Hals. Überall, wo er sie berührte, pulsierte ihre Haut. Endlich preßte er die Lippen erneut auf ihren Mund. Sein Kuß war hart und ungeduldig. Immer wieder nahm er ihre Lippen in Besitz, reizte und forderte sie, bis Annie jedes Gefühl für Zeit und Raum verlor. Wenn ich jetzt nicht aufhöre, gibt es kein Zurück, dachte Marcus. Er würde sie gleich hier inmitten der Unordnung nehmen. Doch etwas, vielleicht Angst, hielt ihn zurück. Verzweifelt riß er sich los und barg sein Gesicht in ihrem Haar. Es roch nach Meer und Blumen. „Ich glaube, das haben wir hinter uns", sagte er und versuchte, seinen frenetischen Herzschlag zu beruhigen. „Machen wir uns an die Arbeit. - 141 -
Wir haben es hinter uns? überlegte Annie verwirrt. O nein, mein Freund, noch. lange nicht. Da ist noch viel, viel mehr. Aber im Moment sollte es ruhig nach Marcus' Wünschen gehen. „Einverstanden", erklärte sie, trat einen Schritt zurück und steckte das T-Shirt wieder in den Jeansbund. „Wir können am Fenster arbeiten. Von dort haben wir fast denselben Blick wie von der Terrasse." Es waren derselbe Blick und dieselbe Welt. Aber nichts würde so wie früher sein. Weder für ihn noch für sie.
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12. KAPITEL Sie kamen gut voran. Seit Wochen arbeiteten Marcus und Annie an dem Drehbuch, und es ging besser, als er erwartet hatte. Sie hielten genau den Zeitplan ein. Allerdings liegt das nicht an Annie, dachte Marcus und sah verärgert auf die Uhr. Wo blieb sie nur wieder? Noch immer stritt sie über jede Szene und jeden Dialog mit ihm. Natürlich fand sie, es wäre umgekehrt. Aber er wußte es besser. Schließlich brauchte man zwei für einen Streit. Annie bestand darauf, dem Drehbuch ihren Stempel aufzudrücken. Sie behauptete, es brauche einen weiblichen Standpunkt. Er hatte ihr klargemacht, daß das Buch auch ohne diesen Standpunkt auf die Bestsellerliste gekommen war. Doch sie hatte nur rätselhaft gelächelt, und ihre Meinung verteidigt, bis er nachgegeben hatte. Langsam blätterte Marcus die Seiten durch, die Annie gestern ausgedruckt hatte. Zähneknirschend gab er zu, daß das Drehbuch trotz der geharnischten Worte, mit denen er das Gegenteil behauptete, gute Unterhaltung wurde. Der Film würde auch anspruchsvolle Zuschauer in seinen Bann ziehen. Annie hatte das Beste aus ihm herausgeholt - zumindest auf dem Papier. Wir sind völlig verschieden, überlegte Marcus. Annie denkt beim Schreiben an die Zuschauer. Er selbst schrieb nur zum eigenen Vergnügen. Auf diese Weise berührte es ihn nicht, wenn jemand seine Arbeit nicht mochte. Er konnte sich einreden, daß er über jede Kritik erhaben war. Aber tief im Innern spürte er, daß eine Ablehnung ihn immer noch schmerzte. Marcus legte die Seiten zurück und ging zum Fenster. Wo in aller Welt blieb Annie? Sie hatte selber vorgeschlagen, heute bei ihm zu arbeiten. Inzwischen - 143 -
wechselten sie den Arbeitsplatz regelmäßig. Er hätte darauf bestehen sollen daß sie bei ihr blieben. Dann wüßte er zumindest, wo sie war. Reifen quietschten in seiner Einfahrt, und Ken eilte an seinem Arbeitszimmer vorüber nach draußen. Der Junge hatte sich gut erholt, und seine Augen funkelten fröhlich. Marcus wünschte, er hätte diese Veränderung allein erreicht. Doch er wußte, daß Annie den größten Beitrag dazu geleistet hatte. Annie, immer Annie. Nein, nicht immer, verbesserte. Marcus sich. Annie würde bald wieder gehen. Sobald das Drehbuch fertig war, würde sie ebenso rasch aus seinem Leben verschwinden, wie sie hereingestürmt war. Marcus hörte Kens Stimme. „Für mich?" jubelte der Junge. Offensichtlich hatte Annie ihm etwas mitgebracht. Nicht zum ersten Mal. Sie hatte ihm schon eine Videoanlage und eine ganze Sammlung von Kinderfilmen und Spielen geschenkt. Nach Kens Aufschrei zu urteilen, mußte es diesmal allerdings etwas ganz Besonderes sein. Aber was? Neugierig verließ Marcus sein Arbeitszimmer und betrat die Diele. Ken und: Annie standen noch an der Haustür. Holly umkreiste die beiden wie eine Glucke und hatte wie Ken nur Augen für die Schachtel, die Annie auf den Armen trug. Aus der Schachtel kam ein Geräusch. Annie sah Marcus entgegen und lächelte reizend. Damit entwaffnete sie ihn jedesmal. „Tag." Sie durfte nicht merken, daß er ungeduldig auf sie gewartet hatte, nicht nur, weil sie arbeiten mußten. „Du kommst spät." Sie hatte sich längst an diesen Ton gewöhnt. „Ich wußte im voraus, wie du reagieren würdest. „Was ich von dir nie behaupten kann. Was hast du diesmal mitgebracht?"
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"Einen kleinen Hund!" rief Ken, während eine feuchte rosa Zunge ihm durch das Gesicht fuhr. Er hatte sich auf Anhieb in das winzige Wesen verliebt. Mit leuchtenden Augen sah er Marcus an. „Geht das in Ordnung, Mr. Sullivan? Darf ich ihn behalten? Ken ist sich meiner immer noch nicht sicher, verkannte Marcus Er verhält sich weiterhin wie ein Gast, der fürchtet, beim geringsten Vergehen hinauskomplimentiert zu werden. Vorsichtig streichelte er das weiche Fellbündel. Der Welpe fuhr herum und leckte ihm die Hand. „Wenn ich nein sagte, hätte ich bis zum Ende meiner Tage ein schlechtes Gewissen." Annie lächelte zufrieden. „Wunderbar. Es hat geklappt." Sie drückte Ken die Schachtel in die Hand. „Von nun an bist du für ihn verantwortlich." Das hatte Annie ja geschickt eingefädelt. Sie wußte, daß er jetzt nicht mehr ablehnen konnte. Dabei hätte er niemals seine Zustimmung gegeben, wenn sie ihn vorher gefragt hätte. Aber er durfte Ken nicht enttäuschen, nur um die Oberhand über Annie zu behalten. Das strahlende Lächeln des siebenjährigen Jungen war ihm viel wichtiger als sein Stolz. ,,Ja", stimmte Marcus ihr zu. „Es hat geklappt. Ich nehme an, Beatrice ist bereit, sich von dem Kleinen zu trennen?“ „Dies ist der Kleinste des ganzen Wurfs. Er wird ständig von den anderen herumgestoßen. Ich dachte, Ken könnte vielleicht dafür sorgen, daß er genügend Futter bekommt." Zärtlich strich sie dem Jungen über den Kopf. Ken war so mit dem kleinen Hund beschäftigt, daß er es kaum merkte. „Einverstanden, Ken?" Der Welpe leckte ihm schon wieder das Gesicht, und Ken lachte fröhlich. ,;Ja!" Annie sah die Haushälterin an. „Sie auch, Holly?" Holly preßte die Lippen zusammen. „Darauf läuft es doch hinaus, nicht wahr? Holly muß für alles sorgen."
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Annie ließ sich nicht täuschen. Holly freute sich ebenso wie sie, daß Ken einen Hund bekam. „Nun, ich..." begann sie. Die Haushälterin hob die Hand, damit Annie nicht weiterredete. Guter Trick, dachte Marcus. Den muß ich mir merken. „Komm mit", sagte Holly zu Ken. Sie legte dem Jungen den Arm um die Schultern und führte ihn in Richtung Küche. „Mal sehen, ob ich ein Fläschchen für den Kleinen zurechtmachen kann." Das wäre geschafft, dachte Annie. Und nun zum nächsten Problem. Sie drehte sich zu Marc. „Danke, daß er den Welpen behalten darf." Marcus tat ihre Worte mit einem Achselzucken ab und ging in Richtung Arbeitszimmer. „Mir blieb ja gar keine andere Wahl." Ein härterer Mann hätte trotzdem abgelehnt. „Nein, das stimmt. Da ist noch etwas, Marc..." „O je, was kommt denn nun?" Sie, ging zu ihm und hakte sich bei ihm ein. Er war in jedem Sinn des Wortes gefangen und merkte, daß es ihm nicht unangenehm war. Wäre er aufmerksamer gewesen, hätte ihm das zu denken gegeben. „Der zweite Teil des Films spielt doch in der Nähe von Santa Barbara, nicht wahr?" Verblüfft zog Marcus eine Braue in die Höhe und fragte sich, worauf Annie hinauswollte. „Du hast gut aufgepaßt." „Spötter!" lachte sie. „Ich überlege nur, ob wir nicht für einen Tag dort hinfahren sollten, um ein bißchen die Atmosphäre zu schnuppern. Mühsam machte Marcus sich los. „Ich bin dagewesen", erklärte er. Dort oben, in einer kleinen malerischen Stadt, in die das letzte Viertel dieses Jahrhunderts noch nicht eingezogen war, hatte er die Idee zu seiner Geschichte bekommen.
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Annie war nicht bereit, sich ihren Plan ausreden zu lassen. Sie wollte mit Marcus wegfahren, und wäre es nur für einen Tag. Sie brauchten diese gemeinsame Zeit. Ein oder zwei Stunden in einem .Restaurant reichten nicht aus. „Wann war das?" „Als ich mit dem Buch begann. Vor drei Jahren. Es kann auch vier Jahre her sein." Er schaltete seinen Computer ein und setzte sich, um mit der Arbeit zu beginnen. Annie antwortete nicht. Marcus lehnte sich zurück und blickte nachdenklich auf den leeren Bildschirm. Es war lange her, daß er da oben gewesen war. Zu lange. Schön und friedlich war die Zeit gewesen. Plötzlich. verspürte er den Wunsch, Annie alles zu zeigen und das Erlebnis mit ihr zu teilen. „In Ordnung, wir werden hinfahren." „Und wann?" Die Frau war nie zufrieden. „Ich nehme an, du möchtest es noch heute." Er kannte Annie inzwischen. Das war beängstigend und erregend zugleich. Annie machte einen kläglichen Versuch, geduldig zu bleiben und sich nach ihm zu richten. „Wenn es dir recht ist ..." Marcus lachte auf und schaltete seinen Computer wieder aus. Sie würden heute bestimmt nichts mehr schaffen. „Als ob es auf meine Meinung ankäme." Annie stand auf der Schwelle. „Natürlich kommt es darauf an", antwortete, sie ruhig. Noch wichtiger war, daß ihre und seine Meinung zusammenpaßten. Beinahe könnte ich es glauben, überlegte Marcus. Vor allem, wenn ich es zulasse. Kopfschüttelnd griff er zum Telefon. „Ich muß nur noch einige Termine absagen", erklärte er.
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Gerade hatte Marcus sein letztes Telefongespräch beendet, da kehrte Annie mit einem großen Korb über dem Arm in sein Arbeitszimmer zurück „Was ist das denn?" fragte er. „Hast du noch einen Hund dabei, den du loswerden möchtest?" Er hatte immer noch nicht richtig verstanden. „Den ersten wollte ich eigentlich auch nicht loswerden." „Weshalb hast du ihn dann ...?" „Ich dachte, Ken könnte einen weiteren Freund gebrauchen. Neben dir", fügte sie nachdrücklich hinzu. Ihre Erklärung machte ihn verlegen. „Ich bin nicht..." Marcus, konnte sich nicht vorstellen, daß Ken ihn als Freund betrachtete. Annie unterbrach ihn sofort. „Ken hält dich dafür." „Wirklich?" Er wurde richtig aufgeregt. Nein, ich habe mich in diesem Mann nicht getäuscht, dachte Annie. Im Gegenteil, ich hatte sehr, sehr recht. „Ja, es stimmt." Marcus räusperte sich verlegen. „Was ist das dann?" Er nickte in Richtung Korb. „Unser Mittagessen. Holly hat uns ein Picknick eingepackt. Verblüfft starrte Marcus auf den Korb. „Holly? Meine Haushälterin, die größten Wert auf warme Mahlzeiten legt und Fast-Food-Restaurants am liebsten gesetzlich verbieten würde?" Nur Annie konnte das geschafft haben. Sein Respekt vor ihrer Überzeugungskraft wuchs erheblich. Mit dem Zeigefinger strich er, über die geflochtenen Weiden. „Ich wußte nicht einmal, daß wir einen Picknickkorb besitzen." „Ihr besitzt auch keinen - aber ich." „Du, hast ihn mitgebracht!" Annie lief wirklich zur Höchstform auf. Achtlos zuckte sie mit ihren zarten Schultern. „Für den Fall der Fälle." Sie hakte Marcus unter und schob ihn zur Tür. „Und was ist mit Ken?"
