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Inhalt: Im 75. Jahrhundert hat ein Atomkrieg die Menschheit nahezu ausgerottet – und jetzt müssen sich die wenigen Überlebenden auch noch gegen mutierte Tiere zur Wehr setzen. Aus alten Aufzeichnungen weiß man, daß es einst sogenannte Computer gab, die das Wissen der Menschheit gespeichert hatten. Der Telepath und Priestersoldat Per Hiero Desteen soll in den völlig zerstörten Städten nach diesen Maschinen suchen. Doch seine Mission wird zu einer gespenstischen Irrfahrt durch eine alptraumhafte Welt.
Sterling E. Lancier
Hieros Reise
Titel der amerikanischen Originalausgabe: HIERO‘S JOURNEY
Für Pattie
Scan by GabCross 2003 Aus dem Amerikanischen von YOMA CAP Das Cover ist von KAREL THOLE Copyright © 1973 by Sterling E. Lanier Mit freundlicher Genehmigung der Erben des Autors und Paul & Peter Fritz, Literarische Agentur, Zürich Copyright © 1975 der deutschen Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany Juli 1997 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München ISBN 3-453-12816-8
Inhalt
1 Das Zeichen des Angelhakens .............................................
6
2 Am Anfang .............................................................................
51
3 Das Kreuz und das Auge .....................................................
97
4 Lucare ..................................................................................... 143 5 Weiter nach Osten ................................................................
192
6 Die Tote Insel ......................................................................... 240 7 Die versunkene Stadt ........................................................... 288 8 Die Gefahr und der Weise ................................................... 331 9 Die Seefahrer ......................................................................... 381 10 Die Wälder des Südens ...................................................... 435 11 Das Haus und die Bäume .................................................. 495 12 Ein Ende und ein Anfang .................................................. 553 ANHANG Karte .......................................................................................... 609 Glossar ......................................................................................
610
1 Das Zeichen des Angelhakens Computersucher, dachte Hiero. Das klingt interessant und wichtig. Aber, fügte der pessimistische Teil seines Ich sogleich hinzu, auch ziemlich unverständlich, vorläufig wenigstens. Unter seinen abgehärteten Schenkeln schlenderte sein Reittier, ein Ellkstier namens Klootz, gemächlich den lehmigen Pfad entlang und rupfte sich bei Gelegenheit ein Maulvoll Blätter von nahen Büschen und Bäumen. Seine überhängenden weichen Lippen waren für diesen Zweck so gut geeignet wie Finger. Per Hiero Desteen, Priester-Exorzist zweiten Grades, Waldläufer ersten Grades und Ältester Vollkämpfer, ließ das Grübeln sein und richtete sich in dem hohen Sattel auf. Der Ellk hörte sofort mit seinem Grünzeugnaschen auf und hob aufmerksam den Kopf mit dem riesigen Schaufelgeweih. Obwohl die breiten Sprossen und Zinken noch im Bast standen und daher recht weich waren, war das große, dunkelbehaarte Tier – viel größer als das längst ausgestorbene Arbeitspferd – schon allein durch seine scharfen, paarigen Hufe für jeden Angreifer eine tödliche Gefahr. Hiero lauschte angespannt und brachte Klootz durch einen leichten Ruck am Zügel zum Stehen. Weiter vorne war ein dumpfes Geräusch zu vernehmen, das immer
lauter wurde, ein anschwellendes Brüllen und Stampfen. Der Boden begann zu vibrieren. Hiero kannte dieses Geräusch gut und der Ellk nicht weniger. Obwohl es erst Ende August war, begannen die Buffer hier im hohen Norden schon ihre Herbstwanderung nach Süden, wie sie es seit ungezählten Jahrtausenden getan hatten. Ellk und Reiter spähten durch den dichten Saum von Lärchen und Erlen am Rande des Weges. Der daran anschließende dunkle Föhrenwald und das Palmettodickicht darunter nahmen jedoch jede Sicht – und das Geräusch wurde immer noch lauter. Hiero versuchte eine Gedankensonde an Klootz, um festzustellen, ob das Tier schon Richtung und Umfang der Herde erfaßt hatte. Es war äußerst gefährlich, von der breiten Front einer solchen Herde überrascht zu werden und nicht mehr rechtzeitig seitlich ausweichen zu können. Die Buffer waren zwar nicht besonders bösartig, aber sie waren zugleich auch nicht besonders schlau, und abgesehen von Feuer brachte sie nichts zum Stehen. Das Gehirn des Ellks strahlte Unruhe aus. Er war sich bewußt, dass sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren, was ihm gar nicht gefiel. Hiero zögerte nicht länger und bog in südlicher Richtung vom Weg ab. Den genaueren Kurs überließ er Klootz und hoffte, dass sein Reittier gescheit genug war, der nahenden Bufferherde genügend aus dem Weg zu gehen. Gerade bevor der breite Waldpfad außer Sicht kam, drehte sich Hiero noch einmal um. Eine Phalanx von
dunklen, mächtigen Schädeln, manche mit zwei Meter langen, gelblichen Hörnern bewaffnet, brach durch das Unterholz am nördlichen Saum des Weges. So weit er sehen konnte, strömte die Herde über den Pfad weg, eine grunzende, brüllende, trampelnde Masse von schweren Leibern. Der breiten Front von riesigen Leitstieren folgte in scheinbar unerschöpflichem Nachschub der Rest der Herde. Hiero stieß dem Ellk die Fersen in die Seite und setzte auch seine geistigen Sporen an. Los doch, du Faulpelz, drängte er. Find einen Platz, wo die Herde sich teilen muß, oder wir sind geliefert. Klootz fiel in einen schlenkernden Trott, der ihn erstaunlich schnell vorwärtsbrachte. Das riesige Tier wich geschickt den Bäumen aus, trampelte Büsche einfach nieder, alles mit täuschend langsam wirkendem, staksigem Schritt. Hiero saß locker im Sattel und hielt nur Ausschau nach tiefhängenden Ästen, obwohl der Ellk ohnehin darauf geschult war, solche Dinge zu vermeiden. Der Lederstiefel des Reiters, seine rehlederne Hose und Jacke schützten ihn recht gut vor zurückschnellenden Zweigen und Ranken. Auf dem Kopf trug er nur sein ledernes Priesterkäppchen; der Kupferhelm war in einer der Satteltaschen verpackt. Er hielt einen Arm schützend vors Gesicht und gab dem Ellk wiederum geistig die Sporen. Das große Reittier reagierte mit beschleunigtem Tempo und wachsender Verärgerung, die Hiero als eine
Art geistige Hitzewelle deutlich fühlen konnte. Schon gut, ich werde mich nicht mehr einmischen, sendete er und versuchte, seine Besorgnis zu unterdrücken. Niemand wußte genau, wie intelligent die Ellks wirklich waren. Man hatte sie vor vielen Generationen (aber ziemlich lange nach dem Heißen Tod) aus mutierten amerikanischen Elchen gezüchtet und sie zu wunderbaren Reitund Zugtieren gemacht. Die Abteien bewachten ihre Herden eifersüchtig und verkauften ihre begehrten Zuchttiere nur ungern. Die Tiere besaßen aber immer noch eine gute Portion Eigenwilligkeit, die wegzuzüchten noch niemandem gelungen war, und einen damit verbundenen ziemlich hohen Intelligenzgrad, über den sich die Abteipsycher trotz aller Tests aber nicht einig wurden. Plötzlich stieß Hiero einen Fluch aus und klatschte sich mit der flachen Hand auf die Stirn, die Wangen, den Hals. Moskitos und schwarze Fliegen griffen in dichten Schwärmen an, und ein wäßriges Platschen um Klootz' Beine war ein weiteres Anzeichen dafür, dass sie an den Rand eines Sumpfes geraten waren. Hinter ihnen wurde das Gebrüll der Herde schwächer. Die Buffer mochten Sümpfe nicht, obwohl sie notfalls meilenweit schwimmen konnten. Auch Hiero hatte für Sümpfe nichts übrig. Durch einen Kniedruck signalisierte er ›Halt‹. Klootz blieb abrupt stehen und gab einen gewaltigen Furz von sich. »Rüpel«, bemerkte Hiero und sah sich vorsichtig um.
Rundum lagen Tümpel voll schwarzem Wasser. Ein paar Schritte von den beiden begann ein ziemlich breiter, stiller Teich. Sie hatten auf einem steinigen Inselchen gehalten, das seit der letzten Überschwemmung mit einem Gewirr von entwurzelten Baumstämmen bedeckt war. Es war still hier; das Dröhnen und Stampfen der Bufferherde war nur mehr ein entferntes Hintergrundgeräusch weiter drüben im Osten. Ein kleiner schwarzer Vogel lief hurtig einen flechtenbewachsenen Baumstamm hinunter und zwitscherte leise. Moorföhren und Zypressen wuchsen dicht am Wasser und ließen kaum einen Sonnenstrahl bis zum Erdboden dringen, so dass der Ort düster und beklemmend wirkte. Die Fliegen und Mücken waren eine Plage; ihre beharrlichen Attacken veranlaßten Hiero, die Kapuze seiner Lederjacke über den Kopf zu ziehen. Der Ellk stampfte unruhig und schnaubte blubbernd durch die überhängenden Lippen. Das seichte Kräuseln auf der schwarzen Wasserfläche war die einzige Warnung. Hiero war zu gut ausgebildet, um über lästigen Insekten alle Vorsicht zu vergessen, und der träge näherziehende Keil in der ansonsten spiegelglatten Oberfläche fiel ihm sofort auf, als er sich umsah. Irgend etwas Großes schwamm knapp darunter auf die Insel zu. »Los, auf«, rief er und riß sein Reittier auf die Hinterläufe hoch und zurück, so dass sie zumindest drei Meter vom Ufer entfernt waren, als der Schnapper auftauchte. Sich zum Kampf zu stellen war mehr als aussichtslos.
Auch der schwere Werfer in dem Halfter an Hieros Sattel war gegen einen ausgewachsenen Schnapper nutzlos, fast ebenso nutzlos wie sein Speer und Dolch. Und Klootz war ähnlicher Ansicht, trotz seiner Größe und Kampftüchtigkeit. Denn die Riesenschildkröte besaß einen fürchterlichen Schnabel, der fast anderthalb Meter lang und einen breit war. Mit Getöse schoß sie aus dem Wasser und zog sich mit klauenbewehrten Füßen auf die Steine herauf. Der hochgewölbte graue Plattenpanzer troff vor stinkendem Schlamm. Die gelben Augen blinzelten bösartig. Insgesamt mußte das Tier gut an die drei Tonnen wiegen, doch es bewegte sich keineswegs schwerfällig. Die Schnapper hatten ihr Höchstgewicht von rund dreißig Kilogramm vor dem ›Tod‹ gewaltig vermehrt, und machten jetzt viele Gewässer unpassierbar, außer vielleicht für ein starkes Heer. Selbst das Dammvolk mußte sich vor ihnen in acht nehmen. So schnell das Ungeheuer auch war, dem erschreckten Ellk kam es nicht einmal nahe. Der war nämlich sehr gut imstande, auf der Hälfte seiner eigenen Länge kehrt zu machen und tat das prompt. Als der aufgesperrte Hakenschnabel der Schildkröte sich auf die Kuppe der kleinen Insel schob, waren der Ellk und sein Reiter bereits vierzig Meter entfernt. Sie platschten eilig durch die seichten Schlammpfützen zurück in die Richtung aus der sie gekommen waren. Der Schnapper, der ebenso dumm wie groß war, hielt nichts davon, ihnen zu folgen, klappte
enttäuscht den Hakenschnabel zu, und hatte seine Beute auch schon vergessen, als der galoppierende Ellk in dem Gewirr eines Windbruchs verschwand. Sobald sie trockenen Boden erreicht hatten, hielt Hiero den Ellk an, und beide lauschten. Im Südosten erstarb der Lärm der weiterziehenden Bufferherde. Da dies die Richtung war, in die auch er wollte, lenkte Hiero sein Tier auf die Spur der wandernden Herde. Mensch wie Tier waren jetzt nach überstandener Gefahr wieder entspannt, ohne deswegen weniger wachsam zu sein. Im Jahre des Herrn siebentausendvierhundertundsechsundsiebzig war unablässige Wachsamkeit angeraten. Vorsichtig und langsam – denn es lag ihm nichts daran, auf etwaige Nachzügler der Herde zu stoßen, eine Bufferkuh mit Kalb etwa oder einen bösartigen alten Einzelgängerbullen – brachte Hiero seinen Ellk auf die ›Straße‹ zurück, die sie vorhin so eilig verlassen hatten. Es waren keine Buffer zu sehen, aber in der windstillen Luft zwischen den Bäumen hing ein dünner Staubschleier, den hunderte Hufe aufgewirbelt hatten, und überall lagen dampfende Dunghaufen. Der durchdringende Stallgeruch, den die Herde zurückgelassen hatte, überdeckte jede andere Witterung, und das beunruhigte den Reiter ebenso wie sein Tier, denn beider Sicherheit hing von ihren empfindlichen Nasen nicht weniger ab als von ihren Augen und Ohren. Trotzdem beschloß Hiero, der Herde zu folgen. Es war keine besonders große, zweitausend Stück höchstens,
schätzte er, aber in ihrem Kielwasser war man doch einigermaßen vor den mannigfaltigen Gefahren der Taig sicher. Natürlich konnte man auch hier auf Unheil stoßen, das war nirgends ganz auszuschließen, aber ein weiser Mann wählte, wenn möglich, das geringere Übel. In seinem Fall war eines der geringeren Übel das Raubzeug, das jeder Bufferherde folgte und die verletzten, altersschwachen oder ganz jungen Tiere schlug. Als Hiero den Ellk vorantrieb, sprangen ein paar Meter von ihnen zwei große, graue Wölfe über den Pfad, knurrend und mit gebleckten Zähnen. Die Wölfe hatten sich im Lauf der Jahrtausende kaum verändert, obwohl sich ihre Umwelt, ihre Feinde und ihre Beutetiere sehr stark geändert hatten. Manche Tier- und Pflanzenarten waren anscheinend für Spontanmutationen überhaupt nicht anfällig, und die Wölfe, deren hervorragende genetische Formbarkeit die Züchtung von tausenden verschiedenen Hunderassen ermöglicht hatte, hatten ihren Urtyp beibehalten. Sie waren jedoch klüger als ihre damaligen Vorfahren und gingen den Menschen soweit als möglich aus dem Weg. Und sie brachten jeden Haushund um, den sie erwischen konnten, manchmal nach tagelanger, geduldiger Jagd, so dass die Leute in der Taig ihre Hunde in den Siedlungen hielten und sie über Nacht einsperrten. Hiero wußte dies natürlich alles, da er ein Exorzist und damit Naturwissenschaftler war, und er wußte auch, dass die Wölfe ihn nur in Ruhe lassen würden, solange er dasselbe tat. Er konnte ihren Haß in seinem Geist ›hören‹,
und sein massiges Reittier war ebenso dazu imstande. Beide waren aber auch fähig, die Gefahr genau abzuschätzen, und in diesem Fall war so gut wie keine vorhanden. Klootz fiel wieder in seinen gemächlichen Trott, schnappte sich hier und da ein paar Blätter und folgte der Spur der Herde, die ihrerseits weniger dem Weg folgte. Die lehmige Straße, kaum zwei Lastkarren breit, war kaum als wichtiger Handelsweg zwischen dem Osten von Kanda und dem Westen zu bezeichnen, aus dem Hiero kam. Die Republik Metz, deren Bürger er war, umfaßte ein weites Gebiet mit nur ungefähr festgelegten Grenzen, das im wesentlichen aus dem einstigen Saskatchewan, Manitoba und Alberta sowie einem Teil der alten Nordwestterritorien bestand. Das Land war so dünn besiedelt, dass Staatsgrenzen in ihrer ehemaligen Bedeutung einfach keinen Sinn mehr hatten. Abgrenzungen waren jetzt eher ethischer oder religiöser Natur und kaum mehr politischer. Die Taig, der weite nördliche Nadelwald, der die subarktischen Regionen aller Kontinente schon zumindest eine Million Jahre vor dem ›Tod‹ überzogen hatte, beherrschte immer noch den Norden, aber er hatte sich verändert. Viele Pflanzenarten aus wärmeren Gegenden durchsetzten die ursprünglichen Föhrenbestände. Manche Pflanzen waren, ebenso wie manche Tierarten, ausgestorben, aber die meisten hatten überlebt und sich dem wärmeren Klima angepaßt. Die Winter waren in
Westkanda ziemlich mild; die Temperatur sank selten unter fünf Grad Celsius. Die polaren Eiskappen waren zusammengeschmolzen, der Meeresspiegel beträchtlich gestiegen, und die Erde befand sich mitten in einer interglazialen Wärmeperiode. Was eigentlich diese drastische Klimaänderung verursacht hatte, der Mensch oder die Natur, darüber stritten sich die Abteigelehrten. Der Glashauseffekt und seine Auswirkungen waren wohl aus den alten Schriften noch bekannt, aber es fehlte an empirischen Daten, um die diversen Hypothesen zu untermauern. Die Wissenschaftler, sowohl von den Abteien als auch Laien, hörten nicht auf, nach Daten über die vergessenen Zeitalter zu suchen, um aus der Kenntnis der Vergangenheit eine bessere Zukunft formen zu können. Das Entsetzen jener Zeiten war etwas, das selbst in den fast fünf Jahrtausenden, die seitdem verstrichen waren, nicht vergessen worden war. Niemals durfte der Heiße Tod wieder über die Welt kommen – das war die unveränderliche Grundlage aller wissenschaftlichen Ausbildung. Abgesehen von den Unreinen und Ausgestoßenen waren alle Menschen sich darüber einig. Als guter Wissenschaftler und Abteigelehrter dachte Hiero über Probleme der Vergangenheit nach, selbst jetzt, als er scheinbar tagträumend dahinritt. Zusammen mit seinem mächtigen Reittier bot er einen eindrucksvollen Anblick, und da er nicht ganz ohne Eitelkeit war, wußte er das auch. Hiero war ein kräftig gebauter junger Mann, glattrasiert bis auf einen schmalen Schnurrbart, und er besaß das glatte
blauschwarze Haar, die kupferfarbene Haut und die Adlernase eines echten Metz. Er war einigermaßen stolz auf seine reine Ahnenlinie, denn er konnte dreißig aufeinanderfolgende Generationen seiner Familie aufzählen. Deshalb hatte es auch ihn und seine Kameraden von der Abteischule schwer getroffen, als der Abt sie eines Tages sanft darauf hinwies, dass sie wie alle echten Metz Abkömmlinge der Metis waren, einer Mischrasse aus weißen Frankokanadiern und Indianern, die in jener fernen Vergangenheit als arme und verachtete Minderheit abseits der Städte gelebt hatte. Dies allerdings hatte eine unverhältnismäßig hohe Anzahl von ihnen vor dem Heißen Tod gerettet. Als ihnen das klargeworden war, brüsteten sich Hiero und seine Kameraden nie wieder mit ihrer Abkunft, und es erfüllte sie vielmehr mit Stolz, dass es nach der Regel der Abteien keinerlei Geburtsvorrechte gab und dass die einzige anerkannte Elite allein auf Leistung und Verdienst beruhte. Über Hieros Schulter hing an einem Riemen ein großes Buschmesser, eine Art kurzes, schweres Schwert mit einem geraden, verstärkten Klingenrücken, scharfer Spitze, und einer leicht gekrümmten, vielleicht vierzig Zentimeter langen Schneide. Diese Waffe war sehr alt, sie stammte noch aus der Zeit vor dem ›Tod‹; Hiero hatte sie als Anerkennungspreis für seine hervorragenden Leistungen während der Ausbildung erhalten. Auf der Klinge waren kaum mehr erkennbare Buchstaben und Zahlen eingraviert, ›U.S.‹ und ›Plumb. Phila 1917‹ mit einer
Zeichnung von einem Ding, das wie eine Zwiebel mit Blättern daran aussah. Hiero wußte, dass sein Preis unglaublich alt war und einst Kriegern der ›United States‹ gehört hatte, was der Name eines großen Reichs im Süden gewesen war. Mehr wußte weder er, noch – vermutlich – sonst irgend jemand über die Machete der Marineinfanteristen, die bolo geheißen hatte und für einen seit mehr als fünftausend Jahren vergessenen Krieg in Mittelamerika hergestellt worden war. Sie war jedoch eine gute Waffe, die Hiero nicht nur wegen ihres Gewichts schätzte. Darüber hinaus war er mit einer kurzen, schweren Lanze bewaffnet, die einen glatten Hickoryschaft und eine über zwanzig Zentimeter lange blattförmige Stahlspitze aufwies. Am Klingenansatz saß eine stählerne Querstrebe, so dass die Waffe genau dem glich, was man einst als Sauspieß bezeichnet hatte. Dieser Querschutz sollte verhindern, dass ein getroffenes Tier (oder ein Mensch) auch vom Schaft durchbohrt wurde und damit seinem Gegner zu nahe kam. Der Spieß war keine alte Waffe, sondern war in der Waffenschmiede der Abtei für Hiero angefertigt worden, als er die Männerprobe bestanden hatte. Am Sattelbug hing in einem Futteral eine dritte Waffe mit dem Holzkolben nach oben. Das war ein Werfer, ein glattläufiger Vorderlader, in dessen Kaliber von achtunddreißig Millimetern Granatgeschosse paßten, sechzehn Zentimeter lange Kleinstraketen. Die Waffe war furchtbar teuer, da der Lauf aus einer Beryllium-
Kupfer-Legierung bestand und die Projektile in einem kleinen, privaten Werk handgefertigt wurden. Hiero hatte den Werfer von seinem Vater zur Graduierung geschenkt bekommen, was diesen zwanzig Umhänge aus bestem Marderfell gekostet hatte. Wenn der Vorrat an Projektilen verschossen war, konnte er mit dem Werfer nichts mehr anfangen, aber er hatte immerhin fünfzig Stück in den Satteltaschen mit, und es gab nur sehr wenige Wesen, für die man mehr als eine Granate brauchte, um ihnen den Garaus zu machen. An Hieros Gürtel schließlich hing noch ein fünfzehn Zentimeter langer, zweischneidiger Dolch mit Beingriff. Seine Kleider waren ausnahmslos aus Leder, aus wunderbar weich gegerbtem Wildleder, das fast so geschmeidig wie Stoff, aber weitaus haltbarer war. In den ledernen Satteltaschen führte Hiero außerdem noch eine Pelzjacke und Handschuhe mit, zusammenlegbare Schneeschuhe, einen kleinen Nahrungsmittelvorrat, ein paar Kupfer- und Silberstücke zum Eintauschen, und das Handwerkszeug eines Exorzisten. An den Füßen trug er knielange Stiefel aus Hirschleder mit dreifach verstärkten Sohlen. Auf seiner Brust blinkte das Abzeichen der Abteien, ein schweres silbernes Medaillon an einem Riemen, das Kreuz und Schwert in einem Kreis zeigte. Die Rangabzeichen jedoch waren auf sein breites, bronzefarbenes Gesicht gemalt, ein gelbes Ahornblatt auf der Stirn, und darunter, zwischen den Brauen, zwei um einen Speerschaft gewundene Schlangen in Grün. Diese Zeichen
stammten aus uralten Vergangenheiten und wurden das erste Mal immer vom Oberhaupt der Abtei, vom Vater Superior selbst, aufgetragen, wenn jemand den betreffenden Rang erreichte. Jeden Morgen erneuerte sie Hiero mittels kleiner Farbtöpfe, die er immer bei sich trug. Überall im Norden kannte und ehrte man diese Zeichen, außer den Vogelfreien und Gesetzesbrechern und jener widernatürlichen Wesen, die der ›Tod‹ geschaffen hatte – die Lemut, die ärgsten Feinde der Menschen. Hiero war sechsunddreißig und unverheiratet, obwohl die meisten Männer seines Alters längst Oberhäupter großer Familien waren. Trotzdem hatte er nicht im Sinn, Abt zu werden oder sonst in die Verwaltungshierarchie seiner Abtei einzutreten, dessen war er sich ganz sicher. Wenn er wegen seines Junggesellenstandes geneckt wurde, pflegte er mit steinerner Miene zu bemerken, dass er sich für keine Frau lange genug interessierte, um es zur Ehezeremonie kommen zu lassen. Mit einem Zölibat hatte das nicht das geringste zu tun, denn dass Priester frauenlos leben mußten, war eine längst vergessene Regel einer vor Jahrtausenden untergegangenen Ära. Priester sollten am weltlichen Leben teilhaben, durch Arbeit und Kampf und ein normales Geschlechtsleben. Man war in den Abteien ja nicht einmal sicher, ob Rom, das legendäre Zentrum ihres Glaubens, überhaupt noch existierte, irgendwo weit im Osten, jenseits des Lantik. Und selbst wenn es die Ewige Stadt noch gab, war doch der traditionelle Gehorsam ihrem Oberhirten gegenüber längst
erloschen, ausgelöscht durch die ungeheure Entfernung, die niemand mehr zu überbrücken wußte, und noch durch eine Reihe anderer Dinge. Vogelgezwitscher begleitete Hiero auf seinem Ritt durch den Sommernachmittag. Der Himmel war wolkenlos, und die Augustsonne schien heiß, aber ihre Wärme war nicht unangenehm. Der Ellk trottete in genau dem Tempo dahin, das ihm gerade noch einen Anpfiff ersparte, und nicht einen Deut schneller. Klootz mochte seinen Herrn und wußte haarscharf, wie weit man mit Hiero gehen konnte, bevor er die Geduld verlor. Die großen Ohren des Tiers drehten sich unablässig hierhin und dorthin und erlauschten ein Rascheln im Unterholz, selbst wenn es eine Viertelmeile weit entfernt war. Aber die staubige Straße blieb leer, und alles, was die feuchte Hängenase des Ellks und der geistesabwesende Blick seines Reiters registrierten, waren die frischen Dunghaufen im zertrampelten Lehm, und alles, was die beiden hörten, war Vogelgezwitscher und das ferne Geräusch der vor ihnen weiterziehenden Bufferherde. Dieser Weg führte durch unberührtes Waldgebiet. Nur wenige Gegenden von Kanda waren überhaupt besiedelt, im wesentlichen war der Kontinent eine unerforschte Wildnis. Siedlungen wurden gewöhnlich rund um die großen Abteien angelegt, weil abenteuerliche Einzelgänger des öfteren zu verschwinden pflegten. Niederlassungen von unvernünftigen Pionieren, deren Hunger nach Neuland ihre Vorsicht überwog, waren zahllosen unbe-
kannten Gefahren ausgesetzt, und nach einiger Zeit pflegte man nichts mehr von ihnen zu hören. Später mochte dann eines Tages ein Waldläufer oder auch ein von der nächsten Abtei ausgesandter Priester auf ein paar vermodernde, zerfallende Hütten inmitten überwucherter Felder stoßen. Mitunter hörte man unzufriedenes Gemurmel, dass die Abteien die Siedler entmutigten und die Erschließung der Wildnis verhinderten, aber niemand hätte auch nur im Traum daran gedacht, die Priesterschaft für das Verschwinden jener Leute verantwortlich zu machen. Der Rat der Äbte hatte wiederholt davor gewarnt, in unerschlossenen und zu wenig bekannten Gegenden zu siedeln, aber davon abgesehen mischten sich die Abteien nicht in Alltagsangelegenheiten. Man versuchte nur, rasch neue Abteien zu bauen, um weitere Zivilisationskeime zu schaffen, um die dann neue Siedlungen wachsen konnten. Aber die Welt war groß und es gab so wenige Leute in der an sich geringen Bevölkerung, die als Priester oder Soldaten geeignet waren. Es war ein langwieriges Unterfangen. Während Hiero dahinritt, speicherte sein mnemonisch trainiertes Gehirn automatisch alles, was er sah. Die hohen Schwarzföhren, die hellstammigen Espen, die olivfarbenen Palmettokronen, ein zwischen den Bäumen aufflatterndes Riesenmoorhuhn alles war für die Abtei interessant. Jeder Priester lernte früh, dass exaktes und umfassendes Wissen die einzige brauchbare Waffe in einer feindlichen und unsicheren Welt war.
Der Ellk und sein Reiter waren mittlerweile acht Tagesreisen von der östlichsten Abtei der Republik Metz entfernt, und die Straße, der sie folgten, verlief viel weiter südlich als die Hauptverbindung zwischen dem Westen und Otwah im fernen Osten. Hiero hatte diese wenig bekannte Route nach reiflicher Überlegung gewählt, einmal, weil er sowieso nach Süden mußte, und zum anderen, weil seine Reise dann neue Informationen für die Wissenschaftler der Abteien liefern würde. Seine Gedanken wandten sich seinem eigentlichen Auftrag zu. Er war nur einer von sechs Freiwilligen gewesen, und er machte sich keine Illusionen über die Gefahren, die seine Mission mit sich bringen würde. Die Welt war schließlich voll von wilden Bestien und genauso bestialischen Menschen. Menschen, die keinem Gesetz gehorchten, die mit den Dunklen und den Lemut Pakte schlossen. Und was die Lemut betraf, da hatte er einige Erfahrung. Zweimal in seinem Leben hatte er gegen sie gekämpft, das letzte Mal vor zwei Jahren. Eine Horde von fünfzig scheußlichen, affenähnlichen Wesen, denen bisher noch niemand begegnet war, hatten eine Handelskarawane auf der großen Westroute angegriffen. Er hatte den Befehl über den Begleittrupp gehabt. Trotz all seiner Erfahrungen, und obwohl ihm hundert gute Abteikrieger zur Verfügung standen, zusätzlich zu den bewaffneten Händlern, die auch keine schlechten Kämpfer waren, hatten sie die Bestien nur mit Mühe abwehren können. Zwanzig Tote und der Verlust mehrerer Wagenladungen
waren das Ergebnis. Und nicht ein einziger Gefangener. Nicht einmal ihre Gefallenen hatten die Angreifer zurückgelassen. Sobald ein Lemut fiel, packte eines ihrer Reittiere – riesige, gefleckte, hyänenartige Wesen – die Leiche und schleifte sie fort. Hiero hatte die Aufzeichnungen über die Lemut jahrelang studiert und wußte soviel wie jeder andere unter dem Rang eines Abtes über die verschiedenen Arten. Und er wußte genug, um zu begreifen, dass er in Wirklichkeit nur sehr wenig wußte, und dass es vieles auf der Welt gab, von dem er nichts ahnte. Der Gedanke, dass er vielleicht besser Vorschau hielte, ließ Hiero die Zügel anziehen. Natürlich war jede Anwendung der geistigen Fähigkeiten – mit oder ohne Luzin – unter Umständen gefährlich. Die Unreinen besaßen oft ebenfalls geistige Kräfte, und manche von ihnen konnten menschliche Gedanken über weite Entfernungen auffangen – auffangen und dem Signal nachgehen, was sich für den Betroffenen selten als vorteilhaft erwies. Hiero wußte nur zu gut, was einem einzelnen Mann blühte, wenn er etwa an eine Horde wie jene geriet, die den Handelszug überfallen hatte. Andererseits war nichts ganz ohne Gefahr, und die Vorschau – wenn man nicht übermäßig davon Gebrauch machte – half einem oft eher, Gefahren zu vermeiden. »Intelligenz, Ausbildung, und eure sechs Sinne sind euer bester Schutz«, lehrten die alten Äbte. Techniken wie Gedankensondierung, Vorschau und telepathische Ab-
tastung allein helfen nichts. Und es kann sehr gefährlich sein, sich zu sehr darauf zu verlassen Die Warnung war deutlich genug. Hiero war kein unerfahrener Schüler mehr, sondern ein altgedienter Priester-Offizier, und es war ihm längst in Fleisch und Blut übergegangen, sich auf nichts zu sehr zu verlassen. Er lenkte den Ellk von der Straße herunter und stellte gleichzeitig fest, dass die Bufferherde jetzt nicht mehr zu hören war. Sie wandern schnell, dachte er und fragte sich, aus welchem Grund. Auf einer kleinen, sonnigen Lichtung hundert Meter abseits vom Weg hielt er, stieg ab und befahl Klootz, Wache zu halten. Der große Ellk war mit dem folgenden Vorgang genauso vertraut wie sein Herr. Er hob den klobigen Kopf und schüttelte das immer noch weiche Geweih. Hiero holte seine Priesterbox aus der linken Satteltasche und nahm das Brett samt den Symbolfiguren, den Kristall und seine Stola heraus; dann legte er sich den bestickten Stoffstreifen um die Schultern, setzte sich mit gekreuzten Beinen auf den kiefernadelbestreuten Boden und starrte in den Kristall. Gleichzeitig legte er die linke Hand leicht auf das Häufchen von Symbolen auf dem Brett und machte mit der rechten das Kreuzzeichen über Stirn und Brust. »Im Namen des Vaters, seines gemordeten Sohnes und seines Geistes«, begann er in einem leisen Singsang. »Ich, ein Priester Gottes, bitte um Vorschau für meinen Weg. Ich, ein demütiger Diener der Menschheit, bitte um Hilfe
auf meiner Reise. Ich, ein Geschöpf der Erde, bitte um Vorzeichen.« Während er unverwandt in den Kristall schaute, konzentrierte er seinen Geist auf die Straße und besonders auf die Gegend im Südosten – die Richtung in die er wollte. Sehr bald wurde der Kristall vor seinen Augen trübe, als zögen verschwimmende Nebelstreifen darin hoch. Jahrtausende nachdem europäische Anthropologen sich geweigert hatten, ihren eigenen Beobachtungen zu trauen, als sie feststellten, dass australische Ureinwohner sich über hunderte Meilen hinweg verständigen konnten, indem sie in Wasserpfützen starrten, benützte ein Mann des fünfundsiebzigsten Jahrhunderts eine sehr ähnliche Technik, um zu sehen, welcher Weg vor ihm lag. Schließlich löste sich der Nebel auf, und Hiero fühlte, wie sein Geist in das Innere des Kristalls gezogen wurde und darin aufging. Er streifte das vertraute Gefühl ab, hob sich darüber hinaus und stellte fest, dass er auf die Bufferherde hinunterschaute, aus großer Höhe, denn er konnte die Straße bis zum Horizont verfolgen. Er benützte die Augen eines Vogels, höchstwahrscheinlich eines Falken, dachte ein entfernter Teil seines Geistes. Sein Blick glitt in weitem Bogen über die Landschaft unter ihm, und sein Gedächtnis registrierte alles, was er sah. Da war ein See, dort drüben im Süden, ein Fluß, dann ein ausgedehnter Sumpf, über den in der Ferne ein Pfahlweg führte (davon war in seinen Instruktionen nichts erwähnt worden; es galt also, besonders aufzupassen). Dem Vogel
war nicht bewußt, dass seine Augen benutzt wurden. Hiero hatte keinerlei Kontrolle über das Tier; telepathische Kontrolle war etwas ganz anderes, weitaus schwieriger und manchmal überhaupt unmöglich. Die Konzentration auf seinen zukünftigen Weg hatte jedoch bewirkt, dass der Geist desjenigen Lebewesens, das die betreffende Gegend am deutlichsten sah, den seinen angezogen hatte, wie ein Magnet einen Eisennagel anzieht. Hätte zufällig kein Vogel zu Verfügung gestanden, so wäre vielleicht ein Eichhörnchen auf einem hohen Baum zu Hieros Auge geworden, oder auch ein Buffer in der vordersten Reihe der Herde. Falken und Adler waren die besten Augen, die es gab, und sie waren zahlreich genug, so dass man meist recht gute Chancen hatte, einen zu erwischen. Ihre Augen glichen denen eines Menschen zwar nicht ganz, aber sie lieferten wenigstens nach dem binokularen Prinzip ein einziges, perspektivisches Bild. Für einen Mann von Hieros Erfahrung war das eine Kleinigkeit; wenn nötig, konnte er sich auch der Augen etwa eines Rehs bedienen, die so weit seitlich lagen, dass das Tier zwei verschiedene Bilder sah. Er stellte fest, dass die Buffer in schnellem, gleichmäßigem Trott dahinzogen, nicht erschreckt, aber irgendwie beunruhigt, als ob sie eine Gefahr verspürten, die noch nicht sehr nahe war. Die zwei Wölfe, die er vorhin gesehen hatte, konnten kaum die Ursache sein, und er fragte sich neuerlich, was es wohl war. Schließlich richtete er sich auf und brach dadurch die Trance. Er warf einen
Blick auf seine linke Hand. In der geschlossenen Faust lagen zwei der vierzig kleinen Symbole, die übrigen waren über das flache, tellerförmige Brett verstreut. Er öffnete seine Hand und sah darin als erstes ein winziges Ebenbild davon, das geschnitzte Handsymbol, das ›Freundschaft‹ bedeutete. Er ließ es in die Schale fallen und schaute sich das zweite Symbol an. Es war der hölzerne Angelhaken. Er warf auch dieses Zeichen zu den anderen und leerte alle zusammen in einen Lederbeutel, während er überlegte. Der präkognitive Teil seines Unterbewußtseins hatte eine sonderbare Kombination ausgesucht, über die man eingehend nachdenken mußte. Der Angelhaken hatte mehrere Bedeutungen. Eine davon war ›verborgene Gefahr‹. Eine weitere ›verborgene Bedeutung‹, oder in weiterem Sinn, ein Rätsel. In Verbindung mit der offenen Hand konnte eine Auslegung sein, ›ein Freund kommt mit einem Rätsel‹. Aber genausogut konnte es auch heißen, ›hüte dich vor einem scheinbaren Freund, er bringt Gefahr‹. Sonderbarerweise hatte das Zeichen nichts mit einem Fisch oder mit Angeln zu tun. Bei nur vierzig Symbolen waren die präkognitiven Kombinationen notwendigerweise vieldeutig. Aber bereits jeder Anfänger begriff, dass die Sache der Mühe wert sein mußte, wenn man damit auch nur ein einziges Mal sein Leben oder das anderer retten konnte. Manche Männer und Frauen mit der entsprechenden Sensivität und Schulung erreichten erstaunliche Ergebnisse mit den Symbolen. Hiero beurteilte seine eigenen Fähigkeiten auf
diesem Gebiet als höchstens durchschnittlich und nicht annähernd so gut wie sein Talent, die Augen von Tieren als geistiges Fernglas zu benutzen. Die Symbole hatten ihm jedoch schon mehrmals geholfen, und er fühlte sich immer zuversichtlicher, wenn er sie befragt hatte. Als er seine Sachen wieder in die Satteltasche packte, schnaubte der immer noch Wache haltende Ellk plötzlich auf. Hiero fuhr herum, das Buschmesser aus der Scheide über seiner linken Schulter lag wie durch Zauber in seiner Hand, verteidigungsbereit vorgestreckt. Erst da bemerkte er den kleinen Bären. Die Bären hatten sich wie alles auf der Welt im Lauf der Jahrtausende verändert, das heißt, alle Bärenarten hatten sich in irgendeiner Weise verändert. Der Ankömmling war ein Schwarzbär, und ein Zoologe des zwanzigsten Jahrhunderts hätte auf den ersten Blick kaum etwas Ungewöhnliches festgestellt, außer vielleicht die höher gewölbte, rundere Stirn. Wäre sein erster Blick allerdings dem des Bären begegnet, hätte er wohl angefangen, sich zu wundern. Bären waren niemals dumme Tiere gewesen, und jetzt überschritten sie allmählich das tierische Intelligenzniveau, wenn auch vielleicht nicht alle Arten in gleichem Maße. Hiero stellte fest, dass der Bär allein und im übrigen die Luft rein war. Das Tier sah nach seinem Dafürhalten ziemlich jung aus; es stand auf den Hinterbeinen und ließ die Vordertatzen über den Bauch herunterbaumeln. Wird vielleicht hundertfünfzig Pfund wiegen, dachte Hiero. Oder auch
mehr, und vielleicht ist es gar kein halbwüchsiges Junges, sondern eine neue Art. Er tastete mit einer Gedankensonde nach dem Geist des Tiers und blieb im übrigen auf der Hut. Ein sehr deutlicher Gedanke antwortete ihm. Freund-Menschenfreund-Futter (Unterton einer Bitte.) Freund-helfen-Gefahr (Schmerzgefühl wie von Hitze). Freund-Bär (ausgeprägtes Identitätsgefühl) – helfen – Gefahr. All das kam erstaunlich klar und deutlich. Hiero war es gewohnt, sich mit wilden Tieren zu verständigen, obwohl es schwierig und anstrengend war, aber dieses Exemplar besaß fast alle Ausdruckskraft eines geschulten menschlichen Telepathen. Was es nicht alles gab auf der Welt! Als der Mann sein kurzes Schwert sinken ließ und sich entspannte, setzte sich der Bär, ebenfalls beruhigt, auf die Hinterkeulen. Hiero sendete Klootz einen kurzen Gedankenbefehl, weiter Wache zu halten, und stellte dabei fest, dass sein Ellk den Bären anscheinend als harmlos einschätzte. Hiero langte in eine Satteltasche und holte ein Stück Pemmikan hervor. Der uralte Reiseproviant des Nordens, aus Fett, Trockenfleisch, Ahornsirup und getrockneten Beeren zu harten Riegeln gepreßt, hatte seinen Namen unverändert über fünf Jahrtausende hinweg behalten. Hiero brach ein Stück ab und warf es dem Bären zu. Gleichzeitig schickte er eine Gedankenfrage aus. Wer/was bist du? Was/wer bringt Gefahr?
Der Bär fing den Pemmikan mit einer sehr menschlich wirkenden Bewegung seiner Pfoten auf und verschlang das Stück in einem Bissen. Seine Gedanken waren einen Augenblick verschwommen, dann drang einer klar durch. Futter (Zufriedenheit) – mehr? Böse Wesen kommen – jagen – jagen-Menschen, Tiere-jagen diesen Menschen-jetzt nicht mehr weit weg-vorne, hinten-Tod überall-Bär (Identitätsgefühl) helfen Mensch? Ein undeutliches Gedankenbruchstück folgte, und der Mensch begriff, dass der Bär ihm seinen Namen genannt hatte; keine Sprache besaß ein Wort, das den Namen hätte ausdrücken können, aber sein gedanklicher ›Klang‹ war recht gut wiederzugeben: Gorm. Mit der Zeit lernte Hiero immer besser, die klaren ausgeprägten Gedankensignale des Bären zu interpretieren, die wie alle telepathischen Kontakte dem Empfänger primär Gefühle übermittelten, die man erst in Worte fassen mußte, nach einigem Training ein völlig automatischer Vorgang. Jetzt erfuhr er von Gorm zunächst nur, dass der Bär wirklich noch recht jung, rund drei Jahre alt, war und sich in der Gegend noch nicht recht auskannte, da er erst vor kurzem aus dem Osten gekommen war. Die Gefahr war jedoch ernst, und sie kam von allen Seiten näher, während die beiden ihre Gedanken austauschten. Einen flüchtigen Augenblick lang spürte Hiero über den Geist des Bären einen bösen, eisigen Hauch, empfing blitzartig den Eindruck etwas Lauernden, Widerwärtigen, das ein Netz des
Schreckens über das Waldland spann. Gorm hatte ihm das mit Absicht gezeigt, begriff er, um seiner Warnung Nachdruck zu verleihen. Lemut, Unreine! Nichts sonst konnte solches Entsetzen, solche Abscheu in normalen Geschöpfen hervorrufen. Neben dem Mann schnaubte Klootz unruhig und scharrte mit den Hufen. Er hatte von der geistigen Unterhaltung der beiden eine Menge mitbekommen, was ihm gar nicht gefiel. Hiero drehte sich um und schloß die Satteltasche, wobei er dem Bären den Rücken zuwandte. Er war jetzt überzeugt, dass der junge Bär ihm nicht feindlich gesinnt war, sondern ihm, obwohl – oder weil – er Angst hatte, ehrlich helfen wollte. Die zivilisierten Menschen jagten längst keine Bären mehr, und die alte Feindschaft zwischen Siedler und Meister Petz war vergessen. Während er sich in den Sattel schwang, stellte der Mann dem Tier eine kurze Gedankenfrage: Wo? Folgen – (zuerst) Sicherheit – Gefahr nahe – (aber) langsam – folgen kam die Antwort, als Gorm sich auf alle Viere niederließ und rasch von der Lichtung davontrabte. Ganz von selbst wandte sich Klootz in die gleiche Richtung und folgte in einem Abstand von etwa fünf Metern. Die Tatsache, dass der Ellk dem jungen Bären vertraute, war ein schwerwiegender Faktor bei Hieros Entscheidung, das gleiche zu tun. Die Ellks wurden schließlich nicht nur auf Stärke und Kampftüchtigkeit gezüchtet, sondern vor allem auf geistige Wachsamkeit und Intelligenz, worauf man sogar mehr Wert legte als
auf die körperlichen Eigenschaften. Sie gingen jetzt nach Süden, zurück zur Straße – und dort tat der Bär etwas, das Hiero die Augen aufreißen ließ. Gorm gab den beiden anderen ein Zeichen anzuhalten, überquerte nochmals die zertrampelte Erde des Weges und zog sich dann mit den Vorderpratzen wieder hinüber, so dass sein massiges Hinterviertel Klootz' Hufspuren verwischte! Nun zeigte die weiche Straßenoberfläche nichts mehr außer den unzähligen Bufferfährten, die an einer Stelle etwas verwischt waren. Folgen (Gorm) – laufen (nur auf) hartem Grund (leise) – keine Spuren machen kam ein deutlicher Gedanke, und dann noch einer, schnell und verhalten: Nichtsprechen(nur mich) beobachten-andere lauschen-sprechen-Gefahr. Hiero nickte innerlich. Der Bär war wirklich gescheit, sehr gescheit. Irgendwo in der Nähe mußte eine Brut von Lemut sein, ein Schlupfwinkel der Unreinen, oder etwas ähnliches. Wenn man Gedankensprache verwendete, bestand immer die Gefahr, dass einen die Biester ›hörten‹ und aufspürten. Mit einem Schaudern dachte er an das kurze Aufblitzen von gemeinem, widernatürlichem Haß, das ihm der Bär gezeigt hatte. Eine Zeitlang lief Gorm in einem gleichmäßigen Tempo voraus, das für den großen Ellk eine recht gemächliche Gangart darstellte. Der Priesterkrieger ließ in seiner Aufmerksamkeit keinen Augenblick nach. Als erfahrener Waldläufer bemerkte er sofort, dass er und sein Reittier fast ausschließlich
über felsigen Untergrund geführt wurden, und dass im Wald eine ungewöhnliche Stille herrschte. Normalerweise waren die Wälder von Kanda voller Leben, in den Bäumen, am Erdboden und auch in der Luft. Jetzt schwieg die Natur. Kein Eichhörnchen verkündete schnatternd die Anwesenheit der drei Wanderer, nur selten war ein zusammengeduckter, schweigender Vogel zu erblicken, und größere Tiere wie Rotwild ließen sich überhaupt keine sehen. Selbst der Wind hatte den Atem angehalten, und Hiero schien es, dass ihr wirklich sehr leiser Vormarsch durch den Wald in der drückenden Stille dieses späten Sommernachmittags unüberhörbar laut klang. Ein seltsam lähmendes Gefühl umfing seinen Geist, fast wie ein Druck von außen, so als wäre die Luft selbst irgendwie schwerer und dichter geworden. Hiero bekreuzigte sich. Diese sonderbare Stille, diese geistige Bedrückung waren nicht normal und konnten nur von den Mächten der Dunkelheit ausgehen, von den Unreinen und ihrem Gezücht. Plötzlich blieb Gorm stehen. Durch irgendein Signal, das nicht einmal sein Herr aufzufangen vermochte, erhielt der riesige Ellk einen Befehl. Augenblicklich machte er ebenfalls halt und ließ sich im gleichen Moment zu Boden sinken, in Deckung hinter einem Haufen umgestürzter morscher Stämme. Klootz wog nur etwas weniger als eine Tonne, aber er ging mit tänzerischer Leichtigkeit und ohne das geringste Geräusch in die Knie. Drei Meter vor seiner feuchten Hängenase kauerte der Bär
und lugte unter einem dichten Busch heraus. Hiero lag der Länge nach auf dem Rücken des Ellks, spähte nach vorne und versuchte den Grund für die Vorsichtsmaßnahme ihres Führers zu entdecken. Alle drei schauten in eine weite, flache Bodensenke hinunter, die dünn mit Erlenschößlingen und niedrigen Büschen bewachsen war. Während sie gebannt hinunterstarrten, tauchte auf einmal ein rundes Dutzend Gestalten aus dem Wald am gegenüberliegenden Rand der Senke auf. Hiero war der Ansicht gewesen, die meisten Arten von Lemut schon zu kennen, die Menschenratten, die Zottelheuler, die Werbären (die nicht im geringsten mit richtigen Bären verwandt waren), und noch viele andere Arten. Dieser Typ war ihm jedoch völlig neu. Wie alle Lemut waren sie abstoßend häßlich. Sie besaßen gedrungene, schwere Körper, waren aber im Mittel nicht größer als vielleicht einen Meter vierzig. Sie gingen aufrecht, wobei sie ihren dichtbehaarten Schwanz nachschleiften; auch der übrige Körper war mit langem, schmierig wirkendem Fell bedeckt, gelbbraunen, strähnigen Zotteln. In den spitzschnauzigen Gesichtern glitzerten bösartige Augen. Es wäre wohl schwergefallen, die Abstammung dieser Scheusale auf ein genetisches Mißgeschick in einer Vielfraßfamilie irgendwann nach dem ›Tod‹ zurückzuführen, selbst für einen Fachmann, und Hiero klassifizierte sie auch einfach nur als neue und gefährliche Rasse. Sie besaßen nämlich richtige Hände, und ihre runden
Köpfe und wachen Augen wiesen auf eine hohe, wiewohl bösartige, Intelligenz hin. Sie trugen keine Kleider, aber jeder hatte eine lange hölzerne Keule, deren dickes Ende mit dunkelglänzenden Obsidiansplittern gespickt war. Eine geistige Aura von Bosheit umgab die Horde wie eine Gaswolke. Eines hinter dem anderen kamen die Zottelwesen jetzt in die Senke herunter, in einer sonderbar hüpfenden Gangart, die sie jedoch erstaunlich schnell voranbrachte. Alle paar Meter blieb der Anführer stehen, sicherte mißtrauisch und ließ sich dann auf alle Viere nieder, um den Boden zu begutachten, während die anderen sich nach allen Seiten umsahen. Die drei am Rand der Senke erstarrten zu völliger Bewegungslosigkeit und wagten kaum zu atmen. Die widerlichen Zottelspringer, wie sie Hiero sofort taufte, waren vielleicht noch zweihundert Meter von ihnen entfernt, und wenn sie die Richtung beibehielten, würden sie die diesseitige Böschung nicht weit entfernt vom Versteck der drei erreichen. Als die Schlange der gedrungenen Gestalten jedoch die Mitte der Senke erreicht hatte, machte sie halt. Hiero zuckte zusammen und tastete mit einer Hand instinktiv nach der geweihten Kapsel mit dem Gift darin, denn am Waldrand war eine weitere Gestalt aufgetaucht und näherte sich den Zottelspringern. Allem Anschein nach war es ein hochgewachsener Mann, der in einen dunkelgrauen langen Mantel gehüllt war, dessen Saum bis zu den Sandalen reichte. Die Kapuze des Mantels war zurückgeschoben und entblößte
einen haarlosen, glänzenden Schädel. Der Teint des Fremden war bleich wie der eines Toten, seine Augenfarbe war auf die Entfernung nicht zu erkennen. Rechts auf der Brust war ein spiralförmiges Symbol an seinem Mantel befestigt, ein dunkelrotes, verschlungenes Zeichen aus Kreisen und Linien, das ebenfalls nicht genauer erkennbar war. Er schien keine Waffen bei sich zu tragen, aber seine Ausstrahlung von geistiger Macht und kalter Drohung war eine ebenso deutliche Warnung wie der Kältehauch eines großen Eisbergs für einen Seefahrer. Wie immer diese Begegnung ausging, sie war von großer Bedeutung, das wußte Hiero genau. Seit Jahrhunderten hatten Gerüchte, und manchmal mehr als bloße Gerüchte, darauf hingewiesen, dass die Unreinen menschliche Anführer besaßen, Männer, die sich ganz dem Bösen und der schwarzen Magie verschrieben hatten. Bei mehreren Gelegenheiten war behauptet worden, solche Menschen hätte Angriffe auf Abteikarawanen oder Siedlungen geleitet, aber diese Berichte waren vage und widersprüchlich. Zweimal jedoch waren Männer getötet worden, die versucht hatten, in die geheimen Ausbildungsräume und in das schwer bewachte Dokumentationszentrum der Abteien in Sask einzudringen. Beide Male hatten sich jedoch die Körper der Getöteten fast augenblicklich aufgelöst, in ein Häufchen modrigen Staub, so dass für die Untersuchung nichts übrig blieb als ein paar ganz gewöhnliche Kleider, wie man sie überall bekommen konnte. Und in beiden Fällen waren die Ab-
teiwachen und Priester sich einer geistigen Bedrohung bewußt gewesen, keiner körperlichen – dennoch waren beide Male die geheimnisvollen Eindringlinge an einer Reihe von Wächtern vorbeigekommen, die sich nachher an nichts und niemanden erinnern konnten. Dieser Fremde hier war sicherlich einer jener Menschen, die man für den Herrscher der Unreinen hielt. Kein normaler Mensch, nicht einmal ein Ausgestoßener, hätte sich nämlich mit einem solchen Pack wie diese Zottelspringer abgegeben, und die Bestien zeigten deutlichen Respekt, duckten sich sogar furchtsam, als der Mann im grauen Mantel zu ihnen trat. Der Anführer der Zottelwesen kroch ihm demütig vor die Füße, worauf beide sich ein Stück von der übrigen Horde entfernten, die unruhig und winselnd herumhopste. Hiero konnte sehen, dass sich die Lippen des Mannes bewegten, und dass der zottelige Häuptling ihm mit gebleckten, gelblichen Fängen Antwort gab. Die beiden konnten richtig miteinander sprechen, ohne Gedankenübertragung! Obwohl er tiefe Abscheu vor der ganzen Horde empfand, konnte Hiero sie aus wissenschaftlicher Sicht nur bewundern. Wenn man Tieren menschliches Sprechen beibrachte, brauchte man sich keine Gedanken mehr wegen verräterischer geistiger Ströme zu machen! Nur darum beschränkte er sich in seinen Befehlen an Klootz auf ein Minimum, nur darum hatte der Bär ihnen geistiges Schweigen geboten. Die Unterredung war nun offensichtlich beendet, und
der Mann entließ die Horde der Zottelwesen, drehte sich um und ging in die Richtung zurück, aus der er gekommen war nach Südosten. Die Zottelspringer versammelten sich um ihren Anführer, der ihnen einen Befehl zufauchte, der ihr Gewinsel zum Schweigen brachte. Einen Augenblick später hatten sie wieder ihre Schlangenreihe gebildet und trotteten über das dürre Laub zurück nach Westen, woher sie gekommen waren. Als der graugekleidete Mann in der einen Richtung und die Zottelspringer-Lemut in der anderen verschwunden waren, entspannten sich die drei Kameraden am Rande der Senke ein wenig. Aber keiner rührte sich und keiner gebrauchte Gedankensprache. Stumm saßen sie da und warteten. Nach einer guten halben Stunde erhob sich Gorm der Bär langsam und reckte sich. Er sah sich nach Klootz und seinem Reiter um, ohne sie jedoch gedanklich anzusprechen, aber beide verstanden ihn auch so. Der große Ellk stand ebenso lautlos auf, wie er sich vorhin gelegt hatte, und Hiero, wiederum oben in seiner gewohnten Aussichtswarte, schaute sich in dem schweigenden Wald um. Die sinkende Sonne schob schräge Lichtbalken durch die Föhren und Ahornbäume; hier Flecken von leuchtendem Grün aus dem Dämmerschein hebend, dort Haufen dürrer Blätter in kupferne und goldene Flammen hüllend. Riesige alte Stämme schimmerten samtig, als die letzten Flecken Sonnenlicht langsam über grünes Moos und sanftgraue Flechten glitten. Wie schön dieses Land ist,
dachte der Priester, und wieviel Böses sich unter seiner Anmut verbirgt. Aber Gorm hatte keine romantischen Anwandlungen und setzte sich in Marsch. Klootz folgte ihm vorsichtig in die Senke hinunter, und seine gewaltigen, gespaltenen Hufe machten in dem alten Laub kaum mehr Geräusch als eine Maus. Zu Hieros Schrecken hielt der kleine Bär gerade auf die Stelle zu, an der der düstere Fremde im grauen Mantel verschwunden war. Obwohl Hiero danach lechzte, mehr über den Mann und seine Absichten zu erfahren, wollte er ihm doch nicht geradewegs in die Arme laufen. Sein Auftrag erwartete ihn weit im Osten, und ihn zu erfüllen war wichtiger als alles andere. Er wagte nicht, den Bären mit einem Gedanken anzurufen, denn die Feinde waren noch so nahe, dass das Gefühl geistiger Bedrückung immer noch auf ihm lastete. So blieben ihm nur die rein physischen Verständigungsmöglichkeiten. »Psst«, zischte er, einmal, noch einmal. Gorm schaute sich um und stellte fest, dass der Mensch wild herumfuchtelte und offenbar wollte, dass er stehenblieb. Er setzte sich in einen Blätterhaufen und wartete, bis Klootz herangekommen war. Hiero sah zu dem Bären hinunter und zermarterte sich das Gehirn um eine Methode, dem Tier begreiflich zu machen, was er wollte. Er hatte die ganze Zeit seine Gedanken streng abgeschirmt, und jetzt damit aufzuhören würde ihnen ziemlich sicher Scharen von Ungeheuern aus allen Himmelsrichtungen an den Hals hetzen. Gorm
ersparte ihm jedoch eine Entscheidung. Er musterte Hiero einen Augenblick aufmerksam, dann bückte er sich und scharrte mit den erstaunlich geschickten Vorderpratzen das Laub weg. Als er die glatte Erde darunter freigelegt hatte, kratzte er mit einer langen Kralle eine gerade Linie ein und versah sie mit einer Pfeilspitze, genau wie es ein Mensch getan hätte. Der Pfeil zeigte in die Richtung, die er eingeschlagen hatte. Beiderseits der Linie und dahinter zeichnete Gorm sorgfältig eine Reihe von kleinen Kreisen oder Spiralen. Unwillkürlich dachte der Priester an das Spiralsymbol am Mantel seines Feindes. Die Botschaft war unmißverständlich. Hinter ihnen und auf beiden Seiten ihres Weges gab es Gefahren, aber in der eingeschlagenen Richtung war die Gefahr noch am geringsten, obwohl sie damit dem kahlköpfigen Fremden folgten. Der Bär sah auf und Hiero nickte. Gorm scharrte sorgfältig Blätter über sein Kunstwerk und setzte sich wieder in Bewegung. Der Mann stieß sein riesiges Reittier leicht in die Flanken, und Klootz folgte gehorsam dem Bären auf den Fersen. Sein Reiter war noch immer ziemlich verblüfft über diese letzte Glanzleistung des Bären. Bei Gott, dieses Tier hatte den Geist des Menschen! Die als Dammvolk bekannten Riesenbiber wurden allgemein für fast so intelligent wie Menschen gehalten, auch wenn sie eine ganz andere Lebensauffassung hatten. Natürlich waren auch viele Lemut-Arten so klug wie Menschen, doch ihre gesamte Intelligenz war dem Bösen verschrieben. Hier
aber begann eine normale Tierart die Menschheit einzuholen. Das würde den Abteitheologen ein neues gewaltiges Problem bescheren, dachte Hiero lächelnd. Sie waren sich noch nicht einig, wie es um die Seelen des Dammvolkes bestellt war, und eine weitere Spezies, die sich über die in den Schriften festgelegten Grenzen erhob, würde die Gemüter wieder ganz schön zum Wallen bringen. Unter den großen Bäumen erlosch das Tageslicht rasch, aber Klootz konnte im Dunkeln sehen wie eine Katze und der Bär vermutlich auch, deshalb machte sich Hiero keine besonderen Sorgen. Er selber sah in der Dämmerung fast ebensogut wie irgendein wildes Tier, weil er von Kind auf in Waldgegenden gelebt hatte und zudem die Schulung eines ausgebildeten Waldläufers besaß. Da er nicht müde war, hatte er es nicht eilig, fürs Nachtlager haltzumachen; viel wichtiger war ihm, endlich jenes unnatürliche Schweigen hinter sich zu bringen, diese Zone geistiger Bedrohung, die er so deutlich empfand. Ein oder zwei Meilen weit bestand der Wald, durch den die kleine Gruppe wanderte, allein aus den riesigen Schwarzföhren. Das einzige Geräusch war das leise Knistern der Nadeln unter den Tritten des Bären und des Ellk. Die Dämmerung war bereits ziemlich weit fortgeschritten, aber immer noch brach ab und zu ein blasser Schimmer von Sonnenlicht durch eine Lücke in den hohen Baumkronen und erhellte ein Stück nadelbestreuten
Waldboden oder ein paar Farnsträucher. Plötzlich, ohne die geringste Vorwarnung, war Gorm verschwunden. Eben war er noch ein paar Meter vor ihnen dahingetappt, und jetzt war er einfach nicht mehr da. Klootz hielt verblüfft inne, wedelte mit den großen Ohren und versuchte mit geweiteten Nüstern zumindest irgendeine Geruchsfährte aufzuspüren. Sein Reiter griff unauffällig nach dem Werfer im Sattelhalfter und sah sich prüfend um. Ist das Verrat? Seine Gedanken wirbelten durcheinander. Der Bär – ist er ein Freund, oder erfüllt sich so das Vorzeichen des Angelhakens – ein falscher Freund, der dich in einen Hinterhalt geführt hat? Der Werfer lag quer über dem Sattelknauf bereit, als eine Stimme das atemlose Schweigen ringsum beendete. Es war die wohltönende und tiefe Stimme eines geschulten Redners, die von links aus dem Walddunkel drang und Hiero in perfektem Metz anredete. »Ein häßliches Tier und ein nicht weniger häßlicher Reiter. Wer folgt den Spuren von Snerg? Ist dies die Beute, die wir den ganzen Tag zu fassen suchten?« Einer jener letzten verblassenden Sonnenstrahlen sickerte durch das Geäst herunter auf einen flachen Felsen vielleicht sieben Meter zur Linken von Klootz. Auf der Steinplatte stand mit gekreuzten Armen der Mann im grauen Mantel und sah Hiero mit einem kalten, boshaften Lächeln an. Von dem jungen Bär fehlte noch immer jede Spur. Die beiden Männer und der Ellk schienen die einzigen Lebewesen im Wald zu sein.
»Ein Priester, und sogar einer von ziemlicher Bedeutung in eurer absurden Hierarchie, wie ich sehe«, fuhr der Fremde fort. »In diesen Gegenden hier lassen sich nur wenige Priester blicken. Sie wissen, wie wir mit Ungeziefer ihrer Art verfahren. Und wenn ich mit dir fertig bin, Priesterchen, werden wir noch weniger zu sehen bekommen!« Hiero hatte, während er zuhörte, unmerklich seinen Werfer fester gepackt; leider lag die Waffe verkehrt herum auf dem Sattel, so dass er eine bessere Gelegenheit abwarten mußte. Er machte sich keine Illusionen über den Ernst seiner Lage, auch wenn dieser Snerg oder wie er sich nannte anscheinend unbewaffnet war. Die beinahe sichtbare Aura, die der Mann ausstrahlte, das mächtige elektrische Feld seiner Geisteskräfte bewiesen dem Priesterkrieger, dass er es mit einem Meister und Eingeweihten der Telepathie zu tun hatte, der auf der Seite der Dunklen vielleicht einem Ratsmitglied oder Großabt gleichkam. Gegen einen solchen Mann waren physische Waffen so gut wie nutzlos, wenn man nicht großes Glück hatte. Snerg ließ die Arme sinken, stieg von seinem Felsen herunter und trat näher. Im gleichen Augenblick riß Hiero den Werfer herum und versuchte abzudrücken. Sein Finger erreichte den Abzug jedoch nicht mehr. Ein Muskelkrampf lähmte seinen gesamten Körper; obwohl seine Waffe auf den Feind gerichtet war, konnte er nichts tun, und obwohl er sich verzweifelt wehrte, gelang es
ihm nicht, die Lähmung abzuschütteln. Er konnte keinen Finger rühren. Snerg stand jetzt neben seinem linken Knie und sah ruhig zu ihm auf, und nichts als die unvorstellbare Kraft seines Geistes hielt Hiero fest. Und nicht nur Hiero. Verschwommen spürte der Priester, dass der riesige Ellk gegen einen ähnlichen geistigen Zwang ankämpfte, ihn aber ebensowenig wie sein Herr abschütteln konnte. Der kalte Schweiß brach Hiero aus und lief ihm in die Augen, während er kämpfte, sich mit jedem ihm nur bekannten Trick gegen die geistige Umklammerung des Magiers wehrte, die Lähmung seines Willens und seines Körpers zu durchbrechen versuchte. Als Hiero dem kalten Blick Snergs begegnete, überlief ihn ein Schauder. Der Meister des Dunkeln schien Augen ohne Pupillen zu haben, graue, geschlitzte Spalte, deren leere Tiefen seinen Geist hinunterzusaugen vermochten. Trotz unmenschlicher Anstrengung fühlte sich Hiero einem Zwang nachgeben, der ihm abzusteigen befahl. Irgendwoher wußte er, dass er, wenn er das wirklich tat, um so mehr in der Macht des Zauberers sein würde. Die einfache Tatsache, dass er hoch oben im Sattel saß, schien ihm einen kleinen Vorteil gegenüber Snerg zu verschaffen. Vielleicht, überlegte ein ferner, unbeteiligter Teil seines Gehirns, vielleicht half ihm die animalische Stärke des Ellk, der seinem Herrn auf diese Art beizustehen versuchte. Als er gebannt in die schrecklichen blassen Augen hinunterstarrte, bemerkte er in der gleichen, irgendwie unbeteiligten Weise, dass trotz des Lächelns in dem
grausamen, steinernen Gesicht auch Snergs Stirn schweißnaß war. Die Anstrengung des Kampfes zeichnete auch ihn. Aber Hiero konnte nicht mehr. Er begann im Sattel zu schwanken. »Im Namen des Vaters«, keuchte er laut und wehrte sich mit den letzten Resten seiner Kraft. Das Lächeln des Unreinen Meisters vertiefte sich. In diesem Augenblick tauchte Gorm wieder auf. Selbst ein junger Bär hat ein ziemlich kräftiges Gebiß, und Gorm suchte sich überdies einen der empfindlicheren Teile der feindlichen Anatomie zum Hineinbeißen aus. Der Magier kreischte vor Schmerz und Schrecken auf, mit einem seltsam hohen, zitternden Ton, und sein geistiger Klammergriff löste sich im gleichen Augenblick, als er taumelte und stürzte. Momentan spürte Hiero seine gesamten Kräfte und Fähigkeiten zurückfluten. Während Klootz noch von der Anstrengung zitterte, war sein Reiter binnen einer Sekunde aus dem Sattel zu Boden geglitten. Dann sah der Priester in dem Durcheinander von miteinander ringendem Bär und Mensch einen kurzen Augenblick eine Chance, sein langer Dolch fuhr aus der Scheide und blitzend über den bleichen Hals, gerade als Snerg sich aufzurichten versuchte. Ein dunkler Blutschwall schoß aus dem Schnitt und sickerte über das verzerrte Gesicht, dann lag der mantelumhüllte Körper still. Schnell, sendete der Bär. Zuviel Lärm (gemacht). Jetzt fort – gehen – schnell (laufen/galoppieren). Warte antwortete Hiero dem Gefährten. Er wollte den
Feind noch durchsuchen. Er fand einen geheimnisvoll aussehenden, schweren Stab aus bläulichem Metall, fast eine Elle lang, ein Messer mit schwarzem Griff und Flecken an der Klinge, die nach Blut aussahen, und ein zusammengerolltes Pergament. Unter dem Mantel trug der Tote einen weichen, in einem Stück gewebten Anzug aus einem blaßgrauen Stoff, der sich sonderbar, irgendwie glitschig, anfühlte. Ein kleiner Beutel am Gürtel enthielt ein rundes Metallgerät, das auf den ersten Blick wie ein Kompaß aussah. Das war alles. Hiero warf Metallstab, Messer, Pergamentrolle sowie das Kompaßding in eine Satteltasche und schwang sich mit einer mühelosen Bewegung auf sein Reittier. Gehen wir, sagte er. Hier ist alles getan. Der Bär fiel augenblicklich in einen schwingenden Trab. Er schlug die gleiche Richtung wie zuvor ein, und der Ellk stakste hinterdrein, mühelos Schritt haltend. Hiero wandte sich um, aber in dem tiefen Dunkel unter den Bäumen konnte er die reglose Gestalt seines Widersachers nicht mehr erkennen. Wenigstens, dachte er, hat er sich nicht gleich aufgelöst wie die anderen. Aber vielleicht waren die gar keine richtigen Menschen gewesen. Obgleich mittlerweile die Nacht vollends hereingebrochen war, behielten die drei mehrere Meilen weit ein scharfes Tempo bei. Das diffuse Licht zahlloser Sterne milderte die Dunkelheit ein wenig, und etwas später würde ein blasser, zunehmender Mond die Lichtverhältnisse noch verbessern. Was jedoch die Finsternis mehr als
aufwog, war Hieros Erleichterung, dass der schreckliche geistige Druck verschwunden war, das beklemmende, erstickende Gefühl, das ihn in den letzten Stunden beunruhigt hatte. Er mußte von dem Scheusal ausgegangen sein, das sie überwunden hatten. Er vergaß nicht, das kurze Dankgebet des Kriegers zu sprechen. Wie nahe er dem Tod und womöglich Schlimmerem gewesen war, wußte er nur zu gut. Er war um Haaresbreite dem schrecklichen Geist des Wesens unterlegen, das sich Snerg genannt hatte. Er fragte sich, ob ihn Snerg in diesem Fall auf der Stelle getötet oder zu Verhör und Folter in irgendeinen entsetzlichen Schlupfwinkel mitgenommen hätte. Ohne die Hilfe des jungen Bären hätten sie jedenfalls alle sterben müssen, das war sicher. Es mußte viel Mut und ebensoviel Klugheit erfordert haben, sich zu verstecken, abzuwarten und im günstigsten Augenblick anzugreifen, wie es Gorm getan hatte, und Hiero empfand überwältigende Hochachtung vor seinem neuen Freund. Schließlich begann der Bär langsamer zu werden, und sein flaches, schnelles Keuchen bewies, dass er so weit gelaufen war, als es in seinen Kräften stand. Klootz verminderte ebenfalls das Tempo, und sie zogen gemächlicher dahin, nicht schneller als ein Mensch gehen konnte. Die Dunkelheit war voller Geräusche, aber es waren nur die normalen Nachtgeräusche der Taig, ein grunzendes Brüllen in der Ferne, das der Paarungsruf eines Grokon, eines Riesenwildschweins, war, das leise Fauchen ir-
gendeiner Wildkatze, das Geschnatter der Eichhörnchen auf ihrer nächtlichen Jagd hoch in den Bäumen, und die traurigen Rufe kleiner Eulen. An diesen Geräuschen war nichts Beunruhigendes. Einmal fuhr ein paar Schritte vor ihnen eine große, geisterhaft blasse Gestalt vom Boden auf und floh in weiten, lautlosen Sprüngen ins Dunkel. Die einzeln lebenden Riesenhasen hatten zahllose Feinde und verließen ihr gut getarntes Versteck niemals, bevor es nicht völlig dunkel war. Nach Hieros Schätzung hatten sie etwa fünf Meilen immer in südöstlicher Richtung zurückgelegt, als Gorm haltmachte. Sie befanden sich mitten in einer dichten Gruppe mächtiger Tannen, unter denen vermodernde Stämme kreuz und quer lagen. Es war sehr dunkel zwischen den Bäumen, deren dichtes Geäst auch das blasse Licht der Sterne nicht mehr durchließen. Bleiben-rasten-sicher (jetzt) – hier(?) meinte der Bär. Hiero stieg müde ab und tastete sich zu der schwarzen, kaum wahrnehmbaren Gestalt hin. Er kauerte sich vor den Bären und suchte die Augen seines neuen Freundes. Danke, (dass) du (uns) geholfen (hast). Gefahr (war) schlimm, sendete er. Er hatte festgestellt, dass ihm mit jedem Mal die Verständigung leichter fiel. Er konnte jetzt mit dem Tier fast genauso leicht reden wie mit seinem Zimmerkollegen Per Malaro von der Abteischule, der zugleich sein Bündnisbruder war und ihm geistig näher stand als sonst jemand auf der Welt. Die Verständigung erfolgte auch auf dem gleichen Intelligenzniveau, wäh-
rend sie bei einem Gedankengespräch mit dem großen Ellk nur sehr einfache Antworten bar aller abstrakten Begriffe enthielt. Jetzt rührte sich der Bär. Eine lange feuchte Zunge fuhr über Hieros Nase, der das als Freundschaftsbeweis auslegte. Er fühlte auch eine Regung von Schüchternheit oder etwas sehr ähnliches in dem Tier, und darunter eine sorgfältig verborgene leise Belustigung. Gorm grinste innerlich. (Hat) uns (fast) getötet – böses Wesen – sah es (fühlte es) auf uns warten, ging fort, (damit es) mich nicht fangen (konnte) – mich nicht-bewegen (nicht-lebendig) machte. Und dann: Kam zurück – fest gebissen, wo weich – böses Denken aus (getötet) Gut(Glück?). Die Gedanken des Bären verstummten, sein Gehirn schirmte sich wieder ab. Warum, warum hast du mir geholfen? fragte Hiero geradeheraus. Was willst du? Der Bär schien zu überlegen. Hinter sich hörte Hiero Klootz herumschnüffeln auf der Suche nach irgendeinem Leckerbissen, vielleicht einem Pilz an einem der modrigen Stämme. Endlich antwortete der junge Bär, mit völlig klaren Gedankensignalen, denen nur noch die Übung fehlte so, als wüßte er genau, was er sagen wollte, aber noch nicht so recht, wie er sich ausdrücken mußte. Mit dir gehen – neue Dinge sehen – neue Gegend – sehen, was du siehst, lernen, was du lernst. Hiero setzte sich verblüfft hin. Konnte Gorm seinen Auftrag erraten haben? Das schien unmöglich. Aber er
hatte doch mit niemandem darüber gesprochen, niemand wußte von seinem Kommen. Weißt du, was ich suche, wohin ich gehe? fragte der Mensch, fasziniert von dem Geist seines neuen Freundes, und wie es aussah, auch zukünftigen Begleiters. Nein, meinte der Bär ruhig. (Aber) du (wirst) es sagen. Besser jetzt sagen. (Vielleicht) später keine Zeit. Der Priester überlegte. Ein Gelübde band ihn, nicht von seinem Auftrag zu sprechen. Der Eid war jedoch nicht absolut, sondern nur bedingt und diente einfach der normalen Geheimhaltung einer Sache, die weder heilig noch an sich ein Geheimnis war. Er konnte nach eigenem Ermessen jeden einweihen, dessen Hilfe er brauchte. Er traf seine Entscheidung und beugte sich wieder vor. Kopf an Kopf lagen die beiden in äußerlichem Schweigen auf dem Nadelteppich. Der riesige Ellk hielt Wache, mit Nase und Ohren die Nachtluft durchforschend nach allem was nah und ferne vor sich ging, während die zwei, über die er unter den dunklen Tannen wachte, sich unterhielten und viele Dinge voneinander lernten.
2 Am Anfang »Wir unterliegen, Hiero. Langsam aber sicher unterliegen wir.« Die in eine braune Kutte gehüllte, hagere Gestalt des Abtes schritt in dem unterirdischen Studierraum hin und her, während er sprach, die Hände auf dem Rücken verschränkt. »Glaube allein genügt nicht, hat noch niemals genügt. In den letzten Jahren sind wir wieder und wieder auf einen feindlichen Willen gestoßen, der – alleine oder mit Verbündeten – bewußt und völlig im Geheimen gegen uns arbeitet. Diese wie Menschen aussehenden Wesen, denen es fast gelang, bis in die Abteizentrale einzudringen, sind nur ein kleiner, wenn auch sehr wichtiger Teil des Problems. Aber da ist noch mehr, viel mehr, was der Rat in seiner Weisheit dem Volk verschwiegen hat. Kein Agent der Nachrichtenschriften wird je davon erfahren.« Er schwieg einen Augenblick, und sein runzliges, dunkelledernes Gesicht mit dem weißen Spitzbart und den langen, herunterhängenden Schnurrbartenden verzog sich zu einem Lächeln. »Wir haben es nicht einmal unseren Frauen erzählt.« Gleich darauf wurde er wieder ernst, nahm ein Stück Kreide in die Hand und trat zu der schiefernen Wandtafel. Der Hochehrwürdige Kulase Demero hatte seine sehr erfolgreiche Laufbahn als Lehrer der Jugend begonnen, und alte Gewohnheiten sind nicht leicht abzulegen. »Sieh her, mein Sohn«, sagte er entschieden und be-
gann zu schreiben. »Vor zwei Jahren wurde ziemlich weit im Norden am Inlandsee eine große Karawane in einen Hinterhalt gelockt, als sie von Otwah hierher unterwegs war. Zehn Ladungen antiker, Laborinstrumente wurden geraubt, ein paar hat man später zerstört gefunden. Diese Instrumente stammten aus einer sehr gut erhaltenen Siedlung der Ära vor dem ›Tod‹, die man an der Lantikküste entdeckt hatte. Es scheint sich um experimentelle Geräte für die Herstellung unvorstellbar hochentwickelter Waffen gehandelt zu haben. Nennen wir diesen Vorfall Punkt Eins.« Während er fortfuhr, sah er immer wieder zu Hiero hin, der an einem langen Tisch vor ihm saß, um wie bei tausenden Schülern zuvor festzustellen, ob er auch aufmerksam genug war. »Zweitens haben wir ein volles Regiment Soldaten unter einem tüchtigen Unterabt mit zwanzig Priestern und einem unserer besten Bauteams ausgeschickt, um eine neue Abtei und Fischersiedlung am Huzon-Golf, in den kalten Wäldern des Nordostens, aufzubauen. Sie hatten Vorräte für sechs Monate. Ich nehme an, du hast gehört, wie die Sache ausging, weil die Katastrophe für eine Geheimhaltung zu groß war. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, trotz ununterbrochener Gedankenverbindung mit der Kommunikationsabteilung in der Zentralabtei und anderen Abteien, verschwand der gesamte Trupp von rund elfhundert ausgesuchten Männern und Frauen vollständig und spurlos. Ein Waldläuferteam fand nur einen halben Monat später das Lager menschenleer und
zerstört vor, die Vorräte waren fast zur Gänze von wilden Tieren verschleppt worden. Es wurden zwar einige Spuren festgestellt, die auf die Unreinen zu deuten schienen, aber nichts Konkretes. Elfhundert unserer besten Leute! Das war und ist ein schrecklicher Schlag. Soweit Punkt Zwei.« Er verstummte und warf Hiero einen fragenden Blick zu. »Irgendwelche Bemerkungen?« »Noch nicht, Vater«, erwiderte Hiero gelassen. Wer ihn nicht gut kannte, war versucht, ihn für phlegmatisch zu halten, aber der Abt hatte seinen Schüler seit Jahren beobachtet und beging keinen solchen Irrtum. Jetzt knurrte er nur und wandte sich wieder der Tafel zu. »Das war vor achtzehn Monaten. Als nächstes kam der Vorfall mit dem Schiff, den ich Punkt Drei nennen will. Selbst von den Ratsmitgliedern wissen nur verdammt wenige darüber Bescheid, also nehme ich an, es ist auch für dich neu. Etwa zwei Monate nachdem wir die neue Kolonie verloren hatten, die den Namen Abtei Sankt Joana erhalten hätte«, wieder flog ein Ausdruck von Kummer über das alte Gesicht, »da erhielten wir Nachricht von einem großen Schiff, das von Vertrauensleuten an der Beecee-Küste gesichtet worden war, und zwar bei den sogenannten Bella-Inseln, einer felsigen Inselgruppe nördlich von Vank und seiner toten Zone. Die Leute an der Nordwestküste sind keine Metz, sondern eine noch viel ältere Rasse, nämlich...« »Nämlich reinblütige Inyans«, ergänzte Hiero. »Und ich weiß auch, dass es noch andernorts versprengte
Gruppen von ihnen gibt, kleine Jägertrupps, die sich gegen jede Assimilierung wehren. Manche von ihnen sind anständige Leute, andere treiben Handel mit den Unreinen, oder auch Schlimmeres. Aber was sollen die Lesebuchgeschichten, Vater? Ich habe die Schule schon seit langem hinter mir, wie du wohl weißt.« Eine Sekunde lang sah der Abt geradezu zum Fürchten wütend drein, dann lachte er auf. »Tut mir leid, mein Sohn, aber ich bin's gewohnt, aus allem gleich einen Vortrag zu machen, weil ich den durchschnittlichen Dorfräten und selbst einigen meiner ehrenwerten Kollegen vom Großrat alles des langen und breiten erklären muß. Nun, wo sind wir stehengeblieben? Ah ja, das Schiff. Es wurde berichtet, dass dieses Schiff, ein großes, sonderbar aussehendes, das ungleich viel größer als eines unserer Fischerboote gewesen sein soll, an einer der äußeren Inseln der Bella-Gruppe gestrandet sei. An Bord fand man Menschen aus einem fremden Land, vielleicht von der anderen Seite des Pazifik! Das Schiff war auf die Felsen aufgelaufen und im Sinken, das Wetter war mehr als ungünstig. Unsere Inyan-Freunde versuchten, die Mannschaft mit ihren eigenen kleinen Booten zu retten. Die Leute, die sie an Land holten, hatten tatsächlich gelbe Haut, wie die alten Schriften von den Ostpazifikvölkern berichten, genau wie jene wenigen Fischer, die ab und zu an unserer Küste stranden. Wir hatten sofort einen Reitertrupp in Marsch gesetzt,
von der Abtei Sankt Marku im Osten, die recht gute Straßenverbindungen zu diesem Teil der Küste hat. Als unsere Leute ankamen, war es bereits zu spät. Das Wrack war verschwunden, spurlos untergegangen. Drei kleinere Lager von Inyans, die sich zum Lachsfang in dieser Gegend versammelt hatten, waren ebenso verschwunden, und nur wenige Spuren bewiesen, dass sie überhaupt je existiert hatten. In den umliegenden Wäldern fanden wir jedoch einen alten Mann, oder besser gesagt: er fand uns, der dem Massaker entgangen war; der Mann, ein uralter Krüppel, hatte nämlich gerade nach Inyan-Sitte in so einem Erdhügel ein Dampfbad genommen. Eine Horde Lemut, soweit ich gehört habe, eine Art von Zottelheulern, war aus dem Meer aufgetaucht. Sie ritten auf riesigen Tieren, die ähnlich wie die großen Seehunde ausgesehen haben sollen, auf die man an dieser Küste ab und zu stößt. Sie stürmten die Lager an der Küste, machten alles nieder, was sich rührte, und warfen die Toten und ihre sämtlichen Besitztümer ins Meer. Der alte Mann wußte nicht, was aus dem Schiff geworden war, von dem er selbst auch nur gehört hatte, aber es hat wohl ein ähnliches Schicksal erfahren. Wer weiß, welche Kenntnisse der Vergessenen Jahre uns dadurch entgingen? Beginnst du ein Muster zu erkennen?« »Ich glaube ja, Vater«, antwortete Hiero. »Wir werden systematisch in die Enge getrieben, findest du, und mehr als das – wir werden auf Schritt und Tritt gehindert, Wissen zu erlangen, insbesondere jenes Wissen, mit dem
wir den Unreinen, den Lemut gefährlich werden könnten. Sie haben sich gegen uns verbündet, und ihre Organisation ist so gut, dass sie uns alles Neue, kaum dass wir davon gehört haben, vor der Nase wegschnappen können.« »So ist es«, sagte der Abt. »Ich bin derselben Meinung. Und einige andere auch. Aber das ist noch nicht alles gewesen. Hör zu. Vor einem Jahr beschlossen zwanzig unserer besten Wissenschaftler, Männer und auch Frauen, die an Problemen der geistigen Steuerung arbeiteten, in einem Treffen ihre Erkenntnisse auszutauschen. Aus der ganzen Republik kamen sie hierher nach Sask. Das Parment war zu dieser Zeit noch nicht zusammengetreten, wohl aber das Oberhaus, der Abteirat; wir wurden von dem Treffen verständigt, und natürlich war unser permanentes Unterkomitee für wissenschaftliche Angelegenheiten voll informiert. Es war reine Routinesache, dass zwei Abteiwachen an der Tür postiert waren. Einer der beiden, ein sehr aufgeweckter Mann, glaubte eines Morgens, einundzwanzig Gelehrte in den Saal gehn gesehen zu haben, in dem die Gruppe seit mehreren Tagen ihre Sitzungen abgehalten hatte. Wenn er nicht gewesen wäre! Aber auch so war es schlimm genug. Als der Wächter einen Blick durch ein Fenster warf, um seine Beobachtung zu überprüfen, sah er eine entsetzliche Szene – die zwanzig waren dabei, einander in völligem Schweigen umzubringen, durch
Erwürgen, Faustschläge, Stiche mit Taschenmessern, oder was sonst noch an leisen Methoden zur Verfügung stand. Der Wächter stürzte mit Gebrüll hinein und brach den Bann. Sechs waren tot und acht schwer verwundet. Wie zu erwarten, hatten die Wissenschaftler mit den stärksten geistigen Kräften am wenigsten Verletzungen erlitten. Das war ganz leicht aus den jeweiligen Schulakten zu beweisen.« Der Abt seufzte. Er hatte sein Umherwandern aufgegeben und sich Hiero gegenüber auf eine Bank gesetzt. »Die Gelehrten selber erinnerten sich praktisch an nichts; sie hatten wohl selbst auch anfangs das Gefühl gehabt, irgendein Fremder sei anwesend, aber wirklich gesehen hatte ihn niemand, keiner konnte ihn beschreiben. Der Wächter am rückwärtigen Eingang wußte überhaupt von nichts. Uns aber war nur zu klar, was geschehen sein mußte. Und dir sollte es auch klar sein. Nun?« »Ein sehr mächtiger Geist, würde ich sagen«, meinte der junge Priester. »Vielleicht einer der legendären Meister der Unreinen, von denen die Gerüchte erzählen. Oder sind das nur Märchen?« »Ich fürchte nein«, sagte der Abt. »Schau, du weißt doch über geistige Kräfte genausogut Bescheid wie jeder andere Metz. Um einen so gewagten Anschlag auf unsere besten Gehirne, unsere wirksamste Waffe gegen jeden Feind, auszuführen, muß, wie du selbst gesagt hast, ein sehr mächtiger Geist in der Nähe gewesen sein. Und er mußte körperlich anwesend sein, so nahe wie möglich
den Personen, die er unter seinen Bann zwang. Es steht außer Zweifel, dass der junge Wächter – der übrigens jetzt weiter ausgebildet wird – einen sehr wachen Geist besitzt und tatsächlich eine überzählige Person hineingehen sah. Sobald er einmal drinnen war, machte der mysteriöse Fremde sich wahrscheinlich kleine alltägliche Antipathien zunutze und steigerte sie geschickt zu einem mörderischen Aggressionszwang – in zwanzig Gehirnen, die er gleichzeitig hinderte, ihn selbst zu sehen! Aber da ist noch etwas Bemerkenswertes, was dir wahrscheinlich entgangen ist.« »Das Schweigen«, lächelte Hiero. »Nein, das hab' ich mitbekommen.« »Tüchtig, mein Junge«, sagte sein Lehrer. »Offenbar ist hinter deiner gleichmütigen Miene doch etwas Hirn vorhanden. Ja, das Schweigen. Welch ein Geist! Zwanzig erfahrene Telepathen zu zwingen, einander völlig lautlos umzubringen! Lärm hätte sein Vorhaben sofort zunichte gemacht, deshalb mußten die zwanzig schweigend aufeinander losgehen. Ich glaube nicht, dass auch nur vier Leute in der Republik etwas ähnliches zustandebringen könnten.« »Du wärst einer davon, das weiß ich«, sagte Hiero. »Nun, mein Vater, ist deine Einleitung beendet, so dass wir über die Dinge sprechen können, die mich persönlich betreffen?« »Von den beiden Wesen, denen es fast gelang, in unsere geheimsten Archive und Forschungslabors in der
Abteizentrale einzudringen, weißt du ja wohl schon«, sagte sein Vorgesetzter. »Wir können das als Punkt Vier bezeichnen, denke ich. Wir wissen nicht, wer oder was die beiden waren. Falls es wirklich Menschen waren, wie konnten sich dann ihr Fleisch, ihre Knochen so schnell auflösen, zu einem zusehends zu Staub zerfallenen Gallert werden? Die Unreinen überflügeln uns, Hiero. Zur Einleitung, wie du es nennst, würden noch viele andere Dinge gehören, weil sie alle als Teil eines großen Planes angesehen werden müssen. Kundschafter, erfahrene Waldläufer wie du, wurden in Hinterhalte gelockt oder verschwanden einfach in Gegenden, wo niemand überhaupt von ihrer Anwesenheit gewußt haben dürfte. Boten mit besonders wichtigen Nachrichten für die Liga von Otwah, oder mit Nachrichten der Liga an uns, verschwanden ebenso spurlos – und für die Konföderation lebensnotwendige Vorhaben wurden um Jahre verzögert. Und vieles mehr. Alles deutet darauf hin, dass ein Netz um uns zusammengezogen wird, ein tödliches Netz, Hiero, während wir bloß dasitzen und uns wundern, dass so vieles schiefgeht!« Der hagere alte Mann beugte sich vor und sah Hiero scharf an. »Und mein Vorzugsschüler tut auch nichts anderes. Ich erwarte intelligente Fragen von dir, Hiero. Ich brauche sie, wir alle brauchen sie. Die Zeit der geistigen Trägheit ist für dich zu Ende, mein Sohn. Was du bis jetzt geleistet hast, hätte jeder Priesterlehrling auch zustande gebracht – im wesentlichen aber bist du durch die Wälder gestreift und ganz
einfach faul gewesen. Dabei hast du bei der Ausbildung in der Abteizentrale kaum je dagewesene Erfolge verbucht, wie du selber recht gut weißt. Und du hast dich nicht einmal angestrengt! So höre mir jetzt gut zu, Per Desteen. Ich spreche jetzt als dein kirchlicher und weltlicher Vorgesetzter, und ich erwarte deine ungeteilte Aufmerksamkeit! Diejenigen von uns Ratsmitgliedern, die von dir wissen, haben dir seit Jahren ungewöhnlich viel Auslauf gelassen – aus zwei Gründen: Erstens, in der Hoffnung, dass du von selber Verantwortungsgefühl entwickelst, was natürlich immer die beste Lösung ist. Der zweite Grund, auf den vor allem ich immer wieder hingewiesen habe, war, dass du Gelegenheit haben solltest, möglichst vielseitige Erfahrungen zu sammeln. Diese Zeit der Muße, mein Sohn, ist jetzt ganz offiziell zu Ende, in dieser Minute. Habe ich mich klar genug ausgedrückt? Und nun, Per, möchte ich ein paar vernünftige Fragen von dir hören, weil noch eine Menge zu besprechen ist.« Hieros schwarze Augen blitzten zornig, als er, nun steif aufgerichtet und keineswegs mehr gelangweilt, seinen väterlichen Freund und Lehrer anfunkelte. »So denkst du also von mir!« knurrte er. »Ein offiziell geduldeter Tunichtgut bin ich, ein Faulpelz, ja? Das ist ungerecht, höchst ehrwürdiger Vater, das weißt du!« Abt Demero saß einfach da und sah ihn an, Verständnis und doch Unnachgiebigkeit in den weisen Augen, bis Hiero fühlte, wie sein Ärger schwand. In den Anschuldi-
gungen des Abtes lag ein guter Teil Wahrheit, wie sich Hiero ehrlicherweise eingestehen mußte. »Verzeih mir meinen Zorn und meine Unbeherrschtheit, Vater«, sagte er nach einer Pause kleinlaut. »Ich fürchte, ich bin wirklich ein schlechter Priester und Soldat. Was kann ich für den Rat tun?« »Eine gute Frage, Hiero«, sagte der Abt aufmunternd, »aber genaugenommen eine, die erst zum Schluß kommen sollte. Ich möchte nämlich, dass du dir zuvor noch selber Gedanken über die Angelegenheit machst, Schlüsse ziehst aus dem, was ich dir erzählt habe. Was ich von dir hören will, mein Sohn, sind Anregungen, Ideen – und vor allem Lösungen für unsere Probleme. Was hältst du also von der ganzen Sache?« »Nun«, begann Hiero nachdenklich, »mir ist von Anfang an etwas aufgefallen, und jeder weitere tragische Vorfall, von dem du berichtet hast, hat es bestätigt: In der Republik gibt es Verräter, und zwar sehr hochgestellte, zumindest einen, aber höchstwahrscheinlich eine ganze Anzahl. Ich sage das nicht gerne, aber ich muß, wenn ich offen sein soll. Wie steht es mit dem Abteirat?« »Aha«, sagte der Abt. »Du kannst also doch noch denken. Jawohl, es muß Verräter unter uns geben. In diesem Augenblick sind Untersuchungen im Gange, durch die wir, überaus vorsichtig und unauffällig, die Verräter auszuforschen hoffen. Was nun meine Kollegen und deine Vorgesetzten vom Abteirat betrifft, so geht es dich wenig an, welche Schritte wir unternehmen würden, falls
wir jemals Anlaß hätten, einen Verräter in einer so unwahrscheinlichen Position zu vermuten. Deshalb werde ich dir auch nichts über die theoretischen Grundlagen des Vorgehens in einem solchen Fall sagen.« Das leise Lächeln des Abtes begegnete dem Hieros. Der alte Mann hatte Hiero zwar buchstäblich nichts gesagt – und doch sehr viel, einschließlich der Tatsache, dass selbst der Abteirat nicht außer Verdacht stand. »Ich bin sicher, dass eine Verschwörung gegen uns im Gange ist«, fuhr Hiero fort. »Irgend jemand bringt uns einen Schlag nach dem anderen bei, und nach allem, was du mir erzählt hast, muß es sich um einen koordinierten Feldzug gegen die Abteien handeln. Da du darauf bestanden hast, dass wir uns hier in einem geheimen Raum treffen und dass wir miteinander sprechen, fürchtest du offensichtlich sogar hier Verrat. Aber wenn wir unsere Gedanken auf etwas Bestimmtes konzentrieren, entstehen – selbst wenn wir nur normal reden – Ströme, die ein Meistertelepath wahrnehmen könnte, insbesondere ein so mächtiger wie jene, von denen du berichtet hast. Was hast du dagegen unternommen?« Er verschränkte die Arme auf der Brust und starrte nun seinerseits den Abt forschend an. »Dies«, sagte der alte Mann. Während ihres Gesprächs war Hiero ein einfaches hölzernes Kästchen am anderen Ende des Tisches aufgefallen, das vielleicht vierzig Zentimeter hoch war. Der Abt hob nun den Deckel und zeigte Hiero einen sonderbaren Mechanismus. Ein kleines,
flaches Pendel aus einem glattpolierten elfenbeinähnlichen Material hing bewegungslos von einer dünnen, hölzernen Querstrebe herab. Auf beiden Seiten des Pendels waren ovale Scheiben an dem feinen Gestell befestigt. »Dieses Pendel besitzt einen Kern aus einem sehr sonderbaren Material, das aus den Vergessenen Jahren stammt, und von dem ich dir später einmal mehr erzählen werde. Wäre irgendeine Gedankensonde oder sonst ein Kräftefeld hier eingedrungen, dann hätte dieses kleine Gewicht mit, wie ich annehme, mindestens achtundneunzig Prozent gegen eine der Seitenplatten geschlagen. Wir testen das Gerät seit zwei Jahren, und es hat bis jetzt noch immer angesprochen. Tatsächlich war es ein solches Gerät, das die beiden Spione in der Abteizentrale entlarvt hat.« »Ich verstehe«, meinte Hiero und musterte den kleinen Warnmechanismus. »Sehr nützlich, so etwas. Hoffen wir nur, dass es funktioniert, Vater. Aber ich glaube, du wolltest noch mehr von mir hören. Nun, ich kann dir nur noch ein paar Vermutungen anbieten. Erstens: Es gibt offenbar einen Plan, irgendeine Art von Defensive gegen diese drohende Abkapselung, die du befürchtest, und ich soll ein Teil des Plans sein. Weiter vermute Ich, dass es sich um etwas physisch Anstrengendes und Gefährliches handelt, denn sonst wäre ein erfahrener Mann deines Alters und nicht ein jüngerer wie ich ausgewählt worden. Eine Erkundungsreise in ein vom Feind beherrschtes
Gebiet? Um etwas ganz Bestimmtes auszukundschaften? Tut mir leid, im übrigen tappe ich im dunkeln.« »Streng dein Hirn ein bißchen mehr an«, schlug Abt Demero vor. »Schön«, meinte Hiero. »Nehmen wir mal an, wir haben irgendeine Geheimwaffe. Damit könnte sich ein überaus kühner und wagemutiger Mann durch die feindlichen Linien schlagen und sich im Gebiet der Unreinen durch Schlauheit, Vorsicht und puren Heldenmut behaupten, wo eine ganze Armee nichts ausrichten könnte. Offen gesagt«, fügte er hinzu, »hab' ich die Geheimnistuerei allmählich satt. Abgesehen von der sarkastischen Bemerkung eben fällt mir wirklich nichts mehr ein, und ich glaube nicht, dass du dieses Kindermärchen vom einsamen Streiter gegen die Übermacht des Bösen als einen brauchbaren Vorschlag ansiehst. Komm schon, Vater«, sagte er ungeduldig, »was in aller Welt habt ihr vor?« Der Abt warf ihm einen etwas erschrockenen Blick zu, bevor er antwortete, was wiederum Hiero nicht ganz geheuer vorkam. »Verdammt, Hiero, wie machst du das? Du mußt ein Bewußtseinsniveau anzapfen, von dem wir nichts wissen! Genau das nämlich planen wir! Du und noch ein paar bestens ausgebildete Männer, ihr seid unsere geheime Waffe. Wir wollen, dass ihr auszieht und euch in einigen der Vergessenen Städte weit im Süden umseht. Wir hoffen – und es ist eine recht schwache Hoffnung,
fürchte ich –, dass ihr uns irgendein Geheimnis der Vergangenheit mitbringt, eine wirkliche Waffe, bevor die Unreinen uns überwältigen.« Trotz seiner sonst eher skeptischen Lebensauffassung war der junge Priester von diesem Plan sofort begeistert. Er war schon öfters nach Otwah gereist und kannte auch einen Teil der weiten nördlichen Tundren, aber der Süden war für ihn wie fast alle seine Landsleute ein Buch mit sieben Siegeln. Für jede mutierte Pflanze, jedes mutierte Lebewesen im Norden des Kontinents Kanda gab es im Süden Dutzende davon. Gerüchte von schrecklichen Ungeheuern gingen um, von denen manche so gewaltig sein sollten, dass sie eine Ellkherde mit einem Bissen verschlingen konnten. Und Bäume gab es dort, so riesig, dass man einen halben Tag brauchte, um den Stamm auch nur von einem zu umschreiten. Vermutlich war ein Großteil dieser Berichte als pure Phantasterei, als prahlerische Lügenmärchen von Fallenstellern und Jägern abzuschreiben, aber Hiero wußte auch recht gut, dass in den meisten dieser Berichte doch ein Körnchen Wahrheit steckte. Er selber war gerade bis zum südlichen Rand der Taig gekommen, wo die weiten Föhrenwälder allmählich den gigantischen Laubbäumen der südlichen Wälder wichen, in denen es kaum mehr Nadelbäume gab. Das legendäre Imperium der Vereinigten Staaten hatte einst den ganzen Süden umfaßt, und jedes Schulkind wußte, dass der heiße Tod es von allen Ländern der Welt am schwersten getroffen hatte. Alles Leben dort
war schrecklichen Veränderungen unterworfen gewesen, während Nord-Kanda viel glimpflicher davongekommen war. In den unbekannten Gebieten gab es, so erzählte man, tückische Sümpfe, Binnenmeere, und breite Streifen vergifteter Wüsten, in denen des Nachts noch immer das kalte, bläuliche Licht des Todes glomm. Und die Vergessenen Städte, das Ziel seiner Reise, waren am furchtbarsten! Die Kinder der Metz vergaßen Unfug und Schabernack, wenn man ihnen von den gewaltigen, schlingpflanzenbewachsenen Klippen der uralten Mauern und Türme erzählte, an die niemand ohne Schauder dachte, und deren bloßer Anblick den Tod bringen sollte. Auch im Norden gab es Vergessene Städte, aber die meisten waren bereits ziemlich gründlich erforscht worden, das heißt, so weit ihre Lage bekannt war. Überdies hatte der Untergang der Alten Welt den Norden ja nicht so schwer getroffen. Wagemutige Späher und Waldläufer hatten die Mißbilligung der Abteien – die politische und nicht religiöse Gründe hatte – auf sich genommen, waren tief in den Süden vorgestoßen und hatten Teile davon erforscht, aber es waren nur wenige, die auszogen, und noch viel weniger, die zurückkehrten. All diese Überlegungen huschten durch Hieros Geist, während er in Demeros weise alte Augen blickte. Er lehnte sich zurück, diesmal wirklich um eine Äußerung verlegen, und in der länglichen, fensterlosen Kammer, die nur durch zwei Fluoros an den Wänden erhellt wurde, wuchs das Schweigen, während die beiden Män-
ner ihren Gedanken nachhingen. Hiero war es, der nach einer Weile schließlich die Stille beendete. »Kannst du mir sagen, mein Vater, wonach ich suchen soll?« fragte er leise. »Oder soll ich einfach darauf warten, dass mir irgend etwas begegnet?« »Nun, alles könnte eine Hilfe für uns sein«, sagte der alte Mann. »Aber wir schicken dich nicht blindlings aus, verstehst du. Wir brauchen natürlich vor allem Waffen. Und wir wissen nur zu gut, dass der ›Tod‹ durch die alten Waffen über die Welt kam. Damit wollen wir nichts mehr zu tun haben. Die atomaren Seuchen, die radioaktiven Gifte, dies alles mag für ewig begraben bleiben. Was ich am meisten fürchte, ist, dass die Unreinen es sich zunutze machen! Nein, von diesen entsetzlichen Dingen wollen wir nichts wissen. Aber die Alten besaßen noch vieles andere, das ihnen Macht verlieh, und von dem wir kaum eine Vorstellung haben.« Er schien seine Gedanken plötzlich etwas ganz anderem zuzuwenden, was Hiero einen Augenblick lang verwirrte. »Hast du jemals über unser Hauptarchiv in der Abteizentrale nachgedacht, Hiero?« fragte der Abt und beugte sich überraschend aufgeregt vor. »Gewiß, mein Vater«, antwortete der Priester. »Das heißt, was meinst du eigentlich mit ›nachgedacht‹?« »Was du davon hältst, will ich wissen«, sagte Demero streng. »Ist das Archiv praktisch? Ist es nützlich? Es erstreckt sich über mehr als fünf Quadratkilometer unterirdischer Säle, und mehr als zweihundert bestens ausge-
bildete Priester und Gelehrte sind darin beschäftigt. Lohnt sich das? Was meinst du?« Hiero war sich klar darüber, dass sein alter Lehrer auf etwas Bestimmtes hinauswollte, aber was das war, konnte er sich nicht im leisesten vorstellen. »Nun, natürlich ist es sehr wertvoll«, sagte er und dachte scharf nach. »Ohne die darin gespeicherten Informationen würden wir niemals etwas ausrichten. Zumindest die Hälfte unserer Forschungsprojekte zielen darauf ab, die im Archiv gesammelten Daten zu vermehren. Selbstverständlich lohnt es sich. Wieso fragst du das?« »Ich will es dir erklären«, sagte Demero. »Wenn ich eine bestimmte Information brauche, bloß eine einfache Information, von der ich weiß, dass sie irgendwo im Archiv vorhanden ist, dann dauert es manchmal Tage, das Gesuchte herauszufinden. Und dann will ich vielleicht mehrere Fakten gegeneinander abwägen; sagen wir, den Niederschlag in der östlichen Provinz Sask, den Ernteertrag im Süden, und die neuesten Informationen über die Bufferwanderung. Wieder braucht es Tage, um allein die Fakten herauszusuchen. Dann erst kann ich, unter Mithilfe von anderen Gelehrten, darüber nachdenken, die Informationen gegeneinander abwägen und Entscheidungen treffen. Aber das weißt du ja alles, nicht?« »Natürlich«, antwortete Hiero, den das Verhalten des Abtes neugierig gemacht hatte, »aber worauf willst du
hinaus? Was sollte man anderes mit Informationen tun als sie benutzen? Natürlich braucht das seine Zeit, aber damit müssen wir uns abfinden. Oder?« »Nein«, versetzte der Abt energisch. »Nimm bloß einmal an, ich ginge ins Archiv und sagte der Aktensammlung, hörst du, nicht den Bibliothekaren, sondern der Aktensammlung selber, was ich dir vorhin über unsere gefährliche Lage erzählt habe. Unterbrich mich nicht, mein Junge! Noch hab' ich nicht den Verstand verloren. Die Akten selber kombinieren alle bekannten Informationen zu dem Problem, und spucken nach zehn Minuten ein Blatt Papier aus, auf dem steht, ›Wenn ihr x, y und z in dieser Reihenfolge ausführt, sollte der Feind vollständig überwältigt werden.‹« Er schwieg einen Moment, und seine Augen glänzten in jungenhafter Begeisterung. »Was würdest du dazu sagen, hm?« fragte er herausfordernd. »Ein denkendes Archiv?« meinte Hiero mit hochgezogenen Brauen. »Ich nehme selbstverständlich an, dass du nicht scherzt. Wir haben zwar begonnen, diese RadioMaschine der Alten zu erforschen, aber das ist nicht mehr als ein Instrument, durch das Menschen sprechen. Wovon du sprichst, das – das muß von selbst denken können. Eine Maschine, die Informationen speichert, die Schlüsse daraus zieht! Willst du wirklich behaupten, dass es so was gibt?« Der Abt lehnte sich voll Genugtuung zurück. »Jawohl, mein Sohn, das gibt es. In den Jahren vor dem ›Tod‹
waren diese Maschinen über die ganze Welt verbreitet. Man nannte sie ›Computer‹. Einige der Gelehrten, die die alten Aufzeichnungen aus den Vergessenen Jahren durchforschen, sind zu der Ansicht gekommen, dass es Computer gegeben haben muß, die größer als dieses Gebäude hier waren. Beginnst du langsam die gewaltigen Möglichkeiten zu ahnen?« Hiero saß reglos und starrte die Wand hinter Abt Demero an; in seinem Geist jagten sich die Gedanken. Wenn es wirklich solche Maschinen gab – und er wußte, dass der Abt eine bloße Möglichkeit kaum als Tatsache hinstellen würde – dann konnte die Welt sich über Nacht ändern. Es konnte sehr wohl das gesamte Wissen der Vergangenheit noch immer irgendwo gespeichert sein. Dieser Gedanke war beängstigend, denn dann warteten auch alle Schrecknisse der Zeit des ›Todes‹ auf ihre Wiederentdeckung. »Ich sehe, dass du dir über die Konsequenzen Gedanken zu machen beginnst«, sagte der alte Priester. »Das Wissenschaftskomitee hat dich dazu bestimmt, es im Südosten zu versuchen, weit im Osten, wo, wie wir vermuten, in einigen versteckten unterirdischen Kammern vielleicht noch solche Maschinen der Alten existieren. Fünf andere Männer erhalten ebenfalls bestimmte Gegenden zugewiesen. Es ist am besten, wenn keiner von euch den Auftrag der anderen kennt.« Er gab keinen Grund an, und es war auch nicht nötig. Falls einer der sechs Kundschafter lebend in die Hände der Unreinen
geriet, würden seine Kameraden nur davonkommen, wenn er nichts, aber auch gar nichts von ihnen wußte. »Nun setz dich hier herüber, Hiero, ich will dir die Karten erklären. Die neuesten Informationen über die wahrscheinlichsten Computerverstecke sind darin eingezeichnet. Weißt du, du darfst nicht erwarten, eine Art riesiger Bibliothek zu finden. Die Daten wurden sicherlich nicht in Form von beschriebenem Papier sondern bestimmt auf irgendeine Art verschlüsselt und in diese riesigen Maschinen gesteckt. Wie, können wir uns nur schwer vorstellen. Aber du wirst später noch eingehende Instruktionen von ein paar Gelehrten erhalten, die sich mit diesem Gebiet intensiver befaßt haben...« So hatte alles angefangen. Es war natürlich nicht möglich, das dem Bären genauso zu erzählen, denn selbst noch so intelligente mutierte Bären haben keine Vorstellung von Lesen und Schreiben. Hiero erklärte jedoch geduldig immer wieder die wichtigsten Punkte und gönnte sich erst kurz vor Anbruch des Morgengrauens, in den letzten dunklen Nachtstunden, ein wenig Schlaf. Gorm wußte jetzt, dass sein Freund auf einer langen und gefährlichen Wanderung war, aber zu Hieros Genugtuung wollte er immer noch mitkommen. Der Bär war sogar klug genug, um zu verstehen, dass es eine Art von Wissen gab, die sein Gehirn nicht zu erfassen vermochte – vielleicht war er der erste seiner Gattung, der sich überhaupt einen Begriff von abstraktem Wissen machte. Er wußte, dass dieser Mensch ein Feind der Lemut war,
und dass sie in einem fernen Land etwas suchen wollten, mit dem sie gegen diese Mißgeburten kämpfen könnten. Damit gab er sich zufrieden und ruhte sich aus, im Schlaf mitunter leise aufschnarchend in seinen Bärenträumen. Über den beiden Schlafenden stand mit gespreizten, steifen Beinen der immer noch gesattelte Riesenellk Wache, auch er vielleicht vor sich hinträumend aber alle seine scharfen Sinne wach und nach dem leisesten Anzeichen von Gefahr auf der Hut. Klootz wurde eigentlich nie müde, und seine Gattung legte sich zum Schlafen ohnehin nicht nieder, obwohl sich Ellks manchmal mit untergeschlagenen Beinen ausruhten. In dieser Nacht jedoch blieb er stehen, wiegte sich leicht hin und her, wiederkäuend, ein unübertrefflicher Wächter, dem nichts entging, was in der Nacht rundum geschah. Bei Anbruch der Dämmerung spürte Hiero eine sanfte Berührung an der Stirn, schlug die Augen auf und sah eine große feuchte Nase ein paar Zentimeter über der seinen. Als Klootz sich überzeugt hatte, dass sein Herr auch richtig wach war, hob er vorsichtig die breiten Hufe, stieg über den Mann hinweg und trat aus dem Dickicht ins graue Morgenlicht hinaus. Einen Augenblick später zeigte ein lautes Rupfen und Mampfen an, dass er sich ans Frühstücken gemacht hatte. Hiero rieb sich die Augen. Er fühlte sich einigermaßen steif, aber es war nicht weiter schlimm. Er hätte es natürlich bequemer haben können, wenn er seine Decke ausgepackt und über eine weiche Matratze aus Föhrenzwei-
gen gebreitet hätte. Dazu war er am Abend zuvor jedoch zu müde und zu beschäftigt gewesen. Außerdem war er ein alter Waldläufer, dem eine Nacht auf blankem Boden, wenn er nur einigermaßen trocken war, wenig ausmachte. Er sah sich um und stellte fest, dass auch Gorm wach war und mit einer langen rosa Zunge Morgentoilette machte. Wasser in der Nähe? sendete er fragend. Lauschen (du kannst) es hören, kam die Antwort, nicht von dem Bären, sondern vom Ellk. Hiero empfing das Gedankenbild eines kleinen Baches, vielleicht hundert Meter entfernt, stand auf und folgte Klootz, der langsam in diese Richtung schlenderte. Zwanzig Minuten später hatten sie sich gewaschen, hatten getrunken und gegessen und waren zum Aufbruch bereit. Hiero überprüfte etwas besorgt seinen Pemmikanvorrat. Bei Gorms Appetit würde der bald alle sein, und sie würden haltmachen und jagen müssen. Abgesehen von der zusätzlichen Gefahr, mit der das verbunden war, würde es sie noch mehr aufhalten. Gorm fing diesen unabsichtlich nicht abgeschirmten Gedanken auf. Versuche, das süße Futter aufzusparen, sendete er zurück. Ich kann hier selbst genug finden. Wie schon mehrmals zuvor geriet Hiero ein wenig aus der Fassung, als ihm die Intelligenz, die Ausdrucksfähigkeit und die Selbstlosigkeit dieses Geschöpfs bewußt wurde, das da auf einmal in sein Leben getreten war. Bevor sie aufbrachen, rieb Hiero noch sein Reittier mit
ein paar Handvoll Moos ab. Er hatte ein schlechtes Gewissen, dass er Klootz die ganze Nacht bepackt und gesattelt hatte stehen lassen, aber dem Ellk schien das weiter nichts ausgemacht zu haben. Nachdem er sich noch ausgiebig in dem Bach gewälzt und dabei eine kleine Überschwemmung hervorgerufen hatte, war er wieder zu allem bereit. Inzwischen hatte sich die Sonne bis über die Baumkronen emporgeschoben, und der Wald war erwacht, voller Leben, Geraschel, Vogelgezwitscher. Aufgeschreckte Rehe und kleine Hasen huschten davon, und einmal sah Hiero ein Rotte Grokonschweine in der Ferne zwischen den Föhren verschwinden. Selbst die gestreiften Frischlinge waren größer als er. Am Abend zuvor hatte Gorm versucht, ihm den Weg zu erklären, den er für den sichersten hielt. Der junge Priester hatte nicht alles mitbekommen, aber er hatte doch verstanden, dass südlich von ihnen ein großer Sumpf lag, den sie an der schmalsten Stelle überqueren mußten. Die Straße, die Klootz und er in der letzten Woche entlanggereist waren, wurde von vielen unsichtbaren Augen beobachtet und war nach Aussage des Bären höchst gefährlich. Die beiden hatten großes Glück gehabt, überhaupt so weit zu kommen, denn seit langer Zeit benützte niemand mehr diesen Weg, und wer es dennoch tat, hatte nicht lange zu leben. Auf keinen Fall durften sie wieder darauf zurückkehren. Die Tatsache, dass sich nur so selten Menschen in diese Wildnis wag-
ten, mochte die Wachsamkeit der Unreinen eingeschläfert haben, so dass der Ellk und sein Reiter anfangs unbehelligt blieben. Jetzt aber war sicher die gesamte Gegend in Aufruhr, und wenn man erst den getöteten Zaubermeister gefunden hatte, würde der Feind eine wahrhaft erbitterte Treibjagd auf sie einleiten. Gorm hatte dringend geraten, wiederum keine Gedankensprache zu benutzen oder sie zumindest auf das Allernötigste zu beschränken. Als sie vielleicht drei Stunden von ihrem Schlafplatz entfernt waren, erhielten sie den Beweis dafür, dass sie nicht mehr unbeobachtet waren. Sie durchwateten eben einen kleinen Bach, als Hiero fühlte, wie sich der Ellk unter ihm versteifte, und sah, dass der junge Bär an der gegenüberliegenden Uferböschung erschrocken den Kopf hob. Eine Sekunde später gaben seine eigenen, weniger scharfen Sinne Alarm. Er hatte noch nie etwas ähnliches erlebt. Er hatte das Gefühl, dass etwas an seinem Geist zerrte, eine fremdartige, wilde Kraft, die nach seinem Ich griff. Er mußte sein jahrelanges Training und seine gesamte Erfahrung zu Hilfe rufen, um sich gegen diesen Druck, diesen gewaltsamen Ruf wehren zu können, in dem er seinen Geist dagegen abkapselte. Eine wahrscheinlich sehr kurze Zeitspanne, nur ein bloßer Augenblick, dehnte sich für ihn zu einer langen Minute, während dieses brutale, suchende Etwas gegen seinen Geist anstürmte – und dann war es auf einmal weg. Er wußte, dass es seinen Angriff aufgegeben hatte, aber er
war durchaus nicht sicher, dass er es hatte ablenken oder täuschen können. Er warf Gorm einen besorgten Blick zu und bemerkte, dass der Bär ihn mit seinen schwachen Augen ebenfalls ansah. Etwas Böses jagt, kam ein vorsichtiger Gedanke. »Ich (bin nur ein) Bär. Es sucht nicht mich.« (Ich glaube,) es hat mich nicht bemerkt, antwortete Hiero. Und Klootz auch nicht, denn es jagt keine Vierfüßler, zumindest jetzt nicht. Andere (wie) böse Haarige von gestern werden jagen, dachte der Bär. Dieser Wald ist voll von Wesen, die den bösen Leuten jagen helfen (ihnen dienen?). Viele laufen auf vier Beinen und haben gute Nasen. Dem Priester fiel es immer leichter, seinen Bärenfreund zu verstehen. Die ganze Unterhaltung und die darauf folgende Entscheidung, den Bach zur Tarnung zu benutzen, dauerten nicht mehr als einen Sekundenbruchteil. Den Rest des Tages folgten sie dem kleinen Bach stromabwärts. Soweit es möglich war, blieben sie im Wasser, um keine Spuren zu hinterlassen. Der Geist oder das Wesen, das sie aufzuspüren versucht hatte, machte sich nicht mehr bemerkbar. Trotzdem begegneten ihnen immer weniger Tiere, und von den größeren bekamen sie überhaupt keins zu Gesicht. Einmal versuchte ein großer, rund dreißig Zentimeter langer Wasserkäfer Gorm mit seiner scharfen Zange zu beißen, aber der Bär wich ihm mühelos aus, und der unmittelbar nachkommende
Klootz platzierte einen gewichtigen Huf auf den schillernden Insektenrücken, bis es knirschte. Von den vielen Rieseninsekten, die aus der Strahlung des Todes entstanden waren, stellten nur sehr wenige eine Gefahr dar, weil sie im allgemeinen langsam und träge waren. An diesem Abend machten die drei ziemlich früh auf einer winzigen Insel halt. Der Bach, den Hiero auf seiner Karte nicht hatte finden können – vermutlich, weil er zu klein war – hatte sich etwas verbreitert, ohne jedoch viel tiefer als einen halben Meter zu werden. Das weidenüberhangene Inselchen war der ideale Lagerplatz. Während der Bär auf Futtersuche davontrottete, und Klootz, nun abgesattelt, sich ein Maulvoll saftiger Wasserpflanzen nach dem anderen aus dem Bach fischte, begnügte sich Hiero mit einem kargen Nachtmahl aus Zwieback und Pemmikan, und überdachte die Ereignisse der letzten Tage. Die Sonne war noch nicht untergegangen, da Hiero mit Absicht früh haltgemacht hatte. Er brauchte Tageslicht, um die verschiedenen Gegenstände untersuchen zu können, die er dem toten Feind abgenommen hatte. Den Metallstab nahm er sich als erstes vor. Das Ding war etwas mehr als daumendick und vielleicht dreißig Zentimeter lang, aus einem sehr harten, bläulichen Metall, das wie patinierte Bronze aussah. Auf den ersten Blick schien es eine völlig glatte Oberfläche zu haben. Erst als er genauer hinsah, bemerkte Hiero, dass an der Seite vier winzige Knöpfe eingelassen waren. Nach eini-
gem Zögern drückte er auf den ersten. Sofort begann sich das obere Ende des Stabes herauszuschieben. Das ganze war also eine Röhre, in die eine Reihe ineinanderpassender Röhrchen genauestens eingefügt war. Vor Hieros Augen schob sich der Stab auseinander, bis er etwa anderthalb Meter lang war. Als der junge Priester nochmals auf denselben Knopf drückte, begannen die Röhrchen wieder ineinanderzugleiten. Ein dritter Knopfdruck stoppte den Mechanismus. Als nächstes probierte er den mittleren von den drei hintereinanderliegenden Knöpfen aus. In der scheinbar strukturlosen Oberfläche öffnete sich ein Ringsegment und zwei ovale, flache Scheibchen an dünnen Teleskopstreben glitten heraus. Die beiden etwa fünfzehn Zentimeter langen Arme bildeten schließlich eine Art Gabel in rechtem Winkel zur Längsachse des Stabes. Hiero drehte das Gerät hin und her und untersuchte es von allen Seiten, aber den Zweck der Scheiben konnte er nicht erraten. Er nahm das Ende mit den Scheibchen näher in Augenschein, aber sie waren völlig strukturlos. Als er den Stab herumdrehen wollte, um sich seine Oberfläche nochmals genauer zu besehen, vergaß er die herausragenden Streben, so dass er sich mit den Scheiben gegen die Stirne stieß. Verärgert über seine Ungeschicklichkeit wollte er sie schon wieder zum Einziehen bringen, als ihn eine plötzliche Idee innehalten ließ. Ja, sie paßten! Aufgeregt hielt er den voll auseinandergezogenen Stab senkrecht vor seine Brust, so dass die beiden Streben seine Stirn umfaßten und die Ovale gera-
de seine Schläfen berührten. Er begann zu ahnen, was für ein Gerät er da in die Hand bekommen hatte, und drückte sehr vorsichtig auf den dritten Knopf. Eine überwältigende Stimme barst mit ungeheurer Stärke in sein Bewußtsein, so dass er fast wie unter einem körperlichen Schlag zurücktaumelte. Endlich, wo bist du gewesen? Warum hast du dich nicht gemeldet?' Fremde Wesen durchqueren praktisch ungehindert unser Gebiet! Es könnten Normale sein, die uns mit etwas Neuem – Die Stimme unterbrach sich, und in der eingetretenen Stille konnte der erschrockene Hiero ein fast greifbares Mißtrauen im Geist des anderen fühlen. Wer ist dort? fragte die Gedankenstimme barsch. Hörst du, ich Klick. Dem Priester war es gelungen, das Gerät auszuschalten. Immer noch erschrocken und jetzt sehr besorgt lehnte er sich schweratmend gegen einen Baumstamm. Dieses phantastische Ding war ein Kommunikator, ein Miniaturgerät mit einem ungeheuren Verstärkungsfaktor! Offensichtlich konnte damit die Entfernung, über die Gedankenverbindung möglich war, zumindest auf das Zehnfache erhöht werden. Er hatte noch nie von einem derartigen Gerät gehört und bezweifelte stark, dass die Abteiwissenschaftler davon wußten. Er mußte das Ding in ein Forschungslabor bringen, und wenn das das einzige und letzte war, was er im Leben noch tat. Allein der Gedanke, dass den Unreinen ein Gerät wie dieses zur Verfügung stand, konnte einen zur Verzweiflung bringen. Kein Wunder, dass der Abt sich Sorgen macht, dachte
Hiero. Er schaute sich den Stab noch einmal an und ließ dann die beiden Stirnkontakte in das Gehäuse zurückgleiten, wobei ihm auffiel, wie wunderbar der Mechanismus ausgeführt war, und dass ihm das plattpolierte Metall völlig unbekannt war. Er wollte das Gerät schon sorgfältig einwickeln und wegpacken, als ihm der vierte Knopf einfiel. Dieser befand sich nicht in einer Reihe neben den drei anderen, sondern nahe dem unteren Ende der Röhre. Hiero überlegte einen Moment und klemmte dann den Stab mit dem ausfahrbaren Ende nach oben zwischen zwei schwere Steine. Darauf schnitt er sich einen vielleicht zweieinhalb Meter langen, dünnen Weidensprößling ab und ging hinter dem dicken Stamm der alten Weide in Deckung. Es war ihm einigermaßen spät eingefallen, dass die geheimnisvollen Konstrukteure diesem Wunderdings vielleicht einen Vernichtungsmechanismus eingebaut haben könnten; aber wenigstens brauchte er mit dem letzten Knopf kein Risiko mehr einzugehen. Er sah sich um und stellte fest, dass der Ellkstier gute hundert Meter bachaufwärts weidete und damit sicher genug war; dann tastete er, nur die eine Hand hinter dem Stamm hervorstreckend, mit der Weidengerte nach dem letzten Knopf. Er preßte sich fest gegen den Baum, als endlich ein scharfes, metallisches Klicken ertönte, als ob eine starke Feder aufgelöst worden wäre, aber sonst geschah überhaupt nichts. Er wartete noch einen Moment und lugte dann ganz vorsichtig hinter dem Stamm hervor. Gleich darauf richtete er sich
auf und warf den Weidenstock weg. Der letzte Trick des phantastischen Metallstabs war etwas ebenso Einfaches wie Unerwartetes. Er hatte wieder seine volle Länge angenommen, diesmal durch blitzartiges Auseinanderschnellen. Das dünne Ende wies jetzt jedoch keinen runden Abschluß mehr auf, sondern eine zweischneidige, rasiermesserscharfe Lanzenspitze. Das Blatt war über einen Zentimeter breit und fast so lang wie der zusammengeschobene Stab. Hiero versuchte, den ausgezogenen, Schaft durchzubiegen, aber die festineinandersteckenden Metallröhrchen gaben kaum nach. Er wog das Ding in Schulterhöhe wie einen Speer. Es war ein wunderbar ausbalancierter Speer. Er besah sich die Spitze und stellte fest, dass die Schneiden mit etwas Klebrigem beschmiert waren. Wohl kaum eine Heilsalbe, sagte er trocken. Vorsichtig schob er seine neueste Errungenschaft zusammen und legte sie wieder weg. Es war völlig klar, daß das Ding, wenn es überhaupt ein Kompaß war, ein höchst sonderbarer sein mußte. Es hatte keine normale Kompaßeinrichtung in der Art einer Windrose. Statt dessen wies das Instrument unter dem Deckglas eine Art Ringspur auf. In regelmäßigen Abständen innerhalb dieses Ringes befanden sich Symbole, die Hiero nicht das geringste sagten, da sie keinen ihm bekannten Zahlen oder Schriftzeichen glichen. Auf dem Kreisring glühte ein runder Lichtpunkt, der leicht hin und her schwankte, wenn man das Gehäuse schüttelte, ähnlich wie die Luftblase in einer
Wasserwaage. Hiero studierte nochmals die Symbole und bemerkte, dass vier davon etwas größer als die anderen waren, und zwar jene, die die Viertelkreise oder Haupthimmelsrichtungen markierten wie bei einem richtigen Kompaß. Er drehte der Reihe nach diese Markierungen in Nordrichtung, aber das leuchtende Kügelchen fiel in keiner Stellung mit einer der vier Hauptmarkierungen zusammen! Das verdammte Ding ist also kein Kompaß – aber was ist es dann? fragte er sich irritiert. Zögernd steckte er es wieder in den zugehörigen Lederbeutel und legte es weg, fest entschlossen, sich so bald als möglich wieder damit zu befassen. Nun blieben nur noch die gelblichen, pergamentähnlichen Rollen zu untersuchen. Er versuchte, den Rand der einen probeweise einzureißen und stellte fest, dass es nur sehr schwer ging. Das Material war gewiß kein Papier und auch nicht Pergament. Es mußte sich um irgendeinen künstlich hergestellten Stoff handeln, denn Hiero hatte nie etwas ähnliches zu Gesicht bekommen. Ein Großteil der Rollen war mit Geschriebenem bedeckt, engen, offensichtlich nicht gedruckten Schriftzeichen in dunkelroter Tinte, die in dem rasch schwindenden Tageslicht fatal wie geronnenes Blut wirkte. Wie die Symbole auf dem kompaßähnlichen Ding, war auch diese Schrift Hiero völlig unbekannt. Eine der Rollen enthielt jedoch eine große Landkarte, und die studierte er sehr eingehend, denn sie glich in den allgemeinen Umrissen seiner eigenen Karte. Die Inlandsee war einge-
zeichnet, und, dachte er, eine Reihe ihm gut bekannter Straßen im Norden. Die Haupt-Ost-Westverbindung mit Otwah war deutlich markiert. Eine Menge Symbole, vor allem im Süden, blieben ihm jedoch unverständlich. Flüsse und Sümpfe waren allerdings mit denselben Signaturen eingezeichnet wie auf seiner Karte, weshalb sein Fund sicherlich eine nützliche Ergänzung darstellte. Und die Karte enthielt eine Menge Dinge, die Anlaß zum Nachdenken boten. Hiero war sich ziemlich sicher, dass eine Reihe alter Ruinenstätten eingezeichnet waren, denn die wenigen Orte auf seiner Karte, an denen Städte aus der Zeit vor dem Tod' vermutet wurden, stimmten mit den fremden Markierungen überein. In seiner Karte waren jedoch sehr viel weniger solche Orte bezeichnet! Schließlich legte er auch die Schriftrollen weg und richtete sich sein Lager, indem er für Hüften und Schultern eine Mulde in den Ufersand scharrte und seine Decke ausbreitete. Klootz weidete in der Nähe der Insel, und sein Herr wußte, dass er sich wegen nächtlicher Gefahren keine Sorgen zu machen brauchte, zumindest solange es sich um rein physische Gefahren handelte. Der Bär war noch nicht zurückgekommen, aber Hiero hatte sich zuvor mit ihm über ihre weiteren Marschpläne beraten und war überzeugt, dass Gorm schon wieder auftauchen würde, wenn er ihn brauchte. Mit einem Seufzer rollte er sich in seine Decke und nickte ein, bevor im Westen das letzte Tageslicht erloschen war.
