Gilmore Girls Weil ich dich Liebe Band 8 Erscheinungsdatum: 2005 Seiten: 147 ISBN: 3802534824 Amazon-Verkaufsr.: 2601 Du...
18 downloads
786 Views
685KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Gilmore Girls Weil ich dich Liebe Band 8 Erscheinungsdatum: 2005 Seiten: 147 ISBN: 3802534824 Amazon-Verkaufsr.: 2601 Durchsch. Kundenbew.: 5/5 Scanner: crazy2001 K-leser: klr CCC C C C CCC
RRRR R R RRRR R R R R
AAA ZZZZZ Y Y A A Z Y Y AAAAA Z Y A A Z Y A A ZZZZZ Y 2004
Dieses E-Book ist Freeware und somit nicht für den Verkauf bestimmt.
Die Beziehung zwischen Lorelai und Jason gestaltet sich schwieriger als erwartet. Was weniger an den zwei Verliebten liegt als vielmehr an der Tatsache, dass Emily Gilmore niemanden so sehr hasst wie Jason. Die Beziehung der beiden soll deshalb geheim bleiben - was zu einer Reihe komischer Verwicklungen führt, von denen die komischste Chrystal heißt. An Stelle von Lorelai muss sie Jason auf eine Wohltätigkeitsveranstaltung begleiten, hat aber vergessen, sich vorher Unterwäsche anzuziehen. Auch bei Rorys bester Freundin Lane ist einiges los, steht sie doch mit ihrer Band kurz vor dem Durchbruch. Doch wie reagiert man, wenn man nach einem Konzert nach Hause kommt und die Mutter einen rauswirft? Rory selbst ist wieder einmal schwer in Anspruch genommen von ihrer Mitbewohnerin Paris, deren Affäre mit Professor Asher Flemming entgegen aller Annahme ernster zu werden scheint.
Nina Engels
Gilmore Girls WEIL ICH DICH LIEBE
Roman
-1-
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Der Roman »Gilmore Girls – Weil ich dich habe…« von Nina Engels entstand auf Basis der gleichnamigen Fernsehserie vonAmy Sherman-Palladino, produziert von Warner Bros, ausgestrahlt bei Vox. © 2005 des VOX-Senderlogos mit freundlicher Genehmigung
Copyright © 2005 Warner Bros. Entertainment Inc. GILMORE GIRLS and all related characters and elements are trademarks of and © Warner Bros. Entertainment Inc. WB SHIELD:TM ©Warner Bros. Entertainment Inc. (s05) VGSC 3739 © der deutschsprachigen Ausgabe: Egmont vgs Verlagsgesellschaft mbH, Köln 2005 Alle Rechte vorbehalten Redaktion: Sabine Arenz Produktion: Sandra Pennewitz Senderlogo: ©Vox 2005 Titelfoto: © 2005 Warner Bros. Satz: Hans Winkens,Wegberg Printed in Germany ISBN 3-8025-3482-4 Ab 01.01.2007: ISBN 978-3-8025-3482-9 www.vgs.de
-2-
1 Alle Menschen, die ich kenne, lieben etwas oder jemanden und oft auch ganz viel gleichzeitig. Zumindest behaupten sie das. Doch, wie bei so vielem im Leben, versteht jeder etwas anderes darunter. Ich, zum Beispiel, Rory Gilmore, ich liebe natürlich meine Mom. Sie ist die coolste Mom unter der Sonne und gleichzeitig meine beste Freundin. Außerdem liebe ich Literatur und verbringe deshalb einen Großteil meiner Zeit in Yale. Und gezwungenermaßen mit meinen anstrengenden Mitbewohnerinnen Janet, Tanna und Paris, mit denen mich eher so etwas wie eine waschechte Hassliebe verbindet – doch das ist eine andere Geschichte. Ach, und ich liebe es, mit Mom bei Luke zu sitzen, Kaffee zu trinken und alles zu erfahren, was sich während meiner Abwesenheit so alles in Stars Hollow ereignet hat, und ihr im Gegenzug haarklein zu berichten, was es aus Yale Neues gibt. Grandpa Richard und Grandma Emily liebe ich natürlich auch, auch wenn die Freitagabende, die ich fast immer mit Mom bei ihnen verbringe, manchmal auch ganz schön anstrengend sind. Doch das liegt eher am etwas angespannten Verhältnis zwischen meiner Mom und Emily. Eigentlich kann man sagen, dass sich ihr Verhältnis seit Moms Schwangerschaft nie mehr so richtig entspannt hat, aber wer weiß, vielleicht war es das auch nie. Entspannt, meine ich. Gut, Mom war im zarten Alter von sechzehn, als sie mit mir in – wie sagt man doch so schön? – froher Erwartung war. Fast schon verständlich, dass ihre Eltern davon nicht begeistert waren. Aber mittlerweile sind einige Jahre vergangen, genau genommen achtzehn, und ich finde, es wäre an der Zeit, alte Geschichten auch mal abzuhaken. Ach, zu alten Geschichten fällt mir ein, dass mein -3-
Grandpa Richard es ganz offenbar liebte, sich neununddreißig Jahre lang hinter dem Rücken seiner Frau einmal jährlich mit seiner Jugendliebe Pennilyn Lott zu treffen – natürlich nur zum Essen, schließlich ist Grandpa ein ausgemachter Gentleman. Liebte deshalb, weil damit jetzt wohl Schluss ist. Alles flog auf, als meine Mom und ich zusammen mit meinen Großeltern ein grandioses Footballspiel, Harvard gegen Yale, besuchten und auf dem Campus besagter Jugendliebe in die Arme liefen. Arme Emily. Irgendwie tat sie mir Leid, sie konnte es einfach nicht verstehen, warum sich ihr Richard mit anderen Frauen traf. Nein, wie sich das anhört! Er traf sich natürlich nur mit einer anderen Frau – aber das seit immerhin neununddreißig Jahren… Jedenfalls wurde Emily fuchsteufelswild, als sie es erfuhr, und irgendwie schaffte sie es wieder einmal, meiner Mom die Schuld an allem zu geben. Dieser Umstand wiederum war der Auslöser dafür, dass sich meine Mom mit Jason traf, dem neuen Kompagnon ihres Vaters und einem Mann, den ihre Mutter, meine Grandma Emily, ganz sicher nicht liebte. Da Mom aber nur zu gerne Grandma eins auswischen wollte, sprach auf einmal alles für und nichts mehr gegen Jason. In erster Linie liebt meine Mom natürlich mich, das kann ich einfach mal so stehen lassen, und sie liebt es genau wie ich, bei Luke zu sitzen und Kaffee zu trinken. Aber neu war, dass Mom es offenbar auch liebt, sich mit Jason zu treffen. Jason bemühte sich seit einiger Zeit um meine Mom, und während er früher nicht den Hauch einer Chance hatte und sich in diesem Punkt von keinem anderen Mann in Stars Hollow, der Mom gerne näher kennen gelernt hätte, unterschied, hatte sich Moms Meinung im Laufe der Zeit ganz offensichtlich geändert… Zwar gestaltete sich das erste Date mit Jason nicht ganz so, wie die beiden es sich vorgestellt hatten, aber eigentlich hatten sie doch eine ganze Menge Spaß, und alles -4-
deutete darauf hin, dass es eine Wiederholung geben würde. Bleiben wir bei der Liebe. Meine Freundin Lane liebt Musik im Allgemeinen und Lärm mit ihrem Schlagzeug zu verursachen, im Besonderen. Ja, und meine anstrengende Mitbewohnerin in Yale, Paris, liebte es ganz offenbar, sich mit älteren Männern zu amüsieren. Um ganz genau zu sein: mit sechzigjährigen Männern! Um noch genauer zu sein: mit einem Freund meines Grandpas, der zufällig auch noch Schriftsteller und Professor in Yale war! Ich hatte in einer Nacht- und Nebel-Aktion diese schaurige Entdeckung gemacht. Paris und Asher Flemming, so hieß der alte Hase, waren sich bei Paris’ Interview-Termin offenbar näher gekommen, als es gemeinhin üblich ist. Jedenfalls sah ich die beiden in inniger Umarmung, beziehungsweise bei etwas mehr als einer innigen Umarmung. Schockiert drehte ich mich weg, flüchtete in mein Zimmer und beschloss, das alles zu vergessen. Was mir nicht ganz gelang. Also: Liebe, wo man hinsah, die ganze Welt war voll davon – und doch verstand jeder etwas anderes darunter, und bei manchen wollte ich wirklich nichts darüber wissen… Doch wie schafft man es mit einer Mom wie meiner, einer Mom, die wiederum Liebesgeschichten liebt, unangenehme Liebesgeschichten in der Versenkung zu belassen? Ich beschloss, meine gruselige Entdeckung erst einmal für mich zu behalten, doch schon bald sollte mein Entschluss die erste Prüfung erfahren. Es war an einem Samstagvormittag, als Mom und ich wieder einmal das taten, was wir eigentlich jeden Samstag tun: Wir gingen zu Luke. Es hatte vor ein paar Tagen geschneit, aber da es seitdem wärmer geworden war, lag eine weißbraune Schmuddelmasse auf dem Gehsteig, und die Straßenränder säumten weißbraune Schmuddelhügel. Wir stapften, so schnell es ging, in das beste Diner -5-
von Stars Hollow, und Mom erzählte mir irgendwas zu Sackgassen. Ich weiß nicht warum, aber sie benutzte die französische Bezeichnung, die aber falsch war. »Es heißt >culs-de-sac<«, berichtigte ich sie, nachdem Mom >cul-de-sacs< gesagt hatte. »Unmöglich!« »Allerdings!« »Der Plural von >cul-de-sac< ist >culs-de-sac<«? Sie konnte es nicht glauben. »Jep.« Für mich hätte dieses Gespräch damit auch beendet sein können, nicht aber für Mom. Sie ließ nicht locker. »Das klingt nicht nach unserer Sprache«, versuchte sie es erneut. »Das kommt daher, weil es Französisch ist.« Ich konnte doch auch nichts dafür. »Wörter, die richtig sind, sollten auch so klingen.« »Das kannst du aber nicht erwarten.« »Gut. Und ist der Plural von >Yo-yo< etwa >Yosyo« »Nein, das klingt doch nicht natürlich.« »Natürlicher als >culs-de-sac
Blicke aller männlichen Gäste im Laden. »Hey, ich wusste gar nicht, dass Lane hier arbeitet«, „wechselte Mom das Thema, nachdem sie Platz genommen und sich die Haare hinter die Schultern gestrichen hatte. »Erst seit ein paar Tagen… Sie hat sich beworben, und Luke hat sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen«, erklärte ich, denn meine Freundin Lane hatte mich darüber auf dem Laufenden gehalten. »Ein Vorstellungsgespräch?« Mom musste grinsen, und das konnte ich gut verstehen. Ein Vorstellungsgespräch war so ungefähr das Letzte, was man in einem Laden wie diesem und von einem Mann wie Luke erwartet hätte. Andererseits wusste ich bereits, dass es ein Vorstellungsgespräch der etwas anderen Art gewesen war. »Ja, sie haben sich hingesetzt und dann geschlagene fünf Minuten angeschwiegen«, erklärte ich dann auch. »Dann hat Luke gesagt: >Und, wie geht’s?< Und sie darauf: >Gut.< Und schon hatte sie den Job.« Die Augen meiner Mom blitzten verschwörerisch: »Das ist bestimmt gut für uns!« Ich wusste nicht, was sie damit meinte. Aber das war ja nichts Neues. Mom hatte des Öfteren Geistesblitze, die sich mir nicht sofort erschlossen. »Wir haben einen Insider eingeschleust. Eine Freundin von uns«, fuhr sie fort. Ich wusste nicht, was das bringen sollte. Was hatte Mom denn auf einmal? Glaubte sie, dass Luke da hinten statt Teller- Geldwäsche betrieb? Oder dass er Kinder für sich schuften ließ? Oder dass hinten Revuegirl-Kostüme auf ihre speziellen Einsätze warteten? Mom tat ganz aufgeregt. »Wir erfahren zum Beispiel, ob er Portionspackungen benutzt… oder sogar altes Brot.« »Das kriegen wir auch raus, wenn wir seinen Mülleimer durchwühlen«, wand ich ein. -7-
»Aber wir müssen uns nicht dreckig machen«, tuschelte Mom weiter. Dann änderte sich ihre Miene, und sie setzte ihr bezauberndes Lächeln auf. »Hey, Luke!« Luke war an unseren Tisch gekommen. Irgendwie sah er genauso muffelig aus wie eh und je, vielleicht sogar noch ein bisschen muffeliger, was ich persönlich ein bisschen schade fand, wo ihm doch Lane nun hilfreich zur Seite stand. »Seht euch das an«, sagte er und deutete in Richtung Theke, also auf Lane. »Was? Lane? Eine Superkellnerin«, bekräftigte Mom seine Personalentscheidung. »Die ist fähig, mit einem Satz über Riesen-Pancakes zu springen. Oder heißt es >pans-cake« Sie sah listig zu mir rüber. »Sehr witzig!«, kommentierte ich. Okay, natürlich war für Mom die Sache mit den >culs-de-sac< noch nicht gegessen. Luke verstand die Anspielung nicht, und es interessierte ihn auch nicht sonderlich. »Sie ist zu gut«, jammerte er stattdessen. »Ich weiß nicht mal, wieso sie den Job nach dem Vorstellungsgespräch überhaupt angenommen hat.« »Ach, komm schon, Luke, du warst nervös«, versuchte Mom ihn aufzubauen. Doch Luke seufzte nur. Und gleich sollten wir auch erfahren, warum. »Hey, Luke, kriegst du das hin, Luke?« Lane hatte aus den Augenwinkeln gesehen, dass Luke an unserem Tisch stand und wollte nur mal hören, ob er der Aufgabe gewachsen war. Ganz offensichtlich ging sie völlig in ihrer Aufgabe als Bedienung auf. Kein Gast entging ihr, kein Wunsch sollte ihr verborgen bleiben. Nur leider übertrieb sie ihre Fürsorge etwas. Und das machte Luke nervös. »Als mal nichts zu tun war, hat sie ohne Aufforderung auch die Speisekarten abgewischt«, beklagte er sich. »Du meinst Speisens-Karten?«, stichelt Mom. -8-
Wenn sie sich einmal in etwas festgebissen hatte, ließ sie tatsächlich nicht mehr locker. Und diese Wortsspiele, ich meine Wortspiele, machten ihr einen Riesenspaß. Als Luke wieder gegangen war, beugte sich Mom zu mir rüber: »Warum musst du eigentlich so früh wieder zurück nach Yale? Die Kurse fangen doch erst in ein paar Tagen wieder an!« »Ja, aber ich habe noch sehr viel zu tun, und wenn meine Mitbewohnerinnen nicht da sind, habe ich endlich Ruhe.« »Wo sind denn deine Mit-Bewohnerinnen?« Okay, es war Zeit für eine andere Strategie. Ich beschloss, so zu tun, als bemerkte ich ihre Sticheleien gar nicht mehr. »Ahm, Janet ist irgendwo bergsteigen, Tanna zu Hause und Paris ist Ski fahren mit ihrem Freund.« »Ignorierst du das mit dem Plural jetzt einfach?« »Ja.« »Und, wie läuft das mit Paris und ihrem Freund? Alles in Ordnung?« Das war natürlich wieder einmal ein Thema ganz nach Moms Geschmack. Wo es sich bei mir doch schon so schwer anließ mit Dates und Jungs, wollte sie wenigstens darüber informiert sein, was sich bei meinen lieben Mitbewohnerinnen in dieser Hinsicht tat. Es war ein Thema, bei dem Moms Augen diesen besonderen Glanz annahmen… und es war ein Thema, über das ich ganz sicher nicht sprechen wollte. Paris und ihr Freund, dass ich nicht lache! Ich würde eher mal sagen: Paris und ihr Grandpa! Autsch, ich hatte mir doch fest vorgenommen, dass ich daran einfach nicht mehr denken wollte! Aber Mom hatte nur meinen wechselnden Gesichtsausdruck anzusehen brauchen, um zu merken, dass das nicht alles sein konnte. »Was? Stimmt da irgendwas nicht?« »Ahm, ist doch absurd. Beide haben ziemlich viel mit – «, ich machte eine Pause, weil ich nicht so recht -9-
weiterwusste, »dem Studium zu tun, und Princeton ist nicht gerade um die Ecke. Aber das läuft schon. Sie hat mich von der Piste aus angerufen. Sie haben, glaub ich, sehr viel Spaß.« Eigentlich log ich meine Mom nicht gerne an, und eigentlich musste ich das auch nie tun. Mom hatte immer Verständnis für mich und meine kleinen Sorgen – nur jetzt gerade hatte ich einfach keine Lust, an Paris und Asher Flemming zu denken. Ich wollte doch noch meinen Kaffee genießen können. »Einmal Rühreier, Caesar!« und: »Hey, Luke, Kaffee für den Ecktisch!«, rief Lane gerade energisch hinter der Theke hervor. Sie hatte wirklich alles im Blick. Ich war froh, als das Thema endlich durch die Anweisungen, die Lane an Luke richtete, beendet wurde, denn meiner Mom konnte ich eigentlich nichts vormachen. Noch fünf Minuten länger, und ich hätte die ganze leidige Geschichte breitgetreten. Und ich wollte doch einfach nur diese gruseligen Bilder mit Paris und Asher Flemming, in Multicolor und Dolby Surround, aus meinem armen Kopf bekommen. »Mann, vielleicht funktioniert das wirklich nicht mit dem Lane-Luke-Team«, meinte Mom – und was soll ich sagen? Wo sie Recht hat, hat sie Recht. »Nur, wo soll Luke dann hin?« »Keine Ahnung. Er bekommt vielleicht einen Job in einem Supermarkt«, schlug ich vor. »Ob er einen Gabelstapler-Führerschein hat?« »Wenn nicht, verkauft er eben Gabelstapler.« »Du meinst Gabels-Stapler.« Meine Mom! Sie fand kein Ende. Und dennoch: Eigentlich fand ich’s immer wieder schade, wegfahren zu müssen. Allerdings wusste ich auch jedes Mal, dass es nicht für lange war. Yale und Stars Hollow lagen nicht wirklich weit auseinander, und das war auch sehr gut so. Am nächsten Freitag waren Mom und ich wie so oft am Freitagabend bei Emily und Richard. Wir saßen im - 10 -
Esszimmer an dem riesengroßen Louis-XIV-Esstisch, an den Kopfenden Grandma und Grandpa, an den Längsseiten Mom und ich. An diesem Riesentisch hätten locker zwölf Personen Platz gehabt. In unserer kleinen Besetzung wirkten die Ausmaße, na, sagen wir mal, royal. Mom war schon wieder bei ihrem neuen Lieblingsthema: den euls-de-sac. Nachdem auch Grandpa Richard bestätigt hatte, dass es nicht eul-de-sacs heißt, war Mom platt. »Das gibt’s doch nicht!«, rief sie aus. »Das weiß doch jeder!«, konterte Grandpa. »Du auch?«, wollte Mom von Emily wissen. Die nickte bestätigend. Andererseits hieß das auch nicht viel. Selbst wenn sie es nicht gewusst hätte, wäre sie niemals anderer Meinung als Grandpa gewesen. Das hätte nicht in das Bild gepasst, das sie von sich als Ehefrau und von ihren Aufgaben hatte. »Also, jeder auf der Welt weiß, dass der Plural von >cul-de-sac< >culs-de-sac< ist?« »Ja«, antwortet Grandpa trocken. »Gut.« Mom versuchte es erneut. »Also, Mariah Carey ist mit ein paar Freunden unterwegs und hat ein paar Cocktails intus. Und sie sagt, wenn sie vom Dach runterguckt: >Oh, seht nur die vielen culs-de-sac!<« Hatte ich eigentlich schon erwähnt, dass Mom die Königin der absurden Beispiele ist? »Was hast du immer gesagt?«, wollte Grandpa Richard wissen. »Cul-de-sacs«, antwortete Mom. »Und kein Mensch hat dich korrigiert?« Grandpa schüttelte missbilligend den Kopf. »Nein, weil das die normale Form wäre. Auch wenn es grammatikalisch nicht ganz korrekt ist, müsste es so ausgesprochen werden.« »Mom, Mom, jetzt hör schon auf«, bat ich sie. So langsam hatte ich wirklich genug gehört von culs-desac, cul-de-sacs und Sacksgassen. »Damit werde ich nie aufhören.« Klang das etwa wie eine Drohung? - 11 -
Ich war sehr froh, als das Gesprächsthema zum Dessert wechselte. Grandma kündigte etwas ganz Besonderes an. Etwas ganz Delikates. »Wir haben sie aus der Schweiz mitgebracht.« »Kriegen wir eine Bergziege?«, fragte Mom. »Das ist besser als eine Ziege«, schwärmte jetzt auch Grandpa, und auf Grandmas Vorschlag hin erhoben wir uns und gingen ins Wohnzimmer. Ich wurde so langsam neugierig und tippte mit Mom auf Schweizer Schokolade. »Ihr werdet beide begeistert sein.« Grandpa schwärmte weiter in den höchsten Tönen. »Ist es so gut wie Toblerone?«, bohrte Mom. »Oh, es ist besser als Toblerone«, kam die verheißungsvolle Antwort. Als wir endlich im Wohnzimmer waren und gesittet auf der eleganten Coach Platz genommen hatten, wurden wir endlich erlöst. Mit großer Geste stellte Grandma eine silberne Etagere auf den Coachtisch, auf der schreckliche pinkfarbene Ferkel neben fiesen braunen Hasen und neonorangefarbenen Äpfeln arrangiert waren. Meine Enttäuschung war grenzenlos, und ich konnte sie nur schlecht kaschieren – aber mir gelang es auf jeden Fall deutlich besser als Mom. »Oh… was ist das?«, fragte sie, und ihr Blick auf das grelle Getier sprach Bände. »Das ist Marzipan«, antwortete Emily belehrend. Und Richard ergänzte: »Ja, das beste Marzipan aus ganz Europa. Handgemacht von Nonnen.« Okay, das war’s. Schluss, Aus, Ende. Es gab heute Abend keine Schokolade, weder aus der Schweiz noch sonst woher. Schweren Herzens konnte ich es akzeptieren. Und irgendwie fand ich Emily und Richard auch schon richtig niedlich mit ihrer Freude über ihr von Nonnenhänden gefertigtes Marzipan. »Marzipan ist eine köstliche Süßigkeit«, erklärte Emily gerade mit Kennermiene. Doch sie konnte Mom nicht überzeugen. - 12 -
»Marzipan ist keine Süßigkeit, sondern eine komische Substanz, wie Schmelzkäse oder Plutonium«, konterte Mom. »Willst du nicht mal kosten?«, hakte Emily nach, und als Mom sich immer noch weigerte, tat sie mir so Leid, dass ich beschloss, eines dieser grellen Marzipanteilchen zu probieren. Grandpa erklärte, dass für mich die Schweinchen bestimmt seien und für meine Mom die Häschen. Und das rührte Mom dann doch so sehr, dass auch sie beherzt Zugriff. Doch wir hatten uns zu viel zugemutet. Marzipan war so ziemlich das Schlimmste, was ich je gegessen hatte. Es war noch schlimmer als… als… als Paris und Asher Flemming in Multicolor und Dolby Surround. Während Mom und ich mit schmerzverzerrtem Gesicht würgten und nicht wussten, was wir mit dem furchtbaren nonnenhandgefertigten Marzipan machen sollten, war Grandma schon bei ihrem dritten Teilchen. »Köstlich!«, seufzte sie, und Richard pflichtete ihr bei: »Diese Nonnen haben den Dreh raus!« Als es an der Tür klingelte und die Aufmerksamkeit nicht mehr in allererster Linie dem Marzipan galt, war es für Mom die Gelegenheit, ihr Häschen in die Serviette zu spucken. »Wer kommt denn jetzt noch?«, wollte Emily wissen. »Ah, wahrscheinlich Jason«, antworte Richard. Er wusste, dass das bei Grandma auf keine große Zustimmung traf. Seitdem Jason ihre Party zu seinem Firmeneinstieg verhindert und stattdessen diese Geschäftsfreundefahrt in die Stadt initiiert hatte, war er bei ihr unten durch. Ganz anders Mom: Sobald der Name »Jason« gefallen war, drehte sie sich mit blitzenden Augen zu mir und konnte ein Jubeln nur schwer unterdrücken. Puh, so langsam hatte ich das Gefühl, dass Mom sich ziemlich verknallt hatte. Na, und dass Jason bei Mom - 13 -
schwach geworden war, das konnte ich nur allzu gut verstehen. Auch heute Abend sah sie wieder einmal umwerfend aus. Sie trug ein weißes enges Top, dass zu ihrem hellen Teint und den dunklen Haaren einfach fantastisch aussah. Dazu hatte sie sich für einen sehr schönen Wildlederrock entschieden, der ihre klasse Figur unterstrich. Jason wäre einfach nur dumm gewesen, hätte er bei ihr nicht zugegriffen. Als er eintrat und meine Mom auf dem Sofa sitzen sah, blitzten seine Augen für eine Sekunde auf, aber schnell hatte er sich wieder gefasst und tat so, als kenne er sie kaum – schließlich hatte Mom ihm eingeschärft, dass ihr erstes Date unter strengste Geheimhaltung fiel. Aber auch Mom konnte eine gute Schauspielerin sein. Sie verhielt sich Jason gegenüber unverbindlich und freundlich – eben so, wie man sich Geschäftspartnern des Vaters gegenüber verhielt. Nur als Jason, nachdem er Grandpa irgendwelche Papiere überreicht hatte, sich auch zügig wieder verabschiedete, hätte auffallen können, dass Mom ziemlich kurz darauf ebenfalls verschwand. Offiziell, um sich frisch zu machen, inoffiziell, um sich mit Jason für Montagabend zu verabreden. Am nächsten Tag fuhr ich zurück nach Yale. Ich wollte schon das Wochenende über dort sein, um mich in Ruhe auf die nächsten Vorlesungen vorbereiten zu können und um insgesamt nach dem Rechten zu sehen. Und siehe da, es war gut so, denn die Heizung streikte. Ich hatte es mir gerade auf dem Sofa gemütlich gemacht, und George, der Mann für alle Fälle, zumindest für Heizungsfälle an der Uni, hatte sein Werkzeug um mich herum verstreut und schraubte an dem Ding herum, als auf der Straße vor dem Haus ein Auto hielt. Als ich aus dem Fenster blickte, sah ich Paris, die sich gerade innig von Asher Flemming verabschiedete. Professor Flemming saß am Steuer, Paris stand vor der Fahrertür und beugte sich - 14 -
gerade tief, ganz tief in das Wageninnere. Ich traute meinen Augen nicht. Vor unserem Fenster? Hatten die beiden jegliches Pietätsgefühl verloren? Mir fiel wieder einmal auf, dass ich doch ein Mensch mit hohen moralischen Ansprüchen bin – doch bevor ich mir darüber weiter Gedanken machen wollte, beschloss ich, dass es jetzt erst einmal besser wäre, vom Fenster zu verschwinden. Ich sprang also zurück aufs Sofa, atmete tief durch und blätterte wie eine Verrückte in meinem Frauenmagazin. Ein paar Sekunden später drehte sich auch schon der Schlüssel im Schloss und Paris trat ein. »Rory!« Ihre Stimme klang eher erschrocken als erfreut, aber eine Hundertstelsekunde später hatte sie sich schon wieder im Griff. »Paris! Hi«, rief ich mit einer sich überschlagenden Stimme und lächelte gequält. »Du bist früh zurück.« »Du bist früh zurück!« »Ich wollte nur schon mal nach dem Rechten sehen«, entschuldigte ich mich. »Wie war die Reise?« Ich war gespannt: Würde sie jetzt mit der Sprache rausrücken? »Schön. Ich dachte, ich komme früher wieder.« Okay, Fehlanzeige. Nur: Konnte dieses Gespräch an Zusammenhanglosigkeit noch weiter gesteigert werden? Ich gab mir alle Mühe: »Wo sind deine Sachen?« »Ich bin früher zurückgekommen«, sagte Paris. »Ja, ich weiß.« »Nein, schon heute morgen. Dann hab ich ausgepackt und meine Mom besucht.« »Geht’s ihr gut?«, fragte ich auf der hektischen Suche nach Smalltalk-Themen. »Sie war nicht da. Jamie lässt dich grüßen.« Oh, auch das noch! Ich hatte fast befürchtet, dass sie auch noch Jamie erwähnen würde. »Oh, grüß ihn bitte auch von mir. Und, hattet ihr viel Spaß?« »Sagte ich ja schon am Telefon.« - 15 -
»Ich weiß. Und danach auch noch?« »Sicher. Der Ferienort war wunderschön. Vielleicht etwas zu viele Stars… Harrison Ford und Calista Flockhart waren da. Sie haben in der Öffentlichkeit geknutscht. Dann hat sie ihn auch noch am Bauch gekrault… Das war eklig. Aber jetzt störe ich dich nicht mehr.« »Tust du überhaupt nicht. Ich störe dich nicht mehr«, antwortete ich und machte Anstalten aufzustehen. »Du störst mich auch nicht.« Paris wandte sich um und war schon fast aus dem Raum draußen. »Dann bleib ich hier sitzen.« »Gut.« Als sie weg war, atmete ich tief durch. Mann, was war das denn? Ich glaubte es einfach nicht. Hallo? Wenn es eklig sein soll, dass Calista Flockhart Harrison Ford den Bauch krault, was sollten denn dann bitte die öffentlichen Kussattacken von Asher Flemming und Paris sein? Und dann war sie tatsächlich dreist genug, mir Grüße von Jamie auszurichten. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Nein, ich musste weg hier, ich musste zurück nach Stars Hollow. Zurück zu meiner Mom. Dorthin, wo die Welt noch in Ordnung war… Als ich die Tür aufgeschlossen hatte, hörte ich Mom in der Küche fluchen, und als ich mich leise dorthin geschlichen hatte, ertappte ich sie gerade noch dabei, wie sie mit einer Pizzaschachtel in der Linken und dem Kehrbesen in der Rechten auf dem Fußboden kniete und Pizza-Brocken unter die Spüle fegte. »Was machst du da?«, machte ich mich bemerkbar. »Oh! Gott! Rory!«, erschrak sie. »Kannst du dich nicht ankündigen?« Ihrer Stimme merkte ich an, dass sie sich etwas ertappt fühlte. »Hast du Abfall da runtergefegt?« Ich tat schockiert. »Nein. Ich hab bloß Krümel da runtergefegt.« Ihre Stimme hatte schon wieder jedes Schuldbewusstsein verloren, und sie strahlte mich an. - 16 -
»Du bist ein Schweinchen!«, entgegnete ich. Meine Mom war nun wirklich nicht das, was man unter einer Bilderbuchhausfrau versteht – aber sie stand wenigstens dazu. »Und das merkst du erst jetzt? Was machst du hier?« Mom beugte sich zu mir und gab mir einen Kuss. »Oh, ich bin schlecht gelaunt.« Eigentlich wusste ich selbst nicht so genau, warum mir die Geschichte mit Paris und Asher Flemming so auf die Stimmung schlug. So eng war mein Verhältnis zu Paris ja nun wirklich nicht, Jamie kannte ich noch weniger, und Asher Flemming kannte ich eigentlich, bis auf das kurze Treffen mit Grandpa, gar nicht. Und trotzdem: Irgendetwas daran wurmte mich und verursachte mir schlechte Laune. Vielleicht war es die Tatsache, dass Jamie bei der ganzen Geschichte das Opferlamm war. Er wusste von nichts, konnte sich nicht wehren und wurde von vorne bis hinten belogen. Ich fand das mindestens gemein von Paris. Na, und die Tatsache, dass Asher Flemming ihr Grandpa hätte sein können, fand ich mindestens gruselig. »Tja, ich dachte, du wolltest früher zurück, um deine Ruhe zu haben«, riss mich Moms Stimme aus meinen Überlegungen. Irgendwie hatte ich manchmal das Gefühl, dass sie sich immer noch nicht daran gewöhnt hatte, dass ich nicht mehr ausschließlich in Stars Hollow wohnte, und manchmal, zum Beispiel jetzt, hörte ich aus ihrer Stimme einen leicht vorwurfsvollen Unterton. Aber da Mom ja eigentlich ganz genau wusste, dass die Entscheidung, in Yale zu studieren, richtig gewesen war, kam dieser Unterton eben nur manchmal und ganz leise zum Vorschein… »Ja, aber es gibt keine Ruhe mit Paris«, erklärte ich mein plötzliches Auftauchen. Mom sah mich fragend an. Schließlich hatte ich ihr unlängst noch erzählt, dass Paris mit Jamie Ski fahren war. - 17 -
»Paris fährt ganz sicher nicht Ski, und Paris ist auch nicht mit Jamie zusammen«, platzte es jetzt auch schon aus mir heraus. »Paris hat einen neuen Freund.« »Wirklich? Einen Psychiater?« Mom hatte aus meinen Geschichten von Paris haarscharf den Schluss gezogen, dass sie mit einem Seelendoktor wahrscheinlich am besten fahren würde. Sie hatte aus dem Kühlschrank zwei Wasserflaschen geholt, am Küchentisch Platz genommen und machte mir Zeichen, dass ich mich zu ihr setzen sollte. Sie hatte schon wieder diese blitzenden Augen und beugte sich, als ich neben ihr saß, verschwörerisch zu mir. »Einen Professor«, erklärte ich. »Aus Yale?« Ich nickte, zog aber dabei so eine Grimasse, dass es für Mom ein Leichtes war zu erkennen, dass das nur die halbe Wahrheit war. »Oh. Wow«, rief Mom. »Rory Gilmore, wag es nicht, mir etwas zu verschweigen.« Das wollte ich auch nicht mehr. Etwas in mir drängte mich, mir Luft zu machen. »Es ist total merkwürdig«, begann ich. »Eben noch ist sie völlig verliebt in Jamie, und kurz darauf knutscht sie mit einem Professor in einer dunklen Ecke rum.« »Und du hast sie dabei gesehen?« »Das war ganz offensichtlich, und nicht nur für mich«, rief ich, und ich hatte die Szene dabei wieder ganz deutlich vor Augen. »Wow. Wow. Unglaublich, dass Paris mit einem älteren Mann rummacht.« Mom hatte schon rote Bäckchen, so aufregend fand sie meine Geschichte. Entrüstet lehnte ich mich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und zog die Augenbrauen hoch. »Wer sagt denn das?«, wollte ich wissen. »Ich jedenfalls nicht. Ich sagte >küssen<. Das ist alles.« Mom blinzelte mir zu und machte eine kleine Schnute. »Rory, komm schon. Wenn man was mit - 18 -
einem älteren Mann hat, dann macht man auch Dinge, die Altere tun.« »Ah, Herrgott«, stöhnte ich. Wie unter großen Schmerzen hielt ich mir die Hände an den Kopf und schüttelte ihn wild hin und her. Ich wollte mir das wirklich nicht noch genauer vorstellen, als ich es ohnehin schon tat! Aber am Einwand meiner Mom war wirklich was dran. Paris und Asher Flemming taten bestimmt noch ganz andere Dinge miteinander, als sich bloß zu küssen…Wie naiv war ich gewesen, dass ich noch gar nicht daran gedacht hatte? »Wie alt ist er denn in etwa? Fünfunddreißig, vierzig?… Fünfundvierzig?«, wollte Mom nun wissen. Ich blickte sie bedeutungsvoll an und machte mit dem Daumen eine Bewegung nach oben. Moms Augen weiteten sich. »Sechsundvierzig?… Siebenundvierzig? Siebenundvierzigeinhalb? Achtundvierzig?« So, wie sie sich ins Zeug legte, hätte Mom als Auktionator sicher eine steile Karriere vor sich haben können. »Sechzig«, erlöste ich sie. So, jetzt war es draußen. »Was?«, schrie Mom. Sie war völlig außer sich. »Das ist doch nicht möglich!« »Er ist ein alter Bekannter von Grandpa«, versuchte ich das eben Gesagte noch zu toppen, doch Mom war schon bedient. » Sechzig?« Sie japste nach Luft. »Das Ganze lief so«, erklärte ich. »Wir waren essen… Er kam vorbei, Grandpa hat sie bekannt gemacht, sie wollte ein Interview von ihm und hat es offensichtlich auch bekommen.« »Sechzig? So richtig, richtig sechzig?« Sie konnte sich nicht mehr beruhigen. Meine Mom war alles andere als ein Kind von Traurigkeit, aber diese Geschichte übertraf doch deutlich, was sie heute an Neuigkeiten erwartet hatte. »Mom.« Ich legte viel Gefühl in die Stimme und versuchte, ihren Herzschlag wieder auf hundertzehn - 19 -
zu achtzig zu bringen. »Tut mir Leid«, antwortete sie und schüttelte den Kopf hin und her, wie, um das Durcheinander dort wieder zurechtzurücken. »Immerhin wissen wir jetzt, dass sie bei Woody Allen die Chance auf eine Hauptrolle hätte.« »Das nervt so«, stöhnte ich und begann ihr mein Leid zu klagen. »Ich meine, sie versucht, es vor mir zu verheimlichen. Ich soll glauben, dass sie immer noch mit Jamie zusammen ist. Und das ist sie ja nicht.« »Ganz sicher? Vielleicht ist es ja auch eine Intrige?« »Ich mag keine Intrigen! Ich will keine Intrigen! Ich finde Jamie nett. Er ist in Ordnung. Er ist immer geduldig. Ich meine, Paris sollte ihm das wirklich nicht antun.« Mann, ich hing mich ja mächtig für Jamie ins Zeug! »Oh, Schatz, wenn sie sich in einen anderen verguckt hat, kannst du nichts dagegen machen. Denk dran, wie war das mit Dean?« Oh, nein, die Sache mit Dean, meinem Exfreund, war wirklich anders. Ich habe ihn nicht mit einem alten Mann betrogen! Und schon gar nicht mit einem alten Mann, der verheiratet war und erwachsene Kinder hat. »Was würde die Uni sagen, wenn das jemand erfährt?«, wollte Mom wissen. »Ja. Kaum auszumalen!«, rief ich. »Er setzt alles aufs Spiel. Seinen Job, seinen guten Ruf…« »Naja, was soll’s? Er hat ja immer noch Paris.« Mom freute sich diebisch, diesen Schenkelklopfer endlich gebracht zu haben. Wahrscheinlich hatte sie schon die letzten zehn Minuten auf die passende Gelegenheit gewartet. Ach, es tat gut, mit Mom darüber zu reden. Erstens hatte sie immer ein offenes Ohr, zweitens jede Menge Verständnis für die Irrungen und Wirrungen der Menschheit und drittens immer einen lockeren Spruch auf den Lippen, mit dem sie einem fast immer ein Lächeln ins Gesicht zaubern konnte. - 20 -
Plötzlich klingelte das Telefon, und Mom griff den Hörer. »Hallo? Was? Ich,… Michel!…Jetzt beruhigen Sie sich. Wenn Sie hysterisch herumschreien, kann ich Sie nicht verstehen…Was?« Ihre Stimme hörte sich einigermaßen alarmiert an. Ich war aufgestanden und blickte sie neugierig an. »Okay. Und was soll… Okay… Okay«, fuhr sie fort. »I-Ich komme sofort. Bis gleich.« »Ich, ich muss weg«, wandte sie sich zu mir um, nachdem sie den Hörer aufgelegt hatte. »Michel flippt aus.« »Wieso?« »Keine Ahnung! Bist du noch hier, wenn ich zurückkomme?« »Ja, Paris hat gerade ihre Töpferscheibe ausgepackt, als ich ging.« Ich war mit ihr zur Haustür gegangen. »Okay. Ich, ich besorg uns was beim Chinesen.« »Oder wir essen das Zeug vom Boden«, schlug ich vor, was mir einen freundschaftlichen Knuff in die Seite einbrachte. Dann war sie auch schon weg.