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„Er hat beschlossen bei dem Welpen zu bleiben." Annie öffnete die Haüstür. Marcus betrachtete sie mißtrauisch. „Ist dies ein Verführungsversuch?" Nicht daß er etwas dagegen gehabt hätte. Auch das war ein weiteres deutliches Zeichen dafür, daß er langsam den Verstand verlor. Annie sah ihn mit unschuldiger Miene an. „Wir wollen uns nur die Landschaft ansehen und die Stimmung in uns aufnehmen. Abgesehen davon, warst du derjenige, der sofort losfahren wollte.“ Die Haustür schloß sich hinter ihnen, und Marcus stellte fest, daß es ein herrlicher Tag für ein Picknick war. Mein allererstes Picknick, überlegte er. Es gab eine Menge Dinge, die er zum ersten Mal mit Annie tat. „Als hätte ich eine Wahl gehabt." „Nanu, Mr. Sullivan." Annie klimperte mit den Wimpern, und ihre Stimme nahm einen trägen Südstaaten-Akzent an. „Ich dachte, du gibst niemals die Fäden aus der Hand." Sie lächelte reizend. „Du bist kein Mann, der sich zu irgendetwas zwingen läßt. Du würdest nicht mitkommen, wenn du es nicht wolltest." Marcus mußte wissen, daß ihr das klar war. Sie stand neben dem Wagen und wartete, daß er die Tür aufschloß. Annie hatte recht. Er wollte diesen Ausflug mit ihr machen. Über die Gründe dafür würde er später in Ruhe nachdenken. Es war eine dreieinhalbstündige Fahrt durch dünn besiedeltes Gebiet. Unmerklich erneuerte die Landschaft Marcus' Glauben an die Natur, an das Leben und die Bedeutung der Sinne, mit denen man diese Schönheit in sich aufnahm. Als sie nach einhundertfünfzig Meilen ihr Ziel erreichten, hatte sich sein schneidender Spott fast gelegt. Je weiter sie sich von Los Angeles und seinem Haus entfernten; desto entspannter und zugänglicher wurde er. - 149 -
Er überließ Annie die Wahl der Stelle, wo sie anhalten wollten. Der Tag war viel zu schön, um Punkte für einen Sieg zu sammeln, der ihm heute nichts bedeutete. Im Gegenteil, es gefiel ihm, daß Annie und er häufig derselben Meinung waren. „Wie bitte, du hast keine Kamera dabei?" fragte Marcus, während sie Hand in Hand einen Panoramaweg hinabschlenderten, wo sich die Natur von ihrer schönsten Seite zeigte. „Ich dachte, du würdest Berge von. Fotos aufnehmen. " Er hatte ein Album auf ihrem Couchtisch gesehen, das gewiß voller Erinnerungen steckte, und beneidete sie darum. „Das tue ich auch." Mit einem Finger zeigte sie auf ihre Schläfe. „Hier oben wird alles gespeichert. Belustigt schob Marcus ihr das Haar aus der Stirn. „Und wie willst du es dort je wiederfinden?" „Sehr witzig." Annie hielt, seine Hand fest. „Du machst tatsächlich Fortschritte, Sullivan." „Bitte, nimm mir nicht den Mut." Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn leicht auf die Lippen. „Auf keinen Fall, Marc.“ Der Kuß hatte eine ungeheure Wirkung auf ihn. Plötzlich fühlte Marcus, sich rundum wohl. Während sie unter den gewaltigen Rotholzbäumen entlangschlenderten, kam es ihm auf einmal vor, als sähe er alles zum ersten Mal. Es war ein wunderschöner Nachmittag, eine Verherrlichung des Lebens selbst, und die Zeit schien stillzustehen. Annie hatte Marcus' Hand genommen und ließ sie nicht mehr los, und er genoß es. Ihm war, als müßte es so sein. Einen Tag lang konnte er tun, als glaube er es wirklich. Vielleicht geriet er zu tief in diese Sache hinein. Er kannte die Gefahr, die darin steckte, Auf, dem Papier konnte er eine Situation kontrollieren und die Zügel straffer ziehen, sobald sie ihm aus der Hand glitten. Entwickelte sich etwas anders, als er wollte, brauchte er nur auf den Knopf zu drücken, und der Text
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auf dem Bildschirm war gelöscht. Im Leben war das nicht so einfach. Während er jetzt mit gekreuzten Beinen unter einem Baum saß und zusah, wie Annie das Essen auf der Decke verteilte, hatte er den Eindruck, die Henkersmahlzeit zu bekommen, bevor sich die Schlinge um seinen Hals zusammenzog. Es gab kein Entkommen. Er saß in der Falle. Es sei denn, es gelingt mir, mich doch noch von dem Strick zu befreien, überlegte Marcus und trank einen Schluck Wein. Aber die Aussichten dafür waren gering. Annie redete ununterbrochen. Es störte sie nicht, daß er kaum antwortete. „Merkst du eigentlich, daß du selbst beim Kauen noch sprichst? Ich dachte, dabei würde man sich zwangsläufig verschlucken", stellte Marcus fest. „Du redest ohne Punkt und Komma." Sie nahm ihm die Bemerkung nicht übel. Langsam strich sie mit den Fingern über ihre Leinenserviette, und er fragte sich, wie es wäre, wenn sie seine Haut streichelte. „Das kommt, weil du überhaupt nichts sagst. Die Natur gleicht so etwas aus." „Mit der Natur hat das nichts zu tun", erklärte er und beobachtete sie. „Hast du Angst, mit deinen Gedanken allein zu sein?" Annie zuckte zusammen, und Marcus erkannte, daß er ins Schwarze getroffen hatte. Das war nicht seine Absicht gewesen. Er hatte Annie nicht wehtun wollen. „Manchmal." „Weshalb?" Annie blickte in die Ferne. „Das ist eine lange Geschichte." „Die du nicht erzählen möchtest?" fragte Marcus ungläubig. „Bei einer Frau, die hundertfünfzig Meilen lang ununterbrochen geredet hat, kann ich mir das kaum vorstellen.
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Sie lächelte traurig. Ein Eichhörnchen sprang von einem Baum zum anderen, stutzte plötzlich und blieb regungslos sitzen. Annie tat, als beobachtete sie es aufmerksam. „Manche Gedanken sind sehr persönlich." Sie warf dem Tier ein Stück Brot zu. Marcus traute seinen Ohren nicht. Die Seiten hatten sich verkehrt. „Bei mir hast du darauf keine Rücksicht genommen." Nervös riß Annie einen weiteren Brocken Brot ab und warf ihm dem Eichhörnchen hin. „Weil, ich dich besser kennenlernen wollte. Den Mann, den ich in deinen Büchern angetroffen hatte." Das Eichhörnchen eilte erschrocken davon, und einige Eichelhäher stürzten sich auf die Reste, die es hinterlassen hatte. Marcus legte seine Hand auf ihre. „Und wenn ich dich ebenfalls - richtig kennenlernen möchte?" Annies Herz schlug schneller. „Stimmt das? Möchtest du das wirklich?" Ja, dachte er, ich möchte es. „Ich sage nie etwas, das ich nicht meine. Für Lügen läßt uns das Leben nicht genügend Zeit." Annie gefiel diese Aufrichtigkeit. Marcus war ein guter Mensch. Einen Moment schwieg sie. Gerade wollte er eine Bemerkung machen, da sagte sie plötzlich ganz leise, als hätte sie Angst, ihre Gefühle zu verraten: „Es gab einmal einen Mann, den ich sehr geliebt habe." Marcus merkte, wie sich sein Inneres zusammenzog, und er fragte sich, weshalb ihm .Annies Worte so nahegingen. Egoistisch, wie er nun, einmal war, ertrug er den Gedanken, nicht, daß sie jemand anders geliebt hatte. Unsinn, schalt er sich. Das ist reiner Unsinn. Annie ahnte nicht, was ihm durch den Kopf ging. Versonnen fuhr sie fort „Ich dachte, Charlie wäre jener Mann, mit dem ich bis zum Ende meines Lebens glücklich sein würde. Wie im - 152 -
Märchen. Wahrscheinlich war ich ein Produkt meiner Umgebung." Ein bittersüßes Lächeln umspielte ihre Lippen. „Ich hatte zu viele Filme gesehen." „Er hat dich verlassen?" Marcus konnte sich nicht vorstellen, daß ein Mann, der Annie kennengelemt hatte, sie je wieder verlassen würde Von ihm abgesehen, natürlich, aber das war eine andere Geschichte. Sie hatte nichts mit ihr zu tun, sondern ausschließlich mit ihm. Und seinem Selbsterhaltungstrieb. Annie schloß die. Augen: „Nicht freiwillig', antwortete sie endlich. „Weshalb dann?“ Auf den Schmerz in ihrem Blick, als sie die Augen. wieder öffnete, war er nicht gefaßt. „Charlie starb. Vor etwas über einem Jahr. Ganz plötzlich." Sie stieß die Worte ruckweise hervor. „Es war bei einem dieser dummen Bootsrennen. Dabei hatte er nicht einmal mitmachen wollen. Doch seine Freunde überredeten ihn. Einer von ihnen brauchte einen ersten Steuermann, oder wie man den Kerl nennt, der beim Steuern hilft." Sie sah Marcus an, und Tränen glitzerten in ihren Augen. Marcus fühlte mit ihr, obwohl, er auf den Mann eifersüchtig war, der Annie seit seinem Tod ungewollt diesen Schmerz zugefügt hatte. „Ich weiß auch nicht, wie man ihn nennt", sagte er, zog sie in seine Arme und küsste sie.
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13. KAPITEL Es war ein sanfter, zarter Kuß, der nur andeutete, was sich hinter dem Schutzwall verbarg, den Marcus keinesfalls niederreißen wollte. Mehr durfte er sich nicht erlauben. Er konnte Annie seine wahren Gefühle nicht zeigen, bevor er nicht sicher war, daß sie ihn so akzeptierte, wie er war. Falls er den Kuß auch nur ein wenig vertiefte, würde sie erkennen, wie stark er für sie empfand. Er staunte selber darüber. Ihre Lippen waren weich und nachgiebig. Er brauchte sich ihnen nur zu überlassen und... Nein, es würde kein glückliches Ende geben. Nur Narren glaubten daran. Marcus ahnte, daß Annie ihn begehrte. Oder täuschte er sich? Sie war so anders; nie wußte er, woran er bei ihr war. Die Gestalten in seinen Büchern waren ebenfalls vielschichtig, aber die hatte er in der Hand. Im wirklichen Leben war ihm so etwas unheimlich. Es donnerte leise in der Ferne, und ein Schleier legte sich vor die Sonne. Ein Sturm zog heran. Marcus küßte Annie auf die Schläfe. „Ich glaube, wir sollten aufbrechen.“ Annie seufzte leise, als er sie losließ. Sie war enttäuscht. Einen kurzen Moment war Marcus zärtlich und nett gewesen, und sie hatte gehofft, daß er die unsichtbare Linie, die sie trennte, überschreiten würde. Sie konnte doch nicht alles allein tun. Nicht, wenn es um etwas so Wichtiges ging. Jedesmal, wenn Marcus sie in den Armen hielt und sie küßte, brachte er sie näher an den, Rand der Ekstase. Diesmal wäre sie beinahe darüber hinweggetaumelt. Aber das mußte gleichzeltig mit ihm geschehen: Doch immer machte er sich im letzten Moment los, zog sich in sein Schneckenhaus zurück und ließ sie mit ihren Gefühlen allein.
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Zum ersten Mal war Annie richtig verzweifelt. Am liebsten hätte sie mit beiden Fäusten auf Marcus' Brust getrommelt und ihn angeschrien, ihr endlich zu erzählen, was ihn zu diesem Gefühlskrüppel gemacht hatte. Aber was würde das nützen? Trotzdem war sie sicher, daß Marcus sie begehrte. Sie merkte es bei jedem Kuß, fühlte es bei jeder Liebkosung und sah es in seinen Augen. Er war ein viel zu aufrichtiger Mann, um nur vorzutäuschen, daß sie ihm nicht gleichgültig war. Langsam stellte Annie die Schüsseln in den Picknickkorb zurück. Viel lieber hätte sie sie Marcus an den Kopf geworfen. Vielleicht ging er dann aus sich heraus. „Ich glaube, wir haben für heute genug Atmosphäre aufgenommen", meinte sie trocken. Erneut beugte sie sich vor, um die Picknickreste in den Korb zu legen. Der Ausschnitt ihrer Bluse gab den Blick frei auf die sanften Rundungen oberhalb ihres BHs. Marcus' Gesicht spiegelte sich in, einer Flasche. Regungslos betrachtete sie es und erkannte sein Verlangen. War es eine rein körperliche Reaktion? Oder mehr? Warum konnte er seine Gefühle nicht zeigen? Der Mann brachte sie noch zum Wahnsinn. Marcus sah zu, wie Annie den Korb füllte, und merkte, daß sie sich innerlich straffte. Ihm war klar, daß es seinetwegen geschah. Deshalb schob er die Hände tief in die Taschen und blickte in die Ferne. „Mehr als genug“, antwortete er. Was sollte das schon wieder heißen? Es wurde langsam Zeit, daß Marcus sich etwas näher erklärte. Entschlossen setzte Annie sich auf die Fersen. „Du scheinst an mir interessiert zu sein, und trotzdem weichst du zurück, sobald es ernst wird. Soll das eine Art von Spiel sein? Ist das deine Vorstellung von Vergnügen?" Ihr Schmerz und ihre verärgerte Stimme überraschten Marcus. Er wollte Annie nicht wehtun, sondern sich nur selber schützen. „Nein, es ist kein Spiel." Eindringlich sah er sie an. - 155 -
„Ich leugne gar nicht, daß du mir nicht gleichgültig bist und, daß ich mich stark zu dir hingezogen fühle, sobald ich dich küsse." Das genügte Annie nicht. Sie wollte mehr wissen. Vor allem die Gründe für sein Verhalten. „Aber?" Er stöhnte heftig. „Für eine engere Beziehung stehe ich nicht zur Verfügung.'" Annie zerrte die Wolldecke heran, legte sie zusammen: und schlug auf sie ein. Gleichzeitig wünschte sie, es wäre Marcus. „Ich hatte keine Ahnung, daß man sich für eine Beziehung zur Verfügung stellt." Verärgert warf sie die Decke oben auf den Korb. „Ach ja, es stimmt. Waschsalons sollen für die Anbahnung von Partnerschaften stark in Mode kommen. Man sagt, sie könnten sogar den Diskotheken den Rang ablaufen." Marcus versuchte seine Gefühle zu erklären, was ihm - milde ausgedrückt - sehr schwer fiel, und Anne redete von Socken, die die Leute zusammenbrachten. „Kannst du überhaupt nichts ernst nehmen?" Mit einer Hand nahm er die Wolldecke, mit der anderen den Picknickkorb. „Sei bloß froh darüber. Sonst hätte ich dir nämlich eine runtergehauen." Marcus war nicht zum Scherzen zumute. „Du hast recht, für heute haben wir genügend Atmosphäre aufgenommen." Sein Cabrio stand nicht weit entfernt auf der Straße, und er ging los. „Mein Leben, ist derzeit genügend ausgefüllt." Annie lief hinter ihm und zählte in Gedanken bis zehn. „Sicher, es quillt beinahe über", erklärte sie. Marcus reichte es. Nicht alles ging nach Annies Wünschen, auch wenn sie es glaubte. Es ärgerte ihn, daß er sich in ihrer Gegenwart nicht vernünftig ausdrücken konnte. „Ich habe meine Arbeit."