Regen weckte ihn einige Zeit später, ein leichtes Nieseln, das sein ungeschütztes Gesicht traf. Es war sehr dunkel; tiefhängende Wolken hatten sich von Osten herangewälzt, die Nässe des fernen Ozeans mit sich tragend. Hiero wollte sich eben die Kapuze über den Kopf ziehen und weiterschlafen, als ihm der Geruch von nassem Fell in die Nase stieg. Gorm stand dicht neben ihm, und sein ganzes Verhalten kündete Gefahr. Etwas kommt durch die Nacht, (vielleicht) viele Wesen, (aber) sicher eines (Nachdruck)! Wir müssen den Weg gehen, von dem wir sprachen/planten. Horch! Der Mann setzte sich auf und lauschte angespannt. Er fühlte, dass Klootz reglos in der Nähe stand und mit seinen großen Ohren ebenfalls die Regennacht durchforschte. Einige Atemzüge lang war nichts zu hören außer dem leisen Trommeln des Regens und dem Plätschern des Bachs. Dann klang weit draußen im Westen, fast an der Grenze menschlicher Hörweite, ein ungewöhnliches Geräusch auf. Es war ein hohes, scharfes Kreischen, das immer schriller wurde und endlich, in fast nicht mehr wahrnehmbarer Tonhöhe, in Stille überging. Zweimal schnitt es durch die lauschende Nacht, dann herrschte wieder Schweigen. Aber niemand, weder Mensch noch Tier, brauchte es ein drittes Mal zu hören, um seine Bedeutung zu erkennen. Der ferne Schrei hatte etwas so Bedrohliches an sich, dass einem ein kalter Schauder über den Rücken lief. Dort im Westen jagte etwas, und es hatte
eine Fährte gefunden. In der Lage, in der sich die drei befanden, wäre es müßig gewesen, darüber zu debattieren, wen das Wesen jagte. Die seit langem erwartete Verfolgung hatte begonnen; es war Zeit aufzubrechen. Einen erfahrenen Waldläufer wie Hiero kostete es kaum mehr als einige Minuten, das Lager abzubrechen und seine Sachen zu packen. Als er sich in den Sattel geschwungen hatte, lockerte er das große Buschmesser in der Scheide auf seinem Rücken und ließ Klootz die Zügel frei, da der Ellk von selbst dem Bären durch das seichte Wasser nachstakste. Hieros Zeitgefühl war nicht so gut entwickelt wie sein Richtungssinn, aber er wußte doch recht genau, dass es etwa zwei Uhr früh sein mußte. Uhren waren, wie eine Reihe anderer alter Mechanismen, in seiner Zeit wiedererfunden worden, aber sie waren groß und plump. Wer wie Hiero lange Zeit in der Wildnis gelebt hatte, brauchte derartige Hilfsmittel nicht. Selbst wenn er eine Armbanduhr zu Verfügung gehabt hätte, hätte er sie nicht benutzt. Er verließ sich lieber auf seine innere Uhr. Der Regen ließ etwas nach und wurde zu einem feinen Nebelnässen. Den Tieren machte es nicht viel aus, dass sie naß wurden, obwohl der Bär zumindest zum Schlafen einen trockenen Platz vorzog, und Hiero wurde durch seine Lederkleidung geschützt, die so gegerbt war, dass sie kaum Wasser durchließ. Außerdem war es in diesen letzten Sommerwochen selbst nachts noch ziemlich warm.
Die drei kamen in der Nacht nicht viel langsamer vorwärts als bei Tage. Hiero verließ sich völlig auf die scharfen Sinne der beiden Tiere, die ihnen selbst bei schlechtester Sicht und gutem Tempo Fehltritte ersparten. Zwei Stunden lang folgen sie unbehelligt dem kleinen Bach, dessen Bett sich kaum änderte und auch keine tiefen Stellen aufwies. Endlich gab Hiero das Zeichen zum Haltmachen und sprang ans Ufer, um sich zu strecken und die steifen Glieder ein wenig zu lockern. Gorm plumpste neben ihm ins Gras, genauso dankbar für die Rast. Bären können zwar weit wandern und tun es auch mitunter, aber tagaus, tagein in scharfem Tempo zu marschieren ist nichts für sie. Klootz tauchte sein Maul in die algendurchsetzten Ufertümpel und vermehrte seinen Vorrat an später wiederzukäuendem Grünzeug um etliche Pfunde. Wie jeder Pflanzenfresser hörte er nur im Schlaf damit auf, weil der Nährwert von Pflanzenfutter viel geringer ist als der proteinreicher Nahrung. Der Priester nutzte die Gelegenheit, sein Morgengebet zu sprechen, ein Vorgang, dem die beiden Tiere mit Verständnislosigkeit begegneten. Der Bär zeigte immerhin ein schwaches Interesse, ein sehr schwaches. Hiero hatte jedoch schon früher diese leichte Neugier in dem Tier bemerkt und sich eine Gedächtnisnotiz gemacht, dass es eventuell äußerst aufschlußreich sein könnte, mit einem intelligenten Tier über Religion zu diskutieren. Als er sein Gebet beendet hatte, stand Hiero auf und
lauschte in die Dunkelheit. Nach einer Weile ertönte wiederum, das erste Mal, seit sie das Lager auf der Insel verlassen hatten jenes schrille Kreischen. Der nächtliche Jäger war eindeutig näher als zuvor. Mit einem unterdrückten Fluch stieg Hiero wieder in den Sattel und schickte gleichzeitig Gorm einen Gedanken zu. Lauf, du, sonst werden wir gefangen! Der junge Bär platschte hastig davon und der große Ellk watete hinterdrein; seine breiten Hufe klatschten auf die unsichtbare Wasseroberfläche wie der Schwanz eines Bibers. Der Reiter horchte angestrengt in die nebeldurchzogene Dunkelheit und versuchte gleichzeitig ihre Lage zu überdenken. Er hatte keine Ahnung, was für ein Wesen ihnen auf der Spur war. Auf jeden Fall mußte es sich um einen nächtlichen Jäger von ungewöhnlicher Gewandtheit handeln. Vielleicht war es ein ganzes Rudel. Was immer ihrer Fährte folgte, es war unglaublich schnell. Der Bär und der Ellk hatten sich keineswegs Zeit gelassen, sondern im Gegenteil ein für die Nachtzeit beachtliches Tempo vorgelegt. Aber weder ihre Eile noch die Tatsache, dass sie immer im Wasser geblieben waren, hatte ihre Verfolger von der Fährte abgebracht. Was für Wesen konnten das nur sein? An dieser Stelle kam Hiero ein doch etwas ermutigender Gedanke. Kein Wesen, das sich so schnell fortbewegte, konnte auch noch einen menschlichen Herrn führen oder gar tragen. Was für ein Ungeheuer sie auch hetzte, es mußte aller Wahrscheinlichkeit nach frei und unbeauf-
sichtigt sein. Wenigstens, dachte Hiero aufatmend, werde ich, wenn ich recht habe, diesmal keinem Snerg begegnen. Die Gefahr war allem Anschein nach eine rein physische und damit viel weniger erschreckend. Noch während er dies dachte, klang in einiger Entfernung neuerlich der schreckliche Schrei auf, übertönte deutlich das laute Wasserplätschern. Das war ganz in der Nähe, stellte Hiero fest. Dieses Raubtier, oder was es sonst war, kam verdammt schnell vorwärts! Bei diesem Tempo mußte der Verfolger sie einholen, solange es noch dunkel war! Diese Aussicht war sehr ungemütlich, aber es würde frühestens in einer Stunde hell werden. Hiero beugte sich vor und tastete in der linken Satteltasche herum, bis seine Finger das Päckchen gefunden hatten, das er suchte. Einem anderen mochte das als ziemlich schwierige Aufgabe vorkommen, in schwärzester Dunkelheit und durchgeschüttelt von einem trabenden Ellk etwas zu finden, aber Hiero hatte das schon viele Male getan. Als nächstes lockerte er den Riemen, der seinen Werfer im Halfter festhielt, so dass er die Waffe notfalls blitzartig herausreißen konnte. Schließlich kam ihm noch eine Idee und er griff ein zweites Mal in die Satteltasche, um den gefährlichen Metallstab hervorzuholen, den er Snerg abgenommen hatte. In der Not, wenn er seinen eigenen Speer verloren hatte, konnte sich die Waffe als sehr nützlich erweisen. Er steckte den Stab in den Gürtel. Sein Speer stak in einer Halterung vorn am Sattel, jederzeit griffbereit.
Nun konzentrierte er seinen Geist auf den Bären und sein Reittier. Sucht einen freien Platz, nahe dem Bach, wenn möglich, sendete er. Wir müssen kämpfen. Was immer uns folgt, es ist zu schnell. Wir können ihm nicht entkommen. Ein Grund für diesen Entschluß war wohl der Gedanke, dass Gorm, so tüchtig er sich auch bisher erwiesen hatte, nun ziemlich erschöpft sein mußte und bei einem Kampf vermutlich nicht viel ausrichten würde. Wenn der junge Bär hingegen Möglichkeit zu einer kurzen Rast bekam, mochte das ihre Chancen etwas verbessern. Kein ausgebildeter Vollkämpfer vergaß jemals die Regeln des Taktischen Handbuchs der Abteien, von denen eine lautete: ›Nutze jeden Vorteil, auch wenn er noch so klein ist, weil dem Feind dadurch ein Nachteil erwächst.‹ Der Bär trabte ohne zu antworten weiter, aber Hiero wußte, dass er verstanden hatte. Was Klootz betraf, so war die Verbundenheit zwischen ihm und seinem Reiter durch ihr langes Zusammensein so tief geworden, dass Hiero den Zorn und die Kampfbegeisterung des großen Ellks fast wie seine eigene empfand. Ein trainierter Abteiellk hatte nichts dafür übrig, von irgend jemandem oder irgend etwas durch die Gegend gehetzt zu werden, welcher Art der Feind auch sein mochte. Hinter ihnen brach wiederum das schauderhafte Kreischen los, ein gräßlicher, dünner Schrei, der durch die stille, nebelige Nacht schnitt. Diesmal konnte Hiero mehrere Stimmen unterscheiden und wußte, dass der Abstand sich unerbittlich verringerte. Dass ihnen mehrere
Feinde auf den Fersen waren, war auch die logischste Annahme. Ein einzelner Jäger, wie stark er auch immer war, konnte bereits durch einen einfachen Unfall aufgehalten werden. Ein Rudel war auf jeden Fall schlagkräftiger. Aber ein Rudel wovon? Hier, meldete sich Gorm plötzlich mit einem Gedanken. Ein Platz mit Gras und ohne Bäume. Ist das richtig? Ja, antwortete der Mönch. Leg dich hin und raste, bis sie kommen. Kämpfe nur, wenn du mußt. Er lenkte den Ellk aus dem Bach heraus auf die kleine Waldlichtung am Ufer. Im Osten war der erste schwache Dämmerungsschimmer über den Horizont heraufgezogen, doch es war noch bei weitem zu dunkel, um Einzelheiten wahrnehmen zu können. Hiero sah lediglich, dass sie auf einer natürlichen Lichtung waren, die sich leicht zum Bachufer hinunterneigte. Als Klootz triefend auf der Wiese stehenblieb und der erschöpfte Bär sich schnaufend hinlegte, überdachte Hiero die Situation. Die Wiese war unmittelbar am Ufer vielleicht hundert Meter breit und nahezu halbkreisförmig. In der Mitte wich der Waldrand bis zu sechzig Meter vom Wasser zurück. Hiero ließ Klootz noch ein Stück weitergehen, so dass der Ellk nun fast genau im Zentrum der Lichtung stand, den Wald im Rücken, aber rund zwanzig Meter davon entfernt, so dass nichts die Bäume als Deckung benutzen und sich unvermutet von hinten auf sie stürzen konnte. Hiero langte in eine Satteltasche und holte seinen BerylliumKupfer-Helm heraus, eine runde und bis auf Kreuz und
Schwert über der Stirn schmucklose Sturmhaube. Der Helm paßte über seine Lederkappe und stellte seinen einzigen Schutz im Kampf dar. Er setzte ihn auf und versuchte, den Geist der Verfolger zu sondieren. Er stieß auf nichts als blinde, rasende Blutgier in mehr als einem Gehirn und auf einem rein instinktiven Niveau, das er nicht beeinflussen konnte. Die Wesen kamen rasch näher. Mensch und Ellk warteten kampfbereit, alle Sinne angespannt. Sie hatten ihr möglichstes getan, jetzt mußten sie sich stellen. Gorm rührte sich auch nicht mehr; er lag irgendwo in den schwarzen Schatten am Rande der Lichtung versteckt, bereit, sich auf den Feind zu stürzen, wenn es nötig wurde. Sie brauchten nicht lange zu warten. Die Dunkelheit der weichenden Nacht hatte erst unmerklich abgenommen, als vom Oberlauf des seichten Bachs, dem sie gefolgt waren, ein platschendes Geräusch vernehmbar wurde. Gleich darauf kratzten viele krallenbewehrte Pfoten über das steinige Ufer. Der Priesterkrieger fühlte die Angreifer mehr als dass er sie sah. Sofort drehte er an zwei Gegenständen, die er in der Hand gehalten hatte, die Deckkappen herum und schleuderte einen nach jeder Seite. Als sie am Boden aufschlugen, flammten die beiden Leuchtkugeln auf und tauchten die gesamte Wiese in grellweißen Lichtschein. Im gleichen Augenblick wurde Hiero klar, dass er und seine beiden Tiergefährten einen schwerwiegenden, wenn auch nicht voraussehbaren Fehler begangen hatten,
indem sie sich im Wasser hielten. Die fünf schlanken, bedrohlichen Gestalten, die über die Uferböschung heraufglitten, sahen riesigen Nerzen oder sonstigen amphibisch lebenden Mitgliedern der Marderfamilie genügend ähnlich, um jedem begreiflich zu machen, dass ein Bachbett die allerwenigsten Möglichkeiten bot, ihnen zu entkommen. Kein Wunder, dass sie uns so rasch eingeholt haben, dachte Hiero, als die abrupte, grelle Beleuchtung die Tiere für einen Augenblick erstarren ließ. Ihre spitzen, kinnlosen Schnauzen und ihr mörderisches Gebiß glänzten in dem blendenden Licht, als sie sich mit zusammengekniffenen schwarzen Knopfaugen wieder in Bewegung setzten. Jedes maß von der nassen Schnauze bis zur Schwanzspitze zumindest drei Meter, und kaum eines mochte weniger als ein erwachsener Mann wiegen. Blauglänzende Metallhalsbänder blitzten auf und verrieten, wer sie geschickt hatte, als die Tiere fauchend zum Angriff übergingen. Hiero feuerte seinen Werfer ab und ließ die Waffe im gleichen Moment fallen. Neu zu laden dauerte zu lange, und diese Bestien waren schnell. Aber die erste Granate traf. Das vorderste Tier zerbarst in einem gelbroten Feuerball, und das folgende wälzte sich schrill kreischend zur Seite, beide Vorderläufe zerschmettert. Als die übrigen drei innehielten, erschreckt durch die Explosion und den Tod ihres Anführers, stürzte Klootz mit einem wütenden Röhren auf sie los. Mit eingelegter Lanze duckte sich Hiero zum Stoß, fest in die Mähne des
Ellks gekrallt. Die eine verwundete Bestie konnte nicht mehr entkommen, und die breiten Vorderhufe des Ellks fuhren wie ein Rammblock auf sie nieder, mit tödlich zerschmetternder Wucht. Ein zweites Raubtier, das sich mit einem Satz auf Hiero geworfen hatte, bekam die schwere Lanze in die Kehle. Die Spitze drang bis zu den Querzinken ein, und das Scheusal erstickte an seinem eigenen Blut. Hiero ließ es samt dem Speer fallen und riß sein schweres Buschmesser aus der Scheide. Die beiden übrigen Angreifer zögerten einen Augenblick, aber wie jedem Wiesel, das Blut gerochen hat, kam ihnen ein Rückzug keinesfalls in den Sinn. Mit wütend entblößten Fängen fuhren sie auseinander und griffen fauchend von zwei Seiten an, dunkle, schlangenhafte, blitzartig heranschnellende Körper. Glücklicherweise hatte Hiero Klootz auf den Übungskampfplätzen der Abtei für eine derartige Situation bis zum Überdruß gedrillt. Automatisch wandte sich der Ellk dem Angreifer links zu und kümmerte sich nicht um den anderen, den sein Herr abwehren würde. Hiero bäumte sich im Sattel auf und hieb mit mörderischem Schwung auf den dunklen, fauchenden Kopf hinunter. Die schwere alte Klinge prallte mit solcher Wucht auf den Schädelknochen des Angreifers, dass er den Schlag bis in die Schulter spürte. Der Riesenmarder war tot, bevor er auf dem Boden aufschlug, den schmalen Schädel fast bis zum Hals gespalten.
Der Mann hatte kaum sein Schwert wieder gehoben, als ein furchtbarer Schmerz durch sein linkes Bein schoß. Klootz hatte die Gewandtheit des Angreifers unterschätzt. In diesem Augenblick, als sein schwerer Huf heruntersauste, drehte sich die letzte überlebende Bestie geschmeidig mitten im Sprung herum und schlug ihre Zähne in Hieros Wade. Das Bein war fast bis zum Knochen aufgerissen, und der Schock ließ den Mann im Sattel taumeln während das Mardertier davonschoß. Der Ellk wartete nicht darauf, ein zweites Mal überrumpelt zu werden. Die Tatsache, dass sein Herr und Reiter verletzt war, erfüllte ihn mit mörderischer, eiskalter Wut. Vorsichtig und langsam näherte er sich dem letzten Feind, leicht hin und her schwankend in einer grotesken Nachahmung eines Hirschkalbs, das sich einem ebenso unerfahrenen Altersgenossen stellt. Der letzte Jäger der Unreinen konnte selbst jetzt sein Marderblut nicht verleugnen und schoß nochmals auf den Feind los, wieder auf den Reiter zielend und nicht auf den Ellk. Aber Klootz war jetzt auf der Hut und ließ sich durch das geschmeidige Scheusal nicht mehr täuschen. Sein großer, gespaltener Huf traf mit schrecklicher Wucht den Leib des Raubtiers mitten im Sprung. Ein hörbares Knacken, und das glattpelzige Raubtier wälzte sich mit gebrochenem Rückgrat auf der Erde. Nicht lange – denn der wütende Ellk stürzte sich darauf und trampelte das Tier zu Brei, das bis zum letzten Atemzug versuchte, die Fänge in seinen riesigen Gegner zu schlagen.
Hiero hing schlaff im Sattel, als der Ellk vorsichtig in die Knie sank, um seinen Herrn absteigen zu lassen. Der Priester fiel fast vom Rücken seines Tiers und brach zusammen; schwer atmend gegen die feuchten Flanken des Ellks gelehnt bemühte er sich, nicht das Bewußtsein zu verlieren. Nach einer Weile hob er langsam den Kopf und sah Gorms besorgtes Gesicht kaum einen Meter vor sich. Ich war bereit, aber das Ding war zu schnell, kam ein besorgter Gedanke. Kann ich dir helfen? Nein, antwortete Hiero. Ich muß mich selbst heilen/verbinden. Wache über mich, bis ich das getan habe. Der Bär tappte davon. Vorsichtig und unter ziemlich heftigem Schmerz entfernte der Priester den aufgeschlitzten Lederstiefel, der klebrig von Blut war, und untersuchte die Wunde. Sie schien einigermaßen sauber zu sein, aber ein Raubtierbiß mußte trotzdem sofort versorgt werden. Er tastete in den Satteltaschen herum und kämpfte gegen die dunklen Wellen der Bewußtlosigkeit an, die seine schmerzgelähmten Sinne zu überfluten drohten. Die Leuchtkugeln waren schon lange erloschen, aber sie hatten ihren Zweck erfüllt. Blasses Morgenlicht sickerte über die Lichtung, und das Zwitschern der erwachenden Vögel spottete der blutigen Gewalt, mit der der Tag begonnen hatte, und der fünf leblosen Bündel im dunkelroten Gras. Hiero hatte endlich seine Verbandstasche zu fassen bekommen und strich nun vorsichtig eine dicke Schicht
Heilsalbe über die noch immer blutende Wunde. Dann verband er den langen, klaffenden Riß so fest er konnte. Es wäre sicher besser gewesen, die Wunde erst zu nähen, aber dazu war er jetzt einfach nicht mehr imstande. Als er fertig war, schluckte er eine Luzintablette. Die geistexpandierende Droge war in gewisser Weise auch ein Betäubungsmittel, und als der Schlaf über ihn kam, fühlte er, wie sich seine verkrampften Muskeln entspannten. Sein letzter Gedanke war eine etwas verschwommene Besorgnis, dass jemand seinen Geist überwältigen könnte, während er schlief. Dann sank er in traumlosen Schlaf.
3 Das Kreuz und das Auge Hiero erwachte in der Dämmerung. Die Stille eines zu Ende gehenden Tages lag über dem Waldland. Der Balsambaum, unter dem er lag, streckte bewegungslos seine Zweige ins fahle Zwielicht. Es wurde Hiero sofort klar, dass er einen ganzen Tag durchgeschlafen hatte. Als er an sich hinuntersah, bemerkte er, dass er nun auf einem Haufen weicher Zweigspitzen lag, und dass auch sein rechter Stiefel ausgezogen war. Instinktiv griff er über die Schulter nach dem schweren Buschmesser. Es war noch da, nach dem schmerzhaften Druck in seinem Rücken zu schließen. Er setzte sich auf und sah sich noch etwas benommen um. Gorm lag ein paar Schritt neben ihm in tiefem Schlaf. Dann vernahm er ein rupfendes Geräusch von irgendwo hinter der nächsten Bachkrümmung. Er rief den Ellk mit einem Gedanken an, und einen Augenblick später tauchte Klootz auf; ein paar triefende grüne Wasserpflanzen hingen ihm aus dem Maul. Schlenkernd kam er herbei und beugte sich über Hiero, wobei ihm genügend kaltes Wasser aus der Mähne troff, um Hiero gründlich aufzuwecken. »Puh, verschwinde, du Scheusal, bevor du mich ertränkst!« prustete sein Herr, rieb aber gleichzeitig mit den kräftigen Fingern über die glatte Stirn und den Ansatz des schaufelsprossigen Geweihs.
»Na, deine Stangen werden immer härter, mein Junge. Das ist gut so, denn so wie sich unsere Reise anläßt, werden wir sie einsetzen müssen.« Dann wechselte er von mündlicher Sprache zu Gedankenverständigung über und befahl dem Ellk stillzustehen, während er sich an den Vorderläufen des großen Tiers aufzurichten versuchte. Er fand, dass er ohne allzu große Anstrengung wohl allein stehen konnte, aber schon beim ersten Schritt begann sein verletztes Bein schmerzhaft zu pochen. Mit einiger Mühe brachte er es jedoch fertig, Klootz abzusatteln und die Satteltaschen so hinzulegen, wie er sie brauchte. Dann ließ er den Ellk mit der Weisung gehen, in der Nähe des Lagers zu bleiben und äußerst wachsam zu sein. Nun setzte sich Hiero vorsichtig wieder hin und wandte sich Gorm zu, der sich ebenfalls aufgesetzt hatte und ihn musterte. Der Mann streckte die Hand aus und berührte sanft die Nase des jungen Bären. Danke (Wärme/Freundschaft), Bruder, sendete er. Wie hast du (das Bett aus) Zweigen gemacht? Und warum hast du mir den Stiefel (Fußleder) ausgezogen? Das war genaugenommen das größere Rätsel. Es war ihm klar, dass der Bär durchaus gescheit genug war, ein Lager aus Zweigen zu machen; schließlich polsterten sich Bären ihre Höhlen zum Überwintern aus – aber wie konnte ein Tier so verständig sein, dass es ihm den anderen Stiefel auszog, um es seinen Füßen dadurch bequemer zu machen?
Es lag in deinem Geist, lautete die erstaunliche Antwort. Ich schaute/fühlte, (um festzustellen), was getan werden mußte/sollte. Dein Geist schläft nicht, fügte Gorm hinzu, und alles, was darin ist, ist leicht zu schauen/fühlen, wenn man das kann. Ich kann es nur ein bißchen, aber was ich verstand, tat ich. Hiero holte nochmals sein Verbandszeug hervor und untersuchte seine Wunde vorsichtig. Gleichzeitig überdachte er fasziniert, was ihm der Bär eben gesagt hatte. Es war unglaublich, aber so mußte es gewesen sein! Er, Hiero, hatte gewußt, was getan werden müßte, und der junge Bär hatte im bewußtlosen Geist des Menschen dieses Wissen gefunden. Für die Wunde hatte er nichts tun können, aber er hatte ein einfaches und trotzdem bequemes Bett zustandegebracht und geschickt den zweiten Stiefel herunterbekommen, damit Hiero besser schliefe. Der junge Priesterkrieger beschloß, diesen Aspekt gedanklicher Verbindung noch genauer zu untersuchen, und machte sich an die Arbeit. Was er jetzt tun mußte, war unangenehm aber notwendig. Zuerst schnitt Hiero den blutgetränkten Strumpf herunter und löste vorsichtig den ebenso klebrigen Verband ab, den er am Morgen angelegt hatte. Dann, nachdem er seine Nerven durch eine Art autosuggestiver Blockierung und eine nochmalige geringe Dosis Luzin betäubt hatte, nähte er die Ränder der langen, klaffenden Wunde mit einer desinfizierten Darmsaite zusammen. Nach vierzehn Stichen war es überstanden, die Verlet-
zung wieder mit aseptischer Salbe behandelt und frisch verbunden. Er zog den rechten Stiefel wieder an und holte eine saubere Socke und einen Mokassin für den linken Fuß aus der Satteltasche. Dann wies er den Bären an, den blutgetränkten Fetzen fortzutragen und irgendwo tief zu vergraben. Dabei fiel ihm plötzlich etwas anderes ein, und er sah sich verblüfft um. Hier und da verfärbten dunkle Flecken das Gras, aber die Kadaver der Bestien, die sie angegriffen hatten, waren verschwunden. Aus dem Schatten des nahen Waldrandes kam Gorms Antwort. Der Große (Geweih-Äste-Kopf) und ich haben sie vergraben. Ihr Fleisch (hätte) andere Tiere angelockt Nur kleinere Jäger kamen. Wir (konnten sie) leicht vertreiben. Sein Geist vermittelte Hiero das Bild von Schakalen, Buschkatzen, Füchsen und anderen kleinen Aasfressern. Also konnten der Bär und der Ellk auch ohne die Vermittlung eines Menschen zusammenarbeiten! Auch das war höchst interessant, dachte Hiero. Es bedeutete, es mußte bedeuten, dass der Bär die Führung übernehmen konnte, denn Klootz, so gescheit er für ein Tier auch war, konnte kaum die Folgen seiner eigenen Handlungen erfassen, geschweige denn die eines anderen. Noch mehr zum Überdenken und späteren Untersuchen, überlegte er. (Hast du sonst) nichts gefühlt, das uns jagt/bedroht? fragte er Gorm. In der Ferne/Weite (Dimensionsproblem?) lautete die
Antwort. Der Bär schien selbst zu merken, dass er sich nicht klar genug ausgedrückt hatte, und versuchte es noch einmal. Einen langen Weg – weit fort – in vielen Richtungen. Aber nur einmal (Nachdruck) deutlich, von oben/aus dem Himmel (Eindruck von etwas Bösartigem mit Flügeln). Der Mann versuchte zu sondieren, aber er bekam nur wenig mehr aus Gorm heraus. Der Bär hatte anscheinend aus der Ferne verschwommen etwas gesehen oder gefühlt, das früher am Tag durch die Luft geschwebt war, das Flügel besaß, aber offenbar kein Vogel war, und das eine deutlich wahrnehmbare Bedrohung ausgestrahlt hatte. Er vermerkte das als einen weiteren Punkt, dem man noch genauer auf den Grund gehen mußte, und nahm sich außerdem vor, fürs nächste, offenes Land soweit als möglich zu meiden. Dann packte Hiero seine Sachen weg, humpelte zum Bach, um das Blut von seinen Waffen zu waschen, und schärfte den Speer und das Messer nach. Als er damit fertig war, lud er auch den Werfer wieder und schnallte ihn in das Sattelhalfter. Endlich setzte er sich wieder auf sein Zweiglager und aß etwas Pemmikan und Zwieback. Als er jedoch Gorm davon anbot, lehnte der Bär ab und sagte, er hätte den ganzen Tag reife Schwarzbeeren gefressen. Er zeigte Hiero den Platz ganz in der Nähe, und Hiero humpelte mit einiger Mühe hin. Er brachte mehrere Handvoll saftige Beeren zum Nachtisch zusammen und ging dann
noch mit der großen Sattelflasche und der kleinen Feldflasche, die er am Gürtel trug, zum Bach, um sie zu füllen. Es war bereits dunkel, als er ein kurzes Bad in dem eiskalten Wasser nahm – vorsichtig, damit sein verletztes Bein nicht naß wurde. Nachdem er sich abgetrocknet und wieder angezogen hatte, sprach er sein Abendgebet und legte sich wieder hin. Die Nacht war still, und er spürte keine Bedrohung, die Geräusche des Waldes klangen wie immer. Aus dem Unterholz in der Nähe kam der pfeifende Todesschrei eines Hasen. Das an- und abschwellende Summen zahlloser Mücken veranlaßte Hiero, sich seufzend nochmals aufzusetzen, das feine Moskitonetz aus der Satteltasche zu holen und sich über den Oberkörper zu ziehen. Danach übermannte ihn die Erschöpfung, und er war binnen einer Sekunde eingeschlafen. Der Morgen des nächsten Tages war dunstig. Die Sonne ging als matter Fleck hinter Nebelschleiern und niedrigen Wolken auf. Hiero fand die Luft schwül und bedrückend, aber das hatte keinen anderen Grund, als dass das Barometer stark gefallen war. Als Klootz wieder gesattelt war, tänzelte dieser ungeduldig, wie um auszudrücken, dass es ihn nachgerade langweile, nur herumzustehen und zu fressen. Der Mensch und der Bär hatten sich geeinigt, den Bach zu verlassen. Ihre neue Marschrichtung verlief südlicher. Nach einer kurzen Mahlzeit brachen sie auf, zuversichtlich, doch mit unverminderter Wachsamkeit. Hieros Bein schmerzte nur mehr dumpf, wozu seine kräftige Konsti-
tution nicht minder beigetragen hatte als die Heilsalbe der Abteiärzte. Fünf Tage lang wanderten sie ohne Zwischenfälle durch die großen Föhren der Taig nach Süden, immer nach Süden. Sie waren auf der Hut, blieben unter den Bäumen und gebrauchten nur selten die Gedankensprache. Es begegnete ihnen jedoch weder etwas Gefährliches noch sonst etwas von Bedeutung. Die Wälder waren voll von Wild, und es gelang Hiero, mit seinem Speer ein riesiges Birkhuhn, so groß wie ein Kind, zu erlegen, nachdem er sich an den im Waldboden herumkratzenden, dummen Vogel angeschlichen hatte. Er machte ein kleines Feuer und räucherte einen großen Teil von der Brust des Riesenvogels, was ihm einen Fleischvorrat von mindestens zwanzig Pfund verschaffte. Gorm und er würden eine ganze Weile davon leben können. Am sechsten Tag hatten sie nach Schätzung des Priesters rund hundertdreißig Kilometer zurückgelegt. Hiero begann sich ein wenig sicherer zu fühlen, denn was für Mißgeburten die Unreinen ihnen auch auf die Fährte hetzen mochten, jetzt waren sie nicht mehr so leicht einzuholen, fand er, wenn überhaupt noch aufzuspüren. Er wußte noch nichts von der weitreichenden Macht und der Unversöhnlichkeit seiner Feinde, und er hatte auch keine Vorstellung davon, mit welch haßerfüllter Wut sie den Mörder eines so hochgestellten Mitglieds ihrer teuflischen Bruderschaft verfolgten. Gegen Mittag wurde der Wald lichter, Moorpflanzen
traten anstelle der Büsche, und der Boden wurde immer feuchter. Offensichtlich lag entweder ein Sumpf vor ihnen, oder ein größeres Gewässer, dessen Uferregionen sie nun erreicht hatten. Hiero gab Befehl zum Halten, stieg auf einem etwas erhöhten und deshalb relativ trockenen Fleck ab und holte seine Landkarte hervor. Er rief den Bären heran, um mit ihm zu beraten, während Klootz zum Weiden beurlaubt wurde. Vor ihnen lag ein riesiges, unwegsames Sumpfgebiet, das auf der Abteikarte als ›Palud‹ bezeichnet, aber nur in ungefähren Umrissen wiedergegeben war. Niemand kannte den Palud genauer, und auch der Bär wußte nichts darüber, obwohl er mit der Karte insofern übereinstimmte, als auch er glaubte, dass jenseits des breiten Moorstreifens die Inlandsee oder sonst ein großes Gewässer lag. Aber er war nie in seinem Leben – das nach Hieros Dafürhalten noch nicht sehr lange währte – so weit wie jetzt ins Unbekannte vorgestoßen. Sein gesamtes Wissen über die Gegend schien, genauso wie das Hieros, aus zweiter Hand zu stammen. Nach einiger Überlegung entschloß sich der Priester, mit dem Kristall vorauszuschauen und zugleich die Symbole zu befragen. Er holte sein Gerät heraus, sprach – nachdem er die Stola umgelegt und den beiden Tieren jede Störung untersagt hatte – die nötigen Gebete und konzentrierte sich. Er starrte in den Kristall und dachte an den Weg, den sie gehen würden. Sein Geist suchte nach einem Paar Augen, das ihm die Vorschau ermögli-
chen würde. Die erste Vision war enttäuschend. Er blickte über eine leere Wasserfläche, aus einer Position fast unmittelbar an der Oberfläche. Und er konnte auch nicht sehr gut sehen, weil der Frosch oder die Schildkröte oder was immer, dessen Augen er benutzte, anscheinend halb im Wasser hinter einem Schilfbüschel hockte und überdies hoffnungslos kurzsichtig war. Hiero schloß seine eigenen Augen und schickte seinen Geist erneut auf die Suche, diesmal Nachdruck legend auf Höhe, Entfernung und Scharfsichtigkeit. Gewiß mußte irgendwo über dem offenen Wasser und dem Sumpfland vor ihnen ein Habicht oder ein anderer Raubvogel seine Kreise ziehen. Wiederum klärte sich der Kristall, und die gedankliche Konzentration auf Höhe hatte gewirkt – aber ganz anders, als es Hiero beabsichtigt hatte! Er schien sich diesmal in großer Höhe zu befinden, fünfzehnhundert Meter oder mehr über dem Boden, und er hatte einen Sekundenbruchteil Gelegenheit, das Land unter sich ausgebreitet wahrzunehmen, die Föhren der Taig, den großen Sumpf, und weit im Süden das Glitzern einer Wasserfläche, welche nur die Inlandsee sein konnte. Und er sah jetzt scharf, viel zu scharf! Der höchst intelligente Geist, dessen Augen er sich unwissentlich geliehen hatte, bemerkte ihn sofort und versuchte im gleichen Moment herauszubekommen, wer und was und wo er war. Hiero war geistig mit einem bösartigen Gehirn verbunden, das, so kalt und gemein es dachte, doch
seinem eigenen fast vollkommen glich – und das jetzt seine ganze Macht bis zum letzten einsetzte, um den Standort des unvermuteten Eindringlings herauszufinden. Gerade als Hiero mit verzweifelter Anstrengung die Verbindung unterbrach, was einen blitzartigen, fast physischen Schmerz verursachte, vermittelten ihm die Augen des Feindes ein letztes Bild: die abgerundete Nase eines sonderbaren Gefährts, das anscheinend wie ein riesiges Geschoß geformt war, und am Rande des Gesichtsfeldes den Ansatz von starren Flügeln, die aus gemaltem Holz sein mochten. Dem Menschen das Fliegen zu ermöglichen war für die Abteiwissenschaftler vorläufig nur ein Traum, aber sie wußten genau, dass es für die weltweite Technologie des Altertums eine Selbstverständlichkeit gewesen war. Sie zweifelten nicht daran, dass eines Tages, wenn wichtigere Probleme gelöst waren, die Menschen wieder fliegen würden – und jetzt hatten die Unreinen das uralte Geheimnis entdeckt und sich als erste zunutze gemacht! Hoch droben am blauen Himmel der Taig beobachteten ungesehen die Augen der Dunklen das Land, und einer von ihnen suchte jetzt nach Hiero wie ein Raubvogel nach seiner Beute. Hiero selbst hatte den tödlichen Himmelswächter auf sich aufmerksam gemacht, und er würde nun die Verfolgung neu in Gang bringen, falls er selbst nicht etwas gegen die drei Wanderer unternehmen konnte. Der Priester sprang auf die Füße.
»Leg dich hin!« befahl er dem Ellk akustisch, ohne Gedankenverbindung, und führte ihn in ein dichtes Fichtengehölz. Mit der anderen Hand zog er Gorm mit in Deckung, so schnell er nur selber vorwärtskam. Der Bär verstand sofort und versuchte auch keine Gedankenverständigung. Der gut ausgebildete Ellk und der nie ausgebildete Bär hatten beide augenblicklich die drohende, unmittelbare Gefahr gespürt und brauchten nur wenig Anleitung, das Richtige zu tun. Reglos lag Hiero gegen die Flanke des Ellks gepreßt, den Werfer schußbereit quer über den ausgestreckten Beinen. Genaues Zielen war mit dieser Waffe nur bis etwa hundert Meter möglich, sie hatte aber gut die doppelte Reichweite und war wohl das einzige wirksame Verteidigungsmittel gegen einen Feind aus der Luft. Angestrengt spähte er durch die dunkelgrünen Zweige nach oben und suchte nach dem fliegenden Feind. Endlich entdeckte er ihn. Ziemlich weit oben zog ein schwarzer, falkenähnlicher Umriß weite Kreise, stieg langsam höher, glitt außer Sicht, kam wieder zurück. Der Priester holte sein sonst selten benutztes Fernrohr, ein kurzes Teleskop aus Messing, hervor und versuchte den Widersacher genauer auszumachen. Die Maschine – tatsächlich ein antriebsloses Segelflugzeug, etwas, das über Hieros Vorstellungsvermögen ging – blieb jedoch in zu großer Höhe, als dass er viel hätte sehen können. Die Flügel des Dings waren leicht nach hinten abgewinkelt, wie die eines Vogels, aber mehr war auf die Entfernung nicht
festzustellen. Das muß also die Gefahr sein, die der Bär zu beschreiben versuchte, überlegte er. Die Jagd war also keineswegs abgeblasen, sondern vielmehr ausgeweitet worden. Trotz des großen Vorsprungs, den sie gewonnen hatten, verfolgten sie die Diener der Unreinen immer noch. Niedergedrückt sah er zu Boden und dann auf seine linke Hand, die noch immer zur Faust geballt war. Weil sie etwas festhielt! Er warf einen raschen Blick hinaus auf die kleine Lichtung, die sie gerade verlassen hatten. Das Symbolbrett und die Figuren lagen immer noch dort, ebenso sein Kristall. Er war so eilig in Deckung gegangen, dass er seine Sachen völlig vergessen hatte. Der Feind hatte ihn erschreckt, seine innere Zuversicht und Gelassenheit erschüttert. Das war schlecht – schnell sagte er in Gedanken eine mathematische Tabelle herunter, die als Litanei gegen die Furcht diente, und blickte dann auf seine jetzt geöffnete Hand und die drei Symbole hinunter, die er unbewußt ergriffen hatte, während er seinen geistigen Kampf mit dem Flieger hoch droben ausgefochten hatte. Da lag der Fisch – eine winzige, grob geschnitzte Figur, die nur durch die ausgeprägte, doppelte Schwanzflosse erkennbar war. Dieses Symbol bedeutete Wasser, jede Art von Wasser; weiterhin bedeutete es, oder konnte bedeuten: Boote, Häfen, Netze, Angelschnüre, Salz und eine Reihe andere Dinge, die mit Wasser in Beziehung standen. Es war auch ein Symbol für Manneskraft. Die zweite Figur war ein daumennagellanger Speer. Er be-
deutete Krieg, jede Art von Kampf, oder eine gefahrvolle Jagd. Das letzte Zeichen war sonderbar – er mußte bis zu seiner Schulzeit zurückdenken, um sich die verschiedenen Bedeutungen in Erinnerung zu rufen, denn es war ihm noch nie in die Hand gekommen, nicht ein einziges Mal auf seinen vielen Wanderungen. Es war das Kreuz, Symbol eines sieben Jahrtausende alten Christentums, aber es trug in der Mitte, wo sich die Balken trafen, noch ein winziges, geschnitztes Oval, das Abbild eines Auges. Das Kreuz und das Auge! Er fühlte, wie ihm ein Schauder über den Rücken lief. Dieses selten auftretende Symbol drückte eine geistige Bedrohung, ein Übel aus, das nicht bloß den Körper, sondern auch die Seele selbst in Gefahr brachte. Langsam legte er die drei Symbole auf die Erde und schaute nach oben. Der Flieger war gerade noch zu sehen, am nördlichen Rand von Hieros Gesichtskreis. Geduckt huschte der Priester hinaus auf die Lichtung und holte das schalenförmige Brett mit den Figuren und den Kristall. Er war überzeugt, dass nicht einmal ein Adler auf die Entfernung seine Bewegung hätte wahrnehmen können. Während er die Geräte wieder in die Satteltasche packte und Klootz seinem Wiederkäuen und den Bären einem entspannten Nickerchen überließ, grübelte der Priester über die drei Symbole nach. Sein Weg führte zum Wasser, das stand fest. Zum Umkehren war es fast sicher zu spät. Der Flieger wußte ungefähr, wo er sich befand, und
mußte bereits die Verfolger auf seine Spur gesetzt haben. Er wagte es nicht, den erbeuteten Verstärkerstab zum Lauschen zu benutzen, weil er fürchtete, sich dadurch zu verraten, aber er war überzeugt, dass der Äther voll der Befehle und Weisungen der Unreinen war. Zweifellos stürmten Scharen von Lemuts aus ihren Schlupfwinkeln im Norden. Aber was ging im Süden vor sich? Wurde ihnen dort eine Falle gestellt, eine, oder vielleicht viele? Der Fisch, der Speer, und das durchkreuzte Auge! Wasser, Kampf und eine geistige Bedrohung. Aber war das auch die richtige Auslegung? Die Aussage der kleinen Zeichen war wie immer mehrdeutig. Das letzte Symbol, das durchkreuzte Auge, konnte zwar eine schreckliche psychische Gefahr ankünden, aber es konnte genausogut bedeuten, dass der Fragende selbst eine große Sünde auf sein Gewissen geladen hatte, eine Todsünde. Verdammt, nein, sagte sich Hiero zornig. Das konnte es nicht sein, weil er vor Beginn seiner Reise gebeichtet hatte, bei Abt Demero selbst. Und dass er Leolane d'Ondote mitgeteilt hatte, sie würde weder seine erste, zweite, noch überhaupt seine Frau werden, und dass überhaupt ihre gesamten Talente ausschließlich in der Horizontalen lägen – das war keine Todsünde, wenn es auch mehr als nur ein bißchen grob gewesen war. Angenommen, der Speer kündete eine Jagd an, und der Fisch ein Boot? Nein, in seiner augenblicklichen Lage ergab das keinen Sinn. Nun, und wie sah es mit den anderen Kombinationsmöglichkeiten aus? Den ganzen
Nachmittag zerbrach er sich den Kopf über die verschiedenen Auslegungen der drei Orakelsymbole. Das durchkreuzte Auge beherrschte jedoch am meisten seine Gedanken. Er war sich zutiefst sicher, dass er keine Todsünde begangen hatte, und dass ihm deshalb höchstwahrscheinlich eine schreckliche geistige Gefahr von Seiten der Unreinen drohte. Da er nicht von dem Mann oder Lemut, der in der Himmelsmaschine ritt, entdeckt werden wollte, wartete Hiero mit seinen beiden Gefährten, bis die Sonne nur mehr ein verwaschener, rötlicher Fleck am Horizont war. Dann verließen sie das düstere Fichtendickicht und wanderten auf sumpfigen Pfaden nach Süden, wo die Taig in baumloses Moorland überging. Wasserpfützen spiegelten die ersten Sterne wider, wurden größer und zahlreicher. Bald hatten die drei auch die letzten, verkrüppelten Föhren hinter sich gelassen. Riesige Sumpflilien und üppige Moorpflanzen, im nächtlichen Dunkel nur als bizarre Umrisse erkennbar, ersetzten die Bäume. Fremde, süße Gerüche entströmten blassen Nachtblumen, die in den schlammigen Tümpeln wuchsen, und modriger Gestank entströmte anderen, scheinbar ganz ähnlichen Tümpeln. Die Farnstauden wurden immer größer, überragten bald Klootz' Geweih und wuchsen in so dichten Riesenbüschen, dass die Wanderer ihnen ausweichen mußten. Die Luft war schon während der letzten Tage zunehmend wärmer geworden, und jetzt kam zur Wärme eine stickige Feuchtigkeit
hinzu, die, selbst wenn sie von wunderbaren Düften erfüllt war, immer einen Hauch von Fäulnis und Moder mit sich trug. Sie hatten die Taig mit ihrer kühlen, würzigen Luft nun endgültig hinter sich gelassen, und der schwüle Atem des Palud schlug ihnen entgegen, des weiten Sumpflandes, in dem gräßliche Ungeheuer hausten, und das Meile um Meile die Nordküste der Inlandsee säumte. Es war ein wegloses, gefährliches Moor, das auf keiner Karte genauer eingezeichnet war. Eben als Hiero dies alles in den Sinn kam, brach in einiger Entfernung vor ihnen plötzlich ein furchtbares, hohles Brüllen los. Es übertönte die normalen nächtlichen Geräusche, das allgegenwärtige Summen der Insektenschwärme und die Froschchöre. Ebenso plötzlich verstummte das Brüllen wieder. Klootz erstarrte entsetzt, und ein paar Schritte weiter stand Gorm reglos, eine triefende Pranke halb aus einer dunklen Wasserpfütze gehoben, ein massiger Schatten in der Dunkelheit. Einige Atemzüge lang lauschten die drei, und als alles still blieb, begannen sie sich vorsichtig weiterzutasten. Hiero hatte Gesicht und Hände mit einer Mückenschutzsalbe eingeschmiert, aber die Wolken blutsaugender Insekten drangen ihm unter die Kleider, und er bedauerte, sich nicht mit ein paar lauten Flüchen Luft machen zu können. Sie waren noch kaum dreißig Meter vorangekommen, als in der schwülen Finsternis vor ihnen erneut das grunzende Gebrüll losbrach. Ein gewaltiges, knallendes Platschen folgte, als hätte jemand
mit einem großen Brett auf den weichen Morast geschlagen. Die Myriaden Stimmen kleinerer Tiere, der nächtlichen Moorvögel, der Frösche und anderer Sumpfbewohner, verstummten abrupt. Nur das durchdringende Summen von Millionen Mücken und Stechfliegen hielt unvermindert an. Wieder blieben die drei wie angewurzelt stehen, aber diesmal nur sehr kurz. Im Dunkel hinter ihnen donnerte wie zur Antwort ein zweites röhrendes Brüllen los. Allein nach der Lautstärke zu schließen, mußte der Urheber von gewaltiger Größe sein. Und er war näher als das Ungeheuer vor ihnen! Hiero sah sich verzweifelt nach einem Versteck um. Sie standen im Schatten am Rand eines breiten, mondbeschienenen Schlammsees. Zur Linken und voraus war nichts als glänzender Morast, aber weiter rechts erhob sich wie eine schwarze Mauer ein Dickicht von riesigen Sumpfpflanzen. Schnell nach rechts hinüber, befahl er dem Bären und dem Ellk. Hinein in diese Stauden und hinlegen. Diese Bestien dürfen uns nicht entdecken! Die beiden Tiere hatten sich kaum in Bewegung gesetzt, als sich jenseits des Schlammtümpels das Schilf teilte und eine alptraumhafte Fratze sie aus kaum dreißig Metern Entfernung anglotzte. Hiero, dessen wissenschaftliche Neugier sich in nahezu allen Lebenslagen behauptete, stellte fest, dass dieses Ungeheuer vermutlich ein Frosch oder eine nicht mehr ausgewachsene Kaulquappe unter seinen entfernten Vorfahren aufwies.
Die großen, fahlglänzenden Augen an der Seite des stumpfen Reptilkopfs standen gut drei Meter auseinander. Die Bestie kauerte auf krummen, schuppigen Beinen im Morast, die in hornartigen Klauenfingern endeten. Das unglaublich breite, aufgerissene Maul starrte vor glitzernden, langen Fängen – ein Gebiß, wie es kein Frosch je besessen hatte, ein Wald nadelspitzer Elfenbeindolche, jeder eine Elle lang, im Mondlicht bedrohlich glänzend. Der Ellk rührte sich nicht, und Gorm, der fast gelähmt vor Angst war, drückte sich wie schutzsuchend gegen einen seiner Vorderläufe. Der Priester hob seinen Werfer und zielte mit einem stummen Stoßgebet auf die Bestie. Die Zerstörungskraft der kleinen Raketengeschosse war natürlich nicht für ein Wesen dieser Größe berechnet. Hiero spürte, wie der Ellk unter ihm sich zum Sprung sammelte. Mit angespannten Muskeln duckte sich Klootz auf die Hinterkeulen. Warte! befahl Hiero, gerade als Klootz wie eine gespannte Feder hochschießen wollte. Er hatte gesehen, wie sich die Aufmerksamkeit des Ungeheuers auf einmal etwas anderem zuwandte. Es kauerte sich zusammen, und seine Augen fixierten etwas links hinter den dreien. Dann plötzlich sprang es los. Die säulenstarken Hinterbeine, zweifellos Erbteil seiner Froschahnen aus der Zeit vor dem ›Tod‹ schleuderten das tonnenschwere Ungeheuer über die drei zusammengeduckten Warmblüter hinweg. Bevor sie noch herumfahren konnten,
klatschte das Riesentier samt seinem meterlangen Schwanz ein gutes Stück hinter ihnen in den Schlamm. Der Morast schlug in einer mächtigen Welle hoch, und im gleichen Moment brach ein fürchterliches Getöse los, ein Trampeln und Fauchen und Klatschen wie von einem Kampf zwischen Giganten. Zerfetzte Pflanzen und Schlamm spritzten nach allen Richtungen auseinander. Das Riesentier war über ein zweites seiner Art hergefallen, begriff Hiero, als er sich an den zweiten Schrei hinter ihnen erinnerte. Gorm und der Ellk ließen es sich nicht zweimal sagen, den Schauplatz dieses unglaublichen Kampfes so schnell wie möglich zu verlassen. Durch Schlamm und Sumpf hasteten sie davon, platschten durch eine Menge seichter Tümpel und über stinkende, überwucherte Schlickinseln. Endlich verklang das Getöse in der Ferne, und Hiero ließ haltmachen. Sie standen nun auf einem etwas erhöhten Wall aus zusammengebackenem, abgestorbenem Schilf, das irgendeine frühere Überschwemmung zurückgelassen hatte, und horchten in die Nacht hinaus. Die Luft vibrierte von Froschchören und Mückengesumm, aber sonst rührte sich nichts unter der bleichen Mondsichel, abgesehen von einem Fischreiher, den sie aufgescheucht hatten. Von ihrem Standort aus konnten sie nach allen Richtungen ziemlich weit sehen. Die einzige Sichtbehinderung waren die immer zahlreicher gewordenen Schilfinseln. Manche der gewaltigen, glatten Rohre waren schenkeldick, und ihre fedrigen Wedel
überragten Klootz' Geweihspitzen ein ganzes Stück. Zwischen den Schilfrohren wuchsen üppige malvenähnliche Pflanzen und riesenhafte Pfeilwurzstauden, deren dreieckige Blätter in der leichten Brise sanft schwankten wie große Fächer. Mondhelle Wasserstraßen zogen sich durch Schlammflecken und Pflanzenwuchs, mündeten manchmal in größere Teiche, oder verschwanden hinter einem dunklen Schilfgürtel. Es war ein Anblick von eigenartiger, urweltlicher Schönheit, der selbst die immer wieder vorbeiziehenden Schwaden von Sumpfgas oder der Gestank verfaulender Pflanzen keinen Abbruch taten, dachte Hiero, während er fasziniert die seltsame Sumpflandschaft betrachtete. Schließlich riß er sich los und überlegte. Sie hatten unwahrscheinliches Glück gehabt, dass sie auf ihrer überstürzten Flucht vor den beiden Riesenamphibien nicht in eine andere und unter Umständen viel üblere Gefahr hineingerannt waren. Es war wirklich an der Zeit, haltzumachen und die nächsten Schritte zu überdenken. Die Landkarten der Abtei waren in diesem Landstrich nutzlos, und Gorm kannte sich in dieser Wildnis aus Wasser und Land ebensowenig aus wie er selbst. Wonach konnten sie sich auf ihrer Wanderung also richten? Sie wußten, wohin sie wollten – nach Süden. Und sie wußten, dass ihnen die Unreinen immer noch auf den Fersen waren und nur aus dem Norden kommen konnten. Vor ihnen erstreckte sich das Sumpfland bis über den Horizont. Soweit aus der Karte zu erkennen war und
soweit der Priester durch die Augen des feindlichen Fliegers wahrgenommen hatte, war der Moorgürtel an dieser Stelle jedoch schmaler als weiter östlich und westlich. In diese Richtungen mochte der Sumpf noch hunderte Meilen weit reichen, aber geradeaus, nach Süden hin, war er anscheinend kaum fünfzig Meilen breit, schätzte Hiero und hoffte, sich auf jenen kurzen Blick aus der Luft verlassen zu können. Sie hatten also kaum eine Wahl. Sie mußten nach Süden und den Sumpf an der engsten Stelle überqueren. Das war natürlich ein recht gefährliches Vorhaben, aber Hiero mußte schon aufgrund seiner Ausbildung jenen Weg wählen, der, wenn schon keine Vorteile, so doch wenigstens die geringsten Nachteile bot. Während der restlichen Nachtstunden stießen sie langsam nach Süden vor, unzählige seichte Tümpel durchwatend und ebenso viele tiefe Stellen umgehend. Zweimal mußten sie einen breiten Wasserstreifen durchschwimmen, der ihren Weg kreuzte und nicht umgangen werden konnte. Beim erstenmal ereignete sich nichts Beunruhigendes, aber als sie den zweiten Kanal verließen, und der triefende Ellk auf das schlammige Ufer hinaus stakste, sah Hiero im Umdrehen das dunkle Wasser hinter ihnen aufwallen, als hätte irgendein gewaltiges Geschöpf der Tiefe den Grund verlassen. Er hatte zwar den Werfer schußbereit vor sich über den Sattel gelegt, aber bei einem Angriff von unten wären sie alle drei praktisch hilflos gewesen. Er hatte den Bären unmittelbar
vor Klootz' Nase schwimmen lassen, um ihn wenigstens von hinten schützen zu können. Als die drei nun im etwas sichereren Ufermorast standen und einander anschauten, konnte der Priester ein klägliches Lächeln nicht unterdrücken. Sie waren jetzt alle von Kopf bis Fuß durchnäßt, und die Beine der Tiere waren bis obenhin mit Schlamm bekleistert. Der faulige Moorgeruch war lästig, sie hatten kaum eine Möglichkeit, diesen stinkenden Überzug loszuwerden, jedenfalls nicht, bevor sie den Sumpf hinter sich hatten. Ein Vorteil dieser Schlammschicht war, dass sie die Tiere wenigstens teilweise vor den unablässigen, summenden Attacken der Insekten schützte. Hiero war weniger gut dran und fragte sich, nach einer Wolke durstiger Mücken schlagend, ob seine Schutzsalbe reichen würde. Er war, wie jeder Waldläufer, wohl an Insektenstiche gewohnt, aber die Heerscharen, die der Palud gegen jeden Eindringling losschickte, konnte die Taig nicht aufbieten. Ein weiteres Übel waren die fetten, dunkelbraunen Blutegel, von denen jede noch so kleine Wasserpfütze wimmelte. Fast bei jeder Rast mußte Hiero die beiden Tiere von diesen lästigen Blutsaugern befreien. Den ersten Tag verbrachten sie zusammengeduckt im Innern einer dichten Bank dunkelgrünen Riesenschilfs. Hiero hatte vorsichtig einen schmalen Tunnel durch das Röhricht gehackt, der, wie er hoffte, aus der Luft nicht zu sehen war. Er war entschlossen, sich nicht von einem der fliegenden Feinde tagsüber im offenen Moor überraschen
zu lassen. Als die Sonne aufging, lagen sie bereits sicher versteckt im Herzen der Schilfinsel, die sie zwar vor Blicken, aber mitnichten vor dem allgegenwärtigen Ungeziefer schützte. Der Morgen war wolkenlos, und die Augustsonne brannte immer heißer herunter, als der Tag voranschritt. Die Mücken, die das direkte Sonnenlicht mieden, stürzten sich begeistert auf die hilflos im Schatten kauernden Opfer. Scharen von winzigen Stechfliegen und allerlei bissigen Kriechtieren, die sich gnädigerweise während der Nacht nicht gerührt hatten, gesellten sich hinzu und machten den dreien jede Minute zur Qual. Um das Maß der Unannehmlichkeiten voll zu machen, kamen immer mehr Blutegel aus dem Wasser und krochen mit hochgereckten Saugnäpfen auf die drei Warmblüter zu. Hiero schnitt von seinem Moskitonetz soviel herunter, als er entbehren konnte und bastelte daraus eine Art Schutzhülle für die Nasen der beiden bemitleidenswerten Tiere, so dass sie wenigstens atmen konnten, ohne ganze Wolken von fliegendem Ungeziefer in die Nase zu bekommen. Selber konnten sie kaum mehr zu ihrem Schutz tun als sich so dick wie möglich mit Schlamm zu bepflastern. Aber wenigstens mußten sie nicht unter Wassermangel leiden, dachte Hiero. Soweit die Tümpel ringsum nicht aufgewühlt oder zu seicht waren, enthielten sie durchaus trinkbares Wasser, das er nur einmal durchseihen mußte, um Insekten und anderes Viehzeug herauszufiltern, bevor er es in seine Feldflaschen füllen
konnte. Nahrung dagegen war ein Problem. Er hatte noch etwas von dem Birkhuhn, ziemlich viel Pemmikan und noch mehr Zwieback in den Satteltaschen, aber er wußte, dass er diese Vorräte so lange wie möglich aufsparen mußte. Bevor sie am Abend aufbrachen, würde er dem Ellk ausreichend Zeit zum Fressen gönnen müssen – für ihn gab es mehr als genug saftige Pflanzen im oder am Rand des Wassers. Aber wovon sollte der junge Bär leben wenn nicht von den Notrationen? Ah! Das mußte man versuchen! Hastig griff er in die neben ihm liegende Satteltasche und vergaß für einen Augenblick die lästigen Insekten und die stickige Hitze. Ja, sein Angelzeug war noch da, in der Dose, die er hervorholte. Nun wollen wir mal sehen, dachte er, ob ich das Wasser von hier aus mit einem Wurf erreichen kann. Sorgfältig knüpfte er einen beschwerten, glänzenden Metallköder an die dünne Darmsaite und schleuderte ihn hinaus in den sumpfigen Kanal vor der Mündung des Tunnels, den er ins Schilfdickicht geschnitten hatte. Als er die Schnur das dritte Mal ausgeworfen hatte, zeigte bald ein heftiger Ruck an, dass ihm das Glück jetzt günstiger gesinnt war als zuvor, und Minuten später lag ein dicker, gestreifter Fisch – irgendeine Art Barsch, nahm Hiero an – auf dem Schlamm und schlug mit dem Schwanz um sich. Nachdem er noch zwei der gleichen Sorte gefangen hatte, biß nichts mehr an. Hiero gab den
einen, vielleicht drei Pfund schweren Fisch Gorm, der hungrig darüber herfiel und ihn offensichtlich ausgezeichnet fand. Die beiden übrigen nahm er aus und schuppte sie ab; einen hob er für später auf, den anderen aß er gleich. Er hatte schon oft Fisch roh gegessen, und diese Barsche waren wenigstens nicht wurmbefallen wie es größere Fische oft waren. Auf jeden Fall wäre es der Gipfel der Dummheit gewesen, ein Feuer anzuzünden, jetzt, da selbst am Himmel ein Feind lauern konnte. Er aß ein Stück Zwieback zum Fisch, und einen schmalen Streifen Pemmikan, weil der Fisch kaum Fett und Öl enthielt. Dann rollte er sich ein und versuchte zu schlafen und so gut es ging das fliegende, kriechende, krabbelnde Ungeziefer zu ignorieren und die gleiche stoische Geduld wie seine beiden Gefährten zu beweisen. Nach Einbruch der Dämmerung ließ er Klootz, da sich den ganzen Tag keiner der geflügelten Himmelswächter hatte blicken lassen, zum Weiden aus ihrem Versteck, und bald untermalte ein gleichmäßiges Mampfen den Gesang der Frösche und Insekten. Irgendeine Art kleiner Vögel tauchte das erste Mal in größerer Zahl am Abendhimmel auf, und Hiero hörte sie mit schrillem Pfeifen hin und her schießen auf ihrer Jagd nach den unzähligen Insekten des Marschlandes. Erbittert dachte er, dass so an die acht Millionen mehr von ihnen nötig sein würden, um die Mückendichte einigermaßen zu dezimieren. Er teilte den letzten Fisch und zwei Stück Zwieback mit dem kleinen Bären, der sich während des Tages auch
noch ein paar weißliche Wurzelknollen ausgegraben hatte. Als Hiero vorsichtig davon kostete, spürte er das Brennen irgendeiner starken Säure auf der Zunge und wußte, dass er seine eigenen Mahlzeiten mit dieser Pflanze nicht aufbessern konnte. Mehr als eine Stunde, überlegte Hiero, konnte er dem Ellk nicht zum Fressen lassen. Sie mußten den Sumpf hinter sich bringen, je eher, desto besser. So wie die Dinge jetzt lagen, konnten sie nur nachts weiterziehen, und von diesen wenigen Sicherheit bietenden Stunden gingen immer noch einige verloren, weil sie jedesmal ein neues Versteck suchen und den Ellk weiden lassen mußten. Klootz kam jedoch ganz bereitwillig zurück, und sein Herr bemerkte, dass er nicht gebadet hatte und nur sein Kopf und die Beine bis zum Sprunggelenk naß waren. Da der große Ellk sich sonst bei jeder Gelegenheit im Wasser wälzte, war das überraschend. Ein Wesen (unbekannter Art) tief im Wasser (beobachtet/ wartet), lautete der Antwortgedanke auf die Frage des Priesters. Mächtig/stark. Kämpfen nicht möglich/leicht. Diese gleichmütige Feststellung seines Reittiers erschreckte Hiero nicht wenig. Er sattelte hastig, rief Gorm und ritt auf die andere Seite der Schilfinsel, in deren Innern sie den Tag verbracht hatten. Mondbeleuchtete Pfützen und zahllose Schlammbänke lagen vor ihnen, doch kein tiefes, offenes Wasser, außer auf der einen Seite in ziemlich weiter Entfernung. Hiero war nun sehr froh, dass sie den breiten Kanal
noch in der letzten Nacht durchschwommen hatten, und überlegte, was für ein Wesen der Ellk wohl vorhin im Wasser lauern gefühlt hatte. Er dachte nicht daran, Klootz' Urteilsfähigkeit oder die Schärfe seiner Sinne anzuzweifeln. Wenn der Ellk behauptete, dass dort unten irgendein Ungeheuer wachte, dann war es so, und wenn er sich davor derart in acht nahm, mußte es sich um etwas ziemlich Gefährliches handeln. Es konnte ein gigantischer Schnapper sein, oder auch eins der Froschmonster, denen sie schon begegnet waren. Vielleicht auch etwas viel Erschreckenderes, dachte Hiero bedrückt. Er hatte sich vorhin noch gewundert, warum der Flieger der Unreinen den ganzen Tag nicht aufgetaucht war. Vielleicht war der Grund dafür sehr einfach. Der große Sumpf wurde – berechtigterweise – für sehr gefährlich gehalten, so dass die Unreinen entweder glaubten, er hätte sich gar nicht hineingewagt, oder im anderen Fall überzeugt waren, dass er das Gebiet nie lebend verlassen würde. Beide Annahmen hatten einige Wahrscheinlichkeit für sich, gestand er sich ein. Einmal hörten sie während ihrer nächtlichen Wanderung den brüllenden Schrei irgendeines Riesenreptils, doch nur aus der Ferne, weit aus dem Osten. Etwas später wiederum schlug ihnen aus einem Pflanzendickicht, das sie umgehen mußten, ein gewaltiges Zischen entgegen, als hätten sie den Urgroßvater aller Schlangen aufgescheucht. Sie beeilten sich, von dem Ort wegzukommen, und Hiero sah sich noch etwa eine Stunde lang
immer wieder um, aber es schien sie nichts zu verfolgen. Gorm ließ als Vorhut äußerste Vorsicht walten und untersuchte jeden Schlammfleck, bevor sie ihn überquerten, um sicherzugehen, dass sie nicht alle drei in Treibsand oder irgendeinem bodenlosen Moorloch versanken. Zweimal stießen sie auf gefährlichen Grund dieser Art, aber der Bär schien ihn von tragfähigem Boden so sicher unterscheiden zu können, dass sich Hieros Besorgnis in dieser Hinsicht bald legte. Die Luft wurde immer feuchter, die Gerüche fremdartiger und schwerer, als sie tiefer und tiefer in die Wasserwildnis eindrangen. Als der Priesterkrieger beobachtete, wie sich Klootz' breite, gespaltene Hufe auf dem Morastboden spreitzen, kam ihm der Gedanke, dass er vielleicht der erste Mensch war, der den Sumpf auf einem für diese Art Landschaft wunderbar geeigneten Reittier zu durchqueren versuchte, und zudem einen so wertvollen und aufmerksamen Führer wie den jungen Bären besaß. Das hieß, dass sie unter Umständen an Stellen durchkamen, wo andere gescheitert waren. Ein neuer unangenehmer Tag brach an und verging viel zu langsam. Es regnete fast die ganze Zeit, aber der Regen war wenigstens warm. Gorm hatte wiederum einen Hügel aus verrottetem Schilf ausfindig gemacht, der mit fetten Ampferstauden und mannshohen Binsen überwuchert war. Hiero hackte wieder eine tiefe Nische in das Dickicht, in der sie sich tagsüber verkrochen. Abends regnete es noch immer, und Hiero hatte nicht
einen Fisch mehr fangen können, trotz geduldiger Bemühungen. Er und Gorm teilten sich etwas geräuchertes Birkhuhn, Zwieback und Pemmikan; der Bär hatte auch keine solche Wurzeln wie tags zuvor finden können. Klootz jedoch schien mit den Wasserpflanzen ringsum recht zufrieden zu sein, und da kein tiefes Wasser in der Nähe ihres Verstecks war, konnte er sich ein erfrischendes Schlammbad in einer der Pfützen leisten. Schließlich brachen sie wieder auf, Gorm voran wie zuvor. Immer noch fiel leichter Regen, und die tiefhängenden Wolken verbesserten die Beleuchtungsverhältnisse nicht gerade. Wahrscheinlich war das der Grund, dass sie zweimal Wasserstellen durchschwimmen mußten, die sie bei besserer Sicht vielleicht hätten umgehen können. Glücklicherweise passierte beide Male nichts. Hätte Hiero sich die Zeit genommen, darüber nachzudenken, dann hätte er feststellen müssen, dass sie überhaupt ungewöhnliches Glück gehabt hatten. Seit drei Tagen schon wanderten sie mit heiler Haut durch das gefürchtete Moor, und bisher waren ihnen nur wenige der monströsen Lebensformen begegnet, die darin hausten. Und trotz der dichten Insektenschwärme, die allen dreien das Leben schwer machten, hatte Hiero, der sicherlich am anfälligsten war, keins der schrecklichen Sumpffieber bekommen, für die selbst die Randbezirke des Palud berüchtigt waren. Vor Tagesanbruch schlug der Priester wieder einen Tunnel in eine Insel aus teils grünen, wuchernden, teils
verrotteten Pflanzen. Nachdem er den beiden Tieren ihren Mückenschutz umgebunden hatte, hüllte er sich in den Rest seines Moskitonetzes und wappnete sich für einen weiteren feuchten, heißen Tag voller Ungeziefer, Bisse, Stiche und unterdrückter Flüche. Sie hatten ihr Versteck diesmal am Rande eines tiefen, weiten Moorsees angelegt, aber Hiero beachtete das dunkle Gewässer überhaupt nicht, was in sonderbarem Widerspruch zu seiner sonst gewohnten Vorsicht stand. Er war so müde, dass er trotz der lästigen Insekten und der drückenden Schwüle fast sofort einschlief. Den ganzen Tag lag er in einem tiefen, fast betäubungsähnlichen Schlaf, und auch die beiden Tiere rührten sich kaum und schienen es nicht zu spüren, dass immer wieder Stechfliegen und Blutegel noch eine ungeschützte Stelle in ihrem schlammbedeckten Fell fanden. Gewiß waren sie alle drei recht erschöpft, aber das war vielleicht nicht der einzige Grund. Tief unten in einer der Satteltaschen glühte ein winziger Lichtpunkt unter einer runden Glasscheibe auf, verglomm, wurde wieder heller. Für die normalen Sinne nicht wahrnehmbare und darum um so gefährlichere Kräfte und Ströme durchwoben den dampfenden Nebel über dem Palud. An dunklen Orten, die kein Mensch je erblickt hatte, der nicht den Unreinen angehörte, wurden Beratungen abgehalten, Befürchtungen geäußert, Entschlüsse gefaßt. Unvorstellbare Wesen regten sich in den schlammigen Tiefen, und die Unreinen konzentrierten ihre schrecklichen Kräfte auf eine Stelle
mitten im Moor, an der ein tödlicher, geheimnisvoller Feind versteckt liegen mußte, wie ihnen eine Leuchtanzeige an einem ihrer versteckten Instrumentenborde verriet. In versunkenen Städten, seit Jahrtausenden unter dem Schlamm des Marschlandes begraben und vergessen, weckte der Ruf der Unreinen widernatürliche, schreckliche Wesen, die langsam hervorkamen. Aus Morgen wurde Mittag. Die Sonne schien nur als blasser Fleck durch den wäßrigen Nebel und die Dunstschwaden. Kein Windhauch kräuselte die dunkle Wasserfläche oder ließ die hohen Schilfwedel flüstern. Reglos hingen dicke dunkelgrüne Blattstauden über der dampfenden Erde, über den drei Schläfern, die nur manchmal etwas murmelten oder stöhnten in ihrer unnatürlichen Bewußtlosigkeit. Der Nachmittag verging, und sie wachten immer noch nicht auf. Langsam erlosch das Tageslicht, als die Sonne hinter den Nebelschleiern im Westen versank. Nun begannen nächtliche Dünste aus den dunklen Moortümpeln aufzusteigen und sich mit den weißen Abendnebeln zu vermischen, bis die wirbelnden Schwaden jede Sicht nahmen und sich wie eine erstickende Decke über Schilf, Pflanzen und Wasser legten. In dieser unheimlichen Stunde kam der Nebelwanderer. Wo in den gräßlichen Tiefen des Moores er hauste, wird kein Mensch je erfahren. Die entsetzlichen kosmischen Kräfte, die der Heiße Tod entfesselte, hatten die unnatürlichsten Lebensformen gezeugt und Wesen entstehen lassen, die ohne jenen Eingriff des Menschen in
die Schöpfung sich niemals entwickelt hätten. Von dieser Art war der Nebelwanderer. Wie er die drei gefunden hatte, konnte nur er selbst und vielleicht die Meister der Unreinen wissen. Das verräterische Instrument in der Satteltasche mochte ihm geholfen haben. Was auch immer dazu geführt haben mochte, er hatte sie aufgespürt. Beinahe hätte Hiero keine Möglichkeit zur Gegenwehr mehr gefunden, aber der Geist, den die Lehrer der Abtei ausgebildet, das Gehirn, das sie geschult hatten, warnten ihn, weckten ihn im letzten Moment. Entsetzt fuhr er hoch, eine Hand um das silberne Emblem aus Kreuz und Schwert an seiner Brust gekrampft, und sah das Ungeheuer vor sich, das sich an sie herangestohlen hatte, während sie in tiefem Schlaf lagen. Die Nebelschwaden über dem dunklen Moorsee vor ihrem Versteck hatten sich kurz geteilt. Ein kleines Boot glitt an der nächsten Schilfinsel vorbei und auf den Tunneleingang zu. Es war kaum größer als ein Kanu, aus irgendeinem dunklen Holz gezimmert, mit stumpfem Bug und Heck. In der Mitte stand hochaufgerichtet eine reglose Gestalt, in einen nebelfarbenen Kapuzenmantel gehüllt. Wie und wodurch das geheimnisvolle Fahrzeug angetrieben wurde, war nicht festzustellen, aber es näherte sich rasch der Stelle, wo der junge Priester von Entsetzen gebannt kauerte. Der graugewandeten Gestalt lief eine Flutwelle unmenschlicher, bösartiger Macht voraus, die Hiero traf und über ihm zusammenschlug wie ein schweres, feuch-
tes Netz. Die beiden Tiere an seiner Seite rührten sich nicht. Der geistige Bann des Nebelwanderers hielt sie fest, vielleicht in tiefem Schlaf, vielleicht in Bewußtlosigkeit. Der Mensch wußte, dass sie alle in die Macht eines Wesens geraten waren, das, wenn es nötig wurde, die zwei Tiere körperlich vernichten konnte, dessen Angriff jedoch vor allem ihm selbst galt, und dessen Ziel es war, seinen Geist und seine Seele vollständig zu unterjochen. Blitzartig wurde ihm bewußt, dass dies die Gefahr war, vor der das Kreuz mit dem Auge ihn gewarnt hatte. Er hatte kaum Zeit, sich für den geistigen Kampf zu wappnen, bevor das schwarze Boot wenige Schritte vor ihm auf die weiche Schlammbank auffuhr. Aus der innersten Festung seines Ich heraus starrte Hiero in den Schattenfleck unter der grauen Kapuze, wo die fahlgelben, bösartig glimmenden, tief in den Höhlen liegenden Augen des Wanderers seinem Blick begegneten und ihn einzusaugen suchten wie ein bodenloses Schlammloch. In gewissem Sinn war es ein geistiges Duell wie jenes, das Hiero gegen Snerg ausgefochten und fast verloren hatte – und doch war es ganz anders. Jener Meister der Unreinen war ein Mensch gewesen, auch wenn er sich dem Bösen verschrieben hatte, und seine geistige Macht war im wesentlichen Resultat einfacher Hypnosetechniken gewesen, verstärkt durch jahrelange Ausbildung und Übung in telepathischer Kontrolle. Das Wesen, das die Unreinen Nebelwanderer nannten, hatte nichts Menschliches an sich. Was es wirklich war, erfuhr Hiero nie.
Seine Macht war Teil seiner Natur wie der Instinkt, der einen Vampir Blut saugen läßt, nur dass sein Angriff sich auf den Geist seines Opfers konzentrierte. Hiero spürte, wie sich das erstickende, lähmende Gefühl verstärkte, das ihm das Nahen des Nebelwanderers angekündigt hatte. Sein Geist, sein Körper, sein gesamtes Denken, sein innerstes Wesen fühlten, wie sich das entsetzliche Netz zusammenzog und wie seine Widerstandskraft erlahmte, denn gleichzeitig wurde ihm behutsam ein Gefühl von Vergnügen eingeflößt, als wollte der Wanderer ihm sein Wohlwollen beweisen, ihn einlullen und in Sicherheit wiegen. Diese telepathische Finte übte eine körperliche Nebenwirkung auf Hiero aus, die fast einem sinnlichen Lustgefühl gleichkam und seinen Geist mit einer Mischung von Ekel und Entzücken erfüllte. Die psychische Kraft des Sumpfwesens schien seinen Kopf wie eine Aura zu umgeben, einen Kopf, der selbst unter der verhüllenden Kapuze monströs und unnatürlich und irgendwie falsch wirkte. Eine Hand um sein Abzeichen von Kreuz und Schwert geklammert, wehrte sich der Priester verzweifelt. Jenen Teil seines Wesens, der durch die Vorspiegelung unnennbarer Lust verlockt wurde, wappnete er durch die Erinnerung an Kraft und Ernst, an Askese und Selbstkontrolle, an die Exerzitienabende in der Abtei, an die Gedankenduelle, in denen die Novizen in stummem Kampf ihre geistigen Kräfte maßen und schärften. Bevor sich das Netz des Nebelwanderers um seinen Geist schloß, hatte
er gerade noch Zeit gefunden, mit einem anderen Teil seines Ichs eine Logarithmentabelle zu wiederholen wie eine stumme Litanei. Vor langer Zeit hatten die Abteigelehrten entdeckt, dass die uralten mathematischen Zahlenreihen eine sehr wirksame Verteidigung gegen einen geistigen Angriff darstellten. Da sie einer logischen Ordnung gehorchten, bildeten sie bei richtiger Anwendung eine Art Schutzpanzer gegen die Unlogik und das Chaos, die die wichtigsten geistigen Waffen der Unreinen waren. Trotz all dem fühlte Hiero, dass er in dem Kampf allmählich unterlag. Der Nebelwanderer war ein geistiger Parasit, der seine Kraft in sich aufsaugte, der jede kleinste psychische Schwäche seines Opfers ausnutzte und jedesmal sofort seine Angriffsrichtung wechselte, wenn es dem Priester gelang, eine jener geistigen Blößen abzudecken. Und die ganze Zeit über verstärkte sich der unbarmherzige psychische Druck, den Hiero als ein immer enger werdendes Netz empfand. Es wurde schwerer und schwerer, sich gegen den Appell an seine primitiveren Instinkte und gleichzeitig gegen diesen Würgegriff um sein Denken zu wehren. Und doch – im gleichen Maße, wie sein Wille zu ermatten schien, flammten Mut und Entschlossenheit hoch, der wachsenden Gefahr zu begegnen, sich um keinen Preis geschlagen zu geben. Noch etwas half ihm, dessen er sich in jenen Augenblicken gar nicht bewußt wurde: die Erfahrung, die er aus seinem Kampf mit Snerg gewonnen hatte. Das Duell mit dem Dunklen Meister hatte
Hieros eigene, in derartigen Kämpfen noch ungeübte Geisteskräfte in ungeahntem Maße geschärft und befähigte ihn jetzt, den heimtückischen Angriffen des Wanderers zu widerstehen. Das Nebelgespenst würde ihn nicht überwinden, solange noch ein Funke Leben in ihm war! Die Welt um ihn her schien sich in Nichts aufgelöst zu haben. Nichts existierte mehr außer dem grauenhaften Widersacher, dem flammenden Augenpaar unter der Kapuze. Und plötzlich sah er, fühlte er in diesen Augen zum erstenmal ein leichtes Flackern der Unsicherheit, des Ausweichens. Die geistige Verbindung mit dem Scheusal vor ihm war nun so stark, dass er sofort begriff, was geschehen war. Er hatte es in die Defensive gedrängt! Der noch so kurze Augenblick des Zweifels hatte die gedanklichen Waffen des Nebelwanderers geschwächt, seine Konzentration beeinträchtigt. Bei seinen bisherigen Siegen waren Schwäche und Erschöpfung seiner Opfer ihm zu Hilfe gekommen, und seine schrecklichen Kräfte hatten jeden ungeschulten Geist mühelos überwältigt. Hiero jedoch führte jetzt zum erstenmal einen gedanklichen Schlag gegen den Nebelwanderer, einen für jeden Nichttelepathen unvorstellbaren geistigen Stoß. Er war nicht sehr stark und ziemlich ungeübt, aber das Nebelgespenst fuhr merklich zusammen. Nie in seinem unnatürlichen Dasein, seiner heimtückischen Jagd nach Opfern war es auf nennenswerte Gegenwehr gestoßen. Was mit den Unglücklichen geschah, die in seine Macht gerieten,
lag jenseits menschlicher Vorstellungskraft. Niemand würde je erfahren, in welche Hölle sie gelockt wurden, doch für Hiero stand es später immer fest, dass ihr Schicksal ein Sklavendasein voll körperlicher und seelischer Qual gewesen sein mußte. Wieder griff er mit einem geistigen Dolchstoß an, und diesmal sah er deutlich, wie sich das gespenstische Augenpaar verschleierte. Mit jeder neuen Attacke wuchs sein Selbstvertrauen, und er fühlte, dass ihn frische Kraft durchflutete. Das erste Mal seit langer Zeit, wie ihm schien, wurde er sich wieder seiner Umgebung bewußt, er fühlte die Nachtluft im Gesicht und sah die verhüllte Gestalt vor sich als einen körperlichen Gegner, den er vernichten mußte, und nicht mehr nur als eine Ausgeburt des Chaos, eine abstrakte Bedrohung. Sein nächster Schlag galt dem Gedankennetz, das der Wanderer um seinen Geist zusammengezogen hatte und die unsichtbaren Bande zerrissen wie Spinnweben. Und dann, beflügelt von seiner neuen, ungeahnten Kraft, formte er selbst ein Netz, wob die Fäden psychischer Energie zu einem Kräftemuster, das den alptraumhaften Geist des Nebelwanderers unbarmherzig erdrücken mußte. Er rief die Dreifaltigkeit und alle Heiligen um Beistand an und begann, sein Netz um den bösen Willen des anderen ebenso gnadenlos zusammenzuziehen, wie das Gespenst es zuvor bei ihm versucht hatte. Keiner von beiden hatte während des Duells ein Glied gerührt. Als aber die flammende, fast physisch wahr-
nehmbare Kraft des Priesterkriegers den Nebelwanderer in die Enge trieb, an den Rand geistiger Vernichtung, da stieß das Wesen einen angstvollen Schrei aus, ein schrilles Jaulen, wie das Wimmern eines höllischen Saiteninstruments. Dann begann es verzweifelt um sein Leben zu kämpfen. Es kämpfte vergebens – all seine Ausweichmanöver, seine Gegenschläge und Finten waren umsonst. Während er jeden Streich des Sumpfgespenstes parierte, zog Hiero unnachgiebig die Fäden seines Gedankennetzes enger und enger. Als er merkte, dass diese Anstrengung den Willen des Feindes nicht brach, atmete er tief ein und konzentrierte seine gesamte Energie auf einen einzigen, tödlichen Gedankenstoß, der sein Netz durchstieß, ohne es zu zerstören. Wieder ertönte das schrille Wimmern – zum letztenmal. Der Todesschrei eines Wesens, das ohne jenes jahrtausendealte Armageddon niemals seine Stimme erhoben hätte, verhallte über dem weiten Moor. Dann – einen Augenblick lang schien ein seltsames Vakuum zu existieren, das im nächsten Moment wie eine unsichtbare Seifenblase in sich zusammenfiel, als wäre etwas eben noch Vorhandenes in eine andere Dimension, in ein Paralleluniversum übergegangen. Danach nichts mehr, Leere, Schweigen, bis auf das Flüstern des Windes im Schilf, das Summen unzähliger Insekten und das heisere Obbligato der Froschchöre. Das Boot lag immer noch mit dem Bug auf dem Schlamm vor Hieros Schilftunnel. Aber jetzt stand keine
verhüllte Gestalt mehr darin und starrte herein. Ein Haufen farbloser Lumpen hing über die Bootskante, aus den Stofffetzen sickerte eine klebrige, ölige Substanz hervor und troff in das jetzt wieder mondbeschienene Wasser. Ein Verwesungsgeruch entströmte den Lumpen, ein Gestank, gegen den selbst die übelriechendsten Sumpfgase ein wahrer Duft waren. Was immer sich in dem Kapuzenmantel verborgen hatte, jetzt war es wieder zu dem geworden, woraus es wohl einst entstanden war, zu stinkendem Faulschlamm. Mit angehaltenem Atem erhob sich Hiero und stieß, ein Gefühl der Übelkeit unterdrückend, mit einem kräftigen Fußtritt das schwarze Boot ins Wasser zurück. Zu seinem Erstaunen glitt es unter seinem Stoß nicht einfach fort, sondern wendete und fuhr langsam die Wasserstraße zurück, auf der es herangekommen war. Die Sicht war nun viel besser als zuvor, denn der Nebel hatte sich gelichtet, während Hiero um sein Leben gekämpft hatte, und so konnte er deutlich sehen, wie das unheimliche Gefährt mit den Überresten seines gräßlichen Passagiers ganz von selbst um die Ecke einer Schilfinsel bog und verschwand. Was immer das ermöglichte, das letzte Geheimnis des Nebelwanderers blieb dadurch bewahrt. Benommen vor Müdigkeit sah Hiero nach dem Mond. Der ungeheuerliche Kampf mußte mindestens drei Stunden gedauert haben und war ihm doch nur wie wenige Augenblicke vorgekommen. Der Wanderer war aufgetaucht, als noch das letzte bläßliche Licht der nebelver-
hüllten Sonne den Westen erhellt hatte. Der Stand des Mondes zeigte jedoch an, dass es jetzt bald zehn Uhr sein mußte. Hiero wandte sich um und musterte seine beiden Kameraden. Ihr Anblick ließ ihn das erstemal seit längerem wieder lächeln. Der Bär schlug leise grollend und prustend im Schlaf nach den Mücken und Fliegen. Auch Klootz schlief, schwer grunzend und schnaufend, und jeder Zentimeter seines Fells zuckte und kräuselte sich in dem unbewußten Bemühen, das bissige Ungeziefer abzuschütteln. Welcher Bann sie auch vorhin gelähmt haben mochte, jetzt war er restlos aufgehoben. Der Priester sprach ein kurzes Dankgebet und sah dann nochmals nach dem höhersteigenden Mond. Er fühlte sich immer noch etwas benommen, und es würde noch eine ganze Weile dauern, bis sein Nervensystem wieder in den Normalzustand zurückfand. Der ungeheure psychische Energieaufwand, durch den er den Wanderer überwunden hatte, war natürlich nicht ohne körperliche Folgen geblieben. Er fühlte sich wie nach einem zweitägigen Galoppritt ohne jede Rast. Aber jetzt war keine Zeit zum Ausruhen. Die Frage, wie ihn das Nebelgespenst gefunden hatte, war zumindest vorläufig nicht zu klären, doch eins war sicher – das Wesen hatte Verbündete! Soviel hatte er in dem von Todesangst erfüllten Gehirn lesen können, bevor er es vernichtete. Was hatte das Ding aus den namenlosen Tiefen des Sumpfes gelockt? Er hatte keinen Flieger mehr
gesehen, keinen Verfolger wahrgenommen, und doch hatte man sie irgendwie aufgespürt. Sie mußten weiter, sofort, bevor die Unreinen neue Streiter zu ihrer Vernichtung sammeln konnten. Hiero war sich ziemlich sicher, dass der Wanderer, selbst wenn er es gewollt hatte, nicht imstande gewesen sein konnte, in seinem Todeskampf noch Hilfe herbeizurufen. Das Wesen hatte genug zu tun gehabt, sich gegen die geistige Übermacht des jungen Priesters zu wehren, die ihm schließlich zum Verderben geworden war – eine Übermacht, der sich Hiero erst jetzt langsam bewußt wurde. Aber wenn das Nebelgespenst die drei hatte aufspüren können, dann war das auch anderen möglich. Wie es überhaupt möglich sein konnte, darüber würde er noch nachdenken müssen, aber nicht jetzt. Er lächelte innerlich, als er fühlte, dass sein neugewonnenes Selbstvertrauen nicht mehr war als nur ein vorübergehendes Siegesbewußtsein. Neue, schwererkämpfte Geisteskräfte lagen diesem Gefühl zugrunde. Hiero wußte, ohne sich auch nur zu fragen, woher er das wußte, dass selbst Abt Demero oder andere Mitglieder des Rates jetzt nur mehr schwer mit ihm fertigwerden würden. Er unterdrückte diesen Gedanken zwar sofort als unehrerbietig und eitel, aber er vergaß ihn nicht. Tief im Innern seines Geistes schlummerte dieses Bewußtsein neuer Stärke. Er hatte etwas gelernt, was die Abteigelehrten der psychischen Wissenschaften erst langsam zu begreifen begannen – dass die geistigen Kräfte in geo-
metrischer, nicht in arithmetischer Progression anwachsen, und zwar nach Maßgabe ihrer Nutzung. Die zwei Kämpfe, die Hiero gewonnen hatte – auch wenn der Bär zu seinem ersten Sieg beigetragen hatte –, bewirkten eine ungeahnte Verstärkung seiner geistigen Fähigkeiten, eine Ausweitung seiner psychischen Schlagkraft, die er selbst nie für möglich gehalten hätte. Das Sonderbarste dabei war, dass er es wußte. Müde, aber in so gehobener Stimmung wie selten zuvor, machte er sich daran, Gorm und den Ellk aufzuwecken. Der Bär setzte sich langsam auf, witterte verstört und sandte einen Gedanken aus. Du hast gekämpft. Ich fühle es in der Luft. (Aber da ist) kein Blut. (Und) wir sind nicht aufgewacht. Der Feind, der mit Gedanken kämpft (Frage/Zweifel/Angst). Nicht zum letztenmal verblüfft über die außerordentliche Wahrnehmungsgabe des jungen Bären berichtete ihm Hiero kurz von dem Nebelwanderer und dass der schreckliche Feind vernichtet war. Tot, das ist gut. Aber du bist müde, sehr müde! (Und auch) besorgt, (weil du nicht weißt), wie der Feind uns gefunden (gewittert) hat. Gehen wir weiter. Wir können später fressen. Der große Ellk beschnüffelte seinen Herrn aufmerksam und rümpfte die Nüstern, als er die Spur eines seltsamen Geruchs an dem schlammverschmierten Lederanzug wahrnahm. Hiero sattelte ihn und riß dabei eine ganze Anzahl fetter Blutegel ab; wenig später machten sich die drei im hellen Mondschein auf den Weg.