- 21 -
2 »Warum hat das so ewig gedauert?«, rief Michel, während er Mom aufgeregt und mit den Armen gestikulierend entgegenlief. Selbst das schreckliche Nieselregenwetter konnte ihn davon nicht abhalten. »Mussten Sie erst noch ein Flugzeug chartern?« Mom erklärte ihm, dass es noch schneller schlecht möglich wäre, außer sie hätte Flügel an den Füßen wie Hermes, der Götterbote, und dass er sich jetzt besser erst einmal beruhigen sollte; dann entfuhr ihr ein Schmerzensschrei. Michel hatte sie mit ungewohnter Heftigkeit am Arm gepackt. »Rein ins Haus«, rief er mit gepresster Stimme und dirigierte Mom vor sich her. »Was ist denn los?«, wollte Mom wissen. »Ist Sookie da?« »Sie ist zusammen mit ihrem Farmer ins Kino gegangen«, klärte Michel sie atemlos auf. »Und die wissen, dass Sie hier sind?« »Ja, sogar sehr gut.« »Und Sie haben nichts dagegen?« Mom schüttelte ungläubig den Kopf. »Werden wir sehen«, antwortete Michel kurz angebunden. Aha, irgendetwas war also schief gegangen, so viel war Mom mittlerweile klar. Aber was konnte es sein? Das Haus stand noch, und auch im Flur und im Wohnzimmer konnte sie auf die Schnelle keine großen Veränderungen feststellen. Allerdings konnte sie sich auch wirklich nicht genau umsehen, denn Michel zog sie in Windeseile ins Schlafzimmer. »Moment, was soll das?«, fragte Mom, als sie realisierte, in welchem Teil von Sookies Wohnung sie gerade angekommen waren. »Warum gehen wir ins Schlafzimmer?« - 22 -
»Ich habe mich als Babysitter angeboten«, erklärte Michel und rieb sich nervös die Hände. Mom zog sich ihre Daunenjacke aus. »Ahm, wie bitte, wie war das?« Sie konnte nicht ganz glauben, dass das die Wahrheit war, denn Babysitten und Michel passten in etwa so gut zusammen wie Kate Moss und Schlagsahnewerbung – aber anscheinend gingen in Stars Hollow die merkwürdigsten Dinge vor sich. »Sookie sagte zu dem Kartoffelmann, dass sie gerne mal wieder ausgehen würde. Aber sie hatte niemanden für das Baby, also hab ich angeboten, auf das Ding aufzupassen.« »Ding?« Michel korrigierte sich rasch. »Auf das Baby aufzupassen.« »Und sie war einverstanden?« Mom fragte besser noch mal nach. »Ja, sie war einverstanden. Also…«, begann Michel den Grund seines Dilemmas zu erläutern.»… kaum war ich hier und sie war weg, find das Ding an zu schreien.« »Ding?« Mom blickte ihn fragend an. »Das Baby fing an zu schreien. Das Baby fing an zu schreien und wollte nicht mehr aufhören. Ich bin gehüpft. Ich habe den Flieger gemacht. Ich habe das Ding sogar auf den Arm genommen.« »Ding?« »Das Baby, verdammt! Ich hab das Baby genommen. Aber das brachte nichts. Es hörte nicht auf, obwohl ich mir sogar ein Spiel ausgedacht habe.« »Was für ein Spiel?« Mom war hellhörig geworden. Lag hier also der Hase im Pfeffer begraben? »Ich nenne es >Wickelbaby<«, erklärte Michel. »Davon hab ich noch nie was gehört.« Mom konnte ein Lachen nicht unterdrücken. »Ja, es ist ziemlich genial«, klopfte sich Michel mit wichtiger Miene selbst auf die Schultern. Er kniete sich - 23 -
auf den Boden und begann die wichtigsten Regeln von »Wickelbaby« zu erläutern. »Erst mal setzt man sich auf den Boden… Und dann wickelt man es in eine Decke ein und rollt es vor und zurück und vor und zurück.« Er machte wilde Bewegungen mit den Armen. »Es war begeistert. Es hat nicht geweint, es hat dabei gelacht, gekichert. Es war das Schönste, was es je erlebt hat! Und dann…« »Oh, nein!« Mom, die neben Michel auf dem Boden kniete, ahnte mittlerweile, welche Nebenwirkungen »Wickelbaby« haben konnte, wenn es in die Hände von Menschen kam, die – sagen wir, im Umgang mit Babys noch nicht so viel Erfahrung hatten. »… hab ich die Decke etwas zu stark zurückgezogen, und es ist unter das Bett gerollt«, bestätigte dann auch Michel ihren Verdacht. »Und da ist es stecken geblieben!« »Oh, mein Gott!« Mom schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Ich hab versucht, es rauszuholen, aber es wollte sich nicht an dem Seil festhalten und ist eingeschlafen. Und ich dachte, wenn ich es aufwecke, fängt es wieder an zu schreien.« Michel schaute wie ein begossener Pudel aus der Wäsche. »Wie konnten Sie Davey nur unter das Bett schleudern?«, fragte Mom mit vorwurfsvoller Stimme. Hatte der Kleine nicht schon genug erlebt? Musste er nicht erst kürzlich zur Filmmusik von Der Clou und mit Bruce als Hebamme das Licht der Welt erblicken? Reichte das nicht fürs Erste? Musste jetzt auch noch Michel eins draufsetzen? »Davey?« Michel verstand nicht recht. Er wirkte irritiert: »Ja. Davey, Sookies Baby.« »Das ist sein Name? Ich hab Truman zu ihm gesagt.« Mom schüttelte nur noch den Kopf. Dann beugte sie sich hinunter und spähte unters Bett, wo sie Davey - 24 -
erblickte. »Oh, Mann, er schläft wirklich ganz fest. Wie friedlich er aussieht.« »Sehen Sie? Es hat ihm Spaß gemacht.« »Also, wir müssen das Bett anheben«, erklärte Mom, doch als ihr Blick auf Michel fiel, stockte sie. Er hatte sich wie auf Kommando beherzt das Hemd aus der Hose gezogen und begann gerade damit, die obersten Knöpfe aufzuknöpfen. »Was haben Sie vor?«, fragte Mom. »Ich ziehe mir das Hemd aus.« Gut, dass war nicht leicht zu übersehen, aber Mom verstand nicht recht. »Ah, wozu, wenn ich sage, wir müssen das Bett anheben, um ihn vorzuholen?« »Das ist kein billiges Hemd.« »Nein, nein, nein. Ich hebe das Bett nicht mit Ihnen hoch, wenn Sie nackt sind.« Mom wandte sich ab und legte sich die Hand über die Augen. »Es geht nur um das Hemd, nicht um meine Hose«, versuchte Michel zu verhandeln. Doch Fehlanzeige. Mom wollte jede weitere Intimität bei der Rettungsaktion vermeiden. Es reichte ihr schon, dass sie sich mit Michel in Sookies Schlafzimmer befand und vor einem Bett kniete – alles in dem Wissen, dass Michel zu allem Überfluss wieder eine seiner supertief sitzenden Jeans trug, für die er sich, seinen eigenen Aussagen nach, sogar rasierte… Nicht im Gesicht, versteht sich. »Lassen Sie es an!«, sagte sie bestimmt. »Dann wird es zerknittern.« Michel klang ein bisschen wehleidig, aber er gab sich geschlagen und begann das Hemd wieder zuzuknöpfen. »Es knittert noch mehr, wenn Sookie nach Hause kommt und Truman unter dem Bett findet«, prophezeite ihm Mom. »Also, äh,… Sie heben das Bett an, und ich schnappe ihn mir.« Widerwillig gehorchte Michel und hob mit schmerzverzerrtem Gesicht das Bett an, während Mom darunter hechtete und Davey schnappte. - 25 -
Ungefähr zwei Sekunden später hielt sie den kleinen Davey in den Armen. »Hey, Davey… Ich hab dich«, flüsterte sie beruhigend, und ihre Stimme klang so zart und lieb, dass man es unwillkürlich schade finden musste, dass Mom nach mir nicht noch zwölf weitere Babys bekommen hatte. Babys fühlten sich immer fantastisch bei ihr. Auch Davey fühlte sich pudelwohl. Er hatte während der ganzen Aktion nur ganz kurz mit den Äuglein geblinzelt und schlummerte bereits wieder friedlich in Moms Armen. »Wie geht’s ihm?«, wollte Michel wissen, während er sich sein Hemd glatt strich. »Es ist alles in Ordnung«, antwortete Mom. Dann wandte sie sich wieder an Klein-Davey und legte ihn sanft in seine Wiege. »Ist alles wieder gut. So ist gut… Und jetzt schön weiterschlafen, bis Mami nach Hause kommt.« Als Davey wieder im Bettchen lag, drehte sie sich mit blitzenden Augen zu Michel um und stemmte die Hände in die Hüften. »Und jetzt möchte ich wissen, was das Ganze soll.« »Gar nichts.« Michel ließ den Kopf sinken und setzte sich aufs Bett. Natürlich wusste er genau, was Mom meinte, aber er stellte sich erst mal dumm. »Warum spielen Sie den Babysitter? Sie hassen Babys!« »Ich…« Michel stockte. Er blickte nach unten und hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Dann fuhr er fort: »Ja, aber nicht wirklich.« Er wand sich auf dem Bett. Man sah ihm an, dass ihn irgendetwas quälte. Mom ließ nicht locker. »Sonst machen Sie so was nicht, niemals«, forschte sie nach. »Und jetzt sitzen Sie hier in Ihren supertief sitzenden Jeans und erfinden Spiele. Also, warum?« Michel sah aus wie die Ruhe vor dem Sturm. Es war klar, dass es sich nur noch um Sekunden handeln konnte, bis er mit der Sprache rausrückte. Doch noch wand er sich weiter, fast wie unter Schmerzen, auf - 26 -
dem Bett und schaute bockig vor sich hin. Es vergingen noch ungefähr 1,5 Sekunden, dann entrang sich seiner Brust auf einmal ein tiefer Seufzer. Er gab sich geschlagen. Er konnte meiner Mom nichts vormachen. »Ich hasse Tobin«, brach es schließlich aus ihm heraus. »Er ist ein schleimiger, kleiner, kriecherischer Speichellecker, und ich hasse ihn.« Seine Stimme hatte schon wieder an Kraft gewonnen. Okay, okay, auch Mom war sicher nicht das, was man einen eingefleischten Tobin-Fan nennen könnte, aber von »hassen« war sie weit entfernt. Tobin, der frühere Nachtwächter des Independence Inn, war vor kurzem wie aus heiterem Himmel wieder in Stars Hollow aufgetaucht. Nachdem die gemeinsame Wirkungsstätte von Mom, Sookie, Michel und Tobin abgebrannt war, hatte Tobin seine Siebensachen gepackt und sein Glück in Utah versucht. Dafür war er sogar zum morMomschen Glauben übergetreten. Allerdings konnte er ihn nicht in vollen Zügen genießen, denn, so berichtete er, hinderte ihn die lustige Unterwäsche der Mormonen daran. Als auch der erhoffte Geldsegen in immer weitere Ferne rückte, beschloss Tobin, Utah den Rücken zu kehren und wieder nach Stars Hollow zu kommen. Mom und Michel erfuhren davon bei einem Mitarbeitertreffen des zukünftigen Dragonßy Inn, das Mom einberufen hatte. Wie aus dem Nichts tauchte dort auf einmal Tobin auf – und Klein-Davey schlummerte friedlich an seinem kugelrunden Bauch. Anscheinend konnte Tobin also wenigstens mit Kindern umgehen, doch so ganz verstand Mom ihre Freundin Sookie trotzdem nicht. Während aber aus Moms Augen eher Verwunderung und sanfte Abgrenzung sprachen, waren es bei Michel doch eher blankes Entsetzen und Abscheu. »Michel«, versuchte Mom, seinen Ausbruch zu stoppen. Aber es war zwecklos. »Dieser furchtbare Mensch mischt sich in jeden - 27 -
Bereich meines Lebens irgendwie ein! Das einzig Gute daran, dass das Independence hin abgebrannt ist, war, dass er danach verschwand. Aber jetzt ist er wieder da.« »Michel, seien Sie nicht eifersüchtig auf Tobin!« Mom konnte kaum glauben, was sie da hörte. Irgendwie war es ja auch fast schon wieder rührend, was Michel da von sich gab. »Doch, er will mich weghaben!«, insistierte Michel aufgebracht. Seine Stimme klang dabei fast ein bisschen weinerlich. »Er versucht mich zu verdrängen, aus allem, aus meinem ganzen Leben. Er wird so lange rumschleimen, bis Sie am Ende keinen Grund mehr sehen werden, mich zu behalten. Und das wird ihm auch gelingen, denn es ist völlig egal, ob ich die Erfahrung und das Fachwissen habe, dieses Hotel zu führen. Er liebt das Baby. Er knuddelt das Baby. Er rollt es nicht unter das Bett. Also wird er gewinnen.« Michel schnappte nach Luft, er war ganz aufgewühlt. Mom schaute ihn mit großen Augen an und baute sich vor ihm auf: »Oh, nein, er wird nicht gewinnen«, versicherte sie ihm. »Michel, diese Rivalität gibt es nur in Ihrer Fantasie.« »Sie meinen, Sie mögen Tobin nicht lieber als mich?« »Oh, nein. Wir mögen Tobin…«, antwortete Mom und blinzelte dann Michel verschwörerisch zu. »Aber nach Ihnen sind wir ganz verrückt. Und solange Sie sich ganz weit von Davey fernhalten, wird sich daran auch nichts ändern.« Sie hoffte, er verstand, setzte sich zu ihm aufs Bett und legte ihm einen Arm um die Schultern. Ein paar Tage später, ich war längst wieder in Yale, fand die traditionelle, große, offizielle Einführung der Nachwuchsredakteure statt. Die gesamten Nachwuchsredakteure der Yale Daily News, inklusive mir und Paris, waren heute dazu verdonnert, sich alberne Papierhüte aufzusetzen, um auf den ersten Blick als das erkennbar zu sein, was sie waren. - 28 -
Nachwuchsredakteure, meine ich. Einen Tag lang mussten sie die echten Redakteure bedienen – als Gegenleistung durften sie ihnen über die Schulter blicken, um wertvolle Kniffe mitzukriegen. Besonders toll fand ich die Aussicht nicht, das Dienstmädchen für Typen wie Doyle, unseren Chefredakteur, zu spielen – aber andererseits hoffte ich auch, heute tatsächlich noch ein bisschen Handwerkszeug lernen zu können. Also bastelte ich, ohne zu murren, an meinem Hütchen, an dem ich gerade die letzten TesafilmStreifen zu Befestigung aufklebte. Als es fertig war, setzte ich es mir auf und drehte mich erwartungsvoll zu Paris um, die neben mir stand und ebenfalls mit Basteln beschäftigt war. »Okay. Sekunde…«, ich rückte das Hütchen noch ein letztes Mal auf meinem Kopf hin und her, »und… was sagst du?« Ich sah sie erwartungsvoll an. Paris blickte kurz von ihrem Hütchen auf und sah mich abschätzig an. »Sieht blöd aus.« »Naja, das ist ein Hut aus Papier und kein neuer Modetrend«, wandte ich entschuldigend ein. »Und das?«, wollte Paris wissen. Sie hatte sich gerade ihr Hütchen aufgesetzt. Und, was soll ich sagen? Es sah wirklich extravagant aus, nicht so albern wie meines. Paris’ Hütchen hatte wirklich das gewisse Etwas. Er hatte eine breite Krempe und auf der Seite, dort, wo bei mir nichts war, wippte bei ihr fast schon übermütig eine Papierblüte. So, wie Paris den Hut dann auch noch trug, nämlich leicht schräg und mit dem Bewusstsein, dass ihr da grade was sehr Hübsches gelungen war, konnte ich nicht umhin, bewundernd mit dem Kopf zu nicken. »Woher kannst du das?«, fragte ich, denn wenigstens wollte ich die kleine Genugtuung haben, dass diese Kreation nicht eine freie Erfindung von Paris war. »Martha Stewart«, antwortete sie mit einem gekünstelten Augenaufschlag. - 29 -
»Martha Stewart gibt Tipps heraus, wie man Papierhüte bastelt?« »Ja.« »Oh… Naja, sieht gut aus«, antwortete ich und betrachtete missmutig mein Hütchen. Zu allem Überfluss hatte ich es oben auch noch mit einem albernen Zipfel dekoriert! Kein Wunder, dass das bei mir und den Jungs nicht so reibungslos lief! Aber ich kam nicht dazu, mich länger für mein Hütchen zu schämen und ihm die Schuld an allem zu geben, denn es gab jemanden, der litt noch viel mehr als ich. Glenn, ebenfalls ein hoffnungsfrohes Nachwuchstalent. »Was ist das?«, schrie er wie aus dem Nichts und blickte missmutig umher. »Eine Foltermethode für Intellektuelle? Ach nein, Bastelstunde.« Er lachte höhnisch und ein bisschen wahnsinnig. »Eine großartige Aufgabe, die ja sooo viel mit Journalismus zu tun hat!« »Beruhige dich, Glenn.« Ich versuchte ihn zu beschwichtigen, und Paris ergänzte: »Das ist Tradition.« Doch Glenn ließ sich nicht beruhigen. »Das ist keine Tradition, das ist Schikane!«, schrie er weiter. »Wieso fesseln sie uns nicht gleich nackt an einen Laternenmast, mit einem Schild um den Hals, auf dem steht: Journalismus bleibt vorurteilsfrei? Ich mach das nicht! Niemand kann mich zwingen.« »Wenn du den Hut nicht aufsetzt, kannst du den Job hier vergessen«, ließ sich auf einmal Doyle, unser Redaktionsleiter, vernehmen, der plötzlich hinter Glenn aufgetaucht war. Das saß. Und das war das Einzige, was Glenn umstimmen konnte. »Hast du noch eine Seite?«, gab sich Glenn geschlagen und begann, an seinem Hütchen zu basteln, was ihm aber nicht so recht gelingen wollte. »Hey, Leute, hört mal«, ergriff nun Doyle das Wort und baute sich in der Mitte des Raumes auf. Anscheinend hielt er es für angebracht, uns noch mal - 30 -
auf den Sinn und Zweck der albernen Kostümierung einzuschwören. Alle Papierhütchen gehorchten, richteten sich auf und drehten sich in seine Richtung. »Der heutige Abend symbolisiert die Verschmelzung von Alt und Neu«, begann er, und ich fragte mich, ob er lange über diesen fast schon weltanschaulichen Einstieg nachgedacht hatte. »Und beide Gruppen auseinander zu halten ist bloß heute möglich. Die Alten sind die, die hektisch durch die Gegend rennen, um die neueste Ausgabe der Daily News fertig zu stellen, und die Neuen, das sind die mit den albernen Hüten.« Er machte eine kleine Kunstpause, in der er seinen Blick schweifen ließ, dann fuhr er fort. »Och, das ist eine sehr beliebte Tradition. Dass man einen Abend lang, den ganzen Abend lang, einen selbst gebastelten Hut trägt und die Redaktionsmitglieder bedient, um die Arbeitsabläufe der Yale Daily News zu verinnerlichen.« Wieder machte er eine kurze Pause und dann eine weit ausholende Bewegung mit den Armen. »Hier sind heute viele neue, unverbrauchte Talente…« Er deutete auf mich. »Rory Gilmore, eine unbeirrbare Kritikerin, die ohne Gnade auf den Punkt kommt, aber viel schwarzen Humor durchblicken lässt.« Ich muss gestehen, das ging mir runter wie Ol. Dann machte er eine Handbewegung zu Paris. »Paris Geller. Ihr Interview mit Professor Asher Flemming war das intimste Porträt eines komplizierten Menschen, das ich jemals gelesen habe.« Ich muss gestehen, ich blickte betreten zur Seite. Doyle machte eine erneute Kunstpause und deutete dann auf Glenn. »Glenn Babel. Seine Kommentare zur amerikanisehen Familie im Cartoon-Format beweisen, dass er bisher noch nie in den Arm genommen worden ist.« Er erntete jede Menge Lacher, sonnte sich etwas im Beifall und fuhr dann fort: »Hier dabei zu sein erfordert harte Arbeit, aber es ist eine Ehre. Ihr arbeitet mit den Besten der Besten. Von hier aus - 31 -
könnt ihr zur NewYork Times, zur Washington Post oder« – und seine Stimme schwoll an wie bei einem Ringrichter in einem Boxkampf – »ihr könnt eure Ideale verraten, so wie die Mitbegründer der Daily News, die jetzt das Time Magazine rausbringen, das im Grunde« – seine Stimme stieg noch einmal um einige Dezibel – »bloß ein aufgemotztes Klatschblatt ist, mit dem man Vogelkäfige auslegt! Nachrichten für Reader’s-Digest-Abonnenten, würde ich sagen! Sie tun so, als würden sie Neuigkeiten bringen und sich auf das Wesentliche konzentrieren. Ich meine, mal ehrlich, ohne die Wartezimmer dieser Welt hätte das Time Magazine keine Existenzberechtigung! So ist das. Ich hasse das Time Magazine]« Doyle war ganz außer sich. Er hechelte regelrecht nach Luft, wandte sich dann um und schrie mit schriller Stimme: »Cheryl, ich brauche Tee.« Cheryl war eine Leidensgenossin von mir. Sie trug auch ein Papierhütchen – und noch dazu hatte sie das Pech, gerade hinter Doyle zu stehen. Ich blickte mich gerade auf der Suche nach albernen Aufträgen um, als Paris meinen Blick einfing. »Du hast mir nie gesagt, wie dir mein Artikel gefallen hat.« »Ahm, welcher Artikel?«, fragte ich abwehrend. Zwar ahnte ich, um welchen Artikel es ging (ich tippte auf das »intime Interview eines komplizierten Menschen«), aber ich hoffte, dass der Kelch an mir vorübergehen würde, wenn ich mich nur lange genug dumm stellte. Doch weit gefehlt. »Mein Interview mit Asher Flemming«, räumte Paris die Unklarheiten beiseite. »Hast du’s gelesen? Ich hab eine Kopie davon. Wenn du willst, gebe ich sie dir morgen.« »Du kannst so was«, wehrte ich dankend ab. »Bestimmt ist es gut.« »Ja, aber bitte lies es trotzdem mal. Ich will darüber mit dir diskutieren können, und deine Meinung ist mir wichtig.« Sie ließ einfach nicht locker. - 32 -
»Hör zu, heute sollen wir erst mal die andern bedienen, also…«Ich kam nicht weiter, denn ihr Handy klingelte. Und ihrer vibrierenden Stimme nach zu urteilen, mit der sie, nachdem ihr klar war, wer am anderen Ende war, hineinsprach, ließ auch bei mir keinen Zweifel daran, um wen es sich bei dem Anrufer handelte… »Eine Sekunde…« Paris wandte sich vom Hörer ab und sah mich an. »Ich komme gleich wieder.« »Wo willst du hin?«, rief ich ihr noch hinterher. »Du darfst nicht weg, solange du den Hut aufhast.« Ich gebe zu, ich klang mindestens ein bisschen spießig – aber egal: Es hörte sowieso niemand und Paris erst recht nicht. Die war schon mit seligem Lächeln aus den Redaktionsräumen gerannt. Ach, was sage ich! Geschwebt. Ich hatte jedoch keine Zeit, mich allzu lange darüber zu ärgern, dass sich Paris vom Acker gemacht hatte, denn ein paar Sekunden später hatte Doyle einen Spezialauftrag für mich. Ich sollte ihm Erdbeereis besorgen. Ich tat wie geheißen. Draußen war es dunkel, kalt und ungemütlich – aber was soll’s? Ich hatte ja mein Hütchen auf. Als ich mit dem Erdbeereis in die Redaktionsräume zurückkehrte, kam es mir so vor, als wäre die Stimmung noch hektischer geworden, als sie ohnehin schon gewesen war. Doyle herrschte gerade Andy an, die ihm ihren Artikel vorgelegt hatte. Sie war schon ein ganzes Jahr dabei, und ich fand, dass sie einen ziemlich guten Stil hatte – doch Doyle konnte man es heute offenbar nicht recht machen. Er lehnte den Artikel ab. »Aber, Doyle, das ist ein ziemlich guter Artikel.« »Hey, hier reicht >ziemlich gut< nicht! Wenn du dich damit zufrieden gibst, geh nach Harvard.« »Idiot!« Andy war zu mir rübergekommen und fragte mich, ob ich ihn vielleicht mit dem Erdbeereis erschlagen könnte. »Das bezweifle ich«, antwortete ich und blickte sie - 33 -
entschuldigend an. »Das ist Softeis.« Ich ging zu Doyles Schreibtisch und reichte ihm seine Bestellung. »Hier ist dein Eis.« »Was ist das?« Er schien unangenehm berührt zu sein. »Erdbeereis«, antwortete ich. »Da sind Erdbeeren drin.« »Darauf fällt nicht mal mir eine Antwort ein.« So langsam war auch meine Engelsgeduld zu Ende. Es war schon peinlich genug, mit so einem drittklassigen Hütchen vor die Tür zu müssen, um Wünsche wie Erdbeereis im Winter zu erfüllen – und wenn man das alles dann auch noch ohne Murren tat, konnte man zumindest ein Dankeschön erwarten. Doch von uns beiden war ich anscheinend die Einzige, die diese Meinung vertrat… »Ich wollte bloß Erdbeereis ohne irgendwelche Erdbeerstückchen darin. Das hier ist voll davon«, nervte Doyle weiter. »Ich sehe nur eins.« »Ich kann das nicht essen! Nimm es weg!« Eine Diva bleibt eine Diva bleibt eine Diva, schoss es mir durch den Kopf, doch ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen. »Soll ich dir irgendwas anderes besorgen?« »Nein, vergiss es!«, antwortete er gereizt und schickte mich mit einer überheblichen Handbewegung fort – nur um mich gleich darauf wieder zurückzupfeifen. Ich tat wie geheißen und reichte ihm sein Erdbeereis mit Fruchtstückchen. »Alles in Ordnung, Doyle?«, wollte ich wissen. »Ja. Was soll mit mir sein?« »Ich weiß auch nicht. Du kommst mir heute ein bisschen gestresst vor.« »Ja, die morgige Ausgabe muss fertig werden. Und auf der letzten Seite prangt eine Lücke. Weil die verantwortlichen Autoren sich heute keine Meinung - 34 -
bilden können.« Er hatte seine Stimme erhoben und blickte giftig in Richtung der Übeltäter. »Und das ist alles?«, fragte ich und sah ihn skeptisch an. Eigentlich war er nicht der Typ, der wegen zu spät abgegebener Artikel derart die Nerven verlor. Er sah auf und gab sich geschlagen. »Ich habe eine Absage als Yale-Korrespondent beim Time Magazine bekommen.« »Oh, das erklärt so manches.« Ich konnte mir gerade noch ein wissendes Lächeln verkneifen. Das wäre sicher nicht allzu gut angekommen. »Das ist ein herber Schlag für meine Karriere!«, jammerte Doyle. »Du bist zwanzig«, versuchte ich ihn zu trösten. Meine Güte, man konnte auch übertreiben! Wenn man mit zwanzig schon Chefredakteur der Yale Daily News war, sollte man nicht allzu sehr mit seinem Schicksal hadern, fand ich. »Du hast noch alles vor dir, Doyle.« Ich blickte ihn aufmunternd an. »Sag das mal meinem Dad.« Doyle wirkte richtig geknickt. Und mir schoss es wieder mal durch den Kopf, was ich doch für ein Glück mit meiner Mom habe. Das Einzige, was sie wirklich von mir wollte, war, dass ich glücklich war. Klar, war sie stolz auf mich, wenn sie hörte, dass meine Artikel gelobt wurden. Und klar, war sie auch stolz auf mich, dass ich in Yale war – da unterschied sie sich keinen einzigen Deut von anderen Müttern oder Vätern, okay, von meinem eigenen vielleicht. Aber Mom war eines sicher nicht: übertrieben ehrgeizig. Ob ich nun die Karriereleiter steil nach oben klettern würde oder nicht, das war Mom ziemlich egal – und dafür war ich ihr sehr, sehr dankbar. »Also« Glenns Stimme in meinem Rücken ließ mich herumfahren. »Ich will nur loswerden: Ich find’s absolut unfair, dass sich dieses stramme Gummiband langsam in mein Gehirn reinfrisst, und Paris einfach abhauen darf.« Glenn sah wirklich Mitleid erregend - 35 -
aus. Anscheinend war er alles andere als ein begnadeter Bastler, und so hatte er sich in Ermangelung anderer Möglichkeiten eine Zeitungsdoppelseite auf den Kopf gelegt, die von einem Gummiband zusammengehalten wurde. So, wie er jetzt dastand, sah er aus wie eine Kreuzung zwischen einem Kopfsalat und einem Pilz. Dennoch: Er tat mir zwar Leid, aber ich hatte was gegen Petzen. »Paris ist nicht da?«, antwortete ich und tat ahnungslos. »Nein, ist sie nicht.« »Und du hast es nicht gewusst?«, fragte Doyle alarmiert. Ich „weiß nicht genau, welcher Teufel mich dann ritt, ausgerechnet Paris und Asher Flemming in Schutz zu nehmen, denn daran, dass sich Paris und er gerade bei einem weiteren tete-á-tete befanden, bestand für mich kein Zweifel. Es ist auch egal, was mich am Schluss dazu bewog, entgegen meiner inneren Überzeugung zu handeln, ich tat’s jedenfalls. Ich log, dass ich bei ihrem Telefonat mitbekommen hätte, dass jemand aus Paris’ Familie, anscheinend eine Tante, ins Krankenhaus eingeliefert werden musste und dass ich vermutete, dass sich Paris nun am Krankenbett genau jener Tante die Augen ausweinen würde, und wenn sie das gerade nicht tat, sie ihrer Familie helfen würde. Ein Knockout-Argument. Dagegen konnte man schlecht was sagen. Auch Doyle nicht. Er zuckte nur mit den Achseln und machte ein wichtigbesorgtes Gesicht. »Na, schön, ahm, sag mir Bescheid, wenn sie wieder da ist.« »Geht klar.« Manchmal verstand ich mich selbst nicht so genau. Dass ich ausgerechnet für Paris lügen würde… Ich gab Glenn die Schuld daran. Wenn er nicht so eine Petze gewesen wäre, hätte ich niemals zur Notlüge greifen müssen! - 36 -
Ich war gerade auf dem Weg in mein Zimmer, der Wind wehte mir ins Gesicht, und ich war einfach nur hundemüde. Nach diesem langen, langen Abend in der Redaktion der Yale Daily News wollte ich mich nur noch schlafen legen. Als ich dann endlich im Bett lag, hatte ich mich fast im selben Moment auch schon verabschiedet. Mir fiel noch auf, dass Paris’ Bett leer war – doch ich beschloss, mir jetzt nicht vorzustellen, wo sie gerade mit wem bei was auch immer war. Kaum war ich eingeschlafen, wurde ich durch einen irrsinnigen Lärm geweckt. Paris! Sie schien es richtig darauf anzulegen, dass ich wach wurde. Ich gab vor, weiter zu schlafen, aber tatsächlich war daran natürlich nicht mehr zu denken, und ich beobachtete sie aus den Augenwinkeln. Gerade tat sie so, als würde sie den Kleiderbügel mit ihrem Mantel nicht richtig aufgehängt bekommen und machte bei ihren zehn mutwilligen Versuchen einen irren Lärm. Wieder einmal dachte ich, dass meine Wohnungsgenossin mindestens einen hysterischen Eindruck auf mich machte. Anscheinend hatte sie beschlossen, mir endlich ihr großes Geheimnis zu verraten und von Asher Flemming zu erzählen. »Mensch… Spät geworden! Spät, spät, spät, spät, spät«, zwitscherte sie, während sie sich aufs Bett fallen ließ. Immer noch tat ich so, als würde ich nichts mitbekommen, und hielt die Augen tapfer geschlossen. »Willst du nicht wissen, wo ich war?«, bohrte sie weiter. Anscheinend hatte sie mich durchschaut, oder aber sie sprach auch gerne mit Schlafenden. Wie auch immer, jetzt hatte sie es geschafft. Ich machte die Augen auf und funkelte sie wütend an. »Nein, will ich nicht.« Sie tat so, als hätte sie gar nicht verstanden, was ich gesagt hatte. »Ich hab das Zeitgefühl vollkommen verloren… Ich sollte ab jetzt wohl besser immer eine - 37 -
Uhr mitnehmen. Ab er als der Anruf kam, hätte ich nie gedacht, dass es so spät werden würde…Ja… das war vielleicht eine Nacht heute.« Sie blickte mich herausfordernd an. »Du willst wirklich nicht wissen wo ich war?« Wütend setzte ich mich auf. »Nein, ich will nicht wissen, wo du warst!«, rief ich. »Und ich will auch nicht wissen, was du gemacht hast oder mit wem du es gemacht hast.« Ich funkelte sie so böse an, wie ich um diese Uhrzeit nur konnte. »Doyle hat gefragt, wo du bist, und ich musste für dich lügen. Ich hab ihm weisgemacht, du hättest einen Notfall in der Familie. Und was mich angeht, war das auch so. Du warst bei deiner Familie. Und in Zukunft will ich auch nichts davon wissen oder damit zu tun haben, was du heute gemacht hast oder mit wem du es gemacht hast. Also lass mich damit in Ruhe. Und jetzt geh schlafen.« Einen Moment lang sah sie mich mit offenem Mund an. Doch dann entschied sie sich dafür, noch einen letzten Versuch zu starten und mich neugierig zu machen. »Aber ich rieche nach Pfeifentabak«, flötete sie. Gequält steckte ich meinen Kopf unter das Kissen, in der Hoffnung, endlich von weiteren Bekenntnissen verschont zu bleiben. Was mir auch gelang. Dennoch: Während ich einen ziemlich doofen Abend und eine wirklich anstrengende Nacht hatte, erlebte Mom eine deutlich vergnüglichere Zeit: Sie traf sich mit Jason. Die beiden hatten sich als viel versprechenden Auftakt einen Film im Kino angesehen, und Mom hatte die ganze Zeit hindurch ununterbrochen geplappert. »Wie kann man denn während des ganzen Films ununterbrochen reden?«, wollte Jason wissen. Sie hatten sich nach dem Film dafür entschieden, zu Jason zu gehen, und beide waren ein bisschen nervös. »Naja, es ist ja nichts Aufregendes passiert«, entschuldigte sich Mom. - 38 -
»Da lief ein ganzer Film!«, rief Jason. »Das ist passiert. Da waren Menschen in Kostümen und Pferde. Hast du die gesehen?« »Klar habe ich die gesehen«, entgegnete Mom entrüstet, »aber die Pferde hatten keine Sprechrollen.« Jason gab sich geschlagen. »Möchtest du einen Wein?«, wechselte er das Thema. »Hm, ich weiß nicht. Du machst meine Kinogewohnheiten madig«, zögerte Mom. Sie stützte sich auf den frei stehenden ultraschicken Herd und sandte verführerische Blicke in Richtung Wohnungsbesitzer. »Ich mache sie nicht madig«, antwortete Jason und holte eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank. »Es ist nur leider so, dass der Riese mit dem MuscleShirt in der Reihe vor uns mit mir rausgehen wollte, um dort deine Gewohnheiten zu diskutieren. Und wenn ich seiner charmanten Einladung gefolgt wäre«, er goss die Gläser ein und reichte eines davon Mom, »würde ich jetzt wahrscheinlich im Streckverband liegen.« »Oh, bitte. Der hätte dich doch nie in die Finger bekommen. Du bist doch sportlich«, machte ihm Mom Komplimente und blickte sich um. »Also, das ist deine Bude.« Sie hatte bereits ihre Jacke ausgezogen und sah in ihrem dunkelroten, engen Satinkleid mit Stehkragen und raffiniertem Blickschlitz am Dekolletee einfach umwerfend aus. Mom nahm einen Schluck von ihrem Wein und ließ ihre Blicke in der ziemlich coolen Wohnung schweifen. »Hm, interessant«, räusperte sie sich nach ein paar Sekunden, während sie weiter die Wohnung unter die Lupe nahm. »Sehr, sehr interessant.« »Und«, fragte Jason gespannt und ging hinter Mom her, »wie lautet das Urteil?« Er hatte Mom die ganze Zeit über bewundernd beobachtet. »Du bist keiner, der auf Kitsch steht«, gab Mom ihre - 39 -
erste Stellungnahme ab, und tatsächlich: Von Kitsch fehlte in Jasons Wohnung jede Spur. Es war eine echte Designerwohnung, und es gab kaum Farben außer Weiß, Creme und Schwarz. Der Küchenbereich und der Wohnbereich waren beide in einem riesigen Raum untergebracht, die Möbel waren sachlich, elegant und sehr modern. An einer Wandseite standen ein paar Dekorationsobjekte, alte, vermutlich antike Vasen mit chinesischen Schriftzeichen. Entweder hatte Jason einen verdammt guten und erlesenen Geschmack, oder er hatte einen klasse Einrichtungsberater engagiert. Das Ergebnis jedenfalls konnte sich sehen lassen. »Ja, ich sammle nicht gern irgendwelche Sachen, für die es keinen Verwendungszweck gibt«, antwortete Jason. »Aber der Zweck von kitschigen Sachen ist der, einen glücklich zu machen«, wandte Mom ein. »Sie bringen einen zum Lachen. Eine Wohnung wirkt dadurch fröhlich und bunt.« Mom hörte sich an wie die Werbestimme für »Fensterbilder: aktuell und preiswert«. »Also, ich lade einmal pro Woche einen Clown ein, damit die Wohnung fröhlich und bunt wirkt.« Okay, dieser Punkt ging an Jason. Er gefiel Mom immer besser, auch weil er seit langem wieder der erste Mann war, der auch mal sie zum Lachen bringen konnte. »Sagtest du nicht, du hast einen Hund?«, wollte Mom nun wissen. »Ja, genau«, antwortete Jason. »Da drüben.« Er wies auf die Wand gegenüber des schicken Ledersofas. »Oh«, machte Mom, als sie den kleinen Hund entdeckte. »Er ist süß«, sie beugte sich zu ihm, »und so still.« Auf den ersten Blick war es unmöglich zu erkennen, ob er echt war oder ein Imitat. Weder machte er einen Mucks noch regte er sich auch nur einen Millimeter. Fast schien es, als würde er die Luft - 40 -