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Sie starrte auf seinen Kopf. Er war nicht dicker als der, anderer Menschen. „Ein großartiger Ersatz für das wahre Leben. Marcus warf den Picknickkorb und die Decke auf den Rücksitz. Der Korb kippte um, und der Inhalt konnte jeden Moment herausfallen. Ihm war es egal. „Außerdem muß ich für einen Jungen sorgen und weiß nicht recht, was ich mit ihm anfangen soll.“ Genügte das etwa nicht? Mehr konnte er sich wirklich nicht aufbürden, selbst wenn ihn die innere Stimme dazu drängte. „Was du mit ihm anfangen sollst?" fragte Annie ungläubig. Sie war es leid, immer nur Marcus' Hinterkopf zu sehen. Deshalb legte sie die Hand auf seine Schultern und zwang ihn, sich zu ihr zu drehen. „Das klingt ja, als wäre er ein Bausatz. Mit einem Jungen wie Ken fängt man nichts an, man liebt ihn einfach." Das versuchte er ja, aber es war nicht leicht. "Es fällt mir schwer, auf Menschen einzugehen." Annie lehnte sich an den Wagen. „Das überrascht mich nicht." Gereizt hob er beide Hände. Was erwartete sie von ihm? „Ich habe bereits beschlossen, Ken nicht auf eine Militärschule zu schicken." Verblüfft riß Annie die Augen auf. „Auf eine Militärschule?" Hatte Marcus; den Verstand verloren? Ken würde dort restlos verkümmern. „Hast du das tatsächlich ernsthaft überlegt?" „Ja." Obwohl er diesen Gedanken längst verworfen hatte, ärgerte sich Marcus über ihre Frage. Schließlich wollte er nur das Beste für Ken. Was ist dagegen einzuwenden?" Wenn er es nicht selber wußte, war ihm nicht zu helfen. Vielleicht hatte sie sich doch in ihm geirrt. „Du hast kein Herz, Marc Sullivan." Leider doch. Und es schmerzte entsetzlich. „Falsch. Ich habe eines." - 157 -
Weshalb weichst du mir dann immer aus? hätte Annie ihn gern gefragt. „Wer sagt das?" „Mein Arzt. Er, hat es auf dem Röntgenschirm gesehen:" Du liebe Güte, er redete ja beinahe wie Annie. Jetzt wurde es ernst. Annie starrte ihn an. Wie hatte Marcus auch nur einen Moment daran denken. können, den Jungen auf diese Weise aus seinem Leben zu verbannen? Aber versuchte er nicht gerade dasselbe mit ihr? „Das ist wahrscheinlich der einzige Ort, wo es sich bemerkbar macht." Sie war verrückt, absolut verrückt, wenn sie sich einbildete, diesen Mann zu lieben. Seine Unvernunft hatte sie fasziniert, mehr konnte es nicht sein. Es war ein Irrtum. So etwas kam vor. Ergeben setzte Annie sich auf den Beifahrersitz. „In Ordnung, fahren wir nach Hause." Es ist besser so, sagte sich Marcus. Sie mußten ihre Beziehung auf eine rein berufliche Basis beschränken. Er war ein Narr, wenn er geglaubt hatte, daß etwas anderes möglich wäre. Er stieg ein, steckte den Zündschlüssel ins Schloß und drehte ihn. Nichts. Der Anlasser gab keinen Laut von sich. Schimpfend versuchte Marcus es erneut. Die Stille wurde unheimlich. „Was ist los?" „Er rührt sich nicht." Der Anlasser ist nicht der einzige, der sich nicht rührt; dachte Annie. „Rüttel mal ein bißchen am Schlüssel." Annie wollte sich hinüberbeugen, um es selber zu tun. Ein finsterer Blick von Marcus genügte, und sie zog ihre Hand zurück. „Ich kann damit rütteln, soviel ich will, der Anlasser rührt sich nicht", erklärte er. Ein dicker Tropfen fiel ihr ins Gesicht, dem ein zweiter gleicher Größe folgte. Keine Minute später goß es in Strömen. Na fantastisch, dachte Annie und blickte zum Himmel. „Weiß die Wolke nicht, daß sie im Juli nicht regnen darf?"` - 158 -
Das Haar klebte ihr am Kopf. Sie sieht aus wie am ersten Tag, als sie in mein Leben getreten ist, stellte Marcus fest. Und. weshalb fand er das so hinreißend? Wie konnte er sich zu dieser Frau hingezogen fühlen, obwohl er ihr am liebsten den Hals umgedreht hätte? Er kannte sich nicht mehr aus. „Vielleicht hat sie den Reiseführer über Kalifornien nicht gelesen." Ich rede wirklich schon wie Annie, dachte er. Aber jetzt war keine Zeit, über die fatalen Folgen dieser Tatsache nachzudenken. Es goß entsetzlich, und Marcus sah nach hinten, wo das Verdeck ordentlich gefaltet hinter der Rückbank verborgen war. Annie und er waren inzwischen klatschnaß, und das Wageninnere war ebenfalls durchnäßt. Da fiel ihm etwas ein. „Unten an der Straße muß ein Haus stehen. Wollen wir hinüberlaufen?" „Und was ist mit dem Wagen?" Das Innere würde wieder trocknen. Wichtiger war, daß Annie in Sicherheit kam. „Darum kümmere ich mich später." Der Sturm wurde immer schlimmer. „Laufen wir los." Das Haus, ein, bescheidenes einstöckiges Holzgebäude, war weiter entfernt, als Marcus sich erinnerte. Als, sie es erreichten, waren Annie und er bis auf die Haut durchnäßt. Eine ältere. Frau öffnete ihnen auf ihr Klopfen und begriff sofort. „Kommen Sie schnell herein", forderte sie die beiden auf. und zog Annie ins Innere. Es störte sie nicht, daß die beiden eine Menge Feuchtigkeit hereinbrachten. „Henry", rief sie.„Es sind Gäste gekommen." „Eher halb ertrunkene Ratten", meinte Annie lachend und trocknete sich die Augen. „Guten Tag." Sie reichte der Frau die Hand. „Mein Name ist Annie de Witt, und das ist Marc...
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Die Frau nahm ihre Hand und drückte sie herzlich. „Ihr Mann?" fragte sie und strahlte Marcus an. „Ja", antwortete er. Selbst wenn man ihn das restliche Leben verhörte, würde er nicht erklären können, was ihn zu dieser Antwort bewogen hatte. Sie war ihm einfach herausgeschlüpft vielleicht weil es so am einfachsten war. Er reichte der Frau die Hand und schüttelte sie. „Ich bin Polly Flynn, und das ist mein Mann Henry." Sie nickte zu dem Mann, der gerade das Wohnzimmer betrat. Der Mann war groß und dürr und sah aus, als klapperten seine Knochen bei jedem Schritt; seine Frau war klein und rund und strahlte über das ganze Gesicht. Annie mochte die beiden auf Anhieb. „Guten Tag sagte sie zu dem Mann. „Es tut mir furchtbar leid, daß wir hier so hereingeplatzt sind." Marcus legte den Arm um ihre Taille, denn er hatte das ungute Gefühl, Annie könne jeden Moment wieder davonlaufen. „Unser Wagen ist leider eine halbe Meile von hier liegengeblieben", erklärte er dem Mann. Er blickte in das Wohnzimmer und suchte nach einem Telefon. „Dürfte ich bitte einmal telefonieren und eine Werkstatt anrufen, damit wir Ihnen nicht zu lange zur Last fallen?" fragte er. Der Mann kratzte, sich am Kopf. „Die einzige Werkstatt in dieser Gegend schließt um fünf", sagte er und sah auf seine Armbanduhr. „Es ist schon halb sechs. Ich fürchte, Sie werden kein Glück haben." „Sie können gern bei uns übernachten", schlug Polly vor: Der Blick in ihren Augen bewies, daß die Einladung aufrichtig gemeint war. „Wir besitzen ein Gästezimmer." „Das ist wirklich furchtbar nett, Mrs. Flynn", begann Annie. - 160 -
„Polly", verbesserte die Frau sie. „Wenn Sie die Nacht unter meinem Dach verbringen wollen, müssen Sie Polly zu mir sagen." „Einverstanden, Polly", erklärte Annie. „Ganz herzlichen Dank. Wir nehmen Ihre Einladung gern an." Annie schien sich mühelos mit der Situation abzufinden. Ihm, Marcus, fiel das wesentlich schwerer. „Sie nehmen uns ohne weiteres auf?" fragte er und blickte von der Frau zu dem Mann. „Sie kennen uns doch gar nicht." „Natürlich kennen wir Sie." Polly lächelte, weil Marcus so verwirrt war, und fuhr langsam wie zu einem Kind, das nicht leicht begreift, fort: „Sie haben sich gerade vorgestellt. Und jetzt kommen Sie bitte mit. Ich gebe Ihnen etwas Trockenes zum Anziehen." „Dürfen wir bitte vorher telefonieren?" bat Annie. Als Marcus sie fragend ansah, fuhr sie fort: „Wir müssen Ken Bescheid sagen." Er begriff immer noch nicht. Der Junge war doch bei seiner Haushälterin gut aufgehoben. „Weshalb?" fragte er. Wie konnte Marcus so begriffsstutzig sein? „Damit er sich keine Sorgen macht." „Ist Ken Ihr Sohn?" fragte Polly. „Sie haben recht. Kinder bekommen furchtbare Angst, wenn ihre Eltern nicht zu der ausgemachten Zeit zurück sind." Marcus mußte daran denken, was in Ken vorgegangen war, als Jason und Linda nicht nach Hause gekommen waren. Er machte sich heftige Vorwürfe, daß er so gedankenlos gewesen war. Diesmal war er Annie dankbar für ihre Umsicht. „Wir möchten ihn so schnell wie möglich anrufen", erklärte Marcus. „Selbstverständlich erstatte ich Ihnen die Kosten." „Davon kann gar keine Rede sein", wehrte Polly ab und zeigte auf das Telefon in der Ecke des Wohnzimmers.
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„Ich hätte nicht geglaubt, dal3 es heutzutage, außer in unserer Fantasie, noch solche Menschen gibt", sagte Marcus, nachdem Polly sie ins Gästezimmer geführt hatte. Behutsam schloß er die Tür und beobachtete Annie. Sie scheint sich hier häuslich einrichten zu wollen, dachte er und zog einen Hosenträger in die Höhe. Marcus trug eine weite, verblichene graue Hose mit Aufschlag, die eine Nummer zu groß war, sowie ein kariertes Hemd. Beides hatte Henry ihm geliehen, bis seine eigenen Kleider wieder trocken waren. Der Abend war viel schöner geworden, als er es sich vorgestellt hatte. Während des Abendessens hatte er eine Menge über die Familie der Frau und Henrys Beruf als Zimmermann erfahren. Die beiden Alten waren in einer kleinen Stadt in Kansas geboren und hatten dort auch geheiratet. Vierzig Jahre später waren sie nach Kalifornien gezogen und hatten sich in Santa Barbara niedergelassen. Annie zog den gewaltigen rosa Morgenrock enger, den Polly ihr beinahe aufgedrängt hatte. „Nicht alle Menschen sind so ungefällig und kalt, wie du glauben möchtest", antwortete sie und setzte sich auf das einzige Bett im Raum. „Ich möchte es nicht glauben, Annie. Es ist so", sagte er. Ihr Morgenrock öffnete sich, und einen Moment sah er ihr schlankes Bein. Dann zog sie den Rock wieder zusammen. Nervös wanderte. Marcus auf und ab. Dieser Morgenrock war nicht dazu angetan, ihm eine ruhige Nacht zu verschaffen. Dem Mann ist nicht zu helfen, dachte Annie „Kannst du mir sonst erklären, weshalb die Leute uns heute nacht aufgenommen haben?", fragte sie. „Natürlich", antwortete er trocken. „Sie sind ein Fantasieprodukt. Vergeblich versuchte er die Wirkung zu verdrängen, die ihr, Lachen auf ihn hatte. Er blickte sich in dem Zimmer um. Es war ebenso klein und gemütlich wie das übrige Haus. Die Möbel waren alt, sahen aber bequem aus. Die einzige Lampe neben dem Doppelbett - 162 -
tauchte den Raum in ein anheimelndes Licht. Außer dem Bett gab es noch einen Schreibtisch und einen Sessel, der nicht zu der restlichen Einrichtung paßte. Marcus ging zu dem Sessel. Der würde ihm heute nacht als Schlafstätte dienen müssen. Der Gedanke, das Bett mit Annie zu teilen, ohne sie anzurühren, war ebenso abwegig wie die Vorstellung, einen Schneeball in der Hölle aufzubewahren. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen." Draußen heulte der Wind. Der Regen fiel immer noch in Strömen, und Annie war froh, daß sie die Nacht im Trockenen verbringen konnten. „Worüber?" Er setzte, sich in den, Sessel. „Ich habe die Absicht, mich wie ein perfekter Gentleman zu verhalten." Ihre Auffassungen über einen Gentleman gingen offensichtlich weit auseinander. Annie war der Meinung, daß ein Gentleman seiner Dame keinesfalls das Herz brechen durfte. „Daran habe ich nie gezweifelt", erklärte sie. Weshalb sagt Annie das so kühl? überlegte Marcus. Weiß sie nicht, wie schwer es mir fällt, dem Sturm nicht nachzugeben, der in meinem Innern weit stärker tobt als draußen? „Die Hauptsache ist, wir verstehen uns." „Ich fürchte, das wird in Millionen Jahren nicht passieren", murmelte Annie. Sie betrachtete den viel zu großen Morgenrock. „Eigentlich wollte ich dich fragen, ob du nicht mit unter diesen Mantel kriechen möchtest. Platz für zwei ist bestimmt darin, vielleicht sogar für drei." Sie lachte freudlos. „Lassen wir das. Wahrscheinlich habe ich dich schon wieder schockiert." Marcus ging nicht auf ihren Spott ein. Er wollte die Situation nicht ausnutzen, dafür stand zuviel auf dem Spiel. „Hör zu, ich...“ Er sah zu Annie hinüber. Sie war inzwischen ins Bett gekrochen. Der Morgenrock lag auf dem geblümten Teppich.
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Marcus spürte jeden Zentimeter seines Körpers. Mit der Zunge befeuchtete er seine Lippen, denn sein Mund war plötzlich trocken geworden. „Was machst du da?" Sie drehte sich zu ihm. „Ich dachte, das wäre unübersehbar." „Der Mantel.." „Der würde mich im Schlaf nur stören. Dafür ist es viel zu heiß." Seit es regnete, war die Luft stickig geworden. Und wie heiß es ist, stimmte Marcus ihr zu. Er mußte ständig daran denken, daß Annie unter dem Laken ganz nackt war. „Ich nehme den Sessel", erklärte er schließlich. „In Ordnung." Nichts war in Ordnung, es war die reinste Quälerei. Wenn je ein Möbelstück unbequem war, dann dieser Sessel. Annie merkte, daß Marcus ruhelos hin und her rutschte. Endlich stützte sie sich auf die Ellbogen und zog das Laken fest um ihre Brust. Marcus war ein Dummkopf, aber er tat ihr leid. „In diesem Bett ist genügend Platz für zwei, Marc", sagte sie und deutete mit dem Kopf auf die andere Seite. „Wir sind doch vernünftige, erwachsene Menschen. Unzählige Leute teilen Nacht für Nacht ein Bett, ohne miteinander zu schlafen. Sie wandte sich ab und drehte sich zum Fenster. Sie hatte Marcus das Angebot gemacht, weil keiner von ihnen sonst Schlaf bekommen würde. Wenn er sich einbildete, daß mehr dahintersteckte, irrte er sich. Sie würde ihn nicht mehr aus der Reserve locken. Marcus hatte sie so oft zurückgewiesen, daß er ruhig hinter seinem Schutzwall .bleiben konnte. Alles weitere mußte von ihm ausgehen. Es war sein Problem, wenn er aus Stein war, nicht ihres. Marcus erkannte seinen Fehler sofort. Er hatte sein Hemd ausgezogen und, sich oben auf das Bett gelegt, damit das Laken als Barriere zwischen ihnen blieb.