Der nächtliche Marsch blieb ereignislos. Einmal scheute Klootz vor einer kleinen Wasserschlange, und ein andermal wich Gorm mit unerklärlicher Panik einem stillen, seerosenbedeckten Teich aus, aber sonst geschah nichts. Bei Morgenanbruch lagen sie bereits wieder in einem üppigen Pflanzendickicht versteckt. Es war jedoch kein Schilf mehr, in dem sie Deckung gefunden hatten, sondern eine natürliche Lücke zwischen mehreren runden Büschen mit lorbeerähnlichen, dunkelgrünen Blättern. Wie Hiero richtig annahm, bedeutete das Vorkommen dieser holzigen Stauden, und ebenso der trockene Boden, auf dem sie wuchsen, dass der Palud nun doch zu Ende ging. Als die Sonne an einem wolkenlosen Himmel aufging, schlief er ein. Schon halb im Traum hörte er den Ellk gemächlich wiederkäuen, und dann, sehr schwach und entfernt, das erboste Gezeter einer großen Vogelschar. An diesem Abend, nach Sonnenuntergang, teilte er mit dem Bären wieder ein paar Notrationen, und Klootz verleibte sich dreißig Pfund frischen Grünfutters ein. Danach brachen sie nicht sofort auf, sondern Hiero blieb noch eine Weile sitzen. Den ganzen Tag lang war ihm eine Frage nicht aus dem Sinn gegangen, während er halb schlafend gegen den hohen Sattel gelehnt auf den Abend gewartet hatte. Wie hatte das Sumpfwesen sie gefunden? Der Morast und die Schlammtümpel verschlangen jede Fährte au-
genblicklich. Kein Verfolger war ihnen auf Hörweite nahegekommen. Keinem der drei wäre etwas Derartiges entgangen. Vielleicht hatte ein Flieger hoch aus dem Nachthimmel die drei Wanderer entdeckt? Es konnte sein, dass der Feind Mittel besaß, in der Dunkelheit zu sehen, von denen die Abteigelehrten nichts wußten. Nach einiger Überlegung ließ Hiero diesen Gedanken jedoch fallen. Wäre das die Antwort gewesen, hätte er doch nichts unternehmen können; jedenfalls hielt er es für unwahrscheinlich. Nein, jenes Gedankenfragment, das er dem zerfallenden Gehirn jener wandelnden Fäulnis entrissen hatte, schien anzudeuten, dass das Wesen durch irgend etwas zu seinen schlafenden Opfern geleitet worden war. Aber wodurch? Der Priester zerbrach sich weiter den Kopf über dieses Rätsel, während er Klootz sattelte und aufstieg. Als er unter dem klaren sternenbesäten Himmel dahinritt, grübelte er weiter daran herum. Die Rotte der großen Wasserfrettchen war ganz einfach ihrer Witterung gefolgt. Oder? Oder hatten sie, und vielleicht auch der Flieger, eine bessere Spur gehabt? Hatte ihnen irgend etwas wenn schon nicht den genauen Aufenthaltsort, so doch wenigstens die ungefähre Richtung verraten, in der sie zu finden waren? »Verdammt, wie – was?« knurrte Hiero verärgert. »Als hätte ich eine unsichtbare Fährte hinterlassen, wie eine starke Witterung, die niemals vergeht!« Seine Gedanken wandten sich den unerklärlichen
Künsten der Unreinen zu – und plötzlich holte er scharf Atem, als ihm seine eigene Dummheit bewußt wurde. Er ließ augenblicklich haltmachen. Sie durchquerten gerade sandiges, heideähnliches Gelände, und kaum standen Klootz und der Bär, war Hiero abgesprungen und riß eine der Satteltaschen auf. Binnen Sekunden hatten seine Finger das Gesuchte gefunden und heraus ans helle Mondlicht geholt. Bitterer Zorn über sich selbst erfüllte ihn, als er den verräterischen Gegenstand in der Hand wog. Er lächelte betreten, als ihm klar wurde, dass der Besitz des toten Unreinen Meisters, Snerg, ihnen den abscheulichen Rächer auf die Fersen gehetzt hatte. Der winzige Lichtpunkt in dem kompaßähnlichen Gerät glomm rhythmisch auf, während er auf seiner Ringspur hin und zurück schwang. Der Priester brauchte keine weiteren Beweise mehr, er wußte nun alles. Was immer das sonderbare Instrument darstellte – und es hatte höchstwahrscheinlich eine ganze Reihe von Funktionen – es war eine Art winziges Leuchtfeuer, das den Genossen seines Besitzers jederzeit seinen Aufenthaltsort verriet, so dass er nie ganz die Verbindung mit ihnen verlor. Wütend über seine Dummheit zertrat Hiero das Instrument mit dem Absatz. Die beiden anderen Beutestücke beunruhigten ihn nicht, weil er wußte, wozu der Metallstab diente, und dass das Messer eben nichts weiter als ein Messer war. Leichteren Herzens als zuvor stieg er wieder in den Sattel und bedeutete seinen beiden Gefährten, nach Süden
weiterzumarschieren. Weit weg, an einem Ort, den niemals ein Strahl der Sonne erreicht hatte, wandte sich eine verhüllte Gestalt vor einer großen Tafel voller vielfarbiger Lichter um und wies mit einem Achselzucken auf ein Lämpchen an einer bestimmten Stelle eines komplizierten Gitternetzes, das eben erloschen war.
4 Lucare Als sie im nächsten Morgengrauen, eine ganze Weile vor Sonnenaufgang, wiederum ein Lager für den Tag suchten, war Hiero und den beiden Tieren klar, dass sie nun wirklich den Rand des breiten Sumpfgürtels erreicht hatten. In der letzten Nacht waren sie auf immer weniger offene Wasserstellen gestoßen, und der weiche Schlamm des Moorlandes war zunehmend trockenem Heidesand gewichen. Riesige entwurzelte Bäume, die manchmal noch Blätter trugen, lagen halb in den Sandbänken begraben und zeigten, dass jahreszeitliche Überschwemmungen oder Sturmfluten dieses Land häufig unter Wasser setzten. Kleinere Bodenerhebungen mit festerem Grund hatten verkrüppelte Nadelhölzer oder Zwergbirken anstelle des Riesenschilfs aufkommen lassen, und immer wieder ragten kleine Felsinselchen aus dem Sand zwischen den Wasserkanälen, die mehr und mehr den Charakter von Bächen bekamen. Als Hiero auf einem dieser Felsen, einer rampenförmigen Steinplatte, haltmachte, um sich besser umsehen zu können, entdeckte er eine Reihe großer, runder Buckel, die sich wie schwarze Wellenberge langsam über den mondhellen Sandstrand unter ihm heraufschoben. Der Anblick war ihm rätselhaft, bis er begriff, dass er eine Schar Schnapper dabei überrascht hatte, wie sie ihre ledrigen Eier in den aufgewühlten Sand ablegten. Er stieg ab und wartete zusam-
men mit dem Bären geduldig ab, dass die Riesentiere ihr Geschäft beendeten. Als der Mond schon fast genau im Süden stand, watschelte der letzte der Schildkrötengiganten zurück ins Wasser und verschwand. Für dieses Jahr hatten sie sich ihrer Fortpflanzungspflicht entledigt. Auf der Hut vor etwaigen Nachzüglern kletterten Hiero und der Bär von ihrer Aussichtswarte hinunter und gruben ein Gelege aus, das, wie sie beobachtet hatten, am seichtesten verscharrt war. Gorm verschlang heißhungrig drei der golddottrigen, frischen Eier, die einen Durchmesser von gut einer Handlänge aufwiesen, während Hiero eins auslöffelte. Acht weitere packte er in die Satteltaschen – alle, die er unterbringen konnte – und dann brachen die drei wieder auf, der Bär ziemlich schwerfällig, da er vollgefressen war wie schon lange nicht mehr. Das Gelände stieg nun leicht an. Plötzlich zog Hiero verblüfft die Zügel an. Vor ihnen ragte eine dunkle Hügelkette empor, die jede Sicht auf das Land dahinter unmöglich machte. Es war ihm ein Rätsel, woher diese geheimnisvollen Berge auf einmal aufgetaucht waren, denn von weiter weg hatten sie nicht die Spur von ihnen sehen können. Er beschloß, an Ort und Stelle zu lagern und wählte einen breiten, halb überwachsenen Felsspalt als Versteck. Das Rätsel der plötzlich erscheinenden Hügel konnte bis zum Morgen warten, der nicht mehr fern war. Als die Sonne sich langsam über den Horizont heraufschob, spähte Hiero hinaus und brach in erleichtertes
Gelächter aus, das ihm einen fragenden Blick des jungen Bären eintrug. Die ›Berge‹, die er ein paar Stunden zuvor gesehen hatte, waren nichts anderes als ein Wall hoher Stranddünen jenseits eines kaum eine Meile breiten, staudenbewachsenen Streifens, durch den sich ein paar kleine Bäche zogen. Er und, nicht zu vergessen, seine beiden Gefährten, hatten den großen Sumpf überwunden! Lange lag er auf dem warmen Felsen, ließ sich die Morgensonne ins Gesicht scheinen und besah sich die Dünen. Nicht weit dahinter mußte die Inlandsee liegen. Von der Metz-Republik weit im Nordwesten führte eine Straße zu diesem Süßwassermeer, die die Küste im äußersten Westen berührte. Hiero wußte jedoch, daß er sehr weit von der geschäftigen Hafenstadt Namcush am Ende der Straße entfernt war. Er befand sich hundert Meilen weiter östlich, in einer Gegend, in der es höchstwahrscheinlich überhaupt keine Siedlungen gab, und wenn doch, so waren sie nur ein paar mißtrauischen und verschwiegenen Händlern bekannt. Die Angehörigen der Handelszünfte waren meist weitgereiste Leute, die jedoch oft irgendwelche heidnischen Bekenntnissen anhingen und folglich wenig Sympathie für die Abteien bekundeten, oder für die Republik, ja überhaupt für irgendeine Form von Regierungsautorität, wenn man von dem lockeren Bündnis der Zünfte absah. Sie waren nicht Männer, die leichtfertig Informationen preisgaben, und mehr als einer stand im Verdacht, mit den Unreinen
verbündet, wenn nicht gar ihr Diener zu sein. Trotzdem konnte man auf die Kaufleute nicht verzichten, und einige von ihnen waren tapfere und tüchtige Männer, die den Abteien als Kundschafter und geheime Sendboten dienten und oft mit einem schrecklichen Tod dafür bezahlen mußten. Es waren vor allem von solchen Händlern gelieferte Informationen sowie manchmal über tausende Meilen verbreitete Gerüchte, die Hiero in seinem Gedächtnis zu jederzeitigem, mnemonischem Abruf gespeichert hatte. Alle Daten über den östlichen, mittleren oder südlichen Teil der Inlandsee waren jedoch ungenau, veraltet und mit hoher Wahrscheinlichkeit unzuverlässig. Eine Anzahl von Schiffen befuhr die Inlandsee; manche waren nicht mehr als Ruderkähne, doch die meisten trugen Segel. Piraten führten einige, Kaufleute und Händler die anderen. Manchmal war es schwer, dabei einen Unterschied festzustellen, denn wie bei den Wikingern der uralten Legenden schien manch einem sonst ehrlichen Kauffahrer ein in Seenot geratener Kollege allzu leichte Beute, als daß er der Verlockung hätte widerstehen können. Und über den Untiefen, zwischen den zahllosen Inseln des Binnenmeeres lauerten die Unreinen in ihren unheimlichen Schiffen. Auch riesige Tiere, Seeungeheuer gab es, die manchmal ihre Schlupfwinkel in den Tiefen verließen, um in Küstennähe zu jagen. Von anderen der namenlosen Monster wiederum hieß es, sie seien Pflan-
zenfresser, doch sie waren nicht weniger gefährlich. Die schrecklichste Bedrohung jedoch war so alt wie die Inlandsee selbst, die vor langer Zeit aus fünf einzelnen Seen bestanden hatte, wie die ältesten der von den Abteien gehüteten Landkarten zeigten. Dies waren die Orte des Unsichtbaren Todes, wo die tödliche Strahlung der letzten Weltkatastrophe immer noch Luft und Wasser vergiftete. Vielen von ihnen hatten die Jahrtausende zwar die Vernichtungskraft genommen, aber immer noch riskierten kühne Freibeuter mitunter ein elendes Ende, um eine der Vergessenen Städte an der Südküste zu plündern, die vor mehr als fünftausend Jahren Ziele des ersten Vernichtungsschlags gewesen waren. An einigen dieser gefürchteten Stätten lauerten auch unbekannte Seuchen, so daß ein Plünderer entweder an Strahlungsverbrennungen zugrundegehen konnte, oder, wenn er diesem Schicksal entging, an einer schrecklichen Krankheit, mit der er noch seine Familie und seine Nachbarn ansteckte, bevor er selber starb. Das war auch der Grund, warum einer, der die Vergessenen Städte aufsuchte – selbst jene, die die Zeit und die Elemente gesäubert hatten – dies heimlich tat. Er lief sonst Gefahr, von seinen Kameraden (falls sie nicht selbst Piraten waren), kurzerhand erschlagen zu werden, weil er sie einer schrecklichen Ansteckung ausgesetzt hatte. Die Küsten und Gewässer des Binnenmeers waren auch Heimstätte der verschiedensten Nomadengruppen, von denen manche als Fischer von der See selbst lebten,
andere wiederum ein halb seßhaftes Leben führten, Strandgut sammelten, jagten und vielleicht ebenfalls fischten. Auf alle Fälle waren die Inlandsee und ihre Umgebung eine belebte Welt für sich, in der ein Unvorsichtiger zu jeder Tages- und Nachtzeit auf jede erdenkliche Art und Weise zu Tode kommen konnte. Hiero bedachte dies alles, während er zu den Dünen hinüberstarrte und sich vorzustellen versuchte, wie es jenseits von ihnen aussah. Nach einer Weile wurden seine Gedanken unmerklich zu Träumen – er schlief ein, und die Sonne brannte auf sein bärtiges Gesicht herunter, sein zerzaustes, schlammbespritztes schwarzes Haar und seine morastbedeckten Kleider. Wie ein Stück menschliches Treibgut sah er aus, das die Sonne trocknete, und nicht wie ein Per der Universalkirche und ein ehrbarer Abteigelehrter. Da er begierig darauf war, weiterzukommen, ließ er Klootz an diesem Abend nur kurze Zeit zum Weiden. Der junge Bär war von Hieros Aufregung angesteckt worden und drängte ebenso ungeduldig wie er zum Aufbruch. Nachdem die beiden etwas von dem nun fünf Tage alten Birkhuhn (das ein bißchen überreif zu werden begann) und ein paar Stück Zwieback hinuntergeschlungen hatten, machten sie sich auf den Weg, alle drei erleichtert, daß der Sumpf mit seinen Gefahren und Strapazen nun hinter ihnen lag. Der monderhellte Gebüschgürtel zwischen ihnen und den Dünen bestand zum Großteil aus Beerensträuchern,
durchsetzt mit vereinzelten, stachelstarrenden Kugelkakteen. Die rotbraunen Beeren schienen reif zu sein, und Gorm kostete ein paar, worauf er sofort begann, sich ganze Pranken voll ins Maul zu schaufeln. Der Ellk verschwendete erst keine Zeit mit Pflücken, sondern futterte ganze Zweige in sich hinein. Hiero kannte die Sorte zwar nicht, aber er aß trotzdem ein gutes Pfund von den saftigen süßen Früchten mit Genuß. Als sie alle drei nicht mehr konnten, wanderten sie weiter, in einem ihren vollen Mägen angemessenen Tempo. Die hellen Sanddünen, die sie bald erreichten, erwiesen sich als kaum dreißig Meter hoch und waren überdies von seichten Rinnen voll Strandgras durchzogen, so daß es kein Problem war, ihren Kamm zu erklimmen. Binnen kurzem standen die drei Wanderer auf dem Scheitel einer Düne und erfreuten sich an dem Anblick, der sich ihnen im Licht des nahezu vollen Mondes bot. Vor ihnen ausgebreitet lag eine weite Bucht der Inlandsee. Der weiße Sandstrand, hier und da mit angeschwemmten Holz und allerhand Treibgut bedeckt, war kaum tausend Schritte von ihnen entfernt. Nach Süden hin erstreckte sich, so weit das Auge reichte, die fast unbewegte Wasserfläche, die am Horizont unmerklich in den dunklen Nachthimmel überging. Zu beiden Seiten der Bucht, die vielleicht zehn Meilen breit sein mochte, konnte man eben noch die vorspringenden Landzungen erkennen, die sie schützten. Kaum ein Windhauch war zu spüren. Das Meer war ruhig wie ein Teich. Die für
ihre gewaltigen Stürme berüchtigte Inlandsee schlief, ungestört von Wind und Wetter. Still war die Szene – aber nicht ohne Leben. Auf dem Wasser gerade vor ihnen schwammen große, runde Blätter von mehreren Metern Durchmesser, drängten sich aus der Buchtmitte gegen den Strand heran wie glänzende, kreisförmige Flöße. Hier und da öffneten sich gewaltige weiße Blüten, die einen betörenden Duft ausströmten, der so stark war, daß Hiero ihn fast greifen zu können glaubte. Im offenen Wasser zwischen den großen Blattflößen tummelten sich dunkle Riesenkörper, wirbelten es auf, zerspritzten es zu Gischt und verschwanden, nur um vierzig Meter weiter wiederum die glatte Wasseroberfläche aufzuwühlen. Es war eine Herde gewaltiger Wassertiere, die mit verspieltem Herumplatschen in den seichten Küstengewässern Futter suchten. Wenn die Riesenleiber untertauchten und wieder emporschossen, wurden kleine Wellen gegen den glatten Sandstrand geworfen, und die großen runden Blätter der Wasserlilien schwankten unruhig. Mit einem Seufzer setzte sich Hiero hin und sah ihnen zu. Seine Hoffnung, ein dringend nötiges Säuberungsbad nehmen zu können, war im Moment offensichtlich nicht zu erfüllen. Auch wenn nachts die Entfernungen täuschten, waren diese Biester so groß, daß eins von ihnen mit vieren von Klootz' Sorte fertigwerden konnte, so stark der Ellk auch war. Die beiden Tiere witterten und
schnaubten, aufgeregt durch die fremdartigen Gerüche und den Lärm, den die herumtollenden Meeresgiganten machten. Hiero bedeutete ihnen, sich wie er hinzulegen und zu warten. Endlich kam eins der Wesen aus dem Wasser und watschelte gerade unterhalb der drei Beobachter an den Strand. Es hatte einen massigen, langen Körper auf vier kurzen, stämmigen Beinen, die in drei lange Greifzehen ausliefen. Der große, stumpfe Kopf war, wenn man von dem langen Rüssel absah, beinahe faßförmig. Auf einmal gähnte das Riesentier, weit einen blassen Rachen aufsperrend, der von zwei dicken, im Mondlicht aufblitzenden Stoßzähnen flankiert wurde. Das Wasser rann ihm in breiten Bächen vom Rücken, und nach einer Weile begann sein kurzer, plüschartiger Pelz zu trocknen und einen helleren Farbton zu bekommen. Seinem Aussehen nach mochte dieses Geschöpf eine Kreuzung aus Wildschwein, Flußpferd und Seelöwen der Zeit vor dem ›Tod‹ sein, aber das war wohl kaum mehr mit Sicherheit festzustellen. Es begann gemütlich das kurze Strandgras abzuweiden, und dieses friedliche Verhalten im Gegensatz zu seinem furchteinflößenden Äußeren ließ Hiero in ein prustendes Lachen ausbrechen. So leise das Geräusch auch war, das große Meerestier hörte es, und seine kleinen Ohren flappten aufgeregt hin und her, während es sich mißtrauisch umschaute. Obwohl nichts zu sehen war, kam ihm die Gegend anscheinend nicht geheuer vor, und es trottete schwerfällig, mit
unruhig zuckendem Ringelschwänzchen, wieder ins Wasser zurück und gesellte sich zu seinen Artgenossen zwischen den ungeheuren Wasserlilienblättern. Als er zufällig einen Blick auf das offene Wasser außerhalb der Bucht warf, bot sich dem Priester ein noch viel erstaunlicherer Anblick, der ihn gleichermaßen erschreckte wie faszinierte. Aus dem spiegelglatten Meer vor der Bucht schoß ein schwarzer, stromlinienförmiger Schatten hoch in die mondhelle Nacht, ein gewaltiger, schlanker Fisch mit einem spitzen Maul, der genauso aussah wie die Hechte, die Hiero in den kühlen nördlichen Seen geangelt hatte. Für einen Augenblick glaubte er wieder in den heimatlichen Nadelwäldern zu sein, einen am Haken hochspringenden Fang zu beobachten, und vergaß, daß es das warme Binnenmeer des Südens war, das er sah. Als er den Kopf schüttelte, um sich zurechtzufinden, wurde ihm schlagartig die Größenordnung des ganzen klar. »Gott im Himmel!« murmelte er fassungslos. Der große, geschmeidige Körper schlug mit einem derartigen Knall auf die glitzernde Wasserfläche, daß es selbst auf die Entfernung wie die Explosion einer riesigen Werfergranate klang. Der Widerhall an den fernen Klippen war deutlich zu vernehmen. Dieser Fisch hätte eins von den massigen Wassertieren da unten mit zwei Bissen verschlingen können! Verblüfft starrte er auf die Bucht hinunter. Ein leichtes Kräuseln des Wassers schaukelte die Riesenblätter, ein
paar kleine Wellen schlugen an den Strand, aber sonst rührte sich nichts mehr. Nur einige dünne, irisierende Ölstreifen auf dem Wasser bewiesen ihm, daß er die Szene nicht geträumt hatte. Das Auftauchen dieses Leviathans draußen vor der Bucht hatte die Herde von riesigen Wasserschweinen in die Flucht gejagt; sie waren so schnell und lautlos verschwunden, als wären sie überhaupt nicht dagewesen. Er ließ seine ungeduldigen Gefährten noch eine Weile warten, aber als die Wasserfläche weiterhin leer blieb und kein Ton zu hören war, schloß er, daß die Meerestiere in die Tiefe getaucht und fortgeschwommen sein mußten. Auf alle Fälle war der angetrocknete Schlamm und Schmutz von ihrer Sumpfdurchquerung so lästig, daß sie alle drei nach einem Bad lechzten. Den Werfer schußbereit gegen die Hüfte gestützt trieb Hiero sein Reittier den seeseitigen Hang der Düne hinunter. Klootz setzte sich einfach auf die massigen Hinterkeulen und rutschte über den Sand, mit den gespreizten Vorderläufen bremsend, und der junge Bär tat es ihm nach. Am Strand unten hielten sie einen Augenblick inne und sahen sich um, während Ohren und Nüstern die leichte Brise nach Anzeichen von Gefahren durchforschten. Da sich nichts sehen, hören oder riechen ließ, trotteten sie zum Ufer. Zu seiner tiefsten Empörung mußte der Ellk, nachdem sein Herr ihn abgesattelt hatte, am Strand Wache halten. Ärgerlich prustend stampfte er fort und
bezog auf einem kleinen Sandhügel in einiger Entfernung Posten, fassungslos das immer noch bastüberzogene Geweih schüttelnd. Gorm watete vorsichtig eine Handbreit tief ins Wasser und ließ sich hineinplumpsen. Begeistert schnaufend rollte er sich hin und her. Hiero zog mühsam seine vor Schlamm steifen Kleider aus und ließ sie im Seichten, mit einem Stein beschwert, von den Wellen durchspülen. Danach reinigte er seine ungefütterten Lederstiefel sorgfältig mit einem Messer und einer harten Bürste, die er aus einer Satteltasche geholt hatte. Nun war auch er zum Baden bereit. Er ging jedoch ebenfalls nicht weit hinein, obwohl er ein ausgezeichneter Schwimmer war. Was er bisher von den Bewohnern der Inlandsee gesehen hatte, war das beste Heilmittel für etwaige Wünsche, im verlockend klaren Wasser der Bucht zu schwimmen. Selbst hier in unmittelbarer Strandnähe hielt er die Augen offen, um ein verdächtiges Kräuseln der Oberfläche sofort zu bemerken. Seine überfällige Säuberung ging jedoch ungestört vonstatten. Als er endlich genug hatte, stieg er heraus und scheuchte auch den jungen Bären aus dem Wasser, der beinahe um ein Drittel kleiner wirkte, weil ihm der triefende Pelz so glatt am Körper klebte. Jetzt durfte sich auch der Ellk ins Wasser stürzen; übermütig grunzend wälzte er sich auf dem weichen Sandgrund und machte sich danach über die in Reichweite befindlichen Wasserlilienblätter her, tauchte sogar nach den jungen Trieben und Wurzeln, was Hiero ziem-
lich unruhig machte. Erst als auch Klootz wieder heraußen war und sich von der warmen Luft der Augustnacht trocknen ließ, legte sich seine Besorgnis. Nun rasierte sich Hiero noch – mehr schlecht als recht, weil er sich ganz auf sein Tastgefühl verlassen mußte, und stutzte auch den kurzen Schnurrbart sowie die Haarsträhnen, die ihm schon allzuweit über die Ohren gehangen hatten. Als er sich saubere Wäsche und seine zweite Ledergarnitur aus der Satteltasche geholt und angezogen hatte – die gewaschenen Kleider lagen zum Trocknen über ein paar Felsbrocken gebreitet –, konnte er das befreiende Gefühl voll auskosten, das einem Sauberkeit bereitet, wenn man längere Zeit zwangsläufig hat schmutzig bleiben müssen. Ein kleines Stück landeinwärts ragte ein Felsvorsprung aus verwittertem Granit durch die Sanddünen, die sich im Lauf der Jahrhunderte an seinen Flanken aufgehäuft hatten. Hier, dachte Hiero, war ein ausgezeichneter Lagerplatz für den nächsten Tag. Der Felsen bot Deckung gegen die See hin und wies auf der Landseite unter einem Überhang einen gut zugänglichen, höhlenähnlichen Spalt auf. Bald war das ganze Gepäck in der Felsnische verstaut, und Hiero und der Bär schnarchten friedlich um die Wette, während der treue Klootz, genüßlich wiederkäuend und ab und zu langgezogen rülpsend, vor dem Eingang der kleinen Höhle Wache schob. Kurz bevor Hiero eingeschlafen war, hatte er wieder
in der Ferne das Kreischen von vielen Vögeln gehört, das diesmal von einem gedämpften, vibrierenden Ton begleitet wurde, den er nicht identifizieren konnte. Noch während sein müdes Gehirn einen zusammenhängenden Gedanken über dieses sonderbare Geräusch zu formen suchte, überkam ihn der tiefe, ruhige Schlaf der Erschöpfung. Er erwachte erst am späteren Vormittag, fühlte sich aber so gut wie schon seit einer Woche nicht mehr. War es wirklich nur eine Woche her, daß er die einsame, staubige Waldstraße weit im Norden verlassen hatte? Er kroch aus dem kleinen Spalt zwischen den Felsen und stellte fest, daß ein warmer, frischer Wind von der Bucht hereinblies. Unzählige Schaumkrönchen glitzerten auf dem dunkelblauen Wasser. Weiter draußen ließ sich eine Schar weißer Schwäne in den Wellen treiben, lärmend und sich plusternd. Es sah aus, als wäre ganz unzeitgemäß ein Haufen weicher Driftschnee aus dem hohen Norden hergeweht worden. Hieros Reisegenossen schienen in recht ausgelassener Stimmung zu sein, da sie beide verspielt über den Sand tobten. Immer wieder stürzte sich der kleine Bär in scheinbarer Wut knurrend auf den Ellk, worauf Klootz sich nach Kräften bemühte, ihn mit dem riesigen Schaufelgeweih aufzuspießen, ihn aber immer um eine gute Bärenlänge ›verfehlte‹. Das wiederum ließ Gorm in einen schadenfrohen Rundtanz ausbrechen, bei dem er vergnügt Jagd auf sein eigenes Stummelschwänzchen mach-
te, während Klootz sich aufbäumte und in gespielter Wut mit den breiten Vorderhufen die Luft durchpflügte. Die übermütige Rauferei der beiden amüsierte Hiero dermaßen, daß er im ersten Augenblick die Gefahr vergaß, der sie sich aussetzten, wenn jener Himmelsspion sie hier suchte. Als er daran dachte, suchte er hastig den sonnenhellen Himmel ab, aber außer ein paar kleinen, bauschigen Wölkchen war nichts zu sehen. Trotzdem war er beunruhigt. Sie waren mehreren höchst unangenehmen Todesarten nur um Haaresbreite entgangen, und es lag bloß einen knappen Tagesritt zurück, daß er das verräterische Instrument zerstört hatte. Übermut konnte ihnen allen genauso leicht das Leben kosten, als wären sie unvorsichtig in eine Falle getappt. Gerade wenn man sich am besten fühlte, war man am wenigsten auf der Hut, und das hatte mitunter tödliche Folgen. Er konnte jedoch nichts Gefährliches entdecken und wünschte sich beinahe, ebenfalls ein Vierfüßler zu sein und bei dem Spiel mitmachen zu können. Während er den beiden zusah und immer wieder einen wachsamen Blick in die Runde warf, überlegte er seine weiteren Pläne. Seit mehr als vier Tagen war das fliegende Ding nun nicht mehr aufgetaucht. Anscheinend hatte es seine Wacht aufgegeben. Konnten sie es wieder riskieren, bei Tag zu wandern? Der Weg nach Osten, entlang der Küste, würde schon tagsüber gefährlich genug sein, aber dann konnten sie wenigstens sehen, was ihnen bevorstand. Man mußte es probieren, beschloß er. Wenn er den
Flieger nicht mehr entdeckte, oder sonst eine noch nicht vorhersehbare Gefahr, dann würden sie von jetzt an tagsüber marschieren. In diesem Augenblick bemerkten ihn die beiden Tiere und galoppierten heran, daß der Sand aufspritzte. Euch geht's gut, hm? sendete Hiero. Ihr seid mir feine Wächter! Wie leicht hätte mich etwas fressen/fangen/töten können! Beide spürten natürlich, daß er es nicht ernst meinte, und scherten sich nicht im mindesten darum, außer daß Klootz ihm einen sanften Schubs mit einer Geweihstange versetzte, der ihn aus dem Gleichgewicht brachte. Um nicht zu fallen, griff er hastig nach der erstbesten Sprosse. Dabei fühlte er, daß das Horn unter dem weichen Bast schon recht hart war. Tatsächlich löste sich unter seinem Griff ein langer Baststreifen. Ah! dachte er. Nun steh mal still, du Ungeheuer. Ich will versuchen, dich (ein bißchen) zu verschönern (kratzen/schälen/reiben). Der Ellk schüttelte heftig seinen ausladenden Kopfschmuck und blieb dann ruhig stehen, während Hiero jede Sprosse einzeln untersuchte, um festzustellen, wo der samtige Überzug sich schon lockerte. Wie alle männlichen Schalentiere warf Klootz jedes Jahr sein Geweih ab, und das Wachsen eines neuen schwächte ihn nicht nur, sondern machte ihn leicht reizbar, vor allem, wenn der Bast sich abzuschälen begann und dabei abscheulich juckte. Die Biowissenschaftler der Abteien hatten vor
langer Zeit den Gedanken aufgegeben, das Geweih wegzuzüchten. Mehr als ein halbes Jahr lang stellte es eine prachtvolle Verteidigungswaffe dar; außerdem verlieh es den Ellkstieren ein Gefühl der Kraft und Überlegenheit. Man hatte entschieden, daß es sich nicht lohnte, auch wenn die Tiere dadurch gutmütiger geworden wären. Schließlich stand es jedermann frei, zum Reiten oder Ziehen eine geweihlose Ellkkuh zu verwenden, was vor allem die Bauern taten. Vorsichtig zog Hiero mit zwei Fingern einen Streifen ab, ließ jedoch los, wenn er Widerstand spürte. Er und Klootz wußten genau, inwieweit man nachhelfen durfte, denn schon sechs Winter waren vergangen, seit sie einander gewählt hatten bei der großen alljährlichen Musterung der Kälber. Als nächstes holte Hiero einen kleinen Stahlspiegel hervor und brachte sein Gesicht in Ordnung – er rasierte sich und erneuerte seine Rangabzeichen, die bereits ganz verwischt waren. Danach packte er zusammen. Wenig später waren sie unterwegs, Hiero auf dem Rücken seines Reittiers, der junge Bär als Vorhut über den harten Sand voraustrabend. Es dauerte nicht lange, und sie stießen auf Anzeichen, daß sie wieder in von Menschen besuchten Gefilden waren. Vor einem Haufen Schwemmgut, Aststücken und trockenem Seegras, am Strand einer kleinen Bucht blickte ein reingewaschener menschlicher Schädel aus leeren Augenhöhlen zu Hiero auf. Er stieg ab und untersuchte
den Fund nachdenklich. Im Hinterkopf klaffte ein gezacktes Loch, und ein paar angetrocknete Gewebereste am Rand ließen darauf schließen, daß es noch nicht allzu lange her war, daß dieser Mensch einen gewaltsamen Tod gefunden hatte. Hiero legte den Schädel ehrfürchtig wieder hin, stieg auf und ritt weiter. Es mochte ein Unfall gewesen sein, und sicherlich gab es tausende Möglichkeiten, diesen Fund zu erklären – aber warum war es nur ein nicht sehr alter Schädel, und sonst keine einzigen Knochen? Was war mit dem Körper geschehen? Das Loch sah aus, als hätte es etwas (oder jemand) auf das Gehirn abgesehen gehabt. Er verzog das Gesicht und sprach dann ein Stoßgebet für die Seelenruhe des Menschen, dem der Schädel gehört hatte, wobei er aus Nächstenliebe annahm, daß der Mann (oder die Frau) Christ gewesen war. Gegen Mittag rasteten sie kurz im Schatten eines hohen, schief wachsenden Baums, wie Hiero noch keinen gesehen hatte. Er erinnerte sich an Bilder und erkannte, daß es sich um eine Palmenart handeln mußte, die es im Norden nicht gab. Die Winter konnten hier nicht sehr streng sein, wenn echte Palmen gediehen. Die Palmettostauden der Taig überstanden die Kälte nur, weil ihre Stämme bis hinaus zu den Blättern unter der Erde lagen. Vermutlich befand er sich viel weiter südlich, als er angenommen hatte. Während der stillen, heißen Stunden des frühen Nachmittags trafen sie nur einmal auf ein Lebewesen,
das ihnen hätte gefährlich werden können, doch die Begegnung verlief harmlos. Sie hatten eine Felszunge umrundet, die den Sandstrand unterbrach und bis ins seichte Uferwasser reichte, als sie plötzlich eine große gelbe Raubkatze mit schwarzen Flecken vor sich sahen, die auf dem nächsten trockenen Sandflecken an einem Kadaver zerrte. Die Katze zeigte blutige Fänge und fauchte warnend. Geh! Hiero entschloß sich unvermittelt, etwas auszuprobieren und wandte eine seiner eben erst entdeckten geistigen Waffen an. Flieh! Aus dem Weg, oder wir töten dich! Das Raubtier fuhr zusammen, als hätte es ein Stockschlag getroffen. Es legte die Ohren zurück, miaute entsetzt wie ein überdimensionales Kätzchen, das einen Tritt bekommen hat, und war binnen Sekunden mit ein paar eiligen Sätzen zwischen den Dünen verschwunden. Für einen Moment raubte der ungeahnte Erfolg Hiero die Sprache, dann brach er in Lachen aus. Er stieg ab und hob den Kadaver auf, ein kleines, antilopenähnliches Tier mit Streifen, das die Katze eben erst gerissen haben mußte, denn sie hatte noch kaum davon gefressen. Ein leicht errungener Fleischvorrat für ihn und Gorm! Er befestigte das Tier sorgfältig vorne am Sattel. Klootz wackelte nicht einmal mit einem seiner langen Ohren. Den Geruch von Blut kannte er, und er hatte schon häufig viel unangenehmere Lasten als diese zu tragen gehabt.
Einige Zeit später warf der Priester zufällig einen Blick hinaus aufs Meer – und zog die Zügel so scharf an, daß sein Reittier ärgerlich schnaubte. Tut mir leid, sendete Hiero geistesabwesend. Weit draußen auf dem blauen, gischtgefleckten Wasser zeichneten sich zwei kleine, dunkle Dreiecke gegen den Himmel ab. Das Schiff bewegte sich in die gleiche Richtung wie sie, stellte der Mann nach kurzer Beobachtung fest, nur war es viel schneller. Außerdem schien es sich auf seinem Ostkurs von der Küste zu entfernen, denn während er noch hinschaute, versanken die Segel langsam unter den Horizont. Beim Weiterreiten nahm er sich vor, in Zukunft das Meer genauer im Auge zu behalten. Mit einem Fernrohr waren Klootz und sein Reiter auf dem hellen Sand wahrscheinlich auf große Entfernung wahrzunehmen, und er hatte nicht den Wunsch, in einer dieser heidnischen Galeeren zu enden, von denen er gelesen hatte, an ein Ruder gekettet und halb verhungert. Im übrigen besaßen auch die Unreinen Schiffe, geheimnisvolle Fahrzeuge, die durch die weniger belebten Gewässer des Süßwassermeeres kreuzten. Sie näherten sich einer dunklen, felsigen Landzunge, die an die hundert Meter hoch sein mochte und bis ins Wasser vorstieß, als sie den Lärm zum erstenmal vernahmen. Es war mittlerweile später Nachmittag, und sie hatten längere Zeit nichts Wichtiges mehr bemerkt. Hiero fragte sich eben, wie tief das recht bewegte Wasser an der
Spitze der Felsklippe sein mochte, und ob es nicht sicherer, wenn auch langwieriger sein würde, das Hindernis landeinwärts zu umgehen, als über ihm ein ohrenbetäubendes heiseres Gekreisch losbrach, wie das zehnfach verstärkte Zetern einer gierigen Möwe. Wieder und wieder schrillte es über die Felsen, und dann sah er, woher es kam. Über den Rand der hochaufragenden Klippen vor ihnen schoß ein riesiger brauner Vogel hoch, dessen Flügelspannweite sicher nicht weniger als zehn Meter betrug. Bevor er wieder hinter die Felsen hinuntersegelte, riß er den langen Hakenschnabel auf und stieß wieder den heiseren Schrei aus, den Hiero kurz vorher gehört hatte. Vielstimmiges, gedämpftes Kreischen antwortete wie ein Echo und bewies, daß gerade außer Sicht noch mehr von den großen Vögeln in der Luft sein mußten. Dann mischte sich plötzlich das unverwechselbare Dröhnen einer Trommel unter das Vogelgeschrei, ein langer, dumpf rollender Donner. Als der Trommelwirbel aussetzte, untermalte das Freudengeheul einer größeren Menschenmenge das durchdringende Gezeter der Raubvögel. Dann kam wieder das tiefe Trommelrollen und übertönte für einen Augenblick den übrigen Lärm. Das war das Geräusch, das Hiero am Morgen des Vortags aus der Ferne gehört hatte! Auf den dringenden Befehl seines Herrn hin galoppierte Klootz auf das seeseitige Ende der Klippen zu. Mit heraushängender Zunge hetzte Gorm hinterdrein, nur
mit Mühe Schritt haltend. Es war nicht nur Neugier, die Hiero den Ellk zu den Felsen treiben ließ. Nur am Fuß der Klippen konnten sie einigermaßen Deckung finden, falls einer der großen Vögel sie bemerkte und herabstieß. Dieser riesige gekrümmte Schnabel hatte recht ungemütlich ausgesehen, und der Priester machte sich keine Illusionen, daß er etwa mit mehreren Angreifern dieser Größenordnung fertigwerden könnte. Der Ellk erreichte den Felsen, watete mit viel Gespritze durch das seichte Wasser hinaus und tastete sich dann vorsichtig durch die wellenumspülten Felsbrocken am äußeren Ende der Granitkuppen. Endlich lugten Tier und Reiter – beide mit äußerster Vorsicht – um den letzten Felsvorsprung, um die Ursache des Lärms zu erkunden. Der junge Bär war etwas zurückgeblieben, in weiser Voraussicht erst einmal abwartend, wie es den beiden ergehen würde. Was Hiero auffiel, war der Pfahl und das Mädchen. Dann erst sah er die Vögel, zuletzt die Zuschauer. Den Schamanen oder Stammeszauberer und seine Gesellen bemerkte er zunächst nicht. Der glatte Sandstrand stieg landeinwärts leicht bis zu einer hohen, künstlich wirkenden Lehmstufe an, die den Blick weiter ins Land hinein versperrte. Der Platz sah dadurch wie eine Art Arena oder Amphitheater aus, auf der einen Seite begrenzt durch die Klippe, hinter der Hiero und Klootz hervorspähten, auf der anderen durch
einen ähnlichen felsigen Vorsprung ein paar hundert Meter weiter. Der Sand der kleinen Bucht war leergefegt und blitzsauber, nur der große Holzpflock in der Mitte störte die harmonische Kurve des glatten, weißen Strandes. Ein sehr dunkelhäutiges, fast nacktes Mädchen war mit einem vielleicht zehn Meter langen, gedrehten Lederriemen an diesen Pfahl gebunden. Ein zerlumpter Lendenschurz war ihre einzige Bekleidung; sie trug auch keine Schuhe oder Sandalen. Ihre dichten, dunklen Locken flogen nur so, wenn sie sich herumwarf, duckte und weiterrannte. Der lange Riemen war an die Fessel geknotet, die ihre Handgelenke vorne zusammenhielt. Sie konnte also alles tun, was sie wollte, aber nur in einem Umkreis von zehn Metern um den Pfahl. Diese begrenzte Bewegungsfreiheit nützte sie jedoch voll aus; sie sprang und rannte, warf sich zur Seite, ihr Körper ein schweißglänzender dunkler Schatten auf dem Sand, sie fiel hin, duckte sich, lief weiter in ihrem aussichtslosen Kampf mit dem Tod. Mit den riesigen Raubvögeln! Hiero sah auf einen Blick, daß es mindestens acht sein mußten. Sie sahen wie gigantische Möwen aus, waren aber dunkelbraun statt weiß oder grau und besaßen mörderische, in einen Haken auslaufende Schnäbel. Immer wieder stießen sie auf ihr angebundenes Opfer herunter. Zwischen ihren langen Klauen hatten sie Schwimmhäute wie Möwen, so daß sie anscheinend nur die scharfen Schnäbel als Waffe
verwenden konnten. Das genügte jedoch. Trotz verzweifelter Anstrengung konnte das Mädchen sie nicht mehr lange abwehren, das war klar. Hiero sah, wie sie stolperte, dabei aber blitzartig mit den gefesselten Händen eine Sandwolke hochschleuderte und einen heransausenden Angreifer damit blendete. Mit einem Wutgekreisch wich der Vogel zurück. Eine lange, blutige Wunde auf dem dunkelglänzenden Rücken bewies jedoch, daß das Mädchen nicht alle Angriffe so erfolgreich hatte abwehren können. Als der Vogel abdrehte, heulte die Menschenmenge verächtlich auf. Das erst lenkte Hieros Aufmerksamkeit auf die Zuschauer. Sie saßen unter einem aus Zweigen geflochtenen Dach auf Lehmstufen, die in den künstlichen Wall am Rand der Arena geschnitten waren. Die Dachkonstruktion war natürlich nicht nur ein Sonnenschutz, sondern sollte die Vögel daran hindern, sich ein Opfer in der tobenden Zuschauermenge zu suchen. Die Leute waren allesamt sehr hellhäutig, wie Hiero feststellte, Angehörige einer archaischen Rasse, wie man sie manchmal unter den Händlern aus dem Süden antraf. Die alten Bücher berichteten auch viel von dieser Rasse. Fast alle Zuschauer hatten hellbraunes oder sogar blondes Haar, und alle – Männer, Frauen und Kinder – waren sie spärlich bekleidet und gut bewaffnet, zweifellos zum zusätzlichen Schutz gegen die Vögel. Jetzt fuchtelten sie mit allen nur möglichen Sorten von Waffen, Schwertern, Speeren und Streitäxten und brüllten den fliegenden
Bestien aufmunternd zu. Seitlich von ihnen stand eine Gruppe von Männern in bunten Schürzen und furchterregenden Masken mit hohen Federbüschen vor einer Reihe riesiger, glattpolierter Trommeln. Diese Leute waren durch nichts vor den Vögeln geschützt, was sie nicht im geringsten zu beunruhigen schien. Während Hiero sie musterte, beugten sie sich wieder über die Trommeln und ließen auf Anweisung des am phantastischsten ausstaffierten Maskenträgers, der offenbar eine Art Hohepriester darstellte, die hohen, schwarzen Zylinder neuerlich dröhnen. Der dumpfrollende Donner verhallte, und wieder brüllten die Zuschauer, bis das Antwortgekreisch der Vögel die menschlichen Stimmen übergellte. Dann plötzlich trat lautlose Stille ein, als sich alle in der Arena entsetzt einem völlig unerwarteten Anblick zuwandten. Hiero hatte fast ohne zu denken den Werfer aus dem Sattelhalfter gerissen und Klootz anzugreifen befohlen. Er hielt noch zwei weitere der kleinen Granatgeschosse zwischen den Zähnen in der Hoffnung, Zeit zum nochmaligen Laden zu finden. Als der Ellkstier hinter der Klippe hervorstürmte und durch das seichte Wasser zum Strand galoppierte, sah sein Reiter im Vorübersausen, daß die Stufen auf dieser Seite mit einer Gruppe dunklerer Männer besetzt waren, die sich durch ihre gute Stoffkleidung und breiten Lederhüte deutlich vom Rest der Zuschauer unterschieden. Wie alle übrigen waren jedoch auch sie erstarrt vor Schrecken.
Die Riesenvögel, denen der Ellk und sein Reiter vermutlich wie ein unbekanntes Ungeheuer vorkamen, spritzten auseinander und ließen überraschend von ihrem Opfer ab. Alle Vögel bis auf einen, den seine Angriffswut blind für alles außer dem Mädchen gemacht hatte. Sie war nach einem verzweifelten Satz so schwer gestürzt, daß sie anscheinend nicht mehr die Kraft zum Aufstehen hatte. Sie rührte sich nur mehr schwach, aber als der Vogel herunterfegte, schien sie es zu fühlen und drehte sich auf den Rücken, die gefesselten Hände schützend vors Gesicht gehoben. Sie gibt nicht auf, dachte der Priester bewundernd. Die hat wirklich Mumm. So sorgfältig er konnte, zielte er mit dem Werfer auf einen Punkt in der Flugbahn des Vogels. Die Handhabung aller seiner Waffen vom Sattel aus war ihm durch langjähriges Training zum Reflex geworden, doch einfach war es deswegen noch lange nicht, genau zu zielen. Man handelte ganz automatisch und betete, daß alles gutging. Gebet oder Training, vielleicht beides, zahlten sich aus. Die winzige Rakete zündete sofort und traf den Riesenvogel mitten zwischen die Schultern. Eine grellweiße Feuerkugel flammte auf, und zwei gewaltige braune Schwingen trudelten einzeln herunter, während ein paar verkohlte Federn im Wind davontrieben. Hiero hatte den Lederstrick, der das Mädchen an dem Pflock festhielt, durchgehackt und sie in den Sattel quer
über den steifwerdenden Antilopenkadaver geschleudert, bevor die erschrockene Menge zu sich kam. Einer der hoch oben kreisenden Riesenvögel kreischte schrill, aus Angst oder auch vielleicht aus Trauer über den Tod seines Partners. Als wäre der Schrei ein Signal gewesen, brach unter den erbosten Fanatikern dieses einseitigen Kampfsports ein Wutgeheul los. Mit einem Sprung war Hiero wieder im Sattel. Er wußte, mit dem Überraschungsmoment war es jetzt vorbei, und jeden Augenblick konnte ein Hagel tödlicher Geschosse seine bisherige Glückssträhne nachhaltig beenden. »Tempo, Junge!« brüllte er und trieb Klootz mit dem Holzkolben des Werfers vorwärts. Erst als er den Mund wieder zumachte, fielen ihm die beiden Granatpatronen ein, die er zwischen den Zähnen gehabt und bei seinem Zuruf natürlich verloren hatte. Er stieß den Werfer ins Halfter zurück und drückte mit der Linken das Mädchen fest gegen den Sattelknauf. Glücklicherweise war sie entweder klug oder bewußtlos, weil sie sich nicht rührte, sondern wiederstandslos und schlaff mit dem Gesicht nach unten über Klootz' Rücken hing. Als sie in die einzig mögliche Richtung losrasten, auf die Spitze der gegenüberliegenden Landzunge zu, sah Hiero den ersten Speer knapp neben einem Vorderlauf des Ellks in den Sand fahren. Im nächsten Augenblick hörte er weitere heranpfeifen, und schlimmer noch, das Sirren von Pfeilen. Einer davon bohrte sich mit einem
hörbaren ›Tschok‹ in das dicke Sattelleder. Weit mehr Aufmerksamkeit widmete er jedoch dem Geschehen vor ihnen. Der hagere, federngeschmückte Priester und Dirigent der Trommler hatte seine Trommel im Stich gelassen und rannte an der Spitze seiner schaurig aufgeputzten Gesellen herbei, um dem Reiter dem Weg abzuschneiden. Als die Bande näherkam, hörte der Pfeilregen auf, weil die Schützen nicht ihre eigenen Leute treffen wollten. Der Stammeszauberer hatte einen ziemlichen Vorsprung vor seinen Männern, und Hiero traf blitzschnell eine Entscheidung. Der Schamane schwang wütend ein langes Schwert, und da er sich die Maske heruntergerissen hatte, konnte Hiero sein schmales, blasses Gesicht mit den flammenden blauen Augen erkennen, in denen sowohl Fanatismus als auch Intelligenz zu lesen war. Das war ein erbarmungsloser Verfolger, wie man ihn sich nicht schlimmer wünschen konnte. Er hätte dem Mann ausweichen können, aber es war immer strategisch vorteilhafter, den Gegner zu schwächen, wo man nur konnte. Töte ihn, Klootz! befahl er mit einem Gedanken, während er das hilflose Mädchen fester packte, weil er wußte, was nun kam. Der große Ellkstier schwenkte leicht nach links, als wollte er ganz knapp an dem Anführer der Feinde vorbei entwischen. Der Schamane fürchtete ihn zu verfehlen und rannte schneller. Als er zu einem gewaltigen
Schwertstreich ausholte, starb er. Fast ohne seinen Lauf zu unterbrechen hatte der kampfgeübte Ellk ihm einen fürchterlichen Tritt mit dem linken Vorderlauf versetzt. Der schwere Huf traf den Hohepriester mitten in den Bauch und schleuderte ihn mit gebrochenem Rückgrat in die Arme seiner Gefolgsleute zurück, wo er Blut speiend leblos zusammensackte. Der Ellk galoppierte weiter und hatte, als die ersten verzweifelten Wutschreie hinter ihnen losbrachen, bereits das seichte Wasser an der zweiten Landspitze durchwatet und donnerte an der Ostseite der Klippe über den Sand. Zu seiner großen Erleichterung stellte Hiero fest, daß jetzt mehrere Meilen gerader, leerer Strand vor ihnen lag. Zu Fuß würde sie nun keiner mehr einholen, aber er trieb Klootz weiter an, um ihren Vorsprung möglichst zu vergrößern. Soweit er entdecken konnte, war das einzige Hindernis vor ihnen ein kleiner Fluß, der vielleicht eine halbe Meile entfernt in der Nachmittagssonne glitzerte. Er schien weder besonders breit noch besonders tief zu sein, und Hiero war sicher, daß sie schlimmstenfalls in der Mitte ein Stück schwimmen mußten, wenn überhaupt. Er schaute sich um und bemerkte am Fuß der Klippe ein paar kleine schwarze Gestalten, die mit drohenden Gesten im Sand herumtanzten. Er lächelte verächtlich. Dann, als hätte der Blick zurück endlich sein Gedächtnis wieder in Gang gebracht, fiel ihm siedendheiß etwas ein.
Gorm! Wo war sein Freund und Pfadfinder? War er getötet worden? Der Gedanke war kaum geformt, als sein Reittier ihn auffing und dem Priester eine Antwort gab, die ihm neuerlich bewies, daß er nie genau wissen würde, wie klug Klootz nun wirklich war. Er (wird) folgen – Fährte wittern/aufspüren (später), sagten die Gedanken des Ellk. Er geht nicht/nahe Wasser (weiter landeinwärts). Als er seine Botschaft übermittelt hatte, brach der Ellk die geistige Verbindung wieder ab und konzentrierte sich nur darauf, in gestrecktem Galopp über den weißen Sandstrand auf den kleinen Fluß zuzujagen. Ein schriller Schrei von einem der großen Vögel ließ Hiero herumfahren. Hastig warf er einen Blick nach oben und fragte sich, ob sie aus eigenem Antrieb angreifen würden, oder ob sie vielleicht von den Schamanen angeleitet werden konnten. Er hatte jetzt keine Zeit, seinen Geist auf eine Gedankensonde zu konzentrieren, um das Gehirn der Vögel zu erforschen. Er hatte den einsamen Schädel mit dem gezackten Loch nicht vergessen, durch das ganz sicher einer dieser mörderischen Schnäbel ein Menschengehirn erforscht hatte. Erleichtert stellte er fest, daß die übrigen Raubvögel hoch oben kreisten, und während er sie noch beobachtete, schwenkte die ganze Schar ab und flog aufs Meer hinaus, zweifellos zu ihrem Nistplatz auf irgendeiner Insel. Die Störung des gewohnten Opferrituals schien sie verwirrt zu haben, und hatte ihnen auf jeden Fall die Angriffslust genommen.
Das gerettete Opfer brach plötzlich in eine hellstimmige, zornige und völlig unverständliche Tirade aus und begann sich heftig zu wehren und mit den Beinen zu strampeln. Hiero zog die Zügel an und sah sich um. Der Fluß war nur noch ein paar hundert Meter entfernt, und die ameisengroßen Gestalten ihrer Feinde waren kaum mehr zu erkennen. »Nur ruhig, das werden wir gleich haben«, sagte er und zog das Mädchen hoch, so daß es mit dem Gesicht zu ihm auf der toten Antilope zu sitzen kam. Er hatte nach dem Messer in seinem Gürtel gegriffen, um den Lederriemen durchzuschneiden, der noch immer ihre Handgelenke aneinanderfesselte, aber als er sie nun zum erstenmal richtig zu sehen bekam, stockte seine Hand und er starrte sein lebendes Beutestück fassungslos an. Unverfroren starrte sie zurück. Sie sah völlig anders aus als alle Frauen, denen er je begegnet war, aber auf ihre wilde und irgendwie ungezähmte Art war sie schön, sehr schön. Ihre Haut war viel dunkler als die seine, von einem warmen Schokoladebraun, während seine kupfern war. Ihre großen dunklen Augen jedoch hatten wie die seinigen die Farbe des Nachthimmels. Ihre Nase war nicht sehr lang und ganz gerade, mit weiten Nüstern, der Mund geschwungen und voll. Ihr dichtes, üppiges Haar war ein Durcheinander von kleinen, drahtigen schwarzen Löckchen. Ihre samtbraunen, festen Brüste waren klein, so daß der Priester geneigt war, sie für erheblich jünger zu halten als er
zuerst angenommen hatte. Die Frauen der Metz bedeckten ihren Oberkörper, aber er begriff instinktiv, daß für dieses Mädchen Nacktheit etwas völlig Natürliches war. Er bezweifelte, daß ihr selbst der Verlust ihres kurzen, zerschlissenen Schurzes auch nur das geringste ausgemacht hätte. Sie hatte sein gebräuntes, hakennasiges Gesicht mit dem kurzen schwarzen Schnurrbart genauso aufmerksam gemustert wie er sie, und hielt nun ihre gefesselten Hände hoch und sagte ungeduldig etwas in ihrer Sprache, die er nicht verstand. Es war jedoch klar, daß sie befreit werden wollte, also schnitt Hiero den Riemen durch, hob sie dann nochmals hoch und drehte sie herum, so daß sie jetzt vor ihm richtig im Sattel saß. Dabei stellte er fest, daß unter der glatten Haut ihrer schlanken Taille stählerne Muskeln lagen. Dann trieb er Klootz wieder in Richtung des Flusses. Aus irgendeinem Grund, über den er sich jedoch nicht recht klarwurde, beunruhigte ihn der Anblick des keineswegs bedrohlich wirkenden Flusses. Irgendein nagender Gedanke im Hintergrund seines Hirns ließ ihm keine Ruhe. Es war, als ob der Fluß mit einer wichtigen Tatsache im Zusammenhang stünde, an die er sich unbedingt erinnern mußte. Hatte es vielleicht mit dem weißen Volk zu tun? Was zum Teufel plagt dich eigentlich? Konnte es eine Anwandlung von Gewissensbissen sein, weil er den Erfolg seines Unternehmens aufs Spiel gesetzt hatte, bloß um ein Mädchen zu retten, das er nie gesehen hatte?
Konnte es das sein? Nein, unmöglich. Verdammt, der Fluß, denk an den Fluß! Die mnemonische Erleuchtung kam ihm reichlich spät, genaugenommen erst, als sie den Fluß erreichten und er den langen Einbaum durch die schlammige Fahrrinne herunterschießen sah, bemannt mit einem Dutzend Paddlern. Als die weißhäutigen Ruderer ihn entdeckten, stießen sie ein zorniges Gebrüll aus und verdoppelten ihre Anstrengungen. Das Dorf, das war es! Am Oberlauf des Flusses, versteckt vor Piraten, mußte ein Dorf liegen, da er vorher auf keins gestoßen war. Was ihn beunruhigt hatte, war die unbewußte Erkenntnis gewesen, daß ein Dorf ganz in der Nähe sein mußte, nahe genug, daß all die Frauen und Kinder in der Arena es zu Fuß erreichen konnten. Nun war offensichtlich die Dorfwache alarmiert worden, ziemlich sicher durch eine primitive, aber durchaus zweckentsprechende Form von Telepathie. Die Kunst der Gedankenverständigung war nicht nur in den Ländern der Metz verbreitet, sondern in gewissem Grade unter allen existierenden Völkern und Rassen. Diese Stammeszauberer hatten vermutlich einige Erfahrung damit. Während ihm all diese Gedanken blitzartig durch den Kopf schossen, lud er hastig den Werfer und trieb Klootz ins Wasser. Wenn man sie hier auf dem Ufer erwischte...! Im Wasser hatten sie bessere Chancen. Die Fahrrinne war vielleicht nur ein paar Meter breit, und jenseits des Flusses setzte sich der Sandstrand fort so weit man sehen
konnte, eine wunderbare, glatte Rennbahn. Ohne ein Wort langte das vor ihm sitzende Mädchen nach seinem Speer und zog die schwere Waffe aus der Sattelschlaufe. Die kühle Gelassenheit dieser Geste entlockte Hiero trotz ihrer gefahrvollen Lage ein Grinsen. Ein mutiger kleiner Wildling, dieses Mädchen! Mit dem Werfer hatte Hiero diesmal weniger Glück, aber das war zum Teil seine eigene Schuld, wie er selbst als erster zugegeben hätte. Er drückte zu spät ab, so daß das Geschoß hoffnungslos danebenging, weil Klootz genau in dem Augenblick in die tiefere Rinne stieg, als die Rakete zündete. Zudem war das Kanu schon viel zu nahe heran, als daß er noch einmal hätte laden können. Der scharfe Bug des Einbaums schoß auf sie zu, während Klootz mit aller Kraft auf das seichte Wasser am anderen Ufer zuschwamm. Aber die Ruderer hatten noch nie einen Ellk gesehen, geschweige denn mit einem gekämpft, und sie hatten keine Ahnung, wie tödlich eine Begegnung mit einem solchen Kampfteam von Mensch und Ellk werden konnte. Hiero preßte beide Arme um das Mädchen, drückte die Schenkel fest an die Flanken des Ellks und befahl Klootz zu tauchen. Als der Ellkstier hinunterschnellte, auf den Einbaum zu, sah Hiero noch, bevor das Wasser über ihnen zusammenschlug, daß die blassen Wilden entsetzt herübergafften. Die meisten hatten die Paddel fallengelassen und Waffen aufgenommen. Ob es Berechnung oder Glück war, erfuhr Hiero nie,
aber Klootz stieß sich genau unter dem Kanu von dem nicht sehr tiefen Flußgrund ab und kam langsam hoch. Hiero beugte sich mit geschlossenen Augen dicht über das gerettete Mädchen, um es vor dem Anprall zu schützen. Der Boden des Kanus rutschte über seinen Rücken nach hinten und drückte ihn noch fester auf das Mädchen und die tote Antilope herunter. Als der Einbaum jedoch als nächstes Klootz' Kruppe aufscheuerte, verlor der Ellk die Geduld und keilte wütend aus. Der Ellk und die beiden nach Luft schnappenden Menschen kamen gerade hoch, als das vollbesetzte Kanu zerschmettert umschlug und seine Insassen in das aufgewühlte Wasser kippte. Sie konnten anscheinend alle schwimmen, und es war auch keiner tot, stellte Hiero erleichtert fest, als Klootz durch den Uferschlamm an Land watete und triefend die Böschung an der Ostseite erklomm. Gegenüber allen Feinden der anständigen Menschheit und der Abteien kannte der Priester keine Gnade, aber er haßte es, Männer und Frauen töten zu müssen, deren Hauptfehler ihr Unwissen war, für das man sie nicht verantwortlich machen durfte. Begleitet von gurgelnden Schreien und Flüchen, die aus Mimik und Gesten ihrer Urheber deutlich als solche erkennbar waren, trug der Ellk seine zwei Reiter weiter den Strand entlang nach Osten. Die schrägen Strahlen der untergehenden Sonne warfen ihnen gigantische Schatten voraus. Hiero hatte seinen Klammergriff um das Mädchen längst gelöst, da sie sich
sicher im Sattel hielt und all die unangenehmen Erlebnisse anscheinend gut überstanden hatte. Die lange Rißwunde an ihrem Rücken hatte jedoch wieder zu bluten begonnen, so daß er nach ein paar Meilen Halt befahl. Er hob sie herunter und lächelte, als er sah, daß sie noch immer seinen Speer krampfhaft festhielt. »Du kannst das jetzt wegstecken«, sagte er und deutete auf die Schlaufe am Sattel, wo die Waffe hingehörte. Das Mädchen plapperte etwas Unverständliches, schaute sich um, zuckte die Achseln, als sich keinerlei Gefahr bemerkbar machte, und steckte dann (widerwillig, wie es Hiero schien) den Speer zurück. Als Hiero sein Verbandszeug hervorholte, sah sie ihm interessiert zu. Er versuchte ihr klarzumachen, daß er die Wundränder zusammenheften wollte, bevor er den Verband anlegte, worauf sie einfach nickte. Ob das ein Beweis für das naive Vertrauen einer Wilden oder einfach Unkenntnis des Wundnähens war, Hiero hatte keine Ahnung. Selbst mit seiner anästhetischen Heilsalbe war es eine schmerzhafte Angelegenheit, aber sie preßte nur ein-, oder zweimal die Lippen zusammen und ließ sich im übrigen nicht anmerken, daß es weh tat. Endlich war die Wunde genäht und verbunden, worauf der Priester sie wieder in den Sattel hob und seine Sachen packte. Als er fertig war, sah er, daß das Mädchen sich über Klootz' langen Hals gebeugt hatte und ihn hinter den großen, pelzigen Ohren kraulte – etwas, das der Ellk zutiefst genoß. Es war klar, daß sie Tiere verstand und gern hatte,
was Hieros Meinung über sie noch um einige weitere Grade verbesserte. Als auch er wieder im Sattel saß, schaute er zurück, konnte aber keine Spur von Verfolgern erkennen. Auf der Landseite säumte die gleiche Dünenkette den Strand, die sie bisher begleitet hatte, bis auf wenige Stellen, wo der felsige Untergrund durchkam. Hiero war sicher, daß nur ein paar Meilen jenseits der Dünen der Sumpf begann und noch weit, weit nach Osten reichte. Mittlerweile war es später Abend geworden, die Sonne war schon seit einer Weile untergegangen, und die rotleuchtenden Wolken im Westen erloschen langsam. Es war höchste Zeit, einen Lagerplatz zu suchen, aber sie hatten erst wenige Meilen zurückgelegt, und Hiero hatte keine Ahnung, wie gut die Wilden in nächtlicher Spurensuche waren. Unter Umständen hatte sein Entschluß, den Schamanen zu töten, sie eher zu wütendem Rachedurst aufgestachelt anstatt sie zu einem Aufschub der Verfolgung zu zwingen, weil sie irgendeine rituelle Totenfeier für ihren Hohepriester abhalten mußten. Außerdem brauchte das Mädchen dringend eine Rast und etwas zu essen. Selbst wenn sie wirklich so abgehärtet war, wie sie zu sein schien, hätte das, was sie an dem Tag durchgemacht hatte, selbst einen kräftigen Mann erschöpft. Der Priester war selber müde und hatte doch viel weniger auszustehen gehabt. Nachdem sie vielleicht noch eine Stunde, nun in völliger Finsternis, weitergeritten waren, stießen sie wieder
auf Wasser, das ihnen den Weg versperrte. Es war unmöglich festzustellen, wie breit das Gewässer war, und im Dunkeln hinüberschwimmen zu wollen, wäre Wahnsinn gewesen. Unwillig lenkte Hiero den Ellk landeinwärts, am Ufer des Flusses oder Fjordes entlang. Er verdoppelte seine Wachsamkeit für den Fall, daß plötzlich irgend etwas aus dem Wasser kam und ein Abendessen suchte. Natürlich war hier nur viel langsamer weiterzukommen als auf dem glatten Strand, insbesondere, als Kakteen, rankende Pflanzen und allerhand Holzgewächse immer zahlreicher wurden. Endlich bemerkte Hiero, als er nach links in die Dunkelheit spähte, den schwarzen Umriß eines Hügels. Er trieb Klootz vom Wasser weg in diese Richtung und stellte verblüfft fest, daß der ›Hügel‹ ein ungeheurer runder Busch oder niedrig gewachsener Baum von vielleicht fünfzehn Metern Höhe war. Von dem dicken Stamm in der Mitte hingen die Äste nach allen Seiten fast bis zur Erde herunter und schufen ein so vollkommenes natürliches Zelt, wie es wohl selten zu finden war. Nachdem sie den Ellk vom Sattel und den Packtaschen befreit hatten, schickte Hiero ihn zum Weiden und gleichzeitig Wachehalten weg, während die beiden Menschen ins ›Innere‹ krochen. Hiero beschloß, ein sehr kleines Feuer aus trockenen Zweigen zu riskieren, aber als er sie gesammelt und angezündet hatte, merkte er, daß sein einziger Beweggrund der war, das Mädchen besser sehen
zu können. Diese Erkenntnis ärgerte ihn etwas. Während er ausgepackt und sich mit dem Feuer beschäftigt hatte, war sie still dagesessen, die Arme um die Knie geschlungen. Als er ihr nun von seinen Vorräten und Wasser aus der großen Feldflasche anbot, nahm sie alles an, sagte jedoch nichts. Als die kurze Mahlzeit beendet war, strich sie ein paar Krümel von ihrem Schurz und starrte Hiero wiederum gleichmütig und desinteressiert über das winzige Feuer hinweg an. Es war offenbar an der Zeit, nun irgendeine Verständigungsmöglichkeit zu suchen. Tatsächlich hatte bereits sein vierter Versuch Erfolg. Sie sprach weder Metz noch den westlichen InyanDialekt und verstand auch die stumme Zeichensprache nicht. Als Hiero sie jedoch in Batwah anredete, der Sprache der Händler und Seefahrer, da lächelte sie zum erstenmal und antwortete. Ihr Akzent war reichlich sonderbar, wenn man ihn nicht schrecklich nennen wollte, dachte er; eine Menge Wörter, die sie gebrauchte, waren ihm völlig fremd. Er vermutete (zu Recht, wie sich später herausstellte), daß er von dem einen und sie vom anderen Ende einer sehr alten Handelsroute stammte. »Was für ein Mann bist du?« war das erste, was sie sagte. »Du siehst aus wie so einer von den Sklavenhändlern, so wie die, die mich verkauft haben, aber du reitest dieses wunderbare Kampftier, und du hast mich von diesen blaßhäutigen Barbaren weggeholt. Aber du schuldest mir doch nichts? Warum hast du es getan?«
»Erzähl mir lieber zuerst etwas von dir«, wehrte er ab. »Wie heißt du, und wer bist du, und woher kommst du?« »Ich bin Lucare«, sagte sie. Ihre Stimme war ziemlich hoch, aber nicht grell. Ihre Antwort hatte stolz geklungen, nicht überheblich, nur einfach stolz. Ich bin wie ich bin, war die unausgesprochene Bedeutung – die klare Selbstsicherheit eines Menschen, der mit sich selbst in Einklang ist. Hiero gefiel das, wie ihm überhaupt das ganze Mädchen gefiel, aber das behielt er für sich. »Ein hübscher Name, Lucare«, sagte er, »aber was ist mit meinen übrigen Fragen? Wo bist du zu Hause? Wie bist du hierher gekommen?« Und was soll ich mit dir anfangen? Das jedoch blieb unausgesprochen. »Ich bin von zu Hause weggelaufen«, sagte sie. Ihre Stimme klang jetzt ebenso wie seine, gleichgültig und tonlos, aber ihre glänzenden Augen ließen sein Gesicht nicht für eine Sekunde los. »Meine Heimat ist weit weg, auf der anderen Seite von diesem Meer, glaube ich, in dieser Richtung.« Sie drehte sich um und zeigte unbeirrt nach Nordwesten in Richtung der Republik. »Das halte ich für unwahrscheinlich«, bemerkte der Priester trocken, »denn von dort komme ich her, und ich habe noch nie von jemandem gehört, der so aussieht wie du. Aber mach dir keine Gedanken wegen der Himmelsrichtung«, fügte er etwas sanfter hinzu, »das ist nicht so wichtig. Erzähl mir von deinem Land. Sieht es dort so wie hier aus? Wie ist dein Volk? Du hast diese weißen Leute, die die Vögel auf dich hetzten, ›Barbaren‹ ge-
nannt. Das ist eine sonderbare Bezeichnung aus dem Mund eines Sklavenmädchens.« Ihre Unterhaltung, das sollte erwähnt werden, ging anfangs keineswegs so glatt vonstatten. Es gab eine Menge Denkpausen, Mißverständnisse und Erklärungen neuer Wörter; sie verbesserten sich gegenseitig die Aussprache und suchten nach Umschreibungen und Synonymen. Beide waren sie jedoch intelligent und schnell von Begriff, so daß sie rasch Fortschritte machten. »Mein Volk ist groß und mächtig«, erklärte sie nachdrücklich. »Wir wohnen in großen Städten aus Stein, nicht in schmutzigen Hütten aus Leder und Zweigen. Die Männer sind große Krieger, und nicht einmal ein gehörntes Riesentier hätte dich so wie heute nachmittag retten können, hättest du gegen Leute von meinem Volk gekämpft.« Typisch Frau, dachte Hiero erbittert, Klootz das alleinige Verdienst zuzuschieben. »Na schön«, sagte er. »Dein Volk ist also groß und mächtig. Aber was tust du hier in dieser Gegend, die, wie ich vermute, sehr weit von deiner Heimat entfernt ist?« »Zunächst«, sagte sie fest, »wäre es angebracht, wenn du mir sagtest, wer du bist, woher du kommst und welchen Rang du in deinem eigenen Land hast.« »Ich bin Per Hiero Desteen, Priester, Gelehrter und Vollkämpfer der Universalkirche. Und es ist mir schleierhaft, warum sich ein halbnacktes Sklavenmädel für den Rang des Mannes interessieren sollte, der sie vor einem
ziemlich häßlichen Tod bewahrt hat!« Er starrte sie mit gerunzelter Stirn an, aber er hätte sich das genausogut sparen können. »So universell kann deine Kirche ja nicht sein«, meinte sie kühl, »da ich noch nie von ihr gehört habe. Was mich nicht weiter überrascht, denn es ist nun einmal so, hochwürdiger Priester, daß wir in meinem Land die einzige wahre Kirche haben, und wenn bei uns jemand so herumliefe wie du, mit bemaltem Gesicht, und sich als Priester ausgäbe, dann würde man ihn in das Gefängnis für Verrückte sperren. Außerdem«, fuhr sie in dem gleichen herablassenden, belehrenden Tonfall fort, »war ich nicht immer eine Sklavin, wie jeder Mann mit ein bißchen Verstand, Manieren und Erziehung auf den ersten Blick bemerken würde!« Trotz seiner Abteiausbildung im Umgang mit Menschen mußte sich Hiero eingestehen, daß sie ihn auf die Palme brachte. »Ich bitte Euch um Verzeihung, hohe Herrin«, entgegnete er höhnisch. »Ihr wart gewiß Prinzessin eines mächtigen Königreichs, vielleicht einem unwillkommenen Bewerber versprochen, so daß Ihr fliehen mußtet, um ihn nicht heiraten zu müssen?« Lucare starrte ihn mit offenem Mund an. »Woher weißt du das? Bist du vielleicht ein Spion von meinem Vater oder Efrem, mit dem Auftrag, mich zurückzuholen?« Einen Moment lang starrte Hiero sie genauso fassungslos an. Dann lachte er spöttisch auf. »Mein Gott, du
hast doch wirklich die Tagträume jedes kleinen Mädchens aufgegriffen, das zum erstenmal die Märchen und Legenden der Vergangenheit hört! Sei so gut und hör auf, meine Zeit mit solchem Unsinn zu verschwenden, ja? Ich will wissen, woher du kommst, und ich warne dich allen Ernstes, ich habe meine eigene Methode, das herauszufinden, wenn jene guten Manieren, mit denen du so angibts, und eine Spur ganz gewöhnlicher Dankbarkeit dich nicht dazu bewegen, mir freiwillig zu antworten. Also rede schon! Wo in aller Welt kommst du her, und wenn du wirklich nicht wissen solltest, wo deine Heimat liegt, dann sag mir wenigstens ihren Namen, wie sie aussieht, und wie du hergekommen bist.« Das Mädchen sah ihn finster an, die Brauen nachdenklich zusammengezogen. Dann schien sie zu einem Entschluß gekommen zu sein, ihre Miene erhellte sich, und sie antwortete ruhiger und freundlicher. »Es tut mir leid, Per Hiero – ist diese Anrede korrekt? – ich wollte wirklich nicht unhöflich sein. Ich ... ich habe mir immer gewünscht, etwas Besonderes zu sein, so daß es mir manchmal schwerfällt, meine Traumwelt zu vergessen ... Ich komme aus einem Land, das, soweit ich weiß, südlich von hier liegt, aber du hast ja eben bemerkt, daß ich im Finstern die Himmelsrichtungen durcheinanderbringe. Ich habe eben lange in einer Stadt gelebt, so daß ich mich in der Wildnis nicht so recht auskenne. Oh, und meine Heimat heiß Dalwah und liegt an der Küste des Salzmeers, das Lantik genannt wird. Was
wolltest du noch alles wissen?« »Schön«, sagte Hiero freundlicher. »Das klingt schon besser. Ich bin in Wirklichkeit nicht so grob, wie ich eben getan hab'. Nur denk daran, Mädchen, daß ich offene Antworten haben möchte. Spar dir die Märchen in Zukunft, und wir werden prima miteinander auskommen. Aber nun erzähl mir, wie bist du in die Lage geraten, aus der ich dich rausgeholt hab'?« Während das kleine Feuer in sich zusammensank und zuletzt nur mehr ein schwacher Glutpunkt im Dunkel war, erzählte Lucare ihre Geschichte. Hiero war auch jetzt nicht willens, mehr als etwa zwei Drittel davon zu glauben, aber auch das war interessant genug, um ihn gespannt zuhören zu lassen. Nach ihrer Beschreibung zu schließen, lag ihre Heimat wirklich weit im Südosten, genau dort, wo er selbst hinwollte. Diese Tatsache verdoppelte seine Aufmerksamkeit. Ihre Heimat war ein Land mauerumgürteter Städte und tropischer Urwälder, in denen gigantische Bäume wuchsen, die bis in den Himmel zu reichen schienen. Sie war aber auch ein Land andauernder Kriege und Zwisten, gefährlicher Bestien und streitlustiger Männer. Eine Kirche und Priesterschaft, die mit den Abteien vieles gemeinsam hatten, bestimmten die Religion des Volkes und predigten Friede und Eintracht, doch schienen die Priester unfähig oder auch unwillig zu sein, die Kämpfe und Streitigkeiten zwischen den einzelnen Stadtstaaten
zu beenden. Diese Staaten hatten ein starres Gesellschaftssystem mit Kasten der Adeligen, der Kaufleute, Handwerker und Bauern, an dessen Spitze autokratische Herrscher standen. Es gab Berufsheere, die genauso groß waren, daß das betreffende Land sie gerade noch wirtschaftlich verkraften konnte, denn für die Militärsteuer mußten vor allen die Bauern aufkommen. Hiero war ehrlich entsetzt. »Kann dein Volk lesen und schreiben?« fragte er ungläubig. »Habt ihr denn keine Bücher aus der Vergangenheit? Wißt ihr vom Heißen Tod?« Natürlich könnten sie lesen und schreiben, gab sie zurück. Jedenfalls die Priester und die meisten Adeligen konnten es. Die Armen hatten anderes zu tun als zu lernen, mit Ausnahme der wenigen, die die Kirche als Priesternachwuchs ausbildete. Und alle Kaufleute konnten so weit rechnen, wie sie es brauchten. Welchen Sinn hatte es, mehr lernen zu wollen? Was den ›Tod‹ betraf, so wußte selbstverständlich jedermann davon. Lagen nicht viele Vergessene Städte ganz in der Nähe, und auch einige Todeswüsten? Aber Bücher aus der Zeit vor dem ›Tod‹ waren verboten, für alle, außer vielleicht die Priester. Sie selber hatte nie eins gesehen, obwohl sie gehört hatte, daß es sie gab, und auch, daß jeder, der eins fand und nicht sofort ablieferte, mit dem Tod bestraft wurde. »Guter Gott!« brach der Metz los. »Dein Volk – ich will mal annehmen, daß das meiste wahr ist, was du mir erzählt hast –, dein Volk hat doch buchstäblich alle die
verstaubten soziologischen Konzepte der ältesten Vergangenheit wieder aufgegriffen, diesen ganzen überlebten Wahnsinn! Ich wußte, daß die Händler hier im Süden manchmal Sklaven haben, aber die hielt ich immer für die primitivsten Menschen, von denen wir wissen. Die Ostliga von Otwah kann von euch genausowenig gehört haben, weil wir mit ihr in Verbindung stehen und die Leute dort keineswegs rückständig sind. Könige, Leibeigene, Bürgerkriege, Militärdiktatur, Sklaverei und allgemeines Unwissen! In deinem Dalwah gehört einmal ordentlich aufgeräumt!« Seine deutliche Abscheu ließ das Mädchen verstummen. Wütend über seine Verachtung biß sie sich auf die volle Unterlippe. Sie war jedoch weder dumm noch bigott, und sie erkannte, daß ihr unfreundlicher Retter ein kluger, ja sogar ein gebildeter Mann war. Das erstemal seit langer Zeit fragte sich Lucare, ob ihre Heimat auch in Wirklichkeit so wunderbar war wie in ihren heimweherfüllten Träumen. »Es tut mir leid«, sagte Hiero plötzlich. »Ich habe häßlich über dein Land gesprochen, obwohl du nichts dafür kannst, daß es so ist. Ich habe es nie gesehen, und wahrscheinlich ist es ganz in Ordnung. Auf jeden Fall klingt dein Bericht sehr interessant. Bitte erzähl doch weiter. Ich möchte gerne erfahren, wie du von der Lantikküste hierher verschlagen wurdest. Ich weiß, wie weit es bis dorthin ist, wenigstens im Norden.« »Also«, begann sie etwas unsicher, »ich bin fortgelau-
fen, von meinem – von meinem Besitzer, der sehr grausam zu mir war. Das bin ich wirklich«, sagte sie ernst und mit einem seltsamen Schimmer in ihren dunklen Augen. »Oh, ich glaube dir doch. Weiter – wie lange ist das her?« Über ein Jahr bestimmt, versicherte Lucare. Anfangs war es schwer gewesen, und sie hatte Lebensmittel stehlen müssen, von Bauernhütten und abgelegenen Gehöften. Mehrmals war sie auf Raubtiere gestoßen und ihnen nur knapp entkommen, aber mit der Zeit war sie erfahrener und abgehärteter geworden und hatte sich auch Waffen besorgt, einen ebenfalls gestohlenen Speer und ein Messer. So lebte sie mehrere Monate lang am Rand des besiedelten Gebiets, wo der dichte Dschungel beginnt, bis sie eines Tages von einem Baum herunterfiel und sich den Fuß brach. Als sie auf das unvermeidliche Ende in Gestalt eines hungrigen Raubtiers wartete, kam statt dessen ein Elfer. »Was, ihr kennt sie auch?« warf er ein. »Ich hatte keine Ahnung, daß die Bruderschaft so weit verbreitet ist. Welche Rolle spielen die Elfer in eurem Volk? Mögen die Leute sie, trauen sie ihnen?« Er war ziemlich aufgeregt, denn das war endlich ein gemeinsames Glied zwischen ihren weit voneinander entfernten Heimatländern. Die ›Elfer‹, die geheimnisvollen Anhänger des sogenannten Elften Gebots, waren eine Gruppe von ewig Wandernden, deren recht undurchsichtiger Orden bis in
die Zeit des ›Todes‹ oder noch weiter zurückzuverfolgen war. Sie trugen einfache Kleider aus braunem Stoff, lebten streng vegetarisch und besaßen keine anderen Waffen als ein Messer und einen Wanderstab. Sie tauchten meistens einzeln auf, selten zu mehreren. Sie wanderten von Ort zu Ort, taten niemandem etwas zuleide, arbeiteten mitunter für ihren Unterhalt, brachten vielleicht Kindern das Schreiben bei oder hüteten Vieh. Sie waren geschickte Ärzte und zeigten sich immer bereit, Verletzten oder Kranken zu helfen. Sie verabscheuten das Treiben der Unreinen, aber sie legten sich mit niemandem an, solange sie nicht ihrerseits angegriffen wurden. Sie hatten eine sonderbare Macht über Tiere, und selbst Lemut gingen ihnen meist aus dem Weg. Niemand wußte, wo sich ihr Hauptquartier befand, wenn sie überhaupt eins besaßen, und auch nicht, wie und wo die Bruderschaft neue Mitglieder gewann. Sie schienen politisch völlig neutral zu sein, trotzdem mißtrauten ihnen viele der Metz, Politiker und auch Abteiwürdenträger. Wenn man solche Leute fragte, was sie gegen die Elfer hätten, konnten sie jedoch nie einen vernünftigen Grund angeben, außer der vagen Vermutung, daß die Brüderschaft ›sicher irgend etwas zu verbergen‹ hatte. Die Elfer waren nämlich keine Christen, oder falls sie es waren, wußten sie es gut zu verbergen. Sie schienen einem etwas verschwommenen Pantheismus anzuhängen, nach ihrem uralten Gebot zu schließen (das die Abteitheologen als apokryph abtaten): ›Du sollst
nicht zerstören die Erde oder das Leben, das sie trägt.‹ Hiero hatte alle, denen er selbst begegnet war, recht sympathisch gefunden. Es waren heitere, einfach lebende, gute Menschen gewesen, die sich bei weitem anständiger benahmen als so manche der selbsternannten Vorbilder seines eigenen Volkes. Und er wußte, daß auch Abt Demero sie mochte, und was wichtiger war, ihnen vertraute. Er beugte sich eben gespannt vor, um näheres zu erfahren, als Lucare mit einem erstickten Schrei über die fast erloschene Glut herüberschnellte und ihm in die Arme fiel, wodurch er rücklings zu Boden geschleudert wurde.
5 Weiter nach Osten »Paß auf!« schrie sie. »Ein Ungeheuer – hinter dir! Ich hab's gesehen! Ein schwarzes Tier mit großen Zähnen!« Es war über drei Wochen her, daß er das letzte Mal mit einer Frau auch nur gesprochen hatte, dachte Hiero, als er ihren warmen Körper auf seinem spürte. Er rührte sich nicht. Sie roch wunderbar, nach Mädchen, erhitzter Haut und noch etwas anderem, einem scharfen wilden Duft. Er holte tief Atem und hielt sie an sich gepreßt. »Das ist mein Bär«, flüsterte er beruhigend. »Er ist ein Freund und wird dir nichts tun!« Als er sprach, berührten seine Lippen warmes, lockiges Haar und eine weiche Wange. Hiero hatte Gorms Eintreffen vor gut zehn Minuten gefühlt und ihm den Gedankenbefehl gegeben, außerhalb der dichten Blätterkuppel ihres Unterschlupfs zu bleiben. Der neugierige junge Bär hatte jedoch den fremden Menschen begutachten wollen. Lucare stieß sich heftig von ihm ab und starrte zornig auf sein lächelndes Gesicht hinunter. »Ah, es stimmt also, was man von Priestern behauptet! Eine Bande von faulen, hinterhältigen Weiberhelden! Bilde dir bloß nichts ein, du Priester! Du wirst schon merken, daß ich mich wehren kann, wart nur!« Hiero setzte sich auf und zupfte sich ein paar Blätter von der Jacke. Dann legte er vorsichtig noch ein paar
Zweige auf die heruntergebrannte Glut, so daß ein kleines Flämmchen aufflackerte und sein kupferfarbenes Gesicht mit den hohen Backenknochen beleuchtete. »Nun hör mal zu, Mädchen«, sagte er mit einem Seufzer, »diese Sache müssen wir klären. Wer ist denn zudringlich geworden, he? Du bist mir ja förmlich in die Arme gefallen! Ich bin ein normaler gesunder Mann, und was für sonderbare Sitten auch bei euch im Süden herrschen mögen, die Priester der Abteien kennen kein Zölibat und sind, in meinem Alter, fast immer schon verheiratet, manchmal sogar doppelt oder dreifach! Wir haben ziemlich strenge Gesetze gegen sämtliche Sittlichkeitsvergehen. Im übrigen habe ich nicht die Gewohnheit, kleine Mädchen zu verführen, und ich glaube, du bist nicht älter als fünfzehn. Hab' ich recht?« Während er sprach, hatte er Gorm freundschaftlich gezaust, der ganz hereingekrochen war, den Kopf auf Hieros Knie gelegt hatte und das Mädchen über das Feuer hinweg neugierig anblinzelte. »Ich bin siebzehn, beinahe achtzehn«, korrigierte sie empört, »und Priester dürfen mit Frauen nichts zu tun haben, jedenfalls unsere nicht. Wer hat je von einem verheirateten Priester gehört?« Dann senkte sie die Stimme zu einer halben Entschuldigung. »Es tut mir leid, aber woher sollte ich das wissen? Du hast auch nicht ein Wort gesagt, daß du noch ein Tier hast. Woher wußtest du überhaupt, daß es da war? Ich hab's nicht gehört, und ich habe gute Ohren.«
»Ich nehme deine Entschuldigung an«, sagte der Priester. »Vielleicht sollte ich deine Geschichte kurz unterbrechen und dir ein paar andere Dinge klarmachen, da es so aussieht, als ob wir zusammenbleiben müßten, bis ich weiß, was ich mit dir anfange. Sage mir, besitzt irgend jemand in deinem Land die Fähigkeit, durch seinen Geist zu sprechen? Ich meine, Gedanken auszusenden, so daß er oder sie, ohne die Stimme zu gebrauchen, sich mit einem anderen Menschen oder auch einem Tier verständigen kann?« Lucare wich zurück, die Lippen leicht geöffnet, und der Widerschein des Feuers glitt mit fast streichelnder Bewegung über ihre dunkle Haut. »Die Unreinen, die bösen Geschöpfe des ›Todes‹ sollen so etwas können«, sagte sie zögernd. »Es gibt viele Gerüchte – und ich weiß jetzt, daß sie stimmen – die erzählen, daß Menschen, schreckliche Zauberer, über die Unreinen herrschen, und daß solche Menschen ebenfalls diese Fähigkeit haben. Ein alter Priester, der mich unterrichtete, ein guter alter Mann, hat mir erzählt, daß solche Geisteskräfte an sich nichts Böses wären, daß aber anscheinend nur die Unreinen und ihre Teufel sie besäßen.« Ihre Augen blitzten plötzlich auf. »Ich verstehe! Du wußtest, ein Tier ist draußen, weil du seine Gedanken gespürt hast! Aber du bist doch nicht einer der...« Ihre Stimme brach, als ihr klar wurde, daß sie vielleicht in der Macht eines jener Schreckgespenster ihrer Kindheit war, eines Hexenmeisters der Dunklen!
Hiero grinste vergnügt. »... Unreinen? Nein, Lucare, das bin ich nicht. Und auch Gorm hier hat nichts mit ihnen zu tun.« Gorm, geh langsam zu ihr hin und leg deinen Kopf in ihren Schoß. Sie hat nie einen Bären gesehen (glaube ich) und sie weiß nichts von der Gedankensprache. Wir (werden) sie lehren müssen wie ihr eure Jungen. Das schlanke, dunkelbraune Mädchen blieb wie versteinert sitzen, als der kleine Bär herüberkam und tat, wie Hiero ihm geheißen hatte. Als jedoch eine lange, rosa Zunge zärtlich über ihre Hand zu fahren begann, entspannte sie sich ein wenig. »Du ... du hast ihm das befohlen, nicht?« fragte sie mit einem leichten Zittern in der Stimme. »Du kannst wirklich mit ihm reden, geradeso wie mit mir?« »Gewissermaßen ja, nur ist es nicht so leicht. Er ist jedoch sehr gescheit – tatsächlich bin ich mir nicht klar darüber, wie gescheit er wirklich ist. Er ist für mich eigentlich genauso neu wie für dich, denn wir haben uns erst vor einer Woche getroffen. Mit Klootz dagegen, meinem Ellkstier draußen, bin ich schon seit langem zusammen. Ich kann mich leicht mit ihm verständigen, aber er ist nicht annähernd so gescheit wie Gorm. Mitunter allerdings hat auch er eine Überraschung für mich parat, und immer wenn ich glaube, die Grenzen seiner geistigen Fähigkeiten zu kennen, verblüfft er mich mit etwas völlig Neuem.« »Gorm«, sagte sie leise und streichelte den zottigen
schwarzen Kopf. »Wirst du mein Freund sein, Gorm?« »Sicher wird er das, mach dir keine Sorgen«, sagte Hiero. »Er ist auch ein sehr wertvoller Führer und Spurensucher. Aber jetzt sei bitte einen Augenblick ruhig. Ich möchte ihn fragen, wie er hergekommen ist. Wir haben uns getrennt, als ich hinter den Klippen hervorstürzte, um dich aus dieser Vogelarena zu holen.« Er beugte sich vor und konzentrierte sich voll auf Gorms Geist. Wie es schien, hatte der Bär sich hinter den Felsvorsprung zurückgezogen, sobald er sah, was Klootz vorhatte. Er hatte versucht, noch eine Gedankenverbindung mit dem davonreitenden Priester herzustellen, aber schnell begriffen, daß das in all dem Durcheinander ein hoffnungsloses Unterfangen war. Er hatte jedoch die Gedanken anderer telepathischer Gehirne gespürt, obwohl er die ausgesendeten Botschaften nicht verstehen konnte. Ich glaube, das waren unsere Feinde, die versuchten, (andere dazu zu bringen) uns von vorne anzugreifen, sendete Hiero. Wie hast du/Gorm uns gefunden/aufgespürt? Jedes Junge (hätte das) können, kam die Antwort. Bin fortgegangen von großem Wasser, weitergelaufen – und wieder zurück zu großem Wasser – Spur gewittert – zurück (landeinwärts) – über kleines Wasser geschwommen, oberhalb von Menschenlagern – (dann wieder) großes Wasser – dort folgte ich (eurer) Fährte. Als Gorm am Hüttendorf der weißen Wilden vorbeigekommen war, waren die meisten von ihnen schon aus der Vogelarena zurückgekehrt. Sie rannten aufgeregt
herum und ihr Geschrei war meilenweit durch die Nacht zu hören gewesen. Der Bär hatte sie eine Weile beobachtet und war dann, als die unzähligen kläffenden Dorfhunde ihn zu wittern begannen, leise über den Fluß geschwommen und nach Osten weitergetrottet. Später kehrte er zum Strand zurück, um Klootz' Fährte zu suchen. Danach war es nicht mehr schwer gewesen, das Lager unter dem Baum zu finden. Der Priester entschied, daß eine Verfolgung äußerst unwahrscheinlich war, so daß sie ruhig rasten konnten; Klootz und der Bär würden sie schon vor jeder nahenden Gefahr warnen. Er richtete sich auf und begann Lucare weiter auszufragen, von dem Punkt an, wo Gorms Auftauchen ihn unterbrochen hatte. »Der Elfer? Nun, er sah ganz gewöhnlich aus, wie sonst ein Mann von meinem Volk, abgesehen von diesen langweiligen braunen Kleidern. Er war vielleicht fünfzig Jahre alt. Warum fragst du?« »Das ist sehr interessant«, sagte Hiero. »In deinem Land sehen selbstverständlich alle Leute so aus wie du, dunkelhäutig, mit dichtgelockten Haaren und ganz schwarzen Augen, richtig?« »Natürlich, wieso nicht? Bis zu meiner Flucht hab' ich nie Menschen mit anderer Hautfarbe gesehen, außer ein oder zweimal einen weißen Sklaven aus dem Norden, wahrscheinlich aus der Gegend hier. Aber die wenigen Elfer, denen ich begegnet bin, gehörten alle meinem Volk an.«
»Siehst du«, meinte der Mann nachdenklich und starrte in das winzige Feuer, »bei uns – da sehen sie alle aus wie mein Volk, sie haben bronzefarbene oder mehr rötliche Haut wie die Inyans, glattes schwarzes Haar, hohe Backenknochen, und so weiter. Und das, glaube ich, sagt uns etwas recht Interessantes über die Elfer, das den Abteien bisher nicht bekannt war. Nun, bevor du mit deiner eigenen Geschichte fortfährst, beantworte mir noch eine Frage über sie. Bei uns tragen die Elfer nie Waffen, sie unterrichten die Kinder, heilen Tiere und Menschen, arbeiten auf Bauernhöfen, essen kein Fleisch und nehmen niemals einen Lohn an, außer das, was sie fürs Leben brauchen. Gilt das alles auch in Dalwah?« »Ja, ich glaube schon«, sagte sie. »Die Kirche hat nicht viel für sie übrig, aber die einfachen Leute werden sehr zornig, wenn es heißt, daß sie verfolgt werden sollten, deshalb werden sie im allgemeinen in Ruhe gelassen. Weißt du«, fügte sie naiv belehrend hinzu, »es gibt ohnehin schon so viel, worüber die Bauern sich aufregen, deshalb hat es keinen Sinn, sie wegen etwas zu reizen, was genaugenommen unwichtig ist. Das war jedenfalls die Ansicht von meinem – von meinem Lehrer, dem ich mal begegnet bin. Die Elfer haben ja sowieso nicht viel Einfluß, genausowenig wie die Davids.« »Wer sind die Davids?« fragte Hiero. »Ach, eine komische Sekte von Kaufleuten, die sich das Volk Davids nennen. In unserer Stadt gibt es ziemlich viele, auch in den anderen größeren Städten, glaub
ich. Sie gehören nicht unserer Kirche an, sie wollen eine Menge ganz gewöhnlicher Sachen nicht essen, und sie heiraten nur wieder einen anderen David. Aber man läßt sie auch in Ruhe, weil sie pünktlich ihre Steuern zahlen und immer ehrlich in ihren Geschäften sind. Auch kämpfen sie wie die Wildkatzen, wenn irgend jemand sie oder ihre Kirche angreift. Sie haben eine sonderbare Religion, ohne Kreuz und ohne einen toten Gott, und in der Schule hat mir einer von ihnen erzählt, daß ihr Glaube noch viel älter als unserer sei! Sie sind wirklich komische Leute!« »Hmm«, brummte Hiero, dachte ›in der Schule – soso‹, und versuchte, all das Neue, was er gehört hatte, in sein übriges Wissen einzuordnen. »Eine ungewöhnliche Irrlehre muß das sein, die nie bis zu uns durchgedrungen ist. Die letzte existierte in Kanda, eine Sekte, die sich Prostan nannte, glaube ich – aber die ist vor mehr als zweitausend Jahren wieder mit unserer Kirche verschmolzen. Seither gibt's im Norden nur noch die Universalkirche. Ihr im Süden scheint wirklich eine Menge sonderbarer Anachronismen zu haben. Aber erzähl deine Geschichte weiter; ich werd mich bemühen, dich nicht mehr zu unterbrechen.« Er legte noch ein paar Zweige auf das unscheinbare Feuer, um mehr Licht zu haben, und während ein dünner, kaum wahrnehmbarer Rauchfaden zu der glänzenden Blattkuppel des Zeltbaums aufstieg, berichtete das Mädchen weiter. Der gleichmütige Tonfall ihrer Stimme schien das Außergewöhnliche ihrer Erlebnisse irgendwie
zu unterstreichen. Hiero hatte selbst vielerlei Abenteuer überstanden, nicht zuletzt in der vergangenen Woche, aber der Bericht des Mädchens faszinierte ihn nichtsdestoweniger. Der junge Bär dagegen schien, den Kopf in ihrem Schoß, eingedöst zu sein. Der Elfer, ein ruhiger, älterer Mann, hatte Lucares Bein gerichtet und geschient, und ihr geholfen, sich in einen Unterschlupf zu schleppen. Dann ging er fort, kehrte aber bald darauf mit einem großen Tragtier zurück, das anscheinend ähnlich wie Klootz gebaut war, aber ein gestreiftes, helles Fell hatte und kurze, gerade Hörner, die nicht wie ein Geweih jedes Jahr abgeworfen wurden. Diese Sorte Tier wurde allgemein Kaw genannt. Die beiden waren dann auf diesem Kaw nach Nordwesten geritten. Der Elfer, dessen Name Jon war, hatte dem Mädchen gesagt, er würde es, wenn möglich, an einen sicheren Ort bringen, der seinem Orden gehörte. Es sei jedoch sehr weit bis dorthin, und sie müßten gut aufpassen und immer wachsam sein. Er hatte dem Mädchen keinerlei Fragen gestellt. Viele Tage waren sie so durch den großen tropischen Urwald gezogen, nie auf den Straßenverbindungen zwischen den verfeindeten Stadtstaaten, sondern so weit als möglich auf Wildwechseln oder wenig begangenen Pfaden. Die Bauern und Waldsiedler hatten sie immer gern willkommen geheißen, hatten ihnen Nahrung und Obdach gegeben und sie vor wandernden Wildherden, dem
Auftreten von Lemut oder sonstigen Aktivitäten der Unreinen gewarnt. Zum Dank hatte Jon den Kranken geholfen, Sterbende getröstet, und Schnüre mit aufgefädelten kleinen Buchstaben verteilt, die er geschnitzt hatte, damit die Kinder lesen und schreiben lernen könnten. Das zum Beispiel, warf Lucare ein, war eins jener Dinge, die ihre Kirche gegen die Elfer aufbrachten, weil der Klerus es ebensowenig wie der Adel billigte, wenn den Bauern dumme Gedanken in den Kopf gesetzt wurden. »Auch in meiner Kirche sind ihnen manche nicht gerade freundlich gesinnt«, gab Hiero zu, »obwohl bei uns jeder lesen und schreiben kann. Die traditionellen Kirchen glauben eben, daß ihnen die Bruderschaft auf religiösem Gebiet Konkurrenz macht. Ich glaube, in gewisser Weise stimmt das sogar, aber wenn wir unserer Aufgabe nicht gerecht werden, dann sollten sie, wenn sie es besser machen, wirklich an unsere Stelle treten, findet mein Abt. Aber erzähl weiter.« Nach drei Wochen, die sie immer weiter nach Westen geführt hatten, ereilte sie ihr Schicksal. Sie hatten längst die Grenzen der Stadtstaaten und die zugehörigen Gehöfte weit hinter sich gelassen. Jon sagte dem Mädchen, daß sie noch rund eine Woche zu wandern hätten, bis sie in Sicherheit wären. In Wirklichkeit hatte Lucare sich nie sicherer gefühlt als unter dem Schutz des friedfertigen Elfers. Nur sehr selten kamen ihnen gefährliche Tiere überhaupt nahe, wobei sich die wenigen jedoch immer gleich wieder davonmachten, schnaubend und unruhig.
Einmal, erzählte sie, hatte eine Horde riesiger Schlangenköpfe, die furchtbaren Herren des Dschungels, ihnen ruhig den Weg freigegeben, und das geduldige Kaw hatte seine beiden Reiter sicher mitten durch die Riesenbestien getragen. Jon hatte nur gelächelt, als er ihre fassungslose Ehrfurcht bemerkte. Hiero dachte bei sich, daß die Elfer offenbar schon lange jene geistigen Kräfte beherrschten, die er jetzt in sich selbst aufkeimen spürte. In seinem Fall war diese Entwicklung natürlich durch die zwei furchtbaren Duelle beschleunigt worden, die er mit seinem Geist ausgefochten hatte. Eine weitere Neuigkeit von höchster Wichtigkeit war die erstaunliche Reichweite ihres Ordens in geographischer Hinsicht. Sie waren entlang eines Wildwechsels durch den Dschungel geritten, erzählte Lucare weiter, der genau wie alle anderen ausgesehen hatte, als plötzlich – wo genau, wußte sie nicht zu sagen – ihnen ein Mann in den Weg getreten war. Mit verschränkten Armen wartete der Unbekannte, bis sie herangekommen waren. Im gleichen Moment stürzte ein gutes Dutzend widerlicher, haariger Lemut von beiden Seiten aus dem Dschungel, große, aufrechtgehende Rattenwesen mit nackten Schwänzen und intelligenten, viel zu intelligenten, grausamen Augen. (Menschenratten, dachte Hiero.) Die mit Keulen und Speeren bewaffneten Scheusäler kreisten die beiden auf ihrem Reittier ein, aber keins kam näher als vielleicht zwei Meter heran.
Lucare hatte entsetzliche Angst gehabt, doch Jons freundliches Gesicht hatte nichts von seiner Gelassenheit verloren. Der Mann, der ihnen den Weg versperrte, war blaß, vollkommen kahl, und trug einen grauen Mantel mit zurückgeworfener Kapuze. Seine Augen musterten die beiden mit unbeschreiblicher, kalter Bosheit. Sie wußte sofort, daß ein Meister der Unreinen sie in der Gewalt hatte, und versuchte, ihr Entsetzen zu unterdrücken. Einige Augenblicke lang herrschte unheimliches Schweigen, und sie hatte einfach die Augen zugepreßt und sich an Jon geklammert. Dann hörte sie ihn ruhig auf Dalwah sprechen. »Wir wollen laut miteinander reden. Es ist nicht nötig, das Kind zu erschrecken. Ich habe einen Handel vorzuschlagen.« »Was für einen Handel, Freund der Natur, Pflanzenanbeter? Du hast mir gar nichts zu bieten. Ihr seid beide in meiner Macht.« »Das ist richtig, Bewohner der Dunkelheit. Aber ich kann viele von deinen Dienern töten, und auch du selbst könntest in dem Kampf verletzt werden. Zumindest aber wäre deine Kraft für Tage erschöpft. Ich bin ein Gereifter, wie du wahrscheinlich selbst bemerkt hast. Diese Falle wurde mit großer Sorgfalt vorbereitet, und in einer Gegend, wo ich keine erwartet hätte.« Zitternd hörte Lucare die harte Stimme des Feindes neuerlich fragen, was für ein Handel vorgeschlagen werde.