anhalten, und Mom war versucht, ihm einen Spiegel vor die Schnauze zu halten, um zu sehen, ob er beschlagen würde – ganz so, wie man es aus Krimiserien im Fernsehen kennt. Erst beim zweiten Hinsehen erkannte man, dass es sich bei dem Hund tatsächlich um ein lebendes Geschöpf handelte. »Wie heißt er?« »Cyrus.« »Cyrus, klar.« Mom kicherte und nickte zustimmend. »Das ist der perfekte Name für einen Hund. Cyrus. Hi, Cyrus…« Sie beugte sich zu ihm hinab. »Atmet er wirklich?« »Ja!« Jason sah Cyrus liebevoll an. »Er wurde von tibetanischen Mönchen aufgezogen.« »Oh, wow!« Mom tat beeindruckt. »Er ist unglaublich gut dressiert«, fuhr Jason fort. »Innerhalb einer Stunde war er stubenrein. Bei Lieferanten bellt er höchstens zweimal, bei allen anderen dreimal, aber das Beste an ihm ist: Er hört nicht auf die üblichen Kommandos wie >Sitz< und >Platz< und so was. Ich hab ihm welche beigebracht, die nur er kennt.« Okay, Jason gab gerade ein bisschen an, aber das auf eine sehr charmante Art und Weise. Mom war jedenfalls ziemlich begeistert. »Was meinst du damit?«, fragte sie. Jason überlegte kurz. »Wie, ahm >Ein Stück nach links<.« »Nein, das glaub ich nicht!« Mom lachte und setzte sich auf die Couch. »Cyrus?« Jason nahm Blickkontakt mit seinem Hund auf. »Ein Stück nach links.« Cyrus erhob sich und rutschte – ein Stück nach links. »Wozu soll das gut sein?«, lachte Mom. »Das fasse ich nicht.« »Wozu soll so was wie >Sitz< gut sein?«, konterte Jason. Er hatte mittlerweile neben Mom auf dem Sofa Platz genommen und den Arm um sie gelegt. »Wenn er >Sitz< macht, kriegt er Hundekuchen«, - 41 -
antwortete Mom. Sie genoss sichtlich die Nähe von Jason und lehnte sich leicht an ihn. »Gut, aber wenn er ein Stück nach links rüberrutscht, hat er die Befriedigung, etwas getan zu haben, ohne um einen Knochen betteln zu müssen.« »Kann er sich auch ein Stück nach rechts bewegen?«, fragte Mom. »Nein, noch nicht. Bisher rutscht er so lange nach links, bis er gegen die Wand stößt, und dann dreh ich ihn um.« »Du und dein Hund, ihr seid extrem witzig«, honorierte Mom Jason und Cyrus, dann blickte sie Jason in die Augen und küsste ihn zärtlich auf die Lippen. »Danke«, flüsterte Jason, während er ihren Kuss erwiderte. »Ich bin nicht sicher, ob wir für Cyrus ein gutes Beispiel abgeben.« Mom blickte Jason zweifelnd an. »Oh, du hast, glaube ich, Recht«, er räusperte sich und richtete sich auf. »Cyrus!« Jason machte mit der rechten Hand eine Kreisbewegung, woraufhin sich Cyrus gehorsam einmal um die eigene Achse drehte und seinen Blick auf die Wand richtete. »Okay… Das war leicht zu verstehen«, kicherte Mom. Doch dann war Cyrus vergessen. Alles war vergessen, und das Einzige, was zählte, waren Jason und sie. Eine ganze Weile später – Jason und Mom hatten längst das Zimmer gewechselt – räkelte sich Mom glücklich lächelnd in Jasons Bett. »Hey, fliegt hier irgendwo ‘ne Cosmopolitan rum? Ich möchte wissen, wie viele Kalorien ich gerade verbraucht habe.« Moms Augen blitzten übermütig. »Ich hab nachgesehen… fünfundfünfzig«, antwortete Jason trocken. »Oh, nein«, schmeichelte Mom. »Das waren viel mehr als funfundfünfzig! Ich weiß, wobei ich fünfundfünfzig Kalorien verbrauche. Das kommt nicht an das hier ran…« - 42 -
Jason ging nicht wirklich auf ihre Späße ein. Irgendwie wirkte er auf einmal ziemlich ernst. »Ist dir kalt? Dann heiz ich ein bisschen.« Er war wirklich fürsorglich. Komisch dabei war nur, dass er so unschlüssig in seinen edlen Morgenmantel gehüllt am Fußende des Bettes stand. »Oh, bitte, jetzt musst du dich nicht mehr anstrengen«, lachte Mom und sah ihn einladend an. »Ich werde heute extrem glücklich einschlafen, das weiß ich.« Sie stockte, denn sie merkte, dass Jason irgendwas loswerden wollte. Er stand immer noch vor dem Bett und hatte die Hände in den Taschen vergraben. »Hast du vor, mir hier demnächst vielleicht Gesellschaft zu leisten?« Mom blickte ihn fragend an. »Dir Gesellschaft zu leisten…«, wiederholte Jason und stockte. Dann räusperte er sich und holte tief Luft. »Ah, na schön. Halt dir bitte vor Augen: Du magst es, dass ich kleine Marotten habe. Sie machen mich zu dem, der ich bin.« Mom sah ihn forschend an. »Du sagst jetzt nicht, dass du mein Kleid anziehen möchtest, oder?« »Nein.« Jason lachte kurz auf, wurde aber gleich darauf wieder ernst. »Ich wollte fragen, ob es dir was ausmacht, im Gästezimmer zu schlafen?« Mom sog tief die Luft ein und blickte ihn irritiert an. »Ich weiß nicht«, antwortete sie, und mit einem Mal klang ihre Stimme unendlich traurig. »Das hätte ich jetzt wirklich nicht gedacht.« Sie kramte nach ihrem roten Kleid, das zerknäult irgendwo unter der Bettdecke lag. Sie hatte sich schon seit langer Zeit nicht mehr so gedemütigt gefühlt. Doch Jason lag nichts ferner, als Mom zu kränken. Der einzige Grund für ihn waren seine schlimmen Schlafprobleme. Und wenn er dann endlich einmal eingeschlafen war, dann hatte er einen extrem leichten Schlaf. So kam es, dass er sich oft nächtelang von einer Seite auf die andere wälzte. Das war schon - 43 -
so, seit er denken konnte. Und wenn er dann auch noch mit jemandem, besser gesagt mit einer Frau das Bett teilen sollte, war an Schlaf überhaupt nicht mehr zu denken. Aber Macken hin, Spleens her, seine Bitte erschien Mom doch reichlich seltsam. Und ziemlich beleidigend. »Ist das dein Ernst? Ich soll rüber ins Gästezimmer?« Mom hatte ihr Kleid mittlerweile gefunden und zog die Ärmel gerade. »Das ist ein wirklich sehr schönes Zimmer«, stammelte Jason, doch er stieß auf taube Ohren. »Es ist, glaube ich, besser, wenn ich gehe.« Mom war schon teilweise in ihr Kleid geschlüpft, ihre eben noch rosigen Bäckchen waren ganz blass geworden. »Oh, nein, nein, nein. Nein, bitte«, rief Jason verzweifelt. »Ich möchte, dass du bleibst. Ich will dich morgen früh sehen. Dir das Frühstück machen. Ich möchte, dass du hier bist, wenn ich aufwache. Ahm…Also, na ja, nicht hier, sondern da. Aber…« Hilflos blickte er zwischen Gästezimmer und Mom hin und her. »Weißt du, Jason, du musst dir nicht so viele Umstände machen, um mich loszuwerden. Ich bin erwachsen, ich halte die Wahrheit aus.« »Aber ich will dich nicht loswerden! Das ist die Wahrheit.« Jasons Stimme ließ Mom bei ihren Versuchen, in das rote, enge Kleid zu schlüpfen, ohne Jason einen Anblick auf ihre Körper zu bieten, innehalten. Irgendwie klang er tatsächlich so, als würde er es ernst meinen. »Bitte. Sieh dir das Zimmer wenigstens an«, bat er. »Ganz kurz. Ein Blick. Von mir aus musst du nicht mal beide Augen öffnen.« Eindringlich sah er sie an, und Mom gab sich geschlagen. »Okay, ein Blick.« Sie machte ein missmutiges Gesicht. »Mehr verlange ich nicht«, rief Jason erleichtert. Höchstens noch, dass du möglichst langsam vom Bett - 44 -
aufstehst.« »Lass das! Hör auf, mit mir zu flirten. Das kommt mir gerade sehr merkwürdig vor!«, zischte Mom ihn immer noch sauer an. Als sie in den Bademantel geschlüpft war, den ihr Jason gereicht hatte, ließ sie sich von ihm widerstrebend in das Gästezimmer führen, doch was sie dort sah, übertraf ihre Erwartungen. Waren Küche, Wohn- und Schlafzimmer schon ziemlich gut gewesen, so war das Gästezimmer auf jeden Fall Marke deluxe. Es war wirklich sehr schön, sehr geschmackvoll und sehr einladend. Das große Bett stand mitten im Raum, und alles sah so edel und ausgesucht aus, dass sogar die Prinzessin auf der Erbse höchstselbst das Angebot, hier die Nacht zu verbringen, nicht ausgeschlagen hätte. Doch Mom tat cool. »Ist okay.« Sie lehnte im Türrahmen und zog weiterhin tapfer eine Schnute. »Du findest hier Hunderte großartiger Bücher«, schwärmte Jason. »Klassiker wie die Sturmhöhe, bis hin zu echten Klassikern wie Das Tal der Puppen.« Jason ließ seinen ganzen Charme sprühen. Er wollte Mom auf jeden Fall überzeugen. »Es gibt sogar eine Minibar«, fuhr er eifrig fort. »Limonade, kleine Schnapsflaschen. Ein wirklich erstklassiger CD-Player ist auch vorhanden. Da ist eine CD-Sammlung. Darüber eine DVD-Sammlung.« Er deutete auf eine Ecke des Raumes. »DVDs, aber kein Fernseher?«, fragte Mom schnippisch, denn sie hatte in dem Zimmer tatsächlich noch nichts entdeckt, woraus man schließen konnte, dass die Möglichkeit bestand, die tolle DVD-Sammlung auch ansehen zu können. Das war Jasons Einsatz. Darauf hatte er nur gewartet. Mit einer lässigen Armbewegung griff er sich eine Fernbedienung, drückte eine Taste und siehe da: Aus einem Designer-Podest vor dem Bett schob sich langsam ein Flachbildschirm heraus. »Komm schon, - 45 -
das ist cool«, machte Jason und blickte Mom begeistert an. »Okay. Schön… das ist cool«, Mom gab sich geschlagen und nickte bewundernd. »Das Zimmer ist gut.« »Es ist besser als gut. Ich wäre davon begeistert.« »Du weißt, dass du es haben könntest, oder?«, stichelte Mom. »Ach, ich darf in meinem Zimmer keine Ablenkungen haben, sonst kann ich nicht schlafen.« »Wirklich?« Ganz sicher war Mom immer noch nicht, dass ihr Jason tatsächlich die Wahrheit sagte. »Ja, leider. Weder fernsehen noch Bettlektüre. Nicht mal eine so hinreißende Frau.« »Also, du hättest mich ruhig vor dem Fernseher nennen können«, schmollte Mom. »Das ist ‘n Plasmagerät.« »Oh, na schön.« »Also, was sagst du?« »Naja…« »Im Badezimmer findest du alles, was du brauchst.« Jason versuchte, sie mit allen Mitteln zu ködern. Doch Mom gab sich noch ein bisschen zögernd. »Jason, glaub mir bitte, es ist nicht so schlimm, wenn ich jetzt wieder gehe.« »Es wäre sehr schlimm, wirklich. Für mich. Bitte, schlaf hier.« Er sah sie treuherzig an, mit einem Blick, bei dem Mom einfach nicht widerstehen konnte. »Okay.« »Ja?« Jason sah tatsächlich so aus, als wäre ihm grade ein Riesenstein vom Herzen gefallen. »Ja! Freak!« Mom funkelte ihn noch einmal an. »Danke! Sogar für den Freak, danke.« Er küsste sie zärtlich und verschwand dann in Richtung seines Zimmers. Vom Flur aus rief er ihr noch zu, wo sie den LoofaSchwamm und die Kosmetik-Artikel finden könnte, dann wünschte er ihr eine gute Nacht. - 46 -
»Gute Nacht«, rief Mom zurück und blickte sich etwas unschlüssig in ihrem Gästezimmer um. Sie entschied sich dafür, erst einmal die Matratze zu testen – doch sobald sie im Bett lag, wollte sie nicht mehr aufstehen. Sie kuschelte sich in die Kissen, stellte den Fernseher an und ertappte sich dabei, wie sie es auf einmal sogar sehr schön fand. Allein in ihrem Riesenbett, mit Fernbedienung in der Hand und der Minibar daneben. Als sie sich ein letztes Mal in ihrem Gästezimmer deluxe umsah, strahlten ihre Augen, und ein glückliches Lächeln hatte sich auf ihre Lippen gelegt.
- 47 -
3 Als sie am nächsten Morgen in die Küche kam, stand Jason schon am Herd und machte Rühreier mit Speck. »Hi, Cyrus«, grüßte Mom zuerst den tibetanischen Hund, der sie jedoch mit keiner Regung wissen ließ, ob er sie überhaupt bemerkt hatte. Dann beugte sie sich über die Pfanne, der ein köstlicher Duft entströmte und die gesamte Wohnung erfüllte. »Gut geschlafen?«, wollte Jason wissen. »Als die Daily-Show zu Ende war, habe ich so gut geschlafen wie noch nie. Dann bin ich aufgewacht, habe mir Ich glaub, ich steh im Wald angesehen und dann im Whirlpool ein Vanille-Schaumbad eingelassen.« »Ah, daher kommt der glückliche Gesichtsausdruck. Ich dachte, der käme vom Sex mit mir.« »Nein, das ist vom Whirlpool.« Sie legte Jason die Arme um die Schultern. »Hey, können wir kommende Nacht wieder getrennt schlafen?«, fragte sie ihn, während sie sich eine Tasse Kaffee genommen hatte. »Klar, unbedingt.« Jason freute sich sichtlich, dass das Gästezimmer anscheinend doch noch einen guten Anklang gefunden hatte. Er verteilte das Rührei und den Speck auf zwei Teller, streute noch etwas Käse darüber und trug dann alles zum Tisch, auf dem sich schon Brötchen und Orangensaft türmten. »Wow.Was du alles auffährst.« Mom staunte. »Tja, ich versuche dich zu beeindrucken«, gab Jason zu. »Glaub mir, wenn du erst mal verrückt nach mir bist, gibt’s nur noch Cornflakes und Bier.« Mom lächelte. Der Tisch sah umwerfend aus. Jason verblüffte sie tatsächlich immer mehr. »Das ist wundervoll.« Ihre Augen hatten wieder diesen ganz besonderen Glanz angenommen. Diesen Glanz, der Männerherzen höher schlagen ließ… - 48 -
»Du bist wundervoll.« Jason gab ihr einen Kuss und kündigte dann an: »Morgen mache ich Pfannkuchen.« Mom fand, dass jetzt der richtige Augenblick war, um ein Thema anzuschneiden, das ihr von Anfang an Kopfzerbrechen bereitet hatte. Es fing mit »E« an und hörte mit »D« auf. Die Rede war von Emily und Richard. »Hör mal, wir sollten besprechen, was wir jetzt tun«, fing sie an. »Wobei?« »Ich meine, du weißt schon, was wir, ahm, äh…. anderen über uns beide erzählen.« »Hm, wie war’s mit: >Ja! Juhu« Jason war wirklich süß, aber offenbar verstand er sie nicht ganz… Sie musste deutlicher werden. »Nein. Vor allen Dingen will ich wissen, was wir meinen Eltern erzählen wollen.« »Oh, ich dachte, wir verkünden, dass wir des Öfteren außerehelich sexuell miteinander verkehren, während draußen katholische Schulkinder vorbeigehen.« Jason blickte Mom grinsend an, merkte aber, dass es ihr wirklich ernst war. »Also, wir sagen einfach, dass wir uns nett finden und treffen.« »Nichts ist einfach, was mit meinen Eltern zu tun hat«, erklärte Mom mit eindringlicher Stimme. Sie wusste ja, dass es schwierig war, einem Dritten das Verhältnis zwischen ihr und ihren Eltern zu erklären, aber auch wenn sie es selbst nicht richtig erklären konnte, so wollte sie doch auf jeden Fall, dass Jason es akzeptierte. »Okay, was schlägst du denn vor?«, wollte Jason wissen. »Ich würde gern nichts sagen«, antwortete Mom zögerlich. »Weißt du, das alles ist eben irgendwie merkwürdig. Du bist der Partner meines Vaters, das wird ihm nicht gefallen…« Sie wollte Jason nicht weh tun und ihm die Meinung ihrer Mutter über ihn erzählen. »Bitte Jason. Irgendwann erzählen wir es ihm vielleicht. Versprochen. Nur jetzt noch nicht.« Sie - 49 -
blickte ihn mit großen Augen an, und diesem Blick konnte kein Mann widerstehen. Auch Jason nicht. »Tja, okay… Es sind deine Eltern. Und wenn dir das so wichtig ist, dann warten wir«, gab er sich geschlagen. Aber man merkte ihm an, dass er darüber nicht wirklich glücklich war. Mom atmete auf, aber sie ahnte in diesem Moment noch nicht, was für Konsequenzen diese Heimlichtuerei mit sich bringen würde. Am nächsten Freitag waren wir wieder einmal bei Grandma und Grandpa zum Abendessen eingeladen. Eigentlich war es überhaupt nicht meine Art, viele Gedanken an mein Outfit zu verschwenden. Das hatte mich zwar schon ein paar Mal in ziemlich peinliche Situationen gebracht, aber irgendwie machte ich mir einfach nicht so viel draus. Nur am Freitag suchte ich mit Bedacht nach passenden Klamotten, was eindeutig am Haus oder besser gesagt am Anwesen meiner Großeltern lag. Zwischen all der Eleganz fühlte man sich irgendwie seltsam in Jeans und Pulli… Heute hatte ich ein wirklich hübsches braunes Spitzenshirt an, dass genau dieselbe Farbe hatte wie meine Haare. Es war schon kurz nach 19:00 Uhr, und als Mom immer noch nicht aufgetaucht war, bestimmte Grandma, dass wir mit dem Essen nicht länger auf sie warten würden, dass Mom selbst Schuld wäre, wenn sie nur noch matschiges Gemüse vorfände, und dass wir uns ins Esszimmer bewegen sollten. Ich fand das zwar alles wieder einmal etwas übertrieben und fragte mich, was Grandma eigentlich davon hatte, dass sie laufend an meiner Mom herummeckerte – aber ungleich mehr trieb mich doch die Frage um, warum das Esszimmer, wie Exponate in einem kulturgeschichtlichen Museum, durch eine rote, dicke Kordel vom großen Salon abgeteilt war, und warum sich genau dort so viele fremde Menschen aufhielten, die immer mal wieder einen Blick zu uns - 50 -
warfen. Irgendwann begriff ich, dass um uns herum gerade eine Führung stattfand, doch ich kam nicht dazu, weitere Fragen zu stellen, denn es klingelte erneut an der Tür. Ich hoffte, dass es statt weiterer Kulturinteressierter meine Mom sein würde, und ich hatte Glück. Mom übrigens auch, denn beinahe hätte sie das Hausmädchen mangels Eintrittskarte wieder weggeschickt. Erst als Grandma hinzueilte und erklärte, dass ihre Tochter auch ohne Eintrittskarte Zutritt hätte, durfte sie eintreten. Mom sah wieder einmal bezaubernd aus. Sie trug ein weißes, enges, knielanges Kleid mit bordeauxfarbenem Blumenmuster – und ich fühlte mich mit meinem dunkelbraunen Spitzenblüschen auf einmal ziemlich farblos und bieder. »Mom, was ist hier los?«, wollte Mom gleich von Grandma wissen, nachdem sie sich zu uns gesetzt hatte. »Wir haben der historischen Gesellschaft erlaubt, für einen guten Zweck eine Führung durch unser Haus zu arrangieren. Das mach ich nie wieder.« Grandma klang genervt, und Grandpa konnte ihr nur beipflichten. Während wir aßen, linsten immer wieder historisch interessierte Besucher zu uns ins Esszimmer, und eine Frau rief begeistert ihrem Mann zu: »Nicht zu fassen, da sitzen sogar Schauspieler, die die Familie darstellen. Großartig.« »Wir sind keine Schauspieler«, schrie Grandpa. »Wir wohnen hier.« Grandma machte gute Miene zum bösen Spiel. »Jetzt achte nicht auf sie und gib mir die Karotten.« Grandpa schüttelte den Kopf. »Das ist doch Irrsinn. Ich komme mir vor wie im Zoo.« Von nebenan schallte die Stimme der Führerin zu uns: »Das Haus wurde 1906 von Stanford White gebaut.« »Jetzt reicht’s!« Grandpa sprang auf. »Das Haus - 51 -
wurde 1907 gebaut. Von einem Schüler von Stanford White!« Dann wandte er sich erbost an Grandma: »Wenn du wieder mal etwas veranstalten willst, dann mieten wir einen Saal und machen das professionell. Wie gestern Abend die Fibromyalgie-Gala. So sammelt man Spenden für einen guten Zweck.« »Ihr wart gestern auf einer Veranstaltung, heute ist hier eine…« Mom tat beeindruckt. »Ja, gestern Abend waren wir aber selbst bloß Gäste«, erklärte Grandma. »War es schön?«, wollte ich wissen. »Ziemlich nett«, antworte Grandma leicht versnobt. Oh, meine Grandma! Sie konnte wirklich eine Nervensäge sein. Aber während sie zu allen anderen und besonders zu Mom wirklich unglaublich anstrengend und auch ziemlich ungerecht sein konnte, war sie zu mir immer sehr lieb und für ihre Verhältnisse regelrecht verständnisvoll. »Es war nicht hier. Es war perfekt«, ergänzte Grandpa ihre Ausführungen zum gestrigen Abend polternd, und seine rote Fliege erzitterte ein wenig. »Aber das Essen war grauenhaft!«, stöhnte Grandma. »Dass es immer noch Mode sein soll, Paella zu servieren, ist mir unbegreiflich. Trotzdem, der Festsaal sah zauberhaft aus, die Musik war sehr gut und die Gästeliste ebenfalls. Reizende Menschen. Bis auf…« »Emily!« Grandpa blickte seine Gattin vorwurfsvoll an. Anscheinend wusste er bereits, was nun kommen würde. Mom und ich sahen uns gespannt über den Tisch hinweg an. Grandma ließ sich nicht aus dem Konzept bringen und fuhr unbeirrt fort. »Hätte es der Frau weh getan, vorher Unterwäsche zu kaufen?«, wollte sie mit Unschuldsmiene wissen. »Sie war ein sehr nettes Mädchen!«, verteidigte sie Grandpa. Er hatte nun mal ein Herz für junge Frauen. - 52 -
»Mich würde zwar keine Doktorarbeit von ihr interessieren… aber sie war charmant und eine gute Tänzerin!« »Wer?«, fragte ich dazwischen, denn die Geschichte hatte mich neugierig gemacht. Allerdings nicht so neugierig wie Mom. »Ja, wer war das dumme Flittchen ohne Unterwäsche?«, rief sie gut gelaunt – was ihr wieder einmal einen strafenden Blick von ihrer Mutter einbrachte. »Jasons Anhang«, antwortete Grandma. Der Satz legte sich über Moms gute Laune wie flüssiger Zement über eine Blumenwiese. »Jason war mit einer Frau da?« Sie hatte Mühe, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen. »Und die ganze Zeit über musste ich neben ihr sitzen«, stöhnte Grandma, die nicht wusste, dass sie mit jedem weiteren Satz Salz in die Wunde streute. »Es war sehr aufschlussreich. Jetzt weiß ich genau, wo ich hin muss, um mir Acrylnägel modellieren zu lassen.« »Deine Mutter tut vornehm«, hob Grandpa die Augenbrauen, »trotzdem muss man zugeben, dass sie sehr hübsch war.« Anscheinend hatte es ihm Jasons Acryl-Gespielin angetan, denn er machte einen entschlossenen Eindruck, sie zu verteidigen. Auch er war völlig ahnungslos, was seine Worte bei Mom anrichteten. Sie warf mir über den Tisch einen Blick zu, der Bände sprach, dann fragte sie: »Ach, war sie das?« »Für Jason war sie perfekt. Das gestehe ich ihr zu«, stichelte Grandma viel sagend. »Also, wie hübsch war sie denn? Eher wie Catherine Zeta-Jones oder wie eine von den Hilton-Schwestern?« Mom ließ nicht locker. Jetzt, wo ihr die Laune sowieso schon verhagelt war, wollte sie auch alles wissen. Alles. »Sie sah genau wie eine Frau aus, die sich wegen - 53 -
des Geldes an so unreife Hochstapler ranmacht wie Jason.« »Soll das heißen, sie sah billig aus?«, forschte Mom nach. »Ja«, meinte Grandma. »Nein«, antwortete Grandpa. »Und mit dieser Frau meint er es ernst?« Mom konnte gar nicht genug erfahren. »Oh, wer weiß. Sie sah wie die perfekte erste Ehefrau für ihn aus.« Grandma ließ wirklich kein gutes Haar an Jason. Der restliche Abend verlief – man kann es sich leicht vorstellen – nicht wirklich ausgelassen. Mom war einfach nicht mehr in Champagnerlaune, und Grandpa war genervt von einem deutlich in die Jahre gekommenen älteren Herrn, der es sich einfach nicht nehmen lassen wollte, auf dem teuren alten Flügel Akkorde anzustimmen. Ich selbst war bedrückt, weil Mom so bedrückt war und weil ich so eine Riesenwut auf Jason Stiles hatte, dass ich ihm und seiner AcrylGefährtin zwar nicht wirklich was Schlechtes, aber ganz bestimmt auch nichts Gutes wünschte. Also zum Beispiel eine langweilige Hochzeitsparty und eine sündhaft teure Scheidung… und Grandma war so wie immer. Sie war einfach nie das, was man eine Stimmungskanone nennen konnte. Wir blieben nach dem Essen nicht mehr allzu lange, unterhielten uns noch ein bisschen über Belanglosigkeiten und verabschiedeten uns dann zügig. Mom tat mir wirklich Leid. Für sie war der ganze Abend sicher am allerschlimmsten. Furchtbar genug, was sie über Jason erfahren hatte – aber hinzu kam ja noch, dass sie noch nicht einmal ihrem Ärger freien Lauf lassen konnte. Da Grandma und Grandpa nichts von der Affäre wussten, musste sie Haltung bewahren… Aber irgendwie überstand Mom den Abend. Am nächsten Tag wurde sie erst mal von ihren - 54 -
Gedanken über sie und Jason und Miss Acryl-Nagel abgelenkt. Sie traf sich mit Sookie und Michel auf der Baustelle des Dragonfly Inn um vor Ort zu entscheiden, wie das Erdgeschoss, in dem sich neben der Rezeption auch noch der Eingangsbereich und Michels Büro befinden würde, am besten eingeteilt werden könnte. »Wissen Sie, wir müssen den Empfangsbereich nicht dort drüben einrichten.« Mom stand zwischen Michel und Sookie, vor ihr lagen Baupläne. »Ich möchte nur wissen, wo mein Büro geplant ist«, warf Michel ein. »Fonzie hatte sein Büro im Badezimmer«, kicherte Mom. »Ja, was sagen Sie?«, stieg Sookie ein. »Was gut genug für Fonzie ist, ist doch auch gut genug für Sie?« Doch Michel verstand keinen Spaß, wenn es um seine Wirkungsstätte ging. »Fonzie hat das Badezimmerbüro nur vorübergehend genutzt. Und auch nie für die Abwicklung von Geschäften mit Kunden«, erklärte Michel. »Dafür durfte er ein Privatbüro in einer Autowerkstatt benutzen. Und als er als Vertretungslehrer in der Abendschule unterrichtete, hatte er Zugang zum Lehrerzimmer.« »Oh, mein Gott«, beteuerte Mom. »Sie nehmen das mit Fonzie entschieden zu ernst.« Die drei zukünftigen Arbeitskräfte des Dragonfly Inn beugten sich wieder über die Pläne und waren so darin vertieft, dass sie gar nicht bemerkten, dass hinter ihnen jemand aufgetaucht war. Es war Jason. »Lorelai, störe ich?« »Oh, hey, was machst du denn hier?« Mom hatte sich erschrocken umgedreht und sah ihn an. Sie hatte sich in den vergangenen Stunden so oft vorgestellt, was sie ihm alles an den Kopf werfen würde, wenn er es wagen sollte, noch einmal in ihrer Nähe aufzutauchen, aber jetzt, wo er da war und seine Miene alles, aber kein Anzeichen von schlechtem - 55 -
Gewissen ausstrahlte, wusste sie nicht so recht, wie sie reagieren sollte. »Ich bin auf dem Weg nach New York, aber ich wollte endlich mal dein Hotel besichtigen.« »Oh, na ja, sicher.« Moms Stimme war deutlich anzuhören, dass sie alles andere als begeistert über Jasons plötzlichen Besuch war, sodass Sookie sich dazu veranlasst sah, die Situation zu entkrampfen. »Hallo, ich bin Sookie«, sagte sie und reichte Jason die Hand. »Ahm, Sookie ist meine Partnerin«, stellte Mom nun auch Sookie vor. »Tag, Sookie, ich bin Jason Stiles.« »Ja, so sehen Sie auch aus.« Oh, Mann, manchmal machte Sookie aber auch nicht die klügsten Kommentare, dachte Mom. Doch sie kam nicht weiter zum Nachdenken, denn schon streckte auch Michel seine Hand aus. »Michel Gerard«, stellte er sich Jason vor und lächelte überaus verbindlich. Anscheinend stand Michel auf Männer wie Jason: dunkelhaarig, gut aussehend, gut angezogen. »Ahm, Michel ist der Geschäftsführer des Dragonfly Irin.« Mom machte eine Handbewegung zu Michel. »Freut mich, Sie kennen zu lernen.« Jason verhielt sich wirklich vorbildlich! Wenn er sich nur immer so vorbildlich verhalten würde!, schoss es Mom durch den Kopf, und der Stachel der Eifersucht fing wieder an zu schmerzen. »Okay, dann, ahm, führe ich Jason mal ein bisschen herum.« Mom merkte, dass sie mit ihm reden musste. Jetzt. Sie war nicht der Typ Frau, der eine Aussprache lange vor sich herschieben konnte. Sie wollte die Sache jetzt klären und wandte sich deshalb an Jason. »Komm mit.« »Deine Freunde sind sehr nett«, begann Jason verbindlich. Er merkte zwar, dass irgendwas nicht ganz stimmte, dachte aber, dass es Mom vielleicht - 56 -
unangenehm gewesen war, dass er einfach so auf der Baustelle aufgetaucht war, weil sie doch ihre Beziehung geheim halten wollte. »Ja, sie sind wunderbar«, antwortete Mom kurz angebunden. »Und, was denken sie, wer ich bin? Wissen sie, dass wir zusammen sind? Oder halten sie mich für einen Hutmacher?«, hakte er nach. »Sie wissen, wer du bist.« Moms Tonfall war nicht sehr freundlich. Jason blickte sich um. »Das ist wirklich sehr schön hier«, meinte er, nachdem er seinen Blick über den Garten und das alte Haus hatte schweifen lassen. Es war bitterkalt, und eine dünne Schicht Raureif lag auf allem. Natürlich nicht auf Mom, in ihr kochte die Wut. »Ach, ja, findest du?«, meinte sie schnippisch. »Allerdings.« »Gut. Sehr gut.« »Ahm, du, du bist anscheinend beschäftigt. Komm ich irgendwie ungelegen?« So langsam war Jason etwas verunsichert. So kannte er meine Mom nicht. Eigentlich hatte sie immer einen lockeren Spruch auf den Lippen und hielt nicht viel von Geheimniskrämerei. Doch nun merkte er ganz genau, dass irgendwas nicht stimmte und dass da etwas Größeres sein musste. »Nein, der Zeitpunkt passt genau.« »Ich versteh nicht ganz.« »Ich hab gehört, dass du auf einer Gala warst«, begann Mom und sah ihn forschend an. Sie wollte ihm noch eine Chance geben, sich zu erklären. Aber Fehlanzeige. Jason stellte sich offensichtlich dumm. »Ah, Fibromyalgie. Eine fürchterliche Krankheit.« »Und warst du dort allein?«, forschte sie nach. »Nein, war ich nicht.« So langsam schwante Jason, was los war. »Also warst du in Begleitung dort?« »Ja, richtig.« - 57 -
»Okay, gut, das ist schön. Meine, ahm… Mutter sagte, sie hatte keine Unterwäsche an.« »Emily hatte keine Unterwäsche an?« Jason war ernsthaft überrascht. So hatte er diese Dame gar nicht eingeschätzt – aber ihm war’s egal. Man las ja so viel davon, welch wichtige Rolle Sex gerade auch im Alter zukomme, dass er ihr den Spaß gerne gönnte. »Nein, sie sprach von deiner Begleiterin.« Jason schluckte. Ihm wurde immer klarer, was für ein Problem Mom hatte. »Oh, davon weiß ich nichts. Aber wenn Emily das sagt, will ich ihr nicht unterstellen, dass sie lügt.« Mom hatte keine Lust, sich von Jason vorführen zu lassen. Ungewohnt heftig meinte sie: »Okay. Hey, kennst du schon die Ställe für die Pferde?« »Noch nicht.« »Tja, da sind sie.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und betrachtete Jason mit einem Blick, der eine Mischung aus Wut, Enttäuschung und Kälte beinhaltete und sagte: »So, die Führung ist vorbei. Mehr gibt es noch nicht.« »Willst du mir vielleicht sagen, was dich so ärgert?« Jason hatte einen Schritt auf sie zugemacht und sah sie an. »Wir schlafen miteinander, und du nimmst eine halbnackte Frau mit zu dieser Veranstaltung?« So langsam kehrte wieder Farbe auf Moms Wangen. Sie musste sich wirklich beherrschen, dass sie nicht allzu laut wurde. »Christal ist eine Freundin, und…« »Eine Freundin namens Christal? Wer bist du, Hugh Hefner?«, schrie ihn Mom nun an und war selbst überrascht über ihre Heftigkeit. »Whoa, whoa, ganz sachte. Ich wäre viel lieber mit dir zu dieser Gala gegangen. Glaub mir, Christal ist wirklich reizend. Aber Witze über Kranke sprengt bei weitem den Rahmen ihrer Möglichkeiten.« Jason Stimme wurde zärtlich. »Du hast selbst gesagt, dass - 58 -
deine Eltern auf keinen Fall etwas von uns wissen dürfen. Und da deine Eltern ebenfalls zu dieser Gala gegangen sind, kam es nicht infrage, dich dorthin mitzunehmen.« »Und wieso konntest du nicht allein dorthin?«, fragte Mom vorwurfsvoll. »Man geht zu so etwas nicht allein. Es wird erwartet, dass man zu zweit erscheint.« »Ich hätte es nur gern gewusst, dann hätten mich meine Eltern damit nicht so überraschen können.« »Siehst du, das ist das Problem mit der Geheimniskrämerei. Das funktioniert nicht. Wenn wir es ihnen einfach erzählen, müssen wir diese Unterhaltung nie wieder führen. Lorelai, in meiner Branche werde ich oft zu so etwas eingeladen. Und ich habe auch vor, dort hinzugehen. Und ich will keine anderen Frauen dort mit hinnehmen, aber das muss ich, wenn ich deinem Vater nichts von uns sagen darf. Ich habe nicht das geringste Interesse daran, auch nur eine Sekunde meiner Zeit mit einer anderen Frau zu verbringen als mit dir.« Mom war erleichtert. »Na, schön.« »Also was jetzt? Können wir das beenden und es deinen Eltern erzählen?« »Nein.« »Nein?« »Ich weiß, es ist schwierig, das geheim zu halten«, erklärte Mom. »Aber es ist noch nicht die Zeit, um es ihnen zu sagen. Und wenn das bedeutet, dass ich mich an so etwas wie Christal gewöhnen muss, dann«, sie schluckte tapfer, »dann muss ich das eben tun. Und da du mir erzählt hast, wie du das siehst, ist es in Ordnung, wenn du«, erneut musste Mom schlucken, »Christal zu so etwas mitnimmst.« »Für dich sowieso, weil du nicht mit ihr reden musst«, antwortete Jason. »Damit du das besser verstehst: Es ist, als würde man seinen Kopf gegen eine Wand mit Nägeln schlagen. Sie denkt, - 59 -