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Aber es half nichts. Selbst durch das Laken spürte er die Hitze, die Annies Körper ausstrahlte: Das war zuviel für einen normalen Mann. Er stützte sich auf einen Ellbogen und sah zu Annie hinüber. Das Licht der Nachttischlampe spielte in ihrem Haar, so daß es an manchen Stellen golden schimmerte. Zögernd berührte Marcus es und ließ die glänzenden Strähnen durch die Finger gleiten. Sein Verlangen wuchs. „Du weißt, daß es nicht klappt.“ Annie hielt die Luft an und drehte sich langsam zu ihm. Seine Finger streiften ihre Wange, und sie mußte sich zusammenreißen, damit sie nicht vor Erwartung zitterte. „Das kommt ganz darauf an." Ihre Stimme klang rauh, und das Herz klopfte ihr bis zu Hals. „Worauf?" Marcus ließ sie nicht aus den Augen, und sie suchte in seinem Blick nach Anzeichen für einen Rückzug. Es war nichts zu erkennen. „Was du unter klappen verstehst." „Das weiß ich selber nicht. In deiner Gegenwart kann ich keinen klaren Gedanken fassen." „Weshalb nicht?" hörte Annie sich fragen. Marcus strich inzwischen mit den Fingern von ihrer nackten Schulter zu ihren Brüsten. Langsam lockerte er das Laken, und sie erschauerte innerlich. „Weil ich dich begehre." Es ließ sich nicht länger leugnen. Zärtlich küßte er Annie auf die Schläfe. „Ich möchte dich in meinen Armen halten und dich küssen, bis meine Lippen ganz wund sind.“ Sie lachte leise. „Ein schrecklicher Gedanke." Annie war wirklich unmöglich. Trotzdem hatte er noch nie eine Frau so begehrt wie sie. „Ich möchte mit dir schlafen, bis dir deine witzigen Bemerkungen vergehen.' Mit den Fingerspitzen spielte sie auf Marcus' Brust und merkte, wie sich die Muskeln unter ihrer Hand zusammenzogen. „Das könnte einige Zeit dauern.“ - 165 -
Er zog sie an sich. Die sanften Rundungen ihres Körpers erregten ihn, bis er es kaum noch aushielt. „Das muß ich wohl einkalkulieren." Annie nahm sein Gesicht zwischen beide Hände. „Aber derCountdown beginnt in dieser Sekunde", flüsterte sie und drückte die Lippen auf seinen Hals. Sein Pulsschlag tat einen Sprung. Annie wußte, daß sie hemmungslos war, aber sie hatte noch nie einen Mann so begehrt - nicht einmal Charlie. Als stünde ihr Inneres in Flammen und als würde sie es keine Minute länger überleben, wenn Marcus nicht mit ihr schlief. Obwohl sie am ganzen Körper bebte, öffnete sie mit sicherer Hand seinen Hosenbund und den Reißverschluß. Mit einer einzigen Bewegung streifte Marcus das Kleidungsstück ab und stieß es ans Bettende. Sein Körper war schon aufs höchste erregt. Verzückt streichelte er Annie, bis seine Finger ihre Brust erreichten. Annie senkte die Lider, während er die sanfte Rundung umschloß. „Du weißt genau, daß das nicht richtig ist", sagte er leise. Sie sah ihn eindringlich an. Trotz seiner Worte war nur Verlangen in seinen Augen zu lesen. „Darüber werden wir uns später unterhalten;" „Mir soll es recht sein." Er glitt mit der Hand tiefer und schob das Laken beiseite. Es fiel auf den Morgenrock. Es wurde eine leidenschaftliche Nacht, wie Marcus noch keine erlebt hatte. Annies Körper, so klein und schlank er auch sein mochte, war wie für die Liebe geschaffen. Ehrfürchtig erforschte Marcus ihn und beobachtete hingerissen, wie Annie sich ihm entgegenbog und stöhnte, wenn er sie hinter das Knie, auf die Innenseite ihres Ellbogens oder in die Halsgrube küßte.
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Der Herzschlag pochte in seinen Ohren, und er konnte nicht mehr an sich halten. Mit jedem Kuß kamen sie der Ekstase näher, bis es kein Zurück mehr gab. Annie gefiel es, wie Marcus seinen nackten Körper an sie drängte, und sie konnte nicht genug davon bekommen. Sie merkte, daß er immer erregter wurde. Sein Verlangen war geradezu überwältigend. „Ich wußte es", flüsterte sie heiser. Gerade wollte er eine rosa Knospe zwischen die Lippen nehmen. „Was wußtest du?" Sie schob die Finger in sein Haar. „Daß es mit dir so schön sein würde." Langsam umkreiste er mit der Zunge die Spitze und sah zu, wie sie fest wurde. „Und woher?" Sie lächelte, und ihr Atem ging rascher. „Ich habe es in deinen Büchern gelesen." „Darauf komme ich noch zurück. Jetzt habe ich etwas Wichtigeres zu tun." Er schloß die Lippen über der anderen Spitze, und Annie stieß einen erstickten Schrei aus. Marcus hatte sich fast nicht mehr in der Gewalt, aber das machte nichts. Er genoß das elektrisierende Gefühl, das durch seine Adern rieselte. Es sollte nie mehr aufhören. Mühsam gelang es ihm, sich noch einen Moment zurückzuhalten, bis er jede Rundung ihres Körpers erforscht hatte und wußte, wie sich ihre weiche Haut dort anfühlte. Sein Verlangen wuchs ins Unermeßliche. Als Annie ihn zärtlich intim berührte und streichelte, legte er sich auf sie und drang ungestüm in sie ein. Besitzergreifend umschlang sie ihn mit den Beinen. Langsam begann Marcus sich zu bewegen und hielt ihre Hüften dabei fest. Doch er brauchte Annie nicht zu führen. Sie ahnte jede Bewegung und jeden Rhythmus voraus und strebte gemeinsam mit ihm dem Gipfel der Ekstase zu. Einmal und noch einmal und immer wieder. - 167 -
Irgendwann in der Hitze der endlosen Nacht fand Marcus, wonach er verzweifelt gesucht hatte. Die Lust erhielt eine neue Bedeutung für ihn, eine ganz andere Tragweite. Das Leben, überlegte er, während er sich Annies Umarmung hingab und ihren Duft einatmete, hat mich hochgerissen und mitten in das Zentrum eines Hurrikans geschleudert. Und er hatte sich nicht gewehrt.
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14. KAPITEL Marcus lag im Bett. Er hatte einen Arm unter den Kopf geschoben und beobachtete, wie die Schatten im Zimmer verblaßten. Ein ungeheures Glücksgefühl durchströmte ihn, und er genoß es einen Moment. Glück war etwas Herrliches und gleichzeitig äußerst Beängstigendes. Und es war sehr flüchtig. Annie bewegte sich und schmiegte sich an ihn. Es schien ganz natürlich, daß sie neben ihm lag und sich noch enger an ihn kuscheln wollte. Sie will immer weiter auf meine Seite dringen, überlegte er lächelnd. Genau wie tagsüber bei der gemeinsamen Arbeit. Er mußte seine Gefühle im Zaum halten, sonst gingen sie mit ihm durch. Marcus lachte lautlos. Die Gefühle hatten ihn längst übermannt. Es hatte keinen Sinn mehr, die Stalltür zu verriegeln, die Pferde waren lange davongaloppiert. Ihm blieb nur die Möglichkeit, sie wieder einzufangen, bevor sie uneinholbar wurden oder verletzt werden konnten. Denn das war der Lauf der Welt! Erst kam das Glück, dann das Leid. Er durfte nichts anderes erwarten. Doch trotz seiner Melancholie konnte Marcus das Glücksgefühl nicht abschütteln. Nicht solange Annie neben ihm lag. Er wollte den Augenblick genießen. Von ganzem Herzen und ganzer Seele wollte er glauben, daß das Gefühl, das er in diesem Moment empfand und das ihn während der ganzen Nacht nicht verlassen hatte, bis in alle Ewigkeit anhielt. Annie bewegte sich und griff sogar im Schlaf nach ihm. Ihre Hand berührte seine Brust, und Marcus' Herz schlug schneller. Langsam streichelte er ihre Wange und sah zu, wie sie die Augen aufschlug.
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Nicht einen Moment war Annie verwirrt. Sie wußte genau, wo sie war und weshalb. Liebevoll lächelte sie Marcus an und küßte ihn federleicht auf den Mund. „Guten Morgen.“ Er seufzte, aber diesmal war es ein Zeichen von Zufriedenheit. „Ja, es ist ein guter Morgen." Annie rutschte näher und legte den Kopf auf seine Brust. Sie hörte, wie sein Herz unter ihrer Wange schlug. Es war ein schönes, tröstliches Geräusch. Eine leichte Erregung erfaßte sie, als Marcus ihre Schulter streichelte. „Du warst es also tatsächlich letzte Nacht. Ich habe das nicht nur geträumt." „Nein, ich war es wirklich." Annie lachte leise. „Gesprächig wie immer." Marcus wollte die Gefühle nicht zur Kenntnis nehmen, die sie mit ihren Fingerspitzen in seinem Körper hervorrief. Mehr Erfolg hätte er vermutlich mit dem Versuch gehabt, einen Zweizentnerstein in .die Höhe zu stemmen. „Ich weiß nicht recht, was ich sagen soll." Hieß das, daß Marcus noch nicht mit vielen Frauen geschlafen hatte? Diese Vorstellung gefiel Annie, denn sie wollte etwas Besonderes für ihn sein. „Zum Beispiel: Du warst wunderbar.“ Er lachte leise. „Du warst wunderbar." Annie hob den Kopf. Marcus plapperte ihre Worte einfach nach. „Mit Gefühl!" „Mit Gefühl", wiederholte er. Lachend schüttelte sie den Kopf, und ihr Haar fiel in weichen Wellen um ihre Schultern. „Du bist unmöglich." Sie stützte sich auf den Ellbogen, bis ihre Lippen unmittelbar vor seinem Mund waren. Prüfend sah sie Marcus an und versuchte seinen Gesichtsausdruck zu deuten. Diesmal war sein Blick' nicht argwöhnisch, wie sie erwartet hatte, sondern er drückte Hilflosigkeit aus.
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Die bekomme ich auch noch weg, dachte Annie erleichtert. „Den Rest der Strecke mußt du schon allein überwinden, Sullivan", erklärte sie. „Ich glaube, das habe ich schon", murmelte er und drehte ihr Gesicht so, daß er sie küssen konnte. Noch nicht ganz, Marc, dachte Annie, aber hoffentlich bald. Einmal ist keinmal, überlegte Marcus. Annie war unwiderstehlich. Er ahnte, daß es nicht bei diesem einen Mal bleiben würde. Aber das hinderte ihn nicht, Annie erneut zu küssen. Er mußte die seltsame Stimmung in dem kleinen gemütlichen Zimmer auskosten und einen weiteren Zipfel vom Paradies erwischen, das es außerhalb dieser Wände nicht geben durfte. Alles war unwirklich: der Ort, die Frau, die Zeit. Und weil es unwirklich war, konnte er darin schwelgen und sich den wildesten Fantasien hingeben. Er konnte Annie lieben. Fantasieren hatte bisher nicht zu Marcus' üblichen Beschäftigungen gehört. Bis Annie in sein Leben getreten war, war es in mehr oder weniger geordneten Bahnen verlaufen. Jetzt befand er sich in einem Strudel, kämpfte um sein Leben und genoß jede atemlose Sekunde. Nie zuvor hatte er sich so lebendig gefühlt. Zärtlich preßte Marcus die Lippen auf ihren Mund. Annie stöhnte leise und erregte ihn dadurch noch mehr. Doch diesmal wollte Marcus es langsam angehen. Es bestand kein Grund zur Eile. Er wußte, welch eine Sinneslust sie beide erwartete. So etwas hatte er noch nie erlebt. Annie hatte dieses Wunder vollbracht. Mit ihr zu schlafen war ein Abenteuer und nicht nur ein lustvolles Erlebnis, das keine Spuren in seiner Seele hinterließ. Jede Einzelheit der vergangenen Nacht hatte sich unauslöschlich seinem Gedächtnis eingeprägt.