»Laß das Kind und das Tier gehen. In diesem Fall werde ich, bei meinem Wort und meiner Seele, keinen Widerstand leisten und mich deinen Befehlen fügen. Entscheide dich schnell, oder ich zwinge dich, uns sofort zu töten. Es wird kein leichter Kampf für dich sein.« »So sei es, Naturhüter. Einer deines Ranges ist, selbst wenn er eurem Orden von Schwächlingen angehört, fürwahr ein seltener Fang, denn sonst verkriecht ihr euch doch in eure sicheren Schlupfwinkel. Schicke das Kind und dein Rindvieh also fort, und folge mir.« »In all deinen Gedanken und Taten lauert die Lüge«, entgegnete Jon ruhig. »Das Mädchen soll fortreiten, ohne daß ihr auch nur einer deiner schmutzigen Rotte folgt. Ich kann sehr leicht feststellen, ob du dich daran hältst. Ich werde eine Stunde lang hier warten, und danach will ich mit dir gehen. So und nicht anders lautet mein Handel.« Lucare konnte den schrecklichen Zorn des Dunklen Meisters fast fühlen, aber endlich stimmte er doch zu, wie Jon wohl im voraus gewußt hatte. Nachdem er ihr leise in einer unbekannten Sprache seinen Segen erteilt hatte, gab der Elfer dem Kaw eine kurze Anweisung, worauf das Tier sich sofort in Bewegung setzte und mit ihr, nun allein im Sattel, davontrabte. Das letzte, was sie von ihrem Freund gesehen hatte, war seine schlanke, braunbekleidete Gestalt gewesen, die unerschütterlich vor dem grauen Teufel und seinen Bestien stand und wartete. Wenig später war die ganze
Gruppe außer Sicht, als sie um eine Kurve der grünen Blattmauer bog, die den Pfad säumte. Als sie daran dachte, wie Jon sich für sie geopfert hatte, bemerkte Hiero, daß Lucare nur mit Mühe die Tränen zurückhalten konnte. »Er muß ein tapferer und guter Mann gewesen sein«, sagte der Priester leise. »Ich bin selbst einem dieser Meister der Unreinen begegnet, einem Mann, auf den deine Beschreibung so genau zutrifft, daß es sich um die gleiche Person gehandelt haben könnte, wäre die Entfernung nicht so groß. Fast gelang es ihm, mich zu töten oder schlimmer noch, zu seinem Gefangenen zu machen. Wenn nicht dieser kluge, pelzige Bursche gewesen wäre, der da auf deinen Knien schnarcht, wäre ich verloren gewesen.« Wie er gehofft hatte, konnte er das Mädchen damit von ihrem Kummer ablenken. Auf ihre interessierte Frage gab er ihr einen kurzen Bericht über seinen Kampf mit Snerg, und bat sie, als er geendet hatte, mit ihrer eigenen Geschichte fortzufahren. Das arme, treue Kaw war wenige Tage später das nächste Opfer geworden. Sie war eines nachts zum Schlafen auf einen Baum geklettert, und ein Raubtier hatte das darunterstehende Kaw angefallen und getötet. Im Morgengrauen kletterte Lucare herunter, machte einen Bogen um die blutigen Überreste ihres Reittiers, die schon einige Aasfresser angelockt hatten, und floh zu Fuß, ohne recht zu wissen, wohin sie nun sollte. Große wilde Tiere, Bestien, wie sie ihr noch nie begeg-
net waren, folgten ihrer Fährte, und mehr als einmal entging sie nur um Haaresbreite einem schrecklichen Tod. Manchmal hatte sie an Selbstmord gedacht, aber ihr Überlebenswille war stärker als die Verzweiflung über ihre aussichtslose Lage. Sie hatte immerhin noch ihren Speer und das Messer, und es gelang ihr, genug Nahrung aufzutreiben, um am Leben zu bleiben, meistens indem sie beobachtete, was die Vögel und die kleinen Affen fraßen. Aber auch das hatte seine Gefahren, und zweimal war ihr furchtbar übel geworden. Als sie sich erschöpft, mit zerfetzten Kleidern und halbverhungert, durch den Dschungel schleppte, hörte sie auf einmal Menschenstimmen. Vorsichtig schlich sie sich näher heran und stieß auf einen Lagerplatz von Händlern, braungebrannten, schwarzhaarigen Männern, die nach ihrer Beschreibung ähnlich wie Hiero aussahen, und die ihre von Kaws gezogene Wagenkarawane für die Nacht auf einer weiten Waldlichtung im Kreis geparkt hatten. Ein breiter Karrenweg zog sich durch die Lichtung und führte jenseits davon weiter in den Dschungel. Lucare versteckte sich im Unterholz, weil sie hoffte, später vielleicht etwas Essen oder Kleidung stehlen zu können, und dort stöberte sie ein aufmerksamer Wachtposten auf, der einen großen Hund an der Leine führte. Sie versuchte sich zu wehren, sich loszureißen, wurde aber niedergeschlagen. Als sie wieder zu sich kam, schleppte man sie vor den Karawanenführer, der sie eingehend ausfragte. Sie hatte ihm nicht geantwortet,
obwohl die Händler ein paar Brocken ihrer Sprache konnten. Darauf hatte der Anführer der Kaufleute sie von seinen Frauen untersuchen lassen (es war ein wirklich großer Troß mit Planwagen für Frauen und Kinder). Als man ihm sagte, daß sie noch Jungfrau sei, behandelte er sie gut, ließ sie aber schwer bewachen. Es war klar, daß sie als wertvolle Ware betrachtet wurde, die einen guten Preis bringen würde. Mehrere Wochen war sie mit den Händlern weitergezogen, immer unter Bewachung. Die Leute waren nicht unfreundlich gewesen, und in dieser Zeit hatte sie Batwah sprechen gelernt, erzählte sie. Bald konnte sie sich mit den anderen Frauen unterhalten, die zwar ganz nett zu ihr waren, jedoch deutlich durchblicken ließen, daß sie ihnen nicht ebenbürtig war. Aber sie wurde nicht geschlagen oder vergewaltigt, und sie bekam Stoffkleider und sogar ein Kaw zum Reiten, obwohl das Tier immer mit einem anderen zusammengekoppelt war. Mehrmals kamen sie über offenes Grasland, und einmal schlug die Karawane einen weiten Bogen um eine Gegend, die, wie Lucare erfuhr, eine Todeswüste war. Eines Tages schließlich erreichten sie die Inlandsee, von der das Mädchen bisher nur in Gerüchten gehört hatte. Das Ziel der Karawane war eine große, mauerumgürtete Hafenstadt voller Händler, Seeleute und Kauffahrer, deren Schiffe sich im Hafen drängten. Die eingesessene Bevölkerung war nicht weniger zahlreich; viele Bürger bebauten das fruchtbare Land ringsum und verkauften
Getreide und sonstige landwirtschaftliche Produkte an Schiffsbesatzungen und Handelskarawanen. Die Straßen, Märkte und Gasthöfe wimmelten von Menschen aller Rassen und Hautfarben, Weißen und dunkelbraunen wie Lucare, und, vor allem unter den Händlern, vielen Leuten, die mehr oder weniger wie Hiero aussahen. Sie entdeckte auch ein paar halbverfallene Kirchen, obwohl keiner der Händler, mit denen sie zusammenkam, Christ war. Es wurde ihr auch nicht erlaubt, die Gebäude näher anzuschauen oder mit einem Priester zu sprechen – nur einmal glaubte sie einen in der Ferne gesehen zu haben. Die Stadt hieß Neeyana, und man erzählte sich, daß sie sehr, sehr alt war. Lucare gefiel es dort wenig. Die Menschen waren meist mürrisch und verschlossen, und ein oder zweimal sah sie Gestalten in den düsteren Gassen, die sie an den Unreinen Meister erinnerten. Aber niemand erwähnte die Unreinen auch nur, höchstens im Flüsterton und nach einem furchtsamen Blick über die Schulter. Sie hatte das Gefühl gehabt, daß die Unreinen in dieser Stadt eine Rolle spielten, ihr ganzes Gefüge durchsetzten und kontrollierten. Es fiel dem Mädchen nicht leicht, Hiero diese nicht beweisbare Ahnung verständlich zu machen, aber ihm war sofort klar, daß sie sicherlich recht hatte. Genau wie sich der Einfluß des Ordens der Elfer in Wirklichkeit weit über das bisher bekannte Ausmaß erstreckte, reichte auch die Macht der Feinde viel weiter als vermutet. Nach mehreren Wochen Gefangenschaft unter stren-
ger Bewachung war Lucare verkauft worden, wieder an einen Kaufmann; wenige Tage später schiffte sich ihr neuer Besitzer mit seinen Leuten und Waren ein. Auch er ließ sie gut bewachen, da er anscheinend ebenfalls ihre Jungfräulichkeit als eine beträchtliche Aufwertung ansah – der Metz mußte insgeheim über diese Vorstellung lächeln: Was in aller Welt fanden diese sonderbaren Südleute an weiblicher Unberührtheit so kostbar? Sie hatte sich noch nie zuvor auf etwas größerem als einem Ruderboot oder Kanu befunden, fuhr Lucare fort. Jenes Schiff hatte zwei Masten und riesige spitze Segel gehabt und war ihr ungeheuer groß vorgekommen. Nach zwei Tagen ruhiger, flotter Fahrt kam jedoch ein Sturm auf und schleuderte das Schiff im Finstern gegen die Klippen einer kleinen Felsinsel. Am nächsten Morgen waren sie von einer Horde weißer Wilder entdeckt worden, die in Kanus herausruderten. Dies war das Volk gewesen, vor dem Hiero sie gerettet hatte. Die Weißen hatten die Kaufleute nicht unfreundlich behandelt, und ihr Oberpriester hatte mit dem Kapitän des Schiffes eine Beratung unter vier Augen abgehalten. Dafür, daß sie die Händler und ihre Waren gerettet hatten – soweit letztere nicht verlorengegangen waren –, wollten sie Lucare haben, deren Hautfarbe ihnen noch nie zu Gesicht gekommen war, um sie den großen Vögeln zu opfern, die sie anbeteten. »Die Händler waren einverstanden, diese dreckigen
Läuse«, fauchte Lucare. »Sie kamen sogar mit und schauten zu. Hast du sie gesehen? Sie saßen alle beisammen auf der einen Seite – ganz ähnlich wie du gekleidet, aber mit breiten Hüten.« Am folgenden Nachmittag hatte man sie dann ausgezogen und an den Pflock gefesselt, wo Hiero sie gefunden hatte. Bald war der Vogelschwarm aufgetaucht, angelockt durch den dumpfen Ruf der hohen Trommeln. Die Trommelwirbel, die Hiero tags zuvor aus der Ferne gehört hatte, waren Auftakt für den Tod eines männlichen Gefangenen gewesen, der von einem feindlichen Stamm weiter unten an der Küste stammte. Als Lucare mit ihrer Erzählung zu Ende war, merkte sie plötzlich wie müde sie war, und wie dieses nochmalige Durchleben der letzten Tage und Wochen sie erschöpft hatte. Sie konnte kaum noch die Augen offenhalten. Hiero stand auf und holte ihr eine Decke und seinen Mantel aus einer der Satteltaschen. Sie lächelte dankbar, rollte sich hinein, und war wenige Sekunden später eingeschlafen, mit der gesunden Unbekümmertheit der Jugend, die überstandene Unbill schnell vergißt. Das leise wispernde Schnaufen, das ihr hübscher Mund ausstieß, war, entschied ihr Retter, ein viel zu zarter Laut, um als Schnarchen klassifiziert zu werden. Welch ein schönes Geschöpf sie war, trotz dieses komischen Haars, das wie ein Gewirr aus schwarzen Spiralfedern aussah! In diesem Augenblick wurde Hiero sich bewußt, daß er so lauthals gähnte, daß er kaum den Mund wieder zubrachte, worauf er sich die zweite Decke über die Oh-
ren zog und fast genauso schnell einschlief wie Lucare. Draußen vor der Kuppel des Baums, unter einem sternbesäten Himmel, äste der große Ellk, und die warme Nachtluft trug ihm vielfältige Gerüche von nah und fern zu. Nach einer Weile kam der Bär herausgekrochen, seine Nase berührte kurz die des Ellks, dann machte er sich davon auf einen nächtlichen Jagdausflug. Die beiden Menschen unter dem Kuppeldach des Baums jedoch schliefen ruhig in dem Bewußtsein, daß über ihre Sicherheit gewacht wurde. Am nächsten Morgen wachte Hiero so plötzlich auf, als hätte ihn eine Wespe gestochen. Ein fremdes Geräusch, noch halb im Schlaf vernommen, hatte ihn hochfahren und in ein und derselben Bewegung nach seinem Dolch greifen lassen. Eine Sekunde später ließ er die Waffe los und grinste ein wenig verdattert. Das Geräusch war eine weiche Stimme, die eine einfache Melodie summte, einen immer wiederkehrenden Refrain in einem sonderbaren gleitenden Tremolo. Er fühlte sich an ein Schlaflied für Kinder aus seinem eigenen Land erinnert und dachte, daß es wohl auch in Lucares Heimat etwas derartiges war. Als er das dichte Gezweig auseinanderschob und nach der Sonne sah, erkannte er, daß es schon spät am Vormittag war. Er hatte über zehn Stunden geschlafen und es offensichtlich nötig gehabt. Ein paar Schritte entfernt saß das Mädchen mit dem Rücken zu ihm auf dem Boden und nähte etwas; sie hatte offenbar sein Flickzeug in der
Satteltasche entdeckt. Ihr Gesang übertönte sein Hervorkommen, und er räusperte sich höflich, als ihm das klarwurde. Lucare sah auf und lächelte. »Du bist ein Langschläfer, Per Hiero. Schau, was ich mir gemacht hab'!« Sie stand auf, und bevor er etwas sagen oder tun konnte, hatte sie ihren zerfetzten Schurz abgestreift. Eine Sekunde lang stand sie nackt vor ihm, eine schlanke Statue aus poliertem Mahagoni – und einen Atemzug später hatte sie eine lederne Hemdhose an, die aus einem Stück gefertigt war, mit ellbogenlangen Ärmeln und kurzen Beinen. Sie lachte, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte. »Nun ja«, brachte er heraus, »das sieht ganz nett aus. Meine Reservekleider, wie ich sehe.« »Nur teilweise«, antwortete sie. »Deine zweiten Hosen und die Unterwäsche hab' ich nicht brauchen können. Das ist bloß ein langes Lederhemd. Du hast doch nichts dagegen, oder?« Ihre Miene trübte sich bei dem Gedanken an Mißbilligung. »Aber natürlich nicht. Du bist ja sehr geschickt mit Nadel und Faden. Wenn ich mir in Zukunft Löcher in meine Sachen reiße, darfst du sie flicken.« »Ich hab' das erst gelernt, naja, nachdem ich von zu Hause fortgelaufen war. Vorher habe ich nie etwas genäht. Dafür ist es doch wirklich hübsch geworden, nicht?« Sie tanzte mit ausgebreiteten Armen durch das Sonnenlicht, um ihm ihr neues Gewand vorzuführen. Hinter den beiden stand der Ellk und sah blinzelnd zu,
während Gorm, wie immer, wenn es sonst nichts zu tun gab, unter einem niedrigen Busch döste. Das Gewässer, das Hiero am Vorabend nicht mehr hatte überqueren wollen, war kaum hundert Meter entfernt. Bei Tageslicht erwies es sich als schmale Bucht und nicht als Flußmündung, so daß sie nur einen Umweg von vielleicht einer halben Stunde zu machen brauchten. Sie frühstückten sparsam von ihrem Proviant. Das Birkhuhn verschmähte selbst Gorm jetzt, und sie mußten es wegwerfen, aber Antilopenschnitzel, Pemmikan und Zwieback war immerhin besser als gar nichts, und außerdem waren fünf von den großen Schnappereiern heil geblieben. Der Bär und die beiden Menschen aßen jeder eins. Dann räumten Hiero und das Mädchen die Satteltaschen aus, wuschen das zerdrückte Ei heraus und lüfteten den übrigen Inhalt. Kurz vor Mittag waren sie wieder unterwegs. Den ganzen Tag folgten sie der Küste nach Osten. Ab und zu mußten sie ein paar Felsvorsprünge landeinwärts umgehen, aber sie wichen selten weit von ihrem Kurs ab. Hiero freute sich durchaus über seine hübsche Beute, obwohl diese Freude durch die aufkeimende Erkenntnis getrübt wurde, daß er keine Ahnung hatte, was er mit dem Mädchen anfangen sollte, und daß er sie wohl nicht gut in seinen Auftrag einweihen konnte. Mitunter kam ihm sogar der bedrückende Gedanke, daß sie genaugenommen eine Gefahr darstellte, weil sie seine Aufmerksamkeit ablenkte. Andererseits aber stammte sie gerade
aus der Gegend, in die er sollte, und sie war eine Fundgrube von Informationen über die Leute, Bräuche, politischen und geografischen Gegebenheiten ihres Landes und letzten Endes – es blieb ihm ja kein anderer Ausweg! Einmal kamen sie an eine Stelle, wo eine Reihe langer Sandbänke die Mündung eines seichten Baches begrenzten. Eine Menge Treibholz, sogar ein paar Baumstämme hatten sich darauf angesammelt. Einige Schnapperschildkröten lagen auf diesen Sandbänken, dösten und sonnten sich. Ihre riesigen dunkelgrauen Panzer sahen wie bemooste Geröllblöcke aus. Die Tiere blinzelten jedoch kaum, als die Wanderer an ihnen vorbei durch den Bach wateten. »Gibt es die bei euch auch?« fragte der Priester und ließ die schläfrigen Ungeheuer nicht aus den Augen. »Ja, und noch viel schlimmere Bestien«, antwortete sie. Nach ihrer Aussage mußten selbst die Abwässerkanäle ihrer stolzen Heimatstadt mit schweren Eisengittern oder Mauern geschützt werden, damit des nachts nicht alle möglichen scheußlichen Wasserwesen heraufkamen und alles und jeden verschlangen, wo sie nur konnten. Auch Brücken mußten mit hohen Schutzwällen versehen, Straßen in der Nähe von Flüssen mit festen Barrikaden abgezäunt werden, wo es nur ging. Trotz all dieser Vorsichtsmaßnahmen mußten schwerbewaffnete, berittene Straßenpatrouillen die Stadt durchstreifen und nach eingedrungenen wilden Tieren Ausschau halten, sowie Einfälle von Lemuthorden zurückschlagen. Hiero war
ein Leben voller Kampf und Gefahr gewöhnt, aber was er vom Alltagsdasein im fernen Dalwah hörte, brachte ihn zu der Ansicht, daß es in seiner Heimat vergleichsweise eigentlich sehr ruhig und auch friedlich zuging. In dieser Nacht lagerten sie auf einem hohen, felsigen Hügel, von dem aus Hiero vor Einbruch der Dunkelheit weit ins Land sehen konnte, bis in die Gegend des Palud, von dem langsam die Abendnebel in die windstille Luft aufstiegen. Einmal hörte er schwach in der Ferne das Brüllen irgendeines Amphibienungeheuers, wie eine grimmige Warnung, nochmals in den weiten Sumpfgürtel einzudringen. Als sie nach dem Abendessen, das aus einem der übrigen Schnappereier und ein paar Streifen des mitgenommenen Antilopenbratens bestand, beisammensaßen und sich unterhielten, verstummte der Metz-Priester mit einemmal. Am Rande seines Geistes, seines telepathischen Bewußtseins hatte er ganz schwach etwas gespürt, eine Berührung, einen rufenden, suchenden Gedanken. Es war ein kaum wahrnehmbares Signal, doch er war sich bewußt, daß seine diesbezüglichen Kräfte in letzter Zeit deutlich zugenommen hatten. Er konnte jetzt bereits, ohne auch nur bewußt daran zu denken, im Vorbeireiten die ›Stimmen‹ von Vögeln oder kleinen Tieren ›hören‹. Aus Rücksicht und Anstand hatte er es vermieden, Lucares Gedanken zu sondieren, aber er war sicher, daß er dazu fähig war, falls es nötig wurde.
Das braune Mädchen bemerkte seinen starren, abwesenden Blick und wollte etwas sagen, aber er gebot ihr mit einer schroffen Handbewegung Schweigen. Er konzentrierte seine ganze Kraft und seine hart errungene Erfahrung darauf, das sonderbare Signal, das er aufgefangen hatte, deutlicher auszumachen und zu identifizieren, aber es gelang ihm nicht. Aber was oder wer auch immer es aussandte, er spürte nur zu deutlich, daß er damit sachte und sehr vorsichtig angepeilt wurde. Hiero stand schnell auf und trat zu den Packtaschen. Als er zurückkam, war sein Gesicht verschlossen, und er trug das sonderbare Lanzen-Antennen-Gerät des toten Snerg. Er setzte sich hin, zog den Stab voll heraus und ließ die beiden Stirnkontakte herausgleiten. Als sie seine Schläfen berührten, fühlte er, wie seine geistige Kraft sich plötzlich um ein Mehrfaches verstärkte – und noch etwas anderes! Sei gegrüßt, Feind! Der Gedanke traf ihn mit bösartiger Wucht wie eine Sturmbö. Gleichzeitig merkte der Priester, wie die verstärkte geistige Ausstrahlung des anderen an ihm zerrte, wie ein unsichtbarer, aber sehr realer Würgegriff. Hiero verstand jetzt, daß er unglaubliches Glück gehabt hatte, als er das Ding das erste Mal einschaltete. Wenn der Telepath auf der anderen Seite damals diesen Trick versucht hätte, wäre er dem Ansturm wahrscheinlich sofort erlegen. Jetzt aber befähigte ihn seine neue Stärke und Erfahrung, die Attacken des anderen abzuwehren, wie ein Fechter einen Schwerthieb pa-
riert, so daß er ›hören‹ oder selbst sprechen‹ konnte. Du bist stark, Feind, kam der nächste widerwillige Gedanke. Bist du vielleicht ein Abtrünniger unserer Bruderschaft oder eine neue Mutation, die wir noch nicht kennen? Wir haben dauernd diese Frequenz kontrolliert und abgehört, seit wir wußten, daß du unseren Bruder getötet und ihm seinen (folgte unentschlüsselbares Symbol) gestohlen hast. Hiero schickte keinen Antwortgedanken zurück. Der andere wußte jedoch, daß er zuhörte, und der Priester hatte das starke Gefühl, daß der Unreine, höchstwahrscheinlich einer der Dunklen Meister, nicht von sich aus die Verbindung abbrechen würde. Es war klar, daß die Feinde keine Ahnung hatten, wer oder was er sein könnte. In ihrer kalten Selbstsicherheit nahmen sie jedoch an, daß er ihre Art von bösartigem, perversem Geist besaß, was immer er auch war. Die Vorstellung, daß einer ihrer verachteten Widersacher, ein Abteipriester, eine solche Macht besaß, lag ihnen offensichtlich fern. Du bist kein Schüler der Baumanbeter, der schwächlichen Freunde der Natur, die sich Brüder des Elften Gebotes nennen, das merke ich deutlich, kam ein neuer Gedanke. Wir kennen ihr Gedankenmuster, und du gleichst an Kraft und Schläue viel eher uns. Ein zweifelhaftes Kompliment, vermerkte ein anderer Teil von Hieros Geist und registrierte gleichzeitig, daß die Elfer, wiewohl unversöhnliche Feinde der Unreinen, doch irgendwie mit ihnen in Verbindung stehen mußten. Wir verloren dich im großen Sumpfland, sendete der an-
dere mit eiskalter Deutlichkeit. Wir schickten einen nicht sehr verläßlichen Verbündeten aus, von dem wir seither nichts mehr gehört haben, so daß du ihn vielleicht ebenfalls überwältigt hast, obwohl er selbst unseren Gehirnen fremd und unheimlich ist. Und dann fandest du das (unverständlich), das du unserem ermordeten Bruder genommen hattest, und zerstörtest es. Eine kurze Pause trat ein. Willst du nicht antworten? Dieser Gedanke war voll lockender Freundlichkeit, trügerisch, sirenenhaft, verführerisch wie das namenlose Böse. Wir, unsere große Bruderschaft, erkennen dich als ebenbürtig an. Du sollst einer von uns werden, unsere Macht, unsere Ziele, unsere Freuden mit uns teilen. Fürchte nichts. Wir können dich nicht finden, solange du es nicht selbst wünschst. Wir möchten nur Gedanken austauschen mit dir, mit einem Geist, der unserem an Stärke gleichkommt und doch so anders ist. Süß und klebrig wie Fliegenpapier suchten die Gedanken des anderen Hieros Geist zu umfangen. Sprich doch mit uns, o unser Feind, den wir zu einem Freund machen wollen. Der Priester hielt seine Gedankenabschirmung mit unermüdlicher Wachsamkeit aufrecht, so wie einst vielleicht in den Gladiatorenkämpfen der fernsten Vergangenheit der secutor sich mit seinem Schild gegen das tödliche Netz des retiarius geschützt hatte. Hiero erinnerte sich an den Elfer Jon, der gestorben war, um Lucare, zu retten, und an seine Bemerkung: »In allen euren Worten lauert die Lüge.« Außerdem war er keineswegs sicher, daß der andere und seine Gesellen ihn nicht doch
aufspüren konnten, falls er wirklich antwortete. Wer weiß, dachte er, vielleicht können sie mich sogar finden, auch wenn ich nur zuhöre – niemand kennt ihre wirkliche Macht. Mit einer entschlossenen Bewegung riß er sich die Kontakte von der Stirn, schob die Antennen ein und die Teleskopröhren ineinander. Die fremde Stimme verstummte schlagartig. Trotzdem konnte er wie zuvor gerade am Rande seines Bewußtseins jenes lästige, suchende Zerren und Rufen fühlen, mit dem der andere die Verbindung unbedingt wieder herzustellen suchte. Er riß sich zusammen und überlegte scharf. Wenn er vielleicht den primären Gedankenschild, den er von der Abteischule her kannte, ein wenig veränderte, so – und dann mit Hilfe seiner neuen Kräfte einen zweiten Schild aufbaute, der den anderen umschloß, etwa so... Es funktionierte. Als sich die zweite Abschirmung wie eine unsichtbare Kugelschale um die erste legte, erlosch das feindliche Rufsignal sofort wie eine erstickte Kerzenflamme. Nicht die Spur einer geistigen Verbindung war mehr zu fühlen, und er war sicher, den Feind abgeschüttelt zu haben. Er sah auf. Es war längst völlig dunkel geworden, aber der Mond schien ziemlich hell; ein paar Meter von ihm entfernt saßen Lucare und Gorm beisammen und warteten darauf, daß er wieder zu ihnen zurückkäme. Der Ellk war nur zu hören – er weidete geräuschvoll am Fuß des Felshügels, ein unermüdlicher und aufmerksamer Wächter.
Hiero rieb sich die Augen. »Mach dir keine Sorgen«, sagte er. »Die Unreinen haben eben ein paar Tricks ausprobiert. Aber jetzt ist Schluß damit, und das nächste Mal bin ich dafür um so besser vorbereitet.« »Können sie uns folgen – können sie ... mit deinem Geist sprechen?« fragte das Mädchen unsicher. »Nein, jetzt nicht mehr. Sie wissen nicht, wo ich bin, und übrigens auch nicht, wer oder was ich bin, und ich glaube, sie beginnen, sich meinetwegen ein bißchen Sorgen zu machen. Jedenfalls haben sie in einem breiten Bereich ein Dauersignal ausgestrahlt, das irgendwie auf mein persönliches geistiges Muster – so weit sie es kannten – abgestimmt war. Sie versuchten alles, um mit mir Kontakt zu bekommen. Das fühlte ich vorhin und holte dieses Ding«, er stieß mit dem Fuß nach dem Kommunikator, »so daß ich sie richtig hören konnte. Dieses Gerät hat nämlich einem von ihnen gehört, dem, den wir töteten. Weißt du«, fuhr er fort, »sie denken, ich bin ein Lemut, irgendeine Art von bösartiger Mutation, oder auch nur ein Mensch mit ihrer gemeinen Veranlagung. Mein Geist scheint sich ein wenig zu verändern, und das beunruhigt sie. Nun, mit der Zeit ist es mir unheimlich geworden und ich hab' die Verbindung abgebrochen und auch dafür gesorgt, daß ihre Gedankensonde mir nichts mehr anhaben kann. Ich glaube nicht, daß sie noch eine Chance haben, uns auf diese Weise aufzuspüren.« Als nächstes wiederholte er auch dem Bären, was er
dem Mädchen gesagt hatte, verwendete aber eine gedankliche Wellenlänge von sehr kurzer Reichweite, die wohl niemand auffangen oder ›anpeilen‹ konnte. Gorm verstand erstaunlich gut, was sich ereignet hatte und zog sogar eine eigene, überraschende Schlußfolgerung. Du bist jetzt stark, Freund/Hiero. Für (die meisten der) Feinde wird es schwer/unmöglich sein, (dich zu) besiegen, außer (vielleicht) für die Stärksten/Erfahrensten/Ältesten. Das war mehr eine interessante Feststellung als eine Vermutung, und bewies Hiero, daß der Bär tatsächlich etwas von der geistigen Weiterentwicklung seines menschlichen Freundes begriff. In dieser Nacht schliefen sie ungestört. Als sie am nächsten Morgen nach dem Frühstück hinunter zum Strand zurückgekehrt waren, beschloß Hiero, in den Kristall zu schauen und die Symbole zu befragen. Er war fast sicher, daß keiner der Unreinen in der Nähe war, und er deshalb das kleine Risiko eingehen konnte. Er erklärte, was er tun würde, holte seine Geräte heraus, legte die Stola um, sprach die kurzen Anrufungen und wartete. Das Mädchen, der Bär und der Ellk beobachteten ihn stumm aus einiger Entfernung. Lucare faszinierte der Vorgang, aber sie war gescheit genug, um zu begreifen, daß jetzt keine Störung erlaubt war und daß sie ihre Frage schließlich später stellen konnte. Hieros erster Blick durch den Kristall vermittelte ihm genau das, was er gesucht hatte. Ein großer Vogel,
höchstwahrscheinlich irgendein Seevogel mit weißen Schwingen (er konnte sie aus den Augenwinkeln aufblitzen sehen) und mit scharfen Augen flog die Küste entlang nach Osten, ganz genau in die Richtung, in die sie auch wollten. Die Sicht war wirklich atemberaubend. Er konnte sehen, daß der Sandstrand sich ununterbrochen viele, viele Meilen fortsetzte – ohne Flußmündungen, selbst ohne Bäche. Der Palud säumte hier die Küste in einem nicht mehr sehr breiten Gürtel, vom Strand fast überall durch einen Wall höheren Landes getrennt, eine Kette von sandigen Hügelchen, mit dichten Büschen und Palmettostauden bewachsen. Nur ein einziges Mal, ganz weit in der Ferne, berührte das Sumpfland die Küste. Noch weiter weg, fast am Rande des Gesichtskreises, bemerkte Hiero etwas, das anscheindend eine Gruppe kleiner Inseln war, die jedoch nur undeutlich auszumachen waren. Da der Vogel sich von der Luftströmung tragen ließ und in weiten Kreisen durch die Luft segelte, bekam Hiero auch das Land hinter ihnen zu sehen. Weit im Westen stiegen von einem palisadenbewehrten Dorf an einem schmalen Fluß einige dünne Rauchsäulen auf. Das war wohl die Siedlung ihrer ehemaligen Widersacher, der weißhäutigen Vogelkultanhänger. Sonst rührte sich weit und breit nichts, nur ganz draußen auf dem Meer furchte ein großes, dunkles Ding durch die spiegelglatte ferne Wasserfläche. Wenn es ein Fisch war, dann schwamm er erstaunlich hoch im Wasser – Hiero konnte jedoch keinerlei Einzelheiten erkennen.
Schließlich brach er den paravisuellen Kontakt ab und öffnete die Augen, um als nächstes die Gegenstände in seiner geschlossenen linken Hand zu begutachten. Bevor er sie sich ansah, rief er jedoch noch Lucare und Gorm heran. Das Symbolorakel war weder irgendwie geheim noch sakral. Das Gebet, das vor dem Auslegen der Symbole gesprochen wurde, war lediglich eine Anrufung von Gottes Hilfe, und die Holzfiguren selbst waren nichts Heiliges wie etwa ein Stück Kommunionsbrot oder ein Kelch mit Apfelwein. Das Mädchen war begierig, mehr darüber zu erfahren, und auch der Bär schien interessiert zu sein, obwohl Hiero sich fragte, wieviel von den abstrakten Gedanken er wirklich erfaßte. Die Leistungsfähigkeit des Gehirns in diesem zottigen Schädel war immer noch eine ungelöste Frage. Jetzt lagen auf der Hand des Priesters ein paar bereits bekannte Figuren, aber auch einige, die während seiner bisherigen Reise noch nicht aufgetreten waren. Insgesamt waren es fünf Symbole. Wieder waren der Speer und der Fisch aufgetaucht. »Krieg und Wasser, Kämpfe und Schiffe, Fische und Jagen«, erklärte Hiero dem Mädchen, als er die beiden Figuren beiseite legte. Dann nahm er die Verschlungenen Hände auf. »Dieses Zeichen bedeutet einen Freund in Not«, sagte er und lächelte ihr zu. »Ein gutes Zeichen, eines der besten. Es kann auch heißen, daß ich einen alten Freund
wiedertreffe, oder daß ich einen neuen gewinne, einen, dem ich vertrauen kann. Es gibt noch ein Symbol mit ähnlicher Bedeutung, die Offene Hand.« Er zeigte es ihr. »Das kam heraus, bevor ich Gorm begegnete. Die Verschlungenen Hände sind jedoch nicht ganz das gleiche.« Sie verkündeten unter anderem auch einen Freund fürs Leben, aber aus irgendeinem Grund erwähnte er diese Auslegung nicht. »Könnte ich gemeint sein?« fragte sie. »Ich meine, ich hab' selber so wenige Freunde, und ich dachte, vielleicht...?« »Fast sicher bist du gemeint. Ich bezweifle, daß wir in der nächsten Zeit vielen Menschen begegnen werden, und wenn wir welche treffen, dann werden es alles andere als Freunde sein. Nehmen wir also an, wir haben beide einen neuen Freund gewonnen.« Nun lächelten sie beide, das kupferne und das dunkelbraune Gesicht, und bei beiden blitzte eine Doppelreihe fehlerloser weißer Zähne auf. »Schauen wir mal,« fuhr Hiero fort, »was haben wir da noch? Zwei Figuren noch ... Nun, da ist einmal der Blitz. Dieses Zeichen hat drei Bedeutungen, von denen zwei sehr unwahrscheinlich sind. Erstens könnte ich buchstäblich vom Blitz getroffen werden. Diese Bedeutung möchte ich als sehr zweifelhaft ansehen. Dann könnte es heißen, daß ich sehr, sehr zornig werde. Manchmal warnt es einen, daß man sich vor Zorn hüten soll. Das ist immerhin möglich, aber ich hab' mich noch
nie weniger zornig gefühlt.« Er lachte und drehte die kleine Figur auf der Handfläche hin und her. »Nein, ich glaube, hier trifft die üblichste und wahrscheinlichste Bedeutung zu – ganz einfach schlechtes Wetter, oder spezifischer, ein heftiges Gewitter. Darauf sollten wir uns wohl besser vorbereiten.« Er legte den Blitz zu den anderen drei Figuren. »Und was haben wir als letztes? Die Stiefel, oder die Schuhe, wie manche sie auch nennen. Bedeutung: eine lange Reise. Um das zu wissen, hätte ich dieses Zeichen nicht gebraucht. Vielleicht besagt es aber, daß die Reise viel länger wird, als ich mir vorgestellt habe.« Er starrte das winzige Stiefelpaar auf seiner Hand an, sammelte dann alle fünf Symbole ein und schüttete sie in den Beutel zu den übrigen fünfunddreißig. »Kannst du wirklich nicht mehr herauslesen?« erkundigte sich das Mädchen. »Das alles klang ein bißchen ... ein bißchen vage. Das meiste hätte man auch so erraten können, wenn man sich vor Augen hielte, wo wir sind, wer wir sind, und was wir vorhaben.« »Zunächst einmal«, sagte der Priester, während er seine Sachen wieder einpackte, »hast du völlig recht. Es ist ziemlich vage. Aber ich hab' nicht viel Begabung für diese Art von Vorschau. Ich kenne Männer, Freunde von mir, die damit weit mehr leisten, die vielleicht zehn oder sogar fünfzehn Symbole auf einmal bekommen und damit eine außerordentlich detaillierte Vorhersage zusammenbringen. Ich selber hab' nie mehr als sechs ge-
funden, und ich bin schon ganz zufrieden, wenn ich nur einen ganz bescheidenen Hinweis auf die Zukunft herauslesen kann.« Sie stiegen beide wieder in den Sattel, Lucare vorne wie zuvor, während Gorm wieder die Vorhut machte. Hiero erklärte weiter: »Verstehst du, wir haben durchaus etwas, wovon wir ausgehen können. An den Symbolen ist sicher etwas dran. Eine Mischung von verschiedenen Kräften spielt dabei mit. Ein Teil ist echtes Hellsehen, ein Teil Wunschdenken, und ein Teil ein unbewußter Versuch, zukünftige Ereignisse zu beeinflussen. Also – wir haben den Speer, den Fisch, die Verschlungenen Hände, den Blitz und die Stiefel. Zusammen könnte – ich betone: könnte – eine mögliche Auslegung etwa so lauten: eine lange Reise voller Kämpfe steht uns oder mir bevor. Ein treuer Freund wird mir zur Seite stehen, und die Reise – oder zumindest der nächste Abschnitt – wird auf, in oder über Wasser erfolgen. Natürlich sind noch eine Menge anderer Kombinationen möglich. Ach ja, und die Reise wird mit einem heftigen Gewitter beginnen, oder etwas ähnlichem. Mehr kriege ich jedenfalls nicht heraus. Was den Gewittersturm betrifft, so bin ich mir sogar ziemlich sicher; dieses Zeichen ist am leichtesten zu interpretieren.« Vorläufig sah es jedoch gar nicht danach aus, als ob ein Gewitter aufzöge. Seit ein paar Tagen schon brannte die Sonne heiß von einem wolkenlosen Himmel. Das dunkelblaue Meer funkelte und glitzerte, und winzige
Schaumkrönchen tanzten in einer überaus sanften Brise. Wildenten und andere Wasservögel stoben in Schwärmen vom Wasser hoch und landeten wieder im Seichten, schnatternd und grübelnd. Gorm, fragte Hiero, wie wird das Wetter? Die Tiere konnten einen Wetterumschwung meist ein oder zwei Tage vorausfühlen, vor allem wenn ein kräftiger Schlechtwettereinbruch bevorstand. Zu seiner Überraschung bekam der Priester eine negative Antwort von dem Bären. Kein schlimmer Wind kommt, kein Wasser vom Himmel. Sonne, Mond, ruhige Luft (ist alles, was) kommt. »Es könnte sein«, bemerkte er zu Lucare, als er ihr den kurzen Gedankenaustausch wiederholt hatte, »daß das Schlechtwetter noch ziemlich weit entfernt ist. Die Symbole sind, was Zeit betrifft, leider sehr ungenau, zumindest wenn ich sie befrage.« »Was meinst du, könnte ich lernen, sie anzuwenden?« fragte sie. Sie saßen so eng hintereinander im Sattel, daß sie nicht einmal den Kopf wenden mußte, wenn sie mit ihm sprach. Wenn der Ellk ein schnelleres Tempo anschlug, flatterten Hiero ihre duftenden Korkenzieherlocken ins Gesicht, und er nahm sich immer wieder vor, sie zu bitten, sich die Haare aufzubinden. Eigenartigerweise schien er irgendwie nicht dazuzukommen. »Warum nicht? In meiner Heimat gibt es Kinder, die damit besser umgehen können als ich. Es ist eben eine spezielle Begabung, weiter nichts. Meine eigenen Talente
liegen mehr auf anderem Gebiet. Beim Sehen mit dem Kristall bin ich ganz gut, ich kann mich ziemlich leicht mit Tieren verständigen, und jetzt, in letzter Zeit, hab' ich noch ein paar neue Tricks gelernt, hauptsächlich, besser mit Hilfe meines Geistes zu kämpfen. Aber die Verwendung der Vierzig Symbole zur Vorschau ist wirklich nicht meine Stärke. Es könnte sein, daß du weitaus besser darin bist. Wir werden das später mal ausprobieren.« »Wie steht es mit der Gedankensprache – ich meine, die geistige Verständigung, die du benutzt, um zum Beispiel mit dem Bären zu reden – könnte ich das wohl auch lernen? Es wäre wunderbar, wenn ich auch mit Gorm sprechen könnte!« »Nun ja«, meinte Hiero, »ich glaube schon. Auch das ist eine Begabung, und nicht mal eine seltene. Aber zum Unterschied von der Symbolvorschau, die mehr oder weniger instinktiv ist, müssen Gedankensprache und andere Fähigkeiten des Geistes gelehrt werden, und zwar alle, einschließlich der Telekinese, das ist die Manipulation unbelebter Gegenstände durch geistige Kraft und eine überaus seltene Gabe. Verstehst du, die Anwendung des Talents muß einem einmal beigebracht werden, und danach muß man üben und nochmals üben. Ich habe mit zehn Jahren damit angefangen, und manche Abteigelehrte begannen noch früher. Manchmal werden sogar mit komplizierten Tests Kinder dafür ausgewählt, die gerade erst sprechen gelernt haben. Du siehst also, ganz so einfach ist es nicht.«
Eine Weile ritten sie schweigend über den weichen Sand, und dann fragte sie eingeschüchtert: »Du meinst also, ich kann es nicht mehr lernen – daß ich schon zu alt bin dafür?« »Guter Gott, nein«, sagte Hiero verdutzt. »Ich werde versuchen, es dir selbst beizubringen, sobald wir ein bißchen Zeit haben. Ich wollte nur sagen, daß Übung, Ausbildung, Selbstbeherrschung und Zeit gleichermaßen wichtig sind. Vielleicht bist du diesbezüglich ein Wunderkind und machst besonders rasche Fortschritte.« Er hatte noch kaum den Mund zugebracht, als sie herumschnellte und ihn begeistert umarmte. »Herrlich! Können wir gleich anfangen, jetzt gleich?« »Na, ich, hm ... eigentlich hab' ich nicht...« Der Rest des Tages verging sehr rasch mit Lucares ersten Lektionen. Genaugenommen, überlegte Hiero, war es durchaus kein Nachteil, daß er gezwungen war, sich die ganze telepathische Grundausbildung aus der Abteischule in Erinnerung rufen zu müssen. Lucare war intelligent und auch bereit, fleißig zu lernen. Es schien, daß sie sich mehr als alles andere auf der Welt wünschte, mit Gorm und Klootz sprechen zu können, und das war das Ziel, das ihr Hiero als Belohnung vor Augen hielt. Zuvor jedoch sprach er sehr ernst mit ihr. »Hör mir jetzt sehr gut zu. Das wichtigste, was du lernen mußt, ist die Abschirmung deines Geistes, und das mußt du als allererstes lernen.« Als sie sich erkundigte, weshalb, erklärte er, daß selbst
ein Kind mit einem brauchbaren Gedankenschild den erfahrensten Telepathen der Welt abwehren konnte, solange die beiden sich nicht entweder physisch sehr nahe oder durch eine Gefühlsbindung irgendeiner Art aufeinander abgestimmt waren. »Wenn du aber anfängst, Gedankenbotschaften auszustrahlen, ohne dich verteidigen zu können, dann kann es passieren, daß die Unreinen deinen Geist in ihre Gewalt bekommen und dich zwingen, zu ihnen zu gehen oder sonst alles zu tun, was sie wünschen, selbst einen Mord zu begehen! Selbst mit einem bewußt aufrechterhaltenen Gedankenschild ist es möglich, daß ein fremder Geist deine Signale auffängt und ›anpeilt‹ wie ein Leuchtfeuer, wenn du deine geistigen Kräfte unvorsichtig einsetzt. Genau das wollten die Unreinen während der letzten Woche mit mir tun, und es hat mich einige Mühe gekostet, ihre Absichten zu vereiteln. Ich hoffe, du verstehst jetzt, warum ich die Abschirmung als so wichtig bezeichnet habe?« »Es tut mir leid, Per Hiero. Ich werde mich ganz nach dir richten. Nur«, entfuhr es ihr, »beeile dich bitte – irgendwie hab' ich das Gefühl, daß es sehr wichtig ist, daß ich schnell lerne! Warum«, fragte sie noch, »kontrollieren die Unreinen eigentlich nicht den Geist aller Menschen, die nichts von der Abschirmung wissen?« Er lachte. »Ich kann gut verstehen, daß du schnell lernen willst. Wiederholen wir einmal, was ich dir vorhin beigebracht habe. Zuvor, was deine Frage betrifft – die
Unreinen können einen unbewußten Geist nicht kontrollieren, einen, der keine Gedankensignale ausstrahlt, solange sie den Betreffenden nicht körperlich in ihrer Gewalt haben oder ihm sehr nahe sind. So, und jetzt noch mal von vorne: Im Geist stellst du dir den Schild zuerst als einen Kreisbogen, dann als eine Kuppel vor, mit dem Kreuz über dem Scheitel. Versuche es – erst in Gedanken, und dann übe dich darin, das Bild auch in Wirklichkeit erscheinen zu lassen, so daß der Bogen vor deinen Augen sich hochwölbt und endlich den ganzen Horizont umschließt. Dann...« So dozierte er weiter, und sein ausgezeichnetes Gedächtnis ermöglichte es ihm, einfach alles zu wiederholen, was der alte Per Hadena ihm in seinen eigenen Lektionen gesagt hatte. So konnte Hiero nebenbei an andere Dinge denken und geistig wie physisch auf der Hut sein. Er hielt vor allem die Augen offen, um einen feindlichen Flieger sofort zu entdecken, aber es tauchte keiner auf. Er entdeckte jedoch eine ganze Menge falkenähnlicher Raubvögel am Himmel und beobachtete, wie immer wieder einer auf die unzähligen Wasservögel herunterstieß. Einmal kamen sie auch zu einer Stelle, wo sich eine Herde der riesenhaften Wasserschweine im seichten Uferwasser wälzte. Beim Anblick der vier Reisenden tauchten die feuchtglänzenden Giganten jedoch in die aufschäumenden Wellen und waren binnen Sekunden verschwunden. Etwas später mußten sie die Sumpfstelle, die Hiero
zuvor aus der Vogelschau gesehen hatte, überqueren. Ein nicht sehr breiter Schlammfinger des Palud stieß nach Süden bis zur Küste vor, wo ein morastiges Bächlein in die Inlandsee mündete. Hiero ließ Klootz und den Bären über den Schlick des Mündungsdeltas galoppieren, so schnell sie nur konnten, während er das dichte Schilf auf der ganzen Landseite im Auge behielt. Nichts rührte sich jedoch, und der ganze Sumpfstreifen war auch nicht mehr als vielleicht fünfhundert Meter breit. Danach setzte sich der angenehme Sandstrand fort. In dieser Nacht lagerten sie unter einem überhängenden Felsen, und Hiero genehmigte ein winziges Feuer, nachdem er zuerst aus Steinbrocken ein kleine Mauer gebaut hatte, um das Feuer gegen das Meer hin abzuschirmen. Dem Mädchen erschien diese Vorsichtsmaßnahme ein wenig übertrieben. »Da draußen können Schiffe sein, das darfst du nicht vergessen«, sagte er tadelnd. »Und es ist äußerst zweifelhaft, daß sie ausgerechnet Freunde an Bord haben. Du müßtest das wissen – schließlich warst du schon auf einem solchen Schiff. Der Feuerschein könnte auch andere gefährliche Wesen anlocken, die mit Menschen nichts gemein haben.« Das nahm ihr so den Wind aus den Segeln, daß er sich nach dem aus den letzten Schnappereiern bestehenden Abendessen erweichen ließ, die Lektionen vom Nachmittag fortzusetzen. »Ich möchte, daß du eins begreifst«, erklärte er einleitend. »Ich könnte diesen Unterricht beträchtlich be-
schleunigen. Es gibt dafür eine Methode, die manchmal in Notfällen angewendet wird – ich müßte in deinen Geist eindringen und ihn direkt lehren. Aber das werde ich nicht tun.« »Warum nicht?« fragte sie. »Es würde mir nichts ausmachen, und wenn ich dadurch schneller...« »Du weißt nicht, wovon du sprichst.« Er warf einen kleinen Zweig aufs Feuer und stocherte vorsichtig darin herum. Ein sanfter Abendwind trug vielerlei Geräusche herbei. Das gedämpfte Grunzen vom Strand weiter westlich stammte wahrscheinlich von den Wasserschweinen, an denen sie vorübergekommen waren. Vom Wasser her kam ein schläfriges, an- und abschwellendes Schnattern – das waren die Schwärme von Wildenten, die im Seichten übernachteten. Weiter weg kreischte eine große Katze einmal auf und verstummte. Kleine Wellen schlugen an den Strand vor der Felsnische, ein sanftes, immer gleichbleibendes Flüstern. Hiero fuhr freundlicher fort. »Um das zu tun, müßte ich deinen Geist bis in den letzten Winkel durchdringen. Willst du, daß ich deine geheimsten Gedanken, Träume, Hoffnungen und Ängste kennenlerne, von denen viele dem angehören, was die Alten ›das Unterbewußtsein‹ nannten? Das ist jener Teil deines Geistes, der weniger denkt als vielmehr fühlt. Laß dir diese Vorstellung einmal ein wenig durch den Kopf gehen.« Ihr Gesicht sah sehr ernst aus in dem flackernden Feuerschein. »Ich verstehe, was du meinst«, sagte sie. »Dan-
ke, daß du soviel Geduld mit mir hast. Es ist schwer, das alles nicht sofort lernen zu wollen, weil es für mich etwas Wunderbares und Phantastisches ist. Es ist ... eine neue Welt für mich. Aber ich verstehe, was du meinst. Kein Mensch möchte, daß ein anderer alles von ihm weiß. Außer zwei Menschen ... nein, vielleicht nicht einmal dann. Ich meine...« »Ich weiß, was du meinst«, sagte er ernst. »Und die Antwort lautet ›nein‹, nicht einmal dann. Wenn zwei Liebende ihren Geist einander öffnen, dann schirmen sie immer noch einen Teil des bewußten Denkens und das gesamte Unterbewußtsein ab. Aber nun wollen wir noch einmal die Techniken durchgehen, die du üben mußt. Als erstes...« Am nächsten Morgen fühlte sich Hiero noch ein wenig verschlafen, während Lucare munter wie eh und je war. Sie wollte den ganzen Tag über lernen, so daß er endlich Einhalt gebieten mußte, bloß um selber wieder ein bißchen zu Atem zu kommen. Als sie Mittagsrast hielten, erlaubte er ihr jedoch, den Versuch zu wagen und Gorm anzurufen. Zu ihrer unaussprechlichen Freude ›hörte‹ der kleine Bär tatsächlich ihre Gedankenstimme und schien, wie Hiero feststellte, fast ebenso erfreut darüber zu sein wie das Mädchen. Auch dieser Tag war sonnig und klar, und weder Bär noch Ellk konnten das geringste Anzeichen eines kommenden Wetterumschwungs fühlen. Das beunruhigte Hiero ein wenig, obwohl er nichts davon sagte, als sie
weiterritten. Der Blitz war eines der zuverlässigsten Vorzeichen von allen Vierzig Symbolen. Obwohl der Priester sich selbst eingestand, daß er im Gebrauch der Symbole kein Meister war, sagte er sich, daß er denn doch nicht so schlecht sein konnte. Oder doch? Immerhin war es möglich, daß das Zeitelement die entscheidende Rolle spielte. Er wandte seine Gedanken anderen Dingen zu und vergaß seine Unruhe. Wieder vergingen eine Nacht und ein Tag. Einmal sahen sie eine Herde riesiger, anscheinend flugunfähiger Vögel, die weit voraus über den Strand liefen, aber es war nicht viel mehr zu sehen, als daß das Gefieder der Tiere dunkelgrün war. Auf jeden Fall waren die Vögel sehr wachsam und scheu, und sie hatten außerordentlich scharfe Augen. Am Abend darauf gelang es Hiero im Licht des nun vollen Mondes einen riesigen, kugelrunden Fisch an den Haken zu bekommen, der nach seiner Schätzung mindestens hundert Pfund wog. Ihre vereinten Kräfte waren nötig, um mit dem Tier fertigzuwerden, und als sie schon dachten, der wild herumschlagende Fisch werde sich losreißen, watete Gorm ins Wasser und versetzte ihm eine zielsicheren Hieb mit der Pranke. Damit war das Ungeheuer so weit gezähmt, daß Hiero und Lucare es an Land ziehen konnten. Sogar Klootz tanzte aufgeregt herum – nur als sie den Fisch auszunehmen begannen, schnaubte er angewidert und begab sich zu seinem Grünfutter und seinem Wachdienst zurück.
Die drei aber waren beim Einschlafen bis obenhin mit gebratenem Fisch angefüllt – vor allem der Bär hatte sich so vollgestopft, daß er fast zu platzen drohte. Eine Menge Fisch hatten sie geräuchert und als zukünftigen Proviant eingepackt, etwas, das Hiero immer Genugtuung bereitete, weil er wie jeder erfahrene Waldläufer eine Abneigung dagegen hegte, praktisch unverderbliche Vorräte wie Pemmikan und Zwieback aufzubrauchen. Der nächste Morgen war dunstig. Als sie aufbrachen, begann leichter Regen, kaum mehr als ein dünnes Nieseln, zu fallen, und Hiero holte seine zweite wasserdichte Kapuze für Lucare hervor. Das Wetter war jedoch nicht wirklich unangenehm, und die Luft blieb selbst nachts ziemlich warm. Der sanfte Regen dauerte die Nacht über an und auch noch einen Teil des folgenden Tages. Es war so neblig, daß sie nicht sehr weit sehen konnten. Mittags hielten sie nur kurz zur Rast, aßen etwas und machten sich wieder auf den Weg. Das Meer war ruhig aber der Nebel verdichtete sich, und ebenso eine seltsame Unruhe in Hieros Geist. Er bedauerte jetzt, daß er nicht noch einmal die Augen eines Vogels geliehen hatte, solange es noch klar gewesen war. Wieder mußte er an das Zeichen des Blitzes denken. Ein bißchen Nebelreißen konnte man aber kaum als schweres Unwetter bezeichnen, also das, was jenes Symbol voraussagte. Es war wirklich sonderbar. Lucare hatte sich sehr fleißig mit ihren Übungen befaßt, weshalb sie die letzten Tage ungewöhnlich schweig-
sam gewesen war. Sie konnte bereits genug, um mit dem Bären eine Art geistiges Säuglingsgeplapper auszutauschen, und Gorm schien es zu amüsieren, wie ein nicht sehr gescheiter Hund herumgeschickt zu werden und den Befehlen Halt und Geh, hol (diesen) Stock mit gutmütiger Geduld Folge zu leisten. Mit dem Voranschreiten des Nachmittags wurde Hiero jedoch immer ungemütlicher zumute, so daß er die beiden schließlich anwies, die geistigen Verständigungsversuche aufzugeben, obwohl ihre Reichweite sicher gering war. Er verstand einfach nicht, was ihn beunruhigte, aber er vertraute seinen Instinkten genug, um zu wissen, daß es einen Grund geben mußte. Klootz und der Bär allerdings schienen nichts Ungewöhnliches zu spüren. Trotzdem wußte der Priester, als die Falle zuschnappte, daß es seine Schuld war, daß er nicht darauf vorbereitet, ja genaugenommen unaufmerksam gewesen war. Rückblickend sagte er sich, daß der Feind seine Schlinge mit großer Sorgfalt und Vorsicht ausgelegt hatte. Wenn nur Gorm nicht neben Klootz gelaufen wäre, wenn Hiero bloß nicht über die verbissene Anstrengung des Mädchens gelacht hätte, den Bären einen toten Fisch aufheben zu lassen. Wenn – wenn – wenn! Auf den ersten Blick schien die kleine Bucht völlig verlassen zu sein. Sie waren darauf gestoßen, als sie einen weiteren der unzähligen Felsvorsprünge umrundeten, die den Sandstrand unterbrachen und meist bis ins Wasser reichten. Weiter draußen lugten ein paar kleine Insel-
chen schattenhaft durch die Nebelschleier. Auf dem hellen Sand in der Bucht, knapp am Rand des Wassers, lagen einige graue, bucklige Felstrümmer, zwischen denen olivgrüne Palmettostauden wuchsen. Nichts als leichtes Wellengeplätscher störte die abendliche Stille, als Hiero den Ellk kurz verhalten ließ, da ihm wieder diese unerklärliche Unruhe zu schaffen machte. Dann trieb er Klootz weiter, gerade als Gorm entsetzt ein paar Schritte vorauslief, mit erhobener Nase einem furchtbaren Geruch nachspürend. Lucare, der die bedrohliche Spannung völlig entgangen war, lachte fröhlich auf, weil ihr die Pose des Bären so komisch vorkam. Und dann spien Felsen und Büsche eine Horde gräßlicher Gestalten auf den Strand. Zottelige Lemut mit Stummelschwänzen und glänzenden Raubtiergebissen, Affengestalten wie aus einem Alptraum, kamen mit Riesensätzen von allen Seiten, kreisten sie von Land her ein und stießen dabei ein durchdringendes, wimmerndes Jaulen aus, das Hiero aus den Nordländern nur allzugut kannte – ein gräßlich vertrautes, markerschütterndes Heulen, das den Zottelheulern ihren Namen eingetragen hatte. Die Bestien waren mit langen Speeren und Keulen bewaffnet oder schwangen große Messer. So schrecklich dieser Anblick war, die schlimmste Bedrohung kam aus einer anderen Richtung. Hinter einer kleinen Felsinsel tauchte ein langes schwarzes Schiff ohne Mast oder Ruder auf und glitt bis auf wenige hundert Meter an den Strand heran. Auf seinem Vorderdeck
beugten sich verhüllte Gestalten über einen metallglänzenden Apparat, dessen kurzer, massiver Lauf auf den Ellk und seine Reiter zielte. Der Priester reagierte instinktiv, das Training des Vollkämpfers setzte sich durch, ohne daß es ihm bewußt wurde. In einer solchen Situation waren seine Reflexe schneller als selbst die des Bären oder seines großen Reittiers. Zurück/Weg von hier! lautete sein blitzartiger Gedankenbefehl an Klootz und Gorm, als er, den Werfer in der Hand, aus dem Sattel glitt. Das Mädchen, halb gelähmt vor Schrecken, konnte sich nur mit verzweifelter Anstrengung im Sattel halten, als der Ellk hochstieg auf den Hinterbeinen kehrtmachte und beinahe umkippte in dem Bemühen, Hieros Befehl augenblicklich zu befolgen. Er war bereits fünfzig Meter von der Stelle entfernt, als sein Herr fiel. Hiero hatte noch den Werfer angelegt und sorgfältig gezielt, da er das unheimliche Boot und die drohende Waffe auf keinen Fall verfehlen wollte, als der Unreine hinter der Maschine am Bug zuerst feuerte. Eine blaue Stichflamme zuckte auf, und es stank nach Ozon. Hiero spürte nur noch, daß ihn ein gräßlicher Schlag an der Brust traf, der von einem intensiven Kältegefühl begleitet war, dann verlor er das Bewußtsein. Bevor ihn die Dunkelheit umfing, dachte er noch, das war das Zeichen des Blitzes! Dann – nichts mehr.
6 Die Tote Insel Hieros erste Wahrnehmung war Schmerz, die zweite ein Gefühl von Bewegung. Instinktiv versuchte er sich aufzurichten, aber es ging nicht, irgend etwas hielt ihn fest. Dadurch wurde ihm erst klar, daß er flach auf dem Rücken lag, auf etwas Hartem, das sich leicht schwankend bewegte, in einem gleichmäßigen Rhythmus von Auf und Nieder. Hin und Her. Der Schmerz war am stärksten in der Gegend seines Brustbeins, ein stechendes Brennen, das sich von dort in Wellen über den Rest seines Körpers ausbreitete. Seine rechte Hand war frei und tastete instinktiv nach der Quelle des Schmerzes, stieß aber nur auf einen harten, fremdartigen Gegenstand auf seiner Brust. Das gibt's nicht, empörte sich sein Gehirn, das sollte das Kreuz mit dem Schwert sein! In diesem Augenblick begriff er, daß er schon seit einiger Zeit die Augen offen hatte. Die Finsternis, die ihn umgab, war nicht vollständig. In einiger Entfernung konnte er in Augenhöhe einen sehr dünnen, schwachen Lichtstrich erkennen. Als er sich darauf zu konzentrieren versuchte und gleichzeitig den Schmerz durch die Nervenblocktechniken der Abteien zurückdrängte, kehrte auch die Erinnerung wieder. Der Blitz! Er war von etwas getroffen worden, das ei-
nem wirklichen Blitz sehr nahe kam. Die unwahrscheinlichste Bedeutung des kleinen Orakelsymbols war also die zutreffende gewesen – eine Warnung, daß die Blitze schleudernde Waffe auf dem Schiff der Unreinen ihn treffen würde. Im Augenblick befand er sich wahrscheinlich auf demselben Schiff, das aber jetzt vor Anker lag. Er war oft auf kleineren Schiffen der Republik und auch auf solchen von Kauffahrern gewesen. Die schaukelnde Bewegung war leicht wiederzuerkennen. Der Schmerz war immer noch vorhanden, aber jetzt auf ein erträgliches Maß gedämpft, so daß sein Gehirn wieder zu arbeiten begann. Was war das für ein sonderbarer Gegenstand auf seiner Brust? Er griff nun mit beiden Händen danach und seine Finger zeichneten im Dunklen die klumpigen Umrisse nach, bis sie auf eine Lederschnur stießen, an der der Gegenstand befestigt war. Als er begriff, was geschehen sein mußte, sprach Hiero ein stummes, aber inbrünstiges Dankgebet. Die feindliche Waffe, der Energiestrahl der Unreinen, oder was es auch war, hatte genau die silberne Kreuz-undSchwert-Medaille getroffen, das Abzeichen der Abteipriester. Zufall oder Lenkung Gottes, wer konnte das entscheiden? Das Resultat war ein zusammengeschmolzener Klumpen Silber und ein Mann, der sonst vielleicht tot gewesen wäre! Weiter unten, um seine Hüften, stießen seine Hände nun auf ein breites, glattes Metallband, das sich ziemlich unangenehm anfühlte. Das war es, was ihn auf seiner
harten Unterlage festhielt. Knapp neben seinem Ohr vernahm er jetzt das Plätschern und Klatschen von Wellen, woraus er schloß, daß er sich unmittelbar an der Rumpfwand des Schiffes, höchstwahrscheinlich unten im Laderaum befand. Seine Augen hatten sich nun so weit als möglich der Dunkelheit angepaßt, und er konnte ein paar Einzelheiten erkennen. Der schmale Lichtstreifen mußte die Unterkante einer Tür oder Luke sein. Das Metallband um Hieros Hüften fesselte ihn an den Boden einer schmalen Koje und war auf der einen Seite mit einem schweren Schloß verankert. Der Raum war nicht sehr groß, vielleicht drei mal drei Meter, und enthielt keinerlei Einrichtung, abgesehen von einem stinkenden Kübel in einer Ecke, dessen Zweck offensichtlich war, von dem Hiero aber in seiner augenblicklichen Lage keinen Gebrauch machen konnte. Wände, Boden und Decke bestanden, so weit er reichen konnte, aus Metall, glattem Metall ohne Oberflächenstruktur, ohne Nieten oder Schweißnähte. Da sämtliche Wasserfahrzeuge, denen er bisher begegnet war, ausschließlich aus Holz bestanden hatten und man in den Abteien an einen eisernen Versuchsrumpf gerade erst zu denken begann, mußte der Priester diese technische Leistung bewundern. Dieses Schiff war weit fortschrittlicher als alles, was die Abteien besaßen, zumindest auf nautischem Gebiet. Er erinnerte sich nun auch, daß er bei dem Schiff keinen Mast und auch keinen Schornstein hatte entdecken können, womit als An-
triebsprinzip sowohl Segel als auch eine einfache Dampfmaschine, wie sie die neuesten Schiffe der Republik besaßen, ausfielen. Nach und nach begann er neben dem Wellengeplätscher an der Außenseite des Metallrumpfes noch andere Geräusche herauszuhören. Stimmen drangen gedämpft zu ihm herunter, auch ein dumpfes, bellendes Grunzen, das er nur zu gut kannte. Offensichtlich waren ein paar der Heuler an Bord. Im Hintergrund all dieser Geräusche vibrierte ein dünnes, kaum vernehmbares Summen. Das mußte, dachte er, von der Maschine des Schiffs beziehungsweise einer sonstigen Energiequelle stammen, und er fragte sich, was das sein konnte. Hiero nahm sich erst nicht die Mühe, nach Waffen zu suchen. Sein Dolch und sein schweres Buschmesser waren fort, und seine übrigen Waffen trug Klootz am Sattel. Ob der Ellk und das Mädchen wohl entkommen waren? Hatte Gorm in dem allgemeinen Durcheinander fliehen können? Arme Lucare, ihre Beschützer hatten anscheinend ein besonderes Talent, dem Feind in die Arme zu laufen! Das Klicken eines Riegels oder Schlosses unterbrach seine Grübelei. Die Tür ging auf, genauer gesagt, sie glitt in einen seitlichen Spalt, und grelles Licht überflutete den kleinen Raum, so daß der Priester halb geblendet die Augen zusammenkniff und mit der Hand schützte. Bevor er wieder etwas sehen konnte, sagte ihm ein fauliger Gestank, daß zumindest einer der widerlichen
Zottelheuler in den Raum gekommen war. Als seine Augen sich an die plötzliche Helligkeit gewöhnten, erkannte er, daß seine Feinde ein großes Fluoro an der Decke eingeschaltet hatten. Zwei Männer in grauen Kapuzenmänteln standen vor ihm. Der eine trug das verworrene Spiralsymbol auf der Brust, nur war es diesmal nicht dunkelrot sondern schmutzigblau. Dieser, eindeutig der höhergestellte von den beiden, hatte die Kapuze zurückgeschlagen und glich Snerg so sehr, daß Hiero beinahe verblüfft aufgeschrien hätte. Der andere behielt die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, und der Priester konnte in ihrem Schatten nur undeutlich eine grausame, bärtige Fratze mit einer gebrochenen Nase erkennen. An der Wand neben der Tür kauerte der Heuler, ein riesiges Scheusal mit einem blaßrosa Gesicht, über zweihundert Pfund schwer, das am ganzen Körper mit verfilzten, schmutzigen Zotteln bedeckt war. Unter seinen Brauenwülsten glitzerten tiefliegende, bösartige Augen mit viel mehr als tierischer Schläue und Intelligenz. In einer der handähnlichen Pranken hielt das Ungeheuer eine metallene Waffe, die unangenehm an ein Fleischerbeil erinnerte. Dem scharfen Blick des einen graugekleideten Mannes war das Aufblitzen des Wiedererkennens in Hieros Augen nicht entgangen, und so ergriff er als erster das Wort. Er sprach Batwah, nicht Metz, stellte Hiero fest. »Ah – so hast du schon früher einen von uns getroffen? All die Dunklen sind von gleicher Art, und wenn du
einen von uns gesehen hast, so kennst du alle.« Hiero, der ihn unter halbgeschlossenen Lidern hervor musterte, konnte dem nur zustimmen. Soweit er sich erinnern konnte, hatte Snerg etwas jünger ausgesehen als dieser Mann, dessen Hals und Gesicht faltiger und hagerer waren. Trotzdem war die Ähnlichkeit erstaunlich. Der Priester schwieg jedoch weiter. Der Adept – denn er war sicher einer der Dunklen Meister – gab dem anderen Mann in einer unverständlichen Sprache einen scharfen Befehl, worauf der sofort zu Hiero trat und das Schloß der Metallfessel öffnete. Hiero rührte sich jedoch nicht, blieb ruhig liegen und ließ die drei nicht aus den Augen. »Sieh an«, knurrte der Adept höhnisch. »Welch eine Selbstbeherrschung. Wärst du aufgesprungen, oder hättest dich auch nur langsam aufgerichtet, dann hätte ich dich niederschlagen lassen, als erste Lektion zu deiner Unterwerfung. Aber wir wußten ja schon, daß du klug bist. Weshalb hätten wir uns sonst diese Mühe gemacht? Immerhin, ich schätze Selbstbeherrschung. Aber nun höre mir gut zu Priester, wenn du wirklich ein Priester und nicht etwas anderes bist. Ich bin Sduna. Das Prachtstück dort in der Ecke heißt Tschi-Tschok, und der mag dich nicht sehr. Nein, wirklich nicht. Er hat noch nie einen Metz-Priester zu sehen bekommen, aber schließlich kennt er einen Feind auf den ersten Blick, nicht war, Tschi-Tschok? Aber ansonsten ist er wirklich ein amüsanter Kerl. Ich wollte, du könntest
erleben, wie er einem Menschen ein Bein ausreißt und vor den Augen des Opfers verschlingt. Ein großer Spaß, eh, mein Freund?« Er lächelte dem grinsenden Scheusal zu, und Hiero konnte eine Grimasse des Abscheus gerade noch unterdrücken. »Zu schade, daß die Menschheit – jedenfalls, was eure Bande von Schwächlingen betrifft – die Heuler verabscheut. Ja, wir haben euren Namen übernommen. Er paßt ja recht gut. Verstehst du, es sind eigentlich nur mutierte Affen einer längst ausgestorbenen Spezies. Wir glauben, daß sie vor dem ›Tod‹ als Versuchstiere gehalten wurden, aber das ist nicht sicher. Auf jeden Fall sind sie sehr gescheit, und sie hassen die Menschen, mit Ausnahme ihrer guten Freunde natürlich.« Sein Tonfall war spöttisch, und er schien keine Eile zu haben. »Wir gehen jetzt an Land, um dir ein paar Fragen zu stellen. Wie du feststellen wirst, wäre ein Fluchtversuch eine aussichtslose Dummheit. Tschi-Tschok und seine Genossen werden aufpassen, und sie haben nichts gegen eine neue Art von Festmahlzeit, denk daran.« Er beugte sich über Hiero, bis die totenbleiche Maske seines Gesichts nur mehr ein paar Handbreit von der kupfernen, gleichmütigen Miene des Metz entfernt war. »Denn du bist etwas Neues für uns, Priester, das muß ich zugeben. Vielleicht können wir zu einer Einigung kommen. Denk auch darüber nach. Im allgemeinen sind Gefangene nur zum Vergnügen da. Zu unserem, nicht zu ihrem, möchte ich hinzufügen. In deinem Fall dagegen –
nun, wer weiß? Und jetzt steh auf«, befahl er schneidend, »und komm mit, hinter uns und vor Tschi-Tschok. Tu, was man dir sagt, dann lebst du länger.« Er drehte sich um und verließ die Kabine, gefolgt von seinem schweigenden Untergebenen. Hiero stand eilig auf, aber doch nicht schnell genug, um einen boshaften Stoß des Heulers zu vermeiden, der ihn durch die Tür schleuderte. Er fiel auf die Knie, da er immer noch sehr geschwächt war, und wurde von einer haarigen Pranke brutal am Kragen hochgerissen und weitergestoßen. Als er aufblickte, sah er vor sich die Stiefel des zweiten Mannes eine schmale Kajütstreppe hinaufsteigen. Der enge Gang oben war grau und kahl bis auf ein paar Türen ähnlich der seines Gefängnisses. Er fragte sich, ob Lucare hinter einer dieser Türen gefangengehalten wurde, aber er wagte nicht, eine Gedankensonde auszuschicken, nicht hier inmitten der Dunklen. Als er, halb von dem Heuler geschoben, durch eine Luke aufs Vorderdeck kletterte, stellte er fest, daß es noch immer und nun sogar stärker regnete. Als er versuchte, sich seine Umgebung genauer anzusehen, packten ihn zwei andere graue Kapuzenmänner, zogen ihn zur Reling und stießen ihn ein Fallreep hinunter in ein großes Ruderboot. Sie waren in einem Hafen, einem versteckten Ankerplatz inmitten hochaufragender, glatter Klippen und
Felstürme. Trotz des Regens und des Nebels, der von der offenen See hereinkroch, konnte der Priester noch einige weitere Boote, eins davon mit Masten, in der Nähe vor Anker liegen sehen. Keins war sehr groß, und auf keinem war eine Bewegung wahrzunehmen. Der plumpe Heuler kauerte sich hinter Hiero ins Heck, während die beiden Herren des Scheusals am Bug standen. Die Ruder mittschiffs wurden von zwei halbnackten Sklaven bedient, narbenbedeckten Weißen, deren Haar und Bärte verfilzt und ungeschnitten waren. Sie stanken fast noch mehr als der Heuler, und ihre Augen starrten blicklos und apathisch ins Leere. Keiner von beiden sagte ein Wort. Hiero vermied jede plötzliche Bewegung, aber als das Boot wendete, bekam er doch das Schiff, das ihn hergebracht hatte, genauer zu sehen. Es hatte einen scharfen Bug, war lang und schmal und zur Gänze aus dunkelgrauem Metall, auch die Aufbauten mittschiffs. Knapp hinter der Kabine ragte ein schlanker, kurzer Metallturm hoch, der an der Spitze einen Wust von Stäben und Drähten und Instrumenten trug, von denen einige wie große metallene Fliegenklappen aussahen. Das Ruderboot schwenkte noch weiter herum, und Hiero verlor das große Schiff aus den Augen. Voraus im Nebel tauchte jetzt ein aus Steinen aufgeschlichteter Anlegepier auf, der von der felsigen Hauptinsel wie eine Mole ins Wasser ragte. Hoch oben auf den Felsen, halb verdeckt von den schwarzen Klippentürmen, hockten die
wuchtigen Mauern eines Kastells mit einem breiten, niedrigen Wehrturm in der Mitte, der jetzt durch einen gewaltigen Torbogen sichtbar wurde. Die schweren Torflügel waren weit aufgestoßen, bis an die grauen, vielleicht zehn Meter hohen Außenmauern. Nichts schien auf dieser Insel zu wachsen, alles war aus schwarzem oder grauem Stein. Auf der Mauerkrone schritten einige Gestalten hin und her, aber nicht in regelmäßigen Abständen. Anscheinend brauchte die Festung der Unreinen nicht durch gewöhnliche Posten und gewöhnliche Waffen bewacht werden. Der Führer der Unreinen, Sduna, drehte sich auf seinem Platz im Bug um und starrte gebannt auf Hiero hinunter. Dann wies er auf das öligschwarze Wasser, über das sie fuhren. »Sieh, Priester! Wir haben viele Wächter für unsere Insel. Schau und denke daran! Niemand verläßt die Tote Insel Manoun, wenn wir es nicht gestatten!« Hiero blickte in das Wasser, wo der weiße Finger hinzeigte. Ganz in der Nähe des Bootes, und trotz Regen und Nebel deutlich erkennbar, erhob sich ein rundes, meterdickes Scheusal aus dem Wasser, das wie ein Stück aufgeblasener, fettiger Schlauch von riesigem Durchmesser ausschaute. Als sich das Ding wand und aufbäumte, sah der Priester, daß es der Kopfteil irgendeines gigantischen Wurmwesens war, mit einem schrecklichen, augenähnlichen Loch, einem kieferlosen Maul, das sich nicht schließen konnte, sondern aufklaffte und sich
rhythmisch zusammenzog über konzentrischen Kreisen messerscharfer Zahnreihen. Er beobachtete, wie das Wesen unter das Boot tauchte und schätzte, daß es gut doppelt so lang war. Es hatte keinerlei Laut ausgestoßen. Er sah Sduna ins Gesicht und zuckte leicht die Achseln, mit unbewegter und gleichgültiger Miene. Der andere lächelte bösartig. »Du bist nicht leicht zu beeindrucken, Priesterchen, das muß ich zugeben. Wir wollen doch sehen, wie gleichgültig du bleibst, wenn wir dir die speziellen Einrichtungen unserer Zitadelle von Manoun vorführen. Findest du diesen Ort nicht herzerfrischend?« Hiero hörte nun kaum mehr zu, denn als das Boot sich der trostlosen Insel näherte, hatte ein heftiger Angriff auf seinen Geist begonnen. Er fühlte, daß Sduna davon wußte, aber selbst nichts damit zu tun hatte. Die Mächte, die in den Mauern der Insel hausten, hatten auf Hiero gewartet, und ihr Ansturm war von langer Hand vorbereitet. Es war eine Prüfung und ein Angriff und zu gleicher Zeit irgendwie ein Willkommensgruß. Er erkannte, daß sein Geist einem ungeheuren und stetig zunehmenden Druck ausgesetzt wurde, der ihn töten würde – wenn er nicht fähig war, sich zu wehren. Und doch, im Hintergrund dieser unbarmherzigen Attacke, in ihrer ganzen Art steckte ein Element von Unsicherheit. Die Unreinen Herren von Manoun wußten noch nicht, mit wem oder mit was sie es zu tun hatten. Sie hätten ihn töten können, während er bewußtlos war, doch ihre Besorgnis war
stark genug, daß sie eingehendere Versuche für nötig hielten. Und sie dachten anscheinend immer noch, daß sie ihn auf irgendeine Weise auf ihre Seite bringen könnten. Er wurde auf den steinernen Pier hinaufgestoßen und mußte, wieder mit dem Heuler im Rücken, den beiden anderen auf dem glatten, gepflasterten Pfad zum Burgtor folgen. Diese letzte körperliche Anstrengung, die an sich nicht viel Kraft erforderte, begann rasch seine letzten Energiereserven zu erschöpfen. Er hatte keine Ahnung, wie lange er bewußtlos gewesen war, aber er fühlte sich entsetzlich müde und bemerkte nun auch, daß er sehr durstig und hungrig war. Er erwartete sich in dieser Hinsicht jedoch nichts – vor allem würde man ihm keinen Schlaf gönnen. Für den Feind war es klarerweise von Vorteil, einen möglichst erschöpften und geschwächten Gefangenen ins Verhör nehmen zu können. Die Anstrengung, seine geistige Abschirmung gegen den unablässigen Ansturm aufrechtzuerhalten, zehrte an seinen körperlichen Kräften, und er fühlte, daß es mit ihnen rapide zu Ende ging. Ein paar Schritte vor den flachen Stufen, die zum Tor hinaufführten, stolperte er und fiel, und als ihn Tschi-Tschoks schmutzige Pranke wieder auf die Beine gestellt hatte, fiel er neuerlich. Er mühte sich erst gar nicht, wieder hochzukommen, sondern konzentrierte sich einzig und allein auf seinen Gedankenschild, während er gleichzeitig mit einem Nervenblock alle unange-
nehmen physischen Empfindungen auslöschte. Er lag bewegungslos da, und der Heuler versetzte ihm einen Tritt, aber er fühlte nichts. Sduna sah nachdenklich auf ihn herunter. »Warte«, sagte er und hielt mit seiner bleichen Hand den Lemut zurück. »Hebe ihn auf. Es nützt uns nichts, wenn er hier stirbt. Er ist bald am Ende seiner Kräfte, und wir brauchen ihn noch – für ein langes und ausführliches Verhör. Also trag ihn vorsichtig. Tschi-Tschok, so wie du eins eurer dreckigen Jungen tragen würdest, ja?« Dem Dunklen wurde wahrhaftig erstaunlicher Gehorsam entgegengebracht, sagte sich Hiero. Er wurde sanft von einem Paar mächtiger, haariger Arme hochgehoben. Der Gestank des Scheusals war aus der Nähe geradezu atemberaubend, aber er konnte seinen Geruchssinn ebenfalls ausschalten. So wurde Hiero durch den steinernen Torbogen von Manoun getragen. Wenige, die diesen Ort erblickten, verließen ihn lebend, und keiner von jenen, die sich den Unreinen widersetzten. Im Hof der düsteren Burg hörte der geistige Angriff abrupt auf. Hiero vermutete, daß Sduna irgendwie ein Zeichen gegeben hatte, daß der Gefangene erschöpft war und man ihm besser etwas Ruhe gönnte. Was immer der wirkliche Grund dafür war, der Druck und die bohrenden Gedankensonden wichen, und er konnte, obwohl er seine geistige Abschirmung für alle Fälle aufrechterhielt, doch wieder seine übrigen Sinne, insbesondere die Augen gebrauchen.
Die Zitadelle war nicht besonders groß. Die mächtige Außenmauer umgab eine Fläche von kaum mehr als zweihundert Metern im Quadrat. Zu den Mauerecken führten Stufenrampen hoch, da die Mauerkrone breit genug war, daß man darauf gehen konnte, und außerdem mit einer steinernen Balustrade versehen war. Ein paar dicht verhüllte Gestalten wanderten oben hin und her, dieselben, die er schon vom Boot aus gesehen hatte. Nirgendwo waren Bewaffnete zu sehen, ja genaugenommen war die einzige Waffe weit und breit TschiTschoks Fleischerbeil. Der quaderförmige Wehrturm im Innenhof war niedrig und gedrungen, nur etwa drei Stockwerke hoch, und besaß wenige, unregelmäßig angeordnete Fenster, die nicht viel größer als Schießscharten waren. Das Dach war flach, so daß der Eindruck eines riesigen, grauen Steinblocks entstand, der abstoßend, plump, ja irgendwie unmenschlich brutal wirkte. Das Pflaster, auf dem sie gingen, schien aus dem gleichen Gestein zu bestehen wie die Mauerblöcke von Wall und Turm. Dem Priester kam es vor, als ob ein solches Bauwerk nur aus einer eiskalten, zielbewußten und grausamen Geisteshaltung heraus entstehen konnte, einer Einstellung, nach der Schönheit und Ausgewogenheit und auch Leben überflüssig waren. Tief in seinem Innersten spürte er einen Schauder, doch niemand konnte ihm davon etwas anmerken, nichts in seinem Verhalten verriet seine geheime Angst. Trotzdem war seine Wißbegier auch hier nicht ganz zu unterdrü-
cken. Kein Mensch hatte je einen solchen Einblick in das Leben der Feinde erhalten wie er jetzt. Er mußte aufpassen, selbst wenn er vielleicht keine Gelegenheit mehr bekam, sein Wissen auszunützen. Sie passierten eine schmale Tür und kamen in einen schlecht beleuchteten, gemauerten Gang. Das schwache, bläuliche Leuchten vereinzelter Fluoros an der gewölbten Decke spendete das einzige Licht. Hiero warf einen verstohlenen Blick über die zottige Schulter seines Trägers nach hinten und sah, wie der trübe Fleck Tageslicht unter der Tür außer Sicht kam, als sie um eine Ecke bogen. Schließlich, nach einer verwirrenden Folge von Kreuzungen, Abzweigungen und Kurven begann der Gang sich nach unten zu neigen. Und in diesem Moment hallte Sdunas Stimme von vorn. »Das eigentliche Manoun liegt im Innern der Felsen, Priester. Wir von der Dunklen Bruderschaft finden in der Tiefe Ruhe und Zuflucht vor dem närrischen Getriebe des Lebens auf der Welt. Nur in den Eingeweiden der Erde herrscht jene Stille, die wir brauchen, das geistige Schweigen des Gesteins, das wir suchen, um die Macht unserer Gedanken zu stärken. Das ist der Schatz der dunklen Tiefe: Macht.« Seine Worte hallten von den steinernen Wänden wider, in schwächer und schwächer werdenden Echos: »Macht, Macht, acht, acht.« Als bis auf das Geräusch ihrer Schritte wieder Stille eingetreten war, fügte er sanft hinzu: »Und die Toten natürlich. Die sind auch hier unten.« Das Echo aber sag-
te: »Ihr unten, unten, unten.« Endlich machten die zwei Vorangehenden halt. Eine kleine Metalltür wurde aufgestoßen, der Lemut bückte sich und ging hinein. Er legte Hiero nicht einmal unsanft auf eine Strohschütte und zog sich dann aus dem Raum zurück, fauchend, um seinen wahren Gefühlen dem Gefangenen gegenüber Ausdruck zu verleihen. »Auf Wiedersehen, Priesterchen«, sagte die Stimme Sdunas von der Tür her. »Ruhe dich aus und mache dich bereit. Wir werden dich bald holen lassen.« Die schwere Eisentür fiel dröhnend zu, und ein Riegel klirrte. Dann herrschte Stille. Hiero sah sich um. Der Raum, oder eher die Zelle, war aus dem gewachsenen Fels herausgehauen. In den groben Wänden gab es kein Fenster; nur ein schmaler Spalt hoch oben in einem Winkel, zu eng selbst für den Arm eines Menschen, brachte frische Luft von der entfernten Oberfläche. In die Decke war ein kleines Fluoro eingelassen, das mit einem Metallgitter geschützt war und ein trübes, doch ausreichendes Licht spendete. Die Zelle maß vielleicht drei Meter im Geviert und enthielt nichts außer dem Stroh und einem zugedeckten Kübel, der offensichtlich als Abort diente. In der einen Ecke befand sich noch ein stinkender Abfluß, der ebenfalls mit einem schweren Metallgitter versehen war. Neben dem Strohlager stand ein Holztablett mit einem irdenen Krug voll Wasser, einem zweiten mit einer Art dunklem, süßem Wein, und einem harten Brotfladen.
Seine in der Abtei geschulten Geschmacksnerven sagten Hiero, daß der Wein irgendeine unbekannte Substanz enthielt, daß aber Brot und Wasser harmlos waren, wenn sie auch ziemlich fad schmeckten. Er goß den Wein in den Abfluß, aß das Brot, trank das Wasser aus und legte sich hin, um auszuruhen. Die Luft in dem Verlies war feucht, aber nicht besonders kalt, und er fühlte sich schon viel besser. Der verbrannte Fleck auf seiner Brust, dort wo ihn der Strahl der Blitzkanone getroffen hatte, schmerzte noch ziemlich stark, aber damit konnte er fertigwerden. Er begann nun sehr vorsichtig mit einem sorgfältig ausgeklügelten Versuch. Er lockerte die Abschirmung seines Geistes ein ganz klein wenig, sehr langsam und vorsichtig. Man stelle sich einen Mann vor, der eine Mauer aus lockeren Steinblöcken von innen her abträgt, um feststellen zu können, ob irgend etwas Feindliches, ein gefährliches Tier vielleicht, außen lauert. Nach und nach entfernt der Mann geräuschlos erst die größeren Steine, dann die kleineren aus den Ritzen. Immer wieder unterbricht er seine Arbeit und horcht nach draußen. Er bemüht sich, die Außenseite der Mauer nicht zu verändern. Aber bevor er nicht doch zumindest ein winziges Loch ganz durchgebrochen hat, kann er sich mit der Außenwelt nicht verständigen und Hilfe suchen. Das war es, was Hiero mit seinem Gehirn tat, als er Schicht um Schicht eines unsichtbaren Schutzgewölbes abtrug. Der letzte Schritt war gar nicht mehr nötig, so ›hellhö-
rig‹ war sein Geist geworden, so empfindlich seine psychischen Warnanlagen – er fühlte durch die Abschirmung hindurch den Geist der Unreinen draußen angriffsbereit. Er wußte, daß sie unermüdlich darauf warteten, wie viele, hätte er nicht sagen können, daß er seinen Gedankenschild auch nur für den Bruchteil einer Sekunde senkte. Und er konnte sie ohne das wahrnehmen, konnte fühlen, wie sie darauf warteten, Besitz zu ergreifen von seinem Geist, wenn er auch nur einen Augenblick nicht auf der Hut war. Im gleichen Augenblick würde er eine willenlose Kreatur sein! Genauso vorsichtig und sorgfältig, wie er seine Abschirmung abgetragen hatte, baute er sie wieder auf. Einige Atemzüge später konnte er sich endlich entspannen. Der undurchdringliche Schild war an seinem Platz, und das ganze war sozusagen auf Automatik geschaltet. Die Feinde konnten in das Verlies eindringen und ihn mit einem Schwerthieb umbringen, das wohl, aber in seinen Geist konnten sie nicht mehr eindringen. Er legte sich zurück und überlegte. Eins war klar, er hatte den Unreinen Meistern ziemlichen Respekt beigebracht. Andernfalls würde er sich jetzt wohl unter irgendeiner Folter winden, um sie bei einem ihrer abscheulichen Feste zu unterhalten. Sie wollten jedoch um jeden Preis mehr über ihn erfahren, das war offenkundig. Sie wollten wissen, wer und was er war, und vor allem (Hiero war sicher, daß dies ihre oberste Sorge war) ob es noch mehr Menschen wie ihn gab! Solange er sie im Ungewis-
sen hielt, würden sie ihn vermutlich nicht grob anpacken. Da sein Körper hier gefangen war, konnte er vielleicht seinen Geist benutzen, nur wie, in aller Welt? Alle geistigen Kommunikationskanäle waren blockiert durch seinen Gedankenschild. Aber er würde nie entkommen können, wenn er keine Möglichkeit hatte, mehr über sein Gefängnis zu erfahren – und das wiederum konnte er nur tun, wenn er seinen nicht eingesperrten Geist benutzte. Außerdem wußte er, daß er nicht viel Zeit hatte, denn Gott allein wußte, wie lange er dem standhalten konnte, was die Unreine Bruderschaft unter einem Verhör verstand. Das Problem glich einer Schlange, die ihren eigenen Schwanz verschlingt. Den Schutzschild aufgeben und überwältigt werden. Die Abschirmung aufrechterhalten und untätig auf den Tod warten, der dann zwar ein wenig später, aber nicht weniger gewiß kam. Alle ›Tore‹ seines Geistes waren verbarrikadiert, und außer den bekannten Wellenlängen gab es keine Verständigungsmöglichkeit, nicht für die Unreinen, nicht für die Abteigelehrten, nicht für die Tiere – für niemanden. Wirklich nicht ...? Wie viele umwälzende neue Ideen entsprang auch Hieros Einfall zum Teil dem Unterbewußtsein. Langsam wuchs die Idee zu einem bewußten Gedanken an – und plötzlich wußte er, was zu tun war. Wirklich nicht? Wie war er nur auf diese Idee gekommen? Es konnte sein, daß es noch andere Kanäle gab, vielleicht in einem anderen Teil des geistigen Wellenspektrums, die noch niemals jemand ausprobiert hatte. War das
möglich? Vorsichtig begann er zu sondieren, Gedanken auf einer ›Wellenlänge‹ auszustrahlen, die bisher noch nie benutzt worden war. Es war ein Gedankenkanal, der nach allgemeiner Ansicht viel zu viel ›statisches Rauschen‹ enthielt, um für eine Verständigung brauchbar zu sein. Das einzige, was man in diesem Teil des Spektrums je gefunden hatte, war die Ausstrahlung des Kollektivgeists eines Bienenvolkes oder eines Wespennestes, weil der Kanal so ›grob‹ war, daß er fast an die oberhalb der Hörgrenze liegenden Geräusche mancher staatenbildender Insekten grenzte. Wieder ist vielleicht eine Analogie nötig. Man denke sich einen hochspezialisierten Elektronikexperten, der sich vor allem mit Ultrakurzwellenverstärkern auskennt, und sich plötzlich gezwungen sieht, eine stark beanspruchte Polizeifunkwelle zu verwenden, und zwar mit seiner Mikrowellenausrüstung, die alles ist, womit er umgehen kann. Er muß also nicht nur seine ungeeigneten Apparaturen neu abstimmen, sondern sich auch mit dem ganzen Hintergrundlärm der Polizeirufe abfinden. Hiero gelang etwas ähnliches. Er lag mit geschlossenen Augen auf seiner Strohschütte, allem äußeren Anschein nach in tiefem Schlaf, und begann die Gehirne seiner Widersacher in einem Niveau abzutasten, von dem sie nicht ahnten, daß es überhaupt irgendeinen Nutzen hatte. Anfangs war es schwierig, aber diese neue Wellenlänge bot phantastische Möglichkeiten! Vor allem konnte er seine Gedankenabschirmung völlig unbeein-
trächtigt aufrechterhalten, während er seine Sonden ausstrahlte. Die beiden Wellenbereiche lagen weit auseinander und beeinflußten einander überhaupt nicht. Als erstes versuchte er die Quelle jenes Drucks zu erkunden, der unablässig, jedoch wirkungslos seine äußere, automatische Abschirmung zu sprengen suchte. Dabei merkte er, daß er jetzt sein Gehirn gleichzeitig in drei verschiedenen, voneinander unabhängigen Niveaus benutzte. Der Urheber des geistigen Angriffs war eine ziemliche Überraschung für Hiero. Es war nur ein Mann, aber er hatte Hilfe. Er saß vor einer sonderbaren Maschine, deren gedämpftes Summen langsam eine Tonleiter hinauf- und hinunterglitt und zusätzlich rhythmisch moduliert war. Über einem Instrumentenbord voller Lämpchen und Schalter war an einer Drahtaufhängung eine durchsichtige Glasröhre befestigt, die mit irgendeiner opalisierenden Flüssigkeit gefüllt war. Die öligen, schimmernden Schlieren der Flüssigkeit schienen sich im Takt mit dem zerrenden Rhythmus der Apparatur zu bewegen. Der Mann, anscheinend ebenfalls ein Adept, saß, die Kapuze zurückgeworfen, vor dem Pult und hatte die Hände in zwei Vertiefungen gelegt, die genau dafür angepaßt waren. Seinem Äußeren nach, sah Hiero, hätte er ein Zwillingsbruder von Sduna oder Snerg sein können. Sah! Noch während das Wort durch seinen Geist zuckte, brach er die Verbindung ab und zog sich hinter seine Gedankenschilde in sein eigenes Gehirn zurück. Sah! Er
hatte, ohne die Augen eines Tiers zu Hilfe zu nehmen, irgendwie jenen Raum und den Mann darin gesehen. Dafür gab es nur eine mögliche Erklärung. In diesem neuen Niveau war es möglich, in den Geist eines anderen unentdeckt einzudringen und die Zentren aller seiner Sinneswahrnehmungen anzuzapfen, ohne daß er es merkte! Ob man tatsächlich mehr konnte als sehen? Vorsichtig tastete sich Hiero wieder zu dem Geist des Unreinen Meisters durch, der seinerseits ihn beobachtete. Fasziniert stellte er fest, daß er zur gleichen Zeit die psychischen wie auch die physischen Wahrnehmungen des anderen ›mithören‹ konnte. Der süßliche Geruch von Räucherwerk durchsetzte den Kontrollraum, in dem der Adept saß. Der unangenehme Dunst stieg von einer kleinen Räucherschale in der Ecke auf. Hiero vermutete, daß das Zeug eine ähnliche Wirkung wie Luzin hatte und das psychische Wahrnehmungsvermögen steigerte. Am allerwichtigsten war jedoch die Tatsache, daß er, Hiero, die Droge riechen konnte, indem er den Geruchssinn seines ahnungslosen Bewachers mitbenutzte! Und er konnte das kalte Metall der Instrumentenkonsole fühlen, wo die Hände des anderen es berührten. Vor dem nächsten Schritt scheute er zurück, aber es gab keine andere Möglichkeit. Die geheimnisvolle Maschine war zweifellos auf den Geist des anderen abgestimmt und so auch in psychischem Kontakt mit ihm. Der Priester wollte dringend mehr über die Maschine erfahren und fühlte, daß dies lebenswichtig sein konnte. Die Abteien begannen
eben erst, Geisteserweiterung durch technische Hilfsmittel in Erwägung zu ziehen, und der Feind hatte offensichtlich einen ungeheuren Vorsprung auf diesem Gebiet. Langsam, sehr langsam, so wie jemand mit schlechten Augen eine Nadel einfädelt, begann Hiero durch seinen neuen Beobachtungskanal den Verbindungen des Dunklen mit der Maschine nachzuspüren. Das Gefühl dabei war recht unheimlich. Durch die Maschine konnte er miterleben, wie der Geist des Unreinen gegen seine, Hieros, eigene Gedankenschilde anrannte! Eine Art intensives Hitzegefühl begann ihm in Wellen entgegenzuschlagen, und er zog sich hastig zurück. Diese Form geistiger Kreisverbindung war offensichtlich nicht ungefährlich. Es war nicht nötig, daß er sich umbrachte, nur um seine neuen Kräfte auszuprobieren, und das, was er eben versucht hatte, wurde wohl besser zuerst im Labor gründlich untersucht. Als das Hitzegefühl, das zwar nicht körperlich bedingt, aber deswegen nicht weniger gefährlich gewesen war, nachgelassen hatte, ließ Hiero seinen Geist anderswo auf Kundschaft gehen und nach sonstigen in der Nähe befindlichen Intelligenzen suchen. Er begriff, daß er jetzt genau das bewußt tat, was früher sein Unterbewußtsein erledigt hatte, wenn er sich zur Vorschau mit dem Kristall in Trance versetzte. Er kannte Sdunas Persönlichkeit aus der physischen und psychischen Beobachtung gut genug, um gerade diesen Meister der Unreinen herauszufinden. Er stieß
dabei auf mehrere andere menschliche Gehirne, und ganz flüchtig auch auf ein nichtmenschliches. Dies war wohl Tschi-Tschok oder ein anderer Lemut gewesen, aber er setzte seine Suche fort, ohne sich näher damit zu befassen. Ah! Da war endlich der Geist des Mannes, den er schon lange suchte. Der Adept ruhte offenbar gerade aus, und sein Gehirn stand unter dem Einfluß irgendeiner fremdartigen Droge. Hiero konnte einen Teil des Zimmers sehen. Es war groß, mit dunklen Wandbehängen ausgestattet, und auf Tischen und Regalen lagen eine Menge rätselhafte Instrumente. Sduna lag auf einem Bett, an dessen Kopfende wiederum ein kleines Räuchergefäß stand, aus dem dünne, bläuliche Schwaden aufstiegen, die der Mann einatmete. Ein kurzer Blick in die Gedanken des Feindes war für Hiero ausreichend. Die geistige Entspannung des Dunklen war nicht nur bizarr und sinnlich, sondern mehr noch auf eine widerwärtige Art pervers und unvorstellbar abstoßend und gemein. Hiero zog seinen Geist zurück, da er jetzt sicher war, den anderen jederzeit wieder aufspüren zu können, falls es nötig wurde. Was nun? Welche Zeitspanne ihm noch blieb, um einen Plan zu fassen, wußte er nicht, aber auf jeden Fall wurde seine Gnadenfrist immer kürzer. Daß Sduna unter Drogeneinfluß stand, war immerhin beruhigend. Ein derart mächtiges und erfahrenes Gehirn würden die Unreinen bei keinem Verhör missen wollen. Was konnte er aber mit seiner neuen Entdeckung noch tun?
Er konzentrierte sich so sehr er konnte auf Entfernung. Er begann sozusagen, den neuen Spektralbereich in immer weiterem Umkreis abzusuchen. Immer wenn er Kontakt mit einem Gehirn bekam, oder eins flüchtig spürte, das einem Unreinen gehörte oder sich überhaupt auf der Insel befand, dann stieß er weiter vor, immer weiter. Bald wußte er, daß sein Gedankensignal über die Grenzen von Manoun hinausreichte, sich ausbreitete wie die kreisförmigen Wellen eines ins Wasser geworfenen Steins. Jetzt konzentrierte er sich auf Gorm und das Mädchen. Ihre geistigen Identitätsmuster waren ihm vertraut, und er begann danach zu suchen. Er stieß auf viele Gehirne der verschiedensten Bewußtseinsniveaus, aber die meisten gehörten Tieren, Vögeln, die nach Nahrung suchten, meist nach Fischen, und verschiedenen Wassertieren. Einmal spürte er eine ganze Anzahl menschlicher Gehirne, alle eng beisammen, und vermutete, daß dies die Besatzung eines Schiffes war. Sein ›Suchstrahl‹ reichte also noch nicht bis zum Festland. Wieder bemühte er sich, noch weiter auszugreifen. Gerade als er die Hoffnung aufgeben und sich einem aussichtsreicheren Versuch zuwenden wollte, fand er die beiden. Gorm! Der Geist des Bären lag offen vor ihm, zumindest zu einem großen Teil. Zu seiner Verwunderung mußte er feststellen, daß ihm auch mit der neuen ›Wel-
lenlänge‹ einige Gebiete versperrt blieben, aber er konnte das jetzt nicht näher untersuchen. Durch die nicht sehr guten Augen des Bären konnte er Lucare sehen. Die beiden saßen auf einem weithin leeren Sandstrand in einer großen Bucht. Nach der Beleuchtung zu schließen war es später Nachmittag. Nun verschob sich der Blickwinkel des Bären, und ein kräftiger, knochiger Vorderlauf kam ins Bild. Also war auch Klootz heil davongekommen! Aber war auch die Verständigung möglich? Gorm, Gorm, rief Hiero mit einem starken Gedankensignal in dem neuen Frequenzbereich. Er fühlte, daß das Tier sich unruhig bewegte, aber seine Botschaft drang nicht bis in Gorms Bewußtsein durch. Er schien den Bären bloß zu irritieren, unsicher zu machen. Er versuchte es noch einmal, dieses Mal weniger intensiv, aber dafür mit einem stärker ›gebündelten‹ Signal. Der Bär warf unruhig den Kopf hin und her, witterte. Der Priesterkrieger war sich klar darüber, daß er auf telepathisches Neuland vorstieß und noch lange nicht alle Möglichkeiten der neuen Technik kannte. So war es im wesentlichen ein glücklicher Zufall, daß er tatsächlich kurz Kontakt bekam. Hiero! Er fühlte Gorm zusammenzucken wie unter einem elektrischen Schlag, dann war die Verbindung wieder unterbrochen. Er versuchte es nun mit Lucare, erreichte jedoch nicht das geringste. Das überraschte ihn nicht, denn sie war ein Anfänger, was die Gedankensprache betraf, und Gorm war
das keineswegs. Genaugenommen war der Bär überhaupt eine psychische Unbekannte, überlegte Hiero, als ihm die unzugänglichen Regionen in Gorms Geist einfielen. Aber für solche Spekulationen war jetzt keine Zeit. Geduldig sondierte er in der ganzen Breite des noch unvertrauten Bereichs, um genau den Punkt wiederzufinden, in dem er Kontakt mit Gorm bekommen hatte. Da! Da war die Verbindung wieder, mit einer Flut von Gedankensignalen! Hiero, sendete der Bär. Hiero/Freund, wo bist du? Wie (können wir) sprechen in dieser neuen/fremden Art? Dem Priester gelang es schließlich, seinen besorgten Freund zu unterbrechen. Langsam begann er zu erklären, was er entdeckt hatte und wie es funktionierte. Diesmal war Hiero nicht mehr so erstaunt, als er merkte, wie schnell Gorm begriff. Zuvor, überlegte er, war er der Ansicht gewesen, daß der junge Bär ein Gehirn besaß, das schon fast dem eines Durchschnittsmenschen gleichkam. Jetzt mußte er feststellen, daß er mit dieser Einschätzung viel zu tief gegriffen hatte. Der Bär war genauso intelligent wie Hiero selbst, nur auf eine etwas andere Weise, das war alles. Ich bin Gefangener der Unreinen, sendete der Priester. Ich bin auf einer Insel irgendwo auf dem Meer. Ich werde sehr bald zu fliehen versuchen, weil ich sicher bin, daß sie mich foltern wollen. Wo seid ihr, und wie ist es euch ergangen? Im Laufe seines Berichts kam Gorm immer besser mit
der neuen Verständigungsmethode zurecht. Die drei waren in dem kurzen Gefecht, in dem Hiero, wie sie glaubten, tödlich getroffen worden war, nicht verletzt worden. Sie waren allen Geschossen ausgewichen und zurück nach Westen davongaloppiert. Die wenigen Heuler, die ihnen folgten, waren sie leicht losgeworden und hatten sich dann landeinwärts gewandt. Als sie nach ein paar Meilen auf den Rand des Palud stießen, hatten sie wieder östliche Richtung eingeschlagen. Jetzt lagerten sie etwa eine halbe Tagesreise ostwärts der Bucht, in der Hiero gefangengenommen worden war. Der Feind schien sich nicht um sie zu kümmern. Man nahm wohl an, daß es sich nur um zwei stupide Tiere und ein armseliges Sklavenmädchen handelte, die die Mühe nicht wert waren. Die drei hatten eben versucht, sich über ihre weiteren Pläne klarzuwerden, als die wunderbare Nachricht sie unterbrach. Seit jenem unglückseligen Kampf waren anderthalb Tage vergangen. Was konnten sie tun, um Hiero zu helfen? Der Priester überlegte einen Moment. Es hatte keinen Sinn, daß die drei ihn zu erreichen versuchten – das Mädchen, das von Booten und Seefahrt nichts verstand, der Bär, der noch weniger Ahnung davon hatte, und der Ellk, der für die meisten Boote sowieso zu groß war. Er mußte sich mit eigenen Kräften befreien und selbst zu den dreien stoßen. Schwierig war nur, einen Treffpunkt auszumachen. Schwierig, aber nicht unmöglich. Geht, sendete er, nach Osten. Sucht eine versteckte Bucht,
in die ein kleines Boot unbemerkt einfahren kann. Verbergt euch dort und wartet. Die Unreinen kennen diesen Gedankenkanal nicht, den wir jetzt benutzen. Hiero ordnete noch an, daß sie ihm durch Gorm ein Gedankenbild übermitteln sollten, wenn sie einen solchen Platz gefunden hatten, und abschätzen sollten, wie weit er von der Bucht des Kampfes entfernt war. Damit konnte er selbst dann sicherlich hinfinden. Er fügte ein kurzes Gebet an und eine tröstende Botschaft für Lucare und brach dann die Verbindung ab. Ein Plan hatte sich in seinem Geist zu formen begonnen, und er fühlte, daß er jetzt nicht mehr länger zögern durfte, ihn in die Tat umzusetzen. Wer konnte wissen, wieviel Zeit ihm noch blieb? Wieder suchte er im Geist nach dem namenlosen Meister, nach dem, der mit Hilfe der geheimnisvollen Maschine den Gefangenen aus der Ferne überwachte und bedrängte. Als er in den Geist des Unreinen eindrang, machte er wieder die seltsame Erfahrung durch, über die Gedanken eines anderen gleichsam sich selbst anzugreifen. Langsam begann er, einen bestimmten Gedanken in das psychische Gefüge des Dunklen einzuschieben, noch tief im Unterbewußtsein: Der Gefangene ist zu ruhig. Schalte die Maschine ab und geh nachsehen. Zu ruhig; geh nachsehen. Immer wieder formte Hiero diesen Befehl und verstärkte langsam, ganz langsam seine Intensität. Nicht einen Atemzug lang ließ seine Konzentration nach, während er sich bemühte, den Druck ja nicht zu rasch zu
verstärken, so daß der Adept – selbst ein Meister der Geisteskünste – etwa Verdacht schöpfte. Langsam wuchs der Druck, wie bei einem Befehl des Unterbewußtseins, der allmählich ins Bewußtsein durchdringt. Die ganze Zeit über beobachtete Hiero durch die Augen des anderen die Instrumentenkonsole vor ihm, während er Ihn zu beeinflussen versuchte. Plötzlich vernahm er ein Klicken. Der Priester konnte noch deutlich die Besorgnis seines Feindes fühlen, bevor das Glimmen in der seltsamen aufgehängten Röhre verblaßte und erlosch. Auch verschiedene Lämpchen an der Konsole waren ausgegangen. Der Druck gegen Hieros Gedankenschirm war verschwunden. In diesem Moment, bevor der Unreine auch nur von seinem Sitz aufstehen konnte, schlug Hiero zu. Er fegte die Abschirmung, die seiner Verteidigung gedient hatte, zur Seite und fiel mit der ganzen Kraft seines Geistes über den Dunklen her, bevor der auch nur beginnen konnte, sich zu schützen. Indem er beide der ihm zur Verfügung stehenden Kanäle benutzte, gelang es Hiero, das Gehirn des Feindes so schnell und vollständig zu überwältigen, daß dieser auch keine Zeit mehr fand, eine Warnung auszusenden. Den Geist des Unreinen scharf unter Kontrolle haltend, ›lauschte‹ Hiero einen Augenblick lang. Nichts rührte sich im Äther, kein Alarmsignal, keinerlei Anzeichen, daß irgendjemand bemerkt hatte, was vorgefallen war. Einen Moment später befahl Hiero seinem Gefangenen
– den er jetzt so völlig in seiner Gewalt hatte, als hätte er ihn in Ketten geschlagen – zu der Zelle zu kommen und die Tür zu öffnen. Er ging dabei das Risiko ein, daß der Unreine keinen Schlüssel besaß, aber Hiero setzte darauf, daß ein Dunkler dieses Ranges Zutritt zu dem Gefangenen haben mußte, für den er zuständig war. Durch die Augen des anderen sah er, wie der den Raum verließ, von dem aus er den Gefangenen überwacht hatte, und die Richtung zu dem weit entfernten Verlies einschlug. Die Augen des Adepten waren überdies nicht die einzige Kontrollmöglichkeit, die dem Priester zur Verfügung stand. Durch die Ohren seines Gefangenen vernahm Hiero das Geräusch von Schritten, die sich aus einem Seitengang näherten, und sofort ließ er den willenlosen Unreinen in eine Nische treten und warten, bis der andere vorüber war. Die ganze Zeit über spürte er, wie tief im Geist seines Feindes wütende Gegenwehr aufbrodelte und die Fesseln zu sprengen versuchte. Es war kein schwaches und auch kein unerfahrenes Gehirn, das verzweifelt gegen den Klammergriff ankämpfte, der es samt seinem Körper gefangenhielt. Umsonst: Hiero hatte so blitzartig angegriffen, daß er nun das gesamte Großhirn unter Kontrolle hatte, alle motorischen und alle Wahrnehmungszentren. Der Unreine mochte in den Tiefen seines Geistes sinnlos wüten, tun konnte er nichts. Der Weg führte durch ein Labyrinth dunkler Korridore, an geschlossenen Türen vorbei; nur hier und da er-
hellte eine in die Decke eingelassene Fluorolampe die düsteren Gänge. Einmal passierten sie eine Tür, hinter der Hiero ein abgerissenes Stöhnen zu hören glaubte. Er wagte jedoch nicht nachzusehen, welche Gemeinheit des Feindes sich dahinter verbarg. Er konnte schon froh sein, wenn es wenigstens ihm gelang zu entkommen, und es würde niemandem etwas nützen, wenn er hier in dem sinnlosen Versuch umkam, einen anderen Gefangenen Manouns zu retten. Schließlich standen ›sie‹ vor seiner eigenen Zellentür. Er spürte von draußen seine eigene Anwesenheit im Verlies und zugleich von drinnen den Teil seines Ich, der den Körper des Dunklen kontrollierte. Auf seinen geistigen Befehl hin mußte der Adept einen winzigen Sperriegel in der Mauer neben der Tür lösen. Das Schloß klickte, der Adept stieß die Tür auf und trat ein. In diesem Augenblick zwang ihn Hiero in die Knie. Die Tür hatte sich von selbst hinter dem Unreinen geschlossen. Nun konzentrierte der Priester seine gesamte geistige Energie auf einen furchtbaren Schock, der jede einzelne Synapse im Nervensystem des anderen explosionsartig durchbrach. Mit einem erstickten Seufzer sank der Feind bewußtlos zusammen, während der Metz sich aus seinem Gehirn zurückzog. Er erhob sich von der Strohschütte und kauerte sich neben die schlaffe Gestalt am Boden. Hastig durchsuchte er den Feind, wobei er auf einen gefährlich aussehenden Dolch unter der Kutte stieß. Er nahm ihn an sich und zog
dann die graue Kapuzenrobe über seine eigene Lederkleidung. Er lauschte einen Augenblick nach draußen, aber es war nichts zu hören. Er baute nun wieder seine ›normale‹ Gedankenabschirmung auf, nur für den Fall, daß irgend jemand ihn aus Neugier zu sondieren versuchte. Eine plötzlich eintretende Stille, ein geistiges Vakuum, ließ ihn hinunterschauen. Es würde nun nicht mehr nötig sein, den Unreinen Meister zu fesseln, denn er hatte zu atmen aufgehört. Der gewaltige Nervenschock mußte sein Herz zum Stillstand gebracht haben, dachte Hiero und hatte im nächsten Augenblick die Angelegenheit vergessen. Je früher solche Scheusäler ausgerottet wurden, desto besser, war seine Einstellung. Bevor er den Dunklen zu seiner eignen Zelle ›geführt‹ hatte, hatte er das Gedächtnis des Willenlosen gründlich nach brauchbaren Informationen durchstöbert. Hiero wußte nun genau, wo sein Verlies lag, wo sich die verschiedenen Ausgänge befanden – er kannte den gesamten Labyrinthkomplex Manouns bis hinunter zur letzten Abstellkammer. Er ließ die Zellentür hinter sich zufallen, sperrte sie ab, und ging zielstrebig den Korridor hinunter. Er hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, und hielt den Kopf gesenkt, so daß er im Äußeren einem Meister der Dunklen Bruderschaft glich, der auf einem ruhigen Spaziergang irgendein Problem überdachte. Er versuchte nicht, die Oberfläche auf dem gleichen Weg zu erreichen, auf dem er hereingekommen war. Es war weder der nächste Ausgang noch der unauffälligste.