Schweinchen Babe kann wirklich sprechen.« Gut, Moms Problem war erst mal gelöst. Als sie mir von dem Gespräch erzählte, freute ich mich für sie, und Jason stieg wieder auf meiner eigenen kleinen Beliebtheitsskala stark in die Höhe. Allerdings fragte ich mich, wie es Mom bei der nächsten Gala gehen würde, wenn statt einer halb nackten Christal vielleicht eine sexy Pamela neben Jason auftauchen würde. Doch das war Zukunftsmusik. Ganz real und im Hier und Jetzt war die vorlesungsfreie Zeit zu Ende. Ich war wieder in Yale und saß gerade in der Einführungsstunde eines neuen Literaturkurses, den ich belegen wollte. Was ich am schwarzen Brett als Ankündigung gelesen hatte, hatte sich ziemlich interessant angehört. Zeitgenössische politische Dichtung war das Thema, und ich hatte gespannt Platz genommen. Ich kam weder dazu festzustellen, ob ich in dem Raum bekannte Gesichter entdeckte, noch bekam ich mit, dass die Tür aufging und der Dozent eintrat, denn eine Kommilitonin neben mir verbreitete einen ziemlichen Wirbel, weil sie ihre Handtasche verloren hatte. Als sie, um diese zu suchen, aus der Klasse stürmte, hörte ich eine Stimme, die mir das Blut in den Adern gefrieren ließ. Okay, das ist etwas übertrieben, aber sie traf mich doch völlig unerwartet, ließ meinen Körper wie nach einen Stromschlag verkrampfen und mich die Luft anhalten. »Ich hab doch noch gar nicht angefangen«, machte die Stimme einen schlechten Witz, als die Studentin rausrannte, und in mir breitete sich die Gewissheit aus, dass die Stimme einem Mann gehörte, von dem ich Dinge wusste, die ich gar nicht wissen wollte: Asher Flemming! Panisch stupste ich einen Kommilitonen an. »Asher Flemming unterrichtet diese Klasse?« »Ja, cool, was?« Nein, uncool, dachte ich und überlegte fieberhaft, wie - 60 -
ich unbemerkt aus diesem Kurs flüchten könnte. Zum Beispiel könnte ich mich unauffällig auf den Boden werfen und wie ein Soldat durch die Stuhlreihen in Richtung Tür robben. Oder ich könnte einen Schwächeanfall vortäuschen und mich raustragen lassen. Danach könnte ich sagen, dass ich den Anschluss verloren hätte und es wenig Sinn machen würde, an dem Seminar weiterhin teilzunehmen. So richtig gut fand ich keine der Ideen, und dann war es auch schon zu spät. Asher Flemming hatte mich bereits entdeckt. »Ah, Rory Gilmore!«, rief er seltsam erfreut. »So trifft man sich wieder.« »Hallo, Professor Flemming«, lächelte ich gequält. »Sie haben sich hier eingetragen?« »Ja, genau.« Und beim nächsten Mal schau ich lieber zehnmal nach, wer den Kurs leitet!, schwor ich mir. »Wunderbar. Freut mich sehr. Obwohl das aber auch ganz natürlich ist, nicht wahr? Immerhin gibt es einen Menschen, der sehr wichtig ist, und zwar für uns beide… Ihr Großvater. Ein guter Mann.« »Ja, Sir, das ist er.« Ich hoffte inständig, dass er bald mit dem albernen Gequatsche aufhören würde. So langsam wurde es mir peinlich. »Also gut. Dann fangen wir mal an«, fuhr er dann auch glücklicherweise fort, und sein Blick galt nicht mehr nur mir allein, sondern dem gesamten Seminar. »Dieser Kurs behandelt zeitgenössische politische Dichtung. Ich bin Professor Flemming. Wer hier falsch ist, möge jetzt bitte gehen.« Er machte eine kleine Pause und eine wichtige Miene. »Woher weiß man, ob man falsch ist?«, fragte er nun rhetorisch und zog die Augenbrauen hoch. »Wenn Sie keine Freude an einem Streitgespräch haben oder wenn Sie nicht gern eine gegensätzliche Meinung äußern, und wenn Sie eine Beleidigung, die gut versteckt ist, nicht zu schätzen wissen, dann sind Sie hier falsch. Wenn Sie all das jedoch anspricht, können Sie sich auf ein sehr - 61 -
interessantes Semester freuen. Ich teile jetzt die Literaturliste aus…« Das kann ja heiter werden, überlegte ich, ergab mich aber meinem Schicksal und beschloss, das Beste aus der Situation zu machen.
- 62 -
4 Als ich das nächste Mal bei Mom war, gab es einen sehr, sehr, traurigen Anlass. Der gute alte Stan war gestorben, und Mom, Sookie und ich wollten uns würdig von ihm verabschieden. Wir saßen ganz in Schwarz gekleidet mit den anderen Gemeindemitgliedern im Synagogenraum, wo die TrauerzereMome stattfand. Dem jüdischen Glauben gemäß trugen Mom und ich Hüte, denn die Haare offen zu tragen wäre unschicklich gewesen – nur Sookie trug, na, sagen wir mal, ein neckisches Häubchen. Ein klitzekleines Spitzendeckchen, das auf ihrem Kopf lag wie ein Stück schwarze, löchrige Mortadella. Aber okay, es war Sookie, und ich mag Sookie und Mom mag Sookie – und deshalb verzichte ich auf weitere Ausführungen zu ihrer Kopfbedeckung. Außerdem war es mir in diesem Moment auch ziemlich egal, ich sah sie sowieso kaum, denn ich heulte mir die Augen aus. Ich weiß, ich weiß, sterben müssen wir alle irgendwann einmal, es gehört zum Leben dazu, aber musste es ausgerechnet Stan sein? Der süße, alte Stan, der immer mit seinem Filzhütchen und seinen Pantoffeln herumlief? Und musste es ausgerechnet heute sein? Ach, es war schrecklich! Ich musste schon wieder heulen, und Mom reichte mir ein Taschentuch. »Hier, Schatz«, sagte sie und streichelte mir den Arm. »Stan wird mir fehlen«, schluchzte ich. »Er war so süß mit seinem Filzhut und den Hush Puppies.« Ich schnäuzte mir lautstark die Nase und konnte nur noch mal wiederholen: »Immer trug er diesen Filzhut und die Hush Puppies.« »Ja, ‘ne Hose dazu wäre nicht schlecht gewesen…« Einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig… - 63 -
okay, ich war heute etwas langsam, das kam sicher vom vielen Heulen, doch irgendwann schaltete sogar ich, dass Mom gerade einen Scherz gemacht hatte. Auf der Beerdigung von Stan! Dem süßen, alten Stan mit Filzhütchen und Hush Puppies. Ich merkte, wie sich meine Augen wieder mit Tränen füllten. »Tut mir Leid. Ich wollte dich doch nur aufheitern!«, raunte mir Mom zu und sah mich mitfühlend an. »Klar. Wer will schon ‘ne traurige Beerdigung?«, fragte ich. Ich hab nie behauptet, dass ich nicht kratzbürstig sein konnte. Sogar auf einer Beerdigung. Sogar auf Stans Beerdigung. Mom gab ihr Vorhaben, mich aufzuheitern, vorerst auf. »Okay, ab sofort sind wir ganz ernst.« »Weißt du noch, jeden Dienstag ist Stan zum Essen ins Independence Inn gekommen«, sagte nun Sookie, die neben Mom saß. »Das war die reine Verschwendung. Er vertrug weder Käse noch Salz noch Fleisch.« Mom nickte sinnend, dann fuhr Sookie im Flüsterton fort. »Er kam also jede Woche bloß, um einen Salat zu essen: ohne Öl und vor allem ohne Pilze. Denn er hat Pilze nicht gemocht.« »Oh, Gott!«, schniefte ich. »Die sind mir auch zuwider!« Mom legte den Arm um meine Schulter und reichte mir das nächste Taschentuch. »Er hat noch letzte Woche angerufen und zum ersten Mal einen Tisch im Dragonfly Inn reservieren lassen.« »Streich die Reservierung nicht«, flüsterte Sookie. »Nein, das würde ich nie tun. Wir halten für Stan einen Tisch frei«, antwortete Mom. Oh, ich hatte ihr Unrecht getan! Meine Mom! Sie war nämlich auch sehr sehr traurig wegen Stan. Sie hielt ihm sogar einen Tisch frei! Ich heulte schon wieder los. Durch den Tränenschleier hindurch konnte ich kaum etwas erkennen. Dabei war der Raum so schön geschmückt. Überall waren Blumenarrangements aufgestellt, und der Duft der Lilien, Rosen und Nelken - 64 -
stieg mir in die Nase. Als ich mich langsam etwas beruhigt hatte, ging Rabbi Barans gerade dazu über, das Kaddish vorzulesen. Doch während er von der Heiligkeit Gottes sprach, stellte Mom im Flüsterton ihre ganz eigenen Überlegungen zur Zahlenmystik an. »Ist euch schon aufgefallen, dass die Leute in Stars Hollow in Fünfergruppen sterben?«, fragte sie und blickte erst verschwörerisch zu mir, dann zu Sookie. »Lass es, versuch nicht, uns aufzuheitern«, flüsterte ich zurück. »Das will ich nicht. Das ist wahr. Letztes Jahr waren es Jester Thompson, Sarah Merrimen«, Mom machte eine kurze Pause um zu überlegen, dann fiel es ihr wieder ein. »Fran und die Dublin-Zwillinge.« »Du hast Recht!«, flüsterte Sookie mit aufgerissenen Augen und beugte sich gespannt zu uns. »Davor waren’s Chocco Mishner, Santo Perez Junior, Santo Perez Senior…« »Pammy Lewis und Charlie Slater«, ergänzte Sookie. »Du hast Recht.« Sookie war ganz aufgeregt, was als Nächstes kommen würde. »Und jetzt sind es Pinochle Downs, Mr Angeletopolis…« »Mrs Grens…«, warf Sookie ein. »Und Stan«, vollendete Mom die Reihe. Die Reihe kam mir ziemlich kurz vor, deshalb zählte ich nach und siehe da, es waren nur vier! »Ja, es sind nur vier«, antwortete Mom viel sagend, und Sookie erklärte atemlos: »Das bedeutet, dass es der Fünfte noch vor sich hat! Nummer fünf ist vielleicht in diesem Augenblick auch im Saal!« Sookie hatte vor Schreck ganz weit aufgerissene Augen. »Oh, nein«, machte Mom erschrocken und ließ ihre Blicke durch die Reihen der Gemeindemitglieder schweifen, bis sie an einem alten Mann hängen blieben. »Hank Krutzman.« »Warum ausgerechnet Hank Krutzman?«, wollte Sookie wissen, und auch ich war neugierig, wie Mom - 65 -
ausgerechnet auf Hank kam. »Immerhin ist er schon einhundertzehn Jahre alt«, begründete Mom ihre Wahl. Natürlich war Hank Krutzman gar nicht einhundertzehn. Dafür sah er viel zu rüstig aus. Mom wollte damit eher sagen, dass Hank eben schon ziemlich alt war. Ich fand die ganze Unterhaltung irgendwie geschmacklos. Wie konnte Mom nur auf der Beerdigung von Stan darüber nachdenken, wer als Nächstes dran wäre? Allerdings stand ich mit meiner Meinung alleine da, denn Sookie stieg voll in das Thema ein. »Hank Krutzman, er war so zufrieden und glücklich«, flüsterte sie sinnierend vor sich hin, ihre Augen schweiften in die Weite, und sie tat so, als wäre sie ganz in ihren Erinnerungen an Hank und sein Leben und Wirken versunken. Mom legte ein mildes Lächeln auf, auch in ihre Augen trat ein melancholischer Glanz. »Er hatte ein sehr schönes Leben. Er spielte gern Golf…« »Und er hatte Pferde«, ergänzte Sookie. Ich traute meinen Ohren nicht. »Stopp!«, rief ich so laut, wie es mein gutes Benehmen auf einer Trauerfeier zuließ. »Hank ist noch gar nicht tot, und ihr haltet ‘ne Grabrede auf ihn? Wenn wir annehmen, Hank ist der Nächste, und ihm passiert plötzlich irgendwas, dann haben wir doch Schuld daran!« Das ließ die beiden dann doch aufhorchen. Sie sahen sich ernst an, Sookie war bei meinen Worten sogar ein bisschen blass um die Nase geworden, dann nickten sie und gaben mir Recht. »Halten wir uns besser an Stan«, schlug ich vor. »Er ist nämlich tot, und wir haben nichts damit zu tun.« Ich war froh, diese makabre Unterhaltung beendet zu haben, und konzentrierte mich auf die Rede von Reverend Skinner, der vom Rabbi nach vorne gebeten worden war. »Mein guter Freund, Stan Green, hat sechsundfünfzig - 66 -
Jahre hier gelebt«, führte Reverend Skinner gerade aus. »Er hat diese Stadt geliebt, und ihre freundlichen Bewohner, die hübschen Geschäfte und die Kirchenglocken ebenso. Viele von Ihnen werden sich nicht mehr an die Kirchenglocken erinnern. Vor zwanzig Jahren nämlich gingen sie zu Bruch und schweigen seitdem. Aber Stan hat sie gehört und niemals vergessen. Und es war sein Wunsch, dass sie wieder über Stars Hollow erklingen sollen. Also hat er unseren Hilfsfonds großzügig bedacht, damit dieser Traum wahr werde.« Ein Raunen ging durch die Gemeinde. Sätze wie »Oh, wie schön!«, »Der gute Stan!«, »Das ist nett!« und »Ja, so war er!« schwirrten durch den Raum – und mir kamen schon wieder die Tränen. Die Kirchglocken sollten zügig in Stand gesetzt werden, und alle waren sich sicher: Stan würde damit immer unter uns weilen und nie vergessen werden. Dann erhoben sich alle, um sich an Stans Grab von ihm zu verabschieden. Auf einmal ließ uns ein lautes Krachen umfahren. Es war Hank! Er war gestürzt! »Oh, nein! Hank!«, riefen Mom, Sookie und ich wie aus einem Mund. Wir waren kreidebleich. Doch offensichtlich war nichts Schlimmes passiert. Hank war schon wieder auf den Beinen. »Okay, alles klar«, meinte Mom. »Aber wir müssen mit reichlich Stress rechnen, solange Hank noch lebt.« »Geschieht uns recht. Wir haben ihn zum Fünften gemacht«, rief ich. Mom schüttelte energisch den Kopf. »Hey, das stimmt überhaupt nicht. Wir haben gar nicht so viel Macht. Soweit wir wissen, kann jeder der Fünfte werden.« Und Sookie ergänzte: »Ja, es kann wirklich jeden treffen, zum Beispiel Taylor oder Andrew oder Reggie oder Kirk…« Wieder erfüllte ein lautes Krachen den Saal. Nichts Gutes ahnend, drehten wir uns in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Es war Kirk. Er war - 67 -
gestolpert und lag jetzt in einem der Blumenarrangements. »Au!«, rief er. »Oh! Es ist so dunkel, so dunkel!« Er hatte sich anscheinend mächtig erschrocken und konnte nur mithilfe einiger Gemeindemitglieder wieder aufgerichtet werden. Aber nicht nur Kirk hatte sich erschrocken, nein, auch Mom, Sookie und ich sahen uns an, als hätten wir gerade den Sensemann höchstpersönlich aus dem Fenster fliegen sehen. »Wir sind die Hexen von Eastwick«, flüsterte Mom uns noch verschwörerisch zu, dann machten wir, dass wir rauskamen. Und jede von uns schwor sich, nie wieder irgendwelche Spekulationen über Nummer fünf zu äußern… Eine Aufregung der etwas angenehmeren Art hatte meine Freundin Lane, und zwar während einer Bandprobe. Sie war gerade mit Zack, Gil und Brian in Moms Garage, um einen neuen Song zu proben. Lane drosch wie immer so begeistert auf ihr Schlagzeug ein, dass die Wände wackelten, Zack machte wie immer ein genervtes Gesicht, Gil – der Grund für Zacks genervtes Gesicht und der greise Neuzugang der Band – ging wie immer voll ab, und Brian war wie immer Brian. Eben irgendwie seltsam mit seinem Strickpulli mit Elchen drauf, aber ganz nett. »Ja!«, rief Lane begeistert, als die letzten Akkorde verklungen waren. »Lassen wir es so?« Brian nickte zustimmend, und Gil grinste: »Der mittlere Trommelwirbel war echt affengeil.« Nur einer machte wieder einmal einen unzufriedenen Eindruck. Zack. »Mann, du siehst aus wie meine Siebenjährige, wenn sie total mies drauf ist«, meinte Gil – anscheinend begriff er nicht, dass er genau solche Sätze besser nicht sagen sollte. Zumindest nicht, wenn er die Stimmung heben wollte. Gil war ein netter Typ, keine Frage, und er war der beste Gitarrist, den die Band - 68 -
seit langem hatte, aber mit der Integration haperte es eben ein bisschen. An der Tatsache, dass Gil doppelt so alt war wie die anderen, ließ sich nur schwer rütteln. Während es Lane einfach nur um die Musik ging, und sie mit Gils Alter überhaupt kein Problem hatte, war das bei Zack anders. Er fand, dass Gil nicht in die Band passte, er mochte noch so gut sein. »Hört zu, ich bin nicht der Typ, der dauernd meckert…«, begann er und merkte wohl schon, dass seine Worte mit Erstaunen zur Kenntnis genommen wurden, »aber ich finde, wir sind einfach zu sehr im Takt, das ist alles.« »Zu sehr im Takt?«, rief Lane und kam hinter dem Schlagzeug hervor. »Das ist doch krank! Sollen wir das Timing vergessen?« »Hey, Verzeihung, dass ich davon angefangen habe. Dann halten wir eben den Takt, bringen ‘ne Lasershow, suchen uns noch ‘n Flötisten und machen auf Prog-Rock, wenn ihr das wollt.« Zack hörte sich schon wieder beleidigt an. Wie so oft in letzter Zeit. »Wir wollen nur rausfinden, was du meinst, Zack«, erklärte Lane mit einer Engelsgeduld, die man bei ihr gar nicht vermutet hätte, wenn man sie nur vom Schlagzeugspielen kannte. »Also, sind wir zu perfekt?« Zack nickte. »Ich will einfach nicht, dass wir künstlich und nach Computer klingen, alles klar? Ich bin nicht von N’Sync.« Gil verstand nicht. »N’Sync? Was ist das?« »Eine von diesen ätzenden Boy-Groups«, erklärte Brian. »Oh«, Gil schüttelte seine Rockermähne. »Ich bin Rock’ n’Roller. Ich hab keinen Schimmer von BoyGroups.« Klar, das glaubte man ihm aufs Wort. Mit seinen Röhrenjeans, die irgendwann vor Lanes Geburt in Mode gewesen sein mussten, seinen blonden, langen Haaren, auf die er mächtig stolz war, und seinen Sneakers, die schon vor zehn Jahren Auslaufmodelle - 69 -
gewesen sein mussten, kannte er sich besser mit Bands wie Guns’n’Roses aus. Dennoch. Das Gespräch hatte eine Wendung genommen, die Zack nicht so recht gefiel, denn er sah sich auf einmal in der Verteidigerposition, einer Rolle, die er gar nicht mochte. »Ich kenn mich doch auch nicht aus mit BoyGroups«, sagte er rasch. »Ich hab neulich nur was über die gelesen.« »Ach, echt? Über N’Sync!«, kicherte Lane. Soweit sie wusste, waren N’Sync auch schon seit einigen Jahren nicht gerade das, was man eine It-Band nennen konnte. Der letzte Nummer-Eins-Hit von N’Sync war jedenfalls schon verdammt lange her. Gil hatte ja schon jede Menge Lebenserfahrung. Genau genommen doppelt so viel wie die anderen drei. Irgendwann einmal hatte er gelesen, dass das Zusammengehörigkeitsgefühl von Gruppen gestärkt werden würde, wenn man auch Schwächen zeigen könnte… »Hey, fangen wir jetzt an zu beichten?«, meinte er deshalb. »Also, ich steh echt auf Simon and Garfunkel.« »Ich war früher ein Fan von Fleetwood Mac, muss ich zu meiner Schande gestehen«, stellte Lane klar. Und Brian nannte Sarah McLachlan. Nur Zack zeigte wie immer keine Schwäche. Wahrscheinlich war er schon mit einem guten Musikgeschmack auf die Welt gekommen, und die ersten Worte, die er in den Mund genommen hatte, waren nicht Mom oder Dad, sondern Sex Pistols. Es war zwecklos. »Hey, wir können’s ‘n bisschen abgehangener spielen, was den Beat angeht. Zumindest ich könnte das«, schlug Gil deshalb vor. »Genau das wollte ich sagen: etwas mehr Stones und dafür weniger Kraftwerk.« Nachdem das also geklärt war, wurde eine kurze Pause anberaumt. Gil musste wie immer telefonieren. So war das eben, wenn man einen Familienvater in - 70 -
einer Teenband hatte. Als Gil draußen war, wandte sich Lane an Zack: »Du bist gemein zu ihm. Dabei ist er so nett.« »Ja, immer sehr pünktlich, und er bringt Sandwiches aus seinem Laden mit«, pflichtete ihr Brian bei. »Aber nie welche mit Salami und Gewürzgurken. So was würde ich ganz gern mal essen«, warf Zack ein. Man konnte sich wirklich nicht vorstellen, dass Zack auch nur einmal nichts zu meckern hatte. Sie kamen nicht dazu, das Thema Gil noch weiter zu vertiefen, denn schon nach wenigen Augenblicken tauchte er wieder in der Tür auf. »Leute, ihr werdet das echt nicht glauben, nicht in Millionen von Jahren«, meinte Gil, lehnte sich an den Türrahmen und blickte herausfordernd in die Runde. »Hat Xander das Fußballspiel gewonnen?«, wollte Lane wissen. Xander war Gils kleiner Sohn. Und auf Lanes Frage hin verdrehte Zack schon die Augen. »Nein, das ist erst morgen um vier«, antwortete Gil und legte eine kleine Pause ein, während er allen nacheinander tief in die Augen blickte. Er machte es echt spannend, doch dann ließ er die Katze aus dem Sack. »Wir, die Band, sind gebucht«, wieder machte er eine kleine Pause. »Im CBGB’s.« Schweigen breitete sich aus. Für ein paar Sekunden hätte man in dem Raum, in dem sonst ein Höllenlärm tobte, einen Floh pupsen hören können. Brian, Zack und Lane standen mit offenem Mund da. »Wir sind was?«, fragte Brian, der als Erster wieder zur Sprache gefunden hatte. »Wir haben einen Gig im CBGB’s«, wiederholte Gil. »CBGB’s in New York?« Lane wollte auf Nummer sicher gehen, so unglaublich war die Nachricht. »Nein, in Hackensack«, antwortete Gil. Und so konnte auch nur Gil antworten. »War’n Scherz, Leute. Das in New York.« »Oh, mein Gott!«, schrie Lane. Sie war völlig aus dem Häuschen, und auch Zack war so nervös, dass er - 71 -
sich hektisch und ohne willentlichen Entschluss an den Armen kratzte und von einem Bein aufs andere hüpfte. »Gil, sag mal, is’ das ‘n Scherz?«, wollte er wissen. »Alter«, antwortete Gil, ganz in Bruce-SpringsteenManier. »Ich mach nie Scherze, wenn’s um Rock’n’Roll geht. Mein Kumpel Pete macht da den Sound. Er hat dem Booker ‘n Tape von uns gegeben, und, bumm, waren wir drin. Der Zeitpunkt ist nicht grad der tollste. Um ein Uhr, Dienstagnacht.« »Egal, es ist das CBGB’s!«, schrie Lane. »Die Ramones haben da angefangen«, meinte Brian und Lane fuhr fort: »Blondie, Sonic Youth, Television, Talking Heads. Die Liste ist tierisch lang!« Ihre Augen glänzten, und ihr Lächeln hätte ein abgeschaltetes Atomkraftwerk zum Strahlen gebracht. Sie war total aus dem Häuschen und sah sich bereits auf der Bühne des legendärsten Live-Clubs von New York vor einer enthemmten Masse auf das Schlagzeug eintrommeln. Sie würden es schaffen! Den Plattenvertrag, die Welttournee, die Nummer eins! Die Welt lag ihnen zu Füßen! »Ich hab zugesagt«, meinte nun Gil. »Das ist doch hoffentlich in Ordnung.« Statt einer Antwort sprang ihm Lane um den Hals – und zum ersten Mal fand auch Zack es gut, dass Gil in der Band war. Ungefähr eine Woche später, es war ein Samstagvormittag, stapften Mom und ich durch den Schnee. Mom sah – wie immer eigentlich – fantastisch aus. Sie trug einen beigefarbenen Wildledermantel mit Lammfellfutter, der mit Dufflecoat-Knöpfen zu schließen war, und sie sah darin aus wie eine knackige Mischung zwischen Anna Karenina, der großartigen Tolstoi-Heldin aus dem Zarenreich, und einer YaleStudentin. Ganz sicher sah sie nicht aus wie eine Hausfrau und auch nicht wie die durchschnittliche Mutter einer achtzehnjährigen Tochter. - 72 -
Wir gingen gerade über den schönsten Platz, den Stars Hollow zu bieten hatte, um uns herum spielten Kinder im Schnee, und alles sah so schön aus, als wäre es aus Zuckerguss. Schneemänner wurden gebaut, Schneebälle geworfen, alle Menschen in Stars Hollow schienen sich über die weiße Decke, die sich auf Bäume, Häuser und Straßen gelegt hatte, mächtig zu freuen. Auch Mom machte ein zufriedenes Gesicht. »Ich mag den ersten Schnee des Jahres.« »Aber eigentlich ist es nicht der erste Schnee des Jahres«, entgegnete ich, denn Mom und ich hatten dieses Jahr unsere Tradition, beim ersten Schnee des Jahres gemeinsam einen Spaziergang zu unternehmen, zum ersten Mal seit achtzehn Jahren gebrochen. Mom sah mich erstaunt an. »Echt nicht? Was war denn mit dem ersten Schnee?« »Da hatte ich die Philosophie-Prüfung«, antwortete ich. »Ach, ja, stimmt«, meinte Mom. »Der zweite Schnee des Jahres ist letzten Mittwoch gefallen«, fuhr ich fort. Wieder nickte Mom. »Ja, stimmt, da war ich auf der Baustelle.« »Dann ist das jetzt eigentlich der dritte Schnee des Jahres«, schloss ich blitzgescheit, doch ich irrte mich. »Der vierte«, korrigierte mich Mom. »Der dritte ist am Samstag gefallen.« »Ja? Warum hast du dann nicht angerufen?«, fragte ich mit vorwurfsvoller Stimme. »Tja, es passierte mitten in der Nacht.« »Aber du hättest anrufen müssen!«, rief ich, denn gerade wurde mir bewusst, wie sehr ich an unserer Tradition eigentlich hing. Sie gehörte für mich zu einem guten Start ins kommende Jahr, ich hatte mich daran gewöhnt, und Mom und ich konnten beim ersten Schnee immer so wunderbar unsere romantische Seite ausleben. - 73 -
»Auch mitten in der Nacht?« Mom runzelte die Stirn. Ich nickte energisch. »Du erwartest, dass ich dich mitten in der Nacht aus dem Bett klingle, äh, und dann sage: >Hey, fahr zwanzig Meilen und guck dir den Schnee mit Mami an« Wieder nickte ich. So wie Mom mich ansah, wurde mir klar, dass das einigermaßen seltsam war. Die meisten Töchter würden auf so eine Tradition pfeifen. Aber bei mir war es eben nicht so, vielleicht deshalb, weil meine Mom eben auch nicht wie die anderen Moms dieser Welt war. »Also der vierte Schnee des Jahres«, schloss ich und wollte eine Schnute ziehen. Doch dann besann ich mich eines Besseren. Ich blickte mich um, sah die weiße Decke, die Kinder und die Schneemänner und lächelte Mom an. »Trotzdem schön.« Und wie um noch mal einen obendrauf zu setzen, begannen jetzt auch noch Stans Glocken zu schlagen. Alle Menschen um uns herum blieben stehen und blickten zu den Kirchtürmen. Sätze wie: »Sie läuten wieder!« und »Oh! Wie schön!« erfüllten die Luft, und auch Mom und ich hielten inne und lauschten den Glocken. »Ach, Stan«, seufzte ich wehmütig und schickte einen Blick in die Wolken. Mom stupste mich am Arm. »Siehst du? Wären wir, wie sonst, am Tag des ersten Schnees spazieren gegangen, hätten wir das nicht miterlebt.« »Zum Glück haben wir so viel zu tun«, antwortete ich, dann fiel mir ein, dass ich schon die ganze Zeit ein dickes »Buch« mit mir herumtrug. Es war gar kein Buch, aber es sah so aus. Genauso wie die »Bücher« aus einem Sexversand, in deren Innerem sich Schmuddel-DVDs befinden, außen aber »Goethe – Sein Leben, seine Werke« oder »Shakespeare – Gesammelte Interpretationen« draufsteht… Mein »Buch« hieß: »Wege zum Glauben sind Wege zum Glück«, und innen befand sich dieses Mal die neue CD - 74 -
von Black Rebell Motorcycle Club. Im Innern meiner »Bücher« befand sich immer Musik, die Lane verbotener – , aber dafür tonnenweise kaufte und die ich mir am Wochenende gerne auslieh. »Hey, ich muss Lane noch was zurückgeben«, sagte ich deshalb zu Mom. »Gut«, antwortete sie rasch. »Und ich muss Luke noch was zurückgeben.« Ich sah sie fragend an. Was sollte das sein? Kochrezepte? Mom kochte nie! Ein Werkzeugkasten? Wenn Mom ein Problem in der Wohnung hatte, standen die Männer von Stars Hollow mit ihren Werkzeugkästen vor unserem Haus regelrecht Schlange!… Ich wusste genau, weshalb Mom zu Luke wollte. Es ließ sich mit exakt einem einzigen Wort begründen: Kaffeesucht. »Ich muss ihm irgendwelchen Kram bringen und ein paar Sachen und…« Sie stoppte, als sie meinen strafenden Blick auf sich ruhen spürte. »Ich giere nach Kaffee«, gab sie zu. »Ich komme gleich nach!« Denn Kaffeesucht war etwas, neben einer ganzen Reihe anderer Dinge, die ich von Mom defmtiv geerbt habe. »Beeil dich!«, rief Mom, während sie schon über die Straße ging. »Dann können wir uns in ‘ner halben Stunde die Glocken wieder anhören.« »Kannst du mir ‘n Kaffee bestellen und ’n Muffin und Zwiebelringe?«, rief ich ihr nach. »So was vererb ich nun der nächsten Generation.« Mom machte ein schuldbewusstes Gesicht. »Essgewohnheiten aus dem Hades!«, lachte ich noch und machte mich dann schnurstracks auf den Weg zu Lane, um die nächsten Glockenschläge nicht zu verpassen. Als ich klingelte, öffnete mir Mrs Kim die Tür. Sie sah mich skeptisch an. Ich glaube, sie mochte mich einfach nicht. Ich sah ihr nicht christlich genug aus, außerdem war ich in Yale und nicht auf dem von ihr - 75 -
favorisierten Adventisten-College, und zu allem Überfluss platzte ich gerade in den Gesprächskreis, den Lane unter den wohlwollenden Augen ihrer Mom mit ihren Adventisten-Kollegen abhielt. Und dennoch: Heute sollte der Tag sein, an dem ich in den Genuss kommen sollte, bei Mrs Kim ordentlich zu punkten… »Lane, kommst du bitte mal? Rory möchte dich sprechen!«, rief Mrs Kim in strengem Ton, um ihrer Tochter sogleich einzuschärfen, dass sie sich mit mir beeilen sollte, denn der Tee wäre gleich fertig. Die arme Lane. Sie sah ganz verändert aus. Wie eigentlich immer, wenn sie zu Hause war. Sie trug ein hoch geschlossenes Irgendwas, das irgendwo an der Wadenmitte endete und ansonsten unförmig blaurot gestreift von ihren Schultern herabfiel. Und sie musste sich gerade mit der Frage herumschlagen, ob sie nun Pastor Cho oder Pastor Eric zu seiner Sicht auf die Lage der Nation interviewen sollten. »Rory, hi. Gott schütze dich!«, meinte sie und sah mich gleichmütig an. Ehrenwort: Sie war perfekt! Niemand, wirklich niemand könnte auf die Idee kommen, dass dieses brave Adventisten-Mädchen in ihrem blaurot gestreiften Irgendwas und die begnadetste Drummerin unter der Sonne – okay, das ist jetzt vielleicht ein kleines bisschen übertrieben, aber Lane ist nun mal meine beste Freundin, und da übertreibt man eben gerne mal ein bisschen – egal, dass eben diese beiden Menschen ein und dieselbe Person waren. Nur, wenn man Lane sehr, sehr gut kannte, konnte man bisweilen an ihren blitzenden Augen erkennen, dass sie gerade mit einer Situation nicht so gut zurechtkam. »Hi, Lane. Und dich erst!«, erwiderte ich ihren Gottesgruß. »Rory, das sind Andy, Sarah, Jill, Maria und Jordan«, stellte mich Lane ihren Kommilitonen vor und ehrlich: So Leute liefen in Yale eigentlich nicht rum. Ich weiß - 76 -
nicht, woher die ihre Klamotten bekamen. Aus einem Laden? Das konnte ich mir kaum vorstellen. Vielleicht von älteren Geschwistern, die sie wiederum von Tanten oder Onkel vererbt bekommen hatten? Ich bemühte mich, sie nicht zu sehr anzustarren. »Es freut mich, euch kennen zu lernen. Ich wollte nicht stören. Ich bring dir nur schnell dieses, äh, Buch zurück und würde gern ‘n neues holen.« »Oh, natürlich. Ich komm gleich wieder.« Sobald Lane und ich außer Hörweite waren, wollte sie wissen, wie ich die Platte fand. »Sie ist toll. Ich hab auch eine für meine Mom gebrannt«, meinte ich begeistert. »Leute wie du machen die Musikindustrie kaputt. Ist dir das klar?« »Oh, nein. Britney trifft mindestens ebenso viel Schuld.« Wir waren mittlerweile in Lanes Zimmer. Auf den ersten Blick sah es aus wie das ganz normale Zimmer eines ganz normalen Adventisten-Mädchens, doch eigentlich war in dem Zimmer noch ein zweites Zimmer. An diversen Stellen konnte man mit einem geschickten Griff oder Tritt eine Diele lösen, unter denen sich riesige Verstecke befanden, außerdem gab es jede Menge Geheimfächer, Geheimwände und Geheimschubladen… In all diesen Verstecken steckte Lanes wahres Ich. Das Ich, das ich kannte und liebte. Ihr Ich als Drummerin, die coole Klamotten trug, coole Musik hörte und mit der ich jede Menge Spaß haben konnte. Lane hob ein Dielenbrett und sah die CD-Sammlung durch, die unter ihm zum Vorschein kam. »Also gut, mal sehen. Wie war’s mit den New Pornographers?« »Gib her«, meinte ich. Ich kannte die Band zwar nicht, aber ihr Name machte mich neugierig. »Ist ‘n ziemlich lebendiger Haufen da unten«, fuhr ich mit viel sagendem Blick fort. »Oh, ja. Ich hab schon Angst um die Antiquitäten.« - 77 -
Wenigstens ließ sich Lane ihren Humor nicht nehmen. »Woran arbeitet ihr?« »Du weißt schon«, antwortete sie, während sie ein neues Dielenbrett öffnete. »An der Frage, wie man jeden Kontakt zur Außenwelt vermeidet.« Ich machte ein mitfühlendes Gesicht und Lane nickte. »Ja, die nerven total. Aber heute ist mir das alles egal, denn heute denk ich nur an den Gig.« Sie strahlte mich an, und ihre Augen wurden wie immer, wenn sie aufgeregt war, mindestens Untertellergroß. »Irgendwie fass ich’s immer noch nicht. Ich werde auf der Bühne des legendären CBG-B’s stehen! Ich bastle schon an ‘nem perfekten Alibi.« »Und wie weit bist du?«, wollte ich wissen. Lane strahlte und dirigierte mich aufs Bett, wo ich mich hinsetzen und ihre Mutter spielen sollte. Sie rieb sich aufgeregt die Hände aneinander, baute sich vor mir auf und sagte: »Mama, dürfte ich dir jetzt etwas vorschlagen?« Dann stockte sie und meinte: »Das ist alles.« Ich nickte anerkennend. »Ursprünglich wollte ich nur sagen: >Kann ich dir jetzt was vorschlagen?< Doch ich finde, das >dürfte ich< zeugt von mehr Respekt.« Ich nickte, war aber skeptisch, ob das allein schon reichen würde. »Da hast du Recht. Aber du solltest dir auch ‘ne Ausrede einfallen lassen.« »Ich hab schon was auf Lager:«, rief Lane begeistert. »Alibis für den Nachmittag und Alibis für den Abend.« Dann verdunkelte sich ihre Miene etwas. »Aber bisher leider noch nichts Vernünftiges für ein Uhr morgens.« »Du kannst doch deiner Mom sagen, dass du bei mir im Wohnheim schläfst.« »Niemals. Sie weiß, dass da auch Jungs sind. Übrigens, sie betet für dich.« Lane hatte die nächste Diele angehoben. »Und, wie war’s mit der neuen Sparks?«, wollte sie wissen. - 78 -
»Bitte.« Ich steckte die beiden CDs in mein »Buch« und wandte mich zur Tür. »Ich glaub echt an dich«, machte ich ihr Mut. Ich fand Lane einfach bewundernswert – und ich fand sie wirklich gut. Sie lächelte mich an und bedankte sich, dann hielt sie mich erschrocken zurück. »Warte!« Ich hatte vergessen, einen neuen Umschlag um das Buch zu machen, und sie klappte rasch einen blauen Einband herum. »Oh, das ist gut«, meinte ich. »Wir sind wohl ein bisschen nachlässig.« Im selben Moment wurde die Tür geöffnet – ohne Anklopfen versteht sich, und Lane und ich fuhren auseinander. »Lane, deine Kommilitonen warten.« Mrs Kim versperrte uns den Weg und sah uns mit ernstem Gesicht an. »Ahm, ich geh dann jetzt«, stotterte ich. »Danke für das Buch. Bis dann, Mrs Kim.« »Warte«, hielt mich Mrs Kim zurück und nahm mir das »Buch« aus der Hand. Mir stockte das Herz. »Jane – der beschwerliche Weg einer Frau zu Gott«, las sie laut und nickte dann zufrieden. »Eine gute Wahl.« Zum Glück kam sie nicht auf die Idee, ein bisschen herumzublättern. »Danke sehr, Ma’am«, antwortete ich und machte, dass ich wegkam.