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Plötzlich mußte Marcus dieses Glücksgefühl unbedingt noch einmal erleben. Ganz tief wollte er in Annie eindringen, damit sie die Beine um ihn schlang und sie gemeinsam in den siebten Himmel entschwebten. Trotzdem würde er sich zurückhalten. Das machte, die Belohnung nachher umso wertvoller. Einfach war es nicht, weil Annie federleicht mit den Fingern über seinen Körper strich, bis seine Haut glühte. Sie gab ihm viel mehr, als er ihr bieten konnte, und sie liebte ihn, als wäre er für sie der einzige Mann auf der Welt. Aber Marcus hatte die Tränen in ihren Augen bemerkt, als sie von ihrem verstorbenen Verlobten sprach. War Charlie der erste Mann in ihrem Leben gewesen und er, Marcus, nur der zweite? Er wollte nicht an zweiter Stelle stehen, sondern jeden früheren Mann aus Annies Gedächtnis vertreiben und sie lieben, bis es nur noch ihn für sie gab. .Das war ihm wichtig, auch wenn er besser nicht darüber nachdachte, weshalb. Immer wieder zog Marcus sich zurück und drang tief in Annie ein. Alle intimen Stellen erforschte er, erst mit den Händen und später auch mit den Lippen und der Zunge. Annie stöhnte und wand sich unter ihm, wenn die Lust unerträglich wurde, und klammerte sich wieder an ihn, sobald die Ekstase auch nur ein bißchen nachließ. Der Boden unter ihren Füßen schien sich zu öffnen, und es gab nur Marcus, an dem sie sich halten konnte. Er nahm sie in Besitz, ohne sie zu beherrschen. Sie würde ihm gehören, solange er es wollte. Ja, noch länger: für immer. Annie schwirrte der Kopf, doch sie nahm alles glasklar wahr: Sie genoß es, wenn Marcus erschauerte, sobald sie ihn berührte, und staunte über ihre eigene Erregung. Sie brauchte keine bestimmte Technik. Wie ein Strudel riß die Leidenschaft sie mit sich fort. Jeder wollte dem anderen die größte Sinneslust bereiten. Annie bog und wand sich, während - 172 -
Marcus mit den Lippen ihren Körper in Besitz nahm und sich quälend langsam dem Zentrum ihrer Weiblichkeit näherte. Erst jetzt erkannte sie, wie sehr sie geliebt und gehalten werden wollte und wie gern sie sich von Marcus in ein wollüstiges Wesen verwandeln ließ. Mit beiden Händen krallte sie sich in das Laken, während er den intimsten Teil ihres Körpers erforschte und sie immer wieder bis an den Rand der Ekstase führte. Endlich stützte Marcus sich auf die Ellbogen und sah Annie an. Ihre Augen waren dunkel und verschleiert, und das gefiel ihm. Liebevoll schob er die Finger in ihr Haar, nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände und bäumte sich auf. Annie klammerte sich an ihn und unterdrückte einen Schrei, während sie fieberhaft dem Höhepunkt zustrebten. Schneller und schneller riß der Strudel sie mit sich fort. Im gemeinsamen Rhythmus erreichten sie den Gipfel der Lust, und ihre Seelen und ihre Körper wurden eins. Marcus drückte Annie an sich, obwohl er wußte, wie gefährlich es war. „Was soll ich bloß mit dir machen?" flüsterte er in ihr Haar. Annie hob den Kopf, und ihre Wange streifte sein Kinn. Langsam strich sie mit der Fingerspitze über seine Lippen. „Fürs erste hast du schon eine ganze Menge getan, würde ich sagen." Sie erkannte das Verlangen, das noch immer in .seinen Augen schwelte, und bemerkte auch die Angst. Wovor hatte Marcus Angst? Dies war die natürlichste Sache der Welt - das Schönste, überhaupt. Marcus drückte ihre Hand an seine Lippen und küßte jeden Finger einzeln. „Nein, ich wollte sagen..." Annie seufzte. Die Gegenwart kehrte zurück. „Ich weiß, was du sagen wolltest." Sie zog das Laken in die Höhe und bedeckte theatralisch ihre Brüste. „Du suchst nach einem anderen Begriff - 173 -
für das, was wir gerade erlebt haben. Vielleicht ist dir Beischlaf` lieber. Oder ,geschlechtliche Vereinigung'. Doch gleichgültig, welche Bezeichnung du dafür verwendest, Marc Sullivan..." Sie stieß ihm mit dem Finger auf die Brust, „es gibt nur eine passende, und die kenne ich.“ Annie sah richtig liebenswert aus, obwohl sie wütend war. Marcus bemühte sich, ernst zu bleiben. „Und die wäre?“ „Wir haben uns die ganze Nacht geliebt." Er zog eine Braue in die Höhe. „Und das ist etwas anderes?" „Ja, das ist etwas anderes." Weshalb tat Marcus, als wäre er begriffsstutzig? „Ich glaube nicht, daß einer von uns so etwas auf die leichte Schulter nimmt. Ich tue es jedenfalls nicht." Eindringlich sah sie ihn an. „Und du bestimmt auch nicht." Annie nahm das, was sie erlebt hatten, nicht leicht. Genau das hatte Marcus hören wollen. Ahnte sie, was es für ihn bedeutete, wenn sie ihn nach Abschluß des Drehbuchs wieder verließ? „Und vor dieser Liebe läufst du davon", schloß sie leise und lächelte so einladend, daß er sie erneut begehrte. Entschlossen zog er Annie an sich und meinte „Nun, dann wollen wir für einen weiteren Grund sorgen, schleunigst davonzulaufen.“ Annie strahlte über das ganze Gesicht. „Ja, du hast recht. Sorgen wir für einen weiteren Grund." „Ich finde, wir sollten den Fynns etwas Geld dalassen“, schlug Annie vor und zog die Bürste durch das zerzauste Haar. Marcus stopfte sein frischgebügeltes Hemd in die Jeans und sah neugierig zu ihr hinüber. Für jemanden wie Annie war dies, ein erstaunlich praktischer Vorschlag. „Für neue Laken", erklärte sie und lächelte schelmisch. „Diese ..." Sie hielt eine Ecke in die Höhe, damit er das Tuch - 174 -
besser sehen konnte. „Sind schon ziemlich verschlissen." Sie rieb ihre Wange daran und sah Marcus liebevoll an. „Ob Polly mich für etwas wunderlich hält, wenn ich sie frage, ob ich die Tücher als Souvenir behalten darf?" Fasziniert hatte Marcus Annie beim Ankleiden und beim Schminken beobachtet. Natürlich hatte er nicht zum ersten Mal mit einer Frau geschlafen. Doch bisher hatte er deren Gesellschaft genossen und war anschließend seiner Wege gegangen. Sosehr er überlegte, er erinnerte sich nicht, je einer Frau beim Anziehen zugesehen zu haben. Soweit er wußte, hatte er auch nie den Wunsch verspürt, sie schnellstens wieder auszuziehen, nachdem sie beide fertig waren. Verlegen fuhr er sich mit den Händen durchs Haar und versuchte, so unbekümmert wie möglich zu erscheinen. „Wahrscheinlich wird sie dich nicht für wunderlicher halten, als sie es jetzt schon tut", beantwortete er Annies Frage. Annie steckte ihren Kamm in die Handtasche. „Bin ich froh, daß sich dein Tonfall heute morgen nicht verändert hat, Sullivan. Sie beugte sich zu ihm und gab ihm rasch einen Kuß auf die Wange. „Mir gefällt dieses Wortgeplänkel nämlich. Es hält mich frisch." „Nein, es hat sich nichts verändert", murmelte er. Doch selbst wenn er es laut aussprach, wurde es nicht wahr. Es hatte sich etwas verändert, ganz entschieden sogar. Das Leben würde nie wieder so wie früher sein. Seines gewiß nicht. Das änderte aber nichts an der grundsätzlichen Lage. Am Ende würde alles auf dasselbe hinauslaufen. Er hatte einen Zipfel des Glücks erwischt, doch es würde ihm wieder durch die Finger rinnen. Genau das, was er unbedingt verhindern wollte, war passiert: er saß gefühlsmäßig in der Falle. Annie erkannte die typischen Geräusche eines Haushalts, wenn ein neuer Tag begann. „Ich glaube, die Flynns sind aufgestanden", sagte sie, legte den Morgenrock ordentlich zusammen und holte ihre Handtasche. „Wollen wir - 175 -
hinübergehen und die Werkstatt anrufen, damit möglichst bald jemand kommt und deinen Wagen wieder flottmacht?" Marcus nickte und nahm ihren Arm. Annie lächelte verstohlen über die Veränderung, schwieg aber klugerweise. Der alte Marcus hätte niemals die Initiative ergriffen. Er wäre instinktiv vor diesem körperlichen Kontakt zurückgeschreckt. Du machst Fortschritte, Marc Sullivan, sagte sie stumm zu ihm. Und du nimmst mich auf deinem Weg mit, ob es dir gefällt oder nicht. Mr. und Mrs. Flynn waren nicht nur aufgestanden. Henry hatte längst seinen Sohn angerufen. Andy und er, erzählte Polly stolz, waren längst zu dem Wagen hinausgefahren und reparierten ihn vermutlich schon, während sie sich hier unterhielten. „Es gibt nichts auf der Welt, was mein Andy nicht reparieren kann", erklärte Polly, während sie Annie und Marcus das Frühstück in der winzigen Küche vorsetzte. Der Raum reichte gerade für vier Personen. „Ich nehme an, sobald Sie gefrühstückt haben, ist Ihr Wagen wieder in Ordnung." Marcus merkte, daß er einen gesunden Appetit hatte. Normalerweise trank er morgens nur eine Tasse schwarzen Kaffee. Jetzt knurrte ihm der Magen, und er betrachtete interessiert die Pfannkuchen, den Speck und die Eier, die Polly ihm vorsetzte. Es muß daran liegen, daß Annie und ich uns die ganze Nacht geliebt haben, überlegte er. Die Liebe zehrte an der Energie eines Mannes und förderte seinen Appetit - nicht nur auf etwas zu essen, fügte er in Gedanken hinzu und warf Annie einen vielsagenden Blick über den Tisch zu. Annie lächelte nur und griff ebenso herzhaft zu wie er. Allerdings konnte sie immer essen, fiel ihm ein.
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Wie Polly vorausgesagt hatte, hörten sie einen Wagen kommen, während ihre Gastgeberin eben das letzte Geschirr abräumte. Polly lehnte Annies Hilfe ab und legte die Sachen in das altmodische Spülbecken, das ihr lieber war als eine Spülmaschine. „Ich bin zu alt, um mich noch an die neuen Geräte zu gewöhnen", erklärte sie fröhlich. Dabei war Annie sicher, noch nie eine so jugendliche Frau dieses Alters gesehen zu haben. Henry kam mit einem jüngeren, größeren und schlankeren Ebenbild von sich herein. „Dies ist mein Sohn Andy", stellte er den jungen Mann vor und reinigte seine Schuhe auf einer verschlissenen Matte vor der Tür. „Unser Jüngster." Annie schätzte Andy auf ungefähr zwanzig. Ein Kind der Liebe, überlegte sie angesichts des Alters des Ehepaars. Andy sagte nichts, sondern nickte nur schüchtern. Sie streckte ihm die Hand hin, und ihm blieb nichts übrig, als sie zu ergreifen. Schüchterne Menschen ziehen Annie unwillkürlich an, dachte Marcus belustigt. Andy hat keine Chance, ihr zu entkommen. „Haben Sie herausgefunden, was mit dem Wagen los war?" fragte Annie die beiden Männer. Das wäre eigentlich meine Sache gewesen, dachte Marcus. Aber diesmal machte es ihm nichts aus, daß sie ihm zuvorgekommen war. Vielleicht legte die Liebe mit ihr ja gewisse Teile seines Gehirns lahm. „Ja", antwortete Andy, ohne einen von ihnen anzusehen. „Ihre Batterie war leer", erklärte Henry. „Andy hat sie wieder aufgeladen. Sie dürfte eine Weile halten. Mein Sohn arbeitet stundenweise in der Werkstatt. Der Chef betrachtet ihn als eine Art Lehrling." Es war unübersehbar, daß Henry ebenso stolz auf seinen Letztgeborenen war wie Polly. „Manchmal scheint mir, daß Kirby noch etwas von unserem Jungen lernen könnte." - 177 -
„Dad..." sagte Andy mit seiner tiefen, wohlklingenden Stimme verlegen und wurde rot. Marcus griff in die Rücktasche seiner Jeans und zog seine Geldbörse hervor. „Was sind wir Ihnen schuldig?" Polly antwortete für die beiden Männer. Sie legte ihre große weiche Hand auf die Geldbörse und schob sie zu Marcus zurück. „Behalten Sie Ihr Geld, Marcus. Das war Nachbarschaftshilfe." Sie zwinkerte ihm zu. Polly muß in ihrer Jugend ausgesprochen charmant gewesen sein, dachte Marcus. Sie flirtete jetzt noch. „Vielleicht können Sie uns ja eines Tages ein Buch oder einen Film widmen." Offensichtlich hatte Polly große Ehrfurcht vor seiner Arbeit, während er jeden, bewunderte, der ein Auto so mühelos reparieren konnte. „Schon das nächste Buch", versprach Annie und ergriff Marcus' Arm. „Und nun müssen wir uns beeilen. Zu Hause wartet ein Drehbuch auf uns." Und wenn es fertig ist, wird alles vorbei sein, dachte Marcus. Annie tat, als habe sie sein Stirnrunzeln nicht bemerkt. Was hatte sie jetzt schon wieder falsch gemacht?
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15. KAPITEL Weshalb sagt sie denn nichts? dachte Marcus nervös. Seit einer Stunde waren sie auf dem Heimweg, und Annie schwieg beharrlich. Hatte sie ein schlechtes Gewissen wegen der vergangenen Nacht? Tat ihr leid, was passiert war? Annie beobachtete ihn. Marcus blickte geradeaus auf die Straße. Über eine Stunde war seit ihrer Abfahrt vergangen, und nur das Reifengeräusch war zu hören. Weshalb sagte Marcus nichts? Sie wollte nicht als erste reden. Er sollte die Initiative ergreifen und sie wissen lassen, daß alles in Ordnung war. Dies war kein Spiel mehr. Vielleicht war es das nie gewesen. Annies Schweigen machte Marcus fast verrückt. Gern hätte er etwas gesagt, aber sie sollte den Anfang machen. Gestern hatte er den ersten Schritt getan. Das hätte ihr beweisen müssen, was er für sie empfand. Aber offensichtlich war sie nicht glücklich. Er hatte einen Fehler gemacht. Was vorige Nacht passiert war, hätte nie geschehen dürfen. Annie blickte auf ihre Hände und zerknüllte den Saum ihres T-Shirts. Wenn der Berg nicht zu Moses kam, mußte Moses eben zum Berg gehen. „Einen Dollar neunzig angesichts der momentanen Inflation, wenn ich wüßte, was, du jetzt denkst." Ihre Worte drangen nur langsam in sein Bewußtsein. Annie klang wie immer. Also hatte er recht gehabt, die letzte Nacht bedeutete ihr nichts. In Los Angeles würden sie wieder rein berufliche Beziehungen pflegen. Wie sollte er Seite an Seite mit Annie arbeiten, ohne sie zu berühren und noch einmal mit ihr zu schlafen? „Hast du etwas gesagt?" Annie schnaufte verärgert und ermahnte sich, nicht wütend zu werden, bevor Marcus Zeit für eine Erklärung gehabt hatte. Eigentlich gab es gar keine Entschuldigung dafür, wie schäbig er sie behandelte. „Würde es eine Rolle spielen?" - 179 -
Marcus verstand überhaupt nichts mehr. „Wie bitte?" Annie schaltete das Radio ein und hoffte, die fröhliche Musik würde ihre Laune verbessern. „Du bist restlos in deine eigene Welt versunken. Ist es ein privater Planet, oder kann man dich dort besuchen?" „Wovon redest du?". „Davon, daß du mich ausschließt." Marcus warf ihr einen kurzen Blick zu und sah wieder auf die Straße. Weshalb hatte er plötzlich Schuldgefühle? Dafür gab es keinen Grund. Er verringerte die Geschwindigkeit und bog um eine Kurve. „Wovon schließe ich dich aus?" Von deinem Leben, du Dummkopf, antwortete Annie stumm. „Du hast noch keine zwei Sätze gesagt, seit wir die Flynns verlassen haben." Du auch nicht, dachte Marcus, aber vielleicht ist das gut so. Die Zeit in Santa Barbara war wunderschön gewesen. Nur hatte sie nichts mit dem Alltag zu tun, und dorthin kehrten sie jetzt zurück. Das Drehbuch war beinahe fertig_ Und was kam dann? Er konnte Annie bitten, noch etwas zu bleiben, damit sie sich besser kennenlernten. Aber wenn sie ablehnte? Das durfte er nicht riskieren. Da war es schon besser, die eigenen Gefühle nicht auszusprechen. Er merkte, wie gereizt Annie war. War sie wütend auf ihn? Oder auf sich selber? Vielleicht hatte er ihr unabsichtlich wehgetan. Gab es noch eine Chance für sie beide? „Ich habe nachgedacht", sagte er langsam, um ihr eine Erklärung für sein Schweigen zu geben. „Worüber?" wollte sie wissen und hoffte, er würde weitersprechen. Noch gab sie die Hoffnung nicht auf, daß er ihr sagte, was sie hören wollte. Marcus wußte nicht, wie er sich ausdrücken sollte. Deshalb antwortete er das erstbeste, was ihm einfiel. „Ich habe über das Drehbuch nachgedacht." - 180 -