Außerdem hatte er noch die Absicht, etwas zu holen, bevor er Manoun endgültig verließ. Die ganze Zeit über war sein Geist auf jene Wellenlänge abgestimmt gewesen, die die Unreinen, wie er festgestellt hatte, für Warnsignale und dringende Botschaften vorzogen. Er würde jeden Menschen, der sich ihm näherte, sofort wahrnehmen, bevor der ihn überhaupt zu sehen bekam, so daß er ihm entweder ausweichen – was sicher das günstigste war – oder ihn nötigenfalls geistig oder physisch überwältigen konnte. Er hatte einige hundert Meter in dem staubigen, düsteren Gang zurückgelegt, den Dolch im Mantelärmel verborgen, als er hinter sich ein schwaches Geräusch zu hören glaubte. Er blieb wie angewurzelt stehen und lauschte angestrengt. Das Geräusch, wenn es überhaupt etwas zu bedeuten hatte und nicht nur von dem in seinen Schläfen pochenden Blut stammte, glich einem weichen Tappen, das aus ziemlich großer Entfernung gekommen sein mußte. Jetzt war nichts mehr zu hören. Die unterirdische Welt von Manoun war totenstill. Weit hinter ihm glomm an der Decke des Ganges ein schmutziges, blaues Fluorolicht, und in etwa der gleichen Entfernung vor ihm ein weiteres. Er ging vorsichtig weiter, aber bald mußte er wieder haltmachen, denn voraus waren Schritte vernehmbar geworden, und der Korridor war hier besser beleuchtet. Er kam jetzt wie beabsichtigt in einen belebteren Teil der Felsenfeste. Die Schritte entfernten sich, und er machte
sich wieder auf den Weg. Es war nur irgendein rang- und namenloser Dunkler gewesen, dessen Geist nichts als bösartigen Stumpfsinn ausstrahlte. Hiero stellte fest, daß das hellere Licht von einer starken Fluorolampe an der Kreuzung seines Gangs mit einem viel breiteren stammte. Auch das war genauso, wie es sein sollte, und in der näheren Umgebung war nicht ein einziges feindliches Gehirn zu spüren. Mit tief heruntergezogener Kapuze trat er in den Quergang und wandte sich nach links. Bald stand er vor einer nicht verschlossenen Eisentür, stieß sie auf und trat ein. Der kleine Lagerraum war verlassen. Da er sich zuvor durch eine Gedankensonde davon überzeugt hatte, wäre er auch sehr überrascht gewesen, hier jemanden anzutreffen. Auf einem Regal lag, samt Schultergurt und Scheide, sein Buschmesser, achtlos hingeworfen von jemandem, der einfach physische Waffen geringschätzte. Sekundenschnell hatte er die graue Mantelrobe abgeworfen und sich die vertraute Waffe umgeschnallt. Wenige Augenblicke später hatte er die Tür hinter sich geschlossen und war wieder unterwegs, den Gang zurück, durch den er gekommen war. Es war ein glücklicher Zufall gewesen, daß der Dunkle, den er überwältigt hatte, gewußt hatte, wo sein Schwertmesser aufbewahrt wurde, aber es war Voraussicht gewesen, daß der Metz sich diese Information noch verschafft hatte. Er verschwendete keine Zeit damit, nach seinem Werfer zu suchen. Die Waffe war, wie er erfahren hatte, bereits zur Untersuchung ausei-
nandergenommen worden, und außerdem hatte er keine Granaten mehr. Hiero begegnete niemandem und konnte auch telepathisch nichts Beunruhigendes aufspüren, bis er wieder den kaum begangenen Korridor erreichte, an dem seine Zelle lag, aber er war trotzdem nervös. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß man ihm trotz allem bereits auf der Spur war, und dieses Gefühl verstärkte sich. Er beschleunigte seinen Schritt, bis er fast den schmalen Gang entlanglief. Ganz Manoun schien nichts von seiner Flucht zu ahnen, aber trotzdem ließ ihn die merkwürdige Unruhe nicht los. Der Boden des Ganges ging in grob behauenen Fels über, die kantigen Wände glitzerten hin und wieder vor Nässe, und die Fluoros lagen hier weiter auseinander. Dieser Stollen führte zu einem selten verwendeten Ausgang, der ursprünglich, als Manoun vor langer Zeit gebaut worden war, als Notausgang geplant wurde, für den Fall, daß die Feste der Toten Insel jemals einer Belagerung ausgesetzt war. Hiero hatte im Gehirn des nun toten Meisters gelesen, daß der Unreine selbst diesen Ausgang für den geheimsten und mit größter Wahrscheinlichkeit nicht bewachten angesehen hatte. Der Stollenboden begann jetzt leicht anzusteigen, was Hiero beruhigte, da er sich schon Sorgen gemacht hatte, ob er wirklich auf dem richtigen Weg war. Der Boden wurde noch unebener und war stellenweise mit Geröll und sogar einigen größeren Felsbrocken bedeckt. Auch
begann der Gang sich zu krümmen, so daß das spärliche Licht der seltenen Fluoros noch weniger weit reichte. Hiero sah sich nun wirklich gezwungen, das Tempo zu vermindern. Plötzlich blieb er stehen. War da nicht wieder ein Geräusch hinter ihm zu hören gewesen, das gedämpfte Klappern von ein paar Steinchen? Wieder durchforschte er den Äther nach der Ausstrahlung eines menschlichen Geistes, aber er konnte nichts entdecken. Falls er sich nicht überhaupt getäuscht hatte, mußte es eine Ratte oder sonst ein Ungeziefer gewesen sein, entschied er und ging weiter. Kein Mensch rührte sich in diesem Teil der Unreinen Feste. Endlich verlief der Gang wieder geradeaus. Er führte jetzt ziemlich steil aufwärts, und ein kleiner Lichtpunkt kündete sein noch weit entferntes Ende an. Ermutigt eilte der Metz vorwärts. Er begann jetzt zwar die Anstrengung zu spüren – die unausgesetzte psychische Beanspruchung weit mehr als die körperliche – aber seine Kräfte waren durchaus noch nicht erschöpft. Er hatte das letzte verstaubte Fluoro passiert und war in die Dunkelheit dahinter getaucht, als ihn ein scharfes Kratzgeräusch herumfahren ließ – wie über Stein schürfende Klauen hatte es geklungen. Gleichzeitig riß er sein schweres Kurzschwert und den Dolch heraus. Unter dem vorletzten Fluoro tauchte jetzt ein massiger Schatten auf, der den Tunnel ausfüllte und erschreckend rasch heranjagte. Als das Ungeheuer merkte, daß es ent-
deckt worden war, ließ es ein schauerliches Geheul los, das ohrenbetäubend laut durch den Gang hallte. Tschi-Tschok! Irgendwie hatte der riesige Heuler von Hieros Flucht Wind bekommen und war ihm gefolgt. Und der Priester hatte die ganze Zeit nur auf menschliche Gehirne geachtet und dabei völlig vergessen, daß auch die Unreinen Verbündete besaßen, deren Bewußtseinsvorgänge sich in einem völlig anderen Frequenzbereich abspielten! Aber jetzt war nicht die Zeit für Selbstvorwürfe. Als der Lemut unter dem letzten Fluoro unmittelbar vor ihm durch kam, sah Hiero in der einen schmutzigen Pranke des Scheusals eine beilähnliche Waffe aufblitzen. Da ging der Priester zum Angriff über. Er bückte sich schnell, ließ das Schwert aus der Linken – die seine Dolchhand war – fallen und schleuderte mit aller Kraft einen faustgroßen Felsbrocken mitten in die zähnefletschende, heulende Fratze. Wuchtig krachte das Geschoß gegen das scheußliche Maul, erstickte das Geheul augenblicklich und brachte die Bestie durch den plötzlichen Schmerz zum Stehen. Unmittelbar nach dem Wurf stürzte Hiero los, nun das Schwert in der Rechten, den Dolch in der Linken, und die Abwärtsneigung des Ganges verlieh seinem Sturmangriff zusätzliche Wucht. Tschi-Tschok fuchtelte mit der freien Hand herum und versuchte, seine eigene Waffe zu heben, aber der Priester fegte sie mit dem langen Dolch zur Seite – den er wie die
Fechter des Cinquecento zur main-gauche-Parade benutzte – und holte zu einem furchtbaren Schwerthieb in das jetzt ungeschützte Raubtiergesicht aus. Die kurze, schwere Klinge sauste genau zwischen die bösartigen roten Augen herunter, mit einer Wucht, in die Hiero seine gesamte Kraft legte, weil er sich über den Ausgang des Kampfes keine Illusionen machte, sollte er das Ungeheuer nicht auf den ersten Streich töten. Mit einem dumpfen Ton, wie wenn eine Axt in einen Baumstumpf fährt, spaltete Hieros Schwert die niedrige Stirn. Damit war alles vorüber. Der massige Körper des Heulers fiel langsam vornüber, so daß Hiero zur Seite treten mußte, um nicht erdrückt zu werden. Trotzdem wurde ihm das Schwert aus der Hand gerissen, weil er einfach nicht mehr die Kraft hatte, es festzuhalten, und die Klinge so tief im Schädelknochen seines monströsen Gegners steckte. Wieder herrschte Stille in dem Felstunnel, nur der keuchende Atem des Priesters war zu hören. Sobald er wieder einigermaßen denken konnte, versuchte er, sein Schwert freizubekommen, während er mit seinem Geist den Äther durchforschte, ob das durchdringende Geheul des Scheusals nicht die ganze Feste alarmiert hatte. Er konnte jedoch nicht das geringste spüren. Keine geistigen Alarmrufe, keine Warnsignale, nichts. Die Gehirne, die er unten im Hauptteil der Zitadelle aufspürte und sondierte, waren ahnungslos mit ihren Routineaufgaben beschäftigt. Sduna lag noch immer in seinem Drogenrausch
und gab sich seinen widerwärtigen lüsternen Träumen hin. Endlich bekam Hiero seine Waffe los, worauf er sich bückte und sie so gut es ging an dem verfilzten Pelz des Lemut säuberte. Einen Moment lang stand er noch da und starrte auf den mächtigen Körper hinunter, dessen Muskeln noch immer im Todeskampf zuckten. »Schade, Tschi-Tschok«, dachte er laut. »Wenn richtige Menschen dich aufgezogen hätten, wer weiß, vielleicht wärst du eine andere Art Wesen geworden und nicht ein gräßliches, durch die Nacht streifendes Scheusal.« Bewegt von der Tragik einer so widernatürlichen Existenz sprach er ein kurzes Gebet, wandte sich um und marschierte los. Der Gestank des toten Heulers hing erstickend zwischen den engen Felswänden, aber Hiero konnte bereits einen leichten, frischen Lufthauch in der dumpfen Atmosphäre wahrnehmen. Das Licht am Tunnelende war jedoch viel weiter weg, als er gedacht hatte, und es dauerte länger als ihm lieb war, bis er endlich das letzte steile Stück zum Stollenausgang hochkletterte. Die Beine taten ihm mittlerweile wirklich weh, und er hatte das Gefühl, das nun selbst ein einjähriges Junges von Tschi-Tschoks Sorte mit ihm fertiggeworden wäre. Der Notausgang der unterirdischen Feste der Unreinen war durch kein Tor, nicht einmal durch ein Gitter geschützt. Der Tunnel machte bloß einen doppelten Knick, so daß man nicht hereinsehen konnte. Der letzte
Teil war ein schmaler Spalt, durch den er sich gerade durchzwängen konnte. Der Metz-Priester lugte vorsichtig hinaus. Er mußte die Augen mit der Hand beschirmen, bis er sich wieder an das Tageslicht gewöhnt hatte, obwohl die Sonne bereits im Untergehen war. Das Schlupfloch, in dem er stand, lag hoch oben in den Felsen links von der Bucht, in die das Schiff ihn als Gefangenen gebracht hatte. Er blickte nach Osten, und das Licht der sinkenden Sonne erhellte den Himmel hinter und über ihm. Die langen unterirdischen Korridore hatten ihn weit heraus auf einen der beiden Landarme geführt, die den Hafen von Manoun schützten. Zwischen ihm und dem Hafenbecken lag nur mehr eine steile Geröllhalde, in der nicht das geringste wuchs. Die Schiffe unten lagen verlassen vor Anker, auch jenes rätselhafte Metallschiff, auf dem er gefangen gewesen war. Unruhige Wellen kräuselten das schwarze Wasser, und als er nach links zur Hafeneinfahrt blickte, sah er, daß die offene See ziemlich rauh und aufgewühlt war. Und er sah noch etwas anderes. Es gab nur einen Anlegepier, den am Beginn des Wegs zur Festung hinauf, wo man ihn an Land gebracht hatte. Die finstere Burg und die Felsen rundum ragten drohend über dem schweigenden Hafen empor. Das Tor war geschlossen, und niemand ging mehr auf der Mauerkrone hin und her. Kein Laut drang herüber. Aber nur wenig rechts von Hieros augenblicklichem
Versteck führte ein schmaler Pfad hinunter zu einer anderen kleinen Bucht mit einem winzigen Stück Schotterstrand. Dort waren ein paar Fischernetze ausgebreitet, und gleich daneben lagen zwei kleine Holzboote, halb auf die Steine herausgezogen, und mit einem Strick an Felsbrocken verankert. Der Priester nahm an, daß die Herren der Toten Insel wahrscheinlich manchmal Appetit auf frischen Fisch bekamen und ihre Diener mit diesen Booten zum Fischen schickten. Aber was immer der Grund für das Vorhandensein dieser Boote war, für ihn bedeuteten sie eine echte Chance. Er konnte deutlich sehen, daß Ruder im Innern lagen; das eine Boot hatte sogar einen umlegbaren Mast, der mit fest darumgewickeltem Segel über den Ruderbänken lag. Hiero hatte die ganze Zeit mit einem Teil seines Geistes sämtliche Gehirne in der Feste und dem unterirdischen Labyrinth belauscht, aber es rührte sich noch immer nichts. Tschi-Tschok war ihm anscheinend allein gefolgt, weil er seinen Festschmaus vermutlich nicht mit anderen hatte teilen wollen. Jeden Augenblick konnte sich die Situation jedoch ändern. Trotzdem beschloß Hiero, noch zu warten. Das Tageslicht verblaßte rasch, die Sonne mußte nahezu untergegangen sein. Dunkelheit würde seine Chancen erheblich verbessern. Das war das Risiko wert. Die Schatten wuchsen schnell. In der gedrungenen Feste droben gingen keine Lichter an, und die klobigen dunklen Umrisse verschwammen mehr und mehr mit
den schwarzen Felsen. Auch im Hafen war kein Licht zu sehen. Nicht einmal eine Ankerwache, dachte Hiero, der von der Beecee-Küste her die seemännischen Gepflogenheiten einigermaßen kannte. Diese Bande hier war zu selbstsicher, überlegte er, zu arrogant, um die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, daß irgend jemand oder etwas sie in ihrer Feste bedrohen könnte. Eben diese Überheblichkeit würde einem der Diener Gottes zu seiner Rettung verhelfen. Oder doch nicht? Er mußte an Sdunas Bemerkung im Boot denken, daß Manoun ›viele Wächter‹ hätte. Äußerste Vorsicht war jedenfalls geboten. Ab und zu kamen ein paar Sterne hinter den jagenden Wolkenfetzen hervor, aber der Mond ließ sich nicht sehen, und bald war der Himmel völlig bedeckt. Der Wind hatte aufgefrischt und heulte jetzt über die nackten, dunklen Felsen der Toten Insel. Wie die Stimmen tausender Erschlagener, das Jammern der gequälten Opfer der Unreinen, dachte Hiero und nahm sich vor, daß er, was immer auch geschah, nicht zu ihnen gehören würde. Langsam tastete er sich den felsigen Pfad hinunter, alle Sinne in höchster Wachsamkeit angespannt, aber er hörte nichts und auch sein Geist nahm nichts Bedrohliches wahr. Bald sah er die Umrisse der kleinen Boote vor sich. Vorsichtig tappte er über den Schotter hin und machte das mit dem Mast los. Dann begann er, das Ankerseil über der Schulter, das Boot ins Wasser zu ziehen. Es war eine ziemliche Plage, und er mußte zweimal eine Atem-
pause einlegen. Immer wieder sah er zu der Burg hinüber um das Aufflammen von Lichtern sofort zu bemerken. Endlich hatte er das Boot ins Wasser gebracht. Er kletterte hinein, setzte den Mast ein, ließ aber das Segel noch zusammengerollt. Dann watete er nochmals zurück und schlug mit einem schweren Stein ein Loch in das zweite Boot und nahm die Ruder mit in sein eigenes, für den Fall, daß er Ersatz brauchte. Einen Moment später hatte er abgestoßen, zwei Riemen in die Dollen eingelegt, und ruderte den Strand entlang zum Hafenausgang. Er tauchte die Riemen so leise wie möglich ein, ohne Hast, und hielt sorgfältig nach Klippen Ausschau. Sein kleines Fahrzeug war in den schwarzen Schatten der hochaufragenden Felsen nahezu unsichtbar, und er folgte jeder Krümmung und Einbuchtung des Strandes genau. An einer Stelle mußte er ziemlich knapp an einem der verankerten Schiffe vorbei, aber es lag bald hinter ihm und nichts rührte sich an Bord; er konnte auch kein Gehirn darauf aufspüren. Die größte Sorge bereitete ihm die gegen die Hafeneinfahrt hin immer rauhere und steifere See. Mehrmals sprühte Gischt herein, aber Hiero sagte sich lediglich, daß er unter diesen Umständen wenigstens nicht an Durst sterben würde. Zwei flache, ovale Bretter fielen ihm auf, die mit Bolzen an der Außenwand in der Nähe der Ruderdollen befestigt waren. Obwohl er noch nie Seitenschwerter zu Gesicht bekommen hatte, da sie bei seinem Volk nicht
verwendet wurden, war ihm ihr Zweck sofort klar. Das kiellose breite kleine Boot würde bei gesetztem Segel kaum Vorwärtsfahrt machen, sondern viel schneller seitlich abtreiben, vielleicht sogar umschlagen, wenn nicht irgend etwas die Funktion eines Kiels übernahm. Die Seitenschwerter waren drehbar an der Bordkante festgemacht, so daß man das eine auf der Leeseite hinunterlassen konnte, sobald das Segel gehißt war. Der Priester war oft genug auf Segelbooten – wenn auch mit feststehendem Kiel – gewesen, um ein wenig vom Lavieren zu verstehen, und er wußte recht gut, was er tun mußte, um das Fischerboot am besten an den Wind zu bringen. Obwohl er damit gerechnet hatte, erschreckten ihn der rauhe Wind und Seegang außerhalb des Hafens. Es war natürlich keine Rede von Sturm, aber in dem winzigen Boot wirkten die Wellen viel bedrohlicher als sie wirklich waren. Eine plötzliche Bö klatschte eine Mütze voll Wasser in Hieros Genick, daß es ihm kalt über den Rücken lief. Trotzdem fror ihn eigentlich nicht, denn das Wasser war ziemlich warm. Im übrigen lernte er es rasch, seinen Ruderrhythmus den heranrollenden Wellenkämmen anzupassen, so daß nicht allzuviel Wasser hereinschlug. Er befand sich gerade mitten vor der Hafeneinfahrt, zwischen hochaufragenden schwarzen Klippen, als bei ihm sämtliche geistigen Warnsignale losgingen. Augenblicklich fuhr sein neuer, undurchdringlicher Gedankenschild hoch, so daß er den Aufruhr in der Festung zwar belauschen, aber selbst nicht aufgespürt werden konnte.
Jetzt erst legte er sich mit voller Kraft in die Riemen. Er konnte Sdunas fast wahnsinniges Toben wahrnehmen, als der Adept geweckt wurde und die Neuigkeit erfuhr. Er fühlte, wie binnen Minuten eine ganze Anzahl von Meistergehirnen – wie viele, konnte er im Augenblick nicht sagen – sich aufeinander abgestimmt hatten und in alle Richtungen ihre Gedankensonden ausstrahlten. Er spürte jedoch auch, daß sie ihm auf diese Weise nichts anhaben konnten. Seine Abschirmung war so vollkommen, daß sie ihm eine Art geistiger Unsichtbarkeit verlieh, die die Unreinen in keiner Weise aufheben konnten. Was ihm viel mehr Sorgen bereitete, waren rein physische Suchmethoden, und er war sicher, daß irgendeines der eiskalten Gehirne von Manoun nur zu bald daran denken würde. Das Glück – oder die Vorsehung, dachte Hiero und bat Gott in Gedanken um Vergebung – war auf seiner Seite. Er hatte kaum den Felsvorsprung auf der einen Seite der Hafeneinfahrt umrundet, als auf den Mauern der Burg grelle Suchscheinwerfer aufflammten. Gleichzeitig schoß eine Rakete mit einer Leuchtkugel hoch, die das Hafenbecken mit bläulichem Licht überflutete. Keine zwei Wellenkämme links von seinem Boot war das Wasser fast taghell erleuchtet. Er war jedoch durch einen gewaltigen Steinwall, die Außenbastion der Toten Insel, vor allen Blicken geschützt. Trotzdem machte er sich keine Illusionen über seine Sicherheit. Wenn die Unreinen erst einmal wieder zur
Vernunft gekommen waren, würden sie sicher das fehlende Boot bemerken. Schließlich, wie hätte er sonst die Tote Insel verlassen können, wenn nicht auf dem Wasserwege? Er holte die Ruder ein und machte das Segel los. Es war sehr einfach, von der Art, die in den Vergessenen Jahrtausenden ›Luggersegel‹ geheißen hatte; Hiero hatte schon oft Boote mit solcher Takelung gesehen. Dann senkte er das rechte Seitenschwert ins Wasser, da er an der Steilküste der Insel entlang nach Osten segeln wollte. Zuletzt nahm er einen der Reserveriemen und steckte seine Dolle in eine offenbar dafür vorgesehene Bohrung am Heck, so daß er ein einfaches, aber ausreichendes Steuerruder hatte. Er brauchte eine Weile, um sich an das Boot zu gewöhnen, und erlebte dabei einige unangenehme Minuten. Einmal fiel er so weit leewärts ab, daß achtern ein ganzer Eimer Wasser hereinschlug, aber es gelang ihm doch, den Bug wieder herumzubringen und richtig anzuluven. Glücklicherweise blies der Wind stetig aus West und war auch kaum böig. Das kleine Fischerboot lag gut im Wasser, und sobald er richtig damit umgehen konnte, machte es flotte Fahrt. Hiero war so damit beschäftigt gewesen, möglichst schnell segeln zu lernen und gleichzeitig nach Riffen Ausschau zu halten, daß er seine geistige Warnanlage etwas vernachlässigt und nur die Abschirmung automatisch aufrechterhalten hatte. Jetzt aber drängte sich etwas
Neues in seinem Bewußtsein durch, ein seltsames, unangenehmes Vibrieren in sämtlichen geistigen Kommunikationskanälen. Es sagte ihm nichts, schien auch keine Bedrohung zu enthalten, sondern war nichts als lästig. Da er jedoch nicht wußte, was es zu bedeuten hatte, beunruhigte es ihn. Dann sah er, wie achtern, noch nicht im Schatten der Insel, ein blasses, schlauchförmiges Ding aus den Wellen tauchte und wieder hinuntersank, naßglänzend und sich windend im Licht der erlöschenden Leuchtkugel. Die rundmäuligen Würmer des Hafens! Manoun hatte ihm schreckliche Verfolger aus den schlammigen Tiefen der Inlandsee auf die Spur gehetzt.
7 Die versunkene Stadt Lucare saß mit gekreuzten Beinen vor dem winzigen, rötlichen Feuer und starrte in die Flammen. Sie fröstelte. Es war jedoch gar nicht kalt, überhaupt nicht. Der junge Bär lag neben ihr, den Kopf in ihren Schoß gelegt, und stieß im Schlaf immer wieder ein paar prustende Schnaufer aus. Jenseits der flachen Bodenrinne, in der sie lagerten, war Klootz' mampfendes Wiederkäuen zu vernehmen, trotz der ziemlich lauten Brandung draußen vor dem Strand, und das Mädchen wußte, daß mit diesem Wächter keine nächtliche Gefahr sie überraschen konnte. Nein, es ging ihr um Hiero. Jene kurze, wunderbare Gedankenverbindung mit ihm hatte ihnen allen neues Leben und neue Hoffnung geschenkt. Sie selbst hatte ernsthaft mit dem Gedanken an Selbstmord gespielt, gerade bevor es dem Priester gelungen war, sich mit ihnen zu verständigen. Nicht, daß er etwa mit ihr gesprochen hätte, dachte sie ziemlich erbost. Nein wahrhaftig, sie war zu dumm, um ihn hören zu können; ausgerechnet ein Bär, ein plumpes vierfüßiges Pelztier, war gescheit genug dazu, nicht eine Frau, die – sie scheute vor dem quälenden und unwillkommenen Gedanken selbst zurück. Sie, Lucare, die Tochter Danyale des Neunten, war bekümmert, weil ein gewöhnlicher, fremdländischer Priester, ein Niedriggeborener, ein Niemand mit bemaltem Gesicht, lieber mit einem einfältigen Tier ge-
sprochen hatte als mit ihr! Lächerlich! Im nächsten Augenblick schämte sie sich und streichelte behutsam Gorms zottigen Kopf. »Kluger Bär«, flüsterte sie. »Kluger Bär, bring ihn sicher zurück.« Sie hatten ihr Lager rund hundert Meter vom Strand entfernt angelegt, in einer Senke zwischen schützenden Felsvorsprüngen. Wie Gorm ihr gesagt hatte, sollten sie eine kleine Bucht oder etwas ähnliches finden, wo sie sich verstecken konnten, bis Hiero zu ihnen stieß. Der Platz hier war nur nach der See hin offen, an allen übrigen Seiten von Felswänden umgeben. Lucare hatte sich Hieros Warnung zu Herzen genommen und zum Strand hin einen dichten Wall aus Buschwerk angehäuft, so daß das Feuer höchstens von ganz aus der Nähe zu sehen war. Der Bär erwachte plötzlich und hielt die Nase witternd hoch. Wind wird stärker, Menschweibchen (Identitätssymbol Lucare) Der Himmel ist finster. Hiero hat vielleicht Glück (?). Er ließ den Kopf wieder sinken und schloß die Augen. Aber er ist gefangen! dachte sie. Der Metz-Priester wäre selbst erstaunt gewesen, wie schnell Lucare gelernt hatte, ihren Geist zu gebrauchen. Sie und Gorm konnten sich jetzt fast normal unterhalten, ohne allzuviele Mißverständnisse, und sie konnte auch dem großen Ellk verständliche Befehle erteilen, obwohl sie meist Gorm bat, das für sie zu tun. Klootz fügte sich Gorms Anordnungen genauso wie denen Hieros, und das war noch
etwas, was dem Priester Stoff zum Nachdenken gegeben hätte. Der Bär hatte auch ihre weiteren Schritte sehr vorsichtig geplant. Versuche nicht (Nachdruck) mit Hiero zu sprechen! Das war ein sehr deutlicher Befehl gewesen. Sprich nur mit mir oder Klootz, und nur wenn wir ganz nahe beisammen sind. Sie war klug genug um zu begreifen, daß Gorm weitaus besser als sie wußte, was gefährlich war und was nicht. Sie durfte wirklich nicht versuchen, mit Hiero geistig Verbindung aufzunehmen, um nicht statt dessen ahnungslos die Feinde anzulocken. Aber zur Hölle mit dieser Warterei und den Sorgen! Vielleicht eine Stunde später regte sich der Bär wieder. Diesmal richtete er sich auf die Hinterbeine auf und hob den dunklen Kopf, als versuche er durch die jagenden Wolken über ihnen zu sehen. Lucare hatte nun schon genug Erfahrung, um zu wissen, daß er irgendwie wieder mit dem Priester in Verbindung war. Wenn sie nur auch verstehen könnte, und nicht so dumm und hilflos wäre! Es mußte irgendeine Möglichkeit geben, daß sie auch helfen konnte. Wenn ihr nur etwas eingefallen wäre! Da begriff sie plötzlich, daß Gorm mit ihr sprach. Ich kann diesen Platz nicht richtig beschreiben. Du mußt ihm sagen, wie es hier aussieht. Er kann mit meinen Augen nicht gut sehen. Und dann brach Hiero wie eine Sturzflut in ihren Geist ein! Aber er hatte keinen Gruß, keine Wärme,
nichts als Befehle für sie! Schnell, Mädchen, wo seid ihr? Versuch mir zu beschreiben, wie der Ort von See her aussieht, wenn du dir das vorstellen kannst. Und beeil dich! Eine kurze Pause trat ein. Ich werde verfolgt; ich kann diese Gedankenverbindung nicht mehr lange aufrechterhalten. Schnell! Lucare war fast erstarrt vor Schrecken. Sie hatte sich so gewünscht, helfen zu können, und jetzt konnte sie nicht einmal mehr klar denken. Irgendeiner ihrer Gedanken konnte Hieros Tod bedeuten, wenn die Information nicht stimmte. Aber Lucare war Tochter einer kriegerischen Rasse und gab nicht so schnell auf. Warte, sendete sie ungeschickt. Ich will es versuchen. Wir sind fast eine Tagesreise östlich von dem Platz, wo sie dich mitnahmen. Vor der Küste liegt ein einzelner Felsen, an dessen Ostende zwei Palmen wachsen. Der Felsen ist im Westen steil, im Osten flach. Dahinter liegt zwischen vorspringenden Klippen eine kleine Bucht mit Sandstrand. Dort sind wir. Das reicht! antwortete Hiero knapp. Nichts mehr, bis du mich siehst, oder du hetzt sie mir auf die Fersen. Sende keine weiteren Botschaften, bis du mich nicht wirklich sehen kannst, verstanden! Und jetzt warte! Plötzlich spürte sie nur noch eigenartige Leere und Stille. Lucare brach in Tränen aus. In tödlicher Gefahr war er, vielleicht sah sie ihn nie wieder, und er hatte nicht einmal ein freundliches Wort für sie, kein ›hallo‹ oder ›wie geht's‹! Im nächsten Augenblick schossen ihr die Tränen noch heftiger in die Augen, als sie sich ihrer Selbstsucht bewußt wurde. Er konnte
schon tot sein, und sie nahm ihm sein Verhalten übel! Warte und beruhige dich, sagte ein Gedanke zu ihr. Durch ihre Tränen blinzelte sie zu Gorm hinunter, der auf dem Bauch lag, den Kopf auf die Pranken gelegt, und sie ansah. Er wird zurückkommen, setzte der Gedanke fort. Und er denkt auch an dich. Nur muß er jetzt um sein Leben kämpfen. Sei geduldig. Lucare blinzelte und wischte die Tränen ab, beugte sich hinunter und legte ihre Hand auf den Kopf des Bären. Woher wußte Gorm, was sie fühlte? Dein Geist stand mir offen, sendete er. Als Hiero mit dir sprach, tat er es über mich. Dein Gehirn ist noch nicht stark/erfahren genug dafür. Schlaf nun, während ich wache. Getröstet, aber immer noch besorgt und unruhig, legte sie sich auf ihren wasserdichten Umhang nieder, starrte in den schwarzen Himmel hinauf und lauschte dem Geräusch der auf den Strand schlagenden Wellen und dem Zischeln des Windes in den Palmettowedeln. Sie war überzeugt, daß sie auf keinen Fall würde schlafen können, aber der Bär bemerkte mit Genugtuung, daß sie nach wenigen Atemzügen doch fest eingeschlafen war. Diese Menschen, dachte er. Sie nehmen das Leben so ernst... Dann horchte er wieder aufmerksam in die Nacht. Hiero sah mit unbewegtem Gesicht, aber durcheinanderrasenden Gedanken zu, wie der farblose Schlauch-
körper des riesigen Meereswurms wieder in den Fluten versank. Er lag halb gegen die Leewand gepreßt im Boot, das Steuerruder in der einen Hand, die Schot zur Bedienung des Segels in der anderen. Die kleine Jolle fegte von einem Backstagswind an der Steilküste von Manoun entlang. Er segelte so nahe er es wagte an den Klippen. Irgendein Instinkt sagte ihm, daß das offene Wasser gefährlicher war. Bald jedoch würde er den Schutz der Insel verlassen und aufs Festland zuhalten müssen. Durch seinen angeborenen Richtungssinn und den kurzen Orientierungsblick vor Sonnenuntergang kannte er den richtigen Kurs, doch war es nicht leicht, ihn mit einem unvertrauten, kaum drei Meter langen Boot in einer steifen Brise einzuhalten. Und jetzt wurden ihm die Mißgeburten der Tiefe auf die Spur gehetzt. Er konnte immer noch das sonderbare Vibrieren in seinem Geist fühlen, das er für das Rufsignal hielt, mit dem die Tote Insel die Riesenwürmer an die Oberfläche lockte. Angestrengt spähte er durch das Dunkel und fragte sich, ob eine scharfe Klippe oder einer der Würmer zuerst auftauchen und ihm den Garaus machen würde. Einmal schlug keine drei Bootslängen auf Backbord ein gewaltiger Brecher um, aber Hiero konnte nicht feststellen, ob irgendein Monster der Tiefe die Woge aufgeworfen hatte, oder ob die Welle sich nur über einem Riff gebrochen hatte. Ein wandernder Fleck Mondlicht drang durch die windzerfetzten Wolkenbänke und half dem Priester, sich
neu zu orientieren. Er ließ jetzt Manoun endgültig hinter sich. Die östlichste Landspitze, eine windumbrauste, düstere Klippenwand, dunkler als der Wolkenhimmel, ragte zu seiner Rechten hoch, und dahinter begann die offene See. Irgendwo dort vorne, wie weit, war unmöglich zu sagen, lag das Festland, wo seine Freunde warteten. Jetzt mußte er wieder halsen, um von den letzten vorspringenden Klippen wegzukommen. Das hieß, daß er das eine Seitenschwert heben und festmachen, dann das andere hinunterlassen, das Segel auf die andere Seite bringen und anluven mußte. Irgendwie brachte er das alles fertig, ohne umzuschlagen. Glücklicherweise ist ein Luggersegel eine der allereinfachsten Takelungen, was vielleicht erklärt, warum es durch viele Jahrtausende hindurch immer wieder neu entdeckt und viel verwendet wurde. Sobald Hiero das Boot auf den neuen Kurs gebracht hatte, schaute er zurück – und erstarrte. Drei Wellentäler hinter ihm pflügte das scheußliche, pulsierende runde Maul eines Riesenwurms durch die unruhige See, deutlich sichtbar in einem zufällig durchbrechenden Strahl Mondlicht. Für den Priester waren diese Meeresungeheuer damals und später einfach ›Würmer‹, aber in Wirklichkeit verdankten sie ihre Entstehung wie so viele andere Mutationen dem ›Tod‹. In jener Zeit waren die höchstens armlangen, aber meist sehr viel kleineren Lampreten oder Neunaugen durch genetische Strahlungsschäden zu hirnlosen, gieri-
gen Kolossen angewachsen, die ein kleines Boot zerschmettern konnten. Die Unreinen Meister von Manoun hatten eine geistige Wellenlänge ausfindig gemacht, die die scheußlichen Wesen dazu brachte, zur Oberfläche aufzusteigen und auf Nahrungssuche zu gehen. Dann konnten nur Adepten die Wesen soweit unter Kontrolle halten, daß sie nicht die eigenen Boote angriffen. Die Riesenlampreten waren also sehr brauchbare Wächter für eine Insel, und es hielten sich auch immer eine ganze Menge am Meeresgrund um Manoun auf. Mit angewinkeltem Hals wie eine Schlange schoß das Wurmungeheuer durch das immer noch monderhellte Wasser auf Hieros Boot zu. Der Kopf, der fast zur Gänze aus einem napfartigen Saugmaul mit einem Schlundloch in der Mitte bestand, schwankte leicht hin und her, wie um den Bewegungen des Bootes zu folgen. Hiero kam es fast vor, als ob das Scheusal mit ihm spielte, kam es doch jetzt weit langsamer heran als zuvor. Vielleicht war das nur instinktive Vorsicht, denn er spürte, das winzige Hirn war keiner Gedanken fähig. Schließlich schien es begriffen zu haben, daß das schwimmende Ding da vorn Beute war. Plötzlich wand es sich mit verzehnfachter Geschwindigkeit durchs Wasser, das riesige Maul voll zuckender Dornen, und stieß auf Hiero herunter. Der Priester hatte vom Auftauchen des Wurms an seine Aussichten auf eine wirksame Verteidigung für hoffnungslos angesehen, und jetzt erfüllte ihn ein eigenartiger, heißer Zorn. Soviel schon überstanden zu haben,
und dann von einem gräßlichen, hirnlosen Scheusal in die Tiefe gezogen zu werden! Aber er war ein Krieger, ein Vollkämpfer, und die erste Ausbildungsregel besagte, daß man nie aufgeben durfte, solange man lebte. Er hatte das Schot an einer Holzklampe festgemacht, und als die Wurmbestie nun angriff, stand er auf, das Steuerruder zwischen die Knie geklemmt. Zugleich stieß er mit voller Kraft einen der Ersatzriemen in das meterbreite Saugmaul über ihm, rammte ihn in den zahnumkränzten Schlund, so tief er konnte. Er wurde heftig zurückgeworfen, so daß er fast das Steuerruder aus dem Griff verloren hätte. Der Riesenwurm warf gepeinigt den gräßlichen Kopf zurück, den schmerzhaften Bissen fest im Schlund eingeklemmt, und wirbelte durch das Wasser, daß die Wogen das kleine Boot vorwärtsschleuderten, aber er wurde den ungenießbaren Happen nicht los, weil er ihn nur gierig noch tiefer in den Schlund würgte. Hiero beobachtete fasziniert, wie sich das Ungeheuer davonwälzte, bis es in der Dunkelheit nicht mehr zu sehen war. Trotzdem wagte er nicht, in seiner Wachsamkeit nachzulassen, denn sicher waren noch mehr dieser Wesen in der Nähe, und er konnte nicht immer auf solches Glück rechnen. Außerdem war er jetzt wirklich bald am Ende seiner Kräfte. Binnen weniger Stunden hatte er zweimal um sein Leben kämpfen müssen, und die unablässige geistige Abschirmung bei voller Wachsamkeit auf allen Ebenen der Wahrnehmung hatte seine Energien bis auf einen küm-
merlichen Rest aufgezehrt. Seit seiner Gefangennahme hatte er nicht ein einziges Mal richtig ausruhen können, und er wußte nicht, wie lange er noch durchhalten konnte. Die Insel war längst achteraus verschwunden, und das jetzt immer öfter durchbrechende Mondlicht zeigte nichts als leeres Wasser weit und breit. Obwohl er furchtbar müde war, entschloß sich Hiero doch, sich nun um genauere Informationen zu bemühen. Er glaubte nicht daran, daß die Kräfte des Guten so schnell triumphieren durften. Allein Sdunas schrecklicher Zorn war deutlich in seinen Geist durchgedrungen, als er aus dem Hafen ruderte, aber die anderen Adepten waren wohl kaum weniger wütend gewesen. Sduna hatte ihm selbst gesagt, daß noch nie jemand von der Toten Insel entkommen war. Kurz über lang würden die Verfolger ihn einholen, je früher Hiero also zu seinen Freunden stieß, um so besser. Zu diesem Zeitpunkt war es, daß er Gorm wieder anrief. Hätte Lucare seine Gedanken lesen können, als er den Kontakt mit ihr abbrach, dann hätte sie wohl noch im Schlaf gelächelt. Immer wieder stellte der Priester unwillig fest, daß ihr dunkles Gesicht mit den tanzenden Korkenzieherlocken ihm nicht aus dem Sinn ging, selbst wenn er wahrhaftig anderes zu denken hatte. Manchmal mußte er sich fast gewaltsam von dem Bild losreißen. Wenn er je aus dieser Klemme herauskam... Er richtete seine Gedankensonde wieder auf die Insel
hinter ihm und konnte in der neuen Wellenlänge mehrere Gruppierungen geistiger Ausstrahlungen aufspüren und unterscheiden. Die größte, das waren die Dunklen im Fort. Die übrigen, nicht weniger als drei verschiedene Anhäufungen von Gedankenimpulsen, waren stärker als die Hauptgruppe auf Manoun – und das bedeutet näher! Sie lagen, geografisch gesehen, auf einem Bogen zwischen der Insel und seiner eigenen Position. Die Verfolger waren ihm demnach mit drei Schiffen genau auf der Spur. Die Unreinen Meister hatten sehr schnell erraten, welchen Kurs er eingeschlagen hatte, soviel war sicher. Wie weit aber war er jetzt noch vom Festland entfernt? Der Priester spähte angestrengt in die Nacht hinaus, aber das sporadische Mondlicht zeigte nichts als leeres Meer, soweit das Auge reichte. Wieder konzentrierte er seine geistige Energie auf jenen neuen Subbereich. Gott im Himmel, die Küste konnte nicht mehr sehr weit sein, nach der Stärke des Gedankensignals, das er von seinen Freunden aufgefangen hatte. Er mußte vom Oststrand der Toten Insel mindestens fünf Meilen zurückgelegt haben. So segelte er weiter, eine Wellenflanke hoch und hinunter ins nächste Tal, den Wind immer noch im Rücken, wobei das kleine Boot noch am besten Fahrt machte. Allerdings war es eine Fischerjolle und kein Schnellsegler, so daß die Zentren geistiger Ausstrahlung – die, wie er wußte, drei feindliche Schiffe darstellten – unbarmherzig näher rückten. Er wußte jedoch auch, daß die Verfolger nach der Ausstrahlung seines Geistes suchten
und nichts fanden, und das war sein einziger Trost. Mit voranrückender Nachtstunde wurde die Sicht besser. Die Wolken begannen sich aufzulösen, der Mond und immer mehr Sterne traten hervor, und der Wind nahm ab. Das war schlecht, aber der Priester konnte ohnehin nichts anders tun als den Kurs halten und beten. Was war das? Dieser dunkle Strich am mondhellen Horizont? Da war er wieder, und wieder, wenn das Boot auf einer Woge hochglitt. Land! Nur ganz wenig links von seinem Kurs. Er trimmte das kleine Segel mit klopfendem Herzen, bis der Bug um einige Strich nach Nord herumschwang. Jetzt hatte er wieder eine reelle Chance, und er würde sie nützen. Ein letztes Mal suchte er Kontakt mit dem Bären. Wacht auf, brecht das Lager ab und wartet! Haltet euch bereit und antwortet nicht, sonst werdet ihr entdeckt. Dreimal hintereinander sendete Hiero diese Botschaft in dem neuen Unterbereich und brach dann die Verbindung ab. Er hatte alles getan, was möglich war. Der Wind war noch immer recht kräftig, aber die Wolken hatten sich fast vollständig aufgelöst. Er wußte, daß unter diesen Umständen selbst ein so kleines Segel wie das seine im Mondlicht auf ziemlich weite Entfernung zu sehen sein mußte. Er suchte nach der geistigen Ausstrahlung der Feinde und stellte erstaunt fest, wie ›nahe‹ die Signale wirkten, obwohl achteraus noch nicht das geringste von den Verfolgern zu sehen war. Er konnte jetzt bereits Einzelheiten der Küste erken-
nen, aber zu seiner Enttäuschung war nichts als ein schmaler hellfarbiger Strand zu sehen, mit ein paar teils gestrüppbewachsenen Dünen dahinter. Keine Insel, wie Lucare es beschrieben hatte, kam in Sicht, genaugenommen überhaupt keine Insel. War er über die Stelle schon hinaus? Egal, das wichtigste war jetzt, erst einmal an Land zu kommen, außer Reichweite der Verfolgerboote. Er hielt direkt auf das am nächsten liegende Stück Strand zu, das nun weniger als tausend Meter entfernt war. In diesem Augenblick spürte er im Geist der Feinde Erregung aufblitzen, als ihn die Verfolger auf dem vordersten Schiff zum erstenmal sichteten. Hastig suchte er den Horizont hinter sich ab. Zwei schwarze Dreiecke hoben sich über die schimmernde Wasserfläche, sanken weg, tauchten wieder auf. Dieses Schiff, schätzte Hiero, war jetzt fast gleich weit von ihm entfernt wie er vom rettenden Strand. Es würde also ein sehr knappes Rennen werden. Aber er hatte bisher Glück gehabt, darüber war er sich klar. Er war vom westlichsten der drei Verfolgerschiffe entdeckt worden, und das war eins ohne Maschine. Er fühlte jedoch, daß alle normalen telepathischen Verbindungskanäle die freudige Nachricht weitergaben, und bemerkte unmittelbar darauf, daß tatsächlich die beiden anderen Zentren geistiger Ausstrahlung nun auch auf ihn ›zuhielten‹. Er lockerte den langen Dolch in seinem Gürtel und dachte daran, daß er nie wieder Gelegenheit zum Fliehen bekommen würde – und deshalb würden ihn die Feinde diesmal nicht lebend zu fassen
bekommen. Er schaute sich um, berechnete seine Aussichten und schätzte die Geschwindigkeit des Zweimasters ab. Das Schiff kam schnell näher, so daß er bereits den Umriß seines Rumpfes erkennen konnte und einmal sogar ein helles Aufblitzen, als irgendeine Waffe das Mondlicht reflektierte. Der Strand war sehr nahe. Er hörte die Brecher über den Sand brausen und konnte auch die Silhouetten vereinzelter Palmen vor den hellen Dünen erkennen, ein Bild in Clairobscur, das er jetzt jedoch weniger seiner Schönheit wegen würdigte. Zap! Ein leises, abgehacktes Geräusch, dann noch eins. Im Segel erschienen wie durch Zauber zwei runde Löcher, aber das dichtgewebte Leinen riß nicht weiter. Mit einem scharfen Schlag grub sich eine Art schwerer Bolzen – wahrscheinlich von einer Armbrust, dachte er – in die Bordkante, kaum eine Spanne von seiner Hand entfernt. Es gab nichts, was er dagegen tun konnte, und er sah sich auch nicht einmal um, sondern hielt geradewegs auf die schäumende Brandung zu. Von einem Schiff aus ein kleines Boot zu treffen, in einer windigen Nacht noch dazu, war im wesentlichen eine Glückssache und deshalb nicht wert, daß man sich den Kopf darüber zerbrach. Jetzt hob sich sein Boot über den Rücken des ersten Brechers. Hastig ließ er das Segel fallen und packte das Steuerruder fester. Er hatte keine Zeit, das Seitenschwert hochzuziehen, konnte es aber wenigstens lockern, so daß es sich frei an seinem Bolzen drehen konnte.
Die stumpfe Nase des Bootes tauchte in die Gischt, als die Welle sein Heck erfaßte und es dem Strand entgegenschleuderte. Hiero kauerte mittschiffs und versuchte mit dem Steuerruder einigermaßen die Richtung der heranrollenden Wogen zu halten, die das Boot in brausendem Schwung an Land trugen. Dann, so sanft wie in einem ruhigen Hafen, scheuerte zuerst das Seitenschwert und dann der Rumpf des Boots über den Sand. Fast im selben Augenblick war der Priester herausgesprungen und rannte, den Kapuzenmantel zusammengerollt unterm Arm, durch das knöcheltiefe Wasser an Land und ohne innezuhalten die Flanke der Düne hinauf. Das Zischen weiterer Geschosse über und neben ihm verminderte sein Tempo in keiner Weise. Jetzt brach hinter ihm ein schauerliches, wütendes Jaulen aus, das ihm sagte, daß die Feinde eine Rotte Heuler mit an Bord hatten. Keuchend kletterte er durch eine flache Rinne die Düne hoch, und erst als er über den Kamm hinübergestolpert war, schaute er sich um. Die kleine Jolle lag quer in der Brandung, halb umgeschlagen in den herangischtenden Wogen. Einen Augenblick tat es ihm darum leid, denn das Boot hatte ihm wahrhaftig das Leben gerettet. Knapp außerhalb der Brandungsgrenze hatte das feindliche Schiff beigedreht, und er konnte schwarze Gestalten wütend auf Deck herumtanzen sehen. Der Wind trug Fetzen ihres Wutgeheuls zu ihm herüber, das jetzt zu fast wahnsinnigem Kreischen angeschwollen war. Er lächelte
erschöpft und fragte sich, wie lange ihm noch Zeit blieb, bis sie an Land kamen und ihn jagten. Weiß Gott, in meinem Zustand wird die Jagd nicht lang dauern, dachte er und rieb sich müde die Augen. Sein Atem ging noch immer schwer. Er legte sich flach in den Sand am Scheitel der Düne, um ein wenig zu rasten. Ein paar Grasbüschel verbargen ihn vor dem Feind, doch er konnte das Schiff unten bequem im Auge behalten. Es war immer noch Zeit, landeinwärts zu fliehen, wenn er sah, daß ein Beiboot heruntergelassen wurde. Der feindliche Segler war weitaus größer, als er sich vorgestellt hatte, und die Besatzung mochte an die fünfzig Kopf stark sein; mehr als genug, um einen Landungstrupp abstellen zu können. Dann sah er jenseits der Brandung die dunklen Umrisse des schlanken Motorschiffs herangleiten, das ihn nach Manoun gebracht hatte. Es näherte sich rasch von Südosten her, und der scharfe Bug schnitt durch die aufschäumenden Wellen wie ein Schwert. Wenige Augenblicke später lag es Seite an Seite neben dem Segelschiff, auf und ab wippend in der rauhen See. Hiero entdeckte eine Gruppe von dunklen Gestalten an Deck und wußte, daß sie die blitzschleudernde Kanone schußbereit machten. Hastig duckte er sich und rutschte auf dem Bauch über die Rückseite der Düne hinunter. Einen Augenblick später gingen die Grasbüschel, hinter denen er gelegen hatte, in Flammen auf. Idiot! Du hast dich genau dort versteckt, wo du raufgekom-
men bist! Er trabte durch Palmettostauden und Gestrüpp von der Düne fort. Ab und zu mußte er einen Bogen um allzu dichtes Buschwerk schlagen. Hinter ihm, auf dem Dünenkamm, flammten noch an einer Reihe anderer Stellen knisternde, zischende Feuerblitze auf. Bald zwang ihn ein stechender Schmerz in der Seite zu einer langsameren Gangart. Die ganze Zeit über versuchte er, die Gedankensignale der Feinde zu überwachen, aber dabei war eine neue Schwierigkeit aufgetreten. Es schien, daß einfach zu viele Gehirne auf engstem Raum beisammen waren, die sich alle selbst abzuschirmen suchten und sich gleichzeitig auf ihn konzentrierten. Es war ihm nahezu unmöglich, ihre Signale auseinanderzuhalten, selbst was die Ausstrahlung auf der neuen Wellenlänge betraf, von der sie nichts wußten. Plötzlich erreichte ihn eine klare und deutliche Mitteilung, die sich von dem übrigen Gedankengewirr ebenso scharf abhob wie ein hoher Gipfel von umgebenden Bergen. Priester: ich weiß, du kannst mich hören! Du hast ein paar neue Tricks, Priester, und ich will sie haben. Du hast einen zweiten Hohen Bruder umgebracht (Sakrileg!) und auch den Anführer unserer Heuler auf irgendeine Weise beseitigt, das wissen wir. Nun höre mir gut zu, Priester! Ich, Sduna, ein Meister der Dunklen Bruderschaft und Eingeweihter des Siebten Zirkels, schwöre dir bei allen Mächten der Dunkelheit, daß ich dich töten werde, und es wird ein Tod sein, wie ihn noch nie ein Mensch erlitten hat. Ich werde nicht ruhen, bis ich
dieses Ziel erreicht habe. Ich gehe nun, aber du wirst mich wiedersehen! Hiero ließ sich im Schatten eines großen Busches fallen und starrte stumpf auf das mondbeleuchtete Gestrüpp vor ihm. Er war so furchtbar müde, daß eine weitere körperliche Anstrengung ihm wahrscheinlich den Rest gegeben hätte, aber innerlich fühlte er sich so erleichtert und froh wie schon lange nicht mehr. Er ›hörte‹ die Feinde deutlich, und sie kamen nicht an Land! Dafür konnte es nur einen einzigen Grund geben. Sie hatten Angst vor ihm! Vor einem einzelnen, erschöpften Mann! Tödliche Angst! Allein Furcht konnte eine Streitmacht von an die hundert schwerbewaffneten, wütenden Unreinen samt Lemut-Verbündeten dazu bewogen haben, die Jagd auf ihn abzublasen. Sie hatten keine Ahnung, wozu er vielleicht noch fähig war, und ihre Anführer fürchteten eine Falle! Hiero kicherte schwach bei dieser Vorstellung. Er war kaum mehr imstande, die Augen offenzuhalten und sich um seine geistige Abschirmung zu kümmern, und die Unreinen trauten ihm noch irgendwelche gefährlichen, übermenschlichen Tricks zu! Nach einer Weile raffte er sich schließlich auf. Was noch zu tun war, mußte er erledigen, bevor auch der letzte Rest seiner Kraft erschöpft war. Er konzentrierte sich auf Gorm, wiederum in dem neuen Bereich. Der Bär mußte seinen Anruf erwartet haben, weil er sich fast augenblicklich meldete. Bin an der Küste westlich von euch, glaube ich, sendete
Hiero und bemühte sich, klar zu denken. Ihr werdet mich suchen müssen. Ich konnte eure Insel nicht sehen, aber ich bin ein Stück hinter den Dünen, irgendwo im Gebüsch. Ich kann nicht länger wach bleiben, aber mein Gehirn wird abgeschirmt sein. Ihr werdet mich mit Nase und Ohren aufspüren müssen. Der Feind ist nahe, draußen vor der Küste, also bleibt hinter den Dünen und blockiert euren Geist! Ich wiederhole: Blockiert euren Geist! Sein letztes Fünkchen Energie war verbraucht, und er fiel vornüber in den Sand. Selbst aus der Nähe hätte man sehr genau hinsehen müssen, um zu bemerken, daß einer der Schattenflecken, die das Mondlicht unter einem bestimmten Busch ausbreitete, ein wenig dichter und dunkler war als die anderen. Ein Kind mit einem Steinbrocken in der Hand hätte ihn erschlagen können. Es war dunkel, als er erwachte. Wasser rann ihm übers Gesicht, und einen Augenblick dachte er, daß es regnete. Dann spürte er die Öffnung einer Feldflasche an den Zähnen und merkte, daß er an irgend etwas Weichem lehnte, das wunderbar weiblich roch. Sein Kopf lag an Lucares Brust; ein paar Schritte weiter entdeckte er jetzt auch den jungen Bären, der mit hörbarem Schnauben in die mondhelle Nacht witterte. Der Riesenellk weiter im Hintergrund war ein gigantischer Schatten vor dem sternübersäten Himmel. Mit einiger Anstrengung, denn er war noch schrecklich steif, richtete sich Hiero auf die Ellbogen auf und nahm dem Mädchen die Feldflasche ab. Sie schnappte
aufgeregt nach Luft und plapperte los. »Bist du in Ordnung? Wir haben den ganzen Tag gesucht, und dich gerade vor ein paar Minuten gefunden, das heißt, Gorm war's, er hat dich gerochen, und das wundert mich nicht, das kann ich auch. Wo bist du bloß gewesen, du stinkst ja meilenweit gegen den Wind, du brauchst ein Bad, und ich...« Hiero hob die freie Hand und hielt ihr den Mund zu, während er einen tiefen Zug aus der Feldflasche nahm. Als er genug hatte, stellte er sie ab und nahm die Hand von Lucares Lippen. »Ich brauche vor allem was zu essen«, sagte er mit Nachdruck. »Wir können reden, während ich esse. Und wir sind noch keineswegs aus der Klemme. Habt ihr irgendeine Spur von den Feinden gesehen, auf dem Meer oder hier an der Küste?« Sie sprang auf und war in Sekundenschnelle mit Vorräten aus den Satteltaschen zurück, aber sie versuchte umsonst, ihre Stimme gleichgültig klingen zu lassen. »Wie ... wie geht's dir, Hiero? Wir waren ungefähr drei Meilen westlich von hier in einer Bucht versteckt. Ich nehm' an, du konntest sie nicht finden. Und die siehst schrecklich aus und riechst auch so.« Während sie das heraussprudelte, gab sie ihm geräucherten Fisch und Zwieback. Zwischen den Bissen berichtete er ihr kurz, was er seit seiner Gefangenschaft erlebt hatte. Gleichzeitig informierte er auch Gorm, nur über eine Gedankenverbin-
dung, was zwar anstrengend war, aber eine Menge Zeit ersparte. Die geistige Übermittlung dauerte kaum zwei Minuten, so schnell ist die Gedankensprache, und Gorm trottete davon, sobald er alles Nötige erfahren hatte. Hiero schloß seine Mahlzeit mit einem dicken Stück Pemmikan ab, weil er, wie er sagte, Zucker und Fett brauchte. Dann stand er auf, streckte sich und atmete tief ein. »Du glaubst gar nicht, wie wunderbar das ist, nach diesen dunklen, unterirdischen Verliesen und Gängen«, sagte er und ließ sich den duftenden Nachtwind ins Gesicht streichen. »Manoun ist unbeschreiblich und unvorstellbar schrecklich. Selbst die Luft dort riecht tot, und nichts wächst auf der ganzen Insel, nicht einmal Gestrüpp oder Kakteen. Nichts als Tod.« Sie schüttelte mitfühlend den Kopf. Hiero musterte sie, wie sie so vor ihm saß, zierlich und sauber in ihrem Lederanzug. Ihre Locken tanzten und schimmerten im Mondlicht. Irgend etwas in seinem Gesichtsausdruck ließ sie nach ihrem Haar greifen und es zurückstreichen, während sie verlegen aufstand. »Ich hab' dich vermißt«, sagte er leise, setzte sich in den weichen Sand und lehnte sich auf einen Ellbogen zurück. Lucare wandte ihm nun den Rücken zu und starrte angestrengt zu den hellen Dünen hinüber. »So?« sagte sie mit fast tonloser Stimme. »Das ist nett von dir. Wir haben dich auch vermißt.«
»Ich sagte, ich habe dich vermißt«, versetzte Hiero. »Ich hab' oft an dich gedacht. Ich hatte Angst, daß dir etwas zustoßen könnte, sonderbarerweise viel mehr Angst, als mir meine eigenen Unannehmlichkeiten machten.« Sie drehte sich um, und er sah ihre großen dunklen Augen im Mondlicht aufblitzen. Einen Augenblick herrschte Schweigen. »Hiero, ich bin nicht wirklich eine entflohene Sklavin...« begann sie zögernd. »Stell dir vor«, sagte er, plötzlich aus irgendeinem unerfindlichen Grund verärgert, »zu dieser faszinierenden Schlußfolgerung bin ich schon selber gelangt. Und ich kümmere mich keinen Deut darum, und wenn's dir noch so wichtig ist. Ich habe nur versucht, dir klarzumachen, wie ich ... einem Freund ... einem Mädchen gegenüber empfinde, das ich gernhabe, und es ist mir völlig egal, wer oder was du in deinem eigenen armseligen Barbarenland bist!« »Oooh!« keuchte sie empört. »Du eingebildetes, arrogantes Mannsbild! Ich wollte dir etwas wichtiges sagen, aber jetzt kannst du von mir aus zu dieser Toten Insel zurückfahren, je eher, desto besser! Du bist ja selbst halbtot, siehst aus wie eine wieder ausgescharrte Leiche und ... und riechst auch so!« Wütend marschierte sie davon, und der nicht weniger zornige Priester starrte ihr nach, gekränkt und fassungslos. Sein Ärger legte sich schnell, und er kratzte sich ein
wenig verlegen am Kopf. Weshalb hab' Ich mich bloß so aufgeregt? fragte er sich. Und ich war's, der zuerst die Beherrschung verloren hat. Seine wachsende Furcht vor einer persönlichen Bindung war noch weit davon entfernt, ihm bewußt zu werden, und andere, noch stärkere Emotionen kämpften in seinem Innern gegeneinander. Was gibt's Neues? fragte er Gorm und rieb sich sein schmutziges stoppelbärtiges Gesicht. Die Nacht ist ruhig, kam die Antwort von nicht weit weg. Ich kann nichts fühlen oder riechen außer gewöhnlichen Tieren, die nachts unterwegs sind. Der Feind hat sich zurückgezogen, vielleicht auf die Insel, auf der du warst. Wartet hier, sendete Hiero, und paßt gut auf. Ich will baden und mich säubern. Langsam ging er zu den Dünen hinüber und kletterte noch langsamer hinauf. Wiederum lag die Inlandsee verlassen und ruhig im Mondlicht vor ihm. Nur noch eine leichte Brise kräuselte die Wasserfläche. Seine Gedanken griffen weit hinaus über seinen Gesichtskreis und suchten die Feinde aufzuspüren. Sein Geist tastete sich die Küste entlang, hinauf und hinunter, aber nicht ein einziges Mal stieß er auf etwas anderes als die Ausstrahlung von Tieren, Vögeln und Fischen. Dann konzentrierte er seine ganze wiedergewonnene Energie in eine Richtung – hinaus übers Meer, wo die Tote Insel lag. Sein Geist suchte in dem neuen Wellenbereich nach den bösartigen Gehirnen, die auf Manoun hausten, und fand – nichts!
Erschrocken versuchte es Hiero noch einmal, ohne Erfolg. Die Unreinen in ihrer fernen, dunklen Feste hatten nun selbst eine undurchdringliche Gedankenbarriere aufgebaut. Er konnte die Insel lokalisieren und spürte auch die Anwesenheit der Feinde, aber ihre Gehirne blieben ihm verschlossen. Es war, als versuche er durch die schmutzige Glaswand eines vernachlässigten Aquariums zu blicken. Hinter der Wand ließen sich schattenhafte Bewegungen wahrnehmen, aber was die Wesen dahinter taten, war nicht zu erkennen. Sie haben schnell reagiert, mußte er widerwillig zugeben, als er sich zum Strand hinuntergleiten ließ und sich auszog. Er hörte, daß auch Klootz über die Düne heruntergerutscht kam. Der große Ellk wollte nicht noch einmal Gefahr laufen, seinen Herrn zu verlieren, und war entschlossen, ihn streng zu bewachen. Während der Priester sich wusch und danach mit dem Messer die Bartstoppeln aus dem Gesicht schabte, grübelte er über die neue Gedankenblockierung der Feinde nach. Offensichtlich waren sie sich über seine Fähigkeiten nicht im klaren. Sduna und seine Leute mußten jedoch erkannt haben, daß er eine neue telepathische Verbindungsmethode benutzt hatte, und es war ihnen überraschend schnell gelungen, eine Abwehrmöglichkeit dagegen zu finden. Sie konnten nicht verhindern, daß Hiero sie aufspürte, aber darüber hinaus hatten sie jede weitere Sondierung unmöglich gemacht. Der Mond schien hell genug, daß er, nachdem er seine
Kleider gewaschen und die Reservegarnitur angezogen hatte, auch seine Rangabzeichen nachmalen konnte. Danach fühlte er sich bereits wieder viel wohler, und er vermißte nur das Gewicht seines Medaillons, weil er den zusammengeschmolzenen Klumpen weggeworfen hatte. Zusammen mit Klootz kletterte er wieder die Dünen hoch. Oben stellte er fest, daß das Mädchen und der Bär von der anderen Seite heraufkamen. Eine Sekunde lang brauste das Blut fast schmerzhaft durch seine Schläfen, als er auf Lucare hinunterblickte, dann gewann er mit einiger Anstrengung seine Fassung wieder. Himmel noch mal, was ist bloß mit mir los? dachte er. Sie starrte scheinbar unbewegt zu ihm herauf, dann lächelte sie mit starrer Höflichkeit. Die Versuchung, ihre Gedanken zu lesen war fast überwältigend. Was zur Hölle denkt sie? Und wieso möchte ich es wissen? wiederholte sein Geist wieder und wieder und drängte die naheliegende Antwort ins Unterbewußtsein zurück, wo sie ihn weiter beunruhigte. »Es tut mir leid, daß ich vorhin unhöflich war«, sagte er steif. »Bitte schreibe es meiner Müdigkeit zu.« Er merkte selbst, daß seine Stimme unnatürlich klang und ärgerte sich über seine geradezu idiotische Befangenheit. »Es war nichts, Per Hiero«, sagte sie leichthin. »Ich habe vergessen, was du durchgemacht hast und mich dumm benommen. Bitte verzeih mir!« Sie sahen sich immer wieder von der Seite an, mit
ausdruckslosen Mienen, bis Hiero sich auf Klootz' Rücken schwang und ihr eine Hand hinunterstreckte, um ihr in den Sattel zu helfen. Dann brachen sie auf, Gorm wie gewohnt als Vorhut. Nach einer Weile legte sich die Spannung zwischen Hiero und Lucare von selbst, und wie in stillschweigendem Einverständnis erwähnte keiner von beiden mehr diese unangenehme Episode, sondern sie unterhielten sich ganz natürlich und vernünftig über andere Dinge. Gewisse aufgerührte Gefühle wurden in beiderseitigem Einverständnis stillschweigend begraben – aber nicht vergessen. Während Klootz sie in seinem raumgreifenden Trott dahintrug, besprachen sie ihre weiteren Pläne, soweit Hiero sich darüber im klaren war. »Sie müssen recht gut wissen, wo wir sind«, erklärte er. »Nun haben sie zwar ein bißchen Angst vor mir, aber das wird nicht allzulange so bleiben. Jedenfalls, viele Möglichkeiten haben wir ohnehin nicht. Wir müssen zunächst mal aus dieser Gegend hier verschwinden; und dann entweder die Inlandsee östlich umgehen oder irgendwie hinüberfahren, so daß wir die Küsten im Südosten erreichen, in der Nähe von diesem Neeyana, von dem du erzählt hast. Die Unreinen werden alle ihre Leute und Verbündeten auf unserem Weg alarmiert haben, zumindest für einige Tagesreisen. Aber auf meinen Karten, und auch auf ihren Karten ist in dieser Küstengegend nichts eingezeichnet als eine Gruppe von
Markierungen, die anscheinend Tote Städte anzeigen. Nun soll ich mich zwar in Toten Städten umsehen, aber nicht in denen da vor uns. Es scheint nämlich, daß sie halb unter Wasser liegen. Die Karte, die ich dem Unreinen abnahm, den ich droben im Norden umbrachte, läßt deutlich erkennen, daß der Palud vor uns im Osten noch einmal nach Süden vorstößt, und genau dort die Inlandsee berührt, wo die Toten Städte sein sollen. Ich hatte gehofft, wir könnten vor dieser Stelle irgendwo nach Norden durchkommen, aber jetzt haben wir nicht mehr die Zeit dazu, und auch keinen Werfer mehr. Ohne den würden wir mit den großen Sumpfbestien kaum fertigwerden.« Die ganze Nacht hindurch ritten sie an der Küste entlang nach Osten, aber immer auf der Landseite des Dünengürtels, was sich natürlich ungünstig auf ihr Weiterkommen auswirkte. Klootz mußte sich seinen Weg durch Palmettostauden und Buschwerk bahnen und dichte Kaktuskolonien umgehen, so daß er nicht annähernd so rasch vorankam wie auf dem glatten Sandstrand. Hiero hatte jedoch nicht gewagt, die offene Küste zu benützen, wo Sduna und seine Meute sie jederzeit von See her überfallen konnten. Die ganze Zeit überwachte er sämtliche telepathische Frequenzbereiche, suchte nach einer möglichen Falle, nach irgendwelchen Signalen, aber der Äther blieb still. Anscheinend hatten die Unreinen immer noch genug Respekt vor seinen geistigen Fähigkeiten, um sich eine Weile ruhig zu verhalten und hinter ihrer
Gedankenabschirmung erst einmal Pläne zu schmieden. Diese Aussicht war weniger beruhigend. Im Lauf der Nacht kam die Tote Insel jedoch überhaupt telepathisch außer Reichweite, worauf Hiero sich etwas zuversichtlicher zu fühlen begann. Wenn er die Dunklen nicht mehr lokalisieren konnte, dann galt umgekehrt höchstwahrscheinlich das gleiche. Außerdem hatte er irgendwie das Gefühl – allerdings keinen konkreten Beweis –, daß die neue Abschirmung der Unreinen auf irgendeine Weise mit der Festung, mit Manoun selbst, zusammenhing. Vielleicht beruhte sie einfach auf einem Apparat der Art, wie sie ihn als mechanischen Gedankenverstärker benutzten, so wie die Maschine, die sein Wächter verwendet hatte. In diesem Fall, überlegte er, war das Gerät vielleicht zum Transportieren zu umfangreich. Er würde also die Wohnstätten der Unreinen, ihre Burgen und Schlupfwinkel, vermeiden müssen. Wenn er sie rechtzeitig entdecken konnte, natürlich. Als der Morgen graute, suchten sie unter den dichten Blattwedeln einer Gruppe niedriger Palmen Deckung. Hiero befürchtete nun wieder eine Entdeckung aus der Luft, obwohl er die Flugmaschine der Unreinen nicht mehr gesehen hatte, seit er weit im Westen in den Sumpf vorgestoßen war. Das war natürlich keine Garantie dafür, daß nicht noch irgendwo ein Feind am Himmel lauerte, und er wagte nicht, die Augen eines Vogels zu benutzen, um ihn nicht auf sich aufmerksam zu machen. Er wollte nicht einmal die Vierzig Symbole befragen, ob-
wohl daran mehr seine gedrückte Stimmung Schuld trug. Schweigend aßen sie etwas und verschliefen einen Teil des langen, heißen Tages. Später beschäftigte sich Hiero damit, die Bäume und Büsche in der Nähe zu untersuchen, bis er einen fand, ein zähes, kriechendes Gewächs, dessen schwarzschimmerndes Holz beim Abhacken mit hellem Klang zurückfederte. Den Rest des Tages über suchte er noch mehrere armdicke Stücke von dieser Holzsorte, bis er abends, als sie sich wieder auf den Weg machten, alles hatte, was er brauchte. Mehrmals hatte er sein Schwert und sein Messer neu schärfen müssen, vor allem das letztere. »Das ist für eine Armbrust«, erklärte er auf Lucares Frage. »Ein Vollkämpfer, das ist ein ausgebildeter Krieger, sollte sich aus fast allem Waffen anfertigen können. Ich habe keinen Werfer mehr, aber eine schwere Armbrust ist so ungefähr der beste Ersatz, den ich kenne. Vielleicht kann ich mir Horn für den Bogen besorgen, und ich werde Metall und Federn oder etwas ähnliches für die Bolzen brauchen – es wird eine Weile dauern, bis ich alles beisammen habe, aber sonst gibt's ja ohnehin nichts zu tun.« »Könntest du mir zeigen, wie man sowas macht?« »Warum nicht? Ich hab' mehr als genug Holz für ein zweites Exemplar, und je besser wir bewaffnet sind, um so mehr Chancen haben wir. Schau her, ich schnitze da gerade am Schaft. Der Kolben muß ungefähr so aussehen...«
Es war nicht leicht, das während des nächtlichen Ritts zu erklären, aber am nächsten Tag konnte er eine Skizze im Sand machen, so daß sie bald beide eifrig an ihren Waffen schnitzten und sich dabei über alles mögliche unterhielten. Längeres Schweigen zeigte meist an, daß sie mit Gorm sprachen, der faul auf dem Bauch lag und ihnen bei der Arbeit zusah. Bald kam die Rede auf die weitere Marschroute, und Hiero beschrieb alles, was er davon wußte und erklärte dem Bären, daß die Gegend, die vor ihnen lag, sehr gefährlich und durchsetzt mit Toten Städten war. Zu seiner Überraschung reagierte Gorm fast mit ein wenig Verachtung. Ich habe im Norden einige dieser alten menschlichen Wohnstätten besucht, erklärte er. Es sind schlechte Plätze; Unreine leben dort, solche, die ihr Menschenratten nennt und andere, aber sie sind dumm und ungeschickt, und sie gebrauchen ihre Nasen und Ohren nicht – fast ebensowenig wie ihr zwei, fügte er spöttisch hinzu. Ich fürchte solche Orte nicht. Hiero erfuhr, daß der junge Bär tatsächlich mehrmals in den Ruinenstätten von Kanda gewesen war, obwohl er nur ausweichend antwortete, wenn er nach dem Grund gefragt wurde. Die Ältesten schicken uns hin, gab er endlich zu, wollte aber nichts weiter darüber sagen. Der Priester nahm jedoch an, daß es sich um eine Art Mutprobe handelte, vielleicht zur Erlangung des Erwachsenenstatus. Er beeilte sich, Gorm klarzumachen, daß die riesigen Toten Städte des Südens weniger mit den verlassenen
Siedlungen gemein hatten, die man in Kanda fand, weil sie unvergleichlich viel größer und gut zehnmal so gefährlich waren. Lucare unterstützte ihn mit ihrer eigenen Ansicht zu dem Thema. »Es gibt auch in Dalwah eine ganze Menge davon«, sagte sie zu Hiero. »Erklär ihm – du kannst das besser als ich –, daß niemand außer den Unreinen die Vergessenen Städte betritt. Furchtbare Gefahren, und unvorstellbar entsetzliche Ungeheuer soll es dort geben, Wesen, die man sonst nirgendwo antrifft.« Vielleicht, gab der Bär ruhig zurück. Ich bin immer vorsichtig. Aber wir müssen auf jeden Fall dorthin, wozu also sich vorher Sorgen machen/fürchten? »Mein Volk besitzt geheimnisvolle Instrumente«, wandte Lucare ein. »Sie sind entweder sehr alt, oder nach sehr alten Vorbildern nachgebaut, die, wie es heißt, aus der Zeit vor dem ›Tod‹ stammen. Die Priester, und einige Adelige, denen sie vertrauen, verwahren diese Geräte. Wenn jemand in der Nähe einer Toten Stadt oder einer Wüste des Todes gehen muß, dann wird ihm eines mitgegeben. Es sagt einem, ob der unsichtbare Tod noch immer dort ist, der einem das Fleisch verbrennt.« »Ja«, sagte Hiero geistesabwesend und prüfte die Maserung des Holzstücks, an dem er schnitzte. »Ich weiß, was du meinst. Wir haben solche Geräte auch. Was du den unsichtbaren Tod‹ nennst, ist in Wirklichkeit noch nicht abgeklungene radioaktive Strahlung. Wir können solche Strahlung nicht herstellen, aber man weiß auch im
Norden recht gut Bescheid darüber.« Er legte den Bogen weg und starrte einen Augenblick lang in die sinkende Sonne, bevor er fortfuhr. »Solange du bei uns bist, brauchst du kein solches Gerät«, sagte er mit einem Lächeln. »Klootz und ich haben gelernt, die Strahlung mit dem Körper wahrzunehmen. Und ich vermute sehr, daß unser dicker Freund hier das auch kann.« Eine Frage an Gorm brachte heraus, daß der junge Bär tatsächlich die Gefährlichkeit harter Strahlung kannte und ihre Quellen leicht aufspüren konnte. Lucare geriet vor Bewunderung innerlich immer mehr aus der Fassung, aber sie hätte sich lieber die Zunge herausreißen lassen, als das zuzugeben oder sonstwie zu zeigen. Jede neue Fähigkeit, die sie an Hiero entdeckte, schien ihn immer mehr von ihr zu entfernen. Im Grunde ihres Herzens gestand sie sich ein, daß ihr Stolz auf ihre vornehme Abkunft nicht mehr als ein letzter dünner Schutzschild gegen die Erkenntnis war, daß ein niedriggeborener Fremdling zu gut für ein Mädchen aus dem barbarischen Süden sein mochte, selbst wenn sie dem höchsten Adel angehörte. Hiero, der zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt und auch zu anständig war, um ihren Geist zu sondieren, merkte nichts von Lucares Gefühlen, um so mehr, als er selbst Opfer widerstreitender Emotionen war. »Sehen wir uns noch einmal die Karten an«, sagte er nun. »Wir nähern uns anscheinend rasch einer ziemlich
unangenehmen Gegend. Hast du die Frösche letzte Nacht gehört?« Alle vier hatten sie den zunehmenden Lärm der Amphibienchöre vernommen, und alle wußten sie, was das bedeutete. Der Palud drängte sich mehr und mehr an die Küste heran. Die wäßrige Welt von Sumpf und Moor berührte auf der Karte der Unreinen die Symbole der Versunkenen Städte, und die Stelle konnte nicht mehr weit sein. »Sieh mal, wenn wir hier durchkommen«, fuhr Hiero fort, »dann scheint das schwierigste geschafft. Dieses Zeichen hier im Süden könnte sehr gut dein Neeyana sein, Lucare. Ich kann zwar ihre sonderbare Schrift nicht lesen, und wie ich die Unreinen kenne, ist vielleicht außerdem alles verschlüsselt. Aber schau da«, sein Finger fuhr eine sich schlängelnde Linie nach, die vom südöstlichen Winkel der Inlandsee nach Osten verlief. »Das sieht so aus, als ob es der Karawanenweg sein könnte, auf dem du mit den Leuten, die dich gefangennahmen, zur Küste kamst. Dann müßte dieser Fleck hier eine Wüste des Todes bezeichnen. Schau, es steht das gleiche Symbol dabei wie hier bei diesen Kreisen, die Tote Städte sein müssen, und auf die wir jetzt zuhalten. Nun, und hier im Süden, jenseits dieser Wüste sind noch drei weitere Städte eingezeichnet, Tote Städte. Die eine liegt sehr nahe bei der Wüste. Diese drei sind auch auf meinen eigenen Karten angedeutet, die erste noch am genauesten. Dort soll ich zu suchen beginnen, was ... was
ich brauche.« Er rollte die Karten sorgfältig zusammen und steckte sie in die Satteltasche zurück. Wiederum brachen sie erst in der Abenddämmerung auf. Nicht nur lärmten die Frösche immer lauter, auch die summenden, stechenden Insekten machten sich wieder unangenehm bemerkbar. Hieros Schutzsalbe war längst aufgebraucht, und so konnten sie wenig mehr tun als schweigend leiden und die allzu blutdurstigen Mücken erschlagen. Neuerlich mußte Klootz durch Pfützen und Schlammteiche platschen. Anstelle der struppigen Dünenvegetation begannen jetzt auf allen Seiten wieder die Riesenschilfbüschel und üppigen Sumpfpflanzen als dunkle Schatten aufzuragen. In dieser Nacht kamen sie nur im Schritttempo vorwärts. Zweimal mußten sie breite Schlammtümpel umgehen, aus denen Blasen von Sumpfgas aufstiegen und zerplatzten. Einmal zertrat Klootz mit einem sehr breiten Hufe eine blaßgelbe Schlange, irgendeine Otter, die den Fehler begangen hatte, nach ihm zu stoßen. Hieros Gehirn war ständig auf der Hut und sondierte die Nacht nach Anzeichen von Gefahr, aber er war sich seiner neuen geistigen Fähigkeiten nicht so sicher, daß er Anlaß zu besonderer Zuversicht gehabt hätte. Die geistige Ausstrahlung einer Amphibie ist die gleiche, ob das Tier nun zwanzig Meter oder zwanzig Zentimeter lang ist. Es treten keine richtigen Gedanken auf, nur Gefühlssignale und Nervenimpulse. Wenn der Priester also feststellen
wollte, ob das Wesen, das er sondierte, eines der riesigen Froschungeheuer war, denen er damals nur durch Zufall entkommen war, dann war der einzige Anhaltspunkt für eine Größenbeurteilung das meist recht unscharfe Bild, das ihm die Augen des Tieres lieferten. Einmal hörte er tatsächlich das Brüllen eines jener Monster, aber es schien sehr weit weg zu sein. Der erste Schimmer von Tageslicht färbte gerade erst den östlichen Horizont ein wenig heller, als sie haltmachten. Ein kurzes Stück vorher hatte Hiero Klootz angehalten und war abgestiegen, um den Boden genauer zu untersuchen. »Dachte ich mir's doch«, murmelte er halb zu sich selbst. »Hier ist der Schlamm nicht dicker als eine Handbreit. Ich hab' schon vorhin gehört, daß die Hufe etwas Hartes trafen.« Er hob die Stimme, so daß das Mädchen ihn verstehen konnte. »Ich glaube, wir sind auf einer Straße, oder auf sonst irgend etwas, das von damals stammt, jedenfalls aber nicht natürlichen Ursprungs ist.« Gorm, komm zurück und sag mir, was du davon hältst. Menschenwerk, sehr alt, lautete das Urteil des Bären. Sie lauschten in die warme Nacht hinaus, die erfüllt war vom Lärmen der Frösche, vom Gesumm der Myriaden Insekten, während Wolken von Stechfliegen und Moskitos über sie herfielen. Hiero spürte den saugenden Biß eines Blutegels an seinem Fußgelenk, wo der Stiefel etwas aufgeschlitzt war, und als er hinuntersah, bemerkte er, daß die Beine des Ellks bedeckt waren mit diesen
dunklen, flachen Blutsaugern. »Es wird Tag«, sagte er. »Wir werden uns ein Versteck suchen müssen.« Er wies den Bären an, nach einem Unterschlupf Ausschau zu halten, und führte den Ellk am Zügel weiter. Sie brauchten nicht lange zu suchen. Als sie um die Ecke eines Streifens mit Riesenschilf bogen, sahen sie unvermutet offenes Wasser vor sich, eine weite, ruhige Fläche, die mit dunklen, sonderbar regelmäßigen Inseln durchsetzt war, von denen manche nur flache Hügel waren, andere wiederum hoch aufragten wie Klippentürme. Hiero sah sich um und entdeckte einen flachen Hügel nicht weit entfernt, der ziemlich dicht bewachsen war. Er stieg wieder in den Sattel, und Gorm und der Ellk stapften durch den weichen Schlamm – die feste Oberfläche hatten sie schnell hinter sich gelassen, wahrscheinlich war es nur das Dach eines Gebäudes gewesen – bis sie den Flecken erreichten. Klootz stemmte sich mit einem schmatzenden Geräusch aus dem Schlamm, der einem Menschen vielleicht bis zum Hals gereicht hätte, und seine beiden Reiter stiegen ab. Sie befanden sich auf einer vielleicht zehn mal zehn Meter großen, flachen Insel am Rande des Schlammsees. Dichtes Buschwerk und sogar ein paar Palmen wuchsen darauf, aber keine Sumpfpflanzen, was bewies, daß der Boden ziemlich trocken war. Während er über die auffallend geraden, regelmäßigen Umrisse der Insel nachdachte, sattelte der Priester den Ellk ab und
begann, sein Reittier von den unzähligen Blutegeln zu befreien. »Wir sind auf einem alten Gebäude, denke ich«, sagte er schließlich und riß den letzten zähen Schmarotzer von Klootz' Beinen ab. »Es muß das flache Dach sein, worauf wir hier stehen. Gott weiß, wie tief das Gebäude unter uns im Schlamm versunken ist. Es könnte einst durchaus, nun, sagen wir, die Höhe von hundert Menschen übereinander gehabt haben. So tief kann der Sumpf hier durchaus sein.« Sie schützten sich so gut sie konnten mit Kleidern und Decken gegen die Mücken und krochen unter die Palmen zwischen die dichten Büsche, um dort den Tag zu verbringen. Hiero sorgte dafür, daß sie nach oben ausreichend gedeckt waren, indem er Zweige abschnitt und über sich und die anderen drei breitete. Es würde ein heißer, schmutziger und ungemütlicher Tag werden aber das war nicht zu ändern, wenn sie nicht gesehen werden wollten. Als die aufsteigende Sonne die sumpfige Inselwelt mit Licht und Schatten erfüllte, sanken die Lebensgeister der vier, vor allem die der beiden Menschen. Klootz knabberte mit der Zeit jedes Fetzchen Grünzeug in seiner Reichweite ab, während Gorm es sogar fertigbrachte, etwas zu schlafen, und im übrigen seine Bärengedanken für sich behielt. Das Land – oder besser das Wasser um sie herum – war auch bei hellem Sonnenschein und blauem Himmel
kein sehr erfreulicher Anblick. Von der Inlandsee war nichts mehr zu sehen. Die Wasserfläche reichte wohl so weit das Auge reichte, aber es war braunes, stehendes Wasser. Und aus diesem Schlammsee ragten, ebenfalls so weit man sehen konnte, die Ruinen einer riesigen, uralten Metropole – Massengrab einer vergessenen Rasse. Einige der Gebäude waren höher als große Bäume, und zwar nur der über dem Wasser sichtbare Teil. Wie hoch sie in Wirklichkeit sein mochten, entzog sich jeder Vorstellung, denn niemand kannte die wahre Tiefe des Sumpfsees. Die niedrigeren Bauten, oder vielleicht die noch tiefer eingesunkenen, bildeten nur mehr kleine Hügel, ähnlich der Insel, auf der die vier Wanderer jetzt versteckt lagen. Zwischen diesen beiden Varianten lag die Mehrzahl der Ruinen – schlammverkrustete Mauern, die sich ein paar Meter über das Wasser erhoben und nur oben dicht bewachsen waren. Trotz dieser üppigen Pflanzenschicht und einem jahrtausendelangen Verfall waren fast überall noch die Spuren einer unvorstellbaren Zerstörungskraft zu erkennen. Viele der Ruinen waren wie durch einen gigantischen Schlag in der Mitte gespalten, voller Sprünge und seltsamer Buckel, die aussahen, als wäre selbst das Mauerwerk in ungeheurer Hitze geschmolzen. Die stillen Kanäle zwischen den Ruinen waren stellenweise mit Wasserpflanzen zugewachsen, mit Pfeilwurz und großen runden Wasserlilienblättern oder mit etwas, das wie schwimmende grüne Blasen aussah. Da und dort hatten
sich Baumstämme in riesigen Haufen verkeilt, die meist mit Schlingpflanzen und Tang überwachsen und wohl von heftigen Stürmen angeschwemmt worden waren. Hie und da zeigten sich in den grauschwarzen Mauern noch dunkle Fensteröffnungen, soweit sie nicht von einem Pflanzenvorhang verdeckt wurden. In einigen dieser leeren Höhlen glitzerte manchmal noch ein Splitter von unvorstellbar altem Glas, oder ein Streifen korrosionsfesten Metalls glänzte im Sonnenlicht. Es war ein bedrückendes und anklagendes Bild, eine Welt des Todes und der Zerstörung, die eine vergessene Zeit über die Erde gebracht hatte. Nach Sonnenaufgang waren die Stimmen der unzähligen Frösche verstummt, doch das Singen und Summen der Insekten hörte nicht auf, wenn sie auch weniger angriffslustig wurden. Sonst waren nur wenig Anzeichen von Leben zu entdecken, nur hin und wieder zogen vereinzelte Vogelschwärme in Kreisen über die alten Gebäude hinweg. Manche Mauern waren über und über mit hellem Vogelkot bekleckert, so daß Hiero annahm, irgendeine größere Vogelart benützte manche Ruinen als Nistplätze. Bei diesen Gebäuden rührte sich jedoch nichts. Vielleicht war die Nistzeit vorüber und die Vögel waren weitergezogen. Der Priester durchforschte die ganze Umgebung mit seinem Geist, konnte aber nichts entdecken. Im Wasser rundum gab es wohl Leben, aber es war nicht von einer Art, mit der er etwas anfangen konnte, da es keine Intel-
ligenz besaß und nichts als Triebe und Ängste erkennen ließ. Trotzdem beunruhigte ihn der Ort. Auch bei hellstem Tageslicht lag etwas düster Bedrohliches über der Gegend. Den ganzen Tag über beobachteten sie die umliegenden Ruinen und das Wasser dazwischen, aber außer kleinem Sumpfgetier ließ sich nichts blicken. Der Nachmittag wurde älter, und die Sonne sank gen Westen. Die ersten Frösche erhoben ihre Stimme, anfangs noch zögernd, dann lauter. Das Summen der Insekten schwoll an, und sie attackierten neuerlich in Scharen. »Schaun wir zu, daß wir hier rauskommen«, krächzte der Priester und spuckte eine Mücke aus, die ihm in den Hals geraten war. Sie sattelten Klootz, packten und stiegen auf. Hiero sah keine andere Möglichkeit, als auf dem sumpfigen Ufer die Versunkene Stadt zu umgehen, wenn das überhaupt möglich war. Das Wasser zwischen den Gebäuden war sicher zu tief und die Kanäle zu weitläufig zum Durchschwimmen. Wer konnte wissen, was unter der dunklen Oberfläche lauerte? Kaum waren sie aufgebrochen – oder genauer gesagt, kaum hatte Gorm eine Vorderpfote in den Schlamm am Inselrand gesetzt –, da erstarrten sie alle vier. Der Lärm der Frösche war mit einem Schlag verstummt. Ein langgezogener, gellender Schrei hallte über das stille Wasser, durch die Turmruinen der uralten
Stadt. Als sie wie versteinert lauschten, erscholl der Schrei noch einmal. »Aoooooh, aooh, aoooh«, jammerte die gewaltige Stimme durch die Abendstille. Noch dreimal wiederholte sich das gräßliche Klagegeheul, dessen Urheber unsichtbar blieb. Dann war es wieder still. Während die vier noch erschrocken horchten, meldete sich zaghaft ein Frosch, dann noch einer. Bald hatte das quakende Orchester wieder in voller Stärke eingesetzt. »Konntest du feststellen, woher das kam?« fragte Lucare. »Nein, und Gorm auch nicht. Es schien zwar aus größerer Entfernung zu kommen, vom Wasser draußen, aber es gefällt mir gar nicht. Ich fühl's förmlich in den Knochen, daß es irgendein Intelligenzwesen war. Etwas Bösartiges, Gefährliches, das irgendwo da draußen lauert. Wir müssen noch ein wenig hierbleiben, bis ich mir über die Sache klar geworden bin. Ich mag nicht so blind in die Nacht hineinlaufen. Die Unreinen könnten in der Nähe sein, vielleicht versteckt hinter einer perfekten Gedankenabschirmung.« Die Nacht war heraufgezogen. Die letzte Spur der untergegangenen Sonne war nur mehr ein dünner roter Strich am Horizont. Hiero stieg mit ungutem Gefühl ab. Sollten sie umkehren? Aber wohin dann? Er hatte das Gefühl, daß sein Hirn nicht richtig funktionieren wollte. Es mußte irgendeine Möglichkeit, eine vernünftige Lösung geben, die ihnen aus der Klemme half. Verdammt! Er schlug nach den
heransirrenden Mücken, mehr aus Ärger als aus sonst einem Grund. »Ich wollte, wir hätten ein Boot«, sagte das Mädchen und sah sich um. »Es müßte natürlich ein ziemlich großes sein, damit Klootz Platz hätte. Dann könnten wir wenigstens diesen Schlamm vermeiden.« »Im Norden bauen wir ... Heilige Mutter Gottes, vergib mir meine Dummheit!« brach er los. »Wir bauen Flöße, für unsere Tiere, wenn es keine Brücken gibt! Und ich habe den ganzen Tag dagesessen und hab' tausende Baumstämme voller Schlingpflanzen angestarrt! Das einzige, was mir gefehlt hat, war jemand, der mir mit einem kräftigen Tritt in den Hintern die Stupidität ausgetrieben hätte! Komm, steig ab, wir wollen uns gleich an die Arbeit machen!« Sie hatten tatsächlich alles, was sie brauchten. Ringsum gab es eine Menge angeschwemmter Baumstämme und Äste, selbst auf ihrer Insel lagen ein paar. Manche hatten sogar noch Blätter an den Zweigen. Selbst Gorm half jetzt mit. Klootz bekam ein Zuggeschirr aus einer zähen Schlingpflanze und schleppte die brauchbaren Stämme herbei, während der Bär half, Äste und Lianen zu entwirren. Hiero hackte mit seinem Schwert Äste ab, wo sie im Weg waren, und beaufsichtigte die Arbeit der anderen, während Lucare die dicken Stämme mit Schlingpflanzen aneinanderband. Schließlich war ihr Werk, so gut es ging, vollendet. Der Priester hatte gerade Äste zu zwei vielleicht fünf
Meter langen Stangen aneinandergestückelt und auch ein Paar einfacher Paddel verfertigt, falls das Wasser zu tief zum Staken wurde. Das fertige Floß war vielleicht zehn Meter lang und fünf breit. Es war ein unglaublich plumpes Gefährt, aber nach Hieros Ansicht sehr brauchbar, ja unentbehrlich. Ich (kann) schwimmen, bemerkte Klootz und prüfte die Konstruktion mißtrauisch mit seinem breiten Vorderhuf. Nein, Dummkopf, antwortete sein Herr. Unter Wasser ist Gefahr Du steigst darauf. Sie mußten sich alle vier gehörig plagen, um das Floß über den Schlamm ins tiefere Wasser zu zerren. Da sie es unmöglich mit Klootz an Bord weitergebracht hätten, mußte der große Ellk zuletzt hinüberspringen. Sein Gewicht drückte die Stämme für einen Augenblick unter Wasser. Er landete jedoch sicher und rührte sich nicht mehr, so daß das Floß schließlich triefend wieder hochkam und ruhig schwamm. Der Priester stellte sich mit einer Stange hinten auf, Lucare vorn. Der Bär kauerte sich neben Klootz nieder, der sich hatte hinlegen müssen, und jeder hielt auf seiner Seite Wache. Hiero stieß seine Stange kräftig in den schlammigen Grund, und das seltsame Gefährt mit seinen so verschiedenen Passagieren glitt in das insektenerfüllte Dunkel hinein. Es hielt gerade auf die zerborstenen Türme der schweigenden Ruinenwelt zu.