- 79 -
5 Am nächsten Tag fuhr ich nach Yale. Die Woche versprach anstrengend zu werden, und ich wollte noch genügend Zeit haben, mich vorzubereiten – doch ich sollte mich irren: So richtig anstrengend waren gar nicht die Kurse, sondern der ganze Stress drumherum. Doch ich war nicht die Einzige, der es so ging. Egal, ob Mom, Lane oder ich: Wir hatten es in dieser Woche alle nicht leicht… Mom ging am Montag auf einen Kaffee zu Luke, was an sich nichts Besonderes war. Kirk war auch da – und auch das war nichts Besonderes. Mom warf sich neben Kirk auf einen Barhocker, und noch im Flug bestellte sie ihre große Tasse Kaffee, erst danach begrüßte sie Luke. Jeder muss eben Prioritäten setzen, dachte Mom und grinste vergnügt vor sich hin. »Lorelai, wie spät ist es jetzt?«, wandte sich Kirk an sie. »Du musst es ihm nicht sagen. Er weiß es schon«, schaltete sich Luke ein und das zu Recht: Kirk hatte ihn schon ungefähr zehnmal nach der Zeit gefragt, und das in den letzten fünfzehn Minuten. Doch was soll’s? Haben wir nicht alle unsere Macken? »Warte doch einfach, bis die Glocken zu läuten beginnen, dann weißt du auch, wie spät es ist«, schlug Luke seinem Gast mit grimmigem Unterton vor. »Nein, so einfach ist das nicht«, antwortete Kirk. »Neulich stand ich zu nah am Glockenturm. Die Glocken haben irre laut geläutet, deswegen habe ich jetzt ein ständiges Bimmeln in den Ohren. Und ich kann nicht mehr unterscheiden, was die Kirchenglocken sind und was die Kirk-Glocken.« »Oh, nein. Hast du dich untersuchen lassen?«, wollte Mom wissen. »Ja, klar. Ich hab einen Tinnitus. Ich habe im - 80 -
Internet nachgeforscht unter >Prominente, die dein Leiden teilen< und rausgefunden, dass William Shatner sich auch damit rumplagt.« »Ehrlich?« Mom musste grinsen. »Kirk und Captain Kirk?« »Die Ironie ist mir nicht entgangen«, antwortete Kirk, dann wandte er sich erstaunt um. Anscheinend hatte er wieder was gehört. »Waren sie das?« »Bleib locker!«, meinte Luke. »Die Kirchenglocken werden besonders laut und abscheulich läuten.« »Aha, die Glocken sind wohl nicht dein Fall«, fasste Mom zusammen. »Nicht jeder findet Glocken wunderbar«, grummelte Luke. »Doch, eigentlich fast alle.« »Ach, ja? Finden sie es schön, dass sie immer wieder durch denselben monotonen Klang unterbrochen werden, und das Stunde für Stunde?« »Ja«, antwortete Mom etwas unruhig, denn der Kaffee stand noch nicht vor ihr. »Kannst du dir das vorstellen? Das sind dieselben Freaks, die auch auf Sonnenuntergänge stehen und den Mond und die Sterne.« Dann entdeckte sie hinter dem Tresen Farbmuster. »Wozu brauchst du die?« »Oh, ich muss ‘n bisschen was streichen«, erklärte Luke ausweichend. »Oh, wirklich? Du sammelst sie also nicht und tauschst sie auch nicht mit deinen Freunden?« Mom ließ sich nicht abwimmeln. Ihre Neugierde war geweckt. »Was willst du streichen?« »Ahm, unsere Wohnung.« Luke machte ein ernstes Gesicht – aber das war ja bei ihm nicht ungewöhnlich. »Du und ich? Wir zwei nehmen uns ‘ne Wohnung?« Mom kicherte und sah ihn mit großen Augen an. »Nein. Aber Nicole und ich. Wir nehmen uns ‘ne Wohnung.« »Oh!« Moms Laune sackte ein kleines bisschen, aber sie riss sich zusammen. »Das ist ja nett. Wann?« - 81 -
»Wann was?« »Wann wollt ihr euch ‘ne Wohnung nehmen?« »Vor drei Wochen.« Lukes Stimme klang irgendwie anders als sonst. Irgendwie ein kleines bisschen unsicher. »Drei Wochen«, Mom schnappte nach Luft. Ihre Laune sackte deutlich tiefer – und es fiel ihr immer schwerer, sich zusammenzunehmen. »Ihr seid schon umgezogen?« »Ja.« Mom wurde erst blass, dann stiegen hektische rote Fleckchen auf ihre Wange. »Ha!«, machte sie, weil ihr so auf die Schnelle auch nichts Besseres einfiel. »Ahm, ahm, äh… wow.« Sie lachte nervös. »Und wo ist die gemeinsame Wohnung?« »Litchfield.« Klar, Luke war schon immer wortkarg. Aber heute übertraf er sich selbst. »Du wohnst jetzt in Litchfield? Du wohnst seit drei Wochen in Litchfield?«, wiederholte Mom ungläubig, und ihre Stimme war deutlich lauter geworden. Von Zusammennehmen konnte keine Rede mehr sein. »Aber das ist ja ein anderer Landkreis!« »Ja.« »Vor drei Wochen bist du in ‘nen anderen Landkreis gezogen? W-W-Wolltest du mir das in nächster Zeit vielleicht auch mal sagen?« »Klar.« »Wann?« »Wenn es sich ergeben hätte.« »Wenn es sich ergeben hätte?« Mom konnte nicht anders. Sie musste laufend Lukes Sätze wiederholen, um zu realisieren, dass er das tatsächlich gesagt hatte. »Wenn ich dich in den nächsten zwanzig, dreißig Jahren nicht gefragt hätte und auf die Idee gekommen wäre, dir ‘n Obstkorb zu schicken, hättest du ihn wohl nie gekriegt.« »Es ist doch nichts Weltbewegendes. Es ist doch nicht so, dass wir uns alles erzählen würden.« Ganz - 82 -
offensichtlich wollte sich Luke aus der Affäre ziehen – aber da hatte er die Rechnung ohne Mom gemacht. Sie war sauer, richtig sauer. »Nein, das würden wir nie tun!«, schrie sie. »Heut Morgen hab ich ein paar Strumpfhosen zerrissen und dir nichts davon erzählt. Nein, warte, gerade hab ich’s doch getan.« »Hey, du weißt es jetzt, oder?« Luke wollte einlenken. Seine Stimme wurde sanft. »Hör mal, nichts hat sich geändert.« Aber er hatte keinen Erfolg. »Nein, nichts hat sich geändert. Du wohnst nur nicht mehr hier. Ich hab nicht mal deine Telefonnummer!« »Ich gebe dir meine Telefonnummer.« Wenn man die beiden so miteinander sah, fiel es schwer zu glauben, dass sie keine Gefühle füreinander hatten. Sie hatten nie eine Affäre gehabt, und beide hätten es auch immer strikt von sich gewiesen, in den anderen verliebt zu sein – aber: Würde man unter ganz normalen Freunden derart an die Decke gehen? Und auf der anderen Seite: Würde man einem ganz normalen Freund verschweigen, dass man wieder was mit seiner Exfrau angefangen hatte? Beide Male hieß doch wohl die Antwort: Nein, Nein, Nein. Mom war weiterhin nicht zu bremsen. Vor Wut und Enttäuschung waren ihr Tränen in die Augen getreten. »Ich weiß ja nicht mal, wie du wohnst! In, in ‘nem Apartment, ‘nem Wohnwagen oder ‘nem Fuchsbau.« »Es ist ein Reihenhaus.« Während Luke antwortete, trat er verlegen von einem Bein aufs andere. Reihenhäuser und Luke – das passte einfach nicht zusammen, und offensichtlich ahnte er das auch. »Ein Reihenhaus? Klar, das glaub ich gern. Ist ja auch total typisch für dich«, rief Mom höhnisch. »Ich find’s gut. Komm doch mal zu uns und sieh es dir einfach an.« »Meinst du? Meinst du, ich komm euch besuchen? Das würde voraussetzen, dass wir Freunde sind.« »Wir sind Freunde.« - 83 -
»Nein, sind wir nicht!« Mom war von ihrem Barhocker aufgesprungen. Sogar der Kaffee war ihr jetzt herzlich egal. »Wir sind keine Freunde! Freunde erzählen sich alles, oder zumindest die grundlegenden Dinge: Wo man gerade wohnt und wann man umgezogen ist. Ich dachte, wir sind Freunde, aber da hab ich mich wohl geirrt.« Sie rannte aus dem Laden. »Wo willst du denn hin?«, rief ihr Luke nach. Aber Mom war schon abgerauscht. Der Kaffee war ihr herzlich egal. Sie war enttäuscht und sauer und aufgewühlt. Das Einzige, was ihr jetzt noch helfen konnte, war, sich bei Sookie auszuweinen. »Also, er wohnt jetzt in Litchfield. Was hat das wohl zu bedeuten?«, wollte Sookie wissen. »Nach Lukes Ansicht gar nichts. Er sagt, da wird sich nichts verändern. Alles wunderbar«, antwortete Mom. Sie hatte sich auf der Couch zusammengerollt und sah sehr, sehr beleidigt aus. Sookie blätterte weiter in ihrem Lampenkatalog, denn eigentlich war das der Grund für das Treffen gewesen. Sie mussten sich dringend um die Beleuchtung des Dragonfly Irin kümmern. Doch Mom hatte kaum Augen dafür. Mal waren ihr die Lampen zu britisch, mal zu spanisch und mal zu deutsch. »Zu deutsch? Wie geht das bei ‘ner Lampe?«, hakte Sookie nach. »Sie hat die Form einer Weißwurst.« »Hat sie nicht«, meinte Sookie zuerst. Dann sah sie sich die Lampe noch mal genauer an. »Hat sie doch. Wer macht denn so was?« »Vielleicht bin ich ja geisteskrank.« Mom hatte für sich das Thema »Lampen« abgehakt und war wieder bei Luke, denn das war es auch, was sie heute wirklich beschäftigte. »Das war auch nicht schlimm. Nur weil ich jeden Tag auf’n Kaffee zu Luke gehe, heißt das nicht, dass wir Freunde sind. »Ihr seid Freunde«, versuchte Sookie sie zu trösten. »Ja, aber ich dachte, wir wären wahre Freunde. Doch - 84 -
offenbar sind wir nur Kaffee-Freunde. Ich bestell ‘n Kaffee, und er ist mein Freund. Das ist wie bei ‘nem Hund und ‘nem Knochen.« Moms Stimme wurde schon wieder etwas lauter. »Du gibst ihm den Knochen, er hat dich gern. Bei uns ist das ganz ähnlich.« »Was bist du denn? Der Hund oder der Knochen?« Sookie verstand was vom Backen, vom Kochen und neuerdings auch von Babys. Mit den seltsamen Vergleichen meiner Mom konnte sie oft nicht so viel anfangen. »Früher war ich mal der Knochen«, erklärte Mom ihre Sicht der Dinge. »Dann dachte ich, ich wäre ein Halsband, o-oder wenigstens ‘ne hübsche Leine, doch das stimmt nicht.« »Ich würde gern was dazu sagen und dir vielleicht helfen, aber ich weiß nicht, wovon du redest«, meinte Sookie, dann wurde sie von Daveys Weinen unterbrochen. »Oh, ich komme ja, Schätzchen.« Mit einem kurzen Blick auf Lorelai erklärte sie: »Er hat Angst vor den Glocken.« »Aber die läuten doch gar nicht«, stellte Mom erstaunt fest. »Nein, aber gleich geht’s wieder los!« »Er weint, weil er weiß, dass sie gleich läuten?« »Er hasst sie. Ah, zuerst hat er nur geweint, während sie geläutet haben, aber jetzt kennt er die Zeiten. Die um fünf sind am schlimmsten.« So langsam fragte sich Mom, ob das mit den Glocken von Stan wirklich so eine gute Idee gewesen war… der Tinnitus von Kirk, Daveys Weinen… Sie hatte eigentlich immer gedacht, dass Glocken etwas Romantisches sind. Doch sie kam nicht dazu, länger darüber nachzudenken, denn Luke war vor dem Haus aufgetaucht und schippte Schnee. Aha, es tut ihm also Leid!, dachte Mom, und ein glückliches Lächeln trat auf ihr Gesicht. Schnell zog sie sich ihren Mantel über und eilte nach draußen. »Da, du hast was übersehen.« Mom deutete auf - 85 -
einen Schneehaufen, der noch nicht weggeschippt war. Dann sagte sie: »Das ist wirklich nett, Luke. Wollen wir uns weiter streiten? Meine Regenrinne braucht ‘ne Reinigung.« Mom war also voll auf Versöhnungskurs, denn eigentlich hasste sie es, sich mit Luke zu streiten – aber sie hatte anscheinend Lukes Ambitionen, Schnee zu schippen, völlig falsch gedeutet. Er wollte sich nämlich nicht versöhnen, er wollte sich vielmehr Luft machen. »Du denkst, du darfst dich in alles einmischen, und die Welt dreht sich nur um dich« fuhr er sie an. »Gut. Ich hab Neuigkeiten: Es gibt Dinge, die gehen dich überhaupt nichts an. Wenn ich mit Nicole zusammenziehen will, dann geht sie das was an, und natürlich auch mich. Und keinen anderen sonst.« Luke Stimme wurde, wenn das überhaupt noch ging, noch lauter. »Dich geht das ‘n feuchten Dreck an, du hast nichts damit zu tun. Und ich muss dir gar nichts erzählen, nicht das Geringste. Und du hast kein Recht, mir ‘n schlechtes Gewissen einzureden, weil ich dir nichts erzähle.« Mom stand die ganze Zeit über mit offenem Mund auf der Veranda. Anscheinend hatte sie seinen ganz, ganz wunden Punkt getroffen. Aber gab ihm das das Recht, sie derart anzuschreien? »Ich hab mir die Schuhe selbst zugebunden, seit ich vier war. Und mit vierzehn Jahren konnte ich Autos reparieren. Und ich treffe meine eigenen Entscheidungen, seit ich krabbeln kann. Ich schulde dir gar nichts!« Luke stapfte vor Wut auf den Boden auf. »Wie schön!«, schrie Mom, nun ihrerseits kochend vor Wut. »Gar nichts!«, wiederholte Luke. »Und schaufele gefälligst den Weg frei. Das ist gefährlich. Du kannst nicht dauernd daran vorbeimarschieren und einfach ignorieren, dass dir der Schnee bis zum Arsch reicht.« Damit machte er kehrt und wollte in sein Auto steigen. - 86 -
»Du hast noch meine Schaufel!«, schrie ihm Mom hinterher. »Das Ding hab ich dir schon vor drei Jahren geliehen!« Während Mom mit Luke im Clinch lag, brachte mich in Yale ebenfalls etwas zum Kochen. Alles begann damit, dass mich Paris mehr oder weniger gezwungen hatte, mich mit ihr in den Verein für Internationale Beziehungen einzuschreiben. Sie meinte, ich müsste Streitkultur lernen, bereit sein, über den Tellerrand hinauszuschauen, etwas für meinen Lebenslauf tun und überhaupt lernen, an mir selbst zu arbeiten. Irgendwann hatte sie mich weich gekocht. Doch kaum dass ich meinen Namen in die Liste gesetzt hatte, wünschte ich schon wieder, ich hätte es nicht getan, denn meine Waschküchenbekanntschaft war nach mir ebenfalls in dem Raum aufgetaucht und trug sich, genau wie ich, in die Liste ein. Das hatte mir gerade noch gefehlt! Es war schließlich noch nicht so lange her, dass ich in der Waschküche mit ihm ins Gespräch gekommen war, meinen ganzen Mut zusammengenommen und ihm vorgeschlagen hatte, mit mir einen Kaffee zu trinken. Für alle, die’s vergessen haben sollten: Seine Antwort war: »Nein, besser nicht. Aber trotzdem Danke.« Mann, war das peinlich gewesen! Am liebsten wäre es mir gewesen, wenn alle Waschmaschinen plötzlich wie von Geisterhand die Türen aufgemacht und mich im Vollwaschgang für ungefähr eineinhalb Stunden von der Bildfläche hätten verschwinden lassen. Ich war damals heilfroh, dass wir keine Zeugen in der Waschküche hatten, und wünschte mir seitdem, ihm so selten wie möglich zu begegnen – was ich mir ab heute ja wohl abschminken konnte. Etwas genervt saß ich am nächsten Tag im Aufenthaltsraum. zusammen mit Susan und Diane, zwei Kommilitoninnen, die, sagen wir mal, nicht so ganz hundertprozentig mein Fall waren. Aber - 87 -
eigentlich waren sie auch ganz okay. Eben ein bisschen anstrengend. Wir unterhielten uns gerade über die Care-Pakete unserer Familien, als Susan auf einmal innehielt. Sie hatte etwas entdeckt. Besser gesagt: jemanden. »Leute, seht ihr? Der Junge da am Getränkeautomaten!« Ihre Stimme hatte einen leicht hysterischen Klang angenommen. Als ich zum Getränkeautomaten sah, durchfuhr mich ein Schreck. Oh, Gott, würde ich den heute etwa gar nicht mehr loswerden? Meine Waschküchenbekanntschaft, meine ich. Der Typ, der mir eine Abfuhr erteilt hatte. »Echt, ein supersüßer Typ«, meinte Diane unnachahmlich schmachtend und fuhr sich schon mit der Zunge über die Lippen. »Er wohnt mit meinem Kumpel Josh zusammen und heißt William«, klärte uns Susan auf. Ich beschloss, mich erst einmal bedeckt zu halten und so zu tun, als hätte ich ihn noch nie zuvor gesehen. Kurz darauf sollte sich zeigen, dass ich dieses Mal die richtige Entscheidung getroffen hatte. »Ich überlege, ob ich ihn anbaggern soll«, fuhr Susan auch schon fort. »Ich hab ihn am Wochenende auf einem Fest kennen gelernt. Er ist ziemlich cool. Und witzig.« Sie sah uns viel sagend an. »Er hat uns ‘ne Geschichte von so einer Tussi in seinem Wohnheim erzählt!« Nein, nein, nein! Das hatte er nicht getan! Mir wurde ein kleines bisschen schlecht bei dem Gedanken, dass William anscheinend vorhatte, mich zum Gespött der Leute zu machen. Das ist nicht fair!, schoss es mir durch den Kopf, und innerlich begann ich zu kochen. Na warte, dachte ich, gleich sehen wir uns ja wieder! »Sie kannte ihn gar nicht, hat ihn aber trotzdem total zugelabert. Und aus lauter Höflichkeit hat er dann mit ihr geredet« fuhr Susan unterdessen in ihrem Bericht fort. »Aber sie dachte, er steht auf sie oder so was, - 88 -
und nach drei Sekunden hat sie ihn gefragt, ob er mit ihr ausgeht. Natürlich hat er >Nein< gesagt. Aber für sie hat das Wort >Nein< wohl ‘ne andere Bedeutung. Und jetzt taucht sie überall da auf, wo er ist. Er nennt sie >meine unheimliche Verehrerin<.« Susan kicherte erneut ein bisschen hysterisch, und Diane, die die ganze Zeit mit wachsendem Interesse zugehört hatte, wollte wissen, wie die unheimliche Verehrerin hieß. Wenn es überhaupt möglich war, wurde ich noch ein bisschen blasser. Mein Atem war flach, und mir war mittlerweile richtig übel. »Irgendwer hat in dem Moment die KaraokeMaschine voll aufgedreht«, erlöste mich Susan bedauernd. »Ich hab keinen Namen verstanden. Aber wie er sie dann nachgeäfft hat, mit klimpernden Wimpern und total von sich eingenommen, das war urkomisch.« »Oh, wie aufregend! ‘Ne Psychopathin im Wohnheim! Wer mag das wohl sein?« Susan und Diane fingen an, wie irre zu kichern – nur ich fand’s dummerweise nicht so lustig. Ich war heilfroh, als es Zeit war, in den Seminarraum zu gehen und über internationale Beziehungen zu diskutieren! Ich saß neben Paris und mir gegenüber saß… wer wohl? William natürlich. Fragt sich, wer hier wen verfolgt!, dachte ich erbost. Ich hatte mir fest vorgenommen, nicht langer das Opferlamm zu sein, das William ungesühnt für Partygequatsche schlachten konnte! Ich hatte beschlossen, mich zu wehren, und bald schon sollte meine Chance gekommen sein! Paris hatte gerade ihre Meinung zum Nahost-Konflikt erläutert, die, vorsichtig ausgedrückt, eine Tendenz zur Peinlichkeit hatte. Auch unsere Seminarleiterin Mrs Friedmann kam nicht umhin, ein vernichtendes Urteil zu fällen: »Ihr Bibelwissen ist sehr groß, aber in Ihrer Argumentation ignorieren Sie die Vielschichtigkeit von viertausend Jahren Weltgeschichte. Ja, - 89 -
Nachforschungen kosten Zeit.« Mrs Friedmann blickte in die Runde. »Jemand anderes?« William meldete sich zu Wort: »Der ganze Konflikt ist ein Streit um Macht, daran ist nichts Geheimnisvolles. Wer ist der Gewinner in diesem Spiel? Und wem liegt daran, dass sich die lieben Kinder weiterzoffen?« Oh, Mann, was für abgedroschene Phrasen! Ich ließ ihn nicht weiterreden, sondern fiel ihm ins Wort. »Klar, als gäbe es im Hintergrund mächtige Strippenzieher, die die gesamte Bevölkerung Israels manipulieren. Da wollte wohl jemand besonders schlau sein. Etwas komplizierter ist es schon.« »Aber wenn du außer Acht lässt, wer die Macht hat, dann…« »Das hab ich nicht gesagt!«, schrie ich ihn an. »Vielleicht setzt du dich kurz mal aufrecht hin, dann kapierst du auch, was ich meine.« Ich hatte beschlossen heute sehr, sehr viel für meine Streitkultur zu tun, aber seltsamerweise gehorchte William sogar und richtete sich auf. »In Israel leben über sechs Millionen Menschen, und jeder von ihnen hat eine eigene Ansicht zu der Lage im Land«, fuhr ich fort. »Eigentlich müsstest du doch ganz gut wissen, was das ist, oder nicht?« William wollte etwas erwidern, doch das ignorierte ich. »Propaganda und die Verbreitung offensichtlicher, abscheulicher Lügen können größeren Schaden verursachen als Knarren oder Bomben oder irgendwelche anderen Waffen, klar?«, giftete ich. »Würde ich in einer dunklen Gasse Osama begegnen, dann war’s mir lieber, er würde als Waffe ‘ne Lüge einsetzen und keine Uzi«, entgegnete William. »Klar, du bist ja auch ‘n Idiot.« Puh, das tat gut. Und er hatte sich die Abfuhr echt verdient, oder? Seltsam nur, dass ich nicht wirklich gut drauf war. Lag das daran, dass ich’s immer noch fies fand, dass er unsere Waschküchengeschichte herumposaunte? Oder daran, - 90 -
dass ich heute im Seminar so streitlustig gewesen war, wie es sonst gar nicht meine Art war? Ich weiß es nicht. Abends jedenfalls lag ich übel gelaunt auf dem Bett und versuchte, in meinen Kopf noch einmal alles hineinzupauken, was ging, als das Telefon klingelte. Es war Mom, und ich merkte schnell, dass sie mindestens genauso schlecht drauf war wie ich. Nein, das stimmte nicht. Sie war noch deutlich schlechter drauf. »Ich bin am Verhungern«, maulte sie gerade. »Bestell doch ‘ne Pizza«, schlug ich vor. »Nein. Es schneit. Da werden die nicht liefern.« Gut, wenn sie meinte. Ich überlegte scharf, was in Stars Hollow so alles in Betracht kam. »Dann geh doch zu Al.« »Da gibt’s nur Curry-Gerichte.« Aha. Heute war Mom nicht leicht zufrieden zu stellen, das merkte ich so langsam. »China Charlie’s wäre vielleicht nicht schlecht.« »Chinesisch ist ätzend«, kam die prompte Antwort. »Seit wann?« »Seit heute.« Irgendwann war es mir aufgefallen: Manchmal tauschten Mom und ich die Rollen. »Du führst dich ja auf wie ‘n Kind«, meinte ich dann auch, machte ihr aber dennoch ungefähr zehn weitere Vorschläge, wie sie an etwas Essbares kommen konnte. Als das alles nichts nutzte, meinte ich: »Okay, weißt du was? Ich leg jetzt auf. Ich muss lernen, und du hast ‘ne Trotzphase.« »Nein, nein. Nicht auflegen«, bat Mom und zog noch einmal alle Register: »Hey, als du die Windpocken hattest, da hab ich nachts an deinem Bett gesessen und deine Hände festgehalten, damit du dir nicht deine Pfirsichhaut zerkratzt. Dass du so hübsch bist, verdankst du mir.« »Gute Nacht, Mom«, wünschte ich. »Aber, deine Windpocken…« Ich legte auf. Manchmal musste man in so einer - 91 -
Situation einfach hart bleiben, denn da ich ja wusste, dass Mom mindestens genauso gerne aß wie ich, würde sie der Hunger schon noch aus dem Haus treiben – und das war der erste Schritt, damit es ihr wieder besser ging.