Enttäuscht lehnte Annie sich zurück. Sie wollte nicht über den Film sprechen. Marcus sollte etwas dazu sagen, was letzte Nacht passiert war. Die schönen Stunden durften nicht zu Ende sein. Marcus sah zu Annie hinüber und beobachtete fasziniert, wie der Wind in ihrem Haar spielte und die Sonnenstrahlen sich in den goldenen Strähnen fingen. Wider besseres Wissen begehrte er diese Frau immer noch und hätte sie am liebsten auf der Stelle genommen. Sie fuhren an einer Reklame für ein Motel vorüber, das einige Meilen weiter vorn an der Straße stand. Sollte er dort anhalten? Sie konnten ruhig etwas später nach Hause kommen. Er hatte genügend Zeit, Annie zu lieben, bis die Sterne am Himmel standen. Marcus faßte das Lenkrad fester. Fahr weiter, ermahnte er sich. Fahr bloß weiter. Wieder dieses Schweigen. Annie drehte beinahe durch. Sie mußte unbedingt Marcus' Stimme hören - notfalls im Streit. „Glaubst du wirklich, daß das Drehbuch gut wird?" fragte sie plötzlich. Ohne seine Reaktion abzuwarten, senkte sie die Stimme und antwortete für ihn: „Sicher. Es könnte sogar noch besser werden, wenn du nicht ständig etwas verändern würdest, das völlig in Ordnung ist. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, daß Marcus sie betrachtete, als hätte sie den Verstand, verloren. Deshalb fuhr sie fort: „Du mußt endlich lernen, auch einmal nachzugeben, Marc. Manches, was in Büchern steht, läßt sich nicht auf die Leinwand übertragen." Wieder senkte sie die Stimme. „Wahrscheinlich hast du recht, de Witt. Vielleicht muß sich wirklich einiges ändern." Ein Hinweisschild zeigte an, daß es noch fünfzig Meilen bis Los Angeles waren. „Was ist denn mit dir los?" fragte Marcus erstaunt. - 181 -
Annie stellte die Füße um, um bequemer zu sitzen. „Wieso?" „Du sprichst mit dir selber." „Es bleibt mir ja nichts anderes übrig, wenn keiner mit mir redet." Marcus lachte leise. Ohne Annie würde sein Leben leer werden. „Du bist ja übergeschnappt", sagte er. „Du bist restlos übergeschnappt." Annie freute sich, daß Marcus endlich lachte. „Das ist eine meiner besten Eigenschaften." Marcus dachte an die letzte Nacht - wie er Annie in den Armen gehalten hatte und ihr Körper mit seinem verschmolzen war. „Das würde, ich nicht sagen." Annie schlug die Füße unter. „Nein? Was würdest du dann sagen?" Liebevoll, legte sie die Hand auf seinen Arm. „Ich bin auf alles gefaßt." „Annie." Marcus fühlte sich ganz hilflos. „Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll." „Was dich nicht daran hindert, mich immer wieder zu kritisieren." Sie schwieg einen Moment und fuhr leise fort: „Weißt du, daß du mich eben zum ersten Mal mit dem Vornamen angeredet hast, ohne daß ich dich dazu provoziert habe?" Das war unmöglich. Sie arbeiteten seit vielen Wochen zusammen. „Das kann nicht sein." „Es. ist so. Ich habe genau darauf geachtet." „Obwohl du ständig redest?" meinte er scherzhaft und fuhr die serpentinenartige Straße hinab. „Wann hattest du denn Zeit, mir zuzuhören?" „Ich bin vielseitig begabt." Sie zwinkerte ihm zu. Das war nicht zu bestreiten. Die Straße wurde übersichtlicher, und Marcus nutzte die Gelegenheit, um Annie anzusehen. Sie lächelte vergnügt. Am liebsten hätte er sie geküßt, bis sie es vor Verlangen nicht mehr
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aushielt. Wie gestern abend und heute früh sollte sie in seinen Armen liegen. „Begabt bist du wirklich", gab er leise zu. Annie hatte ihn innerlich in einer Weise angerührt, wie es bisher noch keiner Frau gelungen war. Das machte sie einzigartig. Das Wort „begabt" drückte dies hur ungenügend aus. „Sag ihn, noch einmal." „Was soll ich noch einmal sagen?" „Meinen Vornamen. Annie legte den Kopf an die Stütze und wartete. Im Moment mußte sie sich mit Krumen begnügen, aber das war besser als gar nichts. „Ich fürchte nämlich, ich werde ihn nicht mehr von dir hören, sobald wir wieder bei der Arbeit sind. Zumindest nicht so zärtlich." Marcus kam sich ziemlich dumm vor, aber er erfüllte ihre Bitte. Nein, ich werde nicht aufgeben, beschloß Annie. Das paßte nicht zu ihr. Marcus mochte Probleme haben, aber er stand damit nicht mehr allein da. Sie würde ihm heraushelfen. Ein Motorrad tauchte hinter ihnen auf, überholte sie und verschwand weiter vorn. Marcus merkte, daß er beinahe zehn Meilen unter der erlaubten Höchstgeschwindigkeit fuhr, und drückte das Gaspedal wieder hinunter. Kaum war Marcus mit seinem Cabrio in die Einfahrt gebogen und hatte den Motor abgestellt, da flog die Haustür auf. Holly auf der Schwelle, stemmte die Hände auf die Hüften und sah ihn vorwurfsvoll an. „Da sind Sie ja endlich." „Ja", antwortete Marcus und fragte sich, was in seine friedliche Haushälterin gefahren war. „Was haben Sie, Holly?" Annie sprang aus dem Wagen und lief zu der Frau. „Ist etwas mit Ken?"
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An diese Möglichkeit hatte Marcus noch gar nicht gedacht. „Ja, ist etwas passiert?" fragte er. Statt zu antworten, drehte Holly sich um und ging ins Haus. „Holly rief Marcus. Er eilte ihr nach und hielt sie am Arm fest. „Was zum Teufel soll dieses Theater? Ist der Junge krank?" Holly deutete in Richtung Wohnzimmer. „Er hockt am Fenster und rührt sich nicht von der Stelle. Wahrscheinlich sitzt er schon seit gestern abend dort", fügte sie vorwurfsvoll hinzu. Marcus wollte ins Wohnzimmer gehen, aber Annie war schneller. Sie spürte einen Stich in der Brust, sobald sie den Jungen sah. Ken saß mit dem Rücken zu ihnen und schluchzte stumm. Der Welpe schlief zu seinen Füßen. Annie kauerte sich neben den Jungen, aber er sah sie nicht an. Die Erwachsenen sollten nicht merken, daß er geweint hatte. „Ken, Liebling, was ist los?" Liebevoll legte Annie die Hand auf seinen Arm und merkte, daß Ken sich straffte. „Er hat die ganze Zeit auf Sie gewartet", erzählte Holly. Es gab keine Zweifel, zu wem sie hielt. Sie hatte den elternlosen Jungen in ihr Herz geschlossen. „Wir haben doch gestern abend angerufen, damit er sich keine Sorgen zu machen braucht", erklärte Marcus trotzig. „Ja, Sie sagten etwas von einer Wagenpanne", erinnerte Holly ihn. „Sie waren mit einem Auto unterwegs, Mr. Sullivan." Schlagartig begriffen Annie und Marcus, was in dem Jungen vorgegangen war. Marcus sah Ken an und wußte nicht, was er sagen sollte. Was nützte Logik bei einem Kind, das eine solche Tragödie hinter sich hatte. Langsam strich Annie Ken über den Kopf und merkte, daß sich der Kleine beruhigte. „Ich habe dir doch gesagt, daß wir heute im Laufe des Tages zurückkommen würden", erinnerte sie ihn leise.
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Ken schniefte. Er wollte nicht mehr weinen, aber aus irgendeinem Grund machte Annies freundliche Stimme alles noch schlimmer. „Mom und Dad haben genau dasselbe gesagt, bevor..." Seine Unterlippe zitterte, und die Worte kamen ihm nicht über die Lippen. „Bevor..." Marcus und sie hatten eine leidenschaftliche Nacht verbracht, während dieser kleine Junge die Hölle durchmachen mußte. „O Ken, es tut mir schrecklich leid." Liebevoll zog Annie den Kleinen in die Arme und drückte ihn an sich. „Es tut mir sehr, sehr leid, daß du unseretwegen solche Angst gehabt hast." Einen Augenblick war nur sein Schluchzen an ihrer Schulter zu hören. Annie streichelte Kens Kopf und verbarg die eigenen Tränen, während Marcus mit Schuldgefühlen kämpfte, ohne zu wissen, weshalb. Eigentlich waren sie unbegründet. Plötzlich erkannte er, daß Ken seine Liebe und Zärtlichkeit inzwischen auf Annie und ihn übertragen hatte. Er, Marcus, würde immer für Ken da sein. Bei Annie war das anders. Der Junge durfte sich nicht so an sie klammem. Das konnte nur neues Leid für beide bedeuten. Hätte er sich bloß nicht auf das elende Drehbuch eingelassen. Aber dann hätte er die wunderbare letzte Nacht nicht erlebt. Und die war allen Schmerz wert, den die Hölle für ihn bereithalten mochte. „Ich dachte, ihr kämt nie wieder", schluchzte Ken. Annie küßte ihn auf die Stirn. „Wir werden immer für dich da sein." Dieses Versprechen würde sie halten. Ken blinzelte die Tränen fort. Der Welpe wachte auf, wedelte mit dem Schwanz und wollte auf seinen Schoß. „Versprochen?" Erwartungsvoll sah der Junge Annie an. Annie hob die Hand und erklärte feierlich: „Ich schwöre es. Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn du mich brauchst." Sie
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merkte, daß Marcus sie beobachtete. „Mr. Sullivan hat meine Telefonnummer." Ja, dachte Marcus, ich habe ihre Nummer. Annies Antwort bestätigte seine Vermutung. Nachdem das Drehbuch fertig war, würde sie ihr altes Leben wieder aufnehmen, und das verlief getrennt von seinem. Er hatte es die ganze Zeit gewußt. Aber nachdem Annie es ausgesprochen hatte, schmerzte der Gedanke noch mehr. Annie sah, daß Marcus' Miene erstarrte. Weshalb? Ärgerte er sich darüber, daß der Junge sie mochte? War er eifersüchtig? Es ist unheimlich schwer, dich zu lieben, Marc, dachte sie. Ich muß nicht ganz richtig im Kopf sein, daß ich es trotzdem tue. Auf meinem Grabstein soll einmal stehen: „Sie liebte nicht klug, aber von ganzem Herzen." Ergeben stand sie auf. Es war nicht einfach, solche Gefühle beiseite zu schieben. „Wollen wir ein bißchen hinausfahren und unsere Rückkehr mit einer Limonade feiern? Anschließend müssen Marc und ich wieder arbeiten und die verlorene Zeit aufholen." Sie warf Marcus einen warnenden Blick zu, ja nichts dagegen einzuwenden „In Ordnung, Sullivan? Annie übernimmt schon wieder die Regie, dachte Marcus. Aber darauf kam es jetzt nicht an. Er betrachtete Ken, und ein geradezu väterliches Gefühl erfaßte ihn. „Solange der Welpe hierbleibt.“ „Ich nehme ihn." Holly hob das zappelnde Bündel auf, das ihr zum Dank dafür sofort das Gesicht leckte. „Sie hätten ihn zumindest stubenrein machen können, bevor Sie ihn abgaben, Miss de Witt“, schalt sie spielerisch. Annie hakte sich bei Marcus ein und legte eine Hand auf Kens Schulter. „Um Mr. Sullivan um diesen einmaligen Spaß zu bringen? Niemals, Holly."
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16. KAPITEL Die Sonne schien, und draußen war herrliches Wetter. Trotzdem fröstelte Annie und rieb sich die Arme. Sie fühlte sich gar nicht wohl und beobachtete eine Drossel, die zum Himmel aufstieg und in der Ferne verschwand. War der Vogel nicht ein Sinnbild für jene Nacht, die nun schon acht Tage zurücklag? Ein kurzer Moment, ein flüchtiges Gefühl, das wie der Vogel am Horizont entflog? Vielleicht war es falsch, daß sie zuviel erwartet hatte. Annie lächelte traurig. Statt daß ihr unerschöpflicher Optimismus auf Marcus abfärbte, verfiel sie in seine düstere Stimmung. Wie hatte Marcus jeden Tag an ihrer Seite arbeiten und dennoch jene verwünschte Mauer wieder aufbauen können, hinter der er sich jetzt verschanzte? Außer wenn Ken bei ihnen war, zog der Mann sich völlig in sein Schneckenhaus zurück. Seit über einer Woche ging das so. Trotzdem war Marcus nicht ganz wieder der alte. Manchmal wurde er unsicher. Doch wie ein erfahrener Hochseilakrobat gewann er stets das Gleichgewicht zurück. Annie begriff das nicht. Es war, als hätte sie sich jenen wunderbaren Mann, der sie an den Rand der Ekstase und darüber hinaus geführt hatte, nur eingebildet. Hilflos drückte sie die Stirn an die Fensterscheibe. Sie brauchte Marcus, diesen riesigen Dummkopf. Und er brauchte sie. Sah er das nicht ein? Marcus und sie waren allein in dem großen Haus. Stevie und Erin waren heute morgen mitgekommen, und Holly war mit der Rasselbande in einen Freizeitpark gefahren. Es wäre der ideale Zeitpunkt gewesen, dort wieder anzuknüpfen, wo sie vor einer Woche aufgehört hatten. Heimlich hatte Annie darauf gehofft. Aber Marcus war noch zurückhaltender als sonst.
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Sie sah zu ihm hinüber. Marcus hatte sich über das Keyboard gebeugt und tippte einige Wörter. Sie wunderte sich immer noch, daß der Mann, der so wunderbare Bücher schrieb, nur drei Finger dafür benutzte. Verärgert schob sie ihr Haar zurück. Es stimmte, sie waren allein. Aber auch zu zweit konnte man sehr einsam sein. Und diese Einsamkeit tat weh. Langsam kehrte Annie zum Schreibtisch zurück und stellte sich neben Marcus. Sollte sie ihn auf den dicken Schädel schlagen - ein Gedanke, der ihr sehr gefiel oder alle Selbstachtung beiseite schieben und es noch einmal versuchen? Sie wählte die zweite Möglichkeit. „Es sieht aus, als könnte es ein weiterer Tag im Paradies werden.“ „Wie bitte?" Marcus blickte sie verblüfft an. Es dauerte immer eine Weile, bis er sich aus der Welt, die er in seinen Büchern schuf, wieder gelöst hatte. „Ich sagte, es ist ein wunderschöner Tag." Annie setzte sich auf die Schreibtischkante und rutschte ein Stück hinauf. Links von ihr lag sauber gestapeltt das Drehbuch. Annie merkte, daß Marcus sie argwöhnisch betrachtete, als fürchtete er, die Seiten könnten hinunterfallen. „Du hast schon lange nicht mehr gelacht, Marc." Marcus wünschte, Annie würde sich auf ihre Arbeit konzentrieren. Es fiel ihm schwer genug, seinen Schutzwall aufrechtzuerhalten, weil sie ständig versuchte, ihn wieder einzureißen. „Ich wußte nicht, daß Lächeln im Vertrag inbegriffen ist." Er tippte drei weitere Wörter. Am liebsten hätte Annie den Computer ausgeschaltet, damit Marcus ihr seine volle Aufmerksamkeit zuwandte. Doch das wäre zu drastisch gewesen. „Aber es steht darin, daß du mir nur zweimal pro Arbeitssitzung den Kopf abreißen; darfst." Es hatte keinen Sinn, weiterzutippen. „Willst du mir etwas sagen?" fragte Marcus.