8 Die Gefahr und der Weise Das große Floß war sogar noch schwerfälliger als Hiero befürchtet hatte. Trotzdem konnte man es mit Geduld und Mühe vorwärtsbringen. Das eigentliche Problem waren jedoch die verfilzten Matten von Schlingpflanzen, die die Wasseroberfläche bedeckten. Hiero mußte sich immer wieder hinunterbeugen und sie mit dem Schwert auseinanderhacken, deshalb setzte er sich schließlich hin und band das Schwert fest an das eine Ende seiner Stange. Er verwendete Lederriemen aus seinem Flickzeug und prüfte jeden Knoten zweimal, bevor er zufrieden war. Von da an konnte er das Pflanzengewirr leichter zerschneiden, und ohne zu fürchten, daß irgend etwas Hungriges nach seinem Arm schnappte, wenn er sich über die Floßkante beugte. Er brauchte auch die Stange nicht immer wieder aus der Hand legen. Böses in der Nähe! warnte plötzlich die Gedankenstimme des Bären. Kein Mensch, irgendein Wesen, das denkt und nicht denkt. Hiero stemmte sich gegen seine Stange und zog sie ein, und Lucare folgte seinem Beispiel. Das schwere Floß glitt durch sein Beharrungsvermögen noch ein paar Meter weiter, während alle an Bord in die Nacht hineinlauschten, mit allen körperlichen und psychischen Sin-
nen. Aber da war nichts, nichts außer dem fast ohrenbetäubenden Lärmen der Frösche und dem schrillen Summen der unzähligen Insekten, ein Quaken und Trillern und Husten, daß man kaum das eigene Wort verstand. Es ist weg, sendete Gorm. Es war schnell, wie ein Fisch, jetzt – nichts. Der Priester gab sich nicht der Täuschung hin, daß Gorm sich geirrt haben könnte. Die Wachsamkeit des Bären hatte sie schon mehr als einmal gerettet. Wenn er mit seinem schnellen, wachen Geist, der schließlich in vielem anders als der menschliche war, etwas entdeckt hatte, dann mußte etwas dagewesen sein! Denkt und denkt nicht! Er hatte keine Zeit herauszufinden, was der Bär damit gemeint hatte, nicht jetzt. Beunruhigt und irritiert durch diese nicht identifizierbare Gefahr nahm Hiero die Umgebung genau in Augenschein, das stille, dunkle Wasser, die näheren Gebäude und die treibenden Tangknäuel. Flüchtig bemerkte er, daß Klootz' gewaltige, schaufelförmige Geweihstangen jetzt bis auf ein paar vertrocknete Fetzen frei von Bast waren und sehr bald wieder als Waffe eingesetzt werden konnten. Aber nichts rührte sich unter dem bleichen Mond. Schließlich gab Hiero Lucare ein Zeichen, und sie begannen beide wieder zu staken. Langsam setzte sich das plumpe Floß in Bewegung und hielt auf die Öffnung zwischen zwei hochaufragenden Ruinentürmen zu. Die Frösche verstummten und ließen sich ins Wasser plump-
sen, als das sonderbare Ding an ihnen vorüberschwamm, andere beobachteten es von Wasserlilienblättern oder den treibenden Blasen des Wasserfenchels aus und lärmten von neuem los, sobald es vorbei war. Als sie in den langen Schatten des näheren der zerborstenen Monolithen kamen, verfing sich das Floß an dem ersten bedeutenderen Hindernis, einem Gewirr aus toten Ästen und Schlingpflanzen, das im Wasser trieb. Hiero eilte an die Vorderkante des Floßes und begann mit seinem Stangenschwert in die Masse zu hacken, und Lucare half ihm, indem sie die abgetrennten Stücke zur Seite stieß. Glücklicherweise war das Wasser an dieser Stelle tief, so daß das Zeug, wenn es erst zerteilt war, ihnen keine Schwierigkeiten mehr bereitete. Trotzdem war es eine ziemliche Plage, weil sie das Floß immer nur ein paar Meter weit staken konnten und dann wieder den Weg freihacken mußten. Und das war nur der Anfang. Die ganze Nacht hindurch kamen sie nur auf diese Weise vorwärts. Dunkle Fensterhöhlen und klaffende Risse in dem verfallenen, uralten Mauerwerk starrten auf das Floß hinunter, das durch die versunkene Stadt glitt, langsam, sehr langsam. Einmal fuhren sie alle vier zusammen, als eine Wolke Fledermäuse aus einem dieser Löcher herausstob und vor dem blassen Mond vorüberflatterte, aber ansonsten brachte die Nacht nichts als harte Arbeit. Zweimal stießen sie auf eine Schlammbank, die ihnen, verborgen unter dem Gewirr von Wasserpflanzen, den
Weg versperrte. Sie mußten umkehren und im Labyrinth der Kanäle einen anderen Weg suchen. Glücklicherweise fanden sie immer wieder irgendeinen tieferen Wasserarm. Bei anderen Gelegenheiten – wenn sie größere Wasserflächen überqueren mußten, die Hiero für einstige Parks oder Plätze hielt – verloren sie ein paarmal den Kontakt mit dem Grund. Er dankte Gott, daß er daran gedacht hatte, auch ein Paar Paddel zu machen. Das schlammige Wasser war so ruhig, daß sie das Floß damit wenigstens langsam weiterbringen konnten, bis sie mit ihren Stangen wieder Grund fanden. Als das erste Licht des neuen Tages den Osten grau färbte, warf der Metz einen Blick auf seine Gefährtin, und beide mußten grinsen. Sie waren beide schlammbedeckt, verschwitzt und müde, hatten Blasen an den Händen vom Staken und nicht ein Fleckchen Haut, auf dem sie nicht von Stechfliegen oder Mücken gebissen worden waren. Aber sie lebten noch und waren gesund, das war das wichtigste, und sie hatten doch eine ziemlich große Strecke zurückgelegt, das war ein Trost. »Ich möchte nicht tagsüber unterwegs sein, nicht an einem Ort wie diesem«, sagte Hiero. »Schau mal, dort drüben, dieses schiefe Mauerstück. Da kommen wir hinauf, und können uns bis zum Abend verstecken.« In der rasch zunehmenden Helligkeit sahen sie, daß sie sich an oder besser über einem der vielen ›Plätze‹ befanden, wie Hiero sie jetzt nannte. Auf drei Seiten ragten gewaltige, stark verwitterte Mauern in die Höhe,
in denen unzählige Fensteröffnungen und Risse klafften, mit nichts als Leere dahinter. Andere Stellen waren dicht mit Schlingpflanzen überwachsen. Auf der vierten Seite sah es besser aus. Irgendein riesiges Gebäude war offenbar unter der Last der Jahrtausende zusammengebrochen, vor vermutlich nicht allzu langer Zeit. Die zerborstenen Betonplatten hatten eine Art Rampe gebildet, die als flache, schuttbedeckte Insel im stillen Wasser der düsteren Lagune lag. Auf der einen Seite wuchsen ein paar größere Büsche, die höchstwahrscheinlich den Zusammenbruch überlebt hatten, aber sonst gab es kaum Vegetation darauf. Ein paar Minuten später lag das Floß an der flachen Seite der Schuttinsel. Tang und Äste bedeckten es, und wenn man nicht allzu genau hinsah, konnte man es für einen der zahlreichen Schwemmholzhaufen halten. Die Passagiere, Zweibeiner wie Vierbeiner, lagen eng aneinandergedrückt unter den Büschen und warteten übelgelaunt darauf, daß die Sonne höherstieg, und ihnen die schwüle Hitze des Tages das Dasein noch mehr vergällte. Gorm – was war das, was dich vorhin erschreckt hat? sendete Hiero. Das Gehirn, das du aufgespürt hast, als wir losfuhren? Etwas Neues, gab der Bär zu und versuchte, seine empfindliche Nase vor den Mücken zu verstecken. Nur ein Wesen, was es auch war; ein böses Gehirn, schnell, schlau, voll Haß gegen alles, das anders ist. Aber kein Mensch, aber auch keine Art Tier, die ich kenne. Vielleicht – eine kurze Pause
trat ein, als der junge Bär überlegte – vielleicht ein wenig wie ein Frosch, aber einer, der denkt! Während die anderen diese Information verdauten, fügte er ruhig hinzu. Es hat sich entfernt. Vielleicht um andere seiner Art zu suchen. Nach dieser nicht sehr beruhigenden Mitteilung begrub er seine Nase völlig unter den Vorderpfoten und schlief ein. Sein dichter, schwarzer Pelz schützte ihn sonst recht gut vor Insektenstichen, und überdies war er fähig, unter allen Umständen jederzeit und überall zu schlafen. »Wir werden Wache halten müssen«, meinte Hiero zu dem Mädchen. »Versuch ein wenig zu schlafen, ich übernehm' die erste.« Er versuchte sich mit seiner schmutzigen Hand den Schweiß aus den Augen zu wischen, was nur zur Folge hatte, daß er in eines Schmutz hineinbekam. Als er heftiger rieb, zog Lucare seine Hand weg, holte irgendwoher ein feuchtes (und relativ sauberes) Tuch hervor und wischte ihm damit das Gesicht ab, nachdem sie erst das Schmutzteilchen aus dem Auge entfernt hatte. »Na siehst du«, sagte sie befriedigt. »Und jetzt bleib mit deinen dreckigen Fingern davon weg. – Hiero, was, glaubst du, hat Gorm gefühlt? Könnte er es sich nicht nur eingebildet haben? Dieser Ort ist übel genug, um jedermann Alpträume zu verursachen, auch einem Bären.« Sie musterte die schweigende Wasserwelt rundum mit bedrücktem Blick. Selbst im hellen Morgenlicht hatten die schweigenden Ruinen der Vergangenheit etwas Unheim-
liches, Düsteres an sich. Die verfilzten Tangbündel, die braungrünen Schlingpflanzen an den rissigen Häuserfronten, die Bäume und Büsche auf den abgebröckelten Mauerkronen, alles trug zu dem Eindruck bei, daß dies keine Welt für Menschen mehr war. »Er bildet sich nichts ein«, sagte der Priester. Er versuchte, das schmutzige, bezaubernde Gesicht so nahe vor dem seinen zu ignorieren und statt dessen an das zu denken, was er sagen wollte. »Es ist sicher irgend etwas in der Nähe gewesen. Und auch jetzt sind wir nicht allein. Ich kann die geistige Ausstrahlung nicht auffangen, aber ich fühle die Nähe von Gehirnen, verstehst du, Gehirne, die vielleicht ganz anders denken. Wir werden vorsichtig sein müssen, sehr vorsichtig.« Und Glück haben müssen, ergänzte er für sich. Wieder verging ein langer Tag. Sie aßen und tranken nur sparsam. In den Feldflaschen war nicht mehr viel drin, und obwohl Klootz und der Bär das Wasser des Moorsees anscheinend genießbar fanden, wollte Hiero lieber darauf verzichten, solange sie nicht am Verdursten waren. Er hatte einen Schluck von der grünen Brühe versucht, aber das Wasser schmeckte faulig und roch wenig vertrauenerweckend. Langsam, allzu langsam kroch die Sonne über den Himmel, der Nachmittag begann und verging. Lucare war endlich eingeschlafen, wie die beiden Tiere schon längst. Abgesehen von dem hellen Summen der Myria-
den Insekten herrschte drückende Stille. Zwischen den Turmruinen zeigten sich keine Vögel mehr, auch nicht an dem blassen, wolkenlosen Himmel. Der Priester konnte keinerlei zusammenhängende Gedankensignale aufspüren, in keinem der ihm bekannten telepathischen Bereiche. Trotzdem schien ihm, daß von allen Seiten her ein unfaßbares, unidentifizierbares Etwas sie belauerte. Starke geistige Unterströmungen waren rundum am Werk; er spürte sie instinktiv, aber er konnte sie weder lokalisieren noch entschlüsseln. Sie hatten ihre Sachen wieder aufs Floß gebracht und hielten es eben fest, während der große Ellk vorsichtig aufstieg, als ein gräßlicher Schrei sie erstarren ließ. Weit und breit war keine Bewegung wahrzunehmen, obwohl es noch hell genug war, daß sie die näheren Mauern deutlich sehen konnten. Von weit aus dem Osten, von dort, wo sie hinfahren wollten, hallte wieder der seltsame, klagende Ruf über das Wasser, den sie am Abend zuvor schon gehört hatten. Das abendliche Froschkonzert hatte noch kaum voll eingesetzt, aber jetzt verstummte es mit einem Schlag. »Aoooh, aooooh, aaaooouuh«, heulte die ferne Stimme eine Mischung aus Klage, Hohn und Gier. Dreimal wiederholte sich der Schrei, dann war es wieder still bis auf das Singen der Mücken. Zögernd setzte das heisere Lärmen der Frösche wieder ein, während die vier Kameraden einander stumm und erschrocken anstarrten. »Oh, wie ich diesen Ort hasse!« brach Lucare plötzlich
los. »Das ist keine Welt für Menschen, sondern eine sumpfige Hölle voll klagender Geister! Die Stadt der Toten!« Sie brach in Tränen aus und vergrub das Gesicht in den Händen. Mit ihrer mühsam gewahrten Selbstbeherrschung war es nun zu Ende. Hiero trat zu ihr, nahm sie in die Arme und tätschelte ihr tröstend die Schulter, bis ihr tränennasses Gesicht wieder auftauchte. Ihre Augen trafen die seinen mit einer Frage, die er nur zu gerne beantwortete. Er beugte sich über sie, und zum erstenmal fühlten seine Lippen die wilde Wärme ihres Mundes. Ihre kräftigen schlanken Arme umfingen wie von selbst seinen Nacken, und als der Kuß nach einer Weile endete, verbarg sie ihr Gesicht an seiner Jacke. Er streichelte immer noch ihre Schultern und sagte nichts, starrte nur über ihren gesenkten Kopf hinweg in das dichterwerdende Dunkel. Die Stiche eines guten Dutzends Mücken und Fliegen fühlte er nicht. »Wofür war das?« fragte eine undeutliche Stimme an seiner Brust. »Als Trost für ein furchtsames Kind?« »Natürlich«, gab er heiter zu. »Ich tu' das mit allen verschreckten kleinen Fratzen, die mir über den Weg laufen. Natürlich wird es mir manchmal ein wenig lästig, aber ich könnte mich vielleicht sogar daran gewöhnen.« Ihr Kopf fuhr hoch – sie argwöhnte Spott, aber was sie statt dessen in seinen Augen las, ließ sie fast erschrocken wieder das Gesicht an seiner Brust verstecken. Neuerlich trat ein kurzes Schweigen ein. »Ich liebe dich, Hiero«, sagte nach einer Weile eine lei-
se Stimme in den Falten seiner Jacke. »Ich liebe dich auch«, sagte er fast bekümmert. »Und ich weiß wirklich nicht, ob das ein guter Einfall von uns beiden ist. Ich fürchte sogar, es ist ein ziemlich schlechter. Ich habe eine Aufgabe zu erfüllen, von der womöglich das Überleben der normalen Menschheit und der Fortbestand unserer Zivilisation abhängen können. Eine solche Gefühlsbelastung kann ich so gut brauchen wie ein drittes Bein.« Er lächelte, als ihre Augen ihn empört anfunkelten. »Es scheint mir jedoch, daß ich nichts dagegen tun kann.« Er drückte sie fester an sich. »Wie es auch ausgeht, von nun an bleiben wir beisammen. Ich würde mir mehr Sorgen machen, wenn du nicht bei mir wärst.« Sie schmiegte sich in seine Arme, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. Eine Weile standen sie so und vergaßen alles um sich herum, bis ein Gedanke in ihre Welt einbrach, dessen Tonlosigkeit allein ihn schon sardonisch klingen ließ. Menschliche Paarungssitten sind wirklich sehr interessant, aber es ist hier zu gefährlich, um sich damit zu befassen. Das fühle ich deutlich. Das wirkte wie ein Eimer kaltes Wasser. Die beiden fuhren auseinander. Geflissentlich übersahen sie den Bären, der in der Floßmitte neben Klootz kauerte und sie mit seinen klugen Augen musterte, nahmen ihre Stangen und stießen das Floß hinein in die summende, quakende Dunkelheit. Der Mond war noch nicht aufgegangen, aber
die unzähligen Sterne gaben genügend Licht, da sie beide auch nachts sehr gut sahen. Wieder lag eine Nacht voll Arbeit und Strapazen vor ihnen. Manchmal wäre ihnen das Auftauchen irgendeines Feindes fast als willkommene Abwechslung erschienen, aber es ließ sich auch nicht das geringste blicken. So stakten, paddelten und hackten sie sich weiter ihren Weg durch die versunkene Stadt. Einmal fiel Hiero über Bord, kletterte jedoch eiligst wieder herauf, schlammtriefend und stinkend, aber wenigstens für ein paar Minuten abgekühlt. Der Mond ging auf und erleichterte ihnen die Arbeit etwas. Die schweigenden schwarzen Mauern starrten aus tausend leeren Augen auf sie herab, während sie langsam durch die Kanäle stakten, die vielleicht einmal Straßen oder Alleen gewesen waren, voll von Leben, Licht und brodelndem Verkehr, und die Festzüge und Paraden gekannt haben mochten. All das war jetzt versunken, vergessen und begraben unter der Last der Jahrhunderte und Tonnen von Schlamm und Wasser. Die Schinderei hatte Hiero und Lucare schließlich so abgestumpft, daß sie der erste blasse Schimmer von Tageslicht fast überrumpelte. Erst als sie bemerkten, daß sie einander auf einmal deutlich sehen konnten, begriffen sie, daß der Morgen graute. »Liebste«, sagte der Priester müde, »wenn ich nur halb so schmutzig und übernächtig ausseh' wie du, dann muß ich dir ja einen nicht zu übertreffenden Anblick bieten.«
»Du siehst viel schlimmer aus«, gab sie zurück. »Ich weiß nicht, ob ich dich noch einmal küssen werde – jedenfalls nicht, bevor ich dich nicht mit einem Messer abgekratzt hab'.« So erschöpft sie auch war, in ihrer Stimme schwang Glück und Liebe. »Schau dir doch diesen faulen vollgefressenen Ellk an«, knurrte Hiero, um das Thema zu wechseln. »Jetzt zahlt er mir's heim – all die Jahre, die er mich tragen mußte!« Klootz schlief tatsächlich ruhig und friedlich, nur seine großen Ohren unter den Geweihstangen zuckten hin und wieder. Die langen Läufe hatte er säuberlich unter den Rumpf geklappt. Der Bär neben ihm schlief ebenso fest, da ihn nur sehr außergewöhnliche Umstände um seinen gesunden Schlaf bringen konnten. »Die beiden hätten aufpassen sollen. Mit solchen Wächtern hätte uns leicht irgend etwas fressen können!« »Ich weiß, Hiero, aber wir sind ja nicht gefressen worden. Ich bin so müde und schmutzig, daß es mir nicht einmal was ausmachen würde. Gefressen zu werden, meine ich. Hast du eine Ahnung, wo wir sind?« Das Floß trieb langsam eine tiefe Häuserschlucht hinunter, die einmal eine breite Straße mitten im Stadtzentrum gewesen sein mußte. Die mächtigen, eng nebeneinander aufragenden Ruinentürme waren noch immer so hoch, daß das Wasser an ihrem Fuß fast immer im Schatten lag. In dem düsteren Canyon wuchsen deshalb auch
nur wenige Pflanzen, und das Wasser schien viel tiefer zu sein. Die beiden hatten schon seit mehr als einer Stunde die Paddel benutzen müssen. Weit vorne sah es heller aus, aber noch lag eine lange, dunkle Wasserstraße vor ihnen, auf beiden Seiten begrenzt von riesenhaften verfallenen Mauern und Türmen. Es gab wohl Buchten und Spalten in den gewaltigen, flechtenüberwachsenen Klippen, schattendunkle Löcher und Höhlen, aber auf weite Strecken schien es, als führen sie durch eine tiefe und ausweglose Schlucht. Als der Himmel heller wurde, verstärkte sich dieser Eindruck eher noch. Unablässig streifte Hieros Blick über das schattige Wasser, die dunklen Mauern. Es war Zufall, daß sein Auge eine bestimmte Stelle ein zweites Mal traf; was er dort sah, ließ ihm einen kalten Schauder über den Rücken laufen. Lucare! Sein Gedankenstoß schreckte sie auf, wie es kein lauter Schrei vermocht hätte. Sei ganz still. Kein Geräusch! Schau durch die Öffnung da rechts, auf das Wasser dahinter. Das blasse Licht genügte durchaus, um die Stelle, die Hiero beschrieben hatte, deutlich erkennen zu lassen. Ein Stück Mauerwerk war eingebrochen, oder vielleicht war das Loch auch einst ein riesiges Tor gewesen – nach so vielen Jahrhunderten konnte man das nicht mehr feststellen. Das Wasser strömte durch die breite Mauerlücke in einen ruhigen Teich dahinter, vielleicht hundert Meter
im Durchmesser und wiederum von hohen Ruinen umgeben, jedenfalls so weit die beiden sehen konnten. In der Mitte des Teichs, gerade gegenüber seiner Einmündung in die Wasserstraße, auf der sie mit dem Floß dahintrieben, ragte ein schmaler, hoher Gegenstand von der dunklen Oberflache auf, Hiero hatte zuerst angenommen, daß es sich um irgend etwas Unbelebtes handelte, eine Turmspitze, oder die Kante eines Blechdachs, aber dann hatte er instinktiv noch einmal hingesehen, gewarnt durch eine unerklärliche, mehr körperliche als geistige Unruhe – und hatte mit Entsetzen festgestellt, daß das Ding sich leise hin und her bewegte. Da war ihm klargeworden, was die riesige, blattähnliche Form zu bedeuten hatte. Es war eine gewaltige, ausgezackte Rückenflosse, was sie in dem Teich sahen, und der Besitzer der Flosse mußte unmittelbar unter der täuschend ruhigen Wasseroberflache liegen Die Größe dieses Geschöpfs überstieg jede Vorstellungskraft Es lauert sicher auf Beute, sendete Hiero, auf alles, was vorüberkommt. Wenn wir uns ganz ruhig verhalten, haben wir vielleicht eine Chance. Tatsächlich schob eine leichte Strömung das Floß an der Öffnung vorbei, allerdings mit nervenzermürbender Langsamkeit. Die beiden Tiere in der Mitte des Floßes lagen allem Anschein nach noch immer in tiefem Schlaf, doch dieser Schein trog. Ich habe gehört, meldete sich Gorm mit einem Gedanken Was bedroht uns?
Ich kann nichts sehen. Irgend etwas sehr Großes, im Wasser ganz nahe an der Oberfläche, antwortete Hiero. Bewegt euch nicht. Vielleicht bemerkt es uns nicht. Ich werde versuchen, seinen Geist zu erreichen. Und er versuchte es wirklich, auf jeder ihm bekannten Wellenlänge, auch in dem neuen Bereich, den er auf Manoun zu benutzen gelernt hatte. Aber während das Floß träge weitertrieb, mußte er sich endlich sein Versagen eingestehen. Was immer für ein Ungeheuer in dem Teich dort hinten hauste, seine Ausstrahlung unterschied sich offenbar durch nichts von der hundert anderer Lebensformen, von denen das Wasser rundum wimmelte. Die Größe des Wesens gab keinen Aufschluß über die Art seiner Gehirnströme, und auch ein noch so großer Körper besaß keine eigene Ausstrahlung, jedenfalls keine, die Hiero hätte auffangen können. Sie ließen sich treiben, bis selbst die Spitzen der Gebäude rund um jenen Teich nicht mehr sichtbar waren. Erst dann wies Hiero Lucare an, wieder ihr Paddel aufzunehmen. Noch eine ganze Weile gaben sie sich beide große Mühe, möglichst leise und ohne Geplätscher zu rudern. Der düstere Canyon war noch lange nicht zu Ende, als Hiero plötzlich rief: »Steure mal hier herüber, ich hab' was entdeckt, was wir dringend brauchen.« Mit vereinten Kräften gelang es ihnen, das Floß in einem Mauerwinkel zu verankern, wo ein Gebäude etwas weiter herausragte als die Ruinen daneben. Vorsichtshal-
ber mußte Lucare an Bord bleiben und dafür sorgen, daß sie nicht abtrieben, während Hiero hinüberkletterte. »Sieh doch«, sagte Hiero, »wir haben Glück – da ist ein Kupferstreifen unter dieser Fensterreihe.« Er hatte die dicke Schicht Grünspan auf dem Kupferband vom Floß aus entdeckt und sofort an ihre halbfertigen Armbrüste gedacht. Mit Hilfe seines Dolches und einer Ruderstange bekam er nach einiger Mühe einen langen Streifen los, gut einige Pfund schwer, und nahm ihn mit aufs Floß. Unter dem Grünspan war das Metall sehr gut erhalten. »Ich glaube, es ist Bronze«, meinte er nach genauerer Untersuchung. »Noch besser als Kupfer, viel härter. Wir haben jetzt genug für mindestens hundert Pfeilspitzen. Gut, daß das Zeug so dauerhaft ist.« Lucare schüttelte sich. »Ich freu mich auch, aber sehen wir trotzdem zu, daß wir hier wegkommen. Ich kann mir nicht helfen, dieser Ort macht mich ganz krank. All diese leeren Fensterhöhlen scheinen uns drohend anzustarren. Und wo werden wir heute tagsüber bleiben? Die Sonne ist schon längst aufgegangen, auch wenn's hier herunten so düster ist.« »Ich weiß es nicht. Wir müssen einfach weiterpaddeln, bis wir etwas finden. Eine Insel oder eine Bucht vielleicht. Oder einen geschützten Teich hinter irgendeiner Mauerlücke – allerdings ohne Bewohner«, fügte er hinzu. Obwohl es zunehmend heller wurde, blieb ihnen nichts anderes übrig als weiterzufahren. Erstens hatte
sich die sanfte Strömung zwischen den Wänden verstärkt, und zweitens gab es keinerlei Öffnungen und Lücken mehr, wo sie hätten Unterschlupf finden können. Die Strömung war jedoch eine große Hilfe; das Ende der langen Häuserschlucht kam nun rasch näher, viel rascher, als sie sich aus eigener Kraft hätten weiterbewegen können. Außerdem verhinderte die Strömung die Bildung von Tang- und Lianengewirr, so daß sie auch nicht mehr den Weg freihacken mußten. Trotzdem war es beinahe Mittag, als das Floß aus den Schatten zwischen den hochaufragenden Ruinenwänden heraus ans Sonnenlicht trieb. Einen Augenblick lang waren sie alle von der plötzlichen Helligkeit geblendet, aber sobald sie wieder etwas sehen konnten, stieß Lucare einen entzückten Schrei aus, ließ ihr Paddel fallen und schlug begeistert die Hände zusammen. Sie trieben nun in einem kleinen See, dessen klares, blaues Wasser auf große Tiefe schließen ließ und auf eine wahrscheinlich enge Verbindung zur Inlandsee. Zahlreiche verfallene Gebäude umgaben den See wie Korallenriffe eine Lagune, und nur an einer Seite, gegen Süden hin, war der Ring unterbrochen. Die Hauptaufmerksamkeit der Floßfahrer galt jedoch der Mitte des Sees, wo sich eine kleine grüne Insel aus dem klaren Wasser erhob, mit weichem Gras, ein paar Büschen und Palmen. Bunte Blumen leuchteten da und dort aus dem Blattwerk, gelbe und blaue Blüten. Und Schwärme kleiner Vögel kreisten in der Nähe, während
eine Schar Wildgänse und Enten, ein weißbraunes Durcheinander, im seichten Uferwasser nach Futter suchte. Nach den Tagen und Nächten in den finsteren, sumpfigen Wasserstraßen voller Mücken und Frösche und stinkender Schlingpflanzen, nach Angst und Strapazen, kam ihnen die Insel wie ein Paradies vor. »Komm, Hiero«, drängte Lucare. »Rudern wir hinüber. Vielleicht gibt es sogar eine Quelle dort. Wir könnten uns endlich waschen. Die Bäume dort tragen vielleicht Früchte, und wahrscheinlich können wir ein paar von den Enten erwischen. Komm schnell!« Aber der Priester blieb reglos stehen, das Paddel in der Hand. Wahrhaftig, die Insel sah sehr einladend aus. Vielleicht zu einladend! Müde wie er war, hatte er doch nicht die unerklärlichen Wahrnehmungen der letzten Tage vergessen, die unheimlichen Schreie in der Dämmerung, sein Gefühl, daß sie von irgend etwas oder irgend jemandem scharf beobachtet wurden. So herrlich dieser Platz auch aussah, er war ein Teil der versunkenen Stadt, und ihre unheimlichen Ruinen säumten ihn. Aber die Müdigkeit wog schwerer als sein Mißtrauen. Irgendwo mußten sie schließlich rasten, und sowohl er wie Lucare waren nahezu am Ende ihrer Kräfte. Außerdem hatten sie dringend Nahrung, frische Nahrung, und sauberes Wasser nötig. Und die Tiere brauchten beides nicht weniger. »Los also«, sagte er und tauchte sein Paddel ein. »Zumindest können wir dort für den Rest des Tages De-
ckung finden. Aber sprich nicht so laut! Wir sind hier nicht im Park eines Abteialtersheims! Ich spüre immer noch diese seltsamen Unterströmungen, die ich mir nicht erklären kann, und die mich schon die ganze Zeit beunruhigen.« Das sanft ansteigende Ufer auf der einen Seite der Insel war der ideale Landeplatz. Und es gab tatsächlich eine Quelle dort, oder eher einen Regentümpel, der mit klarem sauberen Wasser gefüllt war. Die Krönung des ganzen aber war die Muschelbank, die Hiero im Seichten entdeckte. Die drei Nichtvegetarier bereiteten sich mit den saftigen, rohen Seemuscheln eine Festmahlzeit, während Klootz sich verachtungsvoll schnaubend abwandte und sich eifrig über Gras und Buschwerk hermachte. Der Nachmittag war noch nicht zur Hälfte vorüber, als sie alle – gewaschen, gesäubert und mit vollen Mägen – in tiefem Schlaf lagen, mit Ausnahme von Klootz, der auf der Insel herumwanderte und sich einen Nachtisch in Form von saftigen Schößlingen suchte und gleichzeitig Wache hielt. Auch er hatte sich in dem klaren Wasser gewälzt und beschäftigte sich jetzt hin und wieder damit, die letzten Bastreste von seinen glänzenden schwarzen Geweihstangen zu fegen. Von Zeit zu Zeit hielt er inne, schaute sich um und begann dann wieder zu fressen, da sich weit und breit nichts blicken ließ. Die beiden Menschen waren so erschöpft gewesen, daß sie den Rest des Nachmittags und fast die gesamte Nacht durchschliefen. Hiero erwachte in der Dunkelheit
kurz vor dem Morgengrauen und begriff sofort, was geschehen war. Bevor er noch Zeit zu Selbstvorwürfen fand, drang die Stimme des Bären in seinen Geist. Du hattest den Schlaf nötig. Nichts Gefährliches kam in die Nähe. Aber – irgend etwas beobachtet uns. Ich weiß es, so sicher wie ich weiß, daß die Sonne aufgeht. Wir müssen wachsam sein, antwortete Hiero. Er reckte sich, immer noch schrecklich steif, aber er fühlte, daß der Schlaf ihm unendlich gutgetan hatte. Seine Bewegung weckte Lucare, die ein paar Schritte weiter im Gras geschlafen hatte. »Ist das schon der neue Tag, dieser helle Schimmer? Wir müssen lange geschlafen haben. Trotzdem ist mir ganz danach, als könnte ich gleich wieder weiterschlafen. Schlimm, nicht?« »Nein. Wir sind beide noch ganz zerschlagen von dieser Floßfahrt. Wir werden einen Ruhetag einschalten, denke ich. Wir könnten dann auch diese Armbrüste fertigstellen und ein paar Bolzen zurichten; damit werde ich mich gleich viel sicherer fühlen. Wir brauchen sowieso irgendeine Schußwaffe, wenn wir auf Entenjagd gehen wollen.« Der Tag begann angenehmer als alle vorangegangenen der letzten Wochen. Hiero stellte seine Armbrust fertig und schnitt sich Bolzen aus trockenen, geraden Schößlingen, die schon vor längerer Zeit auf der Insel angeschwemmt worden waren. Lucare war keine besondere Hilfe, weil sie die meiste Zeit damit zubrachte, sich das Haar zu ordnen, zu baden
und Hiero mit ausgezupften Blütenblättern zu bewerfen, wann immer er ihrer Ansicht nach ›zu ernst‹ dreinschaute. Am Nachmittag gab er es dann auf, noch irgendeine nützliche Arbeit tun zu wollen, und lag einfach mit dem Kopf in ihrem Schoß da, während sie über ihr bisheriges Leben erzählte und Pläne für ihre gemeinsame Zukunft schmiedete. »Ich hoffe, wir haben eine lange und glückliche Zukunft vor uns, Liebste«, sagte er schließlich. »Aber vorläufig sind wir noch weit davon entfernt. Übrigens, bei deiner ganzen Schwätzerei hast du nicht ein einziges Mal erwähnt, warum du eigentlich aus Dalwah geflohen bist. Eine abgesprochene Heirat, nehme ich an?« Sie schnappte verblüfft nach Luft. »Ich wußte es ja! Du hast in meinem Geist herumgestöbert!« »Nein.« Er lächelte zu dem empörten Gesicht hinauf und übertrug mit dem Zeigefinger einen Kuß auf ihre dunkle Nasenspitze. »Du hast schon früher zugegeben, daß du keine Sklavin bist. Du bist die Tochter irgendeines eurer Adeligen, denke ich, weil du selbst gesagt hast, daß nur die Priester und die Adeligen die Möglichkeit haben, soviel zu lernen wie du. Es war eine ganz einfache Schlußfolgerung. Dein Vater ist also ein großer und mächtiger Mann. Wie groß ist er eigentlich, ich meine nach der gesellschaftlichen Rangordnung eures Landes?« »Der größte«, sagte sie bedrückt. Ein kurzes Schweigen folgte. »Der König also?« Hiero lächelte jetzt nicht mehr.
»Das ist dumm. Bist du sein einziges Kind? Das könnte wichtig sein.« »Ich hatte einen älteren Bruder, aber der wurde in einer Schlacht mit den Unreinen getötet. Mein Vater wünschte, daß ich durch meine Heirat ein Bündnis mit dem nächstmächtigsten Staat besiegle. Ich weiß wie alle anderen allzugut Bescheid über Efrem von Chespek. Er schlägt und quält seine Konkubinen. Seine erste Königin hat den Verstand verloren, und er ließ sie blenden, damit ihre Ehe für null und nichtig erklärt werden konnte, worauf er sie in ein Kloster steckte. Ein König kann nämlich keine gültige Ehe mit jemandem schließen, der körperlich irgendwie beeinträchtigt ist. Vor einem solchen Schicksal bin ich davongelaufen.« »Das kann ich verstehen«, meinte Hiero, an einem Grashalm kauend. »Ich hatte zwar gehofft, mit verschiedenen Ländern in Süden Kontakt anzuknüpfen, vor allem mit deinem, so daß wir auf dem Weg über Handelsbeziehungen beginnen könnten, diese Gegenden zu zivilisieren. Die Entführung einer Prinzessin, der einzigen Prinzessin, ist jedoch keine besondere Empfehlung für einen Botschafter.« Sie runzelte die Stirn. »Was soll das heißen, zivilisieren? Zu deiner Information, Per Desteen, mein schnurrbärtiger Priesterfreund, Dalwah ist eine große und mächtige Nation, mit zwei großen, mauerbewehrten Städten und zahllosen Kirchen und Palästen und anderen prächtigen Steinbauten. Und mit einer tüchtigen und mutigen
Armee!« Hiero lächelte sie freundlich an und sagte nichts. Er rollte sich auf den Bauch, stützte das Kinn auf die Arme, blickte scheinbar gedankenvoll über den See und sagte immer noch nichts. »Ich verstehe«, meinte sie leise nach einer ziemlich langen Pause. »Du meinst, all diese Dinge für sich sind nicht Zivilisation, nicht wahr, Hiero?« »Nun, was glaubst du?« fragte er. »Sie beruhen samt und sonders auf Leibeigenschaft, einem Bildungs- und Eigentumsmonopol einer kleinen herrschenden Klasse, geradezu blutsaugerischer Besteuerung, einer Staatsreligion, die zumindest teilweise in Aberglauben ausgeartet ist, und schließlich auf unaufhörlichen, blutigen Kriegen mit euren Nachbarn. Letzteres wäre in jedem Fall dumm und sinnlos, so aber wird dadurch ein Volk furchtbar geschwächt, das seine Kräfte so dringend gegen andere Feinde benötigen würde, gegen die Unreinen und die Bestien in euren Urwäldern. Nun sage mir, ob man ein solches Land zivilisiert nennen kann. Ich würde es als ziemlich weit fortgeschrittene Barbarei bezeichnen, und als sicheren Weg zu völliger Vernichtung.« »Ich glaube, du hast recht«, sagte sie nach einer Weile. »Versteh mich bitte, ich wurde so erzogen, daß ich nie erfuhr, wie unser Land wirklich ist, und daß es auch anders gehen könnte oder sollte. Als Kronprinzessin von Dalwah ist man hauptsächlich von Schmeichlern und Lügnern umgeben.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte er und tätschelte ihr die Schulter. »Das Erstaunliche dabei ist nur, kleine Prinzessin, daß du trotz allem so ein Prachtexemplar geworden bist – nicht nur hübsch, sondern auch gescheit, gescheit genug um zuzugeben, daß du nicht alles weißt. Und das ist die einzige wirklich wertvolle Art von Gescheitheit.« Sie beugte sich über ihn, und er zog sie sanft zu sich herunter. Das hohe, weiche Gras verbarg sie beide wie ein Vorhang, und seine leise Frage, »Jetzt?« hätte ein Flüstern der Halme sein können. »Ich habe Angst, ein bißchen«, kam die noch leisere Antwort. »Ich bin noch Jungfrau. Deshalb war ich ja für diese Sklavenhändler so wertvoll.« »Du wirst meine Frau, sobald wir einen zweiten Priester finden. Was mich betrifft, so bist du schon jetzt meine Frau. Und meine Geliebte, für immer und ewig, bis Gott uns heimruft. So lautet unsere Heiratsformel.« Da preßten sich ihre Lippen auf die seinen und brachten ihn zum Schweigen. Die hohen Gräser schwankten leise in der Nachmittagssonne. Einmal ertönte ein weicher, kurzer Schrei wie von einem Vogel, so leise, daß selbst der Bär ihn kaum hören konnte. Diese Menschen! dachte er. Aber wenigstens ist das jetzt erledigt, und wir können uns auf andere Dinge konzentrieren. Langsam nickte auch er in der warmen Sonne ein und hörte schon halb im Schlaf das rhythmische, knirschende
Geräusch, mit dem Klootz sein Futter wiederkäute. Frieden legte sich über die Insel, nur manchmal schrien in der Ferne ein paar Vögel, und Insekten summten durch den Sommernachmittag. Die beiden erwachten am frühen Abend, vielmehr, sie wurden geweckt. Keiner sagte ein Wort, als sie hastig in die Kleider fuhren. Gorms gedanklicher Ruf, Aufwachen! Sie kommen! hatte ihre schlafenden Gehirne wie ein Donnerschlag getroffen. Im nächsten Augenblick war wieder der unheimliche, klagende Schrei ertönt, der sie schon früher beunruhigt hatte, und diesmal war er nicht wieder verstummt. »Aoooh, aooooh, aaooouuuh!« Ohrenbetäubend laut kam es jetzt aus allen Richtungen. Im grauen Zwielicht wirkte die kleine Insel in der Lagune nicht mehr wie ein sicherer Hafen, sondern wie das winzige Restchen einer normalen und glücklichen Welt inmitten eines heimtückischen Chaos. Hiero dachte kurz und mit Trauer an ihr erstes Beisammensein auf diesem Fleckchen Paradies, ein paar gestohlene Augenblicke der Liebe zwischen Strapazen und Gefahren, die nur allzu schnell hatten enden müssen. Zusammen mit dem Ellk und dem Bären verschanzten sie sich hastig in den Büschen in der Mitte ihrer Insel. Rundherum wurde der hallende, unheimliche Schrei immer lauter. »Aooouuh, aoooooh, aooouuuh!« Und jetzt, in der noch immer ziemlich kräftigen Beleuchtung, sahen die vier zum erstenmal ihre Feinde und
begriffen, daß sie auf ihrer Fahrt durch die versunkene Stadt von Anfang an beobachtet und verfolgt worden waren. Aus allen Richtungen, außer von Süden, glitten schmale, niedrige Schilfboote heran, an beiden Enden zugespitzte Kanus, die anscheinend aus dicken Rohrbündeln zusammengeschnürt waren. Immer mehr schossen aus dem Ring der Ruinen heraus auf das offene Wasser der Lagune, angetrieben von den Flossenhänden der darin hockenden Wesen. Eine Menge fahler Köpfe zwischen den Booten zeigte an, daß noch mehr Feinde durch ihr natürliches Element herankamen. Eine neue Lemutart! Nimm einen Frosch, dachte Hiero, und stell ihn auf die Hinterbeine; gib ihm einen hochgewölbten Schädel und eine bleiche Haut, weiß und wie ausgelaugt. Gib ihm schwarze, bösartige Augen, wie große, glitzernde Blasen von Fett. Gib ihm nahezu menschliche Größe. Gib ihm Dolche aus Bein, blaß wie seine Haut, Speere aus Fischbein und ausgebleichte Knochenkeulen. Und gib ihm Haß! Als die Wesen immer näher kamen, mußte der Priester an Gorms ersten Eindruck denken, ein Frosch, der denkt. Muß ein Kundschafter gewesen sein, der uns die ganze Zeit auf der Spur geblieben ist. Die schauderhaften, klagenden Schreie, die durch die Luft hallten wie wimmernde Sturmböen, verstummten schlagartig. Erst in diesem Augenblick begriff Hiero, daß die Froschwesen selbst keinen Laut von sich gegeben
hatten. Der unheimliche Ruf war von den Gebäuden ringsum gekommen und nicht von den Angreifern. War es ein Signal für sie gewesen? Und wer hatte es ausgestoßen? Viele andere Fragen wirbelten durch sein Hirn, aber jetzt war nicht die Zeit dazu, über solche Dinge nachzugrübeln. Die ersten Feinde hatten die Insel erreicht und strömten an Land. Die instinktive Reaktion des Priesters war die richtige gewesen: Soweit als möglich vom Wasser zurückzuweichen und die Froschwesen auf festem Boden zu stellen. Sie stolperten unbeholfen, fast hopsend heran und fühlten sich ganz offensichtlich auf trockenem Land viel weniger sicher als in Schlamm oder Wasser, wo sie sich mit ihren Schwimmfüßen besser vorwärtsbewegen konnten. Durch ihre Zahl allein waren sie jedoch den vier Inselverteidigern gegenüber im Vorteil. Aber jetzt hatte Hiero die kalte Berserkerwut des Vollkämpfers erfaßt, und er dachte nicht einmal mehr einen Atemzug lang an Niederlage. Lucare erwischte den ersten. Ihre lange Lanze, der ausziehbare Speer, den Hiero dem Unreinen Meister abgenommen hatte, zuckte vor, und in der Kehle eines Froschwesens klaffte ein dunkelroter Spalt. Eine Wolke von Fischbeinspeeren mit langen Widerhaken zwitscherte heran, und alle vier duckten sich. Einer traf Hiero mitten an der Brust, und er schnappte nach Luft. Das Ding hatte ihm kaum die Haut geritzt! Die amphibischen Lemut waren keine Speerkämpfer. Anscheinend eigneten
sich ihre dünnen Arme nicht zum Werfen. Diese Feststellung, durch einen blitzschnellen Gedanken den anderen mitgeteilt, gab ihnen natürlich neuen Mut, aber die Übermacht der häßlichen Biester war doch bedrückend. Hunderte schienen über den flachen Strand heraufzuschwärmen. Und bald werden wir sie nicht mehr sehen können, dachte Hiero, denn das Tageslicht verblaßte rasch. Wieder kam ihnen eine körperliche Eigenart der Feinde zugute. Als der letzte Lichtschimmer erlosch, waren die Angreifer nicht schlechter, sondern besser zu sehen! Ihre farblose, leichenhafte Haut begann geisterhaft zu leuchten, wie das phosphoreszierende Glimmen von Leuchtmoos sah es aus. Dadurch waren ihre Umrisse deutlich zu erkennen und verrieten jede ihrer Bewegungen. Es war ein gespenstischer Anblick, der einen das Gruseln lehren konnte, von den beiden Kämpfern jedoch nur begrüßt wurde. Klootz! sendete Hiero. Zu mir. Der große Ellk hatte ihnen die linke Flanke gedeckt, so wie der Bär die rechte, und mit seinen mächtigen Geweihstangen jeden Lemut zur Seite gefegt, der ihm nahegekommen war. Die Scheusale hatten sichtlich Angst vor ihm, und nur wenige hatten sich auf seiner Seite herangewagt. Jetzt sprang er mit einem Satz zwischen Hiero und Lucare und kauerte sich auf ein Wort seines Herrn nieder. Die beiden sprangen in den Sattel, ihre Speere den einen nach rechts, den anderen nach links eingelegt.
»Los!« brüllte der Priester. Rund um die Insel, mein Junge, befahl ein Gedanke. Trample sie nieder! Gorm, folge uns! Hiero hatte plötzlich die beste, und tatsächlich einzige erfolgversprechende Angriffsmethode entdeckt. Sobald er die spezifischen Eigenheiten der Froschwesen erkannt hatte, war ihm klar gewesen, was sie tun mußten. Einzeln waren die Biester keine Gefahr, aber in ihrer großen Überzahl konnten sie sehr wohl einen Gegner einkreisen, zu Boden reißen und ins Wasser ziehen. Wenn sie sich aber angegriffen sahen, auf festem Land noch dazu, wo sie mit ihren schwachen, flossenbesetzten Beinen praktisch hilflos waren, dann konnte sich die Lage gewaltig ändern! Der Riesenellk war ein Tier, das die Froschwesen noch nie gesehen hatten, und ihre schwachen Lanzenwürfe stachelten höchstens seine Wut an. Die niedrigen Büsche und Farnstauden bedeuteten nicht das geringste Hindernis für ihn, er stürmte einfach durch und mitten in die glimmende Mauer aus Riesenfröschen hinein, als wären sie überhaupt nicht vorhanden. Ihre klaffenden Mäuler voll nadelspitzer Zähne öffneten sich wie in lautlosen Schreckensschreien. Abgesehen von dem Stampfen und Schnauben des Ellks und dem Knurren des Bären wurde die Schlacht in völliger Stille ausgefochten. Noch während er wütend nach ihnen stach, machte das Rätsel dieser Wesen Hiero Kopfzerbrechen. Er hatte nicht die Spur einer geistigen Aktivität auffangen können, und da sie anscheinend stumm waren, wie in aller Welt verstän-
digten sie sich dann? Zweimal ging die wilde Jagd rund um die Insel, und verbreitete Panik und Entsetzen unter den phosphoreszierenden Heerscharen. Plötzlich schien es, als hätten die vier gesiegt, zumindest für den Augenblick. Keiner der beiden Menschen hatte irgendein Rückzugsignal bemerkt, aber auf einmal wich die Flut blaßschimmernder Leiber zurück, über den Strand und ins Wasser. Eben noch hatte die Insel gewimmelt von widerlichen Alptraumgestalten, im nächsten Augenblick tanzten zahllose leuchtende Klumpen auf dem Wasser und entfernten sich rasch. Hiero gab Befehl zum Halten und stellte fest, daß die Feinde auch die Toten und Verwundeten mitgenommen hatten. Vermutlich um sie zu fressen, dachte er angeekelt, denn von Wesen dieser Art konnte man nur das Schlimmste annehmen. »Sie sind weg«, keuchte Lucare und legte ihre blutige Lanze quer vor sich über den Sattel. »Ja, aber nicht weit; schau!« Ihre Insel war von einem Ring aus grünlichem, kaltem Feuer umgeben! Die amphibischen Horden lauerten draußen auf dem Wasser, ob schwimmend oder in ihren Schilfbooten, das war im Dunklen nicht zu erkennen. Etwas aber war klar – daß sie nicht weichen würden. »Ich glaube, die kommen noch einmal, vermutlich im Morgengrauen«, fuhr der Priester fort. »Ist jemand von euch verletzt?« Gorm, bist du in Ordnung? Klootz, keine Wunden? Ihre Waffen sind schwach. Ich dachte, sie wären vielleicht
an den Spitzen vergiftet, aber sie waren alle harmlos. Ich habe nicht einmal einen Kratzer. Klootz gab keine Antwort, schüttelte nur verächtlich sein mächtiges Geweih, daß seinen beiden Reitern Tropfen dunklen faulig riechenden Bluts ins Gesicht spritzten. »Brrr! Na, dir scheint ja auch nichts zu fehlen!« Sie stiegen ab und schauten eine Weile über das dunkle Wasser hinüber zu dem fahlglimmenden Kordon von Feinden. »Komm«, sagte Hiero schließlich. »Wir wollen unsere Waffen reinigen und ein bißchen was essen. Dann können wir uns ausruhen. Ich werde die erste Wache übernehmen. Meine Armbrust ist so gut wie fertig, und ich möchte noch ein paar Bolzen und Pfeile zurichten. Der Mond wird gleich aufgehen, dann ist es hell genug dafür.« »Ich werde nicht schlafen, während du arbeitest!« erklärte Lucare entschieden. »Gemeinsam können wir vielleicht beide Waffen fertig bekommen.« Die Liebe und das Vertrauen in ihrer Stimme erschütterten Hiero. Der wagte nicht einmal sich selbst einzugestehen, wie aussichtslos ihre Lage war. Was konnte der Morgen anderes bringen als einen neuen Angriff, und diesmal in überwältigender Überzahl? Daß er vorgab, die Armbrust vollenden zu wollen, sollte ihnen beiden nur das Unausweichliche vergessen helfen. Ringsum von Wasser umgeben und von Feinden eingekreist, deren natürliches Element das Wasser war – welcher Ausweg
blieb ihnen denn da noch? Keiner. Ein Vollkämpfer gibt niemals auf, hieß es in einem Teil seiner Ausbildung. Ein Priester vertraut auf die Hilfe Gottes, in einem anderen. Du hast schon öfters in der Klemme gesessen, denk an Manoun, sagte ein dritter. Plötzlich lachte er rauh auf, und Lucare warf ihm einen fragenden Blick zu. Sie sagte jedoch nichts, denn langsam lernte sie, daß ihr sonderbarer Geliebter seine Launen hatte. »Also gut«, sagte er, »machen wir uns an die Arbeit. Unsere zwei Freunde können Wache halten.« Es mußte weit nach Mitternacht gewesen sein, als Hiero plötzlich erstarrte, und seine geschickten Finger in der Arbeit innehielten. Er hatte die Führungsfeder in einem Armbrustbolzen eingesetzt, als er ein sonderbares Gedankensignal auffing. Irgend etwas Feindliches rührte sich in der Nacht, aber hinter einem Schild, den er nicht zu durchdringen vermochte. Trotzdem spürte er, daß es näher kam, wie in einer dunklen Wolke, die alles verbirgt, was sich in ihrem Inneren befindet. Rasch weckte er die anderen, denn Lucare hatte sich, trotz ihres guten Willens, schon vor längerer Zeit geschlagen geben müssen und war erschöpft eingeschlafen. Ich fühle es auch, meldete sich der Bär. Ich weiß nicht, was es ist, aber du hast recht; es kommt durch die Nacht auf uns zu, und zwar von dort. Er wies mit der Pranke nach Süden auf das offene Wasser. »Unreine!« brach Hiero verzweifelt los. »Diese verdammten Frosch-Lemut müssen ebenfalls ihre Verbün-
deten sein. Sie rochen förmlich danach, und ich konnte nicht zwei und zwei zusammenzählen!« Wir hätten früher versuchen sollen, von hier wegzukommen, selbst wenn wir uns durch diesen Ring da draußen hätten durchschlagen müssen. Diese Biester bedrohen wenigstens nur den Körper! Geduld, antwortete der Bär ruhig. Soweit es dir möglich war, hast du den besten Ausweg gewählt. Du bist unser Anführer. Wir sind schon anderen Fallen entronnen. Es trat ein kurzes gedankliches Schweigen ein, so als ob der rätselhafte, kluge Geist des Bären ganz ernsthaft etwas Neues erwöge. Was folgte, verblüffte Hiero – ein leises Regen von Humor. Wir wollen doch nicht sterben, bevor wir tatsächlich umgebracht werden. Hiero durchforschte die mondhelle Nacht mit allen Kräften seines Geistes. Jene unheimliche Ausstrahlung verstärkte sich weiter, bis schließlich, kurz vor Morgengrauen, auch er die Richtung angeben konnte, von der sich ihr Urheber näherte – immer noch, wie der Bär festgestellt hatte, von Süden. Er glaubte zu wissen, was sie bei Tagesanbruch sehen würden. Selbst die abgeschirmten Gehirne der Unreinen hatten etwas an sich, das unverkennbar war. Ruhig gab er den anderen seine Anweisungen, Klootz mit eingeschlossen. Lucare starrte ihn entsetzt an. »Müssen wir sterben, Liebster? Gibt es keinen Ausweg mehr, keine Hoffnung?« »Ich sehe keinen, Lucare. Sie haben mich schon einmal
gefangen, und ein zweites Mal werden sie keine Fehler mehr machen. Und meinem Gehirn, unseren Gehirnen, könnten sie Informationen entreißen, die ihnen vielleicht zum endgültigen Triumph verhelfen. Die uralten Waffen, die ich suche, würden ihnen ungeheure Macht verleihen, und Gorms Wissen und mein eigenes über neue geistige Kampfmethoden ebenfalls, so daß es ihnen einfach nicht in die Hände fallen darf.« Traurig lächelte er zu dem dunklen, bezaubernden Gesicht mit den schwarzen Ringellöckchen hinunter. »Ich habe zwei Gifttabletten«, fuhr er fort. »Hier ist eine. Klootz werden sie nicht lebendig fangen.« Gorm, kannst du kämpfend sterben? Wirst du es tun? Wenn es nötig ist, lautete die Antwort. Die Ältesten meines Volkes haben mir diese letzte Pflicht auferlegt, so wie es die deinen taten. Du brauchst nur ein Zeichen zu geben. Aber warten wir erst einmal ab, was der Morgen bringt. Lucare hatte ihn verstanden. »Ein trügerischer Morgen«, sagte sie bitter. »Was könnte er anderes bringen als Nacht und Tod?« Hiero unterdrückte den Kummer, den er um ihretwillen fühlte, und sprach mit einer Gelassenheit, die seine wahren Gefühle verbarg. »Gorm hat recht. Wir wollen nicht sterben, bevor die Zeit kommt. Wer weiß, was noch geschehen kann?« Er hatte einen Arm um ihre Schulter gelegt, und so standen sie beisammen auf dem höchsten Punkt ihres Inselchens und warteten auf den Morgen. Die beiden
Tiere warteten geduldig neben ihnen, und mitunter hörte man den Ellk laut aufschnaufen, wenn er witternd die Nachtluft einsog. Der phosphoreszierende Ring auf dem Wasser erlosch, als es im Osten grau wurde und langsam die Sonne aufging. Die schleimigen weißen Leiber auf den Schilfbooten hatten sich jedoch nicht von der Stelle gerührt. Ein letztes Mal erschallte der gräßliche Klageruf, der für sie zum Symbol der versunkenen Stadt geworden war. »Aaaooooh, aoooouh, aaaaooooh«, hallte es über das Wasser, von allen Seiten her, und wieder war nichts zu sehen, das den Ruf hätte ausgestoßen haben können. Das Echo zitterte durch die Ruinentürme, zwischen denen noch die Nacht lag, und erstarb endlich, als die große rote Sonnenscheibe am Ende einer langen Wasserstraße auftauchte. Und mit dem neuen Tag kamen auch jene, die die vier so lange gejagt hatten. Durch die breite Lücke im Süden glitt jenes verhaßte schlanke Eisenschiff vom offenen Meer herein, auf dem Hiero gefangen gewesen war. Vielleicht war es nur ein ähnliches Fahrzeug, dachte der Priester, doch das war jetzt nicht mehr von Bedeutung. In jenem schwarzen Rumpf kam ihr unausweichliches Ende heran. Die bleichen Lemut, deren glitschige nackte Körper im Morgenlicht fahl schimmerten, paddelten und schwammen beiseite, als der Bug des schwarzen Schiffs auf sie
zuhielt. Eine Lücke bildete sich in ihrem Ring, und das Schiff glitt langsam hindurch, und trieb dann, offenbar mit gestoppten Maschinen, auf die kleine Insel zu. Hinter ihm schloß sich der Kreis der wartenden Scheusäler wieder. Immer mehr strömten von außen heran, und der Ring zog sich zusammen, bis die Froschwesen das schwarze Schiff umgaben wie schmutziger Schaum. Hiero hatte unablässig seine Gedankenpfeile gegen das feindliche Schiff abgesandt, schon bevor es überhaupt in Sicht gekommen war. Jetzt, als es kaum hundert Meter vor der kleinen Insel beidrehte, gab er die fruchtlosen Attacken auf und begnügte sich damit, seine eigene Verteidigung aufrechtzuerhalten, obwohl er immer noch auf den unwahrscheinlichen Glücksfall wartete, daß die Unreinen ihre Abschirmung fallenließen. Er wußte wohl, daß die Chancen dafür unendlich gering waren. Lucare an seiner Seite zitterte, das konnte er fühlen, aber als sein Blick ihr Gesicht streifte, stellte er mit Stolz fest, daß sie gefaßt und ruhig war. Auf der offenen Brücke des schwarzen Boots stand ein Adept, umgeben von menschlichen Gehilfen und mehreren Zottelheulern. Es war nicht Sduna, aber die äußere Ähnlichkeit war wiederum verblüffend. Hiero ließ sich jedoch durch den geschorenen Schädel und das gleiche Aussehen nicht mehr täuschen. Dieser Mann war es, der sie schließlich auf Batwah anrief. »Priester, jetzt haben wir dich, samt deinem Viehzeug und deiner schmutzigen Metze. Bist du bereit, dich
kampflos zu ergeben?« Die Stimme klang wie die von Snerg und Sduna klar, kalt und höhnisch. Ihr Ton sollte einschüchtern, Unsicherheit und Angst hervorrufen. Sie hatte jedoch keine dieser Auswirkungen. Hiero lachte bloß. »Ihr möchtet immer noch gern mein Gehirn haben, was, Kahlkopf?« sagte er. Der Abstand war jetzt so gering, daß er kaum die Stimme heben mußte. Mit Genugtuung bemerkte er, daß sich das blasse Gesicht des anderen verfärbte, während die Heuler ein wütendes Geschnatter erhoben. Hiero warf einen raschen Blick auf das Vorderdeck. In seinem Innersten hoffte er verzweifelt, daß die Blitzkanone, die er dort sah, eingesetzt würde. Das Silberamulett, das ihn damals gerettet hatte, war nicht mehr vorhanden, und ein solcher Zufall passiert nur einmal in einer Million Fällen. Es wäre jedenfalls ein schneller Tod gewesen, und sie hätten nicht viel davon gespürt. Die beiden Kapuzenmänner, die die Waffe bedienten, waren jedoch gut gedrillt. Reglos warteten sie auf ein Zeichen ihres Meisters. Der Adept winkte aber nur nachlässig mit der Hand, und die Heuler verstummten abrupt. Sein kahler Schädel neigte sich anerkennend, und seine nächsten Worte überraschten Hiero. »Du bist kühn, Priester eines vergessenen Gottes, und auch mutig. Eigenschaften, die wir schätzen. Du bist in unserer Hand, aber wir brauchen den Griff um euch
nicht zu schließen. Was wäre, wenn wir dir immer noch ein Bündnis anböten? Ich gebe es offen zu, die Bruderschaft könnte deinen Geist gebrauchen, einen mächtigen und willensstarken Geist, wie ich selbst sehe. Sduna hat mich ausgesandt, mich, Scarn, einen kaum geringeren, um mit dir zu verhandeln, obwohl ich nicht verstehen kann, warum du immer noch mit diesen Tieren zusammen bist, vor allem mit diesem nutzlosen Bären.« Im letzten Satz klang echtes Erstaunen mit. Der Metz zögerte mit seiner Antwort nicht eine Sekunde. »Du lügst, Scarn, wie alle in eurer schmutzigen Bande! Sduna fürchtet sich sogar jetzt noch vor mir, sonst wäre er selbst gekommen, um meine Gefangennahme mitzuerleben oder mich sterben zu sehen. Ihr habt eine Maschine auf eurem Schiff, die allein euch davor schützt, daß ich euch mit meinem Geist töte. Nun, so kommt und holt uns! Ich verachte diese Mannschaft von Unreinen, deine ganze hinterhältige, pervertierte Bruderschaft und vor allem dich selbst, du kahlgeschorener Meister der Fäulnis!« Als er zu dem kaum einen Steinwurf entfernten Schiff hinüberstarrte, glaubte Hiero einen Atemzug lang, mit seinem Manöver Erfolg gehabt zu haben. Scarns Gesicht verzog sich zu einer haßerfüllten Maske der Wut, und seine Hände krampften sich um das Geländer der Kommandobrücke. Zu Hieros tiefster Enttäuschung beherrschte sich der Dunkle jedoch und befahl nicht den augenblicklichen Tod, den der Priester für sich und seine
Gefährten gesucht hatte. Als der Adept wieder sprach, war seine Stimme rauh und voll Haß. »Du suchst einen schnellen Tod, Priester, und wenn wir dich nach Manoun gebracht haben, wirst du sogar zu deinem närrischen, nichtexistenten Gott darum beten, das verspreche ich dir. Und dein Gebet wird sich nicht erfüllen, dafür will ich persönlich sorgen!« Er drehte sich zu seinem dichtgedrängten Gefolge um, das schweigend seine Befehle erwartet hatte. »Setzt das Schiff mit dem Bug an Land und nehmt sie gefangen! Bringt sie mir lebend!« Hiero ließ den rechten Arm von Lucares Schulter gleiten und hob seine Armbrust, die er in der gesenkten Linken gehalten hatte, fertig gespannt, mit einem der neuen, bronzeverstärkten Bolzen auf dem Steg. Er legte auf Scarn an, der, den Rücken zu ihm gewandt, nichts von der Gefahr bemerkte. Aber der Metz drückte niemals ab. »Frieden!« Die Stimme, die plötzlich über das Wasser schallte, war so kräftig und volltönend, daß die des Dunklen Meisters im Vergleich dazu schwächlich und dünn klang. Mit jenem einen Wort auf Batwah übernahm die Stimme die Kontrolle über die Situation. Hiero ließ seine Waffe sinken und starrte fassungslos auf den Neuankömmling. Ein kleines hölzernes Kanu war, unbemerkt von allen, hinter der Insel hervorgeglitten. Im Heck saß ein alter Mann, ein Paddel über den Knien, einfach gekleidet in
ein braunes Hemd und ebensolche Hosen sowie weiche Lederstiefel. Er hatte langes, weißes Bart- und Haupthaar und schien, bis auf ein Messer im Gürtel, völlig unbewaffnet zu sein. Seine Haut war sehr dunkel, so dunkel wie die Lucares, und seine schneeweißen Haare waren ebenso wie ihre schwarzen in viele winzige Locken gekräuselt. Der Führer der Unreinen schien nicht weniger verblüfft zu sein als Hiero. Er brauchte einige Sekunden, um sich wieder zu fassen. Sein Blick schoß unruhig hierhin und dorthin, als er nach weiteren Gegnern Ausschau hielt. Es erschien ihm unvorstellbar, daß ein einzelner Greis wie aus dem Nichts auftauchen konnte und sich ohne jede Rückendeckung in seine Macht gab. »Was suchst du hier, Elfer?« zischte er. »Bist du von Sinnen, daß du zwischen mich und meine Beute trittst? Selbst ihr sentimentalen Narren solltet wissen, was wir mit denen tun, die sich uns entgegenstellen!« Ein Elfer! Natürlich! dachte Hiero. Einer von der Bruderschaft des Elften Gebots. Aber was tat der alte Mann hier? War er wirklich von Sinnen, daß er so den Feinden in die Hände laufen konnte? In seinem Geist jagte eine Frage die andere. Aber jetzt sprach der Alte wieder. »Diener des Bösen, ich fordere dich auf, mitsamt deiner Gefolgschaft von Unreinen diesen Ort zu verlassen. Entfernt euch, auf der Stelle, und hört auf, diese Wanderer zu bedrängen, die Zweibeiner wie die Vierbeiner. Ich, Bruder Aldo, befehle
dir dies. Widersetzt euch nicht, es würde euren sofortigen Tod bedeuten.« Das war zuviel für Scarn. Selbst Hiero war jetzt schon beinahe überzeugt, daß der alte Bursche den Verstand verloren haben mußte. Ein großes Schiff voller Unreiner, Lemut und teuflischer Waffen zu bedrohen, wenn man allein und unbewaffnet in einem zerbrechlichen Kanu saß, war wohl der Gipfel der Verrücktheit. »Wir haben Glück, du alter Narr, dich als Zugabe zu jenen dort mitnehmen zu können. Höre mit deinem senilen Geschwätz auf und ergib dich auf der Stelle, bevor ich die Geduld verliere.« Bruder Aldo, wie er sich genannt hatte, erhob sich und blieb aufrecht in seinem Boot stehen. Er war groß und hager und stand, trotz seines Alters, sehr sicher in dem schmalen Kanu. »Wir töten nur ungern, Meister der Unreinen, selbst solche wie dich.« Er reckte den Arm gegen das Schiff. »Zum letzenmal, ich befehle dir, dich zu entfernen, sonst kommt die Vernichtung über euch! Siehst du nicht, daß eure Verbündeten geflohen sind, zurückgerufen von jenem Wesen, das über sie herrscht?« Fassungslos sah sich Hiero um. Es stimmte. Mit dem Auftauchen des alten Elfers und der Wendung, die er den Ereignissen gegeben hatte, waren die Frosch-Lemut verschwunden wie fortgezaubert! Lautlos und unbemerkt hatte sich der breite Kordon ihrer Leiber aufgelöst. Nicht ein einziges Schilfboot, keine einzige der blassen
Gestalten war mehr zu sehen. Das schwarze Schiff und das winzige Kanu, vielleicht hundert Meter voneinander entfernt, waren allein auf der blauglitzernden Lagune. Selbst Scarn schien nun bestürzt zu sein. Seine Mannschaft begann unruhig zu murmeln, einer der Heuler stieß einen schrillen Angstton aus. Der Adept brachte sie jedoch zum Schweigen. »Still, ihr schnatternden Feiglinge! Und was dich betrifft, alter Störenfried, so habe ich jetzt genug von deinem närrischen Geschwätz! Komm und ergib dich, oder du bist des Todes!« Aber in seinem fahlen Gesicht stand plötzlich Furcht, die er vergeblich zu unterdrücken versuchte. Der alte Mann war ihm unheimlich. Bruder Aldo ließ seinen Arm sinken, und ein Ausdruck von Trauer huschte über sein dunkles Runzelgesicht. »So muß es also sein. Der Eine weiß, daß ich es ungern tue.« Mit diesen Worten setzte er sich schnell in seinem Boot wieder hin und hob sein Paddel. Und das schwarze Schiff wurde hochgerissen, hoch in die Luft! Es stak quer im Maul eines so ungeheuren Fisches, daß es auf einmal nur mehr wie ein Spielzeug wirkte. Allein die glänzenden scharfen Zähne des Ungeheuers, stellte Hiero halb betäubt fest, waren gut so lang wie er selber! Und es war alles so schnell gegangen, daß die Mannschaft nicht einmal mehr Zeit zum Schreien gehabt hatte. Eine Sekunde lang hing das Schiff gute zehn Meter über der aufgewühlten Wasserfläche, dann schüttelte
sich das Monster kurz, und das große Schiff zersplitterte zwischen seinen Kiefern wie Zunderholz. Als die Bruchstücke ins Wasser klatschten, tauchte der Leviathan in die kochende Flut. Im nächsten Moment fuhr eine zumindest dreißig Meter breite, gespaltene Schwanzflosse hoch. Mit einem explosionsartigen Knall schmetterte sie auf die Reste des Schiffs und die wenigen Überlebenden herunter, die schreiend und um sich schlagend auf dem Wasser trieben. Haltet euch fest – an Klootz' Beinen! sendete Hiero hastig, da er wußte, was nun kam. Eine riesige Flutwelle brauste über den Strand der kleinen Insel hoch, und einen Sekundenbruchteil später standen die beiden Menschen und der Bär bis zu den Hüften im heranschäumenden Wasser. Die Warnung des Priesters war gerade noch rechtzeitig erfolgt, denn der große Ellk stand unerschütterlich fest und gab ihnen Halt. Gorm hatte ebenfalls seine mächtigen Vorderpranken um einen knochigen Lauf geschlungen, während Hiero sowohl ein Ellkbein als auch Lucare umklammerte. Das Wasser verebbte so schnell, wie es heraufgeströmt war, und die vier Wanderer starrten fassungslos über die veränderte Lagune. Wo das Schiff der Unreinen gelegen hatte, breitete sich jetzt ein langer, schillernder Ölstreifen aus, und hier und da brachen gurgelnd ein paar Luftblasen durch den schmierigen Film. Von dem Schiff und seiner finsteren Mannschaft war nichts mehr zu sehen. In weniger als dreißig Sekunden war es verschwunden wie
ein Spuk. Nur das kleine Kanu lag, halb mit Wasser vollgeschlagen, schaukelnd auf dem aufgerührten See, und sein einsamer Insasse schaute traurig zu dem trüben Schmutzfleck auf dem zuvor so klaren Wasser. Hiero ließ Lucare los und watete durch das triefende Gras zum Strand hinunter. Als er das Ufer erreichte, sah er, daß das Boot herangeschossen kam, von kräftigen Paddelschlägen vorwärtsgetrieben. Im nächsten Augenblick knirschte sein Bug über den Sand, und sein hochgewachsener Insasse sprang an Land; die geschmeidigen, kraftvollen Bewegungen des weißhaarigen Alten straften sein greisenhaftes Äußeres Lügen. Die beiden Männer musterten einander prüfend. Hiero blickte zu einem Gesicht auf, das eine solche Stärke und Ruhe ausstrahlte, daß es beinahe übermenschlich wirkte. Die dunkelbraune, fast schwarze Haut war von tausenden Runzeln durchzogen, und doch frisch und gesund. Unter der breiten, stumpfen Nase prangte ein buschiger, gekräuselter Schnurrbart, der unmerklich in den weißen Lockenbart überging, der sein Gesicht rahmte. Die weiße Lockenfülle des Haupthaars fiel dem Alten bis auf die Schultern und war sauber gekämmt. Doch die Augen waren das Beherrschende in diesem Gesicht. Nachtschwarz und funkelnd, sprühend vor Humor und Lebensfreude, schienen sie zur gleichen Zeit auch den Ernst und die Härte von schwarzem Granit auszustrahlen. Dies waren Augen, die das Leben liebten, die alles gesehen, alles untersucht hatten, die immer noch
nach Neuem forschten, und jeden Tag Neues fanden. Hohes Alter und Weisheit war in ihnen zu lesen, aber auch jugendliche Lebensfreude und Gesundheit. Hiero fühlte sich augenblicklich zu dem Mann hingezogen. Er streckte die Rechte aus, und eine lange feingliedrige Hand ergriff sie und hielt sie fest. »Per Desteen von der kandischen Universalkirche, vermute ich«, sagte eine tiefe Stimme. »Ein Mann, der zur Zeit von allen möglichen Leuten für alle möglichen Zwecke gesucht wird.« Mit einem kleinen Schock wurde Hiero sich bewußt, daß Bruder Aldo Metz sprach, und völlig akzentfrei obendrein. Bevor er jedoch zu einer Antwort Zeit fand, lächelte der alte Mann fast ein wenig verlegen. »Pure Angabe, Per Desteen. Ich war immer für Sprachen ziemlich begabt und habe vor langer Zeit so viele gelernt, wie ich nur konnte. Nun, und wen haben wir hier?« Er wandte sich halb um und musterte Lucare nicht weniger eindringlich, wie er es bei ihrem Geliebten getan hatte. Sie lächelte und streckte ihm ihre Hand entgegen. »Du hast unsere Feinde getötet, Vater, und wir danken dir für unsere Rettung.« »Ja, Prinzessin von Dalwah, ich mußte töten.« Er seufzte und ergriff ihre Hand mit der Linken, da er Hieros immer noch in der Rechten festhielt. Ihre Überraschung darüber, daß er sie kannte, beachtete er nicht.
»Manchmal ist Töten notwendig«, fuhr er fort, seit Lucares Hinzutreten wieder in Batwah, und blickte jetzt beide ernst an. »Es darf jedoch niemals ein Vergnügen sein. Wir brauchen nicht täglich zu töten, um unseren Hunger zu stillen, wie es die niedrigen Tiere tun müssen. Ja, sie sind eine Last auf meinem Gewissen, all diese Seelen, auch wenn sie nichts als Laster und Bosheit kannten. Denn ich liebe das Lebendige. Alles Leben.« Er gab die Hände der beiden frei. »Wir haben viel zu besprechen, wir drei. Oder, wie ich besser sagen sollte, wir vier.« Sei gegrüßt, Freund, richtete er einen Gedanken an Gorm, der herangetrottet war und jetzt, im Sand kauernd, den alten Mann begutachtete. Sei gegrüßt, Menschen-Ältester, antwortete das Bärengehirn. Wir haben dir viel zu verdanken. Wir stehen in deiner Schuld. Wir werden sie dir zurückzahlen (für dich jagen). So soll es sein, wenn du dich wirklich verpflichtet fühlst, lautete die höfliche Antwort. Nun wollen wir miteinander sprechen. Ich bin, wie die beiden Menschen schon vernommen haben, Bruder Aldo, in Demut einer der höheren Diener des Elften Gebots. Ich wurde ausgesandt, um euch zu finden und – wenn möglich – in Sicherheit zu bringen. Warum? Es war Lucare, die das fragte, mit einem noch nicht sehr klar ausgeprägten, aber durchaus verständlichen Gedankensignal, Beweis ihrer wachsenden Sicherheit in dieser Verständigungsart. Warum? Bruder Aldo sah sie prüfend an. Hast du jenen schon vergessen, der dir vor langer Zeit Sicherheit versprach,
und sich in die Hände des Feindes gab, um dich zu retten? »Wie könnte ich?« Erschütterung ließ sie in mündliche Sprache zurückfallen. »Du meinst Jon, nicht wahr, Vater? Lebt er noch? Konntet ihr ihn retten?« Ja, ich meinte Bruder Jon, Kind. Und es sollte kein Vorwurf sein, was ich sagte. Sieh, ich bin viel älter als irgendeiner von euch, wahrscheinlich sogar älter als ihr alle zusammengenommen, aber trotzdem sollt ihr mich ›Bruder‹ nennen. Der Mensch-Bär hier (er wies auf Gorm) hat mich als einen ›Ältesten‹ bezeichnet, und das bin ich. Einem Vater jedoch wird eine Autorität zugeschrieben, die ich weder besitze noch anstrebe. Ein Vater gibt Anordnungen, ich höchstens Ratschläge. ›Per‹ bedeutet › Vater‹ in einer alten Sprache, sendete Hiero mit einem leicht trotzigen Unterton. Ich weiß, und ich glaube, eure Kirche tut nicht recht daran, diesen Titel zu verwenden. Aber weshalb diese Abschweifungen? Wirklich, ich werde alt. Setzen wir uns. Wir wollen Gedanken austauschen. Als sie sich alle bequem auf dem schon fast wieder trockenen Sand niedergelassen hatten, stellte Hiero die Frage, die ihm als die vordringlichste erschien. Sind wir noch in Gefahr, unmittelbar, meine ich? Nein, sonst würde ich nicht hier sitzen. Mein Bruder dort draußen wird warten, wenn ich es wünsche. Mit einer Kopfbewegung wies er auf die jetzt wieder stille Wasserfläche. Während sie alle hinstarrten, tauchte erst ein zersplitterter Balken, dann ein zweiter auf. Mit der Zeit
wuchs die Ansammlung von treibenden Wrackteilen. Wie, um Himmels willen, kontrollierst du dieses Ungeheuer? Ich hätte nie gedacht, daß es ein Wesen dieser Größe überhaupt geben könnte, oder daß etwas mit einem so unwahrnehmbar niedrigen Intelligenzniveau überhaupt beherrscht werden kann. Du wirst also noch einiges zu lernen haben, Per Desteen, lautete die trockene Antwort. Ich möchte deine geistigen Kräfte nicht schmälern, aber es wäre ein langwieriges Unterfangen, dich das zu lehren, was in diesem Fall nötig ist. Ich will nur soviel sagen, daß es sich hier um neurale und nicht zelebrale Kontrolle handelt. Diese Methode ist keineswegs immer zuverlässig. Siehst du, die Verständigung mit unseren primitiveren Brüdern war und ist eines der Hauptanliegen unseres Ordens. Wir suchen seit jeher schon Kontakt mit jeder Lebensform, der wir begegnen. Bruder Aldo schlang die Arme um seine Knie und fuhr nach einer kurzen Pause fort. Nun, wir haben nicht viel Zeit. Bevor wir uns mit Einzelheiten befassen, brauche ich jedoch Informationen. Ihr habt ja keine Ahnung, welche Aufregung ihr vier in weitem Umkreis gestiftet habt. Dieser Teil der Welt befindet sich in geistigem und physischem Aufruhr, nur euretwegen. Ihr stört das Gleichgewicht, das hier mühsam hergestellt wurde. Also, Per Desteen, du führst eure kleine Schar an. Möchtest du mir kurz berichten, warum ihr hier seid und was sich in letzter Zeit alles ereignet hat auf eurer Reise? Ich werde mich bemühen, dich nicht zu unterbrechen.
Hiero überlegte kurz. Die Frage war, wie weit konnte er dem alten Elfer vertrauen? Er hatte alle Angehörigen des Ordens, die ihm bisher begegnet waren, sympathisch gefunden, aber dies hier war kein bescheidener Lehrer oder wandernder Kräuterkundiger oder Tierarzt, sondern ein höchst respekteinflößender alter Mann, dessen geistige Kräfte dem Metz förmlich den Atem nahmen. Bruder Aldo wartete geduldig, während Hiero hin und her überlegte. Endlich blickte er auf, in die dunklen, weisen Augen des Alten. »Ich weiß nicht, was der Abteirat dazu sagen würde, Bruder«, sagte er gedankenlos laut auf Metz, »aber ich glaube, ich kann dir vertrauen. Ein Geheimnis werde ich, wenn du gestattest, für mich behalten – das Ziel meines Auftrags. Alles andere sollst du erfahren.« Ich weiß dein Vertrauen zu schätzen, kam der Antwortgedanke. Aber benutze bitte deinen Geist, das erspart uns Zeit. Auch müssen alle hier zuhören und verstehen können. Mache dir keine Sorgen, daß die Feinde unsere geistige Unterhaltung belauschen könnten. Das Wesen, das in der versunkenen Stadt haust, hat sich zurückgezogen und seine Kreaturen, die Frosch-Lemut, wie ihr sie nennt, mitgenommen. Nichts bedroht uns mehr, jedenfalls nicht in der näheren Umgebung. Und so berichtete Hiero, während der neue Tag über den Himmel heraufstieg, von seiner Reise mit Klootz, und von seinem Zusammentreffen mit den anderen. Er begann bei seiner Unterredung mit dem alten Abt Deme-
ro in der Abtei und verschwieg nichts, mit Ausnahme dessen, was er suchen sollte. Weiter und weiter führte seine Geschichte, durch die Taig, den Palud, an den Küsten der Inlandsee entlang, auf die Tote Insel Manoun, und schließlich in die versunkene Stadt. Als er geendet hatte, sah Hiero nach der Sonne und stellte erstaunt fest, daß sein Bericht kaum länger als eine Viertelstunde gedauert hatte, da sie nur unmerklich weitergewandert war. Bruder Aldo saß schweigend da und starrte in den Sand hinunter. Endlich blickte er sie alle der Reihe nach an. Nun, das war eine gute Geschichte. Ihr könnt alle stolz auf euch sein. Aber nun habe auch ich euch etwas zu erzählen, eine weniger abenteuerliche und mehr historische Geschichte. Aber es ist eine, die ihr erfahren sollt, die ihr erfahren müßt, bevor wir unseren Weg weitergehen. Sie beginnt nicht vor zwei Monaten, auch nicht vor zwei Jahren, sondern vor fünf Jahrtausenden und mehr, weit in der Vergangenheit, in der vergessenen Zeit vor dem ›Tod‹.
9 Die Seefahrer Wenn ihr um euch blickt, meine Kinder, begannen Bruder Aldos Gedanken zu erzählen, dann seht ihr eine Welt mit grünen Wäldern und Wiesen, blauen Seen und Flüssen, goldenen Prärien und Marschen. Und überall hausen heute bösartige Geschöpfe – genauso aber findet man überall ungezählte Wunder in der unendlichen Schönheit der Natur. Die singenden Vögel, die atmenden Pflanzen, scheue Tiere und wilde Jäger, alle haben ihren Platz. Allein und unbeeinflußt ändern sie sich nur langsam, sehr langsam weicht eine Art der nächsten, im Laufe von Jahrhunderten, Jahrtausenden. Dies ist der geregelte Lauf der Natur, der Plan, dem nach dem Willen des Schöpfers alles Lebende gehorchen sollte. Vor dem ›Tod‹ jedoch, da änderte sich alles viel zu rasch, und fast nur zum Schlechten hin. Die Welt, die ganze Erde und auch dieser Kontinent hier, der einst Nordamerika hieß, lag im Sterben. Die Erde wurde erstickt in künstlich produziertem Schmutz, in Abfall und Giften. Seine alte Hand wies auf den Ring verfallener Türme, die die Lagune säumten. Schaut dort. Der ganze Planet Erde wurde mit solchen Dingen bedeckt! Gewaltige Gebäude verdunkelten die Sonne. Der Erdboden wurde mit Stein und anderen harten Stoffen überzogen, so daß er nicht mehr atmen konnte. Riesige Gebilde von Menschenhand erhoben sich überall, nur damit noch mehr davon entstehen konnten, und der Rauch und Gestank der Maschinen und Geräte, die dazu verwendet wurden, verpeste-
ten die Luft unseres Heimatplaneten mit giftigen Schwaden. Er verstummte für einige Augenblicke und starrte traurig vor sich hin. Aber das war noch nicht genug. Die Erde selbst zitterte. Ungeheure Schiffe, gegen die dieses Motorboot der Unreinen wie ein Kinderspielzeug gewirkt hätte, wälzten sich durch die Ozeane und vergifteten auch sie. Selbst am Himmel gab es keinen Frieden – die Luft dröhnte mit dem Donner großer Flugmaschinen, deren Geschwindigkeit so groß war, daß allein durch die Vibration Stein zerbarst. Auf unzähligen, endlosen Steinstraßen rasten Myriaden von Rädermaschinen dahin, die Waren und Menschen hierhin und dorthin beförderten, und ihre giftigen Abgase verpesteten die kranke Atmosphäre noch mehr. Am schlimmsten aber waren die Menschen selbst. Die zankenden, sich sinnlos vermehrenden, hetzenden, wahnsinnigen Menschen! Die Völker der Erde konnten nicht, oder wollten nicht, zur Vernunft gebracht werden. Nicht nur weigerten sie sich einzusehen, daß sie alles andere Leben der Erde vernichteten, sie sahen auch nicht ein, daß sie sich selber umbrachten! Denn sie vermehrten sich, vermehrten sich immer schneller, setzten gedankenlos Kinder in die Welt. Trotz furchtbarer Armut, Unwissenheit, Krankheit und endlosen Kriegen überlebte die Menschheit nicht nur, sie nahm zu, nahm unaufhaltsam zu. Jedes Jahr gab es Millionen Menschen mehr. Und mehr und mehr, bis endlich die Katastrophe nicht mehr aufzuhalten war. Weise Männer warnten sie, Wissenschaftler und humanitäre Gruppen beschworen sie. Gott und Natur sind
eins, sagten diese Leute, deshalb kann man sich nicht ungestraft gegen sie vergehen. Ein paar hörten auf die Warnungen. Sogar mehr als nur ein paar. Sie beschlossen, auf den Kindersegen zu verzichten, aber es waren nicht genug. Gewisse religiöse Führer, Männer, die sich geistliche Hirten nannten und sich aufwarfen, für die Menschen zu sprechen, aber keine Weisheit und kein Wissen hatten, abgesehen von ihrer überlebten, längst abgestorbenen Hagiografie, wiesen alle Warnungen und Ratschläge starrsinnig und unbelehrbar zurück. Andere Männer, die Reichtum und Militärs kontrollierten, wollten mehr Macht erlangen. Mehr Menschen sollte es geben, nach ihrem Willen, die herstellen und verbrauchen würden, was sie verkauften, mehr Menschen, um die Kriege auszufechten, die sie im Namen dieser oder jener politischen Überzeugung anzettelten. Und so kämpften Völker gegen Völker, Rassen gegen Rassen, Weiß gegen Gelb, Schwarz gegen Weiß. Das Ende kam unausweichlich. Es mußte kommen! Männer der Wissenschaft, die seit langem in den Laboratorien jener alten Welt die verschiedenen Säugetierarten untersucht hatten, sagten es voraus. Man kann Leben auch durch allzuviel Leben zerstören. Wenn Überbevölkerung und Platzmangel, Schmutz und Lärm überhand nehmen, dann bricht an einem bestimmten Punkt unabänderlich Wahnsinn aus. Wir heute nennen jenen Wahnsinn den ›Heißen Tod‹. Auf der ganzen weiten Welt, zu Lande, auf dem Wasser und in der Luft tobte ein unbarmherziger, totaler Vernichtungskrieg. Es gab weder Sieger noch Besiegte. Harte Strahlung, entsetzliche chemische
Gifte und künstlich geschaffene Seuchen rotteten fast alle Menschen aus, und einen Großteil der Tier- und Pflanzenwelt. Einige hatten sich vorbereitet. Als die Gifte sich im wesentlichen aufgelöst hatten (ganz sind sie noch nicht verschwunden), da kamen ein paar Überlebende aus ihren Verstecken. Die meisten waren Wissenschaftler jener Zeit, Fachleute auf dem Gebiet, das man ›Ökologie‹ nannte, die Lehre von der Wechselwirkung alles Lebendigen. Das Elfte Gebot, wie wir es nennen – nicht um die unvergänglichen Zehn zu verhöhnen, eher um sie zu ergänzen – wurde verkündet. Es lautet: DU SOLLST NICHT DIE ERDE ZERSTÖREN, UND NICHT DAS LEBEN, DAS SIE TRÄGT. Fünftausend Jahre und mehr haben wir beobachtet, wie es mit der Menschheit langsam wieder bergauf ging. Wir taten unser Bestes, um zu helfen und den Menschen einen natürlichen und vernünftigen Wiederaufstieg zu erleichtern, einen Aufstieg, der diesmal im Einklang mit der Natur, mit allem Leben überhaupt sein sollte. Wir sahen vieles, das gut war, und vieles, das schlecht war. Viele Tierarten von damals haben nun Intelligenz erlangt, die Intelligenz von Menschen (wenn man Menschen intelligent nennen will). Er richtete einen Gedanken an Gorm allein, und Hiero ›spürte‹, wie der Geist des Bären ein wenig unruhig reagierte. Dann fuhr Bruder Aldo mit seinem Bericht fort.
Aber vor langer Zeit bildete sich eine zweite Gruppe von Überlebenden der alten Wissenschaften, vor allem der Psychologie, der Biochemie und Physik. Sie strebten nichts weniger an, als die uralte Vorherrschaft der Menschen auf der Erde wiederherzustellen, die mit dem ›Tod‹ ein Ende gefunden hatte. Alle jene teuflischen Maschinen und von Maschinen hergestellte Dinge, die schließlich das Leben auf der Erde fast vernichtet hatten, erschienen ihnen erstrebenswert und schön. Sie suchten sich viele Arten von gefährlichen, aber nicht lethalen Mutationen (ihr nennt sie Lemut, Per Desteen, doch ist dieses Wort aus einem sprachlichen Mißverständnis entstanden) und züchteten sich Sklaven daraus, Diener, denen sie einen angeborenen Haß gegen alle normalen Menschen mitgaben. Alle diese Verfechter vergangenen Wahnsinns nennen wir kollektiv die Unreinen. Ein passender Name. Hauptziel dieser bösartigen Epigonen der alten Zeit ist es, alle sich neu formierenden Gruppen von Menschen zu vernichten, sofern sie sie nicht in ihre Macht bekommen können. Dazu infiltrieren sie diese Gruppen, werden geheime Ratgeber oder Verbündete jener Menschen, die selbst nach Macht streben. Per Desteen, du hast dies zweifelsohne längst vermutet. Aber du, Prinzessin, hast du je darüber nachgedacht, warum unser Volk – denn ich wurde als einer von euch geboren – warum unser Volk dauernd Krieg führt, sinnlosen Krieg, der nichts als Leid und Böses hervorbringt? Seit langer Zeit beobachtet unsere Bruderschaft jene bösartigen Geheimgesellschaften, und lange merkten sie es nicht. Eine Schwäche ist allen schlechten Menschen ihrer Sorte ge-
mein. Gleichgültig wie klug und entschlossen sie sind, jeder einzelne von ihnen begehrt die absolute Herrschaft über die anderen. Deshalb fällt es ihnen immer schwer, zusammenzuarbeiten und ihre Handlungen einem gemeinsamen Ziel unterzuordnen. Wir hofften natürlich, daß diese Schwäche, dieser Mangel an Zusammenhalt ihre Gruppen von innen her zersetzen und schließlich zu ihrer Selbstvernichtung führen würde. Sie waren noch wenige, so wie wir auch, deshalb hielten wir das für möglich, ja sogar für wahrscheinlich. Nun, nachträgliches Bedauern ist sinnlos. Wir hatten uns geirrt. Ein pervertierter Genius stieß zu ihnen, vor rund tausend Jahren, und schuf ein politisches System, das ihnen Zusammenarbeit ohne dauernde Zwistigkeiten ermöglicht. Jetzt sind sie vielleicht in ein Dutzend Einzelgruppen gegliedert, von denen jede in ihrem eigenen geographischen Bereich souverän herrscht. Der Aufstieg eines einzelnen ist nur in seiner Gruppe möglich. Aber – und das ist das große Aber – die Großmeister jeder Gruppe bilden einen ständigen Rat, der jeden Gruppen- oder Minderheitsbeschluß zum Wohle aller umstoßen kann. Das Resultat ist eine brutale, bösartige, aber gut funktionierende Oligarchie, die für die Unreinen wie zugeschnitten ist. Diese Struktur ist ja ganz wie die der Abteien, warf Hiero ein. Das stimmt. Schau, jede gute Idee kann für einen schlechten Zweck ausgenutzt werden, das war immer so. Aber laß mich fortfahren. Wir alten Leute verlieren so leicht den Faden. Der
Gedanke war begleitet von einem Aufblitzen von Humor. Nun, auf diesem Kontinent gibt es mehrere, immer stärker werdende Gruppierungen normaler Menschen. Die Konföderation von Kanda mit der Republik Metz im Westen und der Otwah-Liga im Osten ist sicher die am weitesten fortgeschrittene, sowohl soziologisch als auch wissenschaftlich. Die Stadtstaaten im Südosten, wie Dalwah etwa, haben zwar ein großes menschliches Potential, aber sie sind gelähmt durch ein archaisches Gesellschaftssystem und durchsetzt mit Agenten der Unreinen. Damit muß erst aufgeräumt werden, bevor diese Länder teilnehmen können am Überlebenskampf der Menschheit. Weit im Westen und Süden gibt es noch andere. Wir brauchen uns hier nicht mit ihnen zu befassen, doch will ich euch sagen, daß die Bruderschaft des Elften Gebots auch über jene Gegenden zu wachen sucht. Nun sind wir zum Jetzt und Hier gelangt. In den letzten fünfzig Jahren haben sich alle Kräfte der Unreinen zu einer Kampagne gegen die Konföderation von Kanda vereint. Wir hofften, dieser immer gefährlicher werdende Angriff könnte ohne unser direktes Eingreifen abgewehrt werden. Denn eins muß ich sehr deutlich klarmachen. Die Bruderschaft, in deren Namen ich spreche, will die gesamte Biosphäre schützen! Unser primäres Anliegen ist die Erhaltung jeglichen Lebens, und erst danach der Menschheit – tatsächlich vor allem insofern, als sie alles übrige Leben beeinflußt. Ich hoffe, ihr versteht das und vergeßt es nie.
Der nächste Wichtige Punkt sind Gehirne, Gehirne und ihre Kräfte, ihre Fähigkeiten und selbst ihre Struktur. Gehirne, denkende Gehirne! Wir von der Bruderschaft haben vor mehreren Jahrtausenden begonnen, unsere geistigen Fähigkeiten weiterzuentwickeln, was uns bei unseren Absichten sehr zustatten kam, ja sie überhaupt erst möglich machte. Wir wurden allzu selbstsicher, weil wir glaubten, nur wir besäßen jene Kenntnisse. Wie wir alle hier wissen, war das ein schrecklicher Irrtum! Denn auch die Unreinen entwickelten sie, wenn auch mit anderen Methoden. Sie bauten sonderbare Maschinen und Geräte in ihren geheimen Laboratorien, Geräte, die ihre Geisteskräfte verstärkten. So wurde ihnen zum erstenmal überhaupt unsere Existenz bewußt, und Haß und Wut und Furcht erfüllten sie, da sie nur sehr wenig von uns, wir aber, wie sie vermuteten, durch lange Beobachtungen viel von ihnen wußten. Seit der Zeit suchen sie uns zu vernichten, wo immer sie können. Eine Menge guter Männer und Frauen starben, um unsere Geheimnisse nicht preiszugeben. »Bruder Jon«, flüsterte Lucare. Ja, wie Bruder Jon. Aber er starb schnell und schweigend, wie wir Elfer es tun, wenn es notwendig ist. Zuerst aber berichtete er uns von dir, Prinzessin, und seitdem haben wir dich gesucht. Nun, ein neuer Faktor, der in Betracht gezogen werden muß, ist die durch Strahlung angeregte Entstehung höherer Intelligenz in nichtmenschlichen Geschöpfen. Wir haben diese Entwicklung seit langer Zeit fasziniert verfolgt. Unser Freund
hier (ein schneller Gedankenpfeil wies auf Gorm) gehört einer neuen Zivilisation an. Ich glaube, sein Volk ist sich über die Menschheit noch nicht im klaren – sie beobachten uns noch. Wir haben ihre Anführer oder Ältesten wissen lassen, daß sie uns willkommen sind, aber sie mißtrauen uns wie auch allen anderen Menschen. So warten wir und hoffen, daß sie sich für uns entscheiden und unsere Freundschaft annehmen – nun, Gorm? Ich bin jung, kam die rasche Antwort. Auf meiner großen Wanderung, die alle Heranwachsenden machen müssen, gehe ich, wohin ich will und wie ich will. Das Bärenvolk, das neue Bärenvolk, lebt im Verborgenen und wünscht verborgen zu bleiben. Doch wird vieles, was ich gesehen habe, Anlaß zu Beratungen geben. Ich aber kann nicht für die Ältesten sprechen. Gut, ich hoffe, wir alle hoffen auf nicht mehr als eine unvoreingenommene Beurteilung. Ich kann mir nicht vorstellen, daß die Unreinen jemals dein Volk für ihre Absichten gewinnen können. Und dann gibt es noch das Dammvolk der nördlichen Seen, das sich ebenfalls abwartend verhält. Auf der Seite der Unreinen stehen bereits die Heuler, die Menschenratten und andere. Und von vielen anderen Arten wissen wir noch nichts – Geschöpfe, die wir uns nicht einmal vorzustellen vermögen. Diese Froschwesen, mit denen ihr euch letzte Nacht herumgeschlagen habt, gehorchen einem anderen Herrn, einem Wesen, das ich nicht erreichen kann, das in den schlammigen Tiefen dieser versunkenen Stadt haust. Was es wirklich ist, weiß ich nicht, aber es ist uralt und bösartig und wahrscheinlich mit
dem Feind verbündet, wenn nicht mehr. Aber noch seltsamere, unheimlichere Wesen, Geschöpfe der Strahlung und ihrer entsetzlichen genetischen Auswirkungen, leben in den Wäldern und Sümpfen. Vielleicht seid ihr solchen schon begegnet? Hiero dachte an den Nebelwanderer und schauderte. Ich sehe, das ist der Fall. Aber nicht alle sind bösartig. Manche kümmern sich gar nicht um die Menschheit, andere wieder sind sogar freundlich gesinnt. Die Welt ist voll von pulsierendem, brodelndem Leben, und es gibt noch viele Wunder, von denen wir nichts wissen. Nun komme ich zum Grund meiner Anwesenheit hier. Wir wußten, daß man euch die Küste entlang verfolgte. Ich glaube übrigens zu wissen, Per Desteen, was du drunten im Süden suchen sollst. Aber davon später. Er fuhr rasch fort, bevor Hiero auch nur Zeit fand, seiner Überraschung Ausdruck zu geben. Jedenfalls wurde beschlossen, daß wir euch helfen würden, so weit es in unseren Kräften steht. Wir Elfer sind zu dem Schluß gekommen, daß die Unreinen zu rasch ihre Macht vermehren, physische und psychische Macht, als daß die Bruderschaft noch länger allein mit ihnen fertigwerden könnte. Unsere Fähigkeiten liegen hauptsächlich auf geistigem Gebiet. Wir bedürfen jedoch auch physischer Stärke, mechanischer Hilfe, wenn man so will, obwohl wir uns dieser Notwendigkeit nur ungern beugen. Ich kann dir soviel sagen, Mann von Metz, daß jetzt, da wir hier sitzen, Abgesandte der Elfer mit dem Abteirat in Verbindung treten und zum erstenmal unsere
Hilfe anbieten bei der Bekämpfung eines gemeinsamen Feindes. Für uns bedeutet dies ein großes Zugeständnis, das größte in unserer langen Geschichte. Ich habe mich selbst erbötig gemacht, euch zu suchen und wenn möglich zu helfen. Daß Prinzessin Lucare auch hier ist, ahnten wir nicht, doch forschten wir anderswo nach ihr, wie ich schon erwähnt habe. Wir fürchteten schon, daß sie tot sei. Nun, es ist so, daß ich in unserem Rat einigen Einfluß besitze. Ich möchte euch bitten, mit euch weiterziehen zu dürfen. Vor zwei Nächten, während ich aus dem Süden heraufkam, fühlte ich, daß geistige Kräfte sich in dieser Gegend sammelten. Ich beeilte mich, euch zu erreichen, und kam gerade noch rechtzeitig. Nun haben wir kurz, sehr kurz Ruhe, bis die Unreinen sich zu einem neuen Angriff formiert haben. Dein Geist, Per Desteen, hat ihnen nämlich gewaltige Furcht eingejagt. Du bist dir deiner neuen Kräfte selbst noch nicht recht bewußt, aber ich kann dir verraten, daß der Äther über den halben Kontinent hinweg in Aufruhr war, deinetwegen. Sie sind fest entschlossen, es dir, was immer es auch ist, nicht zu lassen und es selbst in ihren Besitz zu bringen. Was beschließt ihr nun? Ich wende mich nicht an das gute Ellktier, denn wenn auch sein Herz groß ist, so hat doch sein Geist noch nicht die Stufe des unseren erreicht, obwohl es mit der Zeit noch dazu kommen mag. Ich danke euch, daß ihr Geduld für einen weitschweifigen alten Mann gezeigt habt. Seine Gedanken verstummten abrupt, und er lehnte sich zurück, die drei der Reihe nach mit seinen funkelnden schwarzen Augen musternd.
Sein Bericht hatte kaum ein paar Minuten gedauert. Die geistigen Bilder und Symbole waren so rasch und deutlich aufeinandergefolgt, daß keine Mißverständnisse oder Mehrdeutigkeiten möglich waren. Der Bär hatte ihn ebenso klar verstanden wie die beiden Menschen. Trotz seiner Nebenbemerkungen über beginnende Senilität waren Bruder Aldos Gedankensignale so scharf und prägnant, wie sie Hiero kaum je zuvor erlebt hatte. Lucare antwortete mündlich und sah dem alten Mann dabei offen in die Augen. »Ich gehe, wohin Hiero geht, jetzt und immer. Doch wenn mein Wort irgendeine Bedeutung hat, so finde ich, daß wir uns sehr glücklich schätzen können.« Das meine ich auch. Ich bin nicht nur für unsere Rettung dankbar, sondern glaube auch, daß wir mit unserem neuen Gefährten einen starken Verbündeten gewonnen haben. Die Zukunft mag Schlimmeres bringen als die Vergangenheit, aber mit seiner Hilfe wird uns alles leichter werden. Hiero lächelte den Elfer an und begegnete einem fast verschmitzten Lächeln in den alten Augen. Die Ältesten meines Volkes sagten mir, daß wir bei der Bruderschaft Hilfe suchen dürften, wenn es nötig ist. Auch ich fühle, daß dieser Mann ein Freund ist, daß er keine Falschheit kennt. Gorm blinzelte Bruder Aldo mit seinen schwachen Augen an. Ja, er ist ein Freund, dieser Menschen-Älteste. Und er ist sehr mächtig. Wir wollen ihn nicht verärgern. Der Priester konnte nicht entscheiden, ob dieser letzte Gedanke nur eine Probe bärenhaften Humors war oder
nicht, aber Bruder Aldo konnte es anscheinend, denn er langte plötzlich herüber und kniff Gorm sanft in die Nase. Augenblicklich rollte sich Gorm auf den Rücken, die Vorderpranken um seine Schnauze geklammert, und gab eine köstliche Imitation eines todwunden Bären zum besten, komplett mit Seufzen und Stöhnen, heraushängender Zunge und mitleiderregendem Röcheln. Die drei Menschen brachen in ein Gelächter aus, daß ihnen fast die Tränen kamen. Erst als Hiero schon Seitenstechen hatte, erinnerte er sich daran, wo sie waren, und was vor kurzem hier geschehen war. Sein Lachen verstummte abrupt. »Ja, Vergnügen und Tod folgen manchmal seltsam rasch aufeinander«, sagte Bruder Aldo. »Und doch gehört beides zum Leben.« Er starrte nachdenklich über das sonnenglitzernde Wasser. Wirklich, dachte Hiero (hinter einem Gedankenschild), wie einen allzu tiefe Gemütsbewegungen doch durcheinanderbringen können! »Jetzt aber möchte ich doch eine kleine Luftveränderung vorschlagen«, meinte der alte Mann. »Ich glaube, wir sollten etwas essen und dann aus der Gegend hier verschwinden. Ein paar Meilen weiter unten an der Küste wartet ein Schiff auf mich, oder auf uns, jetzt da ich euch tatsächlich gefunden habe. Die Feinde werden sich inzwischen fragen, warum sie von ihren Leuten nichts mehr hören. Ob sie in Verbindung mit dem Wesen stehen, das diese Froschwesen beherrscht, kann ich nicht
sagen. Von ihm verstehe ich überhaupt sehr wenig, ich kann nur die Ausstrahlung seines Hasses fühlen.« Ich kann es überhaupt nicht fühlen, und Gorm auch nicht. In dem Gedanken des Priesters schwang leichter Neid. Bedenkt doch, ihr beide, oder eigentlich alle drei, seid verglichen mit mir wie kleine Kinder. Selbst ein nicht sehr kluger Mensch kann eine Menge lernen, wenn er nur Zeit genug dazu hat. Alle drei Gehirne reagierten darauf mit einem ›Lächeln‹. Bald hatten sie gegessen und brachen wieder auf, in östliche Richtung wie zuvor. Das kleine Boot und den mageren Reiseproviant des alten Elfers – im wesentlichen getrocknete Früchte – nahmen sie auf dem Floß mit, und er half beim Paddeln. Niemanden erstaunte es mehr, daß er dabei die Kraft und Gelenkigkeit eines viel jüngeren bewies. Die versunkene Stadt endete nicht weit voraus, erklärte er ihnen nun. Eine weitere halbe Tagesreise hätte sie wieder zu trockenem Land gebracht. Der Sumpfgürtel des Palud drehte dort wieder nach Norden ab und berührte die Inlandsee nicht mehr. Statt dessen säumten weite, offene Prärien und dichte Wälder die Küste, erstreckten sich bis in die weite Ferne und stießen schließlich auf das große Salzmeer, den Lantik. Aber sie würden jetzt nicht mehr viel weiter nach Osten ziehen; die Richtung, die sie nun einschlagen müßten, sei eher südlich, und führe quer über die nordöstliche Ausbuchtung der Inlandsee. Irgendwo östlich von Neey-
ana, dem Handelshafen, von dem Lucares Käufer abgesegelt waren, hoffte Bruder Aldo auf einen bestimmten Dschungelpfad zu stoßen, bevor der Feind ihnen auf die Spur kam. An diesem Abend, wieder auf trockenem Land, lagerten sie sich um ihr versteckt im Gebüsch angelegtes Feuer und schmiedeten Pläne für die Zukunft. »Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gerne die Vierzig Symbole befragen«, sagte Hiero zu Bruder Aldo. Gorm war in irgendwelchen privaten Geschäften unterwegs, und so verwendeten sie mündliche Sprache. »Wie könnte ich Einwände haben? Die Zukunft vorauszusehen ist eine Kunst – wenn das die richtige Bezeichnung ist – von der wir Elfer sehr wenig wissen. Unsere Lehren befassen sich mit anderen Gebieten von Geist und Seele. Aber ich kann um alles in der Welt nicht einsehen, warum man ein solches Talent nicht zu einem guten Zweck anwenden sollte. Außer es steht zu befürchten, daß man einmal seinen eigenen Tod voraussieht. Manche Leute würde das vielleicht abschrecken.« »Du kannst zusehen, wenn du willst«, sagte der Priester, als er sein Gerät und die Stola hervorholte. »Es ist keinerlei Geheimnis dabei. Wir sehen es nicht als Sakrament an, wohl aber als eine Art Gottesdienst wie ein Gebet.« Als Hiero nach einer kurzen Trance wieder zu sich kam, sah er Aldos Blick mit einem sonderbaren Ausdruck auf sich ruhen, und Lucare neben dem alten Mann
schien nur mit Mühe ihre Aufregung zu unterdrücken. »Dieser Vorgang ist nicht ungefährlich – etwas, womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte«, sagte Aldo. »Dein Geist ist völlig ungeschützt, und die Stärke der Gedankensignale reicht mehr als aus, um von einem Lauscher in der Nähe aufgefangen werden zu können. Ich habe eine Art geistiges Tarnnetz über dich geworfen, indem ich die einfachen Gedanken von kleinen Tieren und Pflanzen imitierte – ja, auch Pflanzen ›denken‹, wenn auch vielleicht nicht in der Art, wie du dir vorstellst. Falls wirklich irgendein Spion in der Nähe war, dann hat er dich jedenfalls nicht bemerken können.« »Danke«, murmelte Hiero. Er öffnete die Faust und betrachtete die Gegenstände auf seiner Handfläche. Der kleine Fisch lag zuoberst. Wieder Wasser! »Das ist nun wirklich keine Überraschung«, sagte er, nachdem er dem Elfer das Symbol erklärt hatte. Als nächstes kam das Paar winziger Stiefel. »Mein halbes Leben war ich unterwegs. Jetzt steht mir eine Reise über das Wasser bevor. Na, das wissen wir ja auch schon.« Sein Falkengesicht beugte sich über das dritte Symbol. Es war das Haus. »Was ist das für eins?« fragte Lucare aufgeregt. »Ein gutes oder ein schlechtes?« »Weder noch«, lautete seine Antwort. »Dies ist das Haus – die Figur selber ist, wie ihr seht, ein einfaches Dreieck, wie ein Dach. Es hat die verschiedensten Bedeutungen, und die meisten sind nicht erfreulich. Ihr müßt
wissen, daß die Zeichen sehr, sehr alt sind. Viele Auslegungen und Anweisungen ihrer Erfinder sind verschwommen und mehrdeutig. Dieses Symbol ist so ein Fall. Es kann einfach bedeuten. ›Gefahr unter Dach‹; es kann auch heißen ›suche Deckung‹! Oder es kann bedeuten, daß ein Gebäude der Feinde in der Nähe ist, ja sogar eine ganze Stadt. Alles in allem nicht sehr brauchbar, wenigstens für mich.« Jetzt hielt Hiero das vierte Symbol hoch. Es war das Schwert auf dem Schild. »Das kündigt einen Zweikampf an, für denjenigen der die Symbole befragt.« Er warf Lucare einen Blick zu und lächelte, als er die Sorge in ihren Augen las. »Ich habe es bisher dreimal in meinem Leben gezogen. Und ich bin immer noch da.« Mehr war nicht dazu zu sagen. Er räumte die Figuren weg und rief Klootz, um ihn abzureiben. Sie waren alle drei auf dem Ellk geritten, etwas langsamer natürlich. Das große Tier hatte sich kaum dabei angestrengt – die saftigen Wasserpflanzen der letzten Zeit waren ihm gut bekommen, und während der Floßfahrt hatte er ausgiebig gefaulenzt. Selbst in gemäßigtem Tempo kam der Ellk immer noch schneller vorwärts als ein zu Fuß gehender Mensch, und er trampelte durch Hindernisse einfach hindurch, die ein Mensch hätte umgehen müssen. Ein zweistündiger, gemächlicher Trab die Küste hinunter brachte sie am nächsten Vormittag zu einer kleinen Bucht, die tief in ein steiles Vorgebirge eingeschnitten
war. Als sie den Strand erreicht hatten, legte Bruder Aldo die gewölbten Hände wie einen Trichter um den Mund und stieß einen hallenden Schrei aus. Die beiden Menschen und der Bär, der irgendeine Spur im Sand beschnüffelt hatte, fuhren betroffen zusammen, während Klootz nur leicht mit einem Ohr wedelte. Verblüfft sahen Hiero und Lucare zu, wie sich ein Fleck dichten Buschwerks auf der anderen Seite der Bucht in Bewegung setzte. Nun tauchte aus einem schluchtähnlichen Einschnitt in der Küste ein kleiner, behäbiger Zweimaster auf. Dichtbelaubte Äste waren überall in der Lateintakelung befestigt, und ein mit Zweigen und Buschwerk durchwobenes grobes Netz tarnte den größten Teil des Rumpfes. Das Schiff war vielleicht hundert Fuß lang, braun gebeizt und an Bug und Heck überhöht. Mittschiffs, zwischen den beiden Masten, klebte eine winzige Kajüte. Überall auf Deck türmten sich Ballen und Bündel. Einige Männer turnten geschäftig darüber hinweg, und nach ein paar Minuten stieß ein kleines Ruderboot ab und kam über die Bucht auf die kleine Gruppe zu, die am Strand wartete. Die drei Menschen stiegen aus dem Sattel und gingen den zwei Seeleuten entgegen, die eben das Boot auf den Sand zogen, so daß der im Heck stehende Mann trockenen Fußes an Land springen konnte. Als er auf die drei zugewatschelt kam, preßte Lucare eine Hand vor den Mund, um ein Kichern zu unterdrücken. »Das ist Kapitän Gimp«, erklärte Bruder Aldo feier-
lich. »Er hat geduldig auf mich gewartet und mir in der Vergangenheit wie auch vor kurzem große Dienste geleistet. Unter den Kauffahrern der Inlandsee ist er der berühmteste und angesehenste. Käptn, ich möchte dir meine Freunde und deine neuen Passagiere vorstellen.« Kapitän Gimp verbeugte sich überschwenglich. Er war sehr klein und breit gebaut, ein Waschbottich auf Beinen, dachte Lucare. Seine ursprüngliche Hautfarbe war schwer auszumachen, da Wind und Wetter ihm die Farbe alten Treibholzes verliehen hatten. Sein Schädel war kahlgeschoren bis auf ein kurzes schwarzes und ziemlich speckiges Zöpfchen am Hinterkopf, das steif wegstand wie ein Bugspriet oder besser ein Achterspriet. Er trug einen schmutzigen Lederschurz, Stiefel aus ungegerbtem Fell, und einen grünen Wollumhang, der sicher niemals gewaschen worden war, seit er sich in seinem Besitz befand. Er hinkte ein wenig, stellte Hiero fest, und seine schwarzen Äuglein funkelten munter und frech. Er hatte lange Affenarme, aber seine Hände waren, wiewohl schmutzig wie der Rest, überraschend schmal, mit ziemlich feingliedrigen Fingern. Er trug keine sichtbaren Waffen. »Ist'n Vergnügen, euch alle kennenzulernen«, sagte er in verständlichem, aber stark dialektgefärbtem Batwah, als die Vorstellungen vorüber waren. »Die Freunde des guten Bruders hier sind auch meine. Nu' gebt mal eure Schoßtierchen da frei, damit wir an Bord können. Der Wind steht gut, aber er könnt' umschlagen.« Er spuckte
etwas, an dem er gekaut hatte, noch während des Sprechens in Gorms Richtung und wandte sich zum Gehen. Der Bär, der auf den Hinterkeulen gesessen und in die warme Morgenbrise geschnuppert hatte, reagierte blitzartig. Eine breite Pranke schoß vor und fing den Priem ab. Dann erhob sich der junge Bär auf die Hinterbeine und trottete die paar Schritte zu dem wie versteinert dastehenden Seemann hinüber, blinzelte ihn aus unmittelbarer Nähe betrübt an, prustete ihm ins Gesicht und wischte dann seine Pranke an dem grünen Umhang säuberlich ab. Der Umhang trug dabei einen neuen Flecken davon, ein wahres Prachtexemplar aus einer bräunlichen Masse. Dann setzte sich Gorm wieder und sah Kapitän Gimp mit leicht geneigtem Kopf aufmerksam an. Der Kapitän schüttelte endlich seine Erstarrung ab, aber sein Gesicht war, soweit man das unter der Schmutzschicht feststellen konnte, um einige Schattierungen blasser geworden. Zumindest zu Hieros Erstaunen bekreuzigte er sich hastig. »Bei allen grünen Seeungeheuern«, platzte er los, »sowas ist mir noch nie untergekommen. Das Viech versteht mich! Wem gehört der Petz, he?« rief er und wirbelte zu den anderen herum, die lächelnd danebenstanden. »Ich kauf ihn! Ich zahl jeden Preis! Bei meiner Seel', fragt den Bruder hier, wenn ihr mir nicht glaubt, ich halt' mein Wort!« Es dauerte eine Weile, bis sie dem kleinen Seemann
verständlich gemacht hatten, daß Gorm nicht zu verkaufen war, und daß er so denken konnte wie ein Mensch. Der Kapitän brummte immer noch fassungslos vor sich hin, als Bruder Aldo ihn bat, sein Schiff näher zum Strand schleppen zu lassen, damit eine Planke hinübergelegt und der Ellk ebenfalls an Bord gebracht werden konnte. Das brachte das Faß anscheinend zum Überlaufen. »Nu' seht mal her, ehrwürdiger Bruder«, sagte er gekränkt zu dem alten Mann, »ich hab' zwar ab und zu ein paar Kaws mitgenommen, früher, hört Ihr, wie ich mit so 'nem alten Frachtkahn rumgeschippert bin. Aber dieses Riesenvieh will ich nicht auf meinem Schiff haben. Was würden die Leute denken? Mein Schiff, die Gischtfee, das schmuckste Boot auf diesem Meer, ein Viehtransporter? Ich frag' Euch, ist das vielleicht rücksichtsvoll? Das könnt Ihr mir nicht antun, Bruder. Denkende Bären, Weiberleute, die weder Sklavin noch Ehefrau sind, und solche fremdländische Nordleute wie der da – nichts für ungut, Meister – und jetzt noch dieses Riesentrumm Tier. Nein, das ist zuviel, ich will nicht, das könnt Ihr nicht mit mir machen.« Es war fast Mittag, als sie alle an Bord waren. Nachdem man ihm gut zugeredet hatte, war der untersetzte kleine Schiffer durchaus hilfsbereit geworden und hatte sich als äußerst tüchtig und erfinderisch erwiesen. Schnell war aus ein paar Rundhölzern ein Verschlag gezimmert worden, unmittelbar hinter der Kajüte, und
Klootz wurde darin mit breiten Gurten gesichert, so daß er nicht gegen die Wände geschleudert werden konnte, wenn der Seegang rauher wurde. Die Mannschaft war, wie Hiero feststellte, ein ziemlich gemischter Haufen. Da gab es dunkelhäutige Männer mit gekräuselten Haaren, die Verwandte von Lucare oder Bruder Aldo hätten sein können. Es gab aber auch einige, die eher wie Hiero aussahen, obwohl keiner von diesen Metz sprach, und noch andere. Er sah zwei halbnackte Matrosen mit sehr weißer Haut und hohen Backenknochen, die eisblaue Augen und feuerrotes Haar hatten. Er hatte gelesen, daß es in den alten Zeiten Menschen mit roten Haaren gegeben habe, aber er hatte sich nie träumen lassen, daß auch jetzt noch welche lebten. »Diese Leute kommen von einer Insel im hohen Norden, die, soviel ich weiß, einst Grünland geheißen hat«, erklärte Bruder Aldo, der seinem Blick gefolgt war. »Es sind vermutlich Geächtete, da sie so weit von ihrer Heimat entfernt sind.« »So gibt es selbst dort Elfer?« fragte Hiero. Er klammerte sich hastig an die Reling, als die Gischtfee einen kräftigen Wind in die dreieckigen Segel bekam und scharf überholte. »Es gibt Elfer dort, obwohl man uns dort anders nennt. Das ist in vielen Ländern so«, sagte Aldo. »Einer der Gehilfen des Medizinmanns jener weißen Wilden, die Lucare opfern wollten, war auch ein Elfer. So bin ich euch auf die Spur gekommen, mein Junge.« Er lächelte
Hiero traurig zu. »Ja, er hätte es zugelassen, daß die Vögel sie umbrachten. Er konnte nichts tun, und er war zum Nachfolger des Oberschamanen ausersehen. Du verstehst, dann hätte er den ganzen Stamm beeinflussen können, ein ganzes Volk zum Guten führen können. Die Unreinen versuchen mit ähnlichen Methoden, Einfluß auf primitive Völker zu gewinnen, so daß wir solche Gelegenheiten nicht ungenützt lassen können. Es tut mir leid, aber die Dinge stehen nun einmal so.« »Mit anderen Worten«, sagte Hiero bitter, »du würdest mich fallenlassen wie eine heiße Kartoffel, sobald du zur Ansicht kommst, daß es vorteilhafter für euch wäre. Kein sehr ermutigender Gedanke, wo wir so auf dich angewiesen sind.« »Es tut mir leid«, wiederholte Bruder Aldo. »Ich wollte nur offen mit dir sein, Hiero. Ich habe euch meine Hilfe angeboten und mein Wort gegeben. Der Mann, von dem ich dir erzählte, war in einer ganz anderen Lage. Er traf die wohlüberlegte Entscheidung, sich nicht bloßzustellen, um einen von langer Hand vorbereiteten Plan nicht zu gefährden. Siehst du denn da keinen Unterschied?« »Es fällt mir schwer«, sagte der Metz rauh. »Ich bin nicht als Kasuist und nicht zu Haarspalterei in Problemen der Ethik ausgebildet. Mir kommt das ziemlich hartherzig vor. Ich glaube, ich werde mich jetzt ein wenig hinlegen. Ich habe seit einer Ewigkeit in keinem Bett mehr geschlafen.« Er nickte kurz und ging in die kleine Kajüte, in die Lucare sich bereits samt dem Bären zu-
rückgezogen hatte, denn Gorm war überraschenderweise seekrank geworden und wollte um alles in der Welt nicht die tanzenden, gischtgekrönten Wogen sehen müssen. Hiero hatte sich umgedreht und entfernt, ohne den Schmerz in Bruder Aldos Blick wahrzunehmen, der ihm folgte, bis sich die Kajütentür hinter ihm schloß. Mehrere Tage hindurch blieb das Wetter schön. Selbst Gorm gewöhnte sich an das Schaukeln der Wellen und erforschte begeistert das Schiff. Klootz in seinem Verschlag war nicht sonderlich gut gelaunt, aber Hiero verbrachte viel Zeit damit, ihn zu striegeln und ihm gut zuzureden. Auch konnte der alte Elfer ihn durch seine bloße Nähe beruhigen, und Hiero verspürte fast ein wenig Eifersucht, als er sah, wie gut sein Ellk sich mit Aldo verstand. Der Bär wurde im Nu zum erklärten Liebling der buntgemischten Besatzung. Die Seeleute hielten ihn einfach für ein sehr kluges, dressiertes Tier und fütterten ihn mit Süßigkeiten wie gestocktem Baumsirup und Honigkuchen, bis sein pelziger Wanst kugelrund war. Lucare und Hiero verbrachten glückliche Tage voller Liebe, denn die winzige Kabine gehörte ihnen ganz allein. Sie waren gesund und jung und liebten einander mit der Leidenschaft von Menschen, die keine Komplexe kennen. Hiero machte sich wohl anfangs etwas Sorgen, da er von dem in der Metz-Republik verwendeten, allgemein bekannten empfängnisverhütenden Mittel natürlich nichts dabei hatte. Ein Wort zu Bruder Aldo löste
dieses Problem. Der alte Elfer führte in einer kleinen Seemannskiste eine ziemlich umfangreiche Apotheke mit, und Hiero und er verbrachten Stunden damit, über die verschiedenen Medikamente und Drogen zu diskutieren. Kapitän Gimp erwies sich ebenfalls als unterhaltsamer Geselle. Trotz seines komischen Aussehens und seiner krummen Beine wußte der kleine Schiffer auf Disziplin zu halten. Die Gischtfee war so blitzblank, wie ihr Kapitän schmutzig war, und ihre zusammengewürfelte Mannschaft, laute, wilde Gesellen allesamt, gehorchten ihm aufs Wort. Die meisten trugen lange Dolche im Gürtel, und in der Kajüte waren in Schränken eine Menge Schwerter und Enterhaken verstaut. Ein tragbares Pfeilkatapult, eine Vorrichtung mit einem gewaltigen Bogen und einer mit Schußrillen versehenen Platte, konnte auf dem kleinen, erhöhten Achterdeck gleich hinter dem Steuerrad montiert werden. Das Ding funktionierte ähnlich wie eine riesige Armbrust, nur konnten sechs lange Pfeile zugleich abgeschossen werden. Der Priesterkrieger hielt es für eine außerordentlich nützliche Waffe. »Naja, man weiß nie, was man in diesen Gewässern noch mal braucht«, meinte Gimp, als sie sich über die Bewaffnung des Schiffs unterhielten. »Da gibt's riesige Fische, manchmal jagen wir sie mit Harpunen; alle möglichen Seeungeheuer und die Piraten nicht zu vergessen – da muß man schon auf der Hut sein, 'n Haufen Sklavenhändler treibt's ganz nach Laune, ein bißchen Seeraub is'
nie unter denen ihrer Würde, jawohl. Na, und dann sind da noch die Unreinen. In den letzten Jahren wurden's immer mehr. Und manche von ihren Schiffen werden durch Zauber angetrieben. Keine Segel, keine Ruder, nichts. Denen kann keiner davonfahren, und mit Waffen kommt man ihnen auch nicht bei, wenn's stimmt, was erzählt wird.« Als er an die Blitzkanone und an seine Gefangenschaft auf der Toten Insel dachte, konnte Hiero ihm nur recht geben. Die sonnenglitzernden Gewässer der Inlandsee wimmelten vor Leben. Immer wieder flitzten Fischschwärme über die Wellen, von größeren Räubern der Tiefe an die Oberfläche gejagt. Einmal, als die Gischtfee an einer kleinen Felseninsel vorbeikam, entdeckte Hiero ein halbes Dutzend schlanker Riesenleiber, mit Schwimmflossen, langen Hälsen und scharfzahnigen Mäulern, die sich auf einer Felsplatte sonnten und zum Schiff herüberbrüllten. Gimp nannte sie ›Otr‹ und behielt sie mißtrauisch im Auge, bis die Insel außer Sicht kam. »Die Biester haben einen schönen Pelz und auch gutes Fleisch«, sagte er, »aber man braucht 'ne ganze Flotte und einen sehr tüchtigen Harpunier, um die zu jagen. Sind nicht ungefährlich, die Viecher.« Der fünfte Tag, seit sie die Nordküste verlassen hatten, brach mit trübem, windigem Wetter an. Zerfetzte Wolken fegten über den grauen Himmel. Hiero lag in tiefem Schlaf, den Kopf auf Lucares dunkelsamtene Brust gebettet, als einer der Seeleute an die Kajütentür donnerte und
sie beide aufschrecken ließ. Sie eilten an Deck und sahen Bruder Aldo und den kleinen Kapitän in der Nähe des Steuerrads beisammenstehen und sorgenvoll achteraus spähen. Die Ursache war leicht ersichtlich. Ein großer, dunkler Dreimaster, sämtliche der trapezförmigen, braunen Segel gesetzt, kam mit schicksalhafter Unausweichlichkeit heran. Selbst eine ›Landratte‹ wie Hiero konnte deutlich erkennen, wie rasch der Verfolger aufholte. Sein Deck war schwarz vor Menschen, und immer wieder blitzte zwischen ihnen verdächtig blankes Metall auf. Das Schiff führte eine riesige Flagge am Hauptrack, und seine Segel waren mit wüsten, roten und weißen Tierfiguren, Ungeheuern und Totenschädeln bemalt. Hiero warf einen Blick zu den Wimpeln an den untersten Hauptstangen hinauf. Der Wind kam, wie er sah, genau von achtern, und er frischte auf. Der Himmel war bedeckt und sah nach Regen aus, aber die Sicht betrug immer noch zumindest eine Seemeile, so daß ihnen anscheinend keinerlei Fluchtmöglichkeit mehr blieb. Er sah Aldo fragend an, und stellte gleichzeitig eine nur auf sie beide beschränkte Gedankenverbindung her. Unreine? Nein, ich glaube nicht, kam die Antwort, jedenfalls nicht in Person. Ein Pirat, das ja, böse und grausam. Und ich vermute, daß er diesen Teil der Inlandsee auf Befehl absucht. Das Netz der Unreinen ist weitgespannt. Sie müssen, als ihr eigenes Schiff nicht mehr zurückkehrte, neue Anweisungen ausge-
geben haben, an jene, die sie ganz beherrschen, aber auch an jene, die sie vorläufig nur beeinflussen und anleiten. Das jetzt sind eher Verbündete als Diener, würde ich sagen. Versuche selbst zu sondieren. Einige von ihnen scheinen irgendwie abgeschirmt zu sein, und das macht mir noch am meisten Sorgen. Hiero schloß die Augen, umklammerte die Heckreling und konzentrierte sich. Kapitän Gimp spähte durch ein Fernrohr und murmelte wüste Flüche durch seinen Priem. Auf dem Mitteldeck unten gab der Erste Maat, ein finsterer, schwarzhäutiger Geselle mit nur einem Auge, schweigend Waffen an die Mannschaft aus. Ein paar Schritte von Hiero entfernt bauten drei Männer, die für das Pfeilkatapult zuständig waren, ihren Apparat auf. Bruder Aldo hatte recht gehabt, das erkannte Hiero nahezu sofort. Die Besatzung des fremden Schiffs war wirklich durch und durch böse, und sie war in der Überzahl. Was er spürte, war jedoch einfache menschliche Schlechtigkeit, die Gier und Bosheit jenes Abschaums, der alle ungeschützten Meere unsicher machte, seit der erste Pirat das erste Handelsschiff ausraubte, fünftausend Jahre vor der christlichen Zeitrechnung. Doch die Gehirne der Anführer waren tatsächlich abgeschirmt! Der Metz konnte nichts auffangen außer einer vagen persönlichen Ausstrahlung, gefärbt von Brutalität und Bosheit. Die eigentlichen Gedanken aber waren geschützt, selbst vor Angriffen in jenem neuen Bereich, den Hiero erst auf Manoun zu benützen gelernt hatte.