- 92 -
6 Mom tat das, was ich vermutet hatte. Sie zog ihren dicken, knallroten Mantel an, in dem sie immer ein bisschen was von Rotkäppchen hatte, setzte sich eine weiße, wattierte Schirmmütze auf den Kopf und stapfte missmutig durch Stars Hollow. Es war gerade 19:00 Uhr, und Stans Glocken stimmten ihre Melodie an. Doch während noch vor ein paar Tagen alle Menschen verzückt stehen geblieben waren und zum Kirchturm geblickt hatten, hielt sich die Begeisterung mittlerweile deutlich in Grenzen. »Ruhe!«, rief ein Mann im Vorbeigehen und hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu. Mom blickte sich um und entdeckte die unübersehbare Silhouette von Miss Patty, die inmitten ihrer Schützlinge gerade ihren Tanzkurs abhielt. »Und eins und zwei und drei und vier. Ignoriert die Glocken. Sie läuten nicht im Takt und machen alles kaputt«, rief sie gerade und versuchte, mit lauter Stimme die Glocken zu übertönen. Mom beobachtete das Treiben ein wenig, dachte an Sookies Baby, das jetzt bestimmt vor Angst weinte, dachte an Kirk, der seinen Tinnitus nicht loswurde und fasste einen Entschluss. Ohne lange zu überlegen, öffnete sie die Tür zu Lukes Diner. »Hilfst du mir, die Glocken kaputtzumachen?« Luke sah Mom mit einem Blick an, der keinen Zweifel daran ließ, dass er froh war, sie hier zu sehen. Seit dem Streit war es ihm auch nicht gut gegangen. »Ich hol nur mein Werkzeug. Ich brauche nicht lange«, meinte er und verschwand im hinteren Teil des Ladens, dem Teil, der bis vor drei Wochen seine Wohnung gewesen sein musste. »Okay«, meinte Mom und folgte ihm – nicht ohne - 93 -
allerdings einen Donut von dem Tablett im Cafe zu stibitzen –, schließlich hatte sie immer noch nichts gegessen. Als sie Luke in seine ehemalige Wohnung folgte, stutzte sie: Nach »ehemalig« sah hier seltsamerweise gar nichts aus. Das Bett war ganz offensichtlich letzte Nacht benutzt worden. Und wenn man nach den Geschirrbergen ging, die sich rechts und links der Spüle auftürmten, konnte man nicht davon ausgehen, dass hier irgendwann einmal irgendwer ausgezogen war. Mom wusste selbst nicht so genau, warum sie sich so darüber freute, aber auf jeden Fall tat sie’s. Als Luke sein Werkzeug zusammengepackt hatte, machten sich die beiden auf den Weg zu ihrer diabolischen Tat. »Was, die Kirchentür ist verschlossen? Soll das ‘n Scherz sein? Und wenn ich was Heiliges tun will?«, empörte sich Mom und rüttelte an der Tür. Luke wollte schon nach seiner Brechstange suchen, doch Mom hielt ihn zurück. »Warte kurz. Jetzt könnten alle Folgen von Hart, aber herzlich, die ich in meinem Leben gesehen hab, endlich für etwas gut sein.« Sie kramte in ihrem Portmonee und zückte eine Karte. »Was ist das?«, wollte Luke wissen. »Der Ausweis vom Fitness-Studio«, antwortete Mom in einem Tonfall, als wäre das ganz normal. Luke machte große Augen. Für alle anderen war’s vielleicht normal gewesen, aber dass es meine Mom in sportlichen Dingen mit Churchill hielt, und der Satz »Sport ist Mord« immer eine gute Ausrede darstellte, um sich erfolgreich vor zu viel Bewegung zu drücken, war auch Luke nicht entgangen. »Du bist also Mitglied? Seit wann?« »Seit Rorys Geburt. Ich wollte nach der Schwangerschaft abnehmen.« »Warst du dort?«, hakte Luke mit einem Schmunzeln nach. Er kannte Mom schon ziemlich lange – und nie, auch nicht ein einziges Mal hatte er sie zum Sport gehen oder vom Sport kommen sehen. - 94 -
»Gott, nein. Ich war viel zu fett«, antwortete Mom und öffnete mit der Karte die Tür, als hätte sie das in ihrem Leben schon ungefähr hundertmal getan. »Oh, gelobt sei der Herr im Himmel. Und seine kleinen Schäfchen, die sich auf Erden tummeln, mit Weihrauch und Myrrhe…«, stimmte sie gerade eine Dankespredigt an, doch Luke fiel ihr ins Wort. »Würdest du jetzt reingehen?« Luke machte einen etwas nervöseren Eindruck als Mom. Sie tat ihm den Gefallen, doch als sie drinnen ihren Mantel inspizierte und jede Menge Spinnweben entdeckte, blieb sie stehen. »Wieso kann Gott nicht auch mal Staub wischen?«, fragte sie, doch Luke wollte die Sache allem Anschein nach möglichst schnell hinter sich bringen und ging nicht auf eine mögliche himmlische Putzkolonne ein. »Jetzt halt die Taschen«, wies er sie an. »Aber keine blöden Witze. Richte nicht den Suchscheinwerfer auf mich und schrei: >Hände hoch und weg mit der Waffe!<« Mom kicherte. Ihr machte die ganze Angelegenheit einen Mordsspaß. »Und wenn ich die Wand anleuchte und schweinische Schattenspiele vorführe?« »Halt einfach Abstand, damit der göttliche Blitz nur dich trifft«, antwortete Luke. Dann begann er, in seinem Werkzeugkasten zu kramen. »Also, wie sieht der Schlachtplan denn aus?«, wollte Mom wissen. Sie lief vor Spannung den dunklen Mittelgang auf und ab. »Weißt du, ich hab mir gedacht, wir könnten mit dem Hammer auf den Glocken rumhauen.« Sie strahlte Luke an. »Ah, Glocken kriegt man mit dem Hammer nicht kaputt.« »Ich weiß nicht mehr weiter. Was schlägst du vor, Clyde?« »Tja, ich hab gedacht, wir könnten die Spannvorrichtung blockieren oder den Hauptmechanismus festkeilen. Und zum Spaß könnten - 95 -
wir einige Klöppel abtrennen«, erklärte Luke fachmännisch. Dann sah er Mom verschwörerisch an: »Die meisten wissen es nicht, aber man muss nicht jede Glocke kaputtmachen. Wenn du dir nur ‘n paar vorknöpfst, sagen wir, die Terz und die Prime, kannst du meistens die anderen auch vergessen.« »Du warst in der Glöcknerschule bestimmt Klassenbester, oder?«, kicherte Mom. »Ich würde es so ausdrücken: Man kann nicht sein Leben lang darauf warten, dass die Glocken kaputtgehen. Manchmal muss man auch nachhelfen.« Mom machte große Augen. »Du hast damals die Glocken kaputt gemacht?« »Gern geschehen.« Ein bisschen stolz sah Luke schon aus, als er Mom seine lästerliche Tat gestand. Er lächelte sogar – und das wollte bei Luke was heißen. Wenn man die beiden so sah, musste man eigentlich zugeben, dass sie ein sehr gutes Team waren. Eigentlich zu gut, um nur Freunde zu sein… »Gott, ist das Ding schwer.« Mom musste die Brechstange mit beiden Händen festhalten. »Hast du keinen kleinen Werkzeugkasten?« »Nein. Was soll ich mit zwei Werkzeugkästen anfangen?« »Na, du hättest eben einen großen und ‘nen kleinen«, legte Mom die Vorzüge dar. »Wenn man schon einen großen hat, braucht man keinen kleinen«, antwortete Luke ungewollt doppeldeutig. Mom wollte schon losprusten, doch Luke begriff und ließ sie nicht zu Wort kommen. »Sag jetzt nicht: >Du Schwein<, das wäre zu billig.« Mom nickte und blickte Luke von unten herauf mit einem Blick an, bei dem ihr niemand widerstehen konnte. »Also, ahm, wieso war dein Werkzeugkasten eigentlich nicht in der neuen Wohnung?« Sie hatte beschlossen, mit Luke über ihre jüngsten Entdeckungen zu sprechen. »Tja, ich habe ihn hier gebraucht.« - 96 -
»Eigentlich braucht man bei ‘nem Umzug doch einiges an Werkzeug. Da werden lauter Dinge zusammengebaut und aufgehängt…« »Nicole hat jemanden zum Bilderaufhängen engagiert, und zusammenzubauen war auch nichts. Reich mir ‘nen Schraubenzieher, bitte.« Noch gab sich Luke gesprächsbereit, aber seinem Tonfall nach zu urteilen, fand er die Wendung des Gesprächs nicht wirklich gut. »Luke, wieso hast du erzählt, du bist umgezogen?« Mom ging nun auf’s Ganze. »Weil ich umgezogen bin.« »Vielleicht bist du ja umgezogen. Dein Krempel ist es nicht.« Sie ließ nicht locker – wie immer, wenn sie sich was in den Kopf gesetzt hatte. »Luke, ich war doch eben in deiner Wohnung«, fuhr sie fort. »Da sieht alles aus wie immer. Es ist komisch, dass du behauptest, du wärst umgezogen, und es ist nicht wahr.« »Es ist aber wahr.« So langsam nahm Lukes Stimme wieder einen gereizteren Tonfall an. »Nicht mal dein Bett war gemacht! In der Spüle war Geschirr, im Mixer war der Rest von irgend ’nem Shake,… auf dem Tresen stand ‘ne Büchse Eiweißpulver.« Mom grinste über diese Entdeckung. »Irgendwann werd ich dich mal damit aufziehen.« »Können wir über was anderes reden? Oder besser noch, wir reden gar nicht und erledigen das hier, ja?« Luke hatte sich offensichtlich fest vorgenommen, dieses Mal nicht nachzugeben. Er hatte nun mal eine Vereinbarung mit Nicole getroffen, und daran wollte er sich halten. Mom mochte mit ihren Wimpern klimpern wie eine Weltmeisterin – er ‘wollte bei seiner Version der Dinge bleiben. »Denkt Nicole, dass du umgezogen bist?«, fragte Mom raffiniert. Luke tat weiterhin so, als würde er ganz angestrengt etwas in seinem Werkzeugkasten suchen. »Natürlich denkt sie das. Ich bin ja auch umgezogen.« - 97 -
»Und, schläfst du da?« »Ja, natürlich schlaf ich da.«: »Und gestern Nacht?« »Es hatte keinen Sinn, dort zu schlafen, denn ich hab früh morgens ‘ne Lieferung erwartet.« Volltreffer! Mom freute sich diebisch. Sie musste weitere Beweise sammeln. »Und vorgestern?« »Hab ich abends dort gegessen.« »Und nach dem Essen?« »Nicole hatte Halsschmerzen, also bin ich in meine Wohnung gefahren. Ich wollte mich nicht anstecken.« Doppel-Bingo! Die nächste Nacht, die sie ihm nachweisen konnte, alleine verbracht zu haben, und dann noch dieser klitzekleine Versprecher. »Deine Wohnung?« Mom hatte wieder diesen Blick aufgelegt. »Meine alte Wohnung«, verbesserte Luke sich rasch. »Du hast nicht gesagt >meine alte Wohnung<, sondern >meine Wohnung<.« »Aber ich meinte meine alte Wohnung!« Jetzt tat Luke nicht länger so, als würde er irgendwelches Werkzeug zusammensuchen. Dazu fühlte er sich so langsam zu sehr in die Ecke gedrängt. »Luke, du wohnst nicht mit Nicole zusammen!« Mom hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sah ihn eindringlich an. »Du siehst bei ihr fern, du isst bei ihr, du hast ‘n paar Sachen bei ihr liegen. Du bist ein unhöflicher Gast, aber nicht ihr Lover.« »Nicht doch, jetzt fängst du schon wieder an!«, stöhnte Luke auf. »Du bewertest schon wieder meine Beziehung mit Nicole! Du hast meine Heirat mit ihr bewertet, danach hast du unsere Scheidung bewertet, und jetzt bewertest du die Tatsache, dass wir zusammenwohnen.« »Ich bewerte euer Zusammenleben keinesfalls. Vielmehr bewertest du es, indem du dich Nicole entziehst.« Moms Stimme war deutlich lauter geworden. Sie merkte ja selbst, dass sie bei diesem Thema schnell unsachlich wurde – aber darauf hatte sie keinen Einfluss. - 98 -
»Hör zu, vielleicht war ich ja auf dem Schiff etwas beschwipst, aber ich weiß, niemand hat uns zu Mann, Frau und Lorelai erklärt!« »So abwegig wäre das nicht, denn ich verbringe mit Nicole ebenso viel Zeit wie du. Ich könnte bei euch einziehen, und dir fiele es nicht auf.« In Moms Augen glitzerte es verdächtig. »Hör zu, das alles geht dich überhaupt nichts an.« »Oh, doch, das geht mich sogar ‘ne Menge an!« »Wieso?« Luke kam einen Schritt auf sie zu. »Weil ich gerade viel Zeit damit verschwendet hab, mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass du umgezogen bist, um dann festzustellen, dass das nicht stimmt.« Mom merkte selbst, dass sich das irgendwie seltsam anhörte. Schließlich wohnte sie nicht mit Luke zusammen, sie waren noch nicht mal ein Paar. »Woran musstest du dich denn groß gewöhnen? Nichts hat sich geändert. Wir sehen uns nach wie vor jeden Tag, ich koche dir dein Essen, ich servier dir deinen Kaffee. Was interessiert dich das?« »Ich kann nicht anders.« In Moms Augen glitzerte es noch mehr. Auch Luke sah, dass sie kurz davor stand, in Tränen auszubrechen und seine Stimme wurde sanfter. »Wieso nicht?«, fragte er und machte einen weiteren Schritt auf sie zu. Mom sah ihn an, blickte dann zu Boden und meinte mit leiser Stimme: »Weil ich eben nicht will, dass du umziehst.« »Wieso? Wieso willst du denn nicht, dass ich umziehe?« Ich glaube, die beiden standen noch nie so kurz davor, sich in die Arme zu fallen und aus einer Freundschaft mehr werden zu lassen. Moms Herz klopfte bis zum Hals, und auch Luke – so mürrisch er oft auch wirkte, spürte dieses Flirren in der Luft und blickte Mom so an, wie er es noch nie getan hatte. Doch Mom kam nicht mehr dazu, zu antworten. - 99 -
»Luke?… Lorelai?« Referend Skinner war unbemerkt eingetreten und erwischte die beiden auf frischer Tat, besser gesagt auf frischer Vorbereitung. Er sah Luke, er sah Mom, er sah die Brechstange – und er schaltete sofort. Diese beiden schickte der Himmel! »Gott sei Dank. Lasst euch nicht stören!«, meinte er, schlug schnell ein Kreuz und machte auf dem Absatz kehrt. Während Mom also richtige Abenteuer erlebte, hatte ich irgendwann die Bücher beiseite gelegt und war eingeschlafen – mitten in der Nacht wurde ich allerdings durch ein Klingeln an der Tür geweckt. »Paris!«, stöhnte ich. »Es ist jetzt vier Uhr morgens.« Schlaftrunken wankte ich im Pyjama zur Tür, doch als ich sie öffnete, sah ich, dass ich die Falsche verdächtigt hatte. Es war gar nicht Paris, es war Lane. »Was willst du denn hier?«, wollte ich wissen. »Tja, berechtigte Frage…« Lane druckste ein bisschen herum. »Ich wusste nicht, was ich tun soll, und du hast doch immer ‘ne Lösung auf Lager. Da dachte ich, ich komm her und frag dich, was ich tun soll.« »Worum geht’s?« »Irgendwie ist mir keins eingefallen«, beschrieb Lane die Lage. »Kein was?« »Kein Alibi. Ich hab es ehrlich versucht, aber mir ist nichts eingefallen, was sie überzeugt hätte, und da bin ich verschwunden.« Lane war ganz schön aufgeregt. »Was heißt >verschwunden«, fragte ich alarmiert. »Ich hab noch gewartet, bis sie im Bett war, also bis ungefähr Viertel nach neun, und dann war ich weg.« Lane erzählte mir ausführlich von dem Gig im CBGB’s, besser gesagt, von dem verschobenen Gig und ihrer riesigen Enttäuschung. »Hast du keine Nachricht hinterlassen?«, fragte ich nach. Sie tat mir wirklich Leid. Jetzt hatte sie so viel riskiert – und - 100 -
wofür das Ganze? Dafür, dass der Auftritt abgeblasen worden war. Aber dennoch: Lanes Aktion, sich zu Hause einfach so aus dem Staub zu machen, war mindestens unklug. »Nein. Ich glaube, ich hab nicht mal die Haustür hinter mir abgeschlossen.« Sie blickte betrübt auf den Boden und machte den Eindruck, als wüsste sie ganz genau, was sie sich da eingebrockt hatte. Ich sparte mir lange Moralpredigten und rief stattdessen meine Mom an. Und die rief natürlich Mrs Kim an. Mrs Kim hatte schon längst bemerkt, dass ihre Tochter verschwunden war, und das Haus war bereits voller Christen, die mit brennenden Kerzen für das verlorene Schäfchen beteten. Doch das bekam Lane an diesem Abend glücklicherweise nicht mehr mit. Sie fiel vor lauter Aufregung neben meinem Bett in einen tiefen und festen Schlaf. »Echt, ich kann’s immer noch nicht fassen, dass sie nicht mitten in der Nacht hier aufgekreuzt ist, die Tür eingetreten und alles mit Weihwasser besprengt hat«, meinte Lane am nächsten Morgen. Sie ahnte, dass dies kein gutes Zeichen war. »Irgendwie läuft alles schief, mein Leben, einfach alles, was ich mache. Ich meine…. guck dich an. Guck dir an, was du schon erreicht hast, wie gut es bei dir läuft. Ich bin richtig neidisch. Du hast ‘n Leben.« Ich war richtig erschrocken, sie so reden zu hören. »Lane, hör auf!«, meinte ich energisch. »Du bist gesund, du hast ‘ne Band und ‘nen festen Freund, oder? Also, was soll’s, wenn das College blöd ist? Du wirst nicht ewig aufs College gehen. Du hast ein schönes Leben.« Doch meine Worte wollten heute Früh nicht richtig fruchten. »Ich bin schwach«, jammerte Lane. »Und ich hab einfach kein Rückgrat.« »Wenn das so wäre, würdest du merkwürdig laufen.« Ich ließ Lane nicht gehen, ehe sie nicht wenigstens ein paar Mini-Donuts von mir eingesteckt hatte, dann war - 101 -
sie weg. Sie hatte es sehr eilig, nach Hause zu kommen. Ich wollte mich gerade um mein Frühstück kümmern, als ich eine wohl bekannte Stimme in meinem Rücken hörte. Es war William! »Da ist ja Madeleine Albright«, begrüßte er mich höhnisch. »Weißt du was? Ich verbitte mir, dass du mich so nennst!« Der hatte mir heute früh gerade noch gefehlt! »Abgesehen davon verbitte ich mir auch, dass du mich ansprichst oder über mich redest.« »Von mir aus«, antwortete er und schmierte sich sein Brötchen. »Ich weiß, du hast die blöde Geschichte erzählt.« Irgendwie war’s heute sowieso egal. Es war eine kurze Nacht, es war ein mieser Morgen, es war genau der richtige Zeitpunkt, Klartext zu reden. Nur dumm, dass ich vor lauter Schlafmangel und Aufregung gar nicht mitbekam, dass alle umliegenden Gespräche bereits verstummt waren und mich mindestens zwei Dutzend Augenpaare aufmerksam beobachteten. »Welche Geschichte?«, fragte William. »Die Geschichte von der Waschküche! Weißt du nicht mehr, die Waschküche? Ich wollte einen Kaffee mit dir trinken, sonst nichts. Ich hab nicht gesagt, du sollst mich heiraten oder… dass ich Kinder von dir haben will!« Meine Stimme war deutlich lauter geworden, aus zwei Dutzend Augenpaaren waren locker drei Dutzend geworden. »Ich renne dir nicht hinterher. Es war wirklich bloß Zufall, dass ich in einer Besprechung gelandet bin, in der du ebenfalls warst. Ich wusste nicht, dass du da warst. Es ist nicht leicht, jemanden zu fragen, ob er mit einem ausgeht. Dadurch macht man sich verletzlich und angreifbar. Und es ist einfach gemein, aus so einem Vorfall ‘ne lustige Anekdote zu machen. Ich würde es also begrüßen, wenn du es dir in Zukunft verkneifen könntest, die WäschereiGeschichte herumzuerzählen, egal, wem oder wo oder - 102 -
wann.« »Ich hab gar nicht von dir gesprochen.« »Was?« Ich fühlte mich wie ein Luftballon, aus dem die Luft abgelassen wurde. »Es war so ‘ne Tussi aus dem zweiten Stock. Sie hat mich andauernd um ein Date gebeten, mich in die Kurse verfolgt und mir ‘n Monat lang jeden Tag ‘nen Kuchen gebacken. Und dann hat sie sich in meinem Schrank versteckt, total mit Schlagsahne beschmiert.« »Oh. Verstehe. Das ist ganz schön extrem.« Heute war einfach nicht mein Tag. Zumindest nicht mein Vormittag. Mittlerweile war mir auch bewusst geworden, dass wir im Frühstückssaal gar nicht alleine waren. Ein Umstand, der mir bedauerlicherweise anscheinend nicht ganz klar gewesen war… »Ich hab echt niemandem von der Waschküche erzählt«, beteuerte William. »Ja, gut«, machte ich. In meinem Kopf arbeitete es, wie ich aus der Situation einigermaßen glimpflich wieder rauskommen könnte. »Ahm, meinst du, es wäre vielleicht möglich, dass du diese Geschichte auch nicht weitererzählst? Das, äh, das war wirklich nett. Danke.« Mit diesen Worten machte ich auf dem Absatz kehrt und verließ den Saal. Heute würde der Tag wohl ohne Frühstück beginnen – doch was machte das noch aus? »Ich finde, das hast du sehr gut gemacht«, tröstete mich Mom, als ich ihr nachmittags am Telefon mein Leid klagte. »Du konntest es nicht ahnen.« »Ich muss ja furchtbar egozentrisch sein, wenn ich gleich annehme, dass er mich gemeint hat«, jammerte ich. Ich war völlig fertig und hatte heute nur mit größter Mühe meine Kurse hinter mich gebracht. »Ich hätte das vermutlich auch gedacht, also bin ich ebenso egozentrisch.« »Ich weiß nur, dass ich in diesem Verein für Internationale Beziehungen nicht mehr aufkreuzen kann. Oder in der Waschküche, oder in der Cafeteria - 103 -
oder sonst wo.« Ich war ganz zerknirscht. »Weißt du, wenn diese irre mit Sahne beschmierte Tussi aus dem Schrank noch da rumhängt, hast du nichts zu befürchten«, baute mich Mom auf. Ich sah auf die Uhr. »Hey, es ist vier. Was ist mit den Glocken?« »Die läuten nicht mehr.« Täuschte ich mich oder hörte sich meine Mom gerade betont ahnungslos an. Etwas, was sie nur ganz selten wirklich war. Eigentlich nie. Ich ahnte, dass es zu den Glocken’ eine Geschichte gab. »Was ist passiert?« »Keine Ahnung. Die haben heute überhaupt noch nicht geläutet«, antwortete Mom. »Oh. Ein Jammer.« Leider kam ich nicht dazu, weiter nachzuhaken. Es klopfte an der Tür, und ich verabschiedete mich zügig von Mom. Als ich die Tür aufmachte stand Laoe vor mit. Mit einem Trolley. »Hi«, sagte sie und sah mich mit ihren riesigen Augen an. Mir kam es so vor, als wäre sie eben erst gegangen, und dann ahnte ich, dass die Aussprache zwischen Lane und ihrer Mutter nicht ganz so verlaufen war wie erhofft. »Was machst du denn hier?«, wollte ich wissen und führte Lane in unsere Wohnung. »Tja, berechtigte Frage.«
- 104 -
7 Nachdem Lane reumütig nach Hause zurückgefahren war, hatte sie unten im Hause niemanden vorgefunden. Eine schlimme Vorahnung hatte sie dann nach oben in ihr Zimmer geführt und siehe da: Ihre Befürchtungen waren berechtigt gewesen: Mrs Kim saß in Lanes Zimmer und hatte alles, aber auch alles entdeckt, was sie nie hätte entdecken dürfen. Platten, CDs, Klamotten, einfach alles. Eben Lanes Ich außerhalb des Adventisten-College. Obwohl das sicher nicht Lanes Masterplan entsprochen hat, fiel ihr auch irgendwie ein Stein vom Herzen, denn die Entdeckungen ihrer Mutter brachten doch zumindest einen Vorteil: Das Versteckspiel konnte endlich aufhören. Lane hatte sich den Mund fusselig geredet, um ihrer Mutter alles zu erklären – aber Mrs Kim blieb wie versteinert. Ohne irgendwelche erkennbaren Reaktionen hatte sie die Ausführungen und Erklärungsversuche ihrer Tochter angehört – nur um sie danach vor die Tür zu setzen. Ich fand diese Reaktion einfach nur gemein. Und war wieder einmal froh, dass ich so viel Glück mit meiner Mom hatte. Mom wäre niemals zu so etwas fähig. Mom fände es auch toll, wenn ich eine Band hätte. Mom hat mir noch nie, wirklich noch nie irgendwelche Klamotten verboten. Nebenbei bemerkt: Vielleicht lag das auch daran, dass meine Klamotten alles andere als wild und gefährlich aussahen und dass ich mir auch nichts Derartiges wünschte. Aber ich wusste: Ich könnte, wenn ich wollte, und oft genügt ja dieses Wissen schon. Aber ich kam vom Thema ab. Was ich nur sagen wollte, war: Meine Mom war die Beste! Auch wenn sie mich manchmal morgens um halb acht wegen so - 105 -
etwas völlig Belanglosem wie einem überfüllten Cafe anrief. Genau das tat sie nämlich heute Früh. Es war Freitag, heute Abend waren wir wieder bei meinen Großeltern eingeladen – und ich wollte so schnell wie möglich meine Kurse absolvieren und dann nach Hause fahren… Wie auch immer, ich wollte schon aus der Tür, da klingelte das Telefon, und Mom erzählte mir, dass sie bei Luke keinen freien Tisch entdeckte. »Und was soll ich dagegen machen?«, fragte ich etwas irritiert. »Weißt du, ich habe gehofft, du hättest telepathische Fähigkeiten entwickelt und könntest ‘n paar Leute zwingen zu gehen.« »Nein. Wenn ich so was könnte, würde ich’s wohl eher beim Pferderennen anwenden. Dein Tisch käme unter ferner liefen.« »Selbstsüchtig«, antwortete Mom, dann unterbrach sie unser Telefonat, denn sie hatte Kirk entdeckt. »Hey, Kirk. Darf ich?«, wollte sie wissen. »Darfst du was?« Kirk verstand solche Floskeln nicht. Kirk war verschroben. Kirk war – man kann es nicht anders nennen – ein lieber Kerl, aber eben auf seine Art. »Darf ich mich setzen?«, erklärte Mom. »Hier?«, fragte er leicht verwirrt. »Ja«, meinte Mom und zeigte in den Laden, um Kirk zu vermitteln, dass alle anderen Tische besetzt waren. Doch Kirk war nicht begeistert von Moms Vorschlag. »Ich habe eine Freundin«, antwortete er abweisend. Man muss dazu sagen, dass sie Kirks erste Freundin seit ziemlich langer Zeit war, und dass er, wann immer es ging, betonte, dass er jetzt eine Freundin hatte und dass er offenbar seltsame Vorstellungen davon hatte, was man tun, beziehungsweise was man alles nicht tun durfte, wenn man eine Freundin hat. Zum Beispiel mit einer anderen Frau an einem Freitagmorgen in einem Cafe sitzen… »Ich will nicht mit dir flirten, Kirk«, beruhigte ihn - 106 -
Mom. Kirk sah sie erleichtert an. »Oh, dann darfst du dich setzen.« »Danke.« Mom setzte sich, nahm dann Kirk unter die Lupe und sagte: »Das Hemd ist toll.« Nicht ohne Stolz erklärte Kirk: »Ja, das ist ‘n Markenhemd.« »Das war ein Flirt«, antwortete Mom mit einem Grinsen. »Oh, Mann«, machte Kirk und warf schnell einen Blick in den Laden, um sicherzugehen, dass niemand sonst diesen »Flirt« mitbekommen hatte. »Da bin ich wieder.« Mom hatte sich wieder mir zugewandt. »Also, wie geht es Lane?« »Sie ist hier. Es geht ihr soweit gut. Sie, äh, ist noch ein bisschen trotzig. Sie hat noch nicht wieder mit ihrer Mutter geredet.« »Arme Mrs Kim.« »Arme Mrs Kim? Sie hat Lane rausgeworfen. Ich bin sauer.« Ich machte eine kurze Pause, dann meinte ich: »Also, Lane scheint sich hier halbwegs wohl zu fühlen. Sie gewöhnt sich auch schon an unseren Rhythmus. Hey.« Gerade war Lane mit vier Bechern Coffee to go aufgetaucht. Das machte sie jetzt jeden Morgen – und an diesen Luxus konnte man sich schnell gewöhnen. An was ich mich allerdings nie würde gewöhnen können, war Paris’ Reaktion auf ihren dreifachen Espresso. Kaum hatte sie ihn intus, schrie und tobte sie wie ein Vietnamveteran, der sich gerade Die durch die Hölle gehen ansieht. »War sie wieder mit dem Professor zusammen?«, tuschelte Mom mir ins Ohr, die Paris’ Schreie mitbekommen hatte. »Ja, aber sie behauptet, sie hätte sich mit Wissen vollgestopft«, tuschelte ich zurück. »Na, das hat sie ja auch«, antwortete Mom. Meine Mom! Sie konnte Witze machen auf - 107 -
nüchternen Magen, die mir selbst nach einem ausgiebigen Frühstück mit einigen Gläsern Prosecco nicht in den Sinn kommen würden. »Oh, igitt!«, schrie ich. »Igitt, was? Redest du über mich? Wer ist dran?«, fragte Paris, die anscheinend Lunte gerochen hatte. Doch ich konnte sie beruhigen und ihr glaubhaft versichern, dass sie paranoid wäre. Während des Telefonats wurde ich noch Zeuge, wie Luke und Mom den armen Kirk mächtig auf den Arm nahmen, Luke nannte ihn sogar einen Ladykiller. Kirk war damit einigermaßen überfordert und hielt es irgendwann sogar für angebracht, sich im Laden umzusehen, um mit lauter Stimme wildfremden Menschen, die sich nicht für ihn interessierten, mitzuteilen, dass Mom und er kein Paar seien. So hat eben jede Stadt ihre Eigenbrödler. Sogar so ein Nest wie Stars Hollow. Mom erzählte mir noch, dass sie sich gleich mit Jason treffen würde – nur stockte sie in ihren Ausführungen zu Jason ziemlich abrupt, als Luke an ihren Tisch trat. Nachtigall, ick hör dir trapsen, dachte ich bloß, denn mal ehrlich: Vor seinem besten Freund hätte man doch keinen Grund, seine neueste Eroberung zu verheimlichen, oder? Immer vorausgesetzt, es wäre tatsächlich der beste Freund und nichts weiter… Egal, ich dachte mir meinen Teil, enthielt mich für den Moment aber jedes Kommentars. Plötzlich machte Mom eine Stimme, als hätte sie eine unglaubliche Entdeckung gemacht. »Irgendwas passiert hier gerade«, flüsterte sie aufgeregt. »Hier ist grad ‘ne Rock n’Roll-Hippie-Braut aufgekreuzt. Sie quatscht Luke voll. Und der wirkt nicht unbedingt sehr glücklich darüber.« Mom machte eine kurze Pause. »Ah, sie sind nicht sehr nett zueinander«, berichtete sie weiter, um dann in veränderter Tonlage jemanden anzusäuseln. Offenbar Kirk. »Hey, Schatz«, machte sie. »Schatz. Rück doch ‘n bisschen näher, - 108 -
dann kannst du was hören. Los.« Der arme Kerl. Na ja, so langsam wurde ich jedenfalls neugierig. So viele neue Gesichter tauchten in Stars HoUow schließlich nicht auf. Und schon gar nicht so viele neue Frauengesichter bei Luke. Was ging da wohl vor sich? Erst Nicole und jetzt die Nächste? »Vielleicht hängt das irgendwie mit seiner Wohnung zusammen. Womöglich vermietet er ja die, für die er keine Verwendung hat. Oder es geht um die Scheidung von Nicole«, mutmaßte Mom. »Oder darum, dass sich die beiden jetzt wirklich nicht scheiden lassen.« »Oder vielleicht ist sie ‘ne Freundin von Nicole oder auch ‘ne Anwältin, falls sie sich doch scheiden lassen wollen«, gab ich nun auch meinen Senf dazu. »Mann, Luke ist der schwierigste Mensch, den ich kenne. Und doch hat er ‘ne Doobie-Brothers-CD«, meinte Mom. Sie machte eine kurze Pause, in der sie Augen und Ohren offen hielt und in der bei mir Paris weiterhin verrückt spielte. »Er hat sie nach oben geschickt«, meinte Mom jetzt. »Also, was meinst du? Morgendlicher Quickie mit der hiesigen Domina?« »Hm. Hat sie ‘ne Tasche dabei?«, wollte ich wissen. Mom verneinte. »Und wie hat sie dann ihr Domina-Zeug transportiert?« »Ah, vielleicht nehmen sie ja die Sachen, die er im Haus hat.« »Die Angel vielleicht?« »Die Baseball-Karte von Nolan Ryan? Oder ‘n Buch übers Angeln?« Mom und ich waren uns jedenfalls einig: »Was für ‘n Rätsel!« Aber das Wochenende stand ja vor der Tür, und wenn wir da nicht mehr über die Lady in Erfahrung bringen würden, wäre das ja gelacht. Kaum hatte ich aufgelegt, klingelte erneut das Telefon. Was war denn heute Früh los? - 109 -
»Hi, Rory«, meldete sich am anderen Ende eine alt bekannte Stimme. »Hier Jamie. Na, wie geht’s dir?« Ganz kurz stockte mein Herz. Der arme Jamie! Anscheinend hatte er immer noch keine Ahnung, was Paris mit Asher Flemming gerade so trieb… »Gut, Jamie«, rief ich dann laut, denn ich wollte, dass Paris mitbekam, mit wem ich sprach. Ihrem Gesicht nach zu urteilen hatte sie es mitbekommen, denn sie zog genervt die Augenbrauen zusammen. »Ziemlich lange her«, begann ich einen ungeschickten Smalltalk. »Wie ist das zweitbeste College des Landes?« »Princeton ist spitze, und schwerer als so ‘ne Faulenzer-Uni wie Yale.« »Du willst sicher Paris sprechen«, meinte ich ziemlich abrupt, denn irgendwie klappte das gerade nicht mit dem Smalltalk. »Ja«, antwortete Jamie. »Ich bleib die nächsten Tage hier. Vermutlich sehen wir uns dann irgendwann mal.« »Gut. Sekunde«, meinte ich. Mann, Jamie war echt ein netter Kerl. Ich funkelte Paris böse an und reichte ihr den Hörer. »Hey«, machte Paris kurz angebunden. »Ich war schon fast zur Tür raus. Was gibt’s?« Hektisch lief sie im Zimmer auf und ab. »Wie schön«, antwortete sie wohl gerade auf die Tatsache, dass Jamie erzählt hatte, dass er schon in Yale sei. »Ist dein Hotelzimmer gut? Gut. Tja…« Sie zögerte kurz, vielleicht plagte sie ja der Anflug eines schlechten Gewissens – aber ich kannte Paris: Das würde schnell vorübergehen. Ich hatte Recht. Kurzerhand wimmelte sie Jamie ab. »Wahrscheinlich wird das heute Abend nichts. Im Augenblick herrscht bei mir das Chaos… Ich weiß…« Anscheinend gab sich Jamie nicht so schnell zufrieden. »Tut mir Leid, aber heute Abend waren wir nicht fest verabredet. Das war ‘ne lockere Sache. Weißt, du,…«Wieder machte sie eine Pause und schien nach neuen Argumenten zu suchen. Anscheinend hatte sie eine Idee, denn mit einem Mal leuchteten ihre Augen - 110 -
auf und sie ergriff wieder das Wort. »Ich bin total erledigt. Ich hab irre viel zu lernen. Und bei uns findet grad ‘n übles Drama statt. Rorys Busenfreundin Lane wohnt seit neuestem hier.« Lane und ich wurden hellhörig, verschränkten die Arme vor der Brust und harrten gespannt der Dinge, die Paris von sich geben würde. »Sie ist zu Hause rausgeflogen und in schlimmer Verfassung. Sie ist schwer drogensüchtig, sag ich dir, ähnlich wie Nancy Spungen, und sie steht auf Folienrauchen, also muss ich ihr ’n bisschen beistehen. Die Kleine geht wirklich die Wände hoch.« Paris war wirklich unglaublich. Sie hatte es geschafft, dass Lane und ich mittlerweile mit offenem Mund dastanden. »Ja, dann morgen. Bestimmt«, meinte sie nun. »Das krieg ich hin. Das heute war nicht fest. Ich hab dir gesagt, schreib’s mit Fragezeichen auf. Mit Fragezeichen. Okay. Bis dann«, dann legte sie auf. »Was?« Sie sah uns fragend an. »Gar nichts«, antwortete ich schnippisch. »Na, irgendwas musste ich doch sagen. Wir treffen uns ja morgen. Er hat nicht immer Verständnis dafür, dass ich so viel lerne. Und das muss ich, das weißt du«, meinte Paris ohne einen Anflug eines schlechten Gewissens. »Ja, klar«, sagte ich und zog eine Grimasse. »Was ist denn Folienrauchen?«, schaltete sich nun auch Lane ein, denn dass Folienrauchen irgendetwas Illegales war, das war ihr mittlerweile klar geworden. Sie rannte Paris, die ihre Frage ignoriert hatte, hinterher. »Du solltest nicht solche Gerüchte in die Welt setzen. Nachher spricht sich das rum, und ich…« Ich hörte gar nicht mehr hin. Für heute Früh reichte mir der Trubel erst einmal – auf nüchternen Magen, wohl gemerkt. Ich merkte, dass mir derselbe mittlerweile in den Kniekehlen hing, und beschloss, - 111 -