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„Die ganze Zeit schon." Annie beugte sich vor, und er legte schützend die Hand über den Einschaltknopf. „Im Gegensatz zu dir ziehe ich mich nämlich nicht in mein Schneckenhaus zurück", antwortete sie gepreßt. „Annie,...“ Sie hielt es nicht mehr aus. „Wo lebst du eigentlich, Sullivan?" Ungeduldig tippte sie mit dem Finger auf seine Brust. „Und komm mir jetzt nicht mit deiner Adresse. Dann garantiere ich nämlich für nichts." Marcus hatte Mühe, seine Verärgerung zu zügeln. „Ich verstehe kein Wort." Annie hätte ihn am liebsten angeschrien, um ihn aus der Reserve zu locken. Aber wozu sollte das gut sein? Sie konnte Marcus nicht aus jener Welt holen, in die er sich zurückgezogen hatte. Nicht, wenn er es nicht wollte. Aber ungestraft sollte er ihr diese Kränkung nicht antun. Aufs höchste erregt, fegte sie die Seiten, an denen sie gearbeitet hatten, mit dem Handrücken vom Tisch. „Was zum Teufel..." Marcus schob seinen Stuhl zurück und wollte das Drehbuch wieder aufheben. „Laß es, wo es ist!" fuhr Annie ihn an. So hatte er sie noch nie erlebt. Halb besorgt, halb verärgert stand Marcus auf. „Was ist denn in dich gefahren?" Trotzig hob Annie den Kopf. „Vielleicht ein verspäteter Anflug von Stolz." Marcus bemerkte die Wut, aber auch den Schmerz in ihrem Blick. War er daran schuld? Er hatte Annie nicht wehtun wollen, sondern sich zurückgezogen, bevor es zu spät war. Es war schrecklich. „Annie, ich..." Sie hatte genug von seinen Entschuldigungen. „Du blöder Kerl!" Zutiefst enttäuscht, trommelte sie mit beiden Fäusten auf seine Brust.
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Marcus hielt ihre Handgelenke fest. Sie waren längst nicht so zerbrechlich, wie sie aussahen. Er mußte erhebliche Kraft aufwenden, um sie zu halten. „Hör auf!" Verzweifelt versuchte Annie, sich loszumachen. Sie wollte Marcus noch einen letzten Schlag für all das Leid versetzen, das er ihr angetan hatte. „Ich bin keine Frau für eine einzige Nacht", schrie sie. Wie kam sie denn auf den Gedanken? Glaubte sie etwa, er hätte sie nur benutzt, um seine Triebe abzureagieren? „Das weiß ich doch, Annie." Sie zerrte weiter, kam aber nicht frei. „Weshalb behandelst du mich dann so?" Sie merkte, daß Marcus sie nicht verstand. Er war derart mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, daß er nicht begriff, wovon sie redete. „Weshalb läßt du den Dingen nicht ihren Lauf? Weshalb können wir nicht einfach weitermachen?" Annie wollte auf keinen Fall weinen. Diese Befriedigung durfte sie ihm nicht geben. Weinen konnte sie zu Hause noch lange genug. Marcus hätte nicht sagen können, wann seine Verärgerung nachließ und ein neuer Riß in seinem Panzer entstand. Plötzlich hatte er nur noch den Wunsch, Annie in den Armen zu halten und sie zu lieben, bis sie in höchster Erregung seinen Namen rief. Aber er durfte diesen Gefühlen nicht nachgeben. Die Folgen wären katastrophal. „Weill du eines Tages wieder aus meinem Leben verschwinden wirst", erklärte er und ließ sie los. Das war der Grund? Marcus wollte: nichts mit ihr anfangen, weil er das Ende fürchtete? Verwirrt sah Annie ihn an. „Nur wenn du mich fortschickst, Marc", antwortete sie leise. Zärtlich streichelte sie seine Wange und merkte, daß er ihre Hand argwöhnisch beobachtete. „Bitte, vertrau mir. Ich weiß nicht,
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was dich so mißtrauisch gemacht hat, aber vertrau mir. Laß mich in dein Leben hinein." „Ich soll dich hineinlassen?", wiederholte er ungläubig. Begriff Annie nicht? „Meine Güte, du bist ja längst drin!" Heftig preßte er die Lippen auf ihren Mund und küßte sie verzehrend. Annie schmiegte sich an ihn, um jede Sekunde und alle Empfindungen zu genießen, die er in ihr weckte. Sie wollte den Gipfel des Glücks erreichen, und kein unbedachtes Wort sollte ihr diesen herrlichen Augenblick nehmen. „Erzähl mir alles", flüsterte sie. Marcus wußte nicht, was Annie von ihm hören wollte. „Was soll ich dir erzählen? „Ich möchte alles über dich wissen, Marc. Du bist solch ein guter, aufrichtiger Mann und versuchst trotzdem, mit groben Worten die Gefühle in dir zu verdrängen." Eindringlich sah sie ihn an. „Weshalb, Marc?" „Annie. bitte nicht..." Er wandte sich ab, denn er ertrug ihren Blick nicht mehr. Immer wich Marc ihr aus, und diesmal schmerzte es besonders. Annie war viel zu verletzlich, um sich laut darüber zu beklagen. „Was soll ich nicht? Darf ich dich nicht lieben? Ich fürchte, dafür ist es zu spät." Ihre Worte klangen spöttisch, und' Marcus ahnte nicht, daß dieser Spott gegen sie selber gerichtet war. „Aber keine Sorge: Ich werde dich nicht länger belästigen." Sie biß die Zähnen zusammen, unterdrückte die Tränen und bückte sich um die verstreuten Drehbuchseiten wieder aufzuheben. Bloß nicht weinen, ermahnte sie sich. Bloß jetzt nicht weinen. „Ich mache dir einen Vorschlag", begann sie und rang nach Luft. „Es fehlt nur noch eine Filmszene. Vielleicht... Vielleicht sollte ich sie zu Hause schreiben und dir die Unterlagen anschließend mit der Post schicken." - 191 -
Sie lief davon. Zum ersten Mal in ihrem Leben lief Annie vor einer Schwierigkeit davon. Und sie verabscheute Marcus, weil er sie in diese Lage gebracht hatte. Er bemerkte ihren Schmerz und ihre Verletzlichkeit. „Annie..." Er nahm ihre freie Hand und zog Annie in die Höhe. „Ich wollte dir nicht wehtun." „Das klingt merkwürdig aus dem Mund eines Mannes, dessen Speer schon blutig ist." Nachdem ihr Inneres wie betäubt war, konnte Annie nur noch Hiebe austeilen. Marcus vertraute ihr nicht, und sie konnte ihn nicht dazu zwingen. Eine Träne, die sich nicht aufhalten ließ, stieg ihr in die Augen. Fasziniert berührte Marcus den Tropfen und ließ ihn auf der Fingerspitze zerfließen. Annie weinte seinetwegen, und letzte Woche hatte Ken dasselbe getan. Nie zuvor hatte er einem Menschen so viel bedeutet, daß er seinetwegen Tränen vergoß. Vorsichtig nahm Marcus Annie das Manuskript aus der Hand. Verwirrt sah sie ihn an. „Ich brauche die Seiten, wenn ich das Drehbuch abschließen soll, Sullivan." Achtlos legte er die Blätter auf den Schreibtisch, und sie glitten erneut zu Boden. „Später." Annie lächelte wehmütig, und ein Anflug von Hoffnung kehrte zurück. „Willst du mit mir um sie kämpfen?" „Nein." Zärtlich strich er mit den Händen über ihre Arme und merkte, daß Annie innerlich erschauerte. „Ich möchte überhaupt nicht mehr kämpfen." „Was willst du dann? Marcus' Widerstand brach zusammen. Hätte er eine weiße Flagge besessen, hätte er sie jetzt geschwenkt. Es war sinnlos, sich gegen die eigenen Gefühle zu wehren. Falls nötig, konnte er seinen Schutzwall ja später wieder aufbauen. Was er wollte? wiederholte er stumm Annies Frage. „Rate mal.“ Ohne sie aus den Augen zu lassen, knöpfte Marcus ihre Bluse auf, und Annie hatte das Gefühl, noch nie etwas so - 192 -
Sinnliches erlebt zu haben. Dieser Mann war abwechselnd ein Eisblock und ein Vulkan. Aber das war ihr egal, solange Marcus bei ihr war und er sie nur halb so stark begehrte wie sie ihn. „Keine Ahnung", antwortete sie mit unschuldiger Miene, während er die Bluse aus dem Bund zog und die Finger unter ihren winzigen BH schob. „Gib mir einen weiteren Hinweis." Der Verschluß des BHs öffnete sich, und die zarten Träger rutschten ihre Arme hinab. Mit beiden Händen umschloß Marcus Annies Brüste, und ihr Herz begann zu rasen. Sie legte die Hände auf seine Unterarme. „Ich weiß es immer noch nicht, aber mir wird langsam wärmer. Ganz entschieden sogar." Sie bog den Kopf zurück, denn Marcus drückte die Lippen auf ihre Wange und, glitt mit heißen Küssen ihren Hals hinab. Ihr Atem beschleunigte sich und wurde flacher, sobald er die empfindsamste Stelle erreichte. Verzückt stöhnte sie auf. „Hältst du nie den Mund?" „Ich habe noch tausend Fragen." Annie zerrte an seinem Hemd und zog es heraus. „Aber ich kann nicht zwei Dinge gleichzeitig tun." „Du", murmelte er und merkte, daß die Erregung auf seine Lenden übergriff und sein Inneres erreichte, „schaffst alles gleichzeitig." Annie mußte sich konzentrieren, um nicht der Flut von Gefühlen nachzugeben, die sie zu überschwemmen drohte. „Das ist das netteste, was du mir je gesagt hast." Rasch öffnete sie seine Hemdknöpfe, denn sie wollte seine nackte Brust an ihrem Körper spüren. Als Marcus die Arme um sie legte und ihren Rücken streichelte, stockte ihr der Atem. Das weiche dunkle Haar auf seiner Brust kitzelte erotisch. Verzückt warf sie den Kopf zurück. Marcus' Lippen näherten sich ihren Brüsten. Zärtlich rieb, er die Wange an der empfindsamen Haut der sanften Rundungen.
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Dann faßte er mit beiden Händen Annies Hüften und. sank langsam, auf die Knie. Annie krallte die Finger in seine Schultern. „Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, ich habe dir schon vergeben", keuchte sie. Marcus lachte leise. Er öffnete den Bund ihrer Shorts und ließ das Kleidungsstück achtlos auf den Boden gleiten. Annie war wirklich etwas ganz Besonderes. Sie begann zu zittern, während Marcus mit der Zunge tiefer und tiefer strich. Sie spürte die feuchte Wärme durch den zarten Spitzenstoff. Am liebsten hätte sie das Hindernis beiseite geschoben, aber ihre Arme waren wie gelähmt. „Ich glaube, ich begreife langsam", stöhnte sie. Ihr Hals war so trocken, daß sie kaum noch einen Ton herausbekam. Marcus streichelte inzwischen die empfindsame Innenseite ihres Schenkels, und sie hielt es kaum noch aus. Vorsichtig legte er Annie auf den Boden und kauerte sich so nahe über sie, daß die Hitze zwischen ihnen übersprang. „Annie..." Annie versuchte, trotz des Nebels, der ihren Verstand trübte, klar zu denken. „Ja?" „Halt endlich den Mund." „Mit Vergnügen." Sie zog seinen Kopf zu sich herab und küßte Marcus verzehrend, als ginge es um ihr Leben. Genauso war es in diesem Moment auch. Die Stunden vergingen. Holly wollte erst gegen sieben Uhr mit den Kindern zurück sein. Deshalb hatten Marcus und Annie genügend Zeit, sich ekstatisch zu lieben. Trotzdem hatte Annie das unbestimmte Gefühl, daß dies ein Abschied war, daß Marcus sie fortschicken würde. Und das durfte nicht sein.