Die Unreinen lernten wahrhaftig schnell! Denn nur sie konnten die Geräte und die Schulung vermittelt haben, die seinen eigenen geistigen Waffen Schach zu bieten vermochten. Trotzdem gab es noch eine Möglichkeit, überlegte er. Nur vier Gehirne auf dem fremden Schiff waren abgeschirmt, die der Mannschaft standen ihm völlig offen. Er suchte nach dem Steuermann des Piratenseglers, denn Piraten waren es, das stand jetzt außer Zweifel. In den Gedanken des Mannes fand er dessen Namen, Horg, und Erinnerungen an ein gemeines und schlechtes Leben. Herum mit dem Ruder, Horg, mein Junge! Noch ein paar Strich abfallen, so ist's gut, schnell, schnell! Das Schiff ist in Gefahr, mach schnell! Ein verblüffter Ausruf von Kapitän Gimp ließ ihn die Augen aufschlagen. Die dunkle Bark achteraus hatte Fahrt verloren und. lag mit flatternden Segeln fast quer zum Wind. Hiero schloß die Augen wieder und fühlte im gleichen Augenblick Horgs Geist verlöschen, als der Mann starb. Die Feinde reagierten schnell, aber sie waren fast eine Viertelmeile zurückgefallen. Dann schwenkte das große Schiff jedoch wieder auf Kurs und luvte an, und die Leute der Gischtfee, die das Intermezzo fasziniert beobachtet hatten, stöhnten wütend auf. Mit einem Schwall von Flüchen jagte sie der untersetzte Schiffer wieder an ihre Posten, womit das Achterdeck von Neugierigen geräumt war. Außer ihm selber, dem Steuermann, der Katapultmannschaft, Aldo,
Lucare und Hiero befand sich niemand mehr oben. Wieder versuchte der Priester, den Rudergänger des Piratenschiffs zu erreichen. Aber wer immer die Bark befehligte, war ein schneller Denker. Am Steuer war jetzt eins der vier abgeschirmten Gehirne. Ungerührt suchte sich Hiero einen Seemann in der Nähe. Sein Name war Gimmer, und sein Geist, wenn das überhaupt möglich war, noch abstoßender als der des toten Horg. Der Steuermann ist dein Todfeind. Er haßt dich. Er bringt dich in Gefahr. Er wird dich töten. Du mußt ihn zuerst töten! Schnell! Jetzt! Unbarmherzig zwang er das bösartige Gehirn zur Attacke. Wenn es darum ging, Kreaturen wie diese Raubtiere des Meeres zu töten, kannte Hiero keine Gnade. Es war nicht Sache eines Priesterkriegers, Mitleid an durch und durch schlechte Menschen zu verschwenden. Aber diesmal erreichte er sein Ziel nicht. Der Geist, den er überwältigt hatte, konnte seine Absicht nicht mehr ausführen. Als er, durch Gimmers Augen gesehen, an den Steuermann heranschlich, fühlte er plötzlich einen stechenden Schmerz in der Brust des anderen, und der Körper, den er kontrollierte, erschlaffte. Bevor Gimmer starb, sah Hiero noch den Pfeil, der aus seiner Brust ragte. Wieder öffnete er die Augen und sah die Welt von seinem eigenen Körper aus. Er fühlte sich erschöpft, wie ausgelaugt. »Es hat keinen Sinn«, schrie er Bruder Aldo durch das anschwellende Trommeln des Regens zu. »Sie
haben an allen wichtigen Punkten Bogenschützen aufgestellt. Wenn ich nicht einen von denen unter Kontrolle bekomme, kann ich nichts mehr tun. Sie müssen Befehl haben, jeden niederzuschießen, der auch nur verdächtig dreinsieht. Und es ist zu anstrengend, wildfremde Gehirne über diese Entfernung einfach zu überfallen und gegen ihren Willen zu etwas zu zwingen. Es kostet mich selber zuviel Nervenenergie. Ich werd's noch mal versuchen, aber es wird wahrhaftig nicht leichter. Eher das Gegenteil.« Tatsächlich fühlte sich Hiero etwas beschämt, obwohl er das natürlich nicht zugeben wollte. Er war überzeugt gewesen, weit mehr zustandebringen zu können. Er hatte sich vorgestellt, es müsse ein leichtes sein, ein ganzes Schiff auf einmal zu kontrollieren. Und jetzt war er, nach wenigen Augenblicken und nur zwei Versuchen, schon erschöpft und hatte anscheinend überhaupt nichts ausgerichtet. In diesem Augenblick entschloß sich Kapitän Gimp zu einem eigenen Verteidigungsmanöver. Er brüllte einen Befehl, die beiden großen Lateinsegel schlugen um, als die Gischtfee scharf nach Steuerbord herumschwang und so hoch in den Wind hielt als nur überhaupt möglich war. Sofort veränderte sich die Bewegung des Schiffs zu einem stoßenden Auf und Ab, da es jetzt nicht mehr mit den Wellen dahinglitt, sondern dagegen ankämpfte. Der neue Kurs war fast genau West, und es schien, als wollte die kleine Brigg die von Nordwesten heranstürmenden
Wolken herausfordern. »Mit dieser Rahtakelung haben sie's schwerer, an den Wind zu kommen«, schrie Gimp seinen drei Passagieren zu, die sich an die schwankende Reling klammerten. »Vielleicht entwischen wir ihnen so.« Er suchte den Schutz des Windes selbst, indem er die Gischtfee höher an den Wind zu bringen versuchte, als es dem feindlichen Schiff möglich war. Wenn er mit seinem Manöver Erfolg hatte, würde der Wind für den Verfolger wie eine unsichtbare Barriere wirken. Er hatte keinen Erfolg. Der lange schlanke Rumpf des Piratenschiffes schwang elegant auf den neuen Kurs herum. Die trapezförmigen Segel standen fast längsseits, aber jetzt wurden auch die Flieger und Briggsegel zwischen den Masten sichtbar, als sie sich blähten. Damit und mit dem Gaffelsegel am Kreuzmast holte die fremde Bark fast noch schneller auf als zuvor, denn bei ihrer Länge und dem viel höheren Freibord machte ihr der steife Seegang weit weniger zu schaffen als der kleinen Gischtfee. »Ist sie nicht ein Prachtstück?« brüllte Kapitän Gimp bewundernd. Der kleine Schiffer reagierte instinktiv auf die Schönheit und Seetüchtigkeit des fremden Schiffs, obwohl gerade diese vielleicht seine eigene Vernichtung bedeutete. Er brüllte wieder einen Befehl, und die Gischtfee fiel ab, zurück auf ihren alten Kurs nach Südosten, auf dem sie schräg vor dem Wind dahinritt. Jetzt brauchte sie wenigstens nicht mehr gegen die Wogen anlaufen. Und
achteraus, nahe genug, daß man ihren schwarzen Rumpf durch die gischtende See schneiden sah, schwang auch die feindliche Barke herum und nahm die Verfolgung wieder auf. Sie war jetzt kaum mehr eine Meile entfernt. Eine weiße Gallionsfigur, die wie der Körper einer Frau aussah, glänzte naß durch die Regenböen. Kannst du noch etwas tun? fragte der Metz Bruder Aldo, wieder über eine geschlossene Gedankenverbindung. Ich suche gerade nach irgenwelchen größeren Wassertieren hier in der Gegend, antwortete der alte Mann. Bis jetzt habe ich nichts gefunden. Ich spüre aber Bewegung nicht allzu weit entfernt. Das Signal ist jedoch sehr schwach, und ich brauche noch etwas Zeit. Kannst du dir einen dieser Bogenschützen vornehmen, die du erwähnt hast, oder bist du zu müde? Jeder Aufschub kommt uns zugute. »Dacht ich mir's doch!« brüllte Gimp. Sein einäugiger Maat war zu ihm getreten und hatte ihm etwas zugeflüstert, bevor er wieder auf seinen Posten unten am Hauptdeck eilte. »Rok die Glatze ist der Mann, mit dem wir's zu tun haben«, erklärte der Kapitän. »Wir dürfen ihm nicht lebend in die Hände fallen. Seine Leute sind Kannibalen und Schlimmeres« (Lucare fragte sich, wie ein Mensch etwas ›Schlimmeres‹ sein konnte, sagte aber nichts). »Sein Schiff ist die Geraubte Braut, und seine Mannschaft besteht aus Kreaturen, wie's keine übleren auf diesem Meer gibt. Rok würde seiner eigenen Schwester bei lebendigem Leib die Haut abziehen, für zwei Kupferstücke
und den Spaß dabei. Aber er is' ein tüchtiger Seemann, daß ihm die Gedärme verrotten! Und seine Bark ist 'n wahres Wunder.« Hiero hörte ihn nur mit halbem Ohr. Wieder tastete er nach den ungeschützten Gehirnen des Feindes. Zweimal berührte er einen nichtmenschlichen Geist, den eines Heulers und einen anderen, der ihm völlig neu war, und dann fand er, was er suchte. Auf einer unteren Saling kauerte ein Schütze mit einer Armbrust, dessen Blicke wachsam über das Deck schweiften und nach Anzeichen von Meuterei oder ungewöhnlichem Verhalten suchten. Hiero kümmerte sich nicht um den Namen des Mannes, noch um sonst irgend etwas in seinem Geist. Mit der gesamten, ihm noch verbliebenen geistigen Energie stürzte er sich auf die motorischen Zentren im Gehirn des Mannes, nahm seine Nerven in eine unbarmherzige Zange. Der Bogenschütze kreischte entsetzt auf, als seine Waffe sich hob und auf den Rudergänger der Braut zielte, obwohl er verzweifelt versuchte, sie wieder herunterzureißen. Wieder wurde Hieros Absicht vereitelt, wenn auch nur um Haaresbreite. Der Bolzen schnellte von der Armbrust und bohrte sich in einen menschlichen Körper, aber nicht in den des Steuermanns. Der schwere Pfeil schlug statt dessen in den Schädel eines Mannes in der Nähe. Im gleichen Augenblick starb auch der Schütze selbst, von drei Pfeilen und einem Speer getroffen. Während der Mann von seinem luftigen Sitz in die aufgewühlte See
stürzte, sah Hiero durch den erlöschenden Blick des anderen einen Sekundenbruchteil lang deutlich den Kapitän des feindlichen Schiffs, der den Befehl zum Töten gegeben hatte. Groß, hager und knochig, in orangefarbenen Samt gekleidet und mit Juwelen behängt, bot Rok die Glatze einen abstoßenden und doch faszinierenden Anblick. Sein glattrasiertes Gesicht unter der kahlen, braunschimmernden Schädelwölbung war durch eine Narbe entstellt, einen ausgezackten, roten Wulst, der quer über die Nasenwurzel verlief. Als Hiero schon sich aus dem Körper des Sterbenden zurückzog, fühlte er noch den Blick des Piraten, und er sah noch etwas. Der feindliche Kapitän trug um den Hals eine schwere Kette aus dem schon bekannten bläulichen Metall, an der eine massive, kassettenförmige Kapsel aus dem gleichen Material hing. Dieses Ding war es, erkannte der Priester, das den anderen schützte: ein mechanischer Gedankenschild. Als er seine eigenen Augen öffnete, fühlte er sich noch niedergeschlagener und müder als zuvor. Gab es denn gar kein Mittel gegen die teuflischen Künste der Unreinen Meister? Glücklicherweise blieb ihm keine Zeit, sich selbst zu bedauern. »Im Namen des Heiligen Ökologen Franziskus, sie kommen!« schrie Bruder Aldo. »Sehet die Kinder des Meeres!« Er hatte noch kaum geendet, als Kapitän Gimp befahl, beizudrehen und die Segel zu fieren. Knallend rauschte
die Leinwand herunter, die Gischtfee drehte den Bug in den Wind, und die gesamte Besatzung stürzte an die Steuerbordreling, um die Neuankömmlinge anzustaunen. Zwischen den beiden Schiffen – die Geraubte Braut hatte ebenfalls beigedreht, ihre Rahsegel wurden aufgegeit – ragten zwei riesige Köpfe aus den Wellen. Zuerst begriff Hiero gar nicht, was er da vor Augen hatte, und dann schnappte er erschrocken nach Luft, denn es waren Vögel, gigantische Vögel! Ihre gewaltigen glatten Körper waren in den rauhen Sturzseen nur schlecht zu erkennen, aber sie waren zumindest zwei Drittel so lang wie die Gischtfee selber. Die wunderschönen Köpfe und starken Hälse der beiden Tiere schienen weniger gefiedert als geschuppt zu sein, in einem angenehmen, schimmernden Hellgrün. Die wenigstens drei Meter langen Schnäbel waren gerade runde Lanzen mit mörderischen Spitzen. Die hellen, funkelnden Augen huschten unruhig von einem Schiff zum anderen, aber der Wille des alten Elfers hielt die beiden Riesentiere fest. »Ich will sie nicht angreifen lassen, wenn wir das andere Schiff in die Flucht jagen können«, sagte Bruder Aldo zu dem Priester. »Selbst Lowans sind nicht unverwundbar, und dieses Schiff starrt vor Waffen.« Den Bug in den Wind gedreht, lagen die beiden Schiffe stampfend nebeneinander, mehrere Minuten lang, ohne daß jemand etwas unternahm. Alle starrten nur auf die Vögel. Dann rief eine Männerstimme in Batwah die
Gischtfee an, deutlich vernehmbar über die kaum siebzig Meter gischtenden Wassers hinweg, trotz des durch die Takelung heulenden Windes. »Ahoi da drüben! Bist du das, Gimp, mit deinem kleinen Bottich voll Rattendreck? Antworte, du krummbeinige plattfüßige Rotznase, oder traust du dich nicht?« Rok die Glatze hing kühn in den Wanten seines Schiffs und glotzte höhnisch zur Gischtfee hinüber. Selbst in dem trüben Licht des sturmgrauen Himmels glitzerte sein grellfarbener Anzug mit barbarischer Pracht. Seine Mannschaft brach auf sein Gebrüll hin in obszöne Beschimpfungen und Gelächter aus, erleichtert, sich anderem zuwenden zu können, als den beiden unheimlichen Riesenvögeln, deren Auftauchen ihnen wie Zauberei erschien. »Ich bin's, Rok, du dreckiger Leichenvertilger!« brüllte Gimp zurück. »Mach dich mit deinem Abdeckerkahn lieber davon, bevor wir unsere kleinen Freunde hier auf euch loslassen!« »Ach nein«, sagte Rok und lächelte höhnisch. Er schien die riesigen Vögel gar nicht zu beachten, und Hiero mußte ihm zugestehen, daß er zumindest gute Nerven hatte. »Ich sag' dir was, Fettsack«, fuhr Rok fort, »ich glaube, wer immer für dieses Vogelvieh da zuständig ist, hätte es schon längst losgelassen, wenn er es wagte. Meinst du nicht auch?« Wieder brüllte seine Mannschaft vor Vergnügen und schwang einen Wald scharfschneidiger Waffen. Rok winkte mit seiner hageren Hand, und die
Leute verstummten augenblicklich. »Wir könnten euch samt euren Vögel einsacken, fettbäuchige Wanze, aber dein dreckiges Wrack könnt' mir den Rumpf verkratzen«, fuhr der Pirat fort und musterte scharf die schweigende Gruppe auf dem Achterdeck der Gischtfee. »Weil ich aber doch meinen Spaß haben will, mach' ich dir ein Angebot, ein großzügiges Angebot. Gib uns diese schnurrbärtige Ratte mit dem bemalten Gesicht, und das Mädel. Dann könnt ihr abhauen. Was sagst du dazu, ringelschwänziges Seeschwein?« Gimp antwortete augenblicklich, aber nicht bevor er ausgiebig in Richtung des anderen Schiffs gespuckt hatte. »Geh und koch deine Mannschaft von Menschenfressern in ihrem eigenen Fett, Rok. Von uns kriegst du nichts. Aber du nimmst doch immer das Maul so voll, was für'n großer Kämpfer du bist, eh, Glatzkopf? Ich fordere dich heraus, mit mir um freie Passage zu kämpfen, unter einem Inlandseefrieden, Mann gegen Mann, Nahkampfwaffen nach Wahl. Wie ist's damit, du aufgeputzter Knochensack?« Diesmal war es die Mannschaft der Gischtfee, die losbrüllte und drohend mit den Waffen fuchtelte, während die Leute der Braut stumm blieben. Die beiden wunderbaren Riesenvögel hatten sich nicht von ihrem Platz gerührt. Als wären sie nichts als Enten auf einem Dorfteich, dachte Hiero. Nach einer kurzen Beratung mit zweien seiner Leute schwang sich Rok wieder in die Wanten, jetzt nicht mehr lächelnd, sondern mit einem bösartigen Ausdruck im
Gesicht. »Also gut, du verrotteter Klumpen Blasentang, ich nehme an. Geh vor Anker, dann tu ich's auch. Aber es gilt nicht nur für uns zwei, hörst du? Ich und einer von meinen Leuten werden mit dir und diesem braunen Wilden mit dem bemalten Gesicht kämpfen. Ansonsten ist die Sache abgeblasen, und wir greifen an. Was sagst du dazu, Fettsteiß?« »Die haben's auf Euch abgesehen, Meister Hiero«, sagte Kapitän Gimp mit gedämpfter Stimme. »Die wollen Euch haben, und was mir ganz und gar nicht einleuchtet, Rok will sogar sein Schiff und seine Mannschaft aufs Spiel setzen, um Euch zu kriegen. Könnt Ihr kämpfen? Seid Ihr bereit?« »Na klar«, sagte Hiero und schlug ihm auf die Schulter. In Wahrheit war er müde und durchaus nicht kampfbegeistert, aber es gab wohl keinen anderen Ausweg. »Werden denn diese schmutzigen Schurken sich an die Abmachung halten, wenn sie verlieren?« »O ja!« Gimp war schockiert. »Selbst der übelste Abschaum wird einen Waffenstillstand unter einem Seefrieden einhalten. O ja, deswegen braucht ihr Euch keine Sorgen zu machen. Aber Rok ist ein berühmter Kämpfer. Und wer weiß, wen er mitbringt? Wir machen uns wohl besser fertig.« Hiero sah jetzt, daß von der Geraubten Braut ein Beiboot abstieß, und Gimp erklärte ihm, während er sich
bewaffnete, daß ein solcher Kampf immer auf dem Schiff des Herausforderers stattfand. »Wir haben nichts zu verlieren«, fuhr er fort. »Alle anderen werden zu Sklaven gemacht, wenn wir beide getötet werden. Aber wenigstens werden sie nicht umgebracht und aufgefressen. Und wenn wir gewinnen, kriegen wir ihre Ladung, oder einen Großteil davon; auf jeden Fall soviel wir mitnehmen können.« Lucare half Hiero, alle Kleider bis auf die ledernen Hosen und die Stiefel abzulegen. Als Tochter von Kriegerfürsten tat sie es schweigend. Es war auch nicht nötig, daß sie etwas sagte. Er fühlte durch die Berührung ihrer Hände, daß sie zitterte, und wußte, daß sie ihn nicht eine Minute überleben würde, wenn er fiel. Bruder Aldo berührte kurz seine Rechte und wandte sich wieder ab, um die großen Vögel mit der Kraft seines Geistes festzuhalten. Hiero wog sein kurzes Schwert. Dann drehte er sich um und suchte sich aus einem Waffenstoß auf Deck einen schweren Messingschild aus, ein quadratisches, gewölbtes Ding, als Schutz für seinen linken Arm. Im Gürtel steckte sein blanker Dolch. Nachdem er seinen Bronzehelm aufgesetzt hatte, war er gerüstet. Gimp hatte sich bis auf seinen Lederschurz ausgezogen, selbst die Stiefel. Er trug keinen Schild, nur ein langes, leicht gekrümmtes Schwert, mit ziemlich schmaler Klinge, das fast wie ein überdimensionaler Säbel aussah, nur daß die Spitze leicht abgeschrägt war. Die Waffe war ganz offen-
sichtlich für beide Hände zu gebrauchen. An seinen langen Armen schwollen die Muskeln, als er das große Schwert probeweise durch die Luft pfeifen ließ. Er wirkte überhaupt nicht mehr komisch, und sein breites Gesicht drückte nichts als tödliche Entschlossenheit aus. Das Boot der Feinde scheuerte gegen die Bordwand. Zuerst tauchte der kahle Kopf des Piratenkapitäns über der Reling auf, dann der seines Kampfgenossen. Hiero schauderte innerlich. Ein Lemut, und überdies von einer neuen Art! Und das Scheusal trug ebenfalls ein Abschirmgerät um den Hals. Es war ebenso groß wie ein Mensch und konnte, wie Hiero feststellte, auch durchaus von Menschen abstammen. Es trug nur ein kurzes Lederwams, der Rest seines Körpers war mit winzigen stumpfgrauen Schuppen bedeckt. Weder Nase noch Ohren waren zu sehen, nur Löcher an den entsprechenden Stellen. Die Augen dieser abstoßenden Kreatur waren lidlose stumpfe Flecken unter knochigen Brauenwülsten. Bewaffnet war der Lemut mit einer einschneidigen, schweren Streitaxt, der zweite kräftige Arm hielt einen kleinen Rundschild. Die Leute der Gischtfee wichen schaudernd vor ihm zurück. Rok die Glatze trug immer noch seine orangerote Gala, und an seinen Händen glitzerten unzählige Ringe. Sein fleckiges Wams war mit Broschen und Kettchen behängt. Er trug ein schmales, gerades Schwert mit einem Schutzkorb und in der anderen Hand einen zweischneidigen Dolch.
Die Männer der Gischtfee zogen sich jetzt an das äußerste Ende von Bug und Heck zurück, manche kletterten auch in die Takelage, aber alle sahen darauf, daß sie außer Reichweite eines Schwertstreichs waren. »Wir kämpfen rund ums Hauptdeck, Knochensack«, erklärte Gimp. »Ohne Regeln, ohne Überlebende. Geht ihr jetzt nach vorne, wir bleiben hier. Auf meinen Ruf gehen wir aufeinander los, du und dieses Fischgesicht gegen mich und meinen Freund.« Roks Begleiter fauchte und zeigte ein Maulvoll gelber, scharfer Zähne; Rok lachte nur höhnisch. »Ist mir recht, du faulige Auster. Aber du und dein zauberkundiger Gedankenverdreher hier, ihr habt noch nie mit einem Glith zu tun gehabt. Gute Feunde von mir haben ihn mir geliehen. Wir werden ja sehen, ob ihr in ein paar Minuten noch über ihn spotten möchtet.« Jetzt sprach Hiero zum erstenmal, ruhig, aber für alle vernehmbar. »Ich kenne deine sauberen Freunde, Rok. Sie leben in der Welt der Toten, und bald werden sie zu ihnen gehören, so wie du und diese Kreatur.« In seiner Stimme war kalte Selbstsicherheit. Einen Augenblick lang sah es so aus, als sei Rok blaß geworden. So wie das Scheusal in seiner Begleitung, der Glith, allen auf der Gischtfee neu war, so wenig wußte er, was er von dem Metz-Priester zu erwarten hatte. Trotz des Schutzes, den ihm sein neues Amulett bot, fühlte sich Rok gar nicht sicher. Ein abgehärteter Kämpfer wie er ließ sich jedoch nicht so leicht einschüchtern.
»Schau an, du kannst also doch reden, Schnurrbartgesicht. In ein paar Sekunden werden wir dir die Malerei in deiner Fratze verschönern. Komm, Daleeth, nach vorne!« Augenblicke später war alles bereit. Stille breitete sich auf dem Schiff aus, nur die Takelung ächzte und das Ankertau scheuerte in der Klüse. Die beiden Schurken, die Rok und den Glith herübergerudert hatten, klammerten sich in den Wanten fest, oberhalb der Stelle, wo sie ihr Boot an der Reling vertäut hatten. Ihre Augen glitzerten vor Aufregung. Weit entfernt schrie ein Seevogel, hoch und klagend. Dann brüllte Gimp an seinem Platz zu Hieros Rechter »Los!« und marschierte vorwärts. Paarweise, auf jeder Deckseite einer, kamen die vier vorsichtig aufeinander zu. Diese Vorsicht hätte jedem mit einiger Erfahrung gesagt, daß hier ausgebildete Kämpfer aufeinandertrafen. Es würde kein blindes Drauflosstürmen geben, kein sinnloses Herumfuchteln. Alle vier verstanden ihr tödliches Geschäft. Hiero stand dem Glith gegenüber, die beiden so verschiedenen Kapitäne einander. Sie trafen beiderseits der Kajüte, fast genau mittschiffs, zusammen. Ein einsamer Sonnenstrahl brach plötzlich durch die jagenden Wolken und glitzerte auf der Axt des heranschleichenden Scheusals, und das war das einzige Lebendige an seinem Äußeren, der grauschuppigen Haut, dem grauen Wams und den toten Augen. Trotzdem war es wachsam und wendig, und seine muskulösen Arme verrieten große Kraft.
Es kam jedoch nur langsam, sehr langsam heran. Auf Steuerbord hörte Hiero das Klirren von Waffen, wo die beiden anderen aneinandergeraten waren, aber er kümmerte sich nicht darum. Wie jeder erfahrene Schwertkämpfer beobachtete er nur die Augen des Widersachers, um seine Absichten voraussehen zu können. Die Augen! Große, düstere, leere Teiche, scheinbar bodenlos. Während er hineinblickte, wurden sie größer. Größer! Der Glith war nur mehr ein paar Meter entfernt, die Axt über die Schulter hochgeschwungen, den Schild gesenkt. Aber Hiero sah nichts als diese Augen, diese runden lichtlosen Brunnen der Leere, die sich zu weiten schienen, zu wachsen, bis alles andere hinter ihnen verschwamm. Weit entfernt hörte er eine Frau aufschreien. Lucare! Die Riesenaugen verschwanden, schrumpften zu ihrer vorherigen Größe zusammen, und er wurde sich wieder bewußt, wo er war. Fast zu spät! Seine geschulten Reflexe retteten Hiero. Der pensionierte Grenzschutzoffizier, der sein erster Lehrer in allen Nahkampftechniken gewesen war, hatte immer einen Punkt besonders betont. Nahe ran! »Sieh mal!« hatte der alte Veteran ihm wiederholt eingeschärft, »du mußt immer versuchen, so schnell wie möglich an den Feind ranzukommen, insbesondere wenn er stärker ist als du. Wenn du ihm auf fünf Zentimeter an die Kehle rückst, kann er mit Schwert oder Lanze keine dreckigen Tricks mehr ausspielen. Also gib ihm erst keine Chance!« Er fühlte den Luftzug, als die schwere Axt herunter-
sauste und er unter ihr durchtauchte und dem Glith seinen Schild gegen den Leib rammte. Er versuchte erst nicht, einen Schwerthieb anzubringen, denn bevor er sich nicht wieder ganz gefaßt hatte, mußte er vor allem diesen Augen ausweichen! Hypnose! Dagegen gab es keine Abschirmung. Rok – oder vielleicht auch das Wesen selbst – hatte es sehr schlau angefangen. Um ein Haar wäre Hiero hilflos in seine Axt gelaufen, wie ein Kalb zur Schlachtbank. Hätte Lucare nicht geschrien, dann wäre er nun tot gewesen. Er rang mit dem schuppigen Lemut, drückte mit seinem Schild die Axt nach oben, während sein Schwertarm durch den Schild des Gegners blockiert war. Ein fauliger Gestank umgab das Wesen, und seine Haut strahlte Kälte aus. Sein fauchender Atem war ein betäubender Gifthauch. Hiero hielt jedoch den Kopf gesenkt, um die Augen der Bestie zu vermeiden. Gott, das Scheusal war stark! Jetzt nahm Hiero alle Kräfte zusammen und versetzte dem Feind einen heftigen Stoß mit dem Schild, sprang fast im gleichen Augenblick zurück. Wieder sauste die Axt herunter, aber er war schon außer Reichweite. Etwas schwerer atmend musterte er den Feind eine Sekunde lang, beobachtete das spitze Kinn und die Schultern, aber nicht mehr die Augen. Er nahm seinen Schild schützend quer vor den Körper und ließ das kurze Schwert sinken. Undeutlich wurde ihm das Waffengeklirr auf der anderen Seite bewußt, aber seine gesamte Aufmerksamkeit
galt seinem Gegner. Er hörte auch Klootz in seinem Verschlag röhren aus Angst um seinen Herrn, aber Hiero kümmerte sich nicht darum. Wieder kam der Lemut mit hocherhobener Axt heran. Im nächsten Augenblick schwang die Waffe in weitem Bogen herunter und Hiero warf sich zurück, bereit, sofort wieder vorzuspringen, wenn die Axt das Deck traf. Er war erst einige Male einem Gegner mit Streitaxt gegenübergestanden, und entging jetzt ein zweites Mal nur um Haaresbreite dem Tod. Die mächtigen Arme des Glith streckten sich, und die schwere Axt fuhr mit fast unverminderter Wucht schräg nach oben gegen Hieros Knie. Instinktiv sprang der Priester aus dem Stand hoch, so daß das scharfe Blatt knapp unter seinen Füßen durchsauste. Der Glith stieß jedoch mit dem Schild sofort nach und traf Hiero am Oberschenkel. Die Wucht des Schlags ließ ihn zurücktaumeln. Das schaukelnde Deck tauchte gerade im ungeeignetsten Augenblick hinunter, so daß er ins Stolpern kam und mit einem Krach gegen den Hauptmast prallte. Der Glith stieß einen heiseren Schrei aus, der für die Ohren ebenso gräßlich war, wie der Anblick der Bestie für die Augen, und griff mit hochgeschwungener Axt wieder an. Seine Krallenfüße kratzten heftig über die Decksplanken. Hiero war zwar aus dem Gleichgewicht geraten, aber auf den Füßen geblieben, und duckte sich jetzt gegen den Mast. Das war die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte. Als der Glith vorwärtsstürzte, schleuderte der Metz
seinen schweren Schild mit aller Kraft gegen die Beine des Lemut, wie einen gewaltigen Diskus. Als er kurz zuvor den Schild vor den Körper genommen hatte, hatte er auch in Vorbereitung dieses Manövers blitzschnell den Arm aus den Haltegriffen gezogen. Der schwere Messingschild riß dem heranstürmenden Glith die Beine unter dem Körper weg, als wäre eine Granate unter ihm explodiert. Der Lemut krachte aufs Deck, alle viere von sich gestreckt und sein nasenloses, graues Gesicht prallte mit einem hörbaren Krach gegen die Planken. Als er sich benommen aufzurichten versuchte, zuckte das schwere Kurzschwert des Priesters herunter und spaltete ihm den graugeschuppten Schädel wie eine Kokosnuß. Dunkler Schleim quoll heraus und die mächtigen Glieder des Scheusals streckten sich noch einmal, dann war es endlich aus mit ihm. Keuchend bückte sich der Metz nach seinem Schild und rannte an Klootz' Verschlag vorbei nach vorn, wo immer noch das Klirren von Stahl gegen Stahl zu hören war, ohne das angstvolle Röhren des Ellks zu beachten. Das angespannte Schweigen der Besatzung und die starr nach vorn gerichteten Blicke aller sagten ihm, daß der Ausgang des Kampfes noch in Zweifel stand. So war es tatsächlich. Als Hiero atemlos, aber mit hochgehobenem Schild hinzustürzte, parierte Kapitän Gimp eben einen hochgezielten Schwertstoß des Piraten und entging nur mit Mühe dem vorschnellenden Dolch in der Linken des Gegners.
»Ich komme!« brüllte Hiero. »Halt ihn noch eine Sekunde fest, dann helf ich dir, ihn fertigzumachen.« Ritterlichkeit war bei einem solchen Kampf fehl am Platz. Es konnte keine Besiegten, nur Überlebende geben, und abgesehen von Schußwaffen war alles erlaubt, um am Leben zu bleiben. Gnade konnte sich keiner leisten. Aber Hieros Zuruf hauchte dem kleinen Schiffer förmlich neues Leben ein. Obwohl sein haariger Oberkörper von einem Dutzend kleiner Wunden bedeckt und blutverschmiert war, hatte er sich noch keineswegs verausgabt. Einen Augenblick lang stand er reglos da und musterte seinen ebenfalls blutbedeckten Feind, dann stürzte er mit einem gewaltigen Kriegsgeschrei vorwärts und schwang seine blitzende Klinge hoch über dem Kopf. Nicht weniger kampfbegeistert warf Rok sich ihm entgegen, Wut und Ungeduld in den Augen. Und jetzt zeigte Gimp, wozu sein langes, gekrümmtes Schwert imstande war. Plötzlich schien er zu stolpern, zu fallen, doch sein linker Arm prallte gegen das Deck und stützte ihn ab. In demselben Augenblick fegte sein langer rechter Arm mit dem Schwert in der Faust in weitem Bogen vor wie eine riesige Sichel. Rok die Glatze war ein erfahrener Kämpfer, aber jetzt konnte er einfach nicht mehr anhalten. Er versuchte, mit seinem eigenen Schwert den furchtbaren Hieb zu parieren, aber Gimp hatte seine ganze Kraft hineingelegt. Die rasiermesserscharfe Klinge traf den Piraten unterhalb des Ellbogens und trennte seinen Schwertarm so sauber ab,
wie eine Schere ein Stück Garn. Und sie drang noch weiter in das orangerote Wams ein, bis sie schließlich hörbar gegen irgendeinen Knochen prallte. Ein Schwall Blut sprudelte aus Roks Seite, während er sich noch auf den Füßen zu halten versuchte, obwohl seine Augen bereits glasig wurden, als das Leben aus ihnen wich. Er machte zwei taumelnde Schritte auf seinen Feind zu, der sich nicht mehr gerührt hatte und wie ein vierfüßiges Tier auf dem stampfenden Deck kauerte und in einer Faust noch immer das blutige Schwert festhielt, das aus den jetzt purpurnen Fetzen von Roks Prachtgewand geglitten war. Dann brach die Mannschaft in ein Freudengeheul aus. Das ohrenbetäubende Gebrüll brachte Hiero aus der Fassung, aber er stolperte doch hinüber und half dem Kapitän auf die Beine, bevor er ihn umarmte. Sekunden später trennten Dutzende von Händen die beiden voneinander und trugen sie im Triumphzug aufs Achterdeck der Gischtfee, wo Lucare mit blitzenden Augen ihren Geliebten erwartete. Als er nun auch ihr in die Arme fiel, noch von Gimps Umarmung blutverschmiert und stinkend nach dem Handgemenge mit dem Glith, da mußte Hiero plötzlich hellauf lachen. Aus der Kajüte war völlig unvermutet ein verdrießlicher Gedanke zu ihnen gedrungen. Was soll denn all dieser Lärm? Warum läßt man mich nicht schlafen? Der faule junge Bär hatte die ganze Nacht und die Verfolgungsjagd sowie den darauffolgenden Kampf ver-
schlafen. Und jetzt wollte er wissen, was in aller Welt denn los sei! Lucare im Arm haltend, sah Hiero schweigend zu, wie die beiden gewaltigen Vögel, die Lowans, plötzlich untertauchten und in den aufwirbelnden Wellen verschwanden, als wären sie nichts weiter als kleine Tauchenten. Er bemerkte, daß Bruder Aldo sehr erschöpft aussah, so erschöpft, wie er selber sich fühlte, und er begriff, daß es für den alten Mann eine gewaltige Anstrengung bedeutet haben mußte, die zwei Riesenvögel so lange unter seinen Willen zu zwingen. Gimp war jetzt überall, er plünderte höchstpersönlich Roks Leichnam, er brüllte Befehle, und er beobachtete seelenruhig, wie die Gischtfee an die Braut herangeholt wurde, als sei das Piratenschiff ein friedlicher Kauffahrer, mit dem er irgendeinen Handel abzuschließen gedachte. Aber sein Vertrauen schien wirklich gerechtfertigt. Abgesehen von einiger Feilscherei über den Wert der Ladung gab es keinerlei Feindseligkeiten zwischen den Mannschaften. Die Piraten waren in Hieros Augen die verworfenste Bande von Verbrechern, die je dem Strick entgangen waren, doch wagte nicht einmal der verdreckte Zottelheuler an Bord ein Fauchen. Mehrere von den heruntergekommen Schurken brüllten sogar ein paar grobe Komplimente in Anerkennung von Hieros kämpferischen Fähigkeiten herüber und äußerten sich mit einigen Zoten zu Lucares Aussehen und ihren vermutli-
chen Bettqualitäten, worauf die solcherart Geehrte mit glühenden Ohren in die Kajüte verschwand. Während Gimp gemeinsam mit einem vierschrötigen Kerl, der anscheinend Roks Nachfolge angetreten hatte, die Ladung der Geraubten Braut inspizierte, setzte sich Hiero auf eine Bank zu Bruder Aldo und gab seinem Erstaunen Ausdruck, daß derartig verkommene, gemeine Verbrecher sich an eine Abmachung hielten, ja, sich sogar freiwillig von wertvollen Waren trennen konnten. »Einmal zu meinen Lebzeiten hat ein Piratenschiff den Seefrieden gebrochen, Hiero, vor langer, langer Zeit, aber ich kann mich noch gut daran erinnern. Jeder, aber auch jeder – sowohl Piraten, wie auch bewaffnete Kauffahrer und Fischer – suchte monatelang nach dem Schiff, und schließlich fand man es und stellte ein Falle. Die Männer der Besatzung wurden, soweit sie nicht im Kampf gefallen waren, gepfählt und zu Tode geschunden. Der Kapitän, der die Schuld an jenem Vorfall trug, verlor Finger und Zehen, Arme und Beine stückweise, Tag für Tag ein Glied, bis er starb. Soviel ich weiß, bildeten die abgetrennten Glieder bis zum Ende seine einzige Nahrung«, schloß der alte Mann nachdenklich. »Ich glaube, wenn heute ein Schiffer etwas derartiges vorschlagen würde, hätte ihn seine eigene Mannschaft umgebracht, bevor er auch nur eine Waffe ziehen könnte.« »Aber was ist mit den Unreinen? Die halten sich doch gewiß an keinerlei Vereinbarungen? Und wo sind diese beiden anderen mit den Abschirmgeräten? Ich finde sie
nicht mehr. Konnten sie irgendwie entkommen?« »Eine interessante Frage«, meinte Bruder Aldo mit einem Aufleuchten in den alten Augen, das fast ein wenig wie Genugtuung aussah. »Ich kann mir nur eine mögliche Antwort denken. Die beiden sind wohl nicht ganz freiwillig von Bord gegangen, sondern mit Hilfe ihrer eigenen Freunde, vielleicht weil sie irgendeinen Unfug wie einen Bruch des Seefriedens vorgeschlagen haben. Oder ihren Kameraden waren einfach diese Geräte der Unreinen nicht geheuer. Nein, entkommen sind sie gewiß nicht.« »Wir sollten besser diese zwei Abschirmgeräte holen, die Rok und mein spezieller Freund, der Glith, umgehängt haben, weil ich gerade daran denke«, meinte der Priester und erhob sich mit einem unterdrückten Stöhnen. Er hatte an der Seite einen gewaltigen, schwarzblauen Bluterguß, wo er gegen den Mast gerannt war, und auch sonst taten ihm alle Knochen weh. Bruder Aldo hielt ihn schmunzelnd zurück. Er klopfte auf seine lederne Umhängetasche, in der etwas metallisch klimperte. »Ich hab' Gimp sofort darum gebeten. Von den gewöhnlichen Seeleuten wollte sowieso keiner die Dinger auch nur anrühren. Wir werden sie uns genauer ansehen, du und ich, wenn wir mal ein bißchen mehr Zeit haben.« Als er das sagte, regte sich irgend etwas tief in Hieros Gedächtnis. Es wollte ihm jedoch nicht einfallen, was es sein konnte, deshalb wendete er sich mit einem Seufzer einer sehr viel
unmittelbareren Angelegenheit zu. »Hätten diese Riesenvögel wirklich die Piraten angegriffen?« fragte er. »Ich denke schon, obwohl ich es nur ungern dazu hätte kommen lassen. Ja, ich glaube, ich hätte sie dazu bringen können.« Das schokoladefarbene Gesicht des Elfers hatte seinen normalen gesunden Schimmer verloren, und Hiero sah zum erstenmal, daß Bruder Aldo wirklich ein sehr alter Mann war. Wie alt wohl? fragte er sich. Während sie zuschauten, wie Leute von beiden Mannschaften Kisten und Warenballen von dem großen Schiff über eine Laufplanke auf die Gischtfee herüberbrachten, fuhr der Elfer fort. »Wer weiß, wie es ausgegangen wäre. An die sechs Tonnen kreischender, flügelschlagender Lowans hätten selbst dieses große Schiff kleiner aussehen lassen, insbesondere, wenn sie versuchten, an Bord zu kommen! Sie sind recht selten, weißt du, ich hab' nur drei oder viermal in meinem Leben welche gesehen.« »Es war eine gewaltige Leistung, solche Riesentiere zu rufen und zu kontrollieren«, erklärte Hiero mit ehrlicher Bewunderung. Der alte Mann quittierte das Lob mit einem Achselzucken. »So etwas ist mein Beruf, Hiero, und ich glaube, du hast in wenigen Monaten mehr über solche Dinge gelernt als ich in Jahren. Aber dich beunruhigt etwas.« »Ja«, sagte der Metz mit gesenkter Stimme, so daß keiner der Männer in der Nähe ihn verstehen konnte. »Dieses Wesen, das ich getötet habe, der Glith, wie Rok ihn
nannte. Er hatte eine starke hypnotische Veranlagung und hat mich fast in seinen Bann bekommen. Erst Lucares Aufschrei brachte mich wieder zu Verstand. Was um Himmels willen war das für ein Wesen? Die Männer haben es gleich über Bord geworfen, so daß ich es mir nicht genauer ansehen konnte. Eins ist sicher, es gehört zu den Unreinen.« »Ich hatte auch nicht viel Gelegenheit, es mir anzuschauen. Ich sah es nur flüchtig an, als ich das Abschirmgerät holte, das es trug. Das zweite Gerät brachte mir Gimp.« Aldo zögerte kurz. »Wir haben Gerüchte von neuen Mutationen vernommen, solchen, die ihr als Lemut bezeichnen würdet, neuen und schrecklichen Wesen, die nicht durch Zufall aus genetischen Schäden entstanden sind. Nein – diese neuen Geschöpfe werden gezüchtet und von Geburt an in den Labors und Festungen der Unreinen dressiert. Dieser Glith könnte ein solches Wesen sein. Auf jeden Fall habe ich in freier Natur noch nie etwas ähnliches zu Gesicht bekommen.« »Es sah aus, als sei ein abstoßendes Reptil mit einem bösartigen und gemeinen Menschen gekreuzt worden«, sagte Hiero. »Nun, und wäre ein solches Unterfangen nicht typisch für die Unreinen?« fragte Bruder Aldo. Er schien keine Antwort zu erwarten und sagte auch selbst nichts mehr. Gedankenverloren starrte er über die grauen, windgepeitschten Wogen in der Ferne.
10 Die Wälder des Südens Nacht lag über der uralten Stadt Neeyana. Nur wenige Boote glitten über die monderhellte Wasserfläche des Hafens, meist kleine Beiboote, die jemanden zu den Segelschiffen brachten, die draußen vor Anker lagen. Auf den steinernen Ladekais jedoch hatte sich seit Sonnenuntergang nichts mehr gerührt. In den finsteren, engen Gassen, die zum Hafen herunterführten, glommen nur hier und da ein paar Lichter, wo wenig einladende Schenken noch auf späte Gäste warteten. Wirklich huschte manchmal eine einsame Gestalt durch die Schatten, in diesen oder jenen finsteren Geschäften unterwegs, aber kein ehrlicher Mann wagte sich nachts in die Straßen von Neeyana, außer mit schwerbewaffnetem Geleitschutz oder in einer verzweifelten Notlage. Zu lange Zeit hatte das Böse in der alten Hafenstadt regiert, und jetzt konnten nur mehr jene, die unter seinem Schutz standen, sich frei und ungefährdet bewegen. Und doch war die Stadt der einzige Warenumschlaghafen für die Länder an der Südostküste der Inlandsee. Der gesamte Ost-WestHandel lief über Neeyana ab, geduldet von jenen, die herrschten, in Hast und Furcht abgewickelt von den anderen. Nichts könnte überzeugender für den kaufmännischen Instinkt der menschlichen Rasse sprechen als die Tatsache, daß dieser Handel in gewissem Sinne sogar blühte.
Von einem hohen Turm, dem höchsten Punkt in ganz Neeyana, blickten zwei dunkle Gestalten auf den nachtdunklen Hafen hinunter und über das mondversilberte Wasser jenseits davon, das in der Ferne abrupt durch einen schwarzen Strich abgeschnitten wurde, den nördlichen Horizont. »Alles scheint vergebens zu sein gegen diese rätselhaften Eindringlinge«, sagte eine kalte Stimme. »Was wir auch tun, welche Waffen wir auch einsetzen, es ist immer das gleiche. Der Hauptfeind entflieht unseren Banden, entzieht sich unseren Schlingen, und zerstört unsere Schiffe spurlos. Nichts kann anscheinend seinem Vordringen ein Ende setzen, nichts kann ihn aufhalten, nicht einmal vorübergehend. Wir sind in eine höchst ärgerliche Situation geraten!« »Ich bin ganz deiner Meinung«, erklärte eine zweite Stimme, die der ersten nahezu vollkommen glich. »Aber bedenke folgendes. Er – oder sie, denn wir wissen noch nicht, was seine Verbündeten sind, was sie vermögen – hat bereits zwei Zirkel passiert. Nun liegt unserer, der Gelbe, vor ihm, falls er nicht umkehrt oder seine Marschrichtung ändert. Beides erscheint mir unwahrscheinlich. Er hat sich immer mehr oder weniger in diese Richtung bewegt, seit wir zum erstenmal auf ihn aufmerksam wurden. Überdies kommt auch der Blaue Meister, Sduna, hierher! Deshalb bin ich ziemlich sicher, daß unser Feind zu uns unterwegs ist, oder jedenfalls in die Gegend hier.
Und ich habe eine Neuigkeit – er kommt wirklich! Ich war eben im Instrumentenraum. Zwei der neuen Psicoder, die vom Blauen Zirkel registriert sind, bewegen sich über die See auf uns zu. Wir konnten feststellen, daß die Blauen jedoch vier ausgaben! Drei an Seeleute, Männer, die wir gut kennen; Rok die Glatze ist ihr Führer. Und einen, hörst du, an einen Glith! Der Glith wurde mitgeschickt, um Rok an die Kandare zu nehmen, falls es nötig werden sollte.« »Und jetzt?« Die Stimme des anderen klang gespannt. »Zwei der Instrumente sind verschwunden, höchstwahrscheinlich zerstört. Zwei sind abgeschaltet, doch zeigen unsere Schirme sie selbstverständlich immer noch an. Ich möchte wetten, daß die vier ursprünglichen Träger, der Glith mit eingeschlossen, jetzt tot sind, und daß die Feinde die beiden übrigen Instrumente ahnungslos eingesteckt haben, vielleicht um sie später zu untersuchen. Das ist nur eine Vermutung, aber eine ziemlich fundierte, finde ich.« Eine kurze Pause trat ein. »Jetzt, glaube ich, ist der Zeitpunkt gekommen, unsere eigenen Kräfte zu mobilisieren. Der Gelbe Zirkel jedenfalls wird nicht versagen!« Wieder herrschte Schweigen, während die beiden dunklen Gestalten, die Kapuzen tief ins Gesicht gezogen, den Blick über die alte Stadt schweifen ließen. Die Steinbrüstung, auf die sie sich stützten, säumte die Glockenkammer eines einstigen Kirchturms, doch jetzt beherbergte das düstere Gemäuer nur noch jene, die dem Bö-
sen dienten. Weit im Osten verkündete ein schwacher Lichtschimmer den kommenden Tag. Die beiden verhüllten Gestalten wandten sich um und verschwanden. »Wir werden uns eben auf unseren Verstand verlassen müssen, Hiero, zumindest so sehr wie auf irgendeine Karte der Unreinen.« Bruder Aldos schlanker, dunkler Zeigefinger wies auf die vor ihnen ausgebreitete Landkarte. »Zunächst einmal«, fuhr er fort, »können wir das hier nicht alles lesen.« In einer Ecke der kleinen Kajüte auf dem stampfenden Deck döste der junge Bär, und das Flackern der Öllampe ließ ihn weit größer erscheinen, als er wirklich war. An dem runden Tisch, der mit dem Deck verschraubt war, saßen der Metz, Bruder Aldo, Lucare und Kapitän Gimp beisammen und versuchten mit vereinten Kräften die Rätsel der fremden Karte zu lösen. »Wir Elfer haben einige dieser Symbole entziffern gelernt, mit der Zeit, natürlich«, fuhr Bruder Aldo fort. »Aber so etwas wie diese Karte ist uns zu meinen Lebzeiten nicht oft in die Hände gefallen. Dieses seltene Glück müssen wir ausnützen.« »Schaut her!« Sein Finger fuhr eine gekrümmte Linie nach, die von der Inlandsee ungefähr nach Ostsüdost verlief. »Dies ist ein Waldpfad, den ich seit Jahren nicht mehr benutzt habe. Er liegt nördlich jenes Karawanenwegs, auf dem du nach Neeyana gebracht wurdest, Prin-
zessin. Der nämlich stellt die Hauptroute zwischen der Lantik-Küste und dem Süßwassermeer dar, auf dem wir uns jetzt befinden. Er erreicht Neeyana hier.« Sein Finger tippte auf einen kleinen Kreis. »Diese Stadt, wie du ja selbst gespürt hast, mein Kind, steht ganz unter der Herrschaft des Bösen. Das Zeichen hier kenne ich gut, die Feinde benützen es unverändert seit Jahrhunderten; es bedeutet ›unser‹, und schaut, es ist quer über die Stadt geschrieben. Trotzdem gibt es regen Handel dort, und eine Reihe Kaufleute sind ehrliche und anständige Menschen. Die Unreinen dulden den Handel, besteuern ihn nicht einmal sehr, profitieren aber an den vielen Informationen, die in einer belebten Hafenstadt leicht zu beschaffen sind, und benützen die Händler auch als Deckmantel für ihre eigenen Agenten und Machenschaften. Nun, das tun auch wir! Und ich möchte wetten, daß wir im allgemeinen mehr über ihre Pläne erfahren als sie über die unseren. Hoffen wir, daß es auch diesmal so ist.« Wieder zog er mit seinem knorrigen dunklen Finger die dünnere Kurve des nördlicheren Weges nach. »Dieser Pfad hier geht mitten durch den Wald, und Hiero, mein Freund, du hast unsere Dschungelbäume noch nicht gesehen! Aber seht her, hier ist eine Art Markierung eingezeichnet, in Blau. Ohne mich mit der Farbenaufschlüsselung der Feinde auszukennen, kann ich euch sagen, was das bedeutet. Eine Wüste, und zwar eine gefährliche, die durch die Strahlung des ›Todes‹ geschaf-
fen wurde. Solche Regionen radioaktiver Verseuchung werden im allgemeinen immer kleiner, aber es gibt immer noch eine Menge, und manche breiten sich sogar aus, so langlebig ist das Gift der Kobaltbomben. Daher die blaue Markierung. Auch auf unseren eigenen Karten sind diese Zonen ebenfalls blau, da ›Kobalt‹ ein uraltes Wort für diese Farbe ist. Sieh, Hiero, die große vergessene Stadt, die du aufsuchen willst, liegt anscheinend in der Nähe dieser Wüste, fast an ihrem nördlichen Rand. Weiter der Lantikküste zu gibt es noch andere tote Städte, aber die liegen wohl zu weit östlich. Ich würde mich jedoch viel wohler fühlen, wenn ich auch noch die Karte sehen könnte, die dir deine Abtei mitgab. Wenn du sie mir anvertrauen willst.« Ein kurzes Schweigen entstand. Die Laterne schwang knarrend an ihrer kurzen Kette hin und her. Niemand sagte etwas. »Aber Ihr werdet doch dem guten Bruder vertrauen, Meister Hiero?« platzte Kapitän Gimp heraus. Er ließ eine massive Faust auf die Tischplatte krachen. »Was denn, wo er euch allen schon'n halbes Dutzend Mal das Leben gerettet hat, und zweimal Eures, soviel ich weiß!« Hiero lachte, und sein kupfernes Falkengesicht erhellte sich augenblicklich. »Tut mir leid, Bruder Aldo. Der Käptn hat natürlich recht. Aber mein Abt Demero hat mich zur Geheimhaltung verpflichtet, was meinen Auftrag, oder zumindest das eigentliche Ziel meiner Suche betrifft. Nur deshalb hab' ich gezögert – es ist so schwer,
jemanden zu finden, dem man wirklich vertrauen kann. Die Unreinen begegnen einem in so vielen Masken! Aber wenn ich jetzt noch immer nicht weiß, wer meine wahren Freunde sind, dann kann ich gleich heimgehen! Und ich meine auch dich, Käptn! Da, hier ist meine Karte. Was hältst du davon, Bruder?« »Ah!« Eine gute Minute lang wischte der weiße Lockenbart über das Pergament von Hieros Karte, während der alte Mann sie begeistert studierte. Dann richtete er sich auf und sah die anderen der Reihe nach mit funkelnden Augen an. »Das dachte ich mir. Hiero, dies ist eine sehr alte Karte, oder besser gesagt, eine neue Kopie einer sehr alten Karte. Es sind darin Dinge eingezeichnet, von denen ich nicht wußte, daß es sie noch gibt, und andere, bei denen ich genau weiß, daß sie zumindest seit einigen Jahrhunderten nicht mehr existieren.« »Mit anderen Worten«, meinte der Priester, »die Karte ist unzuverlässig?« »Ja und nein. Allein, ohne zusätzliche Hilfsmittel benutzt, ja. Aber mit mir und den Karten der Unreinen vielleicht nicht. Ich habe ja schon gesagt, daß deine Karte eine Menge interessante Dinge zeigt, die zwar jetzt mit dichtem Wald bedeckt sind, aber anhand dieser Karte nun vielleicht doch wiedergefunden werden können.« Eine Weile dachten sie alle über das Gehörte nach, während die Gischtfee in gleichmäßigem Rhythmus, hinauf, hinunter, über eine lange Dünung nach Süden
schaukelte. Die Öllaterne über ihren Köpfen rauchte und jede Bewegung des Schiffes ließ sie quietschend an ihrer Kette mitschwingen. Seit dem Kampf mit den Piraten waren zwei Tage vergangen. Eine Beratung über den besten Weg durch den Urwald folgte. Hiero hatte noch immer nicht erklärt, was er eigentlich suchen sollte, und hatte auch nicht die geringste Absicht, es zu tun. Wenn er in eine Falle geriet, konnte er sich immer noch selbst töten, so daß der Feind weiterhin über das Ziel seiner Suche im Unklaren sein würde. Mit jeder Meile, die die Gischtfee zurücklegte, wuchs seine Überzeugung, daß die Unreinen auch ein ganzes Volk ausrotten würden, bloß um einen jener alten Computer in die Hände zu bekommen. Mit einem solchen Gerät würden sie buchstäblich unbesiegbar sein. Er bemerkte, daß Bruder Aldo ihn fragend ansah, und wandte seine Aufmerksamkeit mit einem Ruck wieder der Gegenwart zu. »Verzeih, deinen letzten Satz habe ich nicht mitbekommen.« »Nun, es geht darum, daß Gimp an jenem Küstenteil, wo der nördlichere Weg beginnt, keinerlei Hafen kennt. Er sagt, in dieser Gegend reicht der unberührte Dschungel bis ans Wasser. Aber wir sollten lieber trotzdem versuchen, den Anfang des Wegs zu finden. Auch wenn der Pfad halb zugewachsen ist, sind wir meiner Meinung nach damit noch am besten dran, weil er geradewegs zu dieser Wüste führt. Und die großen Wälder sind mein
Revier, das ist ein zusätzlicher Vorteil. Die Unreinen operieren wohl auch manchmal im Dschungel, aber weder sie noch ihre Lemut-Verbündeten kennen ihn so wie wir. Und schließlich bist du, Hiero, ebenfalls ein erfahrener Waldläufer, wenn deine Erfahrungen auch nur aus den Wäldern der Taig stammen, die für uns Südleute ein ziemlich mickriges Gestrüpp darstellen.« Seine Augen lachten bei diesem vernichtenden Urteil, so daß auch die anderen über den Scherz lächeln mußten. »Na gut«, sagte Hiero, faltete die Karten zusammen und räumte sie weg. »Wie weit, glaubst du, ist Neeyana von diesem Weganfang entfernt?« »Wenn die Karte, ich mein' alle die Karten da stimmen, dann sind's wohl viel mehr als fünfzig Meilen die Küste lang«, warf Gimp ein. Seine kleinen Äuglein verdüsterten sich besorgt. »In den Wäldern dort gibt's Wilde, die meisten so 'ne Art rothäutige Zwerge, die mit vergifteten Pfeilen jagen und verdammt gern auf Schiffe schießen, wenn wir mal anlegen müssen, um Wasser oder Früchte zu holen. Ich werd' mein Bestes tun, euch dort abzusetzen, wo die Linie auf der Karte endet, aber wie ihr in dem Dickicht dort 'nen Weg finden wollt, ist mir schleierhaft. Und dann mit euren Tieren! Uijeh!« »Ist schon gut, Gimp«, meinte der alte Mann. »Mach dir wegen der Tiere keine Gedanken. Du wirst hier schön sicher auf eurem tüchtigen Schiff sitzen. Der Urwald wird dir nicht auf dein geliebtes Meer folgen. Hiero, wir haben jetzt ein wenig Zeit, und in ein paar Stunden errei-
chen wir wahrscheinlich das Land. Was meinst du, untersuchen wir nun diese Abschirmgeräte, die wir den Feinden abgenommen haben? Ich hab' sie hier bei der Hand.« Einen Moment später lagen die beiden seltsamen Instrumente vor ihnen auf dem Tisch. Lucare warf einen Blick voller Abscheu darauf, während Hiero und Bruder Aldo nichts als Interesse zeigten, und Gimps breites Gesicht seine zweispaltigen Gefühle für solches Zauberzeug verriet. Der Anhänger selbst bestand aus dem sonderbar ölig aussehenden bläulichen Metall, das die Unreinen nach Hieros Beobachtungen bevorzugt verwendeten. Die massiven Umhängeketten waren aus irgendeinem anderen Metall, einem leichteren, das jedoch sehr ähnlich aussah. Das Gehäuse der geheimnisvollen Mechanismen war jeweils eine stabile Kassette von vielleicht sieben Zentimetern Umfang und einem Zentimeter Dicke. Auf der Oberfläche waren Schriftzeichen eingraviert, aber niemand, nicht einmal der alte Aldo, konnte sie lesen. Außer einer haarfeinen Fuge an den Schmalseiten war keinerlei Öffnungsmechanismus zu entdecken, keine Schraube, keine Nut, nichts. »Meint ihr nicht«, sagte Lucare und besah sich die kaum sichtbare Rille aus der Nähe, »daß es gefährlich sein könnte, eines aufzubrechen? Könnten sie nicht irgendwie einen Schutz dagegen eingebaut haben, was glaubt ihr, so daß jeder, der sie nicht richtig öffnet, ver-
letzt wird, oder so?« »Könnte leicht sein«, sagte Hiero. Er hielt eins der beiden Gehäuse ans Ohr. War es Einbildung, oder hörte er ein kaum wahrnehmbares Summen darin? »Nein, ich höre nichts«, erklärte Bruder Aldo auf seine Frage, und auch die anderen vernahmen nichts. »Aber ich weiß sehr wenig über solche Dinge«, fuhr der alte Mann fort. »Um ehrlich zu sein, nur wenige Brüder meines Ordens haben eine Ahnung von so was. Wir haben uns darauf spezialisiert, Einfühlungsvermögen für die verschiedensten Lebensformen zu entwickeln, geistige Verständigungsmöglichkeiten mit ihnen zu suchen, und – offen gesagt – wir lehnen technische Hilfsmittel ab. Das mag ein Fehler sein. Es besteht kein Grund, daß eine beschränkte Anzahl von Maschinen nicht eine große Hilfe für die Menschheit sein könnte, solange sie sich unter Kontrolle halten lassen. Wir werden wohl oder übel zusehen müssen, daß wir die verschiedenen Geräte der Unreinen verstehen lernen, sonst stehen unsere Chancen sehr schlecht. Ich fürchte, ich bin nicht der geeignete Mann dafür. Wirklich, Hiero, du hast in letzter Zeit einige Erfahrungen mit ihren Apparaten gesammelt. Du solltest darüber soviel wie nur irgendeiner wissen, der nicht zu ihnen gehört. Wie steht es damit?« Hiero starrte verdrossen auf die beiden glänzenden Anhänger. Wieder nagte irgendeine Erinnerung tief in seinem Gedächtnis, irgendein Gedanke, der sein Unterbewußtsein plagte, aber auch jetzt nicht an die Oberflä-
che kommen wollte. »Die einzigen technischen Sachen von den Unreinen«, sagte er langsam, »die ich zu sehen bekam, waren ganz anders als die Dinger hier. Lucares Speer zum Beispiel, der außerdem noch ein Gedankenverstärker ist, und so ein kompaßähnliches Gerät, das ich damals im Norden Snerg abgenommen hatte – das mußte ich zerstören; erinnere mich daran, daß ich dir später noch davon erzähle. Dann war da noch diese große Maschine auf der Toten Insel, mit der sie mich zu sondieren versuchten. Und das Ding, das ich Blitzkanone nenne, mit dem sie mich niedergeschossen haben. Ich nehme an, diese Maschine schleudert elektrostatische Ladungsstöße, aber Gott allein weiß, wie so was möglich ist. Diese mechanischen Gedankenschilde hier sind jedenfalls ein wahres Wunder an technischer Leistung: sie sind so klein.« Er seufzte. »Ich kann überhaupt nichts damit anfangen, und trotzdem fühle ich die ganze Zeit, daß irgend etwas mit ihnen los ist, daß man sich davor in acht nehmen muß. Wahrscheinlich hat Lucare recht, und es ist eine Sprengkapsel oder Gift oder etwas in der Art drin.« »Na, ich werd mich wohl besser wieder an Deck hieven«, sagte Gimp vorsichtshalber und stand auf. »In wenigen Stunden wird's hell, und das Land ist auch nicht mehr weit entfernt. Es fehlt uns gerade noch, daß wir auf irgendeine nicht verzeichnete Sandbank laufen!« »Ich geh jetzt ins Bett, und Hiero auch«, erklärte Lucare entschieden. »Morgen werden wir alle unsere Kräfte
brauchen, und der einzige, der immer und überall zu genügend Schlaf kommt, ist dieser Faulpelz von einem Bär da.« »Du hast recht«, sagte Aldo, sich ebenfalls erhebend. »Aber alte Leute brauchen nicht viel Schlaf, Prinzessin, deshalb werde ich unseren Kapitän an Deck begleiten. Wer weiß, vielleicht kann ich irgendwelche Signale auffangen.« Hiero gähnte und zog sich, am Rand der Koje sitzend, die Stiefel aus. Lucare neben ihm hatte bereits die Augen zu. Sie konnte, hatte er festgestellt, in wenigen Sekunden einschlafen wie ein Kind. Verdammt, was war an diesen Abschirmdingern, daß sie ihm nicht aus dem Sinn gingen? Er warf einen wütenden Blick zu dem Tisch hinüber, auf dem sie noch immer lagen, und blies dann die Lampe aus. Was es auch war, es konnte warten. Der langgezogene Ruf »Land-hooooo«, weckte ihn augenblicklich. Licht, das graue Licht der Morgendämmerung, flutete durch das offenstehende Luk in die Kajüte. Und dann, als er sich aufsetzte, fiel es ihm plötzlich ein! Das Kompaßding, das er vor Wochen droben im Palud zerstört hatte! Es war ein Peilgerät der Unreinen gewesen! Und er wollte einen Kakerlak zum Frühstück essen, wenn diese verdammten Gedankenschilde nicht auch ein Peilsignal aussendeten! Mit einem Satz stürzte er an Deck, ohne sich um Lucares verblüfften Aufschrei zu kümmern, brüllte nach dem Kapitän, nach Bruder Aldo. Beide tauchten sofort auf
und sahen erschrocken und fassungslos zu, wie er die beiden Abschirmgeräte mit einem Belegnagel in Splitter drosch. Dabei keuchte er eine Erklärung heraus, und schlagartig flackerte Besorgnis in den Augen der beiden auf. Erst als die heimtückischen Instrumente nur mehr ein Haufen Splitter und verbogenes Metall waren, blickte er auf und sah, auf was die Gischtfee nun zuhielt. Der Urwald des Südens! Kaum mehr eine Meile entfernt erhob sich eine phantastische Mauer von Bäumen, Urwaldriesen, wie er sie sich nicht einmal im Traum vorgestellt hatte, obwohl ihm davon erzählt worden war. Das Land selbst war nicht zu erkennen, jedes Fleckchen war mit üppigen Pflanzen, Büschen und Stauden zugewachsen, mit dichtem Blattwerk in allen Grünschattierungen überzogen. Und dahinter ragten die Giganten des Dschungels empor: schwarze, braune, graue Stämme, jede Tönung zwischen Hellbraun und Schwarz war vertreten, und hie und da ein rötlicher Schimmer. Der Metz mußte den Kopf zurücklegen, um ihre unvorstellbar hohen Wipfel sehen zu können. Um die riesigen Stämme wanden sich verfilzte Lianen, Schlingpflanzen in jeder Schattierung hingen von den mächtigen Ästen, und nicht wenige der Stämme waren dicker als der Rumpf der Gischtfee! Farbflecken hier und dort, meist grelle Rot- und Gelbtöne, lenkten den Blick auf üppig blühende Gewächse, die manche Bäume bis in die Krone überwucherten. Durch das von Gimp angebotene Fernrohr konnte Hiero das Gewirr von kleineren Pflanzen ausmachen, das jede
noch so kleine Lücke zwischen dem Astwerk ausfüllte. Der feuchte Dufthauch des Riesendschungels drang bis heraus aufs Wasser, eine Mischung fremdartiger, moschusähnlicher Gerüche. Klootz in seinem Verschlag reckte das mächtige Geweih hoch und röhrte plötzlich auf, wie um den größten Wald zu begrüßen, den er je gesehen hatte. Von der grünen, dampfenden Mauer kam wie ein Echo aus weiter Ferne das Gebrüll irgendeines unbekannten Riesentiers zurück, und eine Schar großer, weißer Vögel flatterte von den nächstgelegenen Baumkronen auf. Die schwüle und drückende Wärme des Dschungels schien dem kleinen Schiff entgegenzuschlagen. »Können wir nicht ein bißchen schneller ran?« Der Priester sah Gimp fragend an. »Ich mache mir plötzlich schreckliche Sorgen. Irgend jemand hat uns die letzten zwei Tage anpeilen können wie ein Leuchtfeuer. Auch sind wir gar nicht weit von Neeyana entfernt, und das ist eine Hochburg der Feinde.« Er hatte kaum einen Blick für Lucare übrig, die fertig angezogen an Deck gekommen war und neben ihm stand. Sie schien sich jedoch nichts draus zu machen und bückte sich, um ihre Stiefel zu schnüren. »Och, Meister Hiero, Ihr seht doch, ich hab' schon halb aufgeien lassen«, sagte der kleine Schiffer. »Ich trau' mich einfach nicht, mit vollen Segeln gegen so 'ne Küste anzulaufen. Wir haben drei gute Leute als Ausguck am Bug und an der Fock, denn da kann leicht irgendwas unter
der Wasserobfläche sein, abgesoffene Baumstrünke oder 'n paar hübsche, scharfe Felsen. Jedenfalls, lang wird's nicht mehr dauern.« Unter der frühmorgendlichen Sonne segelte das kleine Schiff der gewaltigen grünen Barriere entgegen. Eine sanfte Brise schob es langsam über die leichte Dünung aufs Land zu. Jetzt konnte man bereits das Wispern der geradezu friedlichen Brandung vernehmen, die sachte gegen Baumwurzeln und ineinander verkeilte morsche Stämme schlug. Hiero beendete sein kurzes und stummes Morgengebet, aber er war immer noch unruhig und fluchte innerlich über seine Dummheit, zweimal den gleichen Fehler gemacht zu haben. Nun sandte er seine Gedankenimpulse aus und wünschte sich, Stunden früher aufgewacht zu sein und früher damit begonnen zu haben. Neben ihm stand Bruder Aldo, die Augen geschlossen, und schien einfach die warmen, schweren Gerüche des Waldes in sich einzutrinken. Plötzlich packte Hiero den alten Mann am Ärmel. Die Gischtfee war nur noch ein paar hundert Meter von dem dichten Pflanzendickicht entfernt, das die Grenze zwischen Land und See darstellen sollte. »Von Westen kommt etwas heran! Ich komme mit keiner Sonde durch! Es ist wie eine große Gedankenbarriere, so wie auf dem Schiff der Unreinen, das du versenkt hast! Sie kommen sehr schnell näher.« Scham zuckte in ihm hoch. Wobei hatte er bisher nicht versagt?
Aldo fuhr augenblicklich herum und rief dem Kapitän einen Befehl zu. »Gimp, setz uns an den Strand, samt dem Schiff, hörst du, und laß die Mannschaft sich bereitmachen. Schnell, oder wir sterben alle!« Die gutmütige Freundlichkeit war aus seinem Gesicht verschwunden wie weggewischt, seine dunklen, gefurchten Züge waren zu einer Maske der Entschlossenheit geronnen. Gimp brüllte nun seinerseits nach allen Richtungen Befehle und half gleichzeitig höchstpersönlich beim Montieren des Pfeilkatapults. Der einäugige Maat, Blutho, übernahm das Ruder, als die beiden großen, sichelförmigen Segel hochfuhren und sich voll im Wind blähten. Die Gischtfee kippte mit der Nase in ein Wellental, hob sich über den nächsten Rücken und brauste mit vollen Segeln auf die grüne Mauer der Küste zu. In dem Durcheinander an Deck merkte Hiero nicht sofort, daß Lucare mit seinen Waffen neben ihm stand. Sie drückte sich flüchtig an ihn und half ihm dann, sich zu rüsten. Ich habe versagt, dachte er, zu ihr gewendet, als er seinen Helm zurechtrückte. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, laut zu sprechen. Unsinn, lautete ihre ruhige Antwort. Du allein hast uns gewarnt. Du allein hattest wochenlang die ganze Verantwortung zu tragen. Noch während sein Gehirn die Antwort aufnahm, verspürte er Erstaunen über die Klarheit ihrer Gedankensignale und die Intensität der geistigen Verbundenheit zwischen ihnen. Und weil er ein Mann war, liefen seine Gedanken sofort in eine ganz bestimmte
Richtung weiter. Ich frage mich, ob das möglich ist, dachte er, ob auch eine Art geistiger Liebesakt... Wahrscheinlich, antwortete sie prompt, aber jetzt ist nicht die Zeit für so was, du Clown! Geh lieber Klootz losmachen. Ich werde mich um den Bären kümmern. Das wirkte wie ein (freundlicher) Guß Eiswasser. Mit einem Seufzer kam er wieder in die Gegenwart zurück. Klootz war sehr unruhig, fast einer Panik nahe, so daß Hiero ihn geistig hart an die Kandare nehmen mußte. Er hatte kaum fertig gesattelt, als sie aufliefen. Die Gischtfee rammte ihren Bug mit einem knirschenden Geräusch geradewegs in die vorstehenden Wurzeln der mangrovenähnlichen Bäume am Ufer. Eine Reihe Männer, die an Deck mit ihren Aufgaben beschäftigt waren, wurden zu Boden geschleudert, aber mehr passierte nicht. Glücklicherweise war das Meer hier bis zum Strand ziemlich tief, was das brutale Anlegemanöver ziemlich erleichtert hatte. »Alle Mann an Land!« befahl Gimp mit Donnerstimme. Er hatte während der letzten Minuten immer wieder Aldo um Rat gefragt, denn wie jeder gute Spieler zögerte er nicht einen Moment, im rechten Augenblick auszusteigen. Eine Vorhut muskelbepackter Teerjacken schwang sich vom Bugspriet hinüber und ging mit Äxten, Bootshaken, Säbeln und anderen scharfen Werkzeugen auf den verfilzten Pflanzenwuchs los. Bestenfalls eine Ratte oder ein kleiner Affe wäre in das Dickicht hineingekommen. Der Rest der Besatzung drängte sich
jetzt ebenfalls auf dem Vordeck, bewaffnet und mit hastig zusammengepackten Lebensmitteln und verschiedener Notausrüstung beladen. Gimp und Blutho waren an ihrer Spitze, und hinter ihnen warteten Aldo, das Mädchen, und der Priester, die den Ellk und den Bären führten, obwohl der Ausdruck ›führen‹ kaum Gorms Zustimmung gefunden hätte. Alle jene, die nicht damit beschäftigt waren, einen Brückenkopf in den Urwald zu hacken, starrten angestrengt die Küste entlang nach Südwesten. Plötzlich tauchte hinter einer kaum eine Meile entfernten Landzunge jener schwarze, schlanke Rumpf auf, den sie alle zu fürchten gelernt hatten, und schoß mit aufschäumender Bugwelle heran. Bei diesem Anblick griff Gimp selbst nach einem Enterbeil, drängte seine Männer beiseite und fiel über das Dschungeldickicht her wie ein Wahnsinniger; seine weitausschwingenden Beilhiebe zertrennten armdicke Lianen wie Spaghetti. Diejenigen seiner Leute, die neben ihm an der grünen Mauer Fuß fassen konnten, verdoppelten ihre Anstrengungen. Bruder Aldo bemerkte, daß die Katapultmannschaft immer noch standhaft bei ihrem Gerät auf dem Achterdeck ausharrte, und schickte sie nach vorne zu den anderen. Das schwarze Schiff der Unreinen fegte wie eine Furie heran, und dann blitzte eine hellblaue Stichflamme auf seinem Vorderdeck auf. Fast im gleichen Moment wurde ein schrilles Zischen hörbar. »Die Blitzkanone!« schrien Hiero und Lucare wie aus
einem Mund. Hundert Meter hinter dem Heck der Gischtfee stieg plötzlich eine Dampfsäule empor. »Los jetzt«, brüllte Gimp, halb in zerhacktem Grünzeug begraben, »wir haben euch eine Lücke gehauen, und dahinter ist das Zeug nicht so dicht. Rührt euch schon, ihr faulen Hurensöhne!« Dies galt seiner treuen Mannschaft, die daraufhin wie eine Schar Termiten über den Bug hinüberschwärmte. Dahinter zog und drängte Hiero seinen Ellk vorwärts, und Lucare half von der anderen Seite. Gorm sprang blitzartig vom Deck hinunter und den Männern nach. Bruder Aldo kletterte ebenfalls hinüber, behende wie ein Grashüpfer. Klootz stieg mißtrauisch über das Gewirr von Tauen und zurückgelassenem Gerät im Bug. Der Priester und das Mädchen versuchten, ihn mit leisem Zuspruch zu beruhigen, als er zögerte und aufgeregt witternd den Dschungel gegenüber musterte. Von den anderen war nur mehr der alte Aldo in Sicht, der ihnen mit besorgtem Winken zur Eile riet. Aus unerfindlichem Grund wurde Hiero die Dschungelhitze erst jetzt bewußt; es war, als ob sie die Tür zu einem Backofen geöffnet hätten, einem ziemlich feuchten allerdings. Nun spannten sich Klootz' Muskeln zum Sprung. Wer immer die Zielvorrichtung der Blitzkanone bediente, hatte sich jetzt auf die Entfernung eingeschossen. Ein Ohren betäubendes Bersten ließ die drei an Deck entsetzt herumfahren – die hintere Hälfte der kleinen Kajüte war in einer grellen Stichflamme verschwunden.
Furchtbare Hitze schlug ihnen entgegen und versengte ihnen fast die Haare. Der Ellk röhrte angsterfüllt auf und sprang mit einem gewaltigen Satz vom Schiff herunter, die beiden mitreißend, die sich verzweifelt an seine Zügel klammerten. Es war mehr Glück als Berechnung, daß das aufgeregte Tier genau in der Lücke landete, die die Männer in das Unterholz gehackt hatten. Bruder Aldo konnte sich gerade noch zur Seite werfen, um nicht zertrampelt zu werden. Er kam jedoch gleich wieder auf die Beine und rannte dem durch das Dickicht brechenden Ellk nach. Ein paar Sekunden später war die verlassene Gischtfee, deren Segel und Tauwerk in einem ablandigen Wind hin und her schlugen, der einzige Beweis, daß überhaupt jemand dagewesen war. Der Rauch ihrer lichterloh brennenden Kajüte stieg wirbelnd in die klare Morgenluft hoch. Plötzlich lief das Feuer wie an einer Zündschnur über die Wanten in den Hauptmast, und einen Sekundenbruchteil später flammte das große, geschwungene Segel in einer gewaltigen, orangefarbenen Feuerblüte auf. Die krachenden Entladungen der Blitzkanone schlugen nun in rascher Folge durch den Rauch und Qualm, brannten aber nur auf gut Glück Löcher in die grüne Pflanzenbarriere, weil die Feinde, obzwar sehr nahe an der Küste, jetzt gar nichts mehr sehen konnten. Endlich wurde der Befehl zur Feuereinstellung gegeben. Das schwarze Schiff blieb noch eine Weile beigedreht vor dem Strand liegen, während auf seinem Deck scharfe Augen vergeblich durch den Rauchvorhang nach der
entwischten Beute Ausschau hielten. Das war natürlich ein hoffnungsloses Unterfangen, und bald schwang der schlanke dunkle Rumpf herum, die verborgenen Maschinen begannen zu arbeiten, und das Schiff der Unreinen glitt davon, die Küste hinunter nach Südwesten, woher es gekommen war. Nach ein paar Minuten war es nicht mehr zu sehen. Von der jetzt bis in die Toppen brennenden Gischtfee stieg eine schwarze Rauchsäule hoch, die sich nach einer Weile im Wind auffächerte. Nichts regte sich mehr an der Küste, außer ein paar kleinen Vögeln in den mächtigen Baumkronen des Dschungels. Weit weg, in einem Gewölbe tief unter der Erde und dem Pflaster des alten Neeyana, wandte sich eine Gestalt mit einem zornigen Ausruf von einer Instrumentenkonsole ab. »Ist das eure vielgepriesene Tüchtigkeit?« zischte sie wütend. »Der Gelbe Zirkel würde es dem Blauen schon zeigen Ja? Ich werde noch ein Wort mit euren Meistern zu reden haben!« Erbittert und enttäuscht verließ Sduna vom Blauen Zirkel die unterirdische Kammer, und seine kalte Wut umgab ihn wie eine Giftwolke. Alle, die sie fühlten, wichen zurück und verbargen sich, aber an anderer Stelle in der Zitadelle der Unreinen wurden neue Befehle ausgegeben, und die Diener des Gelben Zirkels machten sich erneut ans Werk. Wieder war unerklärlicherweise ein Anschlag vereitelt worden, doch die Jagd würde nicht aufgegeben werden, solange auch nur einer
der Dunklen Bruderschaft am Leben war. Als sie an diesem Abend zu Füßen der Urwaldriesen ihr Lager aufschlugen, fühlte sich keiner so recht wohl. Die Seeleute, an die klare Weite des offenen Meeres gewöhnt, empfanden die drückende Schwüle und die undurchdringliche Dunkelheit als besonders unangenehm und unheimlich, obwohl Gimp und Blutho die gewohnte Disziplin aufrechterhielten und immer wieder darauf hinwiesen, daß sie alle mit heiler Haut davongekommen waren. Bei Hiero und Lucare traf das nicht zu – beide hatten Abschürfungen und Prellungen davongetragen, als Klootz sie in seiner Panik gute hundert Meter durch das Dickicht geschleift hatte. Zwei winzige Lagerfeuer waren nur ein sehr geringer Trost in der bedrückenden Finsternis. Rund um das Lager hatten sie aus umgestürzten Baumstämmen und Ästen einen niedrigen Wall errichtet, der jedoch mehr ein psychologischer als ein echter Schutz war. Die gewaltigen Stämme, die aus dem flackernden Lichtkreis des Feuers nach oben in die Dunkelheit wuchsen, die unheimlichen Schreie und rätselhaften Geräusche des Dschungel ringsum, die glühenden Augen, die rundum aus der Nacht im Widerschein der Feuer funkelten, all das ließ die Männer enger zusammenrücken und in gedämpftem Ton sprechen, wenn sie nicht überhaupt schwiegen. »Wir hatten Glück, daß wir diese Lichtung hier fan-
den«, sagte Hiero und bemühte sich stoisch, den zerschundenen Zustand seiner Arme und Beine nicht zu beachten. Er wußte, daß Lucare ebenfalls die Glieder weh taten, und daß sie auch damit fertig wurde ohne zu klagen. Sie war ein wunderbares Mädchen, seine Prinzessin! Sie saßen ein wenig abseits von den anderen, bei dem Bären und Klootz, der nun friedlich sein Futter wiederkäute. Bruder Aldo war am frühen Abend verschwunden und hatte nur gesagt, daß er vor Mondaufgang zurück sein würde. »Nicht, daß wir hier unten viel vom Mond sehen werden«, hatte er hinzugefügt. »Ich glaube, er ging diesen Pfad suchen – wenn wir überhaupt in der richtigen Gegend sind«, meinte nun das Mädchen. Ihr dunkles Gesicht wirkte bedrückt und müde in dem flackernden Feuerschein. »O Gott, hört euch das an!« rief Hiero und sprang auf die Füße, die Hand am Schwert. Auch die anderen waren alle hochgefahren, als gar nicht weit entfernt ein entsetzliches Getöse ausbrach, ein donnerndes Wutgebrüll, heiser und tief, das immer wieder von einem schrillen Kreischen übertönt wurde, so als hätte der Urahne aller Großkatzen sich mit einem Auerochsen angelegt, nur viel, viel lauter. Selbst Klootz' allerlauteste Bemühungen hätten neben jenem dumpfen Brüllen wie das Wimmern eines Kindes gewirkt. So plötzlich, wie es begonnen hatte, verstummte das gräßliche Getöse wieder; halb betäubt kauerten sich die Menschen um ihre Feuer, so nahe wie möglich. Nach einer Weile setzten die normalen nächtli-
chen Geräusche wieder ein, da ein Quietschen, dort ein Heulen oder ein heiseres Gebell, alles untermalt von dem Singen zahlloser Insekten. Langsam beruhigten sich die Männer wieder. Ein wirklich großes Tier, kam eine gelassene Gedankenbemerkung von Gorm. Es wurde von einem fast ebenso großen angegriffen und hat es getötet, jetzt ist es sehr zornig. Ich glaube, ich würde diesen Männern da raten, leise zu sein. Sehr leise. Hiero huschte zur nächsten Gruppe und zischte den Leuten zu, still zu sein. Ein Blick in sein Gesicht genügte, sie zu augenblicklichem Gehorsam zu veranlassen. Er wußte längst, wenn der Bär einen warnte, dann tat man gut daran, die Warnung ernstzunehmen. Bald standen alle bewegungslos und stumm, mit gezogenen Waffen, beisammen und warteten, unruhige Blicke in das Dunkel werfend. Es kommt, dachte der Bär. Bereitet euch vor. Der Metz stand dicht neben Klootz und versuchte Lucare zu schützen, die ebenso angespannt ins Dunkel starrte wie er. Es kam von Süden, bemerkte er, als er seine gesamten Geisteskräfte darauf konzentrierte, das Gehirn des Wesens aufzuspüren. Endlich glaubte er es gefunden zu haben. Die Ausstrahlung des Tiers war nicht allzu verschieden von der des Ellks, nur viel, viel primitiver; außerdem bebte der Geist der Bestie vor Wut und Schmerz. Hiero versuchte, das Tier mit einer Gedankensonde zu beeinflussen, aber diese geistige Waffe war
noch zu neu für ihn. Er war sich vorher nie klar darüber geworden, wie fremd die Gedanken der großen Pflanzenfresser eigentlich waren, und wie sehr Gewöhnung und auch einfach gegenseitige Zuneigung seine Verständigung mit dem Ellk erleichterten. Er versuchte es nochmals, aber das primitive Gehirn war zu sehr von sinnloser Wut erfüllt, als daß ein Unerfahrener es hätte kontrollieren können. Und Aldo war nicht da. Nein, ich bin zurück, kam ein schneller, klarer Gedanke. Geh aus seinem Geist raus, Hiero, und laß es mich allein versuchen! Vielleicht kann ich es ablenken. Schnell! Jetzt konnten bereits alle das Tier hören. Ein wuchtiges Trampeln ließ den Waldboden erdröhnen. Es wurde immer schneller und stärker. Mächtiges Schnaufen und Grunzen klang auf. Weg von den Feuern! lautete der Gedankenbefehl des alten Mannes. Hastig gab Hiero die Warnung weiter, und Gimp und seine Männer stoben nach allen Seiten auseinander. Lucare half Hiero, Klootz am Zügel hinter eine der massiven Pfeilerwurzeln eines riesigen Baums zu ziehen, knapp außerhalb des gegen die Masse des Angreifers nutzlosen Lagerwalls. Jetzt wuchs das donnernde Trampeln zu einem tosenden, berstenden Krachen an, das wie ein Tornado heranbrauste, und dann brüllte das Ungeheuer noch einmal. Der Kampf mit dem überwältigten Angreifer mußte viel weiter weg stattgefunden haben als sie vorher ange-
nommen hatten, dachte der Priester, denn aus unmittelbarer Nähe war das Gebrüll wahrhaftig ohrenbetäubend. Und dann tauchte etwas Riesiges aus dem Dunkel, ein Gigant wie jene, die die Erde Jahrmillionen vor dem Aufstieg des Menschen bevölkert hatten. Jetzt hatten harte Strahlung und die dadurch bewirkten Mutationen und eine starke Klimaveränderung noch einmal die Lebensbedingungen geschaffen, die solch riesigen Geschöpfen eine zweite Chance gaben. Mindestens acht Meter maß das Tier bis zu dem dunklen, schweren Kopf auf dem dicken, kurzen Hals. Es hatte einen kurzen Rüssel und ein unteres und ein oberes Paar von Stoßzähnen. Der mit einem kurzhaarigen Fell bedeckte Körper fiel von den säulenähnlichen hohen Vorderbeinen scharf zu den viel kürzeren Hinterbeinen ab. Als es vorüberdonnerte, sah der Metz ein winziges Schwänzchen durch die Luft wirbeln, ein lächerlich wirkendes Anhängsel bei einem so gewaltigen Tier. Frische Wunden an seinen Flanken glänzten naß und dunkel, als es in den Bereich der Feuer kam, und die kleinen roten Augen funkelten erbost und suchten nach neuen Widersachern. Die Flammen schienen das Tier jedoch abzulenken. Es trampelte geradewegs auf das nähere Feuer zu und tanzte wütend darin herum, daß glimmende Aststücke nach allen Richtungen stoben. Mit einem neuerlichen Wutgebrüll stürzte es sich dann auch auf das zweite Feuer und zertrampelte es ebenso. Mit unverminderter Wut stürmte es über die kleine Lichtung und zwischen zwei Riesenbäumen
durch, in den Urwald hinein. Es war im hohen Buschwerk verschwunden, bevor das letzte Glutstückchen der niedergetrampelten Feuer erlosch. Wie versteinert standen die Menschen in der zunehmenden Dunkelheit beisammen und horchten auf das sich entfernende Getöse und Gebrüll, das sich noch verstärkte, als der Schmerz von den verbrannten Füßen das winzige Gehirn der Bestie erreichte. Bevor es noch einer der Lauschenden richtig begriffen hatte, war der Lärm in der Ferne erstorben, und die ›normale‹ Geräuschkulisse des Urwalds wurde wieder hörbar. »Alles in Ordnung, Männer«, erklärte Bruder Aldos Stimme munter. »Nun wollen wir aber diese Feuer wieder in Gang bringen und unsere Barriere neu aufbauen. Dieses Tier kommt nicht mehr zurück, aber vielleicht interessiert sich noch ein anderes für uns. Eilt euch, wir haben keine Zeit zum Faulenzen.« Der alte Elfer war wie aus dem Nichts wieder aufgetaucht und stand in der Mitte der kleinen Lichtung. Er half Gimp und Hiero, die Arbeiten zu leiten, bis alles wieder wie vorher war, nur daß die Barriere nun auf Brusthöhe aufgestockt worden war. Als neue Wachen aufgestellt worden waren, ließ er Gimp das Kommando an Blutho übergeben und bat ihn, sich zu ihnen zu setzen. In diesem Augenblick entdeckten sie, daß drei der Matrosen fehlten. »Haben wahrscheinlich in ihrem Schrecken Fersengeld gegeben und dann nicht mehr zurückgefunden, oder es hat sie was gefressen«, meinte Gimp philosophisch. »Was
soll man tun, wenn die Leute nicht auf einen hören? Ich habe diesen hirnlosen Hundesöhnen wohl tausendmal eingeschärft, sie müßten beisammenbleiben, und was tun sie? Sie wissen's natürlich besser!« »Ich fürchte, du hast recht«, sagte Aldo. »Wir wollen dankbar sein, daß es nicht schlimmer gekommen ist. Wenigstens Unreine sind keine in der Nähe. Ich spüre nur das Poros, dieses arme dumme Vieh, das da an uns geraten ist.« »Armes Vieh!« platzte Lucare heraus. »Dieses grauenhafte Ungeheuer!« »Nun ja, mir tut es leid«, lautete die sanfte Antwort. »Dies ist sein Wald, Prinzessin, nicht unserer. Es hatte gerade einen schrecklichen Kampf durchgestanden und hielt uns auch für Feinde. Ich habe es zur Küste schickt, wo es seine verbrannten Füße in der Inlandsee kühlen kann«, fügte er hinzu. »Jetzt wird es sich schon besser fühlen.« Sein Tonfall war beinahe der einer Kinderschwester, die einen ihrer verzogenen Schützlinge beruhigt hat. Hiero lächelte in sich hinein. Die Elfer waren wahrhaftig die Hüter alles Lebens! Er war sich klar darüber, daß er diese Einstellung irgendwie billigte oder zumindest verstand, aber es würde wohl noch lange Zeit dauern, bis er ein gigantisches Poros als das einfältige Kind sehen konnte, daß es für Bruder Aldo offensichtlich war. »Nachdem das nun glücklich überstanden ist, werde ich uns, glaube ich, weitere Besuche der Dschungelbe-
völkerung ersparen können, zumindest heute Nacht. Und es wird euch freuen, zu hören, daß ich den Pfad tatsächlich gefunden habe.« Der alte Mann strahlte sie vergnügt an und strich sich den weißen Lockenbart. »Es tät mich freuen, noch eine Menge anderer Dinge zu hören«, gab Gimp angriffslustig zurück. »Zum Beispiel, wer mir 'n neues Schiff bezahlt, obwohls sowas wie die alte Gischtfee ja kein zweites Mal gibt. Und meine ganze Ladung, alles futsch, samt der saftigen Beute, die ich von Roks Schiff geholt hatte, und bei meiner Seel, ich hab's mir wahrhaft schwer verdient! Wirklich, Bruder, mit der fetten Prise hätt' ich mich zur Ruhe setzen können, und meine Männer auch. Wer ersetzt uns den Verlust, he, und wann und wo? Sollen wir vielleicht in diesem verdammten Wald rumirren, bis uns alle was gefressen hat, so wie dieser wandelnde Berg vorhin?« Trotz seiner verwurfsvollen Worte glänzten die Augen des kleinen Schiffers jedoch aufgeregt, und sein lächerliches Zöpfchen wippte munter auf und ab. Hiero begriff, daß Gimp im Grunde genommen eine romantische Natur war, auch wenn er lieber gestorben wäre, als so etwas zuzugeben. Er war einer jener Männer, die ein neues Abenteuer erst richtig aufleben ließ. Natürlich hielt er sich gern schadlos, wo es möglich war, aber eigentlich war Geld für ihn von sekundärer Bedeutung, und seine Beschwerde nicht ernst gemeint. Jetzt sah er zuerst Hiero und dann den alten Mann herausfordernd an. Aber Bruder Aldo kannte seinen Mann. »Was, Käptn,
können deine tapferen Männer nicht ein paar Unbequemlichkeiten aushalten? Gewiß werden doch Seeleute, die schreckliche Stürme überstanden und mit menschenfressenden Piraten und Seeungeheuern gekämpft haben, nicht vor einem kleinen Waldspaziergang Angst haben?« Lucare und Hiero grinsten einander belustigt an. ›Kleiner Waldspaziergang‹, wahrhaftig! Aber es war natürlich das beste, nicht erst mit dem kleinen Schiffer zu debattieren, sondern ihn bei seiner Ehre zu packen. »Meine Leute sind die gottsbeste Mannschaft auf der ganzen Inlandsee«, prahlte er. »Ich sag euch, Roks Männer wären alle davongerannt, wenn so 'n Riesenvieh auf sie zugestürmt wär'. Nein, die Burschen folgen mir durch Pech und Schwefel, wenn's sein muß. Aber was ist mit unserem Geld? Und wohin wollen wir eigentlich?« Die letzte Frage klang aufgeregt. »Nun«, sagte Aldo, »ich habe zwar kein Recht, eine derartige Zusage zu machen, aber wenn – wenn, sage ich – der Oberste Ordensrat zustimmt, dann sollt ihr keinen Schaden von dieser Angelegenheit haben und auch für den Verlust des Schiffs und seiner Ladung voll entschädigt werden. Schließlich steht ihr im Dienst des Elften Gebots, nicht wahr?« »Für mich genügt Euer Wort, Bruder«, sagte Gimp. »Ich weiß, daß keiner gerechter ist als Ihr. Aber wie geht's nun weiter?« »Dazu wüßte ich einige Antworten, Gimp«, warf der
Metz ein. »Wir wollen nach Südosten, der Bruder und ich, und ich halte es für das gescheiteste, wenn du und deine Leute mitkommen.« Er wies mit einer vielsagenden Handbewegung auf die Urwaldriesen ringsum und die undurchdringlichen Schatten dazwischen. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß deine Männer hier auf eigene Faust losziehen möchten, hm? Drei sind schon umgekommen. Ich habe mit meinem Geist die Umgebung abgesucht und Aldo auch, und wir können keine menschliche Ausstrahlung mehr aufspüren. Ich fürchte, sie sind also wirklich irgendeiner hungrigen Bestie in den Rachen gelaufen. Kannst du den übrigen diese Gefahr klarmachen? Wir müssen beisammenbleiben.« »Ja«, ergänzte Aldo, »und sage ihnen auch, daß Hiero von nun an den Oberbefehl über die Expedition hat. Wir haben einen Landmarsch vor uns, und unser Anführer muß Erfahrung in so etwas haben. Ich werde ihm zur Seite stehen, und du hast natürlich weiterhin das direkte Kommando über deine Leute.« »Ist mir recht«, sagte der Schiffer. »Darüber werden wir uns nicht in die Haare gehen, das is' mal sicher. Ich hab' dreißig Mann, nein, siebenundzwanzig, weil ja diese drei Idioten wegrennen mußten. Ich und Blutho werden sie schon bei der Stange halten. Wir haben noch Proviant für zwei Wochen, aber nur sieben große Wasserschläuche. Wie steht's in der Gegend mit Wasser?« »Ich werde euch Wasser und auch Wild besorgen«, antwortete Aldo. »Wir brechen bei Morgengrauen auf.