erst einmal im Speisesaal nach was Essbarem Ausschau zu halten. So früh am Morgen war es dort noch ziemlich leer, und ich hatte die Wahl zwischen einigen freien Tischen. Ich nahm den erstbesten, als ich mit meinem vollen Tablett von der Ausgabe zurückkam. Kaum hatte ich mich gesetzt, drang eine männliche Stimme an mein Ohr. Eine Stimme, die ich vor nicht allzu langer Zeit, genauer gesagt heute Früh, schon einmal gehört hatte. Jamie. »Hey, Rory«, grüßte er mich etwas unsicher. Ich erschrak ein bisschen, als ich ihn sah, denn er sah so aus, als hätte er diese Nacht nicht sonderlich gut geschlafen. »Oh, Jamie, hi.« »Entschuldige, wenn ich mich dir so aufdränge«, druckste er herum. Man merkte ihm an, dass er was loswerden wollte, und ich konnte mir schon denken, was es war. »Hör, hör zu, ha-hast du…« »Hab ich was?«, half ich ihm auf die Sprünge. »Also, ich würde gern wissen, was mit Paris ist, und ich weiß nicht, wen ich sonst fragen soll«, fasste er sich ein Herz. »Ich hab Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um sie zu besuchen. Ich kann nur zwei Tage bleiben, und jetzt will sie mich nicht sehen.« Oh, Mann, er tat mir Leid. Aber was sollte ich tun? Sollte ich ihm tatsächlich hier und jetzt die Wahrheit sagen – noch bevor ich über diese mit Paris gesprochen hatte? Ich beschloss, erst einmal nichts zu sagen und stattdessen Paris ins Gewissen zu reden. Manchmal war ich echt froh, dass es bei mir beziehungstechnisch so miserabel lief. Da blieben mir solche Geschichten wenigstens erspart. Geschichten voller Lug und Trug, meine ich. »Aber ihr trefft euch doch morgen, oder nicht?«, versuchte ich Jamie daher aufzubauen. Er sah mich skeptisch an. »Wenn sie sich nicht wieder davor drückt.« »Das tut sie ganz sicher nicht. Auf keinen Fall«, - 112 -
versprach ich ihm, und mir selbst versprach ich, dass ich dafür schon sorgen würde! »Paris hat im Moment viel zu tun«, fuhr ich an Jamie gewandt fort. »Du warst auch mal im ersten Semester. Du weißt, was das heißt.« Ich machte eine kurze Pause und beschloss dann, aufs Ganze zu gehen. Wenn schon trösten, dann auch richtig. »Ich hab auch gehört, wie sie dir von meiner Freundin Lane erzählt hat«, fuhr ich deshalb fort. »Sie wohnt zur Zeit bei uns, und das ist für meine Mitbewohnerin schon ziemlich hart.« »Was ist denn Folienrauchen?«, fragte Jamie, den diese Passage des Telefonats anscheinend auch vor Rätsel stellte. »Keine Ahnung, aber Lane sagt, sie hätte das ‘ne Weile gemacht. Sie ist jetzt ‘n kalter Truthahn. Ahm, oder Cold Turkey. Ich hab echt keine Ahnung. Und, ahm, Paris ist ihr dabei wirklich ‘ne große Hilfe.« Ich merkte, dass mein Stammeln um einen Truthahn mehr als fragwürdig gewirkt haben musste. Wenn Lane meine beste Freundin war und tatsächlich auf Entzug wäre, dann hätte ich natürlich wissen müssen, was Folienrauchen ist. Auch Jamie glaubte mir offensichtlich kein Wort, denn unbeirrt fragte er: »Hat sie vielleicht was mit ‘nem anderen?« Ich kicherte unsicher. »Nein, nicht dass ich wüsste.« Jamie hatte anscheinend genug herausgehört. Vielleicht hatte er aber auch nur gemerkt, dass er von mir nichts erfahren würde und dass er sich dabei schon an die gute Paris selbst wenden musste. »Ich lass dich in Ruhe«, meinte er deshalb. »Vielen Dank. Du hast mir echt sehr geholfen.« »Gut«, meinte ich und sah ihn unsicher an. »Es wird wieder besser, Jamie. Das weiß ich genau.« Jamie war schon den Mittelgang hinunter zum Ausgang gegangen. Auf einmal drehte er sich noch einmal um und sah mich traurig an. »Heute habe ich Geburtstag.« - 113 -
Mir blieb der Bissen im Halse stecken. »Oh, wow«, machte ich. Was Besseres fiel mir leider nicht ein. »Ich wünsch dir alles Gute.« »Danke«, meinte Jamie. Dann drehte er sich endgültig um und ging zur Tür heraus. Ich blieb ein paar Sekunden mit offenem Mund so sitzen. Dann zwang ich mich, ein paar Happen zu essen, denn eigentlich war mir der Appetit gerade gründlich vergangen. Während ich also von einer Aufregung in die nächste stürzte, hatte Mom schon ihren ersten Kaffee samt Muffin bei Luke verdrückt und saß nun zu Hause, um auf Jason zu warten. Sie waren für kurz nach acht verabredet gewesen, mittlerweile ging es auf halb neun zu, und Mom saß auf der Treppe und zog eine Schnute. Als sie es nicht mehr aushielt untätig rumzusitzen, holte sie tief Luft und sah aus dem Fenster, in der Hoffnung, seinen Wagen um die Ecke biegen zu sehen. Sie wurde nicht enttäuscht, im Gegenteil. Jason stand sogar schon vor dem Haus, machte allerdings keine Anstalten, auszusteigen. Mom musste grinsen, zog sich rasch ihre Jacke über – nebenbei bemerkt eine Art Schweizer Armeejacke in Rosa mit großen Goldknöpfen, die ihr hervorragend stand – und rannte zu Jasons Sportflitzer. Jason, der sie kommen sah, machte schon wilde Armbewegungen, deutete auf sein Handy, zuckte entschuldigend die Schultern und drehte die Scheibe herunter. »Halt, Gentlemen«, sprach er in sein Handy. »Gentlemen, leider ist eine hundertprozentige Haftungsübernahme für Unfälle am Arbeitsplatz nicht möglich, in keiner Ihrer Fabriken. Das internationale Recht schließt so etwas aus. Ah, übersetzen Sie das bitte, Mr Watanabe?« Mr Watanabe tat wie geheißen. »Ich dachte, du hast den Vormittag frei«, flüsterte Mom, die sich in Jasons Fenster gelehnt hatte. »Ich habe den Vormittag frei«, antwortete Jason. - 114 -
»Die Japaner müssen aber leider arbeiten. Und? Setzt du dich zu mir?« Mom riss die Augen auf. »Und zu den japanischen Geschäftsleuten? Säuisch.« »Säuisch?«, fragte Mr Watanabe, der das letzte Wort anscheinend mitgehört hatte. »Was heißt säuisch?« »Ah, es, es ist nicht nötig, das zu übersetzen, Mr Watanabe«, erklärte Jason eifrig. Dann fragte er: »Wie sieht’s aus? Wo stehen wir?… Oh, auf so was stehen die wirklich… Ah, bitte sagen Sie ihnen, ich rufe gleich morgen Früh noch mal an.« Jason legte auf und blickte Mom an. »Los, komm schon, steig ein. Es ist kalt draußen.« »Ich dachte, wir nehmen meinen Jeep. Da geht mehr rein«, grinste Mom. »Ja, gute Idee«, meinte er und stieg aus. Dann sah er Mom bewundernd an. »Hallo.« »Hallo«, antwortete Mom und gab ihm einen Kuss. »Und? Wo fahren wir hin?«, erkundigte sich Jason nach der Lage. »Ich hab ‘ne hübsche kleine Liste hier«, antwortete Mom gut gelaunt und drückte ihre Handtasche wie einen Schatz an sich. »Viele Läden in Woodbury und Umgebung. Und wir müssen uns ‘ne Zeitung besorgen. Um zu erfahren, wer gestorben ist.« Jason nickte wissend. »Nachlassverkauf, alles klar.« »Danach kommen wir her, sehen uns hier ‘n paar Läden an und essen zu Mittag.« »Haben wir noch Zeit für ‘n Kaffee? Ich hab schon seit Stunden keinen getrunken.« Mom blickte auf die Uhr und sah ihn dann geschockt an: »Ach, ja? Und seit wann bist du auf?« »Seit fünf.« »Die Telefonkonferenzen fangen so früh am Morgen an?« »Ich sag doch, in Asien haben sie nie vormittags frei, auch nicht in Europa.« »Gut, gehen wir Kaffee trinken.« - 115 -
»Wie war’s mit dem Laden, von dem du immer erzählst? Wie heißt der, ahm, Dukes?«, schlug Jason vor. Mom kicherte unsicher vor sich hin. »Duke’s. Klar. Oder, äh, wir gehen einfach woanders hin.« Das war ihr einfach nicht ganz recht. Sie musste es sich eingestehen… »Was? Wieso nicht zu Duke?« »Das ist nichts Besonderes«, antwortete Mom ausweichend und vermied es dabei, Jason in die Augen zu sehen. »Du gehst jeden Tag da hin.« »Ja, aber ich schätze, Duke hat geschlossen. Und er heißt Luke.« »Geschlossen? Um acht Uhr morgens an einem Freitag?« »Ja«, nickte Mom eifrig. »Sabbat.« »Ist Duke Jude?« »Nein, Luke ist Jude.« »Der Sabbat fängt nach Sonnenuntergang an«, meinte Jason, der sich anscheinend besser auskannte als Mom. »Aber Luke legt ganz gern früher los mit dem…« Mom zögerte einen Augenblick, ihr fehlte das richtige Substantiv. »Sabbatieren.« Sie hatte es noch mal gefunden… »Ich wette, er hat geöffnet!«, orakelte Jason. »Okay, aber dann riskieren wir, umsonst hinzugehen, weil er doch zu hat.« »Also ich sage: Lebe gefährlich oder gar nicht!« Jason konnte wirklich witzig sein. Er hatte Mom überzeugt. Warum auch nicht, dachte sie. Ist ja nichts dabei. Außerdem konnte sie es damit Luke und seiner Nicole heimzahlen. »Ja. Ja, du hast Recht«, lenkte sie deshalb ein. »Und woanders kriegt man auch keinen guten Kaffee hier. Also gehen wir zu Duke.« »Vielmehr zu Luke.« - 116 -
»Duke.« Sie stiegen in Moms Wagen, sie ließ den Motor an und fuhr auf dem kürzesten Weg zu Lukes Cafe. Als sie dort waren und Mom auf dem Parkplatz gehalten hatte, zuckte Jason zusammen. »Wem gehört der Truck dort? Duke?«, wollte er wissen. »Ja, Luke«, antwortete Mom. Jason sah zur großen Fensterscheibe des Cafes, in der er gerade einen Mann sah, dem er heute nicht zum ersten Mal begegnete. Einem Mann mit einer umgedrehten Baseballkappe auf dem Kopf… »Dann ist das vermutlich Luke«, meinte Jason und zeigte in Lukes Richtung. Mom fiel zwar auf, dass Jason irgendwie unruhig wirkte und unbehaglich auf seinem Sitz hin und her rutschte, aber sie konnte sich keinen Reim darauf machen. »Mann, du treibst ja ziemlich viel Recherche für ‘n simplen Kaffee«, meinte sie deshalb nur. »Das ist der Türknauf. Man dreht ihn nach rechts. Komm jetzt.« »Ah…«, stammelte Jason. »Was ist mit dir?« »Ich hab jetzt keine Lust mehr auf Kaffee.« Jason hatte ziemlich schnell seine Meinung geändert. »Du warst doch gerade noch ganz wild auf das Zeug.« »Das ist vorbei. Die Wirkung des Fünf-Uhr-Kaffees hat wieder eingesetzt.« »Du trinkst Kaffee mit Depotwirkung?« Mom schüttelte den Kopf. »Gut. Ich brauch sofort ‘n Kaffee.« »Okay, ich warte hier auf dich.« Mom verstand nicht, was auf einmal mit Jason los war. Gerade wollte er noch – und jetzt? »Was ist denn mit dir?«, rief sie. Jason machte ein schuldbewusstes Gesicht. »Ich, ich hab Duke auf der Fahrt hierher doch ganz schön gedrängelt, weißt du?« - 117 -
Daher wehte also der Wind. Sie war mit einem Drängier liiert! »Ach, du hast Luke gedrängelt?«, hakte Lorelai nach. »Ziemlich heftig. Gehupt wurde auch«, gab Luke zu. »Ich wusste nicht, dass das Duke ist.« »Ah, wie schnell ist er denn gefahren?«, wollte Mom wissen, die Lukes Fahrstil kannte und ihn nicht als übertrieben langsam bezeichnen würde. »Schneckentempo, etwa dreißig«, erklärte Jason. »Erlaubt sind hier aber nur zwanzig«, warf Mom ein. »Also, hör zu, das ist ein Grund, warum ich mit Kleinstädten nicht klarkomme: die Nähe. Wenn ich in New York jemanden bedränge, sehe ich ihn nie wieder. Wenn ich das in ‘ner Kleinstadt tue, hat mein Opfer das Kaffee-Monopol«, rief Luke unbehaglich, dann nahm er wahr, dass Luke Moms Wagen gesehen hatte. Moms Wagen mit einem Mann als Beifahrer… Interessiert war er ans Fenster getreten. »Und jetzt sieht er zu uns rüber!«, rief Jason wie in allerhöchster Not. »Wer, Luke?«, tat sie ahnungslos. »Ist das sein Name?« Der arme Jason war mittlerweile richtig durcheinander. »Ja«, meinte Mom und sah zu Luke hinüber. »Nein, sieh nicht hin!«, rief Jason aufgeregt. »Bitte sieh ihn nicht an.« Anscheinend hatte er ein mächtig schlechtes Gewissen. »Okay«, bestimmte er jetzt. »Los, los, los, los.« »Wohin?« »Egal, Hauptsache, es gibt dort Kaffee. Fahr schon.« Mom fuhr exakt zwei Meter. Dann hielt sie an und erklärte Jason, dass es bei Luke auch den zweitbesten Kaffee der Stadt geben würde. Aber Jason war nicht zu überzeugen. »Okay, bitte fahr zu einem Cafe, das wenigstens fünfzig Meter von hier entfernt ist.« »Oh, ach, so. Sag das doch gleich«, meinte Mom und kicherte still vor sich hin. Während sie als Nächstes - 118 -
Mrs Kim ansteuerte. Sie fand, dass Jason, wenn er Luke schon so gedrängelt hatte, jetzt auch noch ein bisschen auf seinen Kaffee warten konnte.
- 119 -
8 Nach kurzer Fahrt hielt Mom mit Jason vor einem Haus, bei dem schon im Hof diverse Möbel aufgebaut waren. Es war das Haus von Familie Kim… Mom bezweckte zweierlei mit diesem Zwischenstopp. Zum einen ging es ihr wirklich um die Möbel, zum anderen wollte sie Mrs Kim über Lane informieren. Sie war eine Mutter und wusste einfach, dass Mrs Kim sich große Sorgen machte. Jason hatte während der gesamten Fahrtzeit telefoniert – und so langsam aber sicher, fand es Mom immer weniger lustig. »Was? Moment, Moment mal. Die Post sagt, es ist in Atlanta? Wie ist es in Atlanta gelandet? Hören Sie, Dennis, es wird Zeit, mal aktiv zu werden, okay?«, rief Jason gerade aufgebracht in sein Telefon. »Und plötzlich verschwand der sonst so zurückhaltende Jason Stiles in ‘ner Telefonzelle, riss sich die Klamotten vom Leib und wurde zu Superman«, lenkte Mom ihn ab. »Und er wurde aktiv, wo auch immer Aktivitäten auf ihn warteten…« Mom flirtete wie ein Weltmeister und warf ihm verruchte Blicke zu. »Ah, ahm, Verzeihung, ich hab den Schluss nicht mitgekriegt«, rief Jason in sein Telefon. »Hör auf zu telefonieren«, meinte Mom jetzt bestimmt. »Das letzte Gespräch, ganz bestimmt«, bettelte Jason und hielt den Hörer zu. »Zwei Minuten, nicht mehr.« Mom schaute ihn drohend an. »Zwei Minuten, sonst werf ich das Ding in den See.« »Hier gibt es einen See?«, fragte Jason. Durch sein ununterbrochenes Telefonieren hatte er rein gar nichts von Stars Hollow und seiner Umgebung gesehen. »Wir sind dran vorbeigefahren«, meinte Mom in - 120 -
leicht genervtem Tonfall. »Zwei Minuten«, sagte sie dann. Damit ließ sie ihn stehen und ging schon mal zu Mrs Kim. Lanes Mom sprach gerade mit einem Kunden. Als sie Mom erblickte, sah sie nur einmal ganz kurz auf, aber man konnte an keiner Regung ihres Gesichts ablesen, dass sie Mom kannte, geschweige denn, dass sie sich freute oder vielleicht sogar hoffte, über Mom irgendetwas von Lane zu erfahren. »Hi, Mrs Kim. Hallo.« »Lorelai.« Mrs Kim nickte Mom zu. Das war’s. Jedenfalls wusste man spätestens jetzt ganz genau, woher Lane die Gabe besaß, sich mit keiner Regung anmerken zu lassen, wie es wirklich in ihr aussah. Selbst, wenn es Lane beschissen ging, lächelte sie noch… »Wow, Sie haben ja richtig viele neue Sachen«, meinte Mom, während sie die Antiquitäten inspizierte. Sie machte eine kurze Pause und trat dann dicht an Mrs Kim heran. »Es geht ihr bestens«, flüsterte sie. »Sie ist in Yale, bei Rory.« Aber als Mrs Kim sich mit keiner einzigen Regung anmerken ließ, dass sie über die Information dankbar war, wandte sich Mom etwas unschlüssig zur Tür, um nachzusehen, welches Telefonat Jason gerade führte. Wie schon erwartet: Jason telefonierte tatsächlich immer noch. Dabei waren die zwei Minuten längst vorbei. Es waren mindestens drei vergangen. Mom riss langsam aber sicher der Geduldsfaden. »Hör zu, äh, tut mir Leid«, rief sie ihm schon von weitem zu, »aber Europa, Asien, Afrika und das Land, aus dem Björk kommt, müssen auf dich verzichten, denn ich zieh das Telefon aus dem Verkehr. Tut mir Leid, Mister, aber ich werde das Ding jetzt sofort abstellen.« Mom wollte Jason schon das Telefon entwenden, als dieser wie in höchster Not schrie. »Nein, nein, nein. Ich bin noch dran, EMILY.« - 121 -
Wie von der Tarantel gestochen zuckte Mom zurück. Emily? »Hier ist grad ‘ne ganze Menge los, irrer Betrieb«, stammelte Jason gerade. »Ah, nein, ich bin nicht im Büro. Ich habe den Vormittag frei.« Auf Jasons Gesicht zeichneten sich Schweißperlen ab, und er hatte sich seine schwarze, dicke Winterjacke schon aufgeknöpft. »Ja, Richard hat sich auch mal einen freien Vormittag verdient… Okay, dann sehen wir uns im Hotel… Ist gut… Bis dann.« Er legte auf und sah Mom an, als wäre er am Ende seiner Kräfte. »Ich hab mir ‘n Muskel vom vielen Winken gezerrt«, meinte er vorwurfsvoll. »Woher sollte ich denn wissen, dass du mit meiner Mutter redest?« »Das war ein sehr persönliches Winken«, erklärte Jason. »Jede andere Frau hätte bei diesem Winken vor mir Reißaus genommen.« »Sie hat dich angerufen?«, forschte Mom nach. Emily war ihr nicht geheuer, und dass sie ausgerechnet Jason anrief, ihren ausgemachten Lieblingsfeind, das konnte nur eins bedeuten: Sie brauchte bei irgendetwas seine Hilfe. »Ja, das stimmt«, nickte Jason und spielte den Ertappten. Mom stieg darauf ein und riss die Augen auf. »Was?«, rief sie empört. »Hast du mit ihr so was wie Dustin Hoffman mit Mrs Robinson?« »Ja.« Jason schluckte und sah betreten auf den Boden. »Ich hab mal Richard besucht, und er musste weg. Emily hat ‘ne Zigarette geraucht und sich die Seidenstrümpfe glatt gestrichen…« Er machte eine kleine Kunstpause und fuhr dann in normalem Tonfall fort. »Ich soll morgen zu so ‘ner Wohltätigkeitsveranstaltung in irgendeinem Hotel antreten.« Er kam aber nicht dazu, genauer zu erklären, worum es bei dieser Wohltätigkeitsveranstaltung ging, denn nun klingelte ausnahmsweise Morris Telefon. - 122 -
»Hey, warte, warte!«, rief Jason. »Moment mal. Wenn ich nicht telefonieren darf, dann darfst du das auch nicht.« Er machte Anstalten, Mom das Telefon wegzunehmen, doch sie war schneller, streckte ihm nur die Zunge raus und nahm ab. »Hallo?«, fragte Mom in den Hörer. »Lorelai, ich bin’s«, drang die Stimme ihrer Mutter an ihr Ohr. Jason, der natürlich nicht wusste, von wem Lorelai gerade angerufen wurde, hampelte im Hintergrund herum. »Lorelai Gilmore ist ‘ne üble Heuchlerin!«, rief er gerade frisch und frei von der Leber weg. Mom sah ihn erschrocken an. »Hallo, Emily!«, rief sie. Jason zuckte zurück. »Warum nennst du mich >Emily«, wollte Grandma wissen. Die Feinfühligste unter der Sonne war sie sicher nicht, aber meistens merkte sie intuitiv, wenn ihre Tochter ihr etwas verheimlichen wollte. »Ahm, na, das ist doch dein Name«, redete sich Mom heraus. »Wenn du noch mal fragst, sage ich dir dasselbe.« »Und wer hat da gerade so geschrien?«, hakte Emily nach. »Niemand, den du kennst. Was gibt’s?« »Nun, ich finde keine acht Personen für das GalaDinner, das morgen zugunsten des Erwerbs seltener Handschriften stattfindet. Dein Vater hat die Karten besorgt.« Jetzt klingelte zur Abwechslung mal wieder Jasons Handy. »Hier ist Jason…«, meldete er sich unbedacht zu Wort, um sich dann erschrocken die Hand an den Mund zu halten und das Weite zu suchen. Aber es war zu spät. Meine Grandma hatte Lunte gerochen. »Das war derselbe Mann wie eben. Steigt er dir etwa nach?« »Oh, ja. Ahm, ich bin auf der Straße, und…« Mom - 123 -
machte eine Handbewegung, als wolle sie jemanden loswerden. »Los, verschwinden Sie!«, rief sie dann, um ihre Mutter endgültig zu überzeugen. »Also, äh, hier geht’s zu wie im Irrenhaus.« »Das ist ja gar nicht gut. Besser, du gehst woanders lang«, meinte Emily ehrlich besorgt. Manchmal wurde deutlich, dass sie selbst eigentlich gar keine Besorgungen mehr machte und alles den Dienstboten überließ – sonst hätte sie sich in einer Stadt wie Stars Hollow nicht ernsthaft Sorgen um ihre durchaus erwachsene Tochter gemacht. »Ja, klar«, beruhigte sie Mom. »Schon dabei. Also, was ist das mit den Manuskripten?« »Das ist so eine Spenden-Gala. Ich weiß nicht weiter. Ich brauche schnell noch ein paar Gäste für unseren Tisch.« »Ich werd da sein. Ist doch klar.« »Wirklich?« Grandma klang überrascht. »Ich komme gern«, sagte Mom jetzt auch noch. Sie wollte einfach nur das Gespräch so schnell wie möglich beenden – dazu war sie auch bereit, auf eine öde Gala zugunsten seltener Handschriften zu gehen. »Und wie viel soll ich spenden?« »Gar nichts. Wir haben schon für dich bezahlt!«, rief Emily beglückt. »Gut. Sprich mir die Einzelheiten, wo wir uns treffen und so weiter, auf den Anrufbeantworter. »Das mach ich. Danke. Und, bitte, du solltest diese Straße verlassen.« »Ja, mach ich. Bis dann.« Als Mom auflegte, hatte auch Jason gerade sein Gespräch beendet. »Hat sie mich gehört?«, fragte er alarmiert. »Ja, aber sie hält dich für ‘nen ausgeflippten Stadtstreicher«, beruhigte ihn Mom. »Siehst du, und genau das ist der Grund, wieso ich es hasse, das mit uns zu verheimlichen.« »Ich weiß«, meinte Mom. »Aber wir können’s ihnen nicht sagen, niemals.« - 124 -
»Wir werden ja doch erwischt«, prophezeite Jason. »Das grade war doch nur ‘n verrückter Zufall.« »Und der wird sich unter Garantie wiederholen. Die werden wütend sein, weil ich nichts gesagt habe. Sie werden immer wütender, je länger du nichts sagst.« »Sie zerstören alles bloß«, jammerte Mom. »Und das mit uns ist doch so schön.« Aber eigentlich wusste sie ja selbst, dass es albern war, ihren Eltern nichts von ihrem Freund zu erzählen. »Wir können’s nicht ewig aufschieben. Ich sage dir, irgendwo sehen sie uns zusammen, oder ein Verkehrsreporter macht Fotos von uns, und dann wird uns Richard in den Nachrichten sehen. Wenn wir uns nicht so einen Star-Trek-Tarnkappenschutzschild besorgen, und nebenbei bemerkt funktionieren die auch nicht immer. Ich weiß noch, wie sich Kirk darüber beschwert hat, und Picard war damit auch nicht zufrieden… dann werden sie uns irgendwann sehen und wissen, was Sache ist.« Mom runzelte die Stirn. »Es beunruhigt mich, dass mein Freund ‘n Trekkie ist.« »Ich, ich, ich, ich hab einfach kein gutes Gefühl bei der Sache. Das macht mich einfach nervös. Ich hatte vorhin ein sehr schwieriges Telefonat mit unseren Partnern in Japan. Da bin ich cool geblieben. Dann hat ein Klient aus Kalifornien angerufen und mich schwer genervt. Kein Problem. Aber kaum ruft deine Mutter an, ist mein Pullover von Schweiß durchtränkt.« »Soll ich den Pulli für dich auswringen?«, meinte Mom fürsorglich. »Nein, der ist alt. Und ich finde die Sache mit uns auch schön. Deswegen liegt mir das so am Herzen.« Mom sah ihn verständnisvoll an. »Ich bin auch wirklich nicht sauer. Und ich tu alles, was du willst. Du kennst sie besser als ich…« »Ich sag’s ihnen.« Mom hatte tief Luft geholt und nun war es raus. - 125 -
»Wirklich?« »Ja, ja.« Mom überlegte kurz. »Ahm, heut ist wieder unser wöchentliches Essen. Und Dad ist nicht da, aber wenn ich’s erst mal bloß Emily sage, ist es vielleicht besser.« »Ich, ich kann mit Richard reden, wenn du willst.« Jason war wirklich süß, aber Mom wollte das Kind alleine schaukeln. »Nein, nein, nein, das ist meine Sache. Ich regle das.« Sie atmete tief durch und griff entschlossen nach Jasons Hand. Vor allen Gesprächen hatte Gott jetzt erst einmal die Möbel gesetzt. Während Mom den weiteren Vormittag mit Jason und ohne Telefon verbrachte, grübelte ich noch ziemlich lange über Paris und Jamie und Asher Flemming. Ich besuchte noch meine Seminare, dann wollte ich in meine Wohneinheit gehen und meine Sachen fürs Wochenende zusammenpacken. Es war nicht das erste Mal, dass ich für Paris gelogen hatte – aber es sollte das letzte Mal gewesen sein. Bis jetzt hatte ich zwar erfolgreich vermieden, mit ihr über Professor Flemming zu reden, doch auch das wollte ich jetzt ändern. Um ein für alle Mal meinen Standpunkt darzulegen und ihr zu versprechen, nicht länger ihre Lügen zu decken. Als ich die Tür aufschloss, hörte ich schon den Fernseher. Ted Kennedy erzählte gerade einer Versammlung, dass er sich für psychisch kranke Kinder einzusetzen gedachte. Paris lümmelte auf der Coach und hörte zu. Ich sah Paris, ich sah den Fernseher, und ich dachte nicht lange über einen klugen Einstieg nach. »Ach, du sitzt hier also rum und siehst fern, ja?«, fragte ich spitz. »Ich lerne«, antwortete Paris selbstgerecht. Dann zeigte sie auf den Bildschirm. »Guck dir diesen Ted Kennedy an. Ich hab ihn als Senator immer bewundert, aber jetzt denke ich: Es ist ungerecht, - 126 -
dass dicke Männer im Anzug gut aussehen. Wenn wir Frauen ein paar Pfund zulegen, wird es durch die Mode noch betont.« Vielleicht war der grauhaarige Ted Kennedy das Stichwort, vielleicht hatte ich aber auch einfach keine Lust mehr, um den heißen Brei herumzureden. »Schluss«, machte ich deshalb. Paris sah erstaunt auf. Mit dieser unnachahmlichen Mischung aus Dummheit und Ignoranz. »Ich muss jetzt sofort mit dir über deinen Freund reden, Paris«, fuhr ich fort. Anscheinend wusste sie nicht genau, wen ich jetzt meinte. »Jamie?«, fragte sie nach. »Ich glaub, ich sollte Freunde sagen«, verbesserte ich mich und blickte sie böse an. »Oh, du meinst sicher einen gewissen Jemand«, flötete Paris. Sie hatte in den letzten Wochen einen enormen Mitteilungsdrang entwickelt und sich darauf verlegt, mich neugierig machen zu wollen, indem sie bei allen möglichen und unmöglichen Gelegenheiten von »einem gewissen Jemand« zu erzählen anfing… Ein gewisser Jemand habe dies gesagt… ein gewisser Jemand habe sie darüber informiert, dass… Ein gewisser Jemand und sie haben unglaublich viel gemeinsam… Es nervte mich nur noch. »Lass das kokette Gehabe!«, herrschte ich sie an. »Ich will darüber reden, dass du eine Affäre mit Professor Asher Flemming hast und den armen Jamie ohne Rücksicht auf seine Gefühle am ausgestreckten Arm verhungern lässt.« »Das ist keine Affäre!«, rief Paris wieder einmal direkt am Thema vorbei. »Affäre, Tändelei, Beziehung, Tete-á-tete, wie immer du es nennen willst.« Ich versicherte ihr, dass ich eigentlich nicht die geringste Lust hätte, darüber mit ihr zu sprechen, dass ich aber leider nicht anders könnte. »Ich hab gerade Jamie getroffen«, erklärte ich. »Er läuft durch die Gegend, fühlt sich einsam, - 127 -
vermisst dich, hat Angst, dich zu verlieren, und du sitzt hier und siehst fern.« »Niemand guckt richtig Bildungsfernsehen, das läuft nur im Hintergrund.« Wenn es Punkte dafür gäbe, irgendwelchen Blödsinn zu antworten, um den es überhaupt nicht ging, dann würde Paris die Top Ten anführen. Mit großem Abstand vor allen Verfolgern. Aber ich beschloss, diese Taktik zu ignorieren. »Du musst dich jetzt entscheiden, Paris. Es dürfte ja wohl ziemlich klar sein, dass die Geschichte mit deinem Professor nicht von kurzer Dauer ist.« »Ja, da hast du durchaus Recht«, gab Paris zu und strahlte mich an. »Und nenn ihn doch einfach >Asher<. Professor, das macht ihn so alt.« »Er ist alt«, stellte ich fest. »Er ist sechzig«, meinte sie und zuckte die Schultern. »Heute ist sechzig so wie vor zwanzig Jahren fünfzig. Und er hat den Körper eines Vierzigjährigen.« Paris blickte versonnen zum Fenster, und ich merkte, wie mir übel wurde. »Ich will jetzt auf keinen Fall über seinen Körper reden!«, rief ich empört. Paris nickte. »Ich bestreite nicht, dass uns eine MaiDezember-Romanze verbindet«, meinte sie jetzt allegorisch. »Nein, das ist nicht Mai-Dezember, das ist Mai-MingDynastie«, korrigierte ich. »Mein Großvater hat dich ihm vorgestellt! Verstehst du nicht, wie unangenehm das für mich ist?« Paris tat das, was sie am besten konnte: Sie ging nicht auf andere ein. »Tja, sexy Männer treten oft im Rudel auf«, meinte sie süffisant. So, das reichte! Meinetwegen konnte sie mit ihrem Greis anstellen, was sie wollte, aber meinen Grandpa als sexy zu bezeichnen, das ging zu weit. Das ging sogar einen entschiedenen Schritt zu weit. »Sag so was nie wieder, ist das klar?«, fuhr ich sie an. »Maria, sei doch nicht so prüde«, antwortete Paris - 128 -
und rollte genervt mit den Augen. »Tja, wenigstens bin ich nicht gemein zu Menschen, die mich lieben«, konterte ich. »Hast du kein Herz?« »Ich weiß, ich habe Jamie nicht unbedingt gut behandelt. Doch er versteht keine Hinweise«, versuchte Paris, ihr Handeln zu rechtfertigen. »Aber du solltest irgendwas unternehmen. Einer von uns ist Jamie wichtig, und ich schätze, das bin ich.« »Ich weiß.« Paris schaute betreten auf den Boden. »Er war mein erster richtiger Freund.« Dann hob sie wieder gleichgültig die Schultern. »Und er ist total verrückt nach mir. Ich habe nie ganz verstanden, wieso.« »Lass diese selbstironischen Sprüche. Das ist widerlich«, meinte ich. Paris sah kurz zu mir hoch. »Er war so nachsichtig mit mir, und ich war einfach gemein«, meinte sie, und fast hatte sie’s geschafft: Beinahe hätte ich ihr die Rolle der zerknirschten Betrügerin, der es jetzt aufrichtig Leid tat, abgekauft. Ich gab ihr sogar schon mit verständnisvollerem Tonfall den Rat, mit Jamie zu reden und dann zu sehen, wie es weitergehen könnte – aber Paris verstand es, das neue Bild von sich ebenso schnell kaputt zu machen, wie sie es initiiert hatte. Blitzschnell hatte sie das Handy gezückt und Jamies Nummer gewählt. Anscheinend war er gleich ran gegangen. »Hey, ich bin’s«, meinte Paris, um dann ohne Umschweife auf den Grund ihres Anrufs zu kommen. »Wir müssen uns trennen. Sofort. Es hat keinen Sinn weiterzumachen.« Sie machte eine kurze Pause, vielleicht wollte Jamie am anderen Ende der Leitung auch wissen, was das alles zu bedeuten hatte. »Tut mir Leid, dass du hergekommen bist«, fuhr sie dann fort. »Ja, Rory hat mir die Augen geöffnet und gezeigt, dass das mit uns keinen Sinn mehr hat.« Ich traute meinen Ohren nicht. Dieses fiese Luder! »Paris!«, rief ich empört. Doch Paris ließ sich nicht - 129 -
mehr aufhalten. »Sie ist eben reingekommen, und wir haben geredet. Sie ist hier, wenn du sie selbst fragen willst. Jedenfalls tut es mir ehrlich Leid, Jamie. Wirklich. Mach’s gut.« »Du hast echt so viel Taktgefühl wie ‘ne Dampfwalze!«, schrie ich. Ich war richtig sauer. Paris sah mich nur erstaunt an und meinte, dass das schließlich meine Idee gewesen wäre. »Du kannst jetzt fernsehen, wenn du willst«, sagte sie dann und verschwand aus dem Zimmer. Ich hatte allerdings weder Zeit noch Lust fernzusehen. Ich wollte nur rasch meine Koffer packen und so schnell wie möglich nach Hause fahren. Dorthin, wo die Welt noch in Ordnung war! Zu meiner Mom. Als ich gerade die letzten Kleidungsstücke in meine Tasche quetschte, wurde die Tür aufgeschoben und meine Lieblingsmitbewohnerin trat ein. Vielleicht quälte sie ja doch ein kleines bisschen ihr schlechtes Gewissen… »Und? Fährst du weg?«, wollte sie wissen, was angesichts der gepackten Tasche nur eine Frage von durchschnittlicher Intelligenz war. »Übers Wochenende nach Hause«, antwortete ich kurz angebunden. »Nur, um mich loszuwerden?«, wollte sie wissen. Ich schüttelte genervt den Kopf. Diese Paris war das egomanischste Geschöpf, das mir je begegnet ist. »Nein«, antwortete ich ihr dennoch. »Ich muss heut zum Abendessen zu meinen Großeltern. Das ist Pflicht. Und morgen steigt bei uns das Freudenfeuer-Fest. Das hab ich in meinem ganzen Leben noch nie verpasst. Und dass ich dich nicht sehe, ist im Grunde nur noch ‘n zusätzlicher Pluspunkt.« Damit schloss ich den Koffer und wollte mich an ihr vorbeiquetschen. »Geht’s dir besser, wenn ich dir sage, dass mich mein Gewissen quält?« Paris hatte mir den Weg versperrt und hampelte vor mir mm. »Nein.« - 130 -
Sie zog ein Gesicht. »Ich verstehe nicht, warum du dich so darüber aufregst.« »Das ist mir klar«, meinte ich viel sagend. »Ich wollte Jamie noch mal anrufen. Er nimmt nicht ab«, erklärte Paris, woraufhin ich ihr sagte, dass ich’s ihm nicht verübeln würde. Paris nickte einsichtig. »Ich hab’s zu lange hingezogen«, gab sie zu. »Zu Anfang war ich mir einfach nicht sicher, wie Asher das sieht. Ich wusste nicht, ob ich für ihn nur eine Affäre bin«, begann sie. Anscheinend hätte sie es dann wohl nicht für nötig befunden, mit Jamie darüber zu reden… »Aber in den letzten paar Wochen hat er dann immer öfter von der Zukunft geredet«, fuhr sie fort. »Im Sommer fliegt er für einen Monat nach Oxford und leitet da ein paar Seminare. Und dann hat er mich gefragt, was ich so in den Sommerferien mache. Und mir ist klar, dass er auf diese Weise rausfinden wollte, ob ich in den Ferien Zeit für ihn habe. Ich glaube, er wollte wissen, ob ich ihn nach Oxford begleite. Warum sollte er sonst fragen?« Ich hatte keinen Nerv mehr für Paris. »Frag nicht mich«, antwortete ich deshalb und startete einen neuen Anlauf, an ihr vorbeizukommen. »Ich freue mich lieber nicht zu früh«, sagte Paris in einem Anflug von plötzlicher Weisheit. Dann nahmen ihre Augen einen leichten Glanz an, was bei einem gefühlsarmen Menschen wie ihr schon ziemlich selten vorkam. »Es liegt daran, dass er Engländer ist. Ich bin total anglophil. Früher, als Kind, stand ich auf Neil Kinnock«, erzählte sie und fuhr dann fort: »Er war Vorsitzender der Labour Party. Er hatte Zähne wie ‘n Pferd, aber, oh, diese Stimme! Danach kam Roger Moore.« »Engländer sind ganz okay«, meinte ich und hoffte, dass ich sie möglichst bald abschütteln konnte. »Denkst du, er will, dass wir den Sommer zusammen verbringen?«, wollte sie dann zur Abwechslung mal wieder wissen. »Ich freue mich lieber noch nicht zu - 131 -
sehr.« Auch das hatte ich schon mal gehört. Dann sah sie mich noch einmal ernst an. »Ich wollte Jamie ehrlich nicht weh tun. Ich weiß nicht, wie ich so was anstellen soll. Ahm, ich bin hin und wieder eben schwierig. Ich hoffe, Asher kriegt das nie mit. So, ich will dich nicht länger aufhalten. Ein schönes Wochenende.« Hallo? Hatte ich richtig gehört? Waren das tatsächlich die zarten Triebe der Selbsterkenntnis, die sich im ausklingenden Winter vorsichtig zu regen begannen? Vielleicht hatte ich mich ja doch in ihr getäuscht. Vielleicht war sie doch nicht frei von jeder Selbstkritik und hatte doch so etwas wie Mitgefühl für ihre Umwelt. Ich blickte sie fast schon gerührt an. »Ich will nur, dass du glücklich bist«, meinte ich. »Das weißt du, oder?« Paris sah mich irritiert an und zuckte gelangweilt die Schultern. »Danke«, meinte sie kurz. »Ich bin glücklich.« Und zum ungefähr achtundfünfzigsten Mal schwor ich mir, ihr nie, nie wieder auf den Leim zu gehen.