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„Weißt du was?" meinte sie scherzhaft, während sie die Tür hinter dem Boten schloß, der das fertige Drehbuch zu Addison Taylor bringen sollte. „Für einen Spießer hast du dich ganz schön entwickelt." Zwar war Marcus noch nicht soweit, daß er ihr erzählen konnte, was ihn belastete, aber das würde sicher noch kommen. Marcus wußte, daß er nicht ständig an Annie denken durfte. Das machte die Trennung auf lange Sicht noch schwerer. „Dies ist doch nur ein Zwischenspiel für mich", erklärte er deshalb. Hätte. er ein Messer genommen und in ihren Körper gerammt, hätte es nicht schlimmer wehtun können. Annie holte tief Luft und zwang sich, ruhig zu bleiben und nichts zu sagen, was ihr später leid tun könnte. Marcus und sie hatten miteinander geschlafen und anschließend unter diesem frischen Eindruck die letzte Szene neu geschrieben. Das Drehbuch war fertig. Addison würde es heute abend noch lesen. Alles hätte perfekt sein können. Hätte... Würde Marcus jedesmal seinen Schutzwall wieder aufbauen, nachdem sie miteinander geschlafen hatten? Bedeutete sie ihm wirklich nichts? Holly konnte jeden Moment mit den Kindern zurückkommen. Deshalb packte Annie ihre Sachen. Es gab keinen Grund, noch länger hierzubleiben. Nicht wenn Marcus sich so verhielt wie jetzt. Plötzlich war sie viel zu müde, um weiterzukämpfen. „Wie soll ich nur zurechtkommen, wenn du nicht in meiner Nähe bist, um die Dinge zurechtzurücken", meinte sie spöttisch. Wenn du nicht in meiner Nähe bist... Das kann nur heißen, daß alles vorbei ist, dachte Marcus. Ihr hatte es nichts bedeutet. Er hatte ihr die Gelegenheit gegeben, dies zu bestreiten. Aber sie hatte es nicht getan. Er hatte es ja gewußt. Doch das half ihm jetzt auch nicht. „Du wirst es schon schaffen", antwortete er ruhig. - 195 -
„Das ist mir bisher noch immer gelungen." Ihre Worte klangen vergnügt, aber Annie kam sich richtig verloren vor. Marcus entließ sie aus seinem Leben. Sie wollte etwas sagen, leider wußte sie nicht, was. Bitten würde sie ihn auf keinen Fäll. Weiter, als sie schon gegangen war, durfte sie nicht gehen. In der Diele wurde es laut, und die Haustür fiel ins Schloß. Holly war mit Ken und den beiden anderen Kindern zurück. „Auf die Minute genau", erklärte Annie so fröhlich sie konnte. „Ich hole schnell meine Sachen, dann können wir gehen." Bevor ich etwas unwahrscheinlich Dummes tue, fügte sie stumm hinzu und unterdrückte die Tränen. Weinen konnte sie, sobald sie draußen war. Ken schien zu ahnen; daß es sich um keinen normalen Abschied handelte. „Kommst du nicht wieder?" fragte er. Annie hörte die Angst in seiner Stimme. „Doch." Zärtlich strich sie ihm über den Kopf. „Aber du mußt mich einladen. Ich möchte nicht einfach hier hereinplatzen. Über seinen Kopf blickte sie zu Marcus hinüber. „So etwas tue ich nie." „Ha." Mehr sagte er nicht. Sie stand auf und ging zu Stevie und Erin, die müde auf sie warteten. „So, ihr beiden. Jetzt bringe ich euch zu eurer Mutter, damit sie sich keine Sorgen macht, wo ihr bleibt." Sie sah Marcus an, wagte aber nicht, ihn direkt anzusprechen. Deshalb wandte sie sich noch einmal an Ken. „Paß gut auf Mr. Sullivan auf, Ken. Er hat manchmal zwei linke Hände." Marcus wollte Annie zurückhalten, aber sein Stolz ließ es nicht zu. Deshalb lehnte er sich an die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. „Reizend wie immer." „Ich gebe mir Mühe, dich nicht zu enttäuschen", antwortete Annie. „;Adieu, Holly", fügte sie mit belegter Stimme hinzu. „Und vielen Dank für alles." Holly wartete, bis sich die Haustür hinter Annie geschlossen hatte. Dann nahm sie Kens Hand und ging mit ihm in die - 196 -
Küche. „Ich bezweifle, daß du je in deinem Leben zwei eigensinnigere, dümmere Erwachsene finden wirst als diese beiden", sagte sie so laut, daß Marcus es hören konnte. Eine frische Morgenbrise wehte vom Meer, und Annie fror, obwohl sie ein dickes Sweatshirt trug. Zum Glück wärmte die Kaffeetasse ihre Hände. Warme Hände, kaltes Herz . Die alte Redensart fiel ihr ein, und sie beobachtete zwei Möwen, die sich im Dunst verloren, der über dem Ozean hing. Ob ihr je wieder warm ums Herz werden würde? Sie bezweifelte es. Zwei endlos lange Wochen waren vergangen, und sie drehte beinahe durch. Kein einziges Wort. Keine Nachricht, keine Mitteilung, kein Vorwand. Nichts. Marcus war restlos aus ihrem Leben verschwunden. Annie trank einen Schluck Kaffee und suchte nach einem Grund, Marcus zu verabscheuen. Wut und Schmerz. empfand sie mehr als genug. Aber Abscheu wollte nicht aufkommen. Marcus war körperlich nicht mehr da. Doch in Gedanken beschäftigte er sie mehr denn je. Immer wieder fand sie einen Grund, das Haus nicht zu verlassen, um dazusein, falls er bei ihr auftauchte. Aber langsam wurde ihr klar, daß er nicht kommen würde. Das war eine bittere Erkenntnis für jemanden, der so optimistisch war wie sie. Annie blickte in die Tasse und spürte, wie der Dampf um ihr Gesicht strich. Ihr war kalt, und sie war schrecklich allein. Diesmal war sie nicht sicher, ob sie sich wieder erholen würde ob sie genügend Kraft dafür besaß. Wozu auch? Um allein weiterzumachen? Wer behauptete, es wäre besser, die Liebe kennenzulernen und wieder zu verlieren,
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als nie geliebt zu haben, war ein Dummkopf und sollte eingesperrt werden. Der Schrei zweier Möwen gellte durch die Luft. Annie sah zu, wie sie sich ins Wasser stürzten, um Beute zu fangen, und mit leerem Schnabel wieder auftauchten. Sie hob ihre Tasse und prostete ihnen zu. „Willkommen im Club!" „Redest du immer mit den Möwen?" Annie faßte die Tasse fester und ermahnte ihr Herz, nicht so zu springen. Am liebsten hätte sie gleichzeitig gelacht und geweint und auf Marcus eingeschlagen, bis er alle ihre Fragen beantwortet hatte. „Was führt dich denn her?" murmelte sie stattdessen und wagte nicht, in seine Richtung zu sehen. Annie ist kein bißchen überrascht, staunte Marcus. Es scheint, daß sie auf mich gewartet hat. Aber sie hatte ihn ja immer schon besser gekannt als er sich selber. Marcus hatte sich genau überlegt, was er sagen wollte. Annie sollte wissen, daß er furchtbare Angst hatte, einem Menschen zu nahe zu kommen - so nahe, daß er zurückgewiesen werden konnte. Aber nun war es doch passiert: Er hatte sich in sie verliebt. Und jetzt hatte er alles vergessen. Sein Kopf war so leer, wie sein Leben ohne Annie die beiden letzten Wochen gewesen war. Er hatte durchhalten wollen und sich größte Mühe gegeben. Doch schließlich hatte er eingesehen, daß es sinnlos war. Wogegen kämpfte er eigentlich? Gegen ein bißchen Glück? Hatte er den Verstand verloren? Wahrscheinlich.' Es gab keine Garantie für Glück. Er hatte Angst, Annie wieder zu verlieren. Nun, dann mußte er eben dafür sorgen, daß sie bei ihm blieb.
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Weshalb steht Marcus nur da und starrt mich an, überlegte Annie. Warum sagt er nichts? „Gesprächig wie stets", stellte sie fest und deutete zu dem Stuhl neben sich. „Setz dich, ich beiße immer noch nicht." Darauf sollte ich mich lieber nicht verlassen, dachte Marcus und setzte sich. „Das ist eine Frage der Auslegung." Annie lächelte unsicher. Zumindest hatten sie wieder eine gemeinsame Basis gefunden. Ohne die Miene zu verziehen, blickte sie hinaus aufs Meer. „Wie geht es Ken?" „Ihm geht es gut." Marcus dachte an das Gespräch, das der Junge und er gestern abend geführt hatten. „Du fehlst ihm." „Er fehlt mir auch", antwortete Annie wehmütig. Sie vermißte Ken fürchterlich. Es war merkwürdig, wie schnell manche Menschen ein Teil ihres Lebens wurden. Ein Teil von ihr. Der Wind blies ihr das Haar ins Gesicht. Sie kümmerte sich nicht darum. Gegen den Wind kam man nicht an. Auch nicht gegen sture Menschen. Wie hübsch Annie ist, dachte Marcus und betrachtete ihr Profil. Es war eine riesige Dummheit gewesen, vor ihr und sich selber davonzulaufen. Alles im Leben hatte seinen Preis. Den für Annie würde er gern zahlen, denn er wollte nicht länger in dieser Leere leben. Hoffentlich war es nicht zu spät. Aber wie konnte er Annie beibringen, daß er sich verändert hatte? Vielleicht hätte er Ken mitbringen sollen. Dem Jungen fiel es leicht, das Eis zu brechen. Annie drehte ihre Tasse; zwischen den Händen. „Mit Ken ist also alles in Ordnung?" „Ja." Noch einen Augenblick, und sie würde mit beiden Händen auf Marcus einschlagen. Meine Güte, rede doch endlich, dachte sie verzweifelt. „Ist dies ein reiner Höflichkeitsbesuch?“ „Nicht unbedingt.“
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„Was dann?" Vergeblich versuchte sie, sich nicht anmerken zu lassen, daß sie immer gereizter wurde. „Ich bin gekommen - äh - weil unbedingt etwas verändert werden muß." Wieder bekam Marcus keinen zusammenhängenden Satz heraus und ärgerte sich furchtbar darüber. Annies Augen wurden schmal. Marcus war aus beruflichen Gründen hier? Natürlich - wie hatte sie etwas, anderes annehmen können. Weil' ich ein Idiot bin, schalt sie sich. Heftig stellte sie die Tasse auf den kleinen Tisch. „Das ist ausgeschlossen." Marcus hätte sie am liebsten in seine Arme gezogen und geküßt. Doch er saß nur da und sah hingerissen zu, wie Annie immer wütender wurde. „Wieso?" „Addison kann so spät .keine Änderungen mehr verlangen. Die Dreharbeiten beginnen nächste Woche. Er würde..." Sie beendete den Satz nicht, sondern stand auf, um den Filmproduzenten sofort anzurufen. Marcus hielt sie am Handgelenk fest. Annie kochte innerlich, und das gefiel ihm jedesmal. „Ehrlich gesagt", begann er, und seine Stimme wurde weich, „nicht Addison möchte etwas verändern." Annie fuhr herum. „Wer dann?" fragte sie mißtrauisch. Er ließ sie los und breitete die Hände aus. „Ich." „Du?" Annie setzte sich wieder und starrte ihn an. „Das macht doch keinen Sinn." „O doch." Marcus beugte sich vor und nahm ihre Hände. „Es macht sehr viel Sinn." Annie rief verärgert: „Ich weiß, daß du ein Perfektionist bist, Sullivan. Aber wenn der Produzent zufrieden ist und die Dreharbeiten beginnen, muß Schluß sein. Spitz deinen Bleistift, und beginn etwas Neues!" Sie wünschte, er würde ihre Hände wieder loslassen. - 200 -
„Ich meinte nicht das Drehbuch." Das einzige, was Annie sonst noch einfiel, war viel zu heikel, als daß sie sich weiter vorwagen konnte. Marcus hatte sie oft genug verletzt. Noch einmal wollte sie sich nicht die Zunge verbrennen. „Was meinst du dann" fragte sie zögernd.' „Ich möchte mein Leben verändern." „Aha." Prompt schlug ihr das Herz wieder bis zum Hals. „Und an was für eine Veränderung denkst du?" Marcus antwortete nicht sofort. Am liebsten hätte er Annies Kopf zwischen beide Hände genommen, ihre zarten Wangenknochen mit dem Daumen nachgezogen und sich vergewissert, daß dies kein Traum war. Fasziniert beobachtete er, wie ihr Gesicht sich rötete. „An so etwas wie eine dauerhafte Zusammenarbeit." Als Annie den Mund öffnete, legte er einen Finger auf ihre Lippen. „Du brauchst mir nicht sofort zu antworten." Aber Annie wollte es. Vielleicht kam diese Gelegenheit nie wieder. „Wenn ich etwas verändern soll, muß ich wissen, was vorher gewesen ist, Marc." Eigentlich sollte sie den Augenblick nutzen und keine Fragen stellen. Aber was wurde, wenn der Überschwang der Gefühle verblaßte? Irgendetwas belastete Marcus, und sie konnte nicht dagegen ankämpfen, wenn sie nicht wußte, was es war. „Sag es mir, Marc.“ Marcus begriff, was Annie wollte. Er war ihr eine Erklärung schuldig. Aber er war nicht sicher, ob er sich ihr öffnen konnte. „Da war nichts vorher." O nein, Marcus durfte ihr nicht mehr ausweichen. Annie legte ihm die Hand auf die Schulter und schmeichelte um ihrer beider willen: „Bitte, Marc." „Es stimmt, Annie." Ein rätselhaftes Lächeln umspielte seine Lippen. „Es ist wirklich nichts gewesen. Ich wünschte, es wäre anders, dann hätte ich vielleicht begriffen, was mit uns beiden - 201 -
geschehen war. Meine Eltern haben sich nie geliebt, und ich habe ebenfalls keine Liebe von ihnen bekommen. Ich war nur eine Art Anhängsel und gehörte ebenso zur Familie wie ihre Autos und ihre Kleider." Marcus schwieg einen Moment und versuchte, die Erinnerung, die ihn plötzlich befiel, zu vertreiben. „Es tat - sehr weh, so viel für Vater und Mutter zu empfinden und - nichts dafür zurückzubekommen. Er fuhr sich mit den Händen durch das Haar und kämpfte gegen die Geister der Vergangenheit. „Wahrscheinlich klingt das ziemlich sinnlos." Jetzt begriff Annie. Marcus wehrte sich gegen alle Gefühle, um den Schmerz nicht zu spüren, den er tief im Innern vergraben hatte. Wie schrecklich mußte solch ein Leben für einen Jungen gewesen sein. Wenn sie ihn doch dafür entschädigen könnte. „Das macht durchaus Sinn." Marcus sah sie verblüfft an. Annie verstand ihn tatsächlich. Er stand auf und ging zum Geländer. Nachdem er Annie die Wahrheit gestanden hatte, konnte er ihr nicht mehr in die Augen sehen. „Habe ich dir schon. erzählt, daß ich Ken adoptieren werde?" „Nein", antwortete Annie und stellte sich neben ihn. Der Nebelschleier hob sich über dem Ozean. Es würde ein schöner Tag werden - ein sehr schöner sogar. „Wann hast du das beschlossen?" „Gestern abend. Ken und ich haben darüber geredet." Er drehte sich zu ihr und entdeckte nur Liebe in ihrem Blick. „Der Junge hat nichts dagegen." „Ich wüßte auch nicht, weshalb", antwortete Annie aus vollem Herzen. Zärtlich nahm er ihr Gesicht zwischen beide Hände. „Keine Einwände?" Langsam schüttelte sie den Kopf und rieb ihre Wangen an. seinen Handflächen. „Mir fallen keine ein."
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Das ließ ihn hoffen. „Wir haben gestern eine Menge geredet. Auch darüber, daß es völlig normal ist, wenn er seine Eltern vermißt, und, daß er trotzdem glücklich sein kann. Ich glaube, er wird zurechtkommen. Übrigens will er mir Football beibringen." Annie lachte. „Mut hat er ja." „Und dafür brauchen wir einen Fänger, der einiges aushält.“ Annie riß die Augen auf und tat, als wäre sie beleidigt. „War das eine Anspielung auf meine Figur?" „Nein", antwortete Marcus leise. „Das war eine Anspielung auf dein großes Herz." „Seit wann bist du denn poetisch, Marc? Das paßt gar nicht zu dir." Langsam legte er die Hände auf ihre Schultern und schöpfte neue Hoffnung. „Du hast mich verändert, Annie." Annie wußte es besser. Zärtlich drückte sie die Hand auf seine Brust, und ihr wurde ganz warm ums Herz. „Niemand kann einen Menschen verändern, Marcus. Ich habe nur etwas ans Licht gebracht, das tief in dir verborgen war." „Du bringst eine Menge ans Licht." Liebevoll küßte er sie auf die Stirn. „Seit du uns verlassen hast, fehlt bei uns der Sonnenschein, Annie. Mein Leben ist einsam und leer. Ich habe absolut, keine Fantasie und kann nicht mehr schreiben. Mir fällt nichts ein. Kein einziges Wort." Es war entsetzlich. Er hatte versucht, sich von Annie fernzuhalten, und alles verloren. „Heirate mich, Annie. Ich liebe dich. Du mußt unbedingt zurückkommen." Annie legte die Arme um seinen Hals und hätte am liebsten laut gejubelt. „Kneif mich mal." „Ich würde dich lieber küssen." Sie preßte die Lippen zusammen und tat, als überlege sie noch. „Du gehst ja mächtig ran, aber ich bin eine großmütige Frau." Sie lächelte breit. „Meine Antwort lautet ja. Sie hat immer ja gelautet." - 203 -
Marcus küßte sie und erstickte ihre weiteren Worte. Annie schwirrte der Kopf. Die Möwen, der Dunst, das weite Meer, ja, die ganze Welt drehte sich um sie herum. Rasch schloß sie die Augen, damit Marcus ihre Freudentränen nicht sah. Als sie sie wieder öffnete, glänzten sie und strahlten derart, daß sein letzter Zweifel verflog. „Ich würde gern so bald wie möglich etwas für deine Fantasie tun", meinte Annie verführerisch. Da hob Marcus sie auf die Arme. Mit der Schulter stieß er die Terrassentür auf und strich mit den Lippen zärtlich über ihren Mund „Es ist höchste Zeit, daß wir unseren Lebensstil wieder angleichen, Annie. Also los, an die Arbeit, Partner." Diesmal fiel Annie keine einzige Widerrede ein.
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