- 132 -
9 Heute war der Tag der Ereignisse. Nicht nur bei Mom und mir. Auch Luke hatte heute einen Freitag vor sich, an dem er, wenn er es vorher gewusst hätte, vielleicht den Laden besser nicht geöffnet hätte. Die Frau, die ihn heute Früh in seinem Cafe aufgesucht hatte und die Mom als eine Mischung von Rock’n’Roll-Hippiebraut und Kleinstadtdomina beschrieben hatte, war niemand anderes als Lukes Schwester gewesen. Lukes Familiengeschichte war, na ja, sagen wir, mindestens schwierig. Zu seiner Schwester gab es seit Jahren keinen richtigen Kontakt mehr. Es herrschte die totale Funkstille, bis auf seltene Hilferufe ihrerseits, wenn irgendein Ex ihr mal wieder die Wohnung ausgeräumt hatte. Liz, so hieß sie, war ungefähr so alt wie Luke, aber ihr Leben hatte deutlich mehr Spuren auf ihrem Gesicht hinterlassen. Irgendwie war sie in den 80ern einfach stehen geblieben und hatte sich seitdem standhaft dem Zeitgeist widersetzt. Sie hatte auch heute eine typische 80er-Jahre-Frisur, gewollt verstrubbelt, an einem Ohr baumelte ein großer Silberrohrring, und um ihren Hals trug sie einen grün gestreiften Schal. Selbst gestrickt natürlich. Sie hatte einen Sohn Jess, dem sich Luke als Ersatzvater angenommen hatte. Liz war mit ihm überfordert gewesen, und der Erzeuger hatte sich verdrückt. Allerdings hatte Jess in seiner kurzen Zeit in Stars Hollow ziemlich viel Mist gebaut – unter anderem meinem Herzen einen ordentlichen Dämpfer verpasst. Über den ich jetzt allerdings nicht reden will. In einer Nacht- und Nebel-Aktion war er dann irgendwann verschwunden. Anscheinend hatte er sich bei seinem tatsächlichen Erzeuger einquartiert, und Luke hatte sich zum ersten Mal in seinem Leben als völliger Versager gefühlt. Dass sich seine Freude über - 133 -
den plötzlichen Besuch von Liz in Grenzen hielt, kann man nach diesem Crash-Kurs in gescheiterten Familienbeziehungen leicht verstehen, oder? Er hatte Liz kurzerhand in seine Wohnung geschickt – eine Tatsache, die Mom noch mitbekommen hatte – und ihr versprochen nachzukommen, sobald er Zeit hätte. Nach rund zwei Stunden war Liz wieder im Laden aufgetaucht, und ihm war nichts anderes übrig geblieben, als ihr in seine Wohnung zu folgen. Als er die Tür öffnete, sah er sie nicht. »Ich bin in der Kammer!«, rief Liz. »Oh, mein Gott, es ist ja noch da.« Luke wusste nicht, was sie meinte. »Mein Gras!«, rief seine Rock’n’Roll-HippieSchwester.« Luke traute seinen Ohren nicht. Drogen in seiner Wohnung? »Ich hab’s einfach in dem Loch hinter Daddys Akten versteckt, weil ich wusste, dass er da nicht suchen würde. Ist das nicht verrückt? Es ist noch da! »Na los, gib schon her«, sagte Luke und wollte ihr das Tütchen abnehmen. »Ach, krieg dich wieder ein. Ich rauche das Zeug nicht mehr«,beruhigte ihn seine Schwester, dann sah sie, wie Luke das Zeug in einer Schublade verstaute – nicht im Müll wohlgemerkt. »Was soll denn das?«, wollte sie wissen. »Tu’s in den Müll, Luke.« »Soll’s der Müllmann entdecken?«, rief Luke hektisch. »Holt nicht Hayward Donnley auch heute noch den Müll ab?«, fragte Liz, und als Luke nickte, lachte sie: »Von ihm hatte ich den Stoff doch immer.« Dann machte sie eine Pause und nickte Luke anerkennend zu. »Mann, du siehst gut aus.« Dann zeigte sie an sich hinunter und fragte: »Was ist mit mir? Wie seh ich aus?« »Gut, so weit«, antwortete Luke. Er war einfach nur genervt. Er wollte diese Frau nicht in seiner Wohnung - 134 -
haben, auch wenn sie zehnmal seine Schwester war. Er fand die 80er längst nicht mehr so gut wie vor zwanzig Jahren, und er fragte sich die ganze Zeit, was der wahre Grund ihres plötzlichen Auftauchens war. »Ich sehe nicht nur gut aus, sondern toll. Und es geht mir auch gut, wirklich, sehr gut, Luke«, meinte nun Liz. Sie hatte frischen Kaffee gemacht und setzte sich an den Tisch. Als Luke ebenfalls saß und noch das eine oder andere nichts sagende Wort gewechselt worden war, atmete er irgendwann einmal tief durch. »Also, Liz«, begann er. »Ich würde gern wissen, was dich hierher führt.« »Ich wollte dich besuchen, Luke.« Er glaubte ihr kein Wort. »Doch, echt. Und außerdem haben wir am Samstag 20-jähriges Schul-Jubiläum. Ich wüsste zu gern, was der Rest meines Abschlussjahrgangs inzwischen so macht«, erklärte sie. Luke runzelte die Stirn. »Du gehst wirklich zu ‘nem Ehemaligentreffen? Liz nickte. »Ich hab denen sogar ein Foto geschickt, fürs Schulalbum. Und ich hab auch ein bisschen was über mich geschrieben… Dass alles gerade ganz toll läuft«, sie ruderte mit den Armen wie eine böse Wetterfee.»… dass ich ‘n klasse Job hab und grad in ‘ne echt coole Wohnung mit ‘ner großen Terrasse eingezogen bin. Jetzt kann ich mir endlich ‘nen Hund zulegen.« Sie machte eine kurze Pause und schaute Luke ein kleines bisschen unsicher an. »Aber«, sie zögerte. »Ich hab auch noch ‘n… äh…« »Warte, Moment mal, ja?«, sprang Luke ein. »Ah, lass mich raten. Einen neuen Freund?« Liz nickte erleichtert. »Ja, und der Typ…. oh, lass mich raten, ist anders als seine Vorgänger.« Wieder nickte Liz. »Ja, ganz recht.« »Und er ist vermutlich der Mann fürs Leben«, - 135 -
orakelte Luke. Dann blickte er seine Schwester Hilfe suchend an. »Ich bitte dich, Liz! Weißt du was? Solange er dir, anders als die anderen, deine Glotze lässt, wenn er verschwindet, habe ich ihn gern.« Er schlug einmal kurz auf den Tisch, wie um seine Schwester wachzurütteln. »Liz, immer wenn du den Richtigen gefunden hast, ist irgendwann dein Bankkonto leer, deine Sachen sind verschwunden, und du rufst an und bittest mich schluchzend um Hilfe. Wie könnte ich das auch ablehnen? Aber du wirst verstehen, wenn ich noch etwas mit der Planung für deine Junggesellinnen-Party warte.« Liz schaute betroffen aus der Wäsche. »Klar«, meinte sie dann und schluckte. »Also, wie auch immer… reden wir über „was anderes.« »Ja, gut, reden wir über was anderes!«, meinte Luke genervt. »Du hast also ‘n neuen Job?« Liz nickte: »Ja, genau. Genau. Ich mach Schmuck, verstehst du?«, sie fuchtelte wild mit den Armen. »Perlenketten, Ohrringe und hier und da was mit Steinen. Gerade arbeite ich mit Federn.« Sie ließ sich von Lukes irritiertem Blick nicht abhalten und erklärte: »Das hab ich echt drauf. Auf den Mittelaltermärkten bin ich absolut angesagt. Das ist total abgefahren. Ich trag ‘n langen Rock, ich hab ‘n Hut auf und so ‘n Korsett an, aus dem meine Möpse fast raushüpfen, ich sage: >Ihr guten Leut, kauft euch Schmuck heut!<« Luke griff sich mit beiden Händen an den Kopf. Es hielt ihn nicht länger auf dem Stuhl. »Ist das dein toller, neuer Job? Du verkaufst Ohrringe auf Mittelalterfesten? Ihr Leut, kauft euch Schmuck heut? Und hüpfende Möpse?« Er schüttelte den Kopf. »Gar nicht abgedreht«, meinte er. »Hör zu, ich, ich muss, äh, wieder an die Arbeit. Was für ein Unsinn, Liz. »Hör mal, du verkaufst Ohrringe, die du zu Hause gebastelt hast, du angelst dir wieder so’n Sieger-Typen…Was ist mit deinem Sohn, hä? Was ist mit Jess? Hast du ihn in letzter Zeit mal gesehen? Ist dir aufgefallen, dass er - 136 -
nicht hier ist?« Er musste sich sehr beherrschen, um nicht gemein zu werden. »Klar, er hat mir geschrieben«, meinte Liz. »Er ist bei seinem Vater. Er ist neunzehn. Der Junge lässt sich nichts mehr sagen.« »Klar«, höhnte Luke. »Wenn du’s nicht versuchst, hast du auch keine Chance.« »Ich hab’s versucht«, begehrte Liz auf. Luke schüttelte den Kopf. »Nein. Ich hab’s versucht. Du hast aufgegeben. Ich hab ihn hier aufgenommen, und er hat mich dafür belogen, was die Schule und den Job bei Wal-Mart anging.« Luke machte eine kurze Pause, als überlegte er, ob er seiner Schwester die volle Wahrheit sagen könnte. Dann wischte er seine Bedenken beiseite. »Wusstest du, dass ich sein Auto geklaut habe?« Liz sah ihn erstaunt an. »Ja, mitten in der Nacht bin ich aufgestanden, habe den Wagen geklaut und ihn in Dads alte Garage gestellt. Tja, ich bin verrückt. Ich dachte, jetzt ist er gezwungen, zur Schule zu gehen, jetzt muss er seinen Abschluss machen, jetzt…« Ihm ging die Puste aus, so hatte er sich aufgeregt. »Und wie das ausgegangen ist, wissen wir ja. Er wohnt jetzt bei diesem Schwachkopf, der ihn im Stich gelassen hat. Ja«, Luke nickte grimmig mit dem Kopf, »das hab ich sehr gut hingekriegt.« »Du hast es versucht«, redete ihm Liz gut zu. »Ja. Ich bin in der Hinsicht ganz groß.« Luke wirkte mit einem Mal richtig deprimiert. Plötzlich schien es Liz ziemlich eilig zu haben und verabschiedete sich zügig. Sie wohnte bei Carrie Duncan, die mindestens ebenso durchgeknallt war wie Liz selbst. Carrie hatte mal auf einem Footballspiel ein Auge auf Luke geworfen und sich einer Gottesanbeterin gleich auf ihn gestürzt. Und auch sonst stand sie schwer auf Männer… Als Liz die Tür von außen geschlossen hatte, setzte sich Luke für einen Moment wieder an den Tisch und nahm seinen Kopf in die Hände. Familie!, dachte er. Man kann sie - 137 -
sich nicht aussuchen. Ein paar Stunden später, aber nur wenige Ecken weiter, war ich endlich in Stars Hollow angelangt. Nachdem ich morgens kaum was hinunterbekommen hatte und mittags ebenfalls nicht dazu gekommen war, hatte ich einen richtigen Kohldampf und hoffte, dass wenigstens das Abendessen harmonisch genug verlaufen würde, um mir nicht den Appetit zu rauben. »Mom?«, rief ich, als ich die Tür geöffnet hatte. »Hallo!« »Oh, Rory, gut«, meinte Mom. »Also bin ich wohl doch noch nicht taub geworden.« Sie gab mir einen Kuss. »Waren wir denn hier verabredet?« »Nein, ich bin ‘ne Überraschung.« »So wie deine Empfängnis.« Mom setzte sich auf die Treppe und begann sich die Schuhe anzuziehen. Ich beeilte mich und rannte nur schnell in mein Zimmer, um meine Tasche abzuladen. »Ich brauche zwei Minuten.« »So wie deine Empfängnis.« »Und wie war dein Date mit Jason?«, rief ich durch den Flur, um ja keine Zeit zu verlieren. »Witzig. Er bringt mich zum Lachen. Er ist ziemlich exzentrisch. Ist schon ein paar Jahre her, dass ich so ‘n exzentrischen Freund hatte«, rief Mom. Dann machte sie eine theatralische Pause und verkündete: »Ich werd’s heute Mom erzählen, das mit uns.« »Grandma weiß doch, dass du meine Mutter bist.« »Das mit mir und Jason.« »Wirklich tapfer«, meinte ich und kam zurück. »Ja.« Sie zögerte kurz. »Jason wollte es gleich von Anfang an. So was machen nur Erwachsene, deswegen wollt ich’s nicht. Aber jetzt wird’s Zeit.« Sie strahlte mich an. Meine Mom. Und meine beste Freundin. Denn mal ehrlich: Welche andere Mom sagt so was? Ich schaute mich in der Küche um. Irgendetwas war anders als sonst, das hatte ich gleich gemerkt, als ich - 138 -
reingekommen war. Und jetzt hatte ich’s. Zumindest einen Teil dessen, was anders war, meine ich. »Das ist ja merkwürdig.« »Was meinst du?« »Das hier.« Ich deute auf ein Brot, das auf der Arbeitsfläche neben der Spüle lag. Mom und Brot? So was hatte es ja seit Jahren nicht gegeben. Zumindest seit achtzehn Jahren. »Brot ist merkwürdig?« »Ja. Hier bei uns schon«, antwortete ich. Dann zuckte ich die Achseln. »Es ist aber auch kein guter Snack.« »Doch, wenn man irgendwas drauflegt, wie Käse.« »Du hast Käse da?« Hier gingen ja wirklich seltsame Dinge vor sich. »Ja. Wir sind doch keine Kannibalen, Rory. Wir haben Käse.« Mom tat so, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, Brot und Käse im Haus zu haben. Das war es vermutlich auch in 99,9 Prozent aller Familien. In unserer kleinen, aber feinen Familie kannte ich das jedoch nicht. Ich hatte es aber auch nie sonderlich vermisst. Meine Mom war eben anders als andere Moms – und ich war eigentlich auch ganz froh darüber. Dennoch: Gerade hatte ich Lust, sie ein bisschen mit ihren neu erworbenen hausfraulichen Qualitäten aufzuziehen. Lag das etwa daran, dass ein Mann namens Jason in ihr Leben getreten war? Dem sie jetzt ab und an Häppchen servieren wollte? »Wow, hier ist es ja wie im Schlaraffenland!«, rief ich aus. »Ach, das ist doch nicht viel«, spielte Mom Brot und Käse schnell herunter. »Wieso machst du so viel Wind um das Essen?« »Weil es in diesem Haus seit meiner Kindheit nie was Richtiges zu futtern gab«, antwortete ich. »Was? Wir hatten immer was zu essen. Der Kühlschrank war niemals leer.« Mom war aufgestanden und nahm mir rasch das Brot aus der Hand. - 139 -
»Ja, wir hatten Reste vom Lieferservice, kalte Pizza, Pommes frites von Luke, aber nie was, was man selbst macht.« Mom schob mich zur Tür hinaus. Anscheinend war ihr das Thema irgendwie unangenehm. Aber ich hatte schon wieder was Neues entdeckt. »Ist das wirklich ‘ne Gurke?«, rief ich. »Hör zu, du wärst ‘ne total miese Privatdetektivin, weil du dich ständig mit irgendwelchen unwichtigen Kleinigkeiten aufhältst. Komm jetzt, wir sind spät dran. Soll ich fahren?« »Ja, gern. Oh, mein Gott, ist das ‘ne Tomate?« Ich war schockiert. Das wurde ja immer seltsamer. Ich beschloss, diesen Dingen am Wochenende auf den Grund zu gehen. Als wir kurz danach beim Anwesen meiner Großeltern vorfuhren, kam uns Emily gut gelaunt entgegen. Anscheinend hatte sie sich mit Richard endgültig ausgesöhnt. »Ah, meine Mädchen kommen mal zusammen her!«, rief sie erfreut. Wir lächelten sie an und gaben unsere Jacken dem neuen Dienstmädchen, das sie uns geflissentlich abnahm. »Ihr zwei riecht nach Kaffee.« Grandma hatte tatsächlich eine Nase wie ein Spürhund. »Wir haben keinen getrunken«, meinte Mom und ging zum Salon. »Sogar sehr stark.« Grandma blähte noch immer die Nüstern, während sie zwischen uns hin und her tingelte. »Hör zu, Mom, ich mag’s nicht, wenn du an mir schnüffelst«, rief Mom und versuchte Emily abzuschütteln. Bei mir klingelten leicht die Alarmglocken. Jetzt bloß kein Streit! Ich beschloss, das Thema wieder in unverfängliche Gefilde zu manövrieren. »Hey, wo ist Grandpa heute?« »Er ist zu einem Geschäftsessen nach Manhattan - 140 -
gefahren. Gerade hat er angerufen«, antwortete Grandma. Sie liebte es, die ehrbare Gattin eines ehrbaren Geschäftsmannes zu sein, und sie liebte es Geschichten von Geschäftsreisen zu berichten. Volltreffer! »Sie sind in einem Restaurant in der Nähe des Time Square«, erzählte sie weiter. »Er sagt, der Time Square wird immer sauberer. Sie haben heute Abend noch nicht eine einzige Prostituierte gesehen.« »Oh, ja, ich hab gehört, Disney hat sie allesamt umlegen lassen«, warf Mom ein, während sie sich auf der eleganten Couch niederließ. Grandma hatte offenbar beschlossen, derlei Fauxpas für heute zu ignorieren und meinte stattdessen: »Ich verstehe nur nicht, wieso Jason heute Abend nicht nach Manhattan fahren konnte.« Bei dem Namen »Jason«, zuckte Mom leicht zusammen. »Oh, weißt du, er hat vermutlich selbst so viel zu tun.« »Ich weiß zufällig, dass dem nicht so ist. Richard sagt, er war vormittags nicht im Büro.« »Aber jeder verdient hin und wieder einen freien Vormittag«, warf sich Mom für Jason in die Bresche, was ihr einen irritierten Blick von Emily einbrachte, die sich daran machte, einen Aperitif zu mixen. »Richard nimmt sich nie den Vormittag frei. Tag für Tag steht er um halb sechs auf und telefoniert erst mal. Danach fährt er ins Büro«, wusste sie zu berichten, um dann mit viel sagendem Augenaufschlag fortzufahren: »Ich wette, für Jason fängt der Tag nie vor acht an.« »Nein, das ist Unsinn!«, rief Mom. Fast hätte sie sich danach die Hand vor den Mund gehalten, konnte sich aber grade noch zurückhalten und stammelte: »Ich meine, bestimmt steht er schon vor acht auf. Das wird er auch müssen, wenn er mit Dad mithalten will. Nehme ich mal an.« Ich saß die ganze Zeit dabei und beschränkte mich aufs Zuhören. Mom tat mir wirklich Leid. Mit einer - 141 -
Mutter wie Emily war es auch wirklich nicht einfach. »Ach, irgendwie kann ich diesen Mann nicht richtig einschätzen«, fuhr Grandma auch schon mit ihrem Lieblingsthema fort. »Dauernd versucht er sich einzuschmeicheln, macht mir Komplimente, stimmt mir in allem zu. Er wirft sich mir regelrecht zu Füßen. Ich finde, dieser Kerl ist ein Schwächling.« »Du bist eine Ehrfurcht gebietende Gegnerin, Mom. Und nicht grundlos nennt man dich den >Idi Amin des Frauenvereins<.« Auch dies ignorierte Grandma. Sie hatte heute wirklich extrem gute Laune und war ja auch schließlich bei ihrem Lieblingsfeind Jason. Über ihn zu lästern machte ihr immer großen Spaß. »Und er ist so aufdringlich dabei«, fuhr sie fort. »Ich fühle mich in seiner Gegenwart nie sehr wohl. Immer wenn ich ihn sehe, entdecke ich eine neue Facette seines Charakters, die mir nicht gefällt.« Mom schluckte und rutschte unruhig auf dem Sofa hin und her. »Es gibt bestimmt einiges, was du von ihm nicht weißt.« Grandma lächelte – man kann es nicht anders nennen – diabolisch. »Oh, davon bin ich überzeugt. Ihr zwei wärt wie geschaffen füreinander.« »Was? Meinst du mich und Jason?« »Ein himmlisches Paar, find ich«, lästerte Grandma ungerührt weiter, während sie eine grüne Olive in jedes Glas fallen ließ. Dann sah sie Mom an. »Nun werd nicht gleich wütend.« »Aber, Mutter«, regte sich Mom sichtlich auf. »Du hast eben volle fünf Minuten lang Jasons üble Eigenschaften aufgezählt, real oder eingebildet, und dann sagst du, wir wären wie geschaffen füreinander?« Emily bog sich vor Lachen und schüttete den Alkohol in die Gläser. In mir reifte der Verdacht, dass das nicht der erste Drink des Tages war. »Was ist so witzig?«, rief Mom. - 142 -
Doch Grandma konnte gar nicht mehr antworten. »Es tut mir Leid«, lachte sie unter Tränen. Immer neue Lachsalven schüttelten ihren Körper. »Hab ich was nicht mitgekriegt? Ist ein Clown hinter mir reinspaziert und macht jetzt irgendwelche Faxen?«, rief Mom, die so langsam die Fassung zu verlieren drohte. »Du und Jason zusammen!«, lachte Grandma aus vollem Herzen. Sie wischte sich die Tränen weg und hielt sich gleich darauf den Bauch. »Also ehrlich, allein schon der Gedanke… Zum Schießen.« Erneut schallendes Gelächter. »Ja, zum Schießen«, schmollte Mom. »Ja! Einfach urkomisch! Das hab ich doch nur scherzhaft gesagt. Und du nimmst es gleich todernst.« Wieder bog sie sich vor Lachen. Mom ließ nicht locker. »Aber wieso ist das so witzig?« Grandma kriegte sich gar nicht mehr ein. »Na, denk doch mal nach!« »Das mach ich. Ich versuche zu verstehen, was du denkst.« »Das ist doch offensichtlich!«, schrie Grandma ausgelassen wie ein junges Ding. »Das wäre einfach nur lächerlich!« »Aber wieso?«, fragte Mom nach. »Weil er ein… ich meine…Also, er, er schuftet wirklich wie ein Pferd… Soweit ich weiß.« Mom war ganz blass geworden. »Es tut mir Leid. Aber darüber muss ich jetzt einfach noch mehr lachen.« Wieder musste Grandma eine Pause einlegen. »Das hab ich doch nur so dahergesagt. Martini?« Mom sah Grandma an und dann den Martini. »Du musstest den gar nicht mehr schütteln, weil du so gelacht hast. Dein, dein Gelächter hat das für dich besorgt, oder?« Grandma nickte. »Oh, es tut gut, hin und wieder mal richtig zu lachen.« - 143 -
Tja, was soll ich sagen? So richtig wollte mir auch dieses Essen des heutigen Tages nicht schmecken. Als alles vorbei war und uns das Dienstmädchen die Jacken gereicht hatte, standen wir noch kurz vor der Haustür. Ich sah Mom besorgt an. »Alles okay?«, fragte ich. Mom zeigte keine Reaktion. »Du hast es nicht erzählt«, meinte ich, um überhaupt etwas zu sagen. »Nächstes Mal?« Wieder zeigte Mom keine Reaktion. »Kannst du dich bewegen?« Als immer noch keine Reaktion kam, nahm ich ihr den Schlüssel ab und meinte: »Ich fahre.« Wir beschlossen, in der Stadt noch einen Kakao trinken zu gehen. Was Süßes tat uns jetzt sicher gut. Als wir danach noch ein bisschen in der Gegend rumliefen, rief Mom Jason an, um ihm zu beichten, dass sie’s wieder nicht geschafft hatte, ihrer Mutter reinen Wein einzuschenken. Und dabei sollte doch morgen der Empfang für seltene Handschriften sein, zu dem sie beide eingeladen waren…Aber Jason nahm es wieder einmal gelassen. Anscheinend war er wirklich mächtig verliebt in meine Mom. Ziemlich gleichzeitig sahen wir ein bestimmtes Auto vor Lukes Cafe stehen. Es war ein Rambler Ambassador. Rostbraun und ‘ne richtige Schrottkarre. Wir liefen hin und schauten durch die Scheibe. Drinnen lag tatsächlich Jess. Lukes Neffe, der, nachdem ich ziemlich unter ihm gelitten hatte, glücklicherweise irgendwann einmal mit Sack und Pack verschwunden war. Bis heute. »Ich glaub’s einfach nicht«, meinte ich. Ich beschloss, dass das heutige Soll an Aufregungen übererfüllt war und machte mich auf den Weg nach Hause. Mom wollte noch bei Luke vorbeisehen, und ihm mal auf den Zahn fühlen, was das mit Jess auf sich hatte. Zu Hause angekommen, erinnerte ich mich an die Tomaten, das Brot, die Gurke und den Käse. - 144 -
Außerdem entdeckte ich, dass es irgendwie dunkler war als sonst, dass weniger Zeitschriften rumlagen und dass wir weniger Fernsehkanäle hatten als noch vor einer Woche. Und das bei Mom! Hatte sie etwa Geldschwierigkeiten? Ich bekam ein furchtbar schlechtes Gewissen. Mir ging es doch wie der Made im Speck. Grandpa zahlte für mich Yale, und auch ansonsten musste ich mich dank der großzügigen Spenden von Emily und Richard in keiner Weise einschränken. Und Mom? Ich dachte nach. Allerdings kam ich nicht besonders lange dazu, denn bald darauf drehte sich der Schlüssel im Schloss. »Also, willst du’s wissen?«, rief Mom noch in der Tür. »Ja, klar«, antwortete ich. »Gut. Das ist ‘ne irre Geschichte. Die geheimnisvolle Frau von heute Morgen ist Jess’ Mom«, begann sie ganz aufgeregt. »Es ist trotzdem alles sehr rätselhaft. Luke weiß nicht, was sie im Schilde führt.« »Ist sie mit Jess hier?«, wollte ich wissen. »Sie hat ihn angerufen, was weiß ich. Das ist sehr verwirrend. Luke war auch nicht unbedingt gesprächig. Jess hat ihm wohl nur gesagt, er sei wegen des Wagens hier und würde ohne ihn nicht wieder verschwinden. Ja, vermutlich wird er also morgen zumindest noch den halben Tag hier sein, und das heißt: Gefahr in Verzug.« »Schon gut«, machte ich. »Ich komm damit zurecht.« Dann räusperte ich mich und fragte so neutral wie möglich: »Hey, ahm,… bevor du hochgehst…Was ist denn mit den Spielfilmkanälen?« Mom sah mich ahnungslos an. Oder sie tat ahnungslos. »Was meinst du?« »Ich hab durch das Programm gezappt, und da fehlen einige Sender. Und du hast Brot.« »Was soll das heißen?« »Vielleicht, dass du sparst?« Mom tat so, als würde ich fantasieren. »Was?« - 145 -
»Dass du dich einschränkst, beim Kabelfernsehen, auswärts Essen. Das Brot, der Käse, die Tomaten…« »Wenn du versuchst, mich vor Gericht zu zerren, sollten das Brot, die Tomate und ich ‘nen Anwalt engagieren.« Ich blieb unbeeindruckt von Moms Spaßen. Ich wollte jetzt die Wahrheit wissen und nahm mir ein Beispiel an Mom. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann ließ sie auch nicht locker. »Im Kühlschrank und im Müll sind keine Reste vom Lieferservice«, fuhr ich fort. »Und ich hab hier auch keine Zeitschriften liegen sehen. Wir haben doch früher immer alles abonniert.« »Ja, haben wir. Ich hab sie alle gelesen. Sie sind im Papiermüll. Sieh doch nach.« »Ich hab auch das Gefühl, als war’s hier dunkler, als würdest du jetzt schwächere Glühbirnen benutzen.« »Oh, mein Gott, du stellst ja alles infrage, Schatz!«, rief Mom, aber ich merkte ihr an, dass das nicht alles war. »Du hast wirklich keine Finanzprobleme?« »Nein. Ich meine, ich gehöre sicher nicht zu den fünfhundert reichsten Menschen der Welt, aber ich komme ganz gut klar.« »Mit dem Hotel und so weiter?«, wollte ich wissen. »Ja. Wir legen uns ‘n Pferd zu.« »Cool. Und fürs Futter reicht’s auch noch?« Mom verdrehte die Augen. »Es bekommt genug zu fressen.« »Schön, doch du solltest selbst genug essen. Du würdest es mir sagen, nicht?« Mom nickte. Ich drückte ihr einen Kuss auf die Wange und ging nachdenklich in mein Zimmer. »Gute Nacht, Engelchen!«, rief sie mir noch nach, dann war ich allein und machte die Tür zu. In dieser Nacht konnte ich lange nicht einschlafen. War das etwa die Last des Erwachsenseins? Dass man auf einmal Verantwortung für sein Leben übernehmen - 146 -
musste, und das ganz alleine? Schaute Luke etwa deshalb so muffelig, weil er das im Übermaß kannte? Und meine Mom? Sollte sie nun eine brave Hausfrau werden, die Rabattmärkchen sammelte, um noch ein paar Cent mehr zu sparen? Während ich vor mich hindämmerte, reifte in mir ein Entschluss. Ich würde schon noch die ganze Wahrheit aus Mom herausbekommen – und dann würde ich ihr zeigen, dass ich mit meinen achtzehn Jahren die Wahrheit vertragen könnte. Und dass wir in aller erster Linie nämlich nicht Mutter und Tochter waren, sondern beste Freundinnen, die gemeinsam auch ein paar Dürreperioden überstehen würden!
- 147 -