Der Pfad ist weniger als eine Meile von hier entfernt, zwar wieder einmal ziemlich zugewachsen, aber immer noch ein gangbarer Weg. Die Tiere benutzen ihn, deshalb werden auch wir darauf weiterkommen, obwohl es scheint, daß lange Zeit keine Menschen mehr dort gegangen sind, jedenfalls, so weit ich das im Dunklen feststellen konnte.« Während der Mond aufging und undeutlich durch das hohe Blätterdach schimmerte, und die Lagerfeuer zu rötlichen Gluthaufen zusammenfielen, berieten sie sich über den nächsten Tagesmarsch. Immer wieder durchsuchte Hiero mit Gedankensonden das umliegende Dunkel, aber er stieß auf nichts Verdächtiges. Der Dschungel war natürlich erfüllt von Leben, aber nur von solchem, dessen natürliche Umgebung er war – Raubtiere und ihre Beute, in Pelz, Schuppenhaut oder Gefieder. Schließlich, nachdem Posten aufgestellt und die Wachablöse eingeteilt worden war, schliefen alle ein wenig. Am nächsten Morgen wurde Klootz zu seiner Empörung mit Proviant vollgepackt. Benimm dich, wies ihn Hiero an, ich werde schon wieder auf dir reiten. Tatsächlich war der Ellk dazu abgerichtet, bei Gelegenheit auch Lasten zu tragen, so daß sein Ärger mehr eine Sache des verletzten Stolzes war. Er hatte früher mehr als einmal dringend benötigten Proviant zu isolierten Siedlungen in Kanda getragen. Jetzt schüttelte er unmutig sein riesiges schwarzes Geweih und röhrte, daß Lucare sich die Ohren
zuhalten mußte. Ein Chor von Gezeter und Gebell antwortete, und dann begann der Marsch durch den großen Wald. Hiero und der Bär machten die Vorhut, um den Weg zu erkunden. Dahinter kamen der Maat und eine ausgesuchte Schar Männer mit Äxten und Säbeln, die größere Hindernisse aus dem Weg räumen würden. Auf diesen Stoßtrupp folgte der Rest der Seeleute unter Gimp, die alle mit Schwertern, Dolchen und Bootshaken bewaffnet waren. Den Abschluß bildeten einige ausgesuchte Bogenschützen und schließlich der Ellk, Lucare und der alte Elfer. Obwohl es Hiero wenig gefiel, so weit von seinen Freunden getrennt zu sein, hatte er diese Marschordnung doch selber als die vernünftigste angeordnet. So hatten sie an jedem Ende der Kolonne einen Telepathen, und außerdem würde eine Gefahr viel wahrscheinlicher vorn als hinten auftreten. Wie Bruder Aldo angekündigt hatte, stießen sie sehr bald auf den alten Pfad. Sein Orientierungssinn sagte Hiero, daß der Weg fast genau nach Südosten verlief. Obwohl hier und da ein paar Büsche und Stauden daraufwuchsen, kamen sie doch leicht vorwärts. Die Seeleute wurden munterer und begannen zu singen, Lieder, die Lucare zu überhören vorgab, während sie sich einige der saftigsten Wendungen merkte, um sie später an ihrem Liebsten auszuprobieren. Die gute Stimmung der Leute, fand Hiero bei der Mittagsrast heraus, rührte teilweise von dem von Gimp geschickt ausgestreuten
Gerücht her, daß sie auf der Suche nach einem ungeheuren Schatz wären. Eine solche romantische Mär hat noch selten verfehlt, einfache Seeleute zu begeistern, und sie wirkte auch diesmal. Während Hiero langsam vorauspirschte und die Augen nach Verdächtigem offenhielt, wünschte er sich unwillkürlich, allein mit Lucare diese wunderbare grüne Märchenwelt erforschen zu können. An die feuchte Hitze hatte er sich inzwischen gewöhnt, und im tiefen Schatten der Urwaldriesen war sie nicht einmal unangenehm. Es gab überraschend wenig Fliegen und Mücken, was vermutlich den unwahrscheinlich vielen, verschiedenartigsten Vögeln zu verdanken war. Große und kleine Affen schnatterten in den Baumkronen, und andere kleine Tiere, die dem Metz meist unbekannt waren, huschten durch den Lianenbehang der gewaltigen Bäume und schwangen sich an den Schlingpflanzen durch die Luft. Ab und zu erinnerten ihn große Fußspuren, von denen jedoch keine sehr frisch war, daran, daß nicht alle Urwaldbewohner so klein waren. Und einmal scheute der Bär plötzlich vor etwas zurück, das wie ein seichter, glatter Graben quer über den Weg verlief. Hiero hob eine Hand als Signal zum Haltmachen und rief nach Bruder Aldo. Die große, runde Rinne in dem halb vermoderten Blätterteppich des Pfades ließ nur eine schreckliche Auslegung zu, die von dem alten Mann bestätigt wurde. »Ja, mein Junge, eine Schlange. Wir wollen hoffen, daß
wir ihr nicht begegnen. Sie sind telepathisch nur sehr schwer zu kontrollieren, und mit gewöhnlichen Waffen ist ihnen fast nicht beizukommen. Ich würde sagen, diese hier war gut fünfundzwanzig Meter lang.« Damit begab sich Aldo wieder nach hinten, während Hiero wie zuvor vorausging, merklich eingeschüchtert und mit verdoppelter Aufmerksamkeit. Mitunter, vielleicht an Stellen mit felsigem Untergrund oder schlechterem Boden, lichtete sich der Dschungel, und das grüne Dämmerlicht unter den Bäumen wich sonnigen, blumenübersäten Wiesen. Auf einer dieser Lichtungen begegneten sie einer neuen Gefahr. Der Priester und sein Begleiter, der Bär, hatten die Lichtung, die kaum mehr als hundert Meter breit war, fast zur Hälfte überquert, als ein langes, schlankes Wesen – vielmehr zwei – aus dem Waldrand zu ihrer Linken hervorbrachen und mit so unglaublicher Geschwindigkeit auf die kleine Karawane zuschossen, daß Hiero seinen Augen nicht traute. Zuerst hielten die beiden Bestien auf ihn zu, schwenkten dann plötzlich ab und packten die ersten beiden Seeleute hinter Hiero, rissen sie, ohne in ihrem rasenden Lauf auch nur innezuhalten. Bevor einer der Männer eine Waffe ziehen konnte, waren sie auch schon wieder verschwunden. In Hieros Geist war nur ein verschwommener Eindruck von zwei Tieren zurückgeblieben, die ungefähr wie riesige Füchse mit langen Stelzenbeinen aussahen, zwei dahinsausende braungescheckte Silhouetten vor dem hellen Hinter-
grund des Grases, jeder mit einem Mann in den gebleckten Fängen. Die beiden Opfer hatten nicht einmal Zeit gehabt zu schreien. Als alles vorbei war, begriff Hiero, daß er die beiden Angreifer durch seinen Geist von sich selbst abgelenkt hatte, in einer instinktiven Reaktion wie ein Mann, der noch halb im Schlaf einen Arm hochreißt, um sich vor einem Schlag zu schützen. Als alle Halt gemacht hatten und beisammen standen, beichtete er Aldo sein Verhalten und versuchte, es zu entschuldigen. Lucare jedoch war es, die ihm die Gewissensbisse ausredete. »Das ist doch Unsinn! Es tut mir auch leid, daß diese beiden Männer getötet wurden, aber du hast sie doch nicht umgebracht! Und wie viele von uns sind nur am Leben, weil du im rechten Moment Mut gezeigt hast und dich mit allen deinen Fähigkeiten für uns eingesetzt hast! Sprich ein Gebet für diese beiden armen Seelen, und dann benimm dich wieder wie unser Anführer!« Sie wandte sich schroff um und marschierte zu ihrem Platz am Ende der Kolonne zurück, Klootz folgte ihr auf den Fersen. »Jetzt sind nur mehr fünfundzwanzig von den Burschen übrig, aber sie hat recht, Meister Hiero, bei meiner Seel', sie hat recht. Ohne Euch wär' keiner von uns hier. Niemand macht Euch einen Vorwurf, mein Wort drauf.« Gimp hatte das Gespräch mit angehört, und seine ehrliche Meinung stand in sein schwitzendes, breites Gesicht geschrieben. Bruder Aldo klopfte dem Metz freundlich auf die
Schulter. »Hiero, die Vorwürfe verdiene eher ich. Ich habe mir eingebildet, diese Wälder und ihre Bewohner zu kennen. Und trotzdem hab' ich die Gehirne dieser flinken Räuber überhaupt nicht gespürt. Ganz offen gesagt, sind sie mir vollkommen unbekannt, und ich nehme stark an, daß nicht einmal unser Zentralinstitut von ihnen weiß. Kränke dich also nicht deshalb. Denk daran, wir alle verlassen uns auf dich.« »Also gut. Ich nehme an, ich hätte sowieso nichts tun können. Aber ich komme mir trotzdem wie ein verdammt schlechter Anführer vor. Gehn wir.« Nach diesem Vorfall marschierten die Seeleute lange Zeit schweigend weiter. Als es dunkel wurde, suchten sie sich wieder einen Lagerplatz. Sie fanden eine brauchbare Stelle zwischen drei großen Bäumen, die sie mit einer starken Barriere verbanden. Aber in der Nacht griff irgend etwas Großes über den Schutzwall und nahm einen der beiden Wachtposten mit. Der verhallende Schrei des Mannes alarmierte das Lager, denn der zweite Wachtposten hatte gerade in eine andere Richtung geblickt und wußte deshalb nicht, was eigentlich passiert war. »Sein Geist existiert nicht mehr«, sagte Hiero leise nach einigen Augenblicken. »Er ist tot, Gott sei Dank. Was sollen wir nur tun, Aldo? Wir können so nicht weitermachen. Jeden von uns kann es als nächsten treffen, aber diese armen Teufel erwischt es vor allem deshalb, weil sie keine Ahnung haben, welche Gefahren sie er-
warten. Sollte vielleicht immer einer von uns Wache halten? Was meinst du? Ich weiß einfach nicht mehr weiter!« Schließlich wurde beschlossen, daß Hiero und Lucare (darauf hatte sie energisch bestanden) zusammen die eine Hälfte der Nacht wachen würden, während Bruder Aldo und der Bär, die dicke Freunde geworden waren, die zweite Wache übernahmen. Zusätzlich würden sich je zwei von Gimps Leuten in vier Wachturnussen ablösen. Dieses System schien sich zu bewähren, denn in den nächsten beiden Nächten geschah nichts mehr, obwohl Hiero das mehr als Zufall ansah. Vier Tage, nachdem sie die Küste verlassen hatten, kamen sie an eine Stelle, wo der Pfad sich gabelte. Sowohl der rechte wie der linke Weg führte ungefähr in die Richtung, in die sie wollten, nur verlief der eine mehr östlicher, der andere südlicher. Sie machten Halt, um sich zu beraten, und weil es auch fast Zeit zur Mittagsrast und für einen Imbiß war. Hiero und das Mädchen hatten mit der Armbrust und den schweren, mit Bronzespitzen versehenen Pfeilen genügend Kleinwild erlegt, wobei sie nicht einmal weit vom Weg hatten abweichen müssen. Die Tiere des Waldes, soweit sie nicht selbst wilde Räuber waren, hatten nicht die geringste Scheu vor Menschen, was Bruder Aldo und der Priester als ermutigendes Anzeichen ansahen, denn es bewies, daß nur sehr selten Menschen durch diesen Landstrich gekommen waren.
Als sie sämtliche vorhandenen Landkarten studierten, wurde Bruder Aldos Miene immer unsicherer. »Da ist nirgends eine Gabelung eingezeichnet! Vor langer Zeit – und mein Gedächtnis funktioniert noch recht gut – habe ich diese Route einmal benutzt, und damals gab es diese Gabelung nicht. Und doch ändern sich Wildwechsel selbst in Jahrhunderten kaum – dieser Weg war und ist nämlich einer. Außer natürlich, das Land selber ändert sich, wenn zum Beispiel ein Fluß austrocknet oder ein neuer Vulkan entsteht.« Er ging zur Weggabelung hinüber und studierte die Stelle, wo die Pfade vor einem gigantischen Baum zusammenliefen, dessen Stamm ihn wie eine Fliege an der Wand erscheinen ließ, so riesig war dieser Baum im Scheitel eines sich langsam verbreiternden Walddreiecks zwischen den beiden Wegen. Die Seeleute nahmen schweigend ihre Mahlzeit ein, während ihre Anführer sich berieten. Das dichte grüne Blätterwerk weit über ihnen schützte sie vor der glühenden Sonne. Die schläfrige Stille des Mittags legte sich über den mächtigen Urwald, nur ab und zu tropften die glockenhellen Töne von Vogelgesang durch das Blattwerk herunter. Aldo kam zurück, immer noch mit niedergeschlagener Miene. »Wir werden die südliche Abzweigung nehmen, denke ich, falls niemand Einwände hat. Es sieht so aus, als ob sie näher an die Wüste heranführt, die auf der Karte eingezeichnet ist, als der alte Weg. Ich bin selber nie so
weit gekommen, sondern immer umgekehrt, bevor das offene Land begann. Aber ich kann mir immer noch nicht erklären, wie es bei einem Pfad, den keine Menschen benützen, so eine Gabelung geben kann; Tiere tun so etwas einfach nicht.« So überschritten sie die Grenze des Reiches von Vilahri, ohne es zu ahnen. Mehrere Meilen weit unterschied sich der neue Pfad überhaupt nicht vom alten, schlängelte sich wie dieser zwischen den gigantischen Stämmen durch und wich manchmal einem besonders mächtigen Baumriesen aus. Am späteren Nachmittag jedoch merkte Hiero, daß sich etwas änderte, und gab mit der Hand das Signal zum Halten. Gleichzeitig rief er Lucare, Aldo und Gimp nach vorn. »So hast du es also auch bemerkt«, meinte der alte Mann. »Was ist deine Meinung?« »Wir wandern einen langen, sehr flachen Abhang hinunter, in ein Flußtal, vermute ich. Die Bäume sind ziemlich die gleichen geblieben, aber hier gibt's mehr Hängemoose und Flechten, und die Farnsträucher werden häufiger und größer. Der Boden ist nicht naß, aber die Luft kommt mir feuchter vor. Und ich höre eine Unmenge fremder Vogelrufe. Was hast du festgestellt, Aldo?« »Daß hier viel weniger Tiere sind, auch nur kleinere und nur oben in den Bäumen. Keinerlei größeres Wild benutzt diesen Pfad, keine Losung, keine Spuren sind zu sehen. Trotzdem glaubte ich irgend etwas zu fühlen,
ganz am Rande meines Geistes, etwas, das ich passiv spüre aber nicht aktiv aufspüren kann, könnte man sagen. Dein Geist, mein Sohn, ist in vielerlei Hinsicht stärker als meiner. Versuche du es doch einmal. Aber sei vorsichtig, sehr vorsichtig!« Lucare sah einen Augenblick besorgt drein, dann wurde ihr Gesicht zu einer Ebenholzmaske, als sie sich besann, daß sie eine Königstochter war. Gimp streifte die drei und den blätterbedeckten Erdboden mit unruhigen Blicken. Dinge wie diese gingen ihm über den Horizont und waren ihm überdies unheimlich. Hiero schloß die Augen und stützte sich auf seinen Speer, den er mit der Spitze in den weichen Boden gestoßen hatte, und schickte seinen Geist auf die Suche. Anfangs stieß er nur auf die Gehirne vieler und scheuer Geschöpfe: Vögel hoch oben in den Baumkronen, Eidechsen auf flechtenbewachsenen Ästen, Kröten und Schlangen in den modernden Blättern am Boden. Immer weiter warf er sein Gedankennetz aus und suchte mit jeder Zelle seines starken Gehirns nach einem Anzeichen von Intelligenz. Endlich war er zu der Überzeugung gelangt, daß in einem Umkreis von vielen Meilen kein Geist existierte, mit dem er auf gleichem Niveau in Kontakt hätte treten können. Er begann, seine Sonden zurückzuziehen, sein ›Netz‹ einzuholen, hielt jedoch weiterhin die geistigen Empfangskanäle offen, um eine fremde Ausstrahlung sofort zu spüren. Und da geschah etwas Seltsames. Er konnte nicht die
Spur eines zusammenhängenden Gedankens auffangen, kein richtiges Signal, und doch wußte er, daß irgend jemand da war! In seinem Geist begann sich ein Bild zu formen – das Gesicht einer Frau! Oder doch nicht? fragte er sich. Das Gesicht war schmal, das Kinn spitz, ebenso die kleinen Ohren, die unter der dichten Haarkappe eben noch zu sehen waren. Und das Haar selbst? Wenn es wirklich Haare sind, dachte er. Die knapp anliegende helmähnliche Kopfbedeckung schien ihm viel eher aus Federn zu bestehen, aus fast lebendig schimmernden Federn. Und die Augen! Lang und schmal, mit senkrechten, gelben Pupillen und einer Iris von einem seltsamen, opalisierenden Grün. Kein Mensch hatte solche Augen! Überhaupt war Grün das Wesentlichste an seinem Eindruck von dem fremden Gesicht. Die blasse, glatte Haut und das sonderbare gefiederähnliche Haar schienen grünlich zu schimmern, als ob sich das Wesen, das ihn beobachtete, in den Atem des Waldes gehüllt hatte. Jedenfalls war entschieden etwas Weibliches an der Art dieser Musterung. Denn er wurde beobachtet, er wurde studiert, das war ihm völlig klar. Das fremdartige und schöne Gesicht – und es war schön – sah ihn irgendwie, und obwohl er weder ein Gedankensignal noch sonst irgendeine Art geistiger Verständigung wahrnahm, war er sicher, daß diese sonderbaren Augen ihn und seine Gefährten beobachteten. Und er wußte auch, daß es ihm gestattet wor-
den war, das Gesicht seines Beobachters zu sehen. Als dieser Gedanke sich in seinem Geist formte, verschwand das Bild wie eine platzende Seifenblase, im einen Moment noch klar zu sehen, im nächsten in Nichts aufgelöst. Trotzdem wurden sie immer noch beobachtet, auch das wußte er genau. Er zog seinen Geist zurück und schlug die Augen auf, um festzustellen, daß die anderen ihn gespannt ansahen. »Du hast etwas entdeckt«, sagte Aldo sofort. »Ich kann es in deinen Augen lesen.« »Etwas, ja, oder besser, jemanden. Wir werden scharf beobachtet. Aber ich kann nicht die geringste geistige Berührung fühlen, das ist das Sonderbare daran, und das beunruhigt mich auch am meisten. Selbst die Gedankenabschirmungen der Unreinen sind wahrnehmbar, als eine Art undurchdringliche Oberfläche, als Barriere, wenn auch die Gedanken dahinter es nicht sind. Aber in diesem Fall...« Als er das Bild zu beschreiben versuchte, das er in seinem Geist gesehen hatte, sah er, wie sich die Augen Lucares zornig verdunkelten, und brach sofort seinen Bericht ab, um sie bei den Schultern zu nehmen und sanft zu schütteln. »Nun sieh mal, du Närrchen, das Gedankenbild irgendeines weiblichen Wesens ist doch kein Grund zur Eifersucht. Ich habe gesagt, daß sie in gewissem Sinn reizend aussah, ja, aber irgendwie auf eine gar nicht menschliche Weise. Also laß das Schmollen und sei ein
bißchen vernünftig, ja?« Sein Blick hielt den ihren für einen Augenblick fest, und endlich lächelte sie. »Ich glaub', ich war wirklich eifersüchtig. Aber ich mag's nicht, wenn schöne grüne Frauen meinen Mann begutachten, wenn ich sie nicht mal sehen kann!« »Verständlich«, warf Bruder Aldo ein, »aber wir haben jetzt andere Sorgen Prinzessin. Hiero, erscheint dir dieses sonderbare Wesen gefährlich? Sicher ist es nur eins einer ganzen Gruppe.« »Ich weiß es nicht, ehrlich gesagt. Aber ich fühle, daß sich hinter diesem Gesicht Macht verbirgt, Macht einer Art, die ich überhaupt nicht verstehen kann. Das allein genügt, um mich nervös zu machen.« »Aber was soll'n wir tun? Sollten wir nicht besser umkehren, bevor uns diese unsichtbare Hexe oder was verzaubert?« Das wenige, was er von Hieros Bericht verstanden hatte, beunruhigte Kapitän Gimp gewaltig. Er war ein Mann, der sich kühn jeglicher physischen Bedrohung stellen würde, aber unsichtbare grüne Gesichter und geistige Kämpfe waren etwas ganz anderes. Weißt du, er könnte recht haben. Das war Aldos Geist, der sich über eine direkte Verbindung mit Hiero verständigte. Vielleicht sollte das eine Warnung sein, damit wir kehrtmachen und den anderen Weg nehmen. Plötzlich wurde Aldo durch ein anderes Gedankensignal unterbrochen. Ihr könnt nicht mehr umkehren, stellte der Bär ruhig fest. Der Weg ist jetzt versperrt. Ihr könnt nur vorwärts gehen, dorthin, wo die – (das folgende Symbol war nicht zu ent-
schlüsseln, vermittelte aber den Eindruck von großer Macht) euch haben wollen. Gorm brach die Gedankenverbindung ab, setzte sich auf die Hinterkeulen und sog witternd die feuchte Luft ein, die in dem Hohlweg lag. Kannst du hören – was immer uns bewacht? Sprechen sie mit dir, diese Wesen? Kannst du ihre Absichten erkennen? Ich kann nicht sagen, wie ich das erfahren habe, Hiero. Mir wurde gesagt, ich sollte euch diese Nachricht vermitteln, aber nicht so, wie du durch deinen Geist mit mir sprichst. Eher in der Art, wie ich weiß, in welcher Richtung ich nach Hause finde. Ich weiß es einfach. Gorms Erklärung erweckte den Eindruck, daß der Bär überzeugt war, ein derartiger Prozeß sei mit menschlichen Begriffen nicht verständlich zu machen. Teilweise irrte er sich mit dieser Ansicht, denn Hieros Richtungssinn war genausogut entwickelt wie der des Bären. Andererseits aber war die Verwendung dieses instinktiv-submentalen Bereichs zur Verständigung sowohl für den alten Elfer als auch für den Metz-Priester völlig neu. Was versperrt uns den Rückweg? fragte Hiero als nächstes. Horch, kam die Antwort. Ein hallender Schrei vibrierte durch die feuchte Luft des Hohlwegs, den sie herabgekommen waren. Die seltsamen Vogelrufe im Blätterdach über ihnen gingen in dem gewaltigen Schrei unter, der aus weiter Entfernung kam, aber doch sehr laut und kaum zu beschreiben war. Lucare bezeichnete ihn als ›eine Mischung von Stöhnen
und Knurren‹. Hiero fand, daß er eher wie das Heulen eines unvorstellbar großen Wolfes klang, der große Schmerzen litt. Bruder Aldo behielt seine Meinung für sich. Um was für ein Tier es sich auch handelte, es mußte sehr groß sein, und der Unterton von Wildheit in seiner Stimme war unverkennbar. Hätte man das Geräusch mit einem Wort beschreiben müssen, dann wäre wohl ›beunruhigend‹ am zutreffendsten gewesen. Es ist ein sehr großes Tier, größer als irgendeines, das ich je gesehen habe. Wir müssen weiter. Die Warnung des Bären war unmißverständlich. Hiero sah Bruder Aldo an, der die Achseln zuckte. Das erstemal, seit sie einander kannten, dachte der Priester, daß der alte Mann erschöpft und hilflos aussah. Wieder fragte er sich, wie alt wohl Aldo wirklich war. »Wir wollen zusehen, daß wir weiterkommen, Gimp«, sagte Hiero. »Sag deinen Männern, hinter uns ist ein großes Tier, das genügt.« »Das wissen sie recht gut, Meister. Sie sind ja schließlich nicht taub!« Er wandte sich um und knurrte einen Befehl. Als sie weitermarschierten, stießen sie immer häufiger auf große Moospolster und dicke Flechten, in grün, braun und grau, manche recht hübsch, andere schlicht oder einfach grotesk. Der Wald rechts und links wurde immer weniger deutlich, teils weil die Bäume über und über mit Flechten behangen waren, aber auch weil ein seltsamer grüner Dunst in der Luft zu schweben schien,
kein Nebel, dachte Hiero, eher so, als hätte das Licht in diesem Wald irgendwie eine andere Beschaffenheit, die dem normalen Auge nicht recht bewußt wurde. Er versuchte, die Umgebung in allen Richtungen mit geistigen Sonden zu erforschen, er stieß auf nichts Auffälliges. Er konnte nicht einmal den Geist der unheimlichen Bestie ausmachen, die ihnen den Rückweg versperrte. Jene, die das Tier kontrollierten, schirmten offenbar auch seinen Geist ab. Eine beachtliche Leistung, dachte er niedergeschlagen. Seine eigenen hart errungenen geistigen Kräfte erschienen im Vergleich dazu wie die eines Kindes. Du wirst gebraucht, teilte ihm auf einmal ein Gedanke Gorms mit. Wer – ich? Hiero war verblüfft. Ja. Ich weiß nicht, warum und wozu, jene, die mit mir sprachen, drücken sich nicht klar aus, wollen es vielleicht nicht tun. Aber du und kein anderer hat eine Aufgabe zu erfüllen, sonst sind wir alle verloren. Hiero marschierte weiter, die Armbrust locker in der einen Hand, den Speer über die Schulter gelegt. Bis auf seinen Helm, der ihm für die lange, heiße Wanderung zu beschwerlich war, wußte er sich kampfbereit. Eine Aufgabe erfüllen? Das wurde ja immer sonderbarer. Er wurde gebraucht, er persönlich, und wenn er versagte, dann mußten die anderen umkommen! Er knurrte ein paar kräftige Soldatenflüche in seinen Schnurrbart und bekreuzigte sich gleich darauf, um Gott wegen seiner lästerlichen Sprache um Vergebung zu bitten, was ihm in keiner Weise inkonse-
quent vorkam. Und so zogen sie weiter durch den schwülen, duftenden Urwald, begleitet von trillernden, pfeifenden Vogelrufen. Gerade als das Tageslicht verblaßte, kamen sie zu einer kleinen, moosbedeckten Lichtung. Die Männer platzten mit erstaunten Ausrufen heraus, als sie sahen, was da vor ihnen stand, und Hiero, Gimp und der einäugige Maat mußten die Neugierigen mit Flüchen und Stößen zur Vernunft bringen. Trotzdem waren die Leute zu verstehen, wie Gimp einigermaßen erschüttert zugab. In der Mitte der kleinen Mooswiese standen nämlich drei lange, hölzerne Tische, so niedrig, daß keine Sitze erforderlich waren. Sie waren beladen mit dampfenden Tellern und Schüsseln aus gebranntem Ton, die gegen die Abendkühle sorgfältig zugedeckt waren. Dazwischen ragten große irdene Flaschen hervor, die in höchst verlockender Art zugekorkt waren. Nach mehr als einer Woche voller Strapazen, bei einer Kost von Schiffszwieback und zähem Kleinwild war dieser Anblick unbeschreiblich verführerisch. »So wartet doch«, schrie Gimp und schwang den schweren Wanderstab, den er sich zugelegt hatte. »Was is', wenn das Zeug vergiftet ist, ihr hirnlosen Bastarde! Wollt wohl unbedingt an sowas krepieren, ihr vermaledeiten, schlappschwänzigen Idioten?« Schließlich und endlich kamen die Dinge durch Bruder Aldos und Lucares Vermittlung, vor denen die Männer gewaltigen Respekt hatten, wieder ins rechte Lot.
Kaum hatte Hiero so Gelegenheit gefunden, das aufgetischte Essen näher zu untersuchen, erhielt er eine weitere Nachricht, wieder durch Gorm übermittelt. Das Futter ist in Ordnung. Wir können essen. Ich sage dir, die Älteste braucht dich! Dann tauchte im Geist des Bären wieder das Bild jenes fremdartigen Frauengesichts auf! Also das war die ›Älteste‹, die Anführerin jener geheimnisvollen Waldgeschöpfe, die sie auf den Weg lockten und ihnen den Rückzug versperrten, und die nicht einmal ein mächtiger Telepath wie Bruder Aldo aufspüren konnte! Als Hiero den anderen versicherte, daß das Essen harmlos sei, machten sich die Männer darüber her, die meisten anfangs noch recht vorsichtig, aber als Hiero jedes einzelne Gericht gekostet hatte, mit mehr Zuversicht. Tatsächlich waren die Sachen ausgezeichnet, im wesentlichen unbekannte gekochte Gemüse und Wurzeln, aber auch Berge von einer süßschmeckenden Brotart, alles sehr fein gewürzt. Fleisch gab es keins. Die Tonflaschen enthielten einen sonderbaren, würzigen Kräuterwein, dessen Aroma sich beim Trinken fast noch verstärkte. »Kein Gift«, sagte er zu Aldo. »Ich habe gelernt, so etwas zu entdecken. Die Sachen sind völlig unschädlich, das weiß ich gewiß. Aber warum in aller Welt werden wir so großzügig bewirtet?« Er hatte dem alten Mann von Gorms Botschaft berichtet, aber weder er noch Lucare konnte sich die Sache erklären; allerdings weigerte
sich das Mädchen, ihm weiter als einen Schritt von der Seite zu weichen. Sie hatte nicht die Absicht, ihn allein irgendwelche grüne Frauen besuchen zu lassen. Endlich streckten sich die Männer gesättigt und zufrieden seufzend im weichen Gras aus. Überraschenderweise war niemand betrunken; der sonderbare Wein schien nur eine entspannende Wirkung zu haben. Als die Nacht sich unter dem Blätterdach ausbreitete, schliefen die Seeleute bald ein, außer den beiden, die Wachdienst hatten, und Hiero und Lucare, die gemeinsam die erste telepathische Wache hielten. Die Nacht war vollkommen still. Die Vogelrufe waren verstummt, und die kleinen Tiere im Unterholz rührten sich nicht mehr. Auch in den oberen Regionen der Dschungelwelt schien alles Leben zu ruhen. Es war, als stünde der ganze Wald unter einem seltsamen Bann, als sei er verzaubert worden. Selbst die großen Moospolster kamen Hiero auf einmal so eigenartig vor, fast als ob sie irgendetwas erwarteten. Mehr als ein winziges Lagerfeuer hatten sie in dem feuchten Wald nicht in Gang gebracht, und als später die Nachtnebel durch die Bäume sickerten, gloste es nur mehr. Als erstes fühlte Hiero mit fassungsloser Verblüffung, daß seine Beine unter ihm nachgaben. Aber da war doch kein Gift! gellte es durch sein Gehirn, als er ins weiche Moos taumelte. Sein verschwimmender Blick zeigte ihm noch Lucare, die gleich neben ihm zu Boden gesunken war, und dahinter die beiden ebenfalls bewußtlosen
Seeleute. Und dann nahm er nichts mehr wahr als einen grünen Nebel, der in Schwaden und Streifen vor seinen Augen aufwallte und bis in sein Gehirn zu kriechen schien. Er fühlte, daß sich hinter diesem Nebel ein Geheimnis verbarg, aber was es war, konnte er nicht mehr erkennen. Dann lichtete sich der Nebel. Er öffnete die Augen und blickte in die der ›Ältesten‹, wie Gorm das seltsame Wesen genannt hatte, das sie beobachtet, getäuscht und in eine Falle gelockt hatte. Er befand sich in einem schmalen, hohen Raum, der sich unter ihm zu bewegen schien. Er schwang die Beine über die Bettkante – denn er lag tatsächlich auf einem Bett – und sah sich um, ratlos und beunruhigt. Auf einem einfachen Hocker vor ihm saß jene Frau, und es war wirklich eine Frau, deren Bild er zuerst in seinem eigenen Geist und dann in dem des Bären gesehen hatte. Sie starrte ihn gelassen an, während er sie musterte. Sie war nackt, und ihre kleinen, festen Brüste waren spitz und aufreizend. Außer einer Halskette und einem schmalen Gürtel, die beide aus einem sehr feinen Metallgeflecht zu bestehen schienen, trug sie keinen Schmuck. Ihr weißgrüner Körper war vollkommen haarlos, stellte Hiero fest, und auch das seltsame Zeug, das ihren Kopf bedeckte, war kein Haar, sondern etwas wie eine Kreuzung von ovalen, grünen Federn und winzigen braunen Blättern. Es war jedoch eindeutig ein Teil ihres Körpers, keine Kappe.
Sie war wirklich sehr schön, und obwohl der Mann in ihm ihren Körper erregend fand, fühlte er sich auch irgendwie abgestoßen durch ihre Fremdheit. Denn sie war überhaupt nicht menschlich, auch wenn sie wie ein zierliches, wunderschönes Mädchen aussah. Der herrliche Körper verbarg etwas völlig anderes und Fremdartiges. In seinem noch ein wenig betäubten Geist formte sich der Gedanke, Gott, das ist ja, als ob ein Baum oder eine Blume sich für ein Kaninchen oder eine Katze ausgeben wollte! Jetzt erkannte er, daß der Raum von Kerzen erhellt wurde, dicken Kerzen, die in Wandleuchtern steckten und die einen seltsamen, warmen Duft verströmten. Außer dem Hocker, einem kleinen Tisch, auf dem ein paar hölzerne Becher und ein Krug standen, und dem geschnitzten Holzbett, auf dem er saß, enthielt der Raum nichts. Und er schwankte! In dem Augenblick, da er begriff, wo er sein mußte, was die Bewegung des hölzernen Fußbodens unter ihm bedeutete, da drang ein Gedanke in seinen Geist ein, und er wußte, daß seine Überwinderin zu ihm sprach. Wir (sind) hoch in den Bäumen, hoch oben, wie du (vermutest?) Ich weiß, was du denkst, aber ich (kann) nur schwer antworten, große Anstrengung. Wir sprechen nicht so/auf diese Art. Ihre Gedanken formten sich mühsam und zögernd, und als Hiero in die schmalen grünen Augen blickte, wurde ihm klar, daß es ihr tatsächlich Schmerzen verursachte, ihren Geist zur Verständigung zu benutzen. Sie zwang sich jedoch dazu, obwohl es ihr sichtlich weh
tat. Wie sprecht ihr dann? Wer bist du? fragte sein Geist. Er fühlte sich jetzt wieder klar im Kopf, und er bemerkte auch, daß er noch immer sein Schwert und seinen Dolch hatte. Seine sonderbaren Überwältiger wollten ihm offenbar zu verstehen geben, daß er kein Gefangener war. Je sicherer er sich fühlte, um so mehr wuchs jedoch seine Neugier. Ihre Antwort war ein hohes Trillern. Eine Folge perlender Töne entströmte ihren Lippen, sanft und klar war die Musik von fallenden Regentropfen. Vilah-ri, so klang es, und er wiederholte leise, »Vilah-ri«. Jetzt wußte er, woher der Vogelgesang stammte, der sie die ganze Zeit begleitet hatte. Bei seinem Versuch wiegte sie nur den Kopf und sang noch einmal die Töne hinaus. Ihre Zähne waren klein und ebenmäßig. Wieder versuchte er, ihre Stimme nachzuahmen, und gab es dann auf. Vilah-ri dachte er, ich kann deinen Namen leider in eurer Sprache nicht richtig aussprechen. Du mußt dich mit meinen Gedanken zufriedengeben und es bei Vilah-ri bewenden lassen. Und dann, während sie einander anstarrten, fielen ihm plötzlich Lucare und seine Gefährten ein. Wie konnte er hier herumsitzen und Unsinn reden, während seine Geliebte und seine Freunde hilflos und betäubt im Dschungel lagen, Gott weiß wie weit weg? Lebten sie überhaupt noch? Nun verschwand auch Vilah-ris gelassener Ge-
sichtsausdruck, und ihr voller, geschwungener Mund stieß eine Folge besorgter Trillerlaute aus. Sie versuchte ihm offensichtlich etwas zu sagen, aber sie erkannte schnell, daß sie sich so nicht verständlich machen konnte und verstummte. Wieder fühlte er, wie sich ihre Gedanken an seinen Geist herantasteten. Nein, das ist nicht so! Wir (haben) keinen von den (unverständlich) Bodenleuten (?) verletzt. Schau in meinen Geist! Mit der Zeit wurde sie geübter, und die Verständigung mit Gedankenbildern und Symbolen wurde flüssiger, so wie es auch bei ihm und Gorm gewesen war, nur daß ihm der Bär niemals so vorgekommen war. Vilah-ri zeigte ihm nun das Lager, auf dem er betäubt eingeschlafen war, aber es war jetzt von einer hohen Hecke aus irgendeiner Art Dornbüschen umgeben. In regelmäßigen Abständen außerhalb dieses Dornenwalls standen reglos nackte weiße Gestalten Wache. Vilah-ri so ähnlich, daß er sofort begriff, daß dies ihre Leute waren. Verblüfft sah er, daß es lauter Frauen waren, und dachte, Gott steh ihnen bei, wenn die Männer aufwachen und diese Waldnymphchen entdecken! Lucare, Bruder Aldo und der Bär lagen auf weichen Blätterlagen, und selbst der Ellk lag, alle viere von sich gestreckt, in tiefem Schlaf. Er sah aus wie eine eben erlegte Jagdbeute, hätten sich seine mächtigen Flanken nicht langsam gehoben und gesenkt. Wir brauchen dich, mein Volk und ich, dachte Vilah-ri, als er sich überzeugt hatte, daß alle seine Kameraden sicher und gesund waren. Die goldenen, bodenlosen Pupillen
ihrer grünen Augen hielten seinen Blick fest, als sie ihren Hocker näher zu ihm rückte. Ein schwacher Duft nach Blumen? Baumrinde? Honig? erreichte ihn, und ließ ihn ihre Fremdheit vergessen, ließ sie nur mehr schutzbedürftig und begehrenswert erscheinen. Was willst du? Die Schroffheit seines Antwortgedankens war Absicht, als hoffe er damit ihre Anziehungskraft, ihren eigenartigen Zauber zu brechen. Sie sah ihn einen Augenblick lang schweigend an, dann stand sie auf und ging mit anmutig schwingenden Hüften auf die andere Seite des Raums hinüber. Komm – ich will es dir zeigen. Sie schob einen hölzernen Laden in einer Rille zurück, und augenblicklich flutete Sonnenlicht in den Raum. Sie winkte mit ihrem blaß schimmernden Arm, und er trat neben sie, bemüht, sein Staunen über den Anblick zu verbergen, der sich ihm bot. Sie befanden sich im Wipfel eines der allerhöchsten Bäume des Dschungels. Meile um Meile erstreckte sich unter ihnen ein endloser dunkelgrüner Ozean von Baumkronen. Der Raum, in dem sie standen, war halb in einen wahrhaftig gigantischen Baum hineingeschnitten, halb an den Stamm angebaut, wie, konnte Hiero nicht erkennen. Es kam ihm jedoch vor, als ob die ganze Struktur dem lebenden Baum ausgepfropft war, was Vilah-ri bestätigte und dabei betonte, daß der Baum dadurch nicht verletzt würde. Sie hatte Hiero jedoch nicht ans Fenster geholt, um ihm die sonnendurchfluteten Dächer
ihrer Welt zu zeigen. Sie wies statt dessen nach Osten, und er sah den Feind ihres Volks. Weit draußen, den östlichen Horizont säumend, ragten scharfe Felszacken und Türme in den hellen Himmel, und die Morgensonne glitzerte auf weiten Sandflächen und Geröllhalden. Viel näher jedoch, zwischen Wald und Wüste, lag etwas anderes, etwas, das beidem fremd war und beides zurückdrängte. Ein ungeheurer, häßlicher Fleck, der in vielen Farben schillerte, in Lila und schmutzigem Orange, in öligen Brauntönen und kränklichem Gelb, schien sich in die grüne Baumwelt hineingefressen zu haben wie eine riesige, eiternde Wunde. Automatisch griff Hiero in seine Gürteltasche und holte sein Fernrohr heraus. Als er es scharf eingestellt hatte, war diese abstoßende Region sehr nahe gerückt, und unwillkürlich schauderte er. Es war eine Landschaft wie aus einem Alptraum. Selbst im hellen Sonnenlicht wirkten die gewaltigen Kugelpilze und die blaßschimmligen Ranken dazwischen wie ein gräßliches Geschwür. Weithin war alles mit diesen schwammigen, schmierigen Gewächsen überwuchert. Hier und da war noch das Skelett gewaltiger Bäume unter hängenden Ranken und aufgeblähten Schimmelpolstern zu erkennen, abgestorbene, erstickte Bäume, die mit ihren Ästen als Gerüst für das ekelhafte Leben dienten, das auf ihnen wucherte. Alle Farben und Formen wirkten abstoßend, unnatürlich wie etwas, das im Plan der Schöpfung niemals vorgesehen war. Während
Hiero hinschaute, barst eine der angeschwollenen Pilzkugeln, und für einen Augenblick wurde die Sicht von einer Sporenwolke verdunkelt, die sich sofort hunderte Meter weit ausbreitete. Langsam ließ er das Fernrohr sinken und wandte sich an seine schweigende Begleiterin. Was kann ich dagegen tun? Kämpft die Pflanzenwelt gegen sich selbst? Das dort ist etwas Furchtbares und Gemeines, das sehe ich, aber warum bekämpft ihr es nicht mit Feuer? Es sei denn, ihr fürchtet Feuer, natürlich. Diese Schimmelgewächse sind doch nicht unzerstörbar. Schau noch einmal, kam ihr Gedanke. Sieh, ob du eine Bewegung entdecken kannst. Er suchte erneut mit dem Fernrohr die überwucherte Region ab, bis ihm eine leichte Bewegung auffiel. Er veränderte die Schäreneinstellung und suchte neuerlich nach der Stelle. Als er sie wieder im Bildausschnitt hatte, holte er scharf Atem. Über den kahlen Gürtel Erde zwischen dem Riesenschimmel und dem Wald kroch etwas dahin, floß darüber, wie ein Gebilde aus lebendigem Schleim. Es hatte weder Kopf noch Glieder, aber auf seinem schwammigen Rücken wuchsen zahllose sich windende Tentakel. Die Oberfläche des widerlichen Wesens schien aus mottenzerfressenem, halb verrottetem Samt zu bestehen, und die schlanken Greifarme besaßen weiche Auswüchse am Ende, die in schmutzigem Orange glühten wie glosende Schlacke. Das erschreckendste aber war, daß dieses We-
sen keine hirnlose Amöbe war, sondern Intelligenz und Zielbewußtsein besaß. Während Hiero es beobachtete, hielt es plötzlich inne, und seine Tentakeln oder Pseudopodien vibrierten. Dann wälzte sich die ganze dunkle Masse herum und kroch in eine andere Richtung weiter, auf ein Gebüsch am Rande des noch lebenden Waldes zu. Plötzlich schoß aus diesen Büschen ein Tier hervor, das wie ein großes, kurzohriges Kaninchen aussah, und rannte um sein Leben. Es hatte jedoch zu lange gezögert. Eine der dunklen Ranken schnellte vor wie eine Peitsche und berührte das Tier mit der Blase wie aus rötlicher Fäulnis an ihrem Ende. Das Kaninchen zuckte krampfhaft hoch und fiel tot um, wie vom Blitz getroffen. Das Schleimwesen kroch heran, bis es den Kadaver bedeckte, der nach Hieros Schätzung gut zwei Meter maß. In wenigen Sekunden glitt es wieder fort. An der Stelle, wo das tote Tier gelegen hatte, war jetzt nichts mehr zu sehen, nicht einmal Gras, nur ein feuchter Schleimüberzug auf der nackten Erde, der in der Sonne schillerte. Wieder ließ der Metz das Fernrohr sinken. Gibt es noch mehr? fragten seine Gedanken. Viel mehr, kam die Antwort. Dieses Wesen, und es ist (nur) eins von vielen, ist bloß eine Waffe des Hauses. Jetzt empfing Hieros Geist das Bild eines seltsamen Gebildes, etwas, das wie ein Gebäude aus braunem, noch nassem Schlamm aussah. Es besaß keine geraden Kanten, trotzdem schien es irgendwie zu versuchen, seine Grundform, eine Art Quader, beizubehalten, wenn auch mit Mühe,
denn jede einzelne Linie waberte und verschwamm. Fast wie ein würfelförmiges Erdwespennest sah es aus, ein schlampiges Wespennest aus weichem Schlick, das für viele Menschen Platz geboten hätte. Aber es lebte selbst! Oder es bewegte sich zumindest, pulsierte und schwankte in scheinbarem Leben. Wenn das Schleimwesen, das er gesehen hatte, schon abstoßend gewesen war, so schien es zumindest den Grundgesetzen der Natur zu gehorchen. Dieses Gebilde aber war so unnatürlich und widerlich wie nichts, das Hiero je zuvor gesehen hatte. Und erst jetzt, nach so vielen Tagen, erinnerte er sich an die letzte Symbolschau an der Nordküste der Inlandsee. Hier war das Haus, das Zeichen, für das er damals keine Erklärung gefunden hatte! Er blickte nochmals auf das Bild in Vilah-ris Geist und schauderte.
11 Das Haus und die Bäume Ich will meine Gefährtin und den alten Mann mit dem Bart und den Bären wiederhaben! Und ich will sie jetzt haben! Ich brauche sie! Der Streit und die Debatte dauerten nun schon über eine Stunde. Hiero hatte eine Menge über seine Aufgabe erfahren, aber er hatte seine eigenen Ansichten nicht im leisesten durchsetzen können. Vilah-ri konnte oder wollte einfach nicht einsehen, daß er sich zum mindesten mit seinen Gefährten beraten wollte. Ihrer Meinung nach wurde er gebraucht und sonst niemand. Als ihm seine männliche Eitelkeit einflüsterte, daß sie in ihm vielleicht mehr als nur einen Kämpfer gegen das Haus sehe, unterdrückte er resolut alle in diese Richtung verlaufenden Gedanken und setzte geduldig seine Bemühungen fort, Vilah-ri zur Einsicht zu bringen. Er hatte erfahren, daß das Haus – oder was immer es lenkte, Vilah-ri hatte sich in dieser Hinsicht nicht sehr klar ausgedrückt – immer unter den gigantischen Schimmelgewächsen verborgen blieb. Es war anscheinend vor einiger Zeit – vor wie langer Zeit, hatte er ebenfalls nicht herausbekommen können – aus der Wüste gekommen, hatte den Waldrand erreicht und augenblicklich angegriffen. Es schien, daß jenem Zentralwesen, das Vilah-ri das Haus nannte, und seinen Schleim- und Schimmelgeschöpfen nichts etwas anhaben konnte außer
Feuer, während es selbst, beziehungsweise seine Auswüchse alles angriffen und auffraßen, was nur im entferntesten organisch war. Seine Sporen verbreiteten sich blitzartig und brachten gesunde Bäume zum Absterben, die kriechenden Schleimwesen verschlangen alle Tiere und kleineren Pflanzen, die Schimmelpolster wuchsen beinahe über Nacht auf allem verrottenden Pflanzenmaterial, und die riesigen Kugelpilze umschlossen kleinere Büsche und Stauden und lösten sie durch ihre Gifte auf. Jeder organisierte Versuch zur Gegenwehr wurde durch psychische Attacken irgendeiner Art, auf jeden Fall durch eine unsichtbare Kraft vereitelt, die vom Haus selbst ausging. Vilah-ri und ihr Volk waren niemals Kämpfer gewesen, und dieser heimtückischen Pest standen sie völlig hilflos gegenüber. Sie besaßen keine physischen Waffen außer kleinen Bogen und Lanzen, und wenn sie geistig auch imstande waren, ihre Gedanken vor Hiero abzuschirmen, das Haus konnte sie immer entdecken und festhalten, bis irgendein schleimiges Schimmelwesen herbeikam und das gelähmte Opfer auflöste. Und Vilah-ris Volk brauchte den Wald. Ohne die Bäume würden sie alle sterben, das hatte Vilah-ri mit Nachdruck erklärt. Was ist mit dem großen Tier, das ihr ausgeschickt habt, um uns den Rückweg zu versperren? Warum könnt ihres nicht für euch kämpfen lassen? fragte er. Er hatte festgestellt, daß Vilah-ri niemals lachte, aber jetzt entdeckte er in ihrem Geist etwas wie Humor, eine
kaum unterdrückte Belustigung. Sie übermittelte ihm das Bild von einer ihrer weißhäutigen Frauen, die ein sonderbares flaches Holzding an einer langen Schnur herumwirbelte, es in großen Kreisen um ihren Kopf herumsausen ließ. Hiero hatte so etwas seit vielen Jahren, genauer gesagt, seit seiner Kindheit, nicht mehr gesehen, aber er erkannte es sofort als einen Stierbrüller, wie er selbst manchmal einen verwendet hatte, um seine Freundinnen zu erschrecken. Das dumpf brummende Geräusch klang tatsächlich wie das Brüllen eines fürchterlichen Ungeheuers! Dein Freund, den du Bär nennst, bekam von uns im Geist ein schreckliches Wesen gezeigt, das er für echt hielt, so daß er auch dich überzeugte. Wenn ein solches Wesen wirklich existierte, würden auch wir ihm hilflos gegenüberstehen. Hiero grinste säuerlich. Sie waren mit einem Kleinkinderschreck und einem harmlosen Schlafmittel übertölpelt worden! Noch etwas anderes hatte Hiero erfahren, oder vielmehr aus dem Gesehenen abgeleitet. Soweit er sich an die Landkarte erinnerte, die sie mithatten, bedeckte der Schimmelfleck des Hauses genau jene Gegend, die er erforschen wollte! Hier am Rande der Wüste mußte eine der vergessenen Städte liegen, begraben von den Gewächsen des Hauses. Dies half ihm, ihre Gefangennahme durch Vilah-ri und ihre Baumfrauen etwas philosophischer zu betrachten. Es sah ganz danach aus, als ob ein Kampf und zumindest eine teilweise Vernichtung der
abscheulichen Schimmelgebilde auf jeden Fall erforderlich gewesen wäre, um zu der alten Stadt vordringen zu können. Du sollst das Haus mit deinem Geist angreifen, mit deinem Geist, der so stark ist, meldeten sich ihre Gedanken und wiederholten beharrlich ihr Lieblingsthema: Während du dies tust, werden wir die Fäulnis des Hauses mit Feuer ausbrennen. Ihre grünen Augen ließen keinerlei Gefühle erkennen. Nochmals blickte Hiero über die Baumwipfel hinweg zu der schwärenden Wunde in der Landschaft, die das Werk ihres Feindes war. Er seufzte und fragte sich zum wiederholten Mal, wie er ihren Starrsinn besiegen könnte. Vielleicht, dachte er, war ein kleiner Kurswechsel nützlich. Was geschieht mit uns, wenn wir das Haus besiegen? sendete er schroff. Werdet ihr uns gehen lassen, uns bei unserer Wanderung unterstützen? Einen Augenblick lang antwortete sie nicht, und dann hatte ihr Gedanke fast eine zögernde Färbung. Willst du wirklich so gerne fort? In ihrer telepathischen Frage klang etwas wie Sehnsucht und Fassungslosigkeit mit, wie bei einem Kind, das nicht versteht, warum man ihm gesagt hat, es müsse allein zu Hause bleiben. Der Priester musterte sie so kühl wie möglich, was ihm nicht leichtfiel. Wunderschön war sie, aber die Fremdartigkeit ihres Wesens kam ihm immer stärker zu Bewußtsein, je besser er sie kennenlernte. Der blasse, wie
Elfenbein schimmernde Körper, das ruhevolle, feingemeißelte Gesicht, und die smaragdenen Augen, all dies war gewiß bezaubernd. Doch alles, überlegte er, wirkte auf ihn immer weniger und weniger menschlich. Wer war Vilah-ri, oder besser, was war sie? Wo sind eure Männer? Ein unerklärlicher Impuls ließ ihn die Frage rasch und abrupt stellen. Warum kämpfen sie nicht für euch und zerstören das Haus? Haben sie Angst? Als er spürte, daß seine Fragen sie verwirrten und beunruhigten, stieß er sofort weiter nach. Plötzlich jedoch wurde ihr Geist undurchdringlich, ›verschwand‹ einfach, so wie damals, als sie die Wanderer auf dem Pfad tief unten beobachtet hatte. Wenn sie es nicht wünschte, konnte er ihre Gedanken nicht mehr auffangen, geschweige denn sie verstehen oder lenken. Eine Weile starrten sie einander an, der sehr menschliche Mann und die Beinahe-Frau einer anderen Rasse, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, und allein durch ihr Schweigen um Position kämpfend. Vilah-ri war es, die als erste nachgab, oder zumindest so tat. Unsere Männer sind – nicht hier, kam plötzlich ihre Antwort. Sie kämpfen nicht: nein, (unzutreffender Ausdruck) sie können nicht kämpfen. Deshalb war ich verzweifelt/hilflos, bis du kamst. Und jetzt... Wann wirst du das Haus angreifen? Hiero lehnte sich gegen eine Wand und erwiderte ungerührt ihren Blick. Die Frage nach den fehlenden Män-
nern ihres geheimnisvollen Volkes hatte sie durcheinandergebracht, aber die Baumkönigin, wenn man ihre Stellung so beschreiben konnte, war nicht jemand, der sich für länger aus der Fassung bringen ließ. Paß gut auf, sagte sein Geist zu ihr. Höre genau zu, was ich dir sage. Wenn nicht jene drei, die Frau, der alte Mann und der Bär, aufgeweckt und hergebracht werden, oder ich zu ihnen, dann tue ich gar nichts. Hast du mich verstanden? Du weißt sehr wenig von geistiger Kriegsführung, Vilah-ri. Ich brauche Rat und Hilfe, Hilfe einer Art, die du mir nicht geben kannst. Ich werde nicht mehr weiter verhandeln. Gib die drei frei, die ich dir genannt habe, dann werden wir versuchen, dir zu helfen. Und alle übrigen müssen bewacht und in Sicherheit gebracht werden, bis der Kampf auf die eine oder andere Weise beendet ist. Sie können weder helfen noch hindern, doch sind wir für sie verantwortlich. Wieder überlegte sie hinter ihrer Abschirmung. Ihr nächster Gedanke war tonlos, aber Hiero konnte ihren Zorn dennoch deutlich fühlen. Ich könnte sie alle töten, und dich mit ihnen. Was hindert mich, es zu tun? Nur los! Ich bin ganz deiner Meinung, daß du es kannst. Da du uns aber brauchst, kann ich mich über die Dummheit eines solchen Einfalls nur wundern. Wieder trafen sich ihre Augen. Diesmal entdeckte er in der grünen Tiefe der ihren ein Aufflackern von Gefühl, das ihn überraschte. Es war etwas wie sehr weiblicher Ärger, fast hätte er es Eifersucht genannt. Es verschwand jedoch gleich wieder, und zurück blieb nichts als schim-
merndes Gold in durchscheinendem Smaragd. Nun gut, antwortete sie. Wir treffen uns am Fuß dieses Baums. Warte, während ich gehe, um alles zu veranlassen. Sie drehte sich um und war verschwunden, einfach über die Brüstung geschnellt, so daß Hiero für einen Augenblick das Herz aussetzte. Er stürzte an den Rand des Aussichtsbalkons, gerade noch rechtzeitig, um sie wie einen hellen Schatten durch die Äste und Lianen hinunterhuschen zu sehen, mit einer Geschwindigkeit, die er nicht für möglich gehalten hätte. Sekundenbruchteile später war sie nicht mehr zu sehen, aber ein Chor goldener Trillerstimmern drang durch das Blättergewirr zu ihm herauf. Von allen Seiten kamen Antwortrufe, obwohl er niemanden sehen konnte. Eine Schar von Baumfrauen mußte in der Nähe verborgen auf ihre Königin gewartet haben. Nachdem er eine Stunde später weitaus langsamer hinuntergeklettert war und sich zu seiner Beschämung von zwei Frauen hatte helfen lassen müssen, konnte er endlich Lucare wieder in die Arme schließen, während Gorm ihm aus dem Hintergrund zublinzelte. Bruder Aldo war ganz aus dem Häuschen und strahlte das Dutzend bewaffneter, kalt dreinblickender und splitternackter Dryaden begeistert an. Die Entdeckung des Baumvolks entzückte ihn derart, daß er fast auf ihre ursprüngliche Mission vergaß. Er tätschelte doch tatsächlich Vilahris wohlgeformte Rückseite, aber nur so, als streichelte er einen Lieblingshund, und sie schien sich gar nichts draus
zu machen, sondern tätschelte mit unbewegtem Gesicht zurück! »Wunderbar, Hiero, wunderbar! Denk doch nur, da ist durch den ›Tod‹ eine ganz neue Rasse von herrlichen Wesen entstanden. Sie müssen schon seit sehr langer Zeit hier leben, daß sie sich so den Bäumen angepaßt haben. Muß eine Art Symbiose sein. Bemerkenswert! Äußerst bemerkenswert! Und sind sie nicht wunderschön? Vilahri, mein Kind, du mußt mir sobald als möglich alles über dein Volk erzählen, ja?« »Mir gefällt's gar nicht, wie die mich ansehen«, wisperte Lucare an Hieros Seite. »Insbesondere die da.« Sie meinte Vilah-ri, die sie tatsächlich mit ungewöhnlichem Interesse musterte. Sag deiner Gefährtin, ich will mit ihr sprechen. Allein. Vilah-ris Gedanken erreichten ihn mit glasklarer Kühle. Bevor der Priester zu einer Frage Zeit fand, fügte sie hinzu: Sag ihr, es wird ihr nicht das geringste geschehen. Aber ich muß mit ihr sprechen! In dem letzten Gedanken schwang eine solche Dringlichkeit mit, daß Hiero, der auf etwas Derartiges nicht vorbereitet war, fast erschrak. »Sie möchte mit dir allein sprechen. Sie sagt, es ist schrecklich wichtig, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, wieso. Kannst du mit einem fremden Geist eine geschlossene Gedankenverbindung herstellen?« »Ich denke schon«, meinte Lucare zögernd. Irgendwie schien sie die Erregung der Baumfrau gespürt zu haben, denn sie folgte Vilah-ri, die auf den Waldrand zuging,
ohne zu zögern. Hiero sah den beiden so verschiedenen Gestalten, der fast durchsichtig hellen und der dunklen, so lange nach, bis sie hinter einer riesigen Baumwurzel verschwanden. »Und was, glaubst du, hat das nun zu bedeuten?« fragte er Aldo. »Ich habe das dumpfe Gefühl, daß Vilahri irgendeinen Trick vorhat. Sie wird Lucare doch nichts tun, oder? Wenn sie ihr nur ein Haar krümmt, dann, bei Gott...!« »Beruhige dich, mein Junge«, antwortete der alte Mann sanft. »Ich kann ihre Gedanken nicht lesen, aber ich kann anderes lesen, Körperhaltung, Mienen, Augen, ja sogar Muskeltonus. Diese geheimnisvollen Baummädchen haben kein Talent für Intrigen und Listen, dessen bin ich mir ziemlich sicher. Und ich glaube, lügen ist für sie praktisch unmöglich. An wem sollten sie es ausprobieren? – Nein, wenn ich recht vermute, dann handelt es sich um eine weibliche, eine rein weibliche Angelegenheit. Vilah-ri will mehr über uns erfahren und ist zur Ansicht gelangt, wir stupiden Mannsbilder können ihr nicht sagen, was sie wissen möchte, oder würden gar nicht verstehen, was sie will, das ist alles.« Zu Hieros Erleichterung tauchten die beiden ziemlich bald wieder auf und kamen schnell zu den anderen zurück. Lucare lächelte sogar, aber aus irgendeinem Grund fiel es ihr schwer, ihrem Freund in die Augen zu sehen. Vilah-ri beachtete ihn überhaupt nicht, schien aber irgendwie besser gelaunt zu sein.
»Oh, sie wollte bloß ein bißchen plaudern. Sie hat wohl noch nie eine Menschenfrau gesehen. Sie ist eigentlich ganz nett«, lautete Lucares ausweichende Antwort auf seine Frage. »Gott, es muß schrecklich einsam sein, hier in diesem mächtigen Wald zu leben und niemals jemand anderen zu sehen.« Ihr bezauberndes Profil, eine dunkle Silhouette vor einem lichtgrünen Blättergrund, ließ Nachdenklichkeit erkennen. Was immer vorgefallen war, dachte Hiero, es hatte sie wenigstens nicht im geringsten geängstigt. Eine Sekunde lang wünschte er sich, gelauscht zu haben, aber er wußte auch, daß er danach sich selbst kaum mehr ins Gesicht hätte sehen können, geschweige denn ihr. Vilah-ri beriet sich kurz mit einer ihrer Begleiterinnen und trat dann wieder zu ihnen. Verwundert über ihr verändertes Verhalten beobachtete Hiero, wie sie im Vorübergehen Lucares Arm leicht berührte, und Lucare hatte gegen diese zärtliche Geste offenbar nichts einzuwenden. Frauen! Wer konnte verstehen, was in ihren Köpfen vorging? »Wir sollen jetzt mitkommen und den Feind in Augenschein nehmen«, sagte Aldo. »Ich habe mich mit unserer fürstlichen Gastgeberin hier unterhalten. Deine Vermutung war richtig, Hiero, sie ist die Königin und offenbar die alleinige Herrscherin über das Baumvolk. Doch zuerst sollen wir essen, sagt sie.« Nach einem köstlichen, doch ziemlich hastigen Mahl aus Früchten, Gemüse und Brot, das die Baumfrauen
auftrugen, machten sie sich auf ihren Weg durch die Laubengänge des dichten Urwaldes. Wenn sie einem bestimmten Pfad folgten, dann war er nur für ihre Führerinnen erkennbar, von denen ein halbes Dutzend vor ihnen durch den Wald schwärmte, während ein zweite Gruppe die Nachhut bildete. Selbst Hiero, der als erfahrener Jäger die Wälder kannte und sich nahezu lautlos zu bewegen wußte, hatte niemals etwas wie Vilah-ris Volk erlebt. Wie zauberhafte, blasse Gespenster huschten sie durch die hohen Farnbüsche und über gewaltige, moosbewachsene Strünke, ohne auch nur ein einziges Blatt zu zertreten oder mehr Geräusch zu machen als ein dahinflatternder Schmetterling. Zweimal machten sie kurze Rastpausen. Etwa zur Mitte des Nachmittags begannen die vorauseilenden Kundschafterinnen zurückzufallen, bis sie zur Hauptgruppe stießen. Die Menschen bemerkten, daß es voraus heller wurde, und wußten, daß sie nun endlich den Rand des Dschungels erreicht hatten. Gorm, dem sie die Situation in allen Einzelheiten erklärt hatten, blieb stehen, richtete sich auf und witterte. Unreine Luft, kam ein Gedankensignal von ihm. Etwas lange Totes und doch nicht Totes, dort vorne, wo das Licht ist. Lange tot und nicht tot! Der Metz holte tief Luft und atmete langsam aus. Selbst er konnte jetzt den schwachen Fäulnishauch riechen, ein übler, muffiger Gestank, der sich in die zarten Düfte des Waldlandes drängte. Fast greifbar war dieser Grabeshauch, und das Erschreckende
daran war, daß ihn etwas Lebendes aussandte, das unnatürliche Leben der Fäulnis, des Verfalls. Der Geruch des Hauses! Wir können uns nicht viel näher heranwagen, lautete Vilah-ris Gedankenbotschaft. Viele von uns sind umgekommen, weil das Haus sie irgendwie fing und festhielt, während sie es vom Waldrand aus beobachteten. Und dann kamen diese Wesen, wie du eins beobachtet hast – und fraßen sie! Hiero begann nun einen Plan in die Tat umzusetzen, den er vorher mit den anderen ausgedacht hatte. Er pirschte sich langsam vorwärts, während sein Geist nach Anzeichen intelligenten Lebens forschte, ohne jedoch die Ausstrahlungen einfacherer Geschöpfe außer acht zu lassen. Der Bär kam mit ihm, und der Priester fühlte, wie sein in manchem so fremder Geist ebenfalls die Umgebung abtastete und nach ungewöhnlichen oder feindlichen Signalen suchte. Sie hatten sich darauf geeinigt, daß sie ihre Erkundung, wenn nicht sogar den Kampf selbst, in dieser Kräfteverteilung durchführen würden. Aldo und Lucare blieben bei Vilah-ri zurück, mit enger gegenseitiger Gedankenverbindung, und würden, wenn es nötig war, zu Hilfe kommen. Diese erste Annäherung sollte jedoch wirklich nicht mehr als ein Erkundungsgang sein. »Trotzdem, wer weiß, vielleicht zieht uns dieses Ding in seinen Bann«, sagte Hiero, als sie die verschiedenen Möglichkeiten durchgesprochen hatten. »Gorm und ich sind mittlerweile alte Veteranen, aber von diesem Haus,
diesem Zentralwesen, was immer es auch ist, wissen wir praktisch nichts, und noch weniger, wozu es imstande ist. Denkt daran, es kann die Baumleute aufspüren, vermutlich, indem es ihre geistige Ausstrahlung auffängt, was wir nicht können! Allein das sollte uns vorsichtig machen.« »Warum kann ich dann nicht mitkommen, und dir auch helfen? Ich will nicht zurückgelassen werden!« drängte Lucare aufgeregt. »Hör zu, Liebste, wir haben das doch schon mindestens ein dutzendmal besprochen. Du hast einfach nicht die telepathische Erfahrung, obwohl du rasche Fortschritte machst. Du weißt, daß Gorm mit seinem Geist mehr ausrichten kann. Bruder Aldo muß hierbleiben, und uns für den Notfall sozusagen geistigen Rückhalt geben. Und du kannst uns nur hier helfen, indem du deine geistige Energie zu seiner hinzuschlägst.« Seine Stimme war geduldig, da er wußte, daß der einzige Grund für ihre Bockigkeit die Angst um ihn war. Schließlich, nachdem auch Aldo ihr gut zugeredet hatte, stimmte sie widerwillig zu. Der Plan war so gut ausgedacht, daß sie einfach nichts mehr dagegen einzuwenden wußte. Als Mann und Bär gemeinsam über den moosigen Waldboden und durch das Unterholz, das die großen Bäume umgab, vorrückten, nahm die Helligkeit immer mehr zu. Hiero hielt kurz an, als er zum erstenmal aus größerer Nähe das schimmelüberzogene Skelett eines Urwaldriesen sah, knapp vor den noch lebenden Bäumen
am Waldrand. Es gab keinerlei Tiere in dieser Gegend, nicht einmal kleinere konnte er aufspüren. Die einzige Ausnahme bildeten ungeheure, grünschillernde Fliegen, deren fette Körper im Sonnenlicht metallisch glänzten. Hiero schlug nach einer, einem brummenden, ekelhaften Riesenbiest von fast acht Zentimeter Länge, das einen Augenblick vor seinem Gesicht herumsurrte. Immer noch konnte sein Geist nicht das geringste wahrnehmen. Die wuchernde Fäulnis dort draußen verhielt sich still. Vorsichtig schlichen die beiden weiter, während sie mit ihren ineinandergreifenden Gedankensonden in immer weiterem Umkreis den Äther durchforschten. Als sie den eigentlichen Waldrand erreichten, konnten sie die toten Bäume deutlicher sehen, jeder mit abstoßenden Gewächsen überwuchert. Seit einiger Zeit war der Geruch der unheimlichen Schimmelpilze so penetrant geworden, daß Hiero begonnen hatte, durch den Mund zu atmen. Keine warnende Witterung konnte sich durch diesen fauligen Gestank durchsetzen, also wozu sich davon belästigen lassen? Nasen waren hier eher überflüssig. Die großen Fliegen waren immer noch zu sehen, tatsächlich schienen sie zahlreicher zu werden, aber sonst rührte sich nichts. Schließlich konnten die beiden nicht mehr weiter vordringen und machten hinter dem nächsten noch lebendigen Baum Halt. Dann starrten sie schaudernd auf das gespenstische Panorama vor ihnen.
Unmittelbar vor ihnen hockte ein vereinzelter Kugelpilz, ein aufgeblähter pockennarbiger Gigant von vielen Metern Durchmesser. Links ragte ein Wald von hohen, korallenförmigen, schmutzigbraunen Pilzen auf, so weit das Auge reichte, nur hie und da unterbrochen von den schleimbedeckten Resten erstickter, abgestorbener Bäume. Rechts waren weniger tote Bäume zu sehen, denn hier war früher die Wüste mit einem sandigen Ausläufer bis an den Dschungel vorgestoßen. Jetzt jedoch erstreckte sich ein Feld kleinerer Pilzgewächse aller Formen und Farben – hauptsächlich waren es schmutzige Gelbtöne – bis in die Ferne. Keinerlei normale Vegetation war zu entdecken, nicht einmal Gras, und der nackte Erdboden war überall mit Schleim oder Schimmel oder sonst einer Form wuchernder Scheußlichkeiten bedeckt. Kein Geräusch außer dem Surren der Fliegen störte die Stille. Die Hitze der Nachmittagssonne ließ hier und dort Dunstschlieren von der Oberfläche der schleimigen Gewächse aufsteigen. Langsam und vorsichtig rückten sie näher an den Rand jener kriechenden Schwäre, die das Haus in die Landschaft gefressen hatte. Immer noch rührte sich nichts in der Alptraumwelt, zu der sie hinüberstarrten und die sie mit ihren suchenden Gedankenimpulsen abtasteten. Da – als es seine Opfer so weit vorgelockt hatte, wie es durch bloße Inaktivität möglich war – schlug das Haus zu! Und es war der Mensch, auf den sich die Haupt-
wucht seines Angriffs richtete. Niemals in all seinen vielfältigen Erlebnissen war Hiero etwas ähnliches widerfahren. Eisige Kälte schien durch seinen Körper zu sickern, seinen Willen zu lähmen, seine Nerven zu betäuben. Obwohl die von ihm selbst entwickelte neue Abschirmung seinen Geist in voller Stärke umgeben hatte, war er dem Angriff fast schutzlos ausgesetzt. Nur noch der allerletzte, innerste Schirm, der die Kontrollzentren für seinen eigenen Geist schützte, war noch intakt. Er konnte jedoch weder die Augen bewegen noch hören, und kein einziger Muskel seines Körpers gehorchte ihm mehr. Da seine Augen in der Sekunde des Angriffs zufällig zur Seite gerichtet waren, konnte Hiero Gorm sehen, ebenfalls erstarrt, eine Vorderpranke halb erhoben. Da wußte er, daß der Bär genauso hilflos war wie er, und dieses Wissen raubte ihm die letzte Hoffnung. Denn durch die Attacke des Hauses lernte er es kennen, lernte er die Natur eines Wesens kennen, das ihm nicht nur den Körper lahmte, sondern durch diese Erkenntnis auch seine Seele. Die Meister der Unreinen waren schlecht, böse und grausam, aber sie waren Menschen, und darum trotz ihrer Gemeinheit und Verderbtheit niemals ganz fremd. Das Haus jedoch war fremd bis zum letzten Molekül. Irgendwann nach dem ›Tod‹ in ältester Vergangenheit, mußte eine seltsame und grauenvolle Vereinigung stattgefunden haben, vielleicht von drei Partnern, einer My-
zelspore, dem Plasmaschleim einer Amöbe, und irgendwie, irgendwo, einem Intelligenzwesen. Vielleicht war auch die Intelligenz erst aus dem Gallert entstanden, wie in gräßlicher Verhöhnung der großen, natürlichen Evolution, und hatte sich dann mit einer Pilzspore vereinigt und Leben gezeugt, wie es die Erde noch nie gesehen hatte. Wie auch immer das Haus entstanden war, es war fremd, unnatürlich, ja widernatürlich wie so vieles, was der ›Tod‹ geschaffen hatte. In manchem ähnelte es dem Nebelwanderer, dieser anderen Verkörperung des Grauenhaften, doch seine Vernunft, seine Intelligenz waren viel höher entwickelt. Verzweifelt suchte Hiero die Lähmung seiner Glieder zu durchbrechen. Gleichzeitig bemühte er sich, einen Gedankenkontakt mit Bruder Aldo und Lucare drüben im Wald herzustellen. Er hatte mit beidem keinen Erfolg. Er konnte sich nicht rühren, und sein Geist schien von einer eigenartigen eisigen Hülle umgeben zu sein, so daß keinerlei Kontakt nach außen möglich war. Seine Verbindung mit Gorm war im Augenblick des Angriffs abgerissen. Allein sein Gehirn gehörte noch ihm, unbeeinflußt, doch von der unheimlichen Barriere von der Außenwelt abgeschnitten. Und jetzt begann ein neuer Angriff gegen seinen letzten Schutzschirm – wenn es ein Angriff war. Das Haus zeigte sich ihm. So wie Vilah-ris Bild das erstemal ohne echte Gedankenverbindung in seinem Geist aufgetaucht war, so schien sich jetzt ein verschwommener Umriß aus
dem schleimbedeckten Erdboden fünfzig Meter vor ihm zu erheben. Er wußte, daß dieses Ding nicht real war, daß er nur auf irgendeine Weise dazu gebracht wurde, es zu sehen, und daß der stoffliche Körper oder die eigentliche Substanz des Hauses nicht in der Nähe war, sondern irgendwo verborgen in den Tiefen der Fäulniswelt, die es sich geschaffen hatte. Aber Moment – was war denn eigentlich so abstoßend an dieser Welt? Während die vibrierende, pulsierende Gestalt des Hauses sich vor seinen Augen zu verdichten schien, begann ein neuer Gedanke in seinen Geist vorzudringen, langsam und unmerklich zuerst. Das Haus ist fremdartig, anders, das wohl. Aber ist es deshalb schon schlecht? Hat es nicht auch ein Recht auf Leben? Es lag eine sirenenhafte Lockung in dem Gedanken. Seine innere Abschirmung wurde nicht durchbrochen, denn dazu schien das Haus nicht imstande zu sein, sondern mit heimtückischer Subtilität umgangen. Und langsam, sehr langsam geriet sein Geist in den Bann dieser überredenden, lockenden Gedanken. Nicht vollständig jedoch. Denn während sich der unheimliche Einfluß verstärkte, erkannte er zutiefst in seinem Innern zwei Dinge. Erstens: Das Haus war völlig fremdartig, etwas, das es einfach nicht geben durfte, und zweitens: das Haus war gar kein Einzelwesen, sondern setzte sich zusammen aus vielen individuellen Einheiten, deren Denkimpulse wie Würmer durch die ganze Gallertstruktur wimmelten. Sie besaßen ein Eigenleben, diese Teilwesen, was immer sie
waren, gleichzeitig aber bildeten sie alle zusammen ein grauenhaftes Ganzes, das Haus, das jetzt mehrere Meter hoch vor ihm aufragte, dem Auge so real erscheinend wie seine eigene Hand. Und es bot ihm Vereinigung an! Auch er konnte teilnehmen an dem großen Werk, die gesamte Erdoberfläche von allem zu säubern, so daß nur noch das Haus übrigblieb, ein weltumspannender Schimmelpilz. Vor Hieros Augen begann die braunschillernde Oberfläche des Hauses zu zittern, und fasziniert und angeekelt sah er, wie sich seltsame Gesichter auf seiner Oberfläche zu bilden schienen, die ihn einladend, lockend angrinsten und wieder in dem Gallert verschwanden, nur um durch andere ersetzt zu werden, ebenso grauenhaft, ebenso flüchtig. Und alle riefen ihn. Komm, schienen sie zu sagen, verlasse deine sterbliche Hülle, werde eins mit uns, und du wirst ewig leben. Da, auf einmal, brach in seine Verzweiflung und völlige Hilflosigkeit etwas Neues ein. Der Bär! Gorm! Irgendwie drang sein Gedankensignal durch die blockierende Hülle, die das Scheusal um den Geist des Priesters gelegt hatte. Der klare, starke Gedanke wirkte wie ein Atemzug frischer Luft auf einen Erstickenden. Ich bin hier. Es versteht mich überhaupt nicht, glaube ich, und es strahlt eine Kraft aus, die mich tatsächlich festhalten könnte, wäre ich nur, was ich zu sein scheine, ein von Instinkten und Emotionen beherrschtes Geschöpf, wie es meine Vor-
fahren einmal waren. Es fürchtet dich, das fühle ich, aber ich bin ihm gleichgültig. Der Geist des Bären vibrierte vor Zorn, aber auch vor listiger Schläue. Und doch überstürzte Gorm nichts, begriff Hiero, wartete ab, was er für seinen Freund tun konnte. Sie – oder eher es, wird ungeduldig, kam die neue Nachricht. Viele einzelne Ausstrahlungen sind zu spüren, die sich aber alle zu einem Geist vereinen, einem Denken, wie in einem Termitenbau oder einem Bienenstock. Es wird nicht mehr lange warten, fügte der Bär hinzu. Es ärgert sich über deine Weigerung, seinen Wünschen nachzugeben. Jetzt – jetzt ruft es etwas anderes herbei. Der Geist des Bären war ruhig und scheinbar unbeteiligt, als ob die Geschehnisse überhaupt nichts mit ihm zu tun hätten. Gleichzeitig hatte der Metz seine inneren Kräfte mobilisiert, hatte Schlüsse gezogen, analysiert, Pläne geschmiedet. Allein die Erkenntnis, daß er nicht mehr völlig abgeschnitten war, hatte ihm ungeheuren Auftrieb gegeben. Er hatte sogar Zeit gefunden für das blitzschnelle Stoßgebet des Kriegers – Gott behüte seinen Kämpfer vor allem Übel, Amen! Kannst du die Außenwelt erreichen? Verständige Aldo, und sag ihm vor allem, er soll die Waffen einsetzen, die wir vorbereitet haben. Ich werde nicht aufgeben und ich will versuchen, die Aufmerksamkeit dieses Dings auf mich selber zu lenken. Beeil dich! Er fühlte, wie sich Gorms Geist zurückzog, und dann erneuerte und verstärkte er seine eigenen Anstrengun-
gen, sich zu befreien, versuchte es in allen Bereichen, mit allen Methoden, die er selbst gelernt hatte oder von anderen gelehrt worden war. Mit aller Kraft strömte er gegen die Barriere an, die seinen Geist abschloß und seinen Körper gefangenhielt. Das Haus gab nun seine einschmeichelnden Beschwörungen auf und blieb schweigend vor ihm hocken, oder besser gesagt, es hielt das Phantombild vor seinen Augen aufrecht. Es wartete und beobachtete. Während Hiero seinen scheinbar sinnlosen Ansturm fortsetzte, stellte er fest, daß Gorm recht gehabt hatte: das Haus fürchtete ihn, oder war zumindest sehr auf der Hut vor ihm. Offenbar unterschied er sich sehr von allen anderen Lebewesen, mit denen es bisher zu tun gehabt hatte. Hiero fragte sich, ob es dem Bären wohl gelang, den alten Elfer zu erreichen. In wenigen Augenblicken würde er es wissen, so oder so. Jetzt fühlte er durch den Erdboden selbst eine Bewegung, nicht eigentlich ein Zittern, sondern nur ein kaum wahrnehmbares Schwingen der nackten Erde. Etwas kam näher, und er wußte, oder vermutete, was für ein Etwas das war. Die Schimmelkreaturen des Hauses, zumindest ein paar von ihnen, suchten ihr Opfer. Seine Augen waren unverrückbar auf das Haus gerichtet, aber er sah die Wolken fetter Aasfliegen vor seinem Gesicht schweben, und da begriff er endlich, daß sie die Augen des Hauses waren und sein Kommen gemeldet hatten. Auf diese Weise also drang das Scheusal immer weiter in den Wald
vor, und so bewachte es die Grenzen seines Reiches. Plötzlich löste sich das Bild des wabernden Quaders auf. An der gleichen Stelle tauchte die weiche, vibrierende Masse des Schimmelwesens auf, das es herbeigerufen hatte. Hiero glaubte nicht, daß sein Auftauchen direkt vor ihm und das gleichzeitige Verschwinden seinen Beherrschers ein Zufall war. Er sollte vielmehr, bewegungslos auf einen Fleck gebannt, zusehen müssen, wie sein Ende herankam, er sollte wissen, was ihn in wenigen Augenblicken bei lebendigem Leib verschlingen würde. Kalt und nach außen hin völlig ruhig dastehend, setzte er seinen Befreiungskampf fort, während er den augenlosen Schimmelklumpen beobachtete, der auf ihn zuglitt. Das Wesen war viel größer, als er aus der Ferne geschätzt hatte. Der schwammige dunkle Plüschkörper ragte weit über seinen Kopf empor, und die langen Tentakel, die aus ihm herauswuchsen, waren bis zu den giftrot glühenden Enden zumindest viermal so lang wie sein eigener Körper. Das Wesen hielt nun einen Augenblick lang inne, kroch dann wieder weiter, allerdings viel langsamer. Sämtliche der langen, schwammigen Fühler waren auf ihn gerichtet, gierig vibrierend wie der ganze purpurfarbene Schimmelklumpen. Jetzt hatte ihn das Ding erreicht, hockte genau vor ihm und füllte den Blickwinkel seiner gelähmten Augen vollkommen aus. Ein schnelles Gebet zuckte durch seinen Geist, der nicht einen Augenblick aufgehört hatte, gegen die unsichtbare Barriere anzustürmen, sich dagegenzuwerfen wie ein Aal gegen
eine Weidenreuse, sinnlos vielleicht, aber ohne aufzugeben. Und als er so gefaßt seinem Ende entgegensah, änderte sich mit einem Schlag das grauenerregende Bild vor seinen Augen. Der brennende Armbrustbolzen hatte sich kaum bis zu den Federn in das schwammige Fleisch gebohrt, als schon ein zweiter folgte und keine Handbreit vom ersten entfernt in den scheußlichen Schimmel fuhr. Eine Wolke dünnerer, längerer Pfeile kam als nächstes, jeder mit einem lodernden Fetzen umwunden. Eine der ältesten Waffen des Menschen, der Feuerpfeil, wurde nun gegen ein Wesen eingesetzt, das seine Entstehung den tödlichsten Vernichtungswaffen verdankte, die der Mensch jemals erdacht hatte. Immer mehr flammende Pfeile pfiffen über Hieros Kopf heran, und er begriff, daß Lucare und Bruder Aldo die Baumfrauen zu Hilfe geholt haben mußten, so sehr diese sich auch vor der Schimmelpest fürchteten. Der schwammige Klumpen vor ihm bäumte sich auf und schüttelte sich in seinem Schmerz, und einen Augenblick lang fürchtete Hiero schon, das Scheusal würde auf ihn fallen und ihn noch in seinem Todeskampf ersticken. Das Feuer lief in glühenden Bächen über den dunklen Schimmelpelz und flammte an den phosphoreszierenden Tentakelenden zu grellen Stichflammen auf, als die Hitze des Feuers das giftige Glimmen ausbrannte, mit dem das Wesen seine Opfer tötete.
In diesem Augenblick verschwand die telepathische Barriere, die sie festhielt. Der unerwartete Angriff hatte das Haus so aus der Fassung gebracht, daß es seine Gefangenen freigab. Gorm, der nicht weniger wachsam als Hiero auf die geringste Chance gelauert hatte, fuhr mit erstaunlicher Geschwindigkeit herum und rannte um sein Leben, und der Priesterkrieger folgte ihm hart auf den Fersen. In wenigen Sekunden hatten sie den Rand des gesunden Waldes erreicht und waren darin untergetaucht. Und wenige Augenblicke später umarmte Hiero seine dunkle Liebste, daß sie kaum Luft bekam, während rund um sie herum Aldo und Vilah-ri ein gutes Dutzend Waldnymphen anwies, weiter ihre flammenden Geschosse in das Reich des Hauses hinüberzuschießen. Gorm dagegen setzte sich ungerührt hin und begann sich den Pelz zu lecken. Erleichtert, daß Lucare heil und gesund war (und er selber auch), wandte Hiero sich zurück, immer noch einen Arm um die Schulter seiner Prinzessin gelegt. Der Anblick, der sich ihnen bot, war gleichermaßen erfreulich wie schrecklich. Die wuchernden Schimmelgewächse und Pilze des Hauses wiesen alle ein und dieselbe Schwäche auf. Hiero konnte sich nicht vorstellen, wie das Haus sich vor zufälligem Blitzschlag schützte, aber es mußte irgendeine Methode haben, denn die wuchernde Fäule war ungeheuer leicht entflammbar, wie der jetzt lichterloh bren-
nende Rand seines Reiches bewies. Flammen schlugen über dem verkohlenden Körper des Schimmelwesens zusammen, das noch immer schwach zuckte in seinem Todeskampf. Und auch über den schleimverschmierten Erdboden huschten Flammen und erfaßten den Pilzwald. Die blassen Ranken und Strünke dampften und prasselten und zerbarsten. Die gewaltigen Kugelpilze im Vordergrund explodierten, als die Hitze sie erreichte, und jede winzige Spore wurde augenblicklich zu einem Glutpunkt, dann zu einem Aschestäubchen. Die großen, erstickten Bäume brannten wie ungeheure Fackeln, als die Flammen ihren Überzug aus Moder- und Myzelranken erfaßten. Schwarzer, öliger, stinkender Rauch wälzte sich von den brennenden Pilzen herüber zum Waldrand, wo er den sauberen Geruch von Wachstum und duftenden Blüten erstickte. Hiero warf Vilah-ri einen besorgten Blick zu. Ist euer Wald trocken? Wird sich das Feuer ausbreiten? Besser verbrennen, als von dem dort getötet zu werden, lautete ihre Antwort. Aber der Wald ist feucht. Erst vor zwei Nächten hat es geregnet. Und wir wissen auch, wie man das Wasser im Boden weiterleiten kann, mein Volk und ich. Sie führte das nicht weiter aus, sondern wandte sich um und beobachtete die flammende Vernichtung ihres Feindes. Hiero konnte die Genugtuung in ihrem nur wenig menschlichen Geist fühlen, als sie zusah, wie die Flammen die Pest verschlangen, die ihre geliebten Bäume und ihr sonderbares Volk bedroht hatte.
Auch als der Abend heraufkam, blieben sie auf ihrem Beobachtungsposten am Waldrand, obwohl der Qualm sie mitunter husten und würgen machte. In der Nacht dann verdunkelte dieser Rauch fast alle Sterne, und erst als der Mond schon aufgegangen war, kam ein Wind von Norden auf, der die stinkenden Wolken vor sich her trieb, hinaus über die Brandfläche. Überrascht mußten sie feststellen, daß selbst in der Ferne keine Flammen mehr zu sehen waren. »Glaubst du, das Feuer ist so schnell über diese große Fläche gerast?« fragte Hiero verblüfft. Aldo schüttelte zweifelnd den Kopf. »Nein, das kann ich mir nicht vorstellen, nicht nach allem, was du mir berichtet hast. Schließlich ist da noch die Frage zu klären, wie es sich gegen Blitzschlag schützt – wir haben darüber gesprochen. Ich vermute, das Haus hat irgendeine Möglichkeit, die Flammen zu ersticken, und hat sich zurückgezogen, vielleicht verletzt, aber sicherlich nicht tot. Wir werden erst in der Früh feststellen können, wie weit das Feuer wirklich vorgedrungen ist. Warten wir also, oder besser, ruhen wir uns aus, solange wir nichts anderes zu tun haben.« Bald hatten sich alle drei Menschen in Decken oder Mäntel gewickelt und auf dem Moos unter einem gewaltigen Farnbusch schlafen gelegt. Der Bär hatte sich in der Nähe zusammengerollt und schnarchte bereits. Als Hiero langsam der Schlaf überkam, dachte er noch einmal an Vilah-ri, die jetzt beobachtete, wie nach und nach die
Sterne durch den abziehenden Rauch sichtbar wurden. Einmal, als ihm schon die Lider zufielen, bemerkte er halb im Schlaf, daß sie auch ihn beobachtete, und im Mondlicht sah ihr Gesicht wie aus Alabaster gemeißelt aus. Dann schlief er ein. Lange Zeit waren seine Träume verschwommen und nichtssagend, dann – ganz allmählich – begannen sie sich zu verdichten, ein bezauberndes Märchen zu erzählen, das halb Traum noch, halb Wirklichkeit war. In dem Traum war er wach und wanderte allein durch den schattigen Wald, allein im Sternenlicht. Nichts bedrohte ihn, und er trug auch keine Waffen. Er war nackt und schien das nicht ungewöhnlich zu finden. Dicke Glühwürmchen leuchteten ihm auf seinem Weg, und blasse, hellschimmernde Blüten schienen ihn zu führen, immer weiter in die duftende Schattenwelt des Riesenwaldes hinein. Er wußte nicht, wohin er ging, nur, daß ihn am Ende seiner Wanderung etwas Wunderbares erwartete. Ein warmer duftender Lufthauch lockte ihn weiter. Endlich erspähte er in einer Laube aus blühenden Ranken eine elfenbeinfarbene helle Gestalt. Er lief auf sie zu, rief sie an, aber sie wandte sich um und floh. Doch nach wenigen Schritten klang ihr trillernder Ruf auf, goldene Glockentöne, die lockten, spotteten, verzauberten. »Vilah-ri«, rief er, glaubte er zu rufen, »Vilah-ri! Hab keine Angst! Laß mich nicht allein!« Wieder ertönte ihr heller Vogelruf. Und Hiero, nun von brennendem Ver-
langen erfüllt, folgte ihr durch die Straßen des von schimmerndem Mondlicht übergossenen Waldes, und seine Füße schienen Flügel zu haben. Er wußte nichts mehr, als daß er diesem Ruf folgen mußte. Jetzt sah er sie auf Zehenspitzen über einen niedrigen Ast huschen, dann winkte ein silbriger Arm aus einem Farndickicht, aber immer, wenn er glaubte, sie eingeholt zu haben, war sie verschwunden. Und doch schien in dem Traum seine Kraft zu wachsen mit jedem Schritt, den er durch den Zauberwald tat, und endlich, auf einer kleinen Lichtung, schien die tanzende weiße Gestalt zu taumeln, in den dichten Blumenteppich zu sinken, als hätte ihre Flucht sie erschöpft. Im nächsten Augenblick hatte er sie gefangen und hielt sie fest. In den seltsamen grünen Augen, die nun die seinen trafen, las er eine so stürmische Glut, daß er fast erschreckt aufwachte, denn es war ja nur ein Traum. Dann flammte auch seine Leidenschaft auf, und sein Mund preßte sich auf ihre weichen Lippen, während er ihren kühlen, schlanken Körper an sich drückte, und alles um ihn herum versank in dem feurigen Wunder des Verlangens. Dies war sein Traum, und der Traum endete, denn Hiero verlor sich darin, und was er gefühlt und gesehen hatte, löste sich auf im wirbelnden Nebel des Schlafs. Es war schon spät am Vormittag, als er erwachte. Zu seiner Verblüffung war das erste, was er sah, als er die Augen aufschlug, Kapitän Gimp, der nicht weit von ihm
entfernt auf der Wiese stand und ein paar von seinen Männern anbrüllte: »Wollt ihr euch wohl von euren Hintern erheben, ihr faulen Säcke?« Als er sich umschaute, entdeckte der Priester nur ein paar von den Baumfrauen, eine kleine Gruppe auf der anderen Seite der Lichtung. Von Vilah-ri war nichts zu sehen, und er seufzte, als ihm sein Traum einfiel. Aber die Seeleute, die jetzt unter den Flüchen und wohlwollenden Stößen von Blutho und Gimp auf der Wiese antraten, waren vollzählig vorhanden und sahen gesund und munter aus. Klootz, in der Nähe an einen Baum gebunden, schnaubte erfreut. Hallo, mein Junge, sendete sein Herr, die glatten Flanken und das mächtige schwarzpolierte Geweih anerkennend musternd, gut ausgeruht? Eine Welle der Zuneigung kam als Antwort vom Geist des Ellks, Zuneigung und eine wortlose Frage, die Hiero trotzdem sehr gut verstand. Wann brechen wir auf, wann gehen wir, kämpfen wir, wandern wir weiter? All dies hätte der ausgeruhte, tatendurstige Ellk am liebsten sofort getan. Noch einmal schnaubte er laut und kratzte mit den breiten Hufen über den Boden, daß die Erdbrocken nur so flogen. »Wie ich sehe, ist unser großer Freund schon ungeduldig. Er möchte weiter. Und du – hast du gut geschlafen, oder wenigstens ein paar hübsche Träume gehabt?« Bruder Aldo war leise hinter ihm aus dem Wald getreten und lächelte nun zu Hiero hinunter. »Wo ist Lucare, und der Bär?« Hiero stand auf und
reckte sich, sonderbarerweise immer noch ein wenig, aber durchaus nicht unangenehm müde, trotz seines langen Schlafs. »Ich glaube, sie und Gorm wurden eingeladen und gingen Vilah-ri besuchen. Sie sollten bald zurück sein. Wie du siehst, sind unsere Seeleute und Klootz bestens gelaunt. Die Männer denken, daß sie betrunken waren und eben erst aus ihrem Rausch aufgewacht sind, und ich habe ihnen diese Illusion nicht genommen. Ich habe allerdings erwähnt, daß die Baumfrauen nicht angerührt werden dürften, weil sie unter einem Schutzzauber stünden, der jeden tötet, der sie belästigt. Das scheint gewirkt zu haben. Die Männer interessieren sich gar nicht für diese Waldmädchen, kommt mir vor. Seltsam, bei Seeleuten, nicht?« Hiero warf dem alten Mann einen mißtrauischen Blick zu, aber Aldo sah ihm offen in die Augen, mit einem Lächeln auf dem ebenholzschwarzen, von weißen Locken umrahmten Gesicht. »Was wollen wir als nächstes tun?« fuhr Aldo fort. »Möchtest du das Land ansehen, das das Feuer von der Schimmelpest befreit hat? Ich hätte einige Ideen zu unseren weiteren Plänen, aber ich möchte erst deine Meinung hören. Nun, wie wär's vorher mit einem Frühstück?« Die Männer begrüßten Hiero ungestüm und mit allerhand freundlichen Grobheiten, als er sich ein paar Happen Proviant holte und Gimp anwies, ihm zu folgen. Sie schienen alle der Ansicht zu sein, daß in dieser seltsamen und unheimlichen Welt er der einzige sichere Führer
war, und sie fühlten sich in ihrer ungewohnten Umgebung durchaus wohl, solange sie ihn und seine Gefährten sehen konnten, also das Mädchen, den alten Weisen, den Bären und den Ellk, die gemeinsam mit allem fertig werden konnten. »Was is' denn hier passiert, Meister Hiero?« fragte Gimp, als die Gruppe sich zu einem verkohlten Hügel durchkämpfte, den letzten Überresten eines am Vorabend verbrannten Urwaldriesen. Von dieser bescheidenen Anhöhe aus, die noch hie und da ein wenig rauchte, sahen sie sich das ehemalige Schlachtfeld an. Bis in weite Ferne lag das sanfte Hügelland schwarz und verkohlt da, reingebrannt von einem tobenden Feuersturm. Noch weiter entfernt, aber ein Stück vor den am Horizont aufragenden Felstürmen und hohen Sanddünen der eigentlichen Wüste, war das Feuer zum Stillstand gebracht worden. Auch mit unbewaffnetem Auge war dort das schillernde Gewucher des Hauses zu erkennen, schmutziggelbe und rötliche und abstoßende violette Gewächse. Ein kurzer Rundblick sagte Hiero, daß das Haus zumindest etwa ein Drittel seines Reichs hatte retten können. Er holte sein Fernrohr heraus und stellte es ein. Der Rand der verbrannten Fläche war mindestens fünf Meilen entfernt. Das Haus hatte tatsächlich noch einen Trick parat gehabt, sah er jetzt und beschrieb gleichzeitig den anderen, was er sah. Gimp war schon von Bruder Aldo unterrichtet worden, so daß nur wenig Erklärungen mehr nötig
waren. Als der Feuersturm sich seinem Versteck genähert hatte, mußte das Haus irgendwie seine Pilzbrut dazu gebracht haben, einen klebrigen Schaum auszuscheiden, der an der Luft sofort hart wurde. Woraus das Zeug auch bestand, es mußte vollkommen feuerfest gewesen sein. Die bräunliche Mauer, glasig an der Außenseite und hie und da voller aufgeworfener Blasen wie erhitzter und wieder erstarrter Leim, bildete einen meilenlangen Grenzwall zwischen dem verbrannten Land und dem Pilzwald dahinter. Stellenweise stiegen von der verkohlten Fläche noch dünne Rauchsäulen auf, meistens von gewaltigen, im Inneren noch glimmenden Baumstämmen, aber offene Feuer schienen keine mehr aufzuleben. So leer und tot die schwarze Wüste auch aussah, Hiero zog sie dem wuchernden, abstoßenden Leben des Hauses bei weitem vor. Er konnte jetzt keinerlei Ausstrahlung des grauenhaften Beherrschers der Pilzwelt mehr wahrnehmen, aber er wußte aus Erfahrung, daß das nichts besagte. Nun entdeckte er rechts und links von seinem Standort kleine Gruppen von Baumfrauen, die mit brennenden Fackeln jedes kleinste Restchen von Schimmel anzündeten, das dem gestrigen Feuer entgangen war, vor allem am Rand des noch unberührten Waldes. Keine Spore, kein Same, kein Keim von diesem Gift sollte überleben. Am Himmel begann Dunst aufzuziehen, und die schweren Gewitterwolken, die sich im Süden auftürm-
ten, verkündeten Regen. Als sie von ihrem Ausguckhügel herunterstiegen, besprachen sie die Möglichkeit, nochmals Feuer in das Reich des Hauses zu tragen, und überlegten, womit dieses Ungeheuer eine weitere Herausforderung beantworten mochte. »Ich glaube, ehrlich gesagt, nicht, daß es schon am Ende seiner Möglichkeiten ist«, meinte Hiero. »Gewiß nicht, wenn das alles zutrifft, was du mir von seiner Macht berichtet hast, und nach der Stärke jener geistigen Barriere zu urteilen, die es zwischen uns zu errichten vermochte. Es ist eine schreckliche Vorstellung, etwas so Bösartiges und Widernatürliches am Leben lassen zu müssen. In wenigen Jahren, vielleicht schon früher, wird es erneut bis zum Waldrand vorgestoßen sein, und wir werden nicht mehr hier sein, um diese Frauen und ihre Baumwelt noch einmal zu retten.« »Hast du dich erkundigt, wo die Männer der Baumfrauen sind?« fragte Hiero, dessen Gedanken in eine andere Richtung abirrten. »Nein, und hätte ich es getan, so bin ich sicher, daß die Antwort niemandem etwas gesagt hätte. Diese seltsamen, zauberhaften Geschöpfe haben ein Geheimnis. Vielleicht sind ihre Männer sehr häßlich, vielleicht sehr furchtsam, oder vielleicht beherrschen die Frauen sie so, daß sie sich nicht vor Fremden sehen lassen dürfen. Warum nicht einfach die Tatsachen akzeptieren? Wozu Zeit mit sinnlosen Spekulationen versäumen? Fest steht jedenfalls, daß sie unsere Freunde sind.«
»Ja«, seufzte Hiero. »Aber ich hatte einen sonderbaren Traum, sonderbar, aber schön. Es war...« Er unterbrach sich plötzlich, denn Gimp war stehengeblieben und musterte ihn mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck. »Sagt mal, ist in Eurem Traum vielleicht eins von diesen weißhäutigen Mädels vorgekommen, Meister Hiero, Ihr und sie ganz allein, ja? Und ein wirklich hübscher Traum, ja?« »Nun, wenn du schon fragst, ja.« Hiero war zu alt, um rot zu werden, aber erfühlte sich ziemlich verlegen. »Aber wie kommst du darauf, Gimp?« »Weil ich und Blutho und all die Burschen hier, sogar der alte Skelk, der 'n waschechter Großvater ist, hört Ihr, weil wir allesamt den gleichen Traum hatten. Jeder von uns hatte so ein Mädchen ganz für sich, ja. Das war der hübscheste Traum, den wir je hatten, da sind wir uns alle einig. Na und was glaubt Ihr, heut früh will keins von diesen nackten Waldelfchen auch nur mit uns reden! Ist das vielleicht eine komische Sache, was meint Ihr?« Sein stupsnasiges, breites Gesicht drückte Befriedigung und Bedauern aus. Als sie weitergingen, war Hiero sehr nachdenklich geworden. Später, nun wieder im grünschattigen Dämmerlicht des Waldes, wollte Bruder Aldo nochmals die Karte der Unreinen sehen, und die drei beugten sich aufmerksam darüber. »Der Maßstab ist nicht ganz der gleiche wie der der
Abteikarte«, sagte der Priester und holte auch diese hervor. »Mir scheint aber, daß die Gegend, die ich durchsuchen soll, nicht mehr weit von uns entfernt sein kann.« Er zeigte auf das Symbol, das die vergessene Stadt der Alten bezeichnete. »Hier irgendwo muß es sein, denke ich, in dem Eck zwischen der eigentlichen Wüste, dem Rand der vom Haus verpesteten Gegend, und dem Wald hier. Nach einer groben Schätzung würde ich sagen, wir sind noch zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig Meilen von unserem Ziel entfernt. Was sagst du dazu, Gimp, du kennst dich ja besser mit Karten aus?« Der rundliche kleine Schiffer studierte beide Karten angestrengt, bevor er antwortete. »Ich komme ungefähr auf das gleiche hin.« »Ich auch.« Bruder Aldo faltete die Karten zusammen und gab sie Hiero zurück. »Jetzt ist der Zeitpunkt für einen schwierigen Entschluß gekommen, mein Junge. Haben wir unsere Abmachung mit Vilah-ri erfüllt? Das Haus ist verletzt und zurückgetrieben, aber nicht vernichtet. Andererseits aber – nun, ich fühle, daß wir nicht mehr viel Zeit haben. Gestern wurden hier gewaltige geistige Kräfte freigesetzt, sowohl von uns – im wesentlichen natürlich von dir – als auch von dem abscheulichen Ding dort draußen. In Neeyana, oder vielleicht auch viel näher, gibt es Instrumente und gemeine Gehirne, die ein solches Ereignis wahrscheinlich mit höchstem Interesse registrieren. Du wurdest von den Unreinen Meistern unbarmherzig verfolgt, seit du im Norden einen von
ihnen getötet hast, Hiero. Glaubst du, sie haben jetzt aufgegeben?« »Nein, Sduna auf keinen Fall! Er hat geschworen, mich zu töten oder selbst zu sterben, und ich weiß, daß er es ernst gemeint hat. Wenn mir jemand so nahe ist, dann kann er mich nicht täuschen! Nein, sie haben gewiß nicht aufgegeben. Und Sduna schien mir ziemlich viel Macht in ihrem Rat zu haben.« »Dieser Ansicht bin ich auch. Die Hauptverbindung zum Lantik liegt südlich von uns, vielleicht nicht mehr als ein paar Tagesmärsche entfernt. Wäre ich an Stelle des Feindes, dann würde ich jetzt bereits auf diesem Weg nach Osten eilen, und wenn ich jener Gegend am nächsten wäre, von der das Signal ausgegangen ist, dann würde ich nach Norden abbiegen. Sagen wir, von gestern an brauchen unsere Feinde eine Woche, um uns zu erreichen. Vielleicht etwas weniger, vielleicht etwas mehr, aber eine Woche scheint mir eine recht gute Schätzung.« Aber noch während der Elfer sprach, wurden seine Worte widerlegt. Seine Annahmen waren wohl alle richtig gewesen, aber sowohl er, als auch Hiero hatte Sdunas Schlauheit und Haß unterschätzt. Ein bewaffneter und gewappneter Stoßtrupp war in den Gegenden östlich von Neeyana zusammengerufen worden, und dieser Trupp war seit nicht weniger als vier Tagen nach Norden unterwegs, als die drei ihre Beratung abhielten. Doch von dieser Entwicklung der Situation hatten sie keine Ahnung.
Während ihrer Debatte waren die Wolken weiter heraufgezogen und dunkler und dichter geworden. Ein feuchter, böiger Wind von Süden kündigte baldigen Regen an. Vor dem Regen kam allerdings Lucare zurück. Zuerst hörten die anderen sie vor sich hin singen, ein Lied aus Dalwah anscheinend, denn Hiero konnte es nicht verstehen. Dann tauchte sie auf dem schmalen Pfad unter den Bäumen auf und kam heran, mit einem verträumten und seltsam weichen Gesichtsausdruck. Um den einen Oberarm trug sie ein herrliches, verschlungenes Band aus Gold, in das grüne Edelsteine in Form von Blättern eingelassen waren, so daß das Schmuckstück wie eine zierliche Liane wirkte. »Gefällt dir mein Geschenk?« lächelte sie Hiero an und verschränkte die Hände in seinem Nacken. »Vilah-ris Abschiedsgeschenk für mich. Gorm redet noch immer mit ihr. Sie findet ihn am interessantesten von uns allen und möchte, daß er später herkommt und hier lebt.« »Weshalb eigentlich sollte Vilah-ri dir ein Geschenk geben?« erkundigte er sich und betastete den schweren Armreif, der viel von der fremdartigen Schönheit der Geberin besaß. »Mir hat sie nichts gegeben, oder?« »Oh – ich hab' ihr was geliehen, was sie haben wollte. Und vielleicht hat sie dir doch etwas gegeben.« Ihr Gesicht war an sein hirschledernes Hemd geschmiegt, so daß er ihre Augen nicht sehen konnte. Aber sein Verdacht wuchs, als in seinem Geist sich ein Teil des Puzzle
zum anderen fügte und ein Bild ergab, das zu sehen er sich bisher geweigert hatte. Er richtete sich auf und nahm das bezaubernde dunkle Gesicht fest zwischen seine beiden Hände, so daß sie gezwungen war, zu ihm aufzuschauen. Die beiden anderen hatten sich taktvoll aus der Hörweite entfernt. »Wo sind die Männer von Vilah-ris Volk, mein schlaues Prinzeßchen?« Seine Stimme klang halb verärgert, halb belustigt, als er den trotzigen Blick in ihren schwarzen Augen bemerkte. Eine Weile blieb sie stumm, dann kam sie zu einem Entschluß. »Es gibt keine. Ihre Leute leben jedoch sehr lange, wenn sie in oder bei den Bäumen bleiben. Und sie brauchen Menschenmänner, um Kinder zu bekommen. Aber ihre Kinder sind immer wieder nur Mädchen. Sie hoffen, daß eines Tages irgendwann doch einmal ein Junge geboren wird. Ich glaube, sie wissen selbst nicht, woher sie stammen, oder was sie sind. Sie wissen jedoch, daß ab und zu südlich und östlich von hier Menschen vorbeikommen. Und manchmal, wenn ein einsamer Wanderer oder eine kleine Gruppe ihr Nachtlager aufschlägt, dann – nun...« »Dann haben sie einen sehr angenehmen Traum?« fragte Hiero. Da er sie jedoch anlächelte, faßte Lucare wieder Mut und lächelte zurück. »Du hast also einen Handel abgeschlossen, und ich wurde wie ein Deckhengst verschachert. Für ein Armband. Nun, ich muß sagen, wenigstens für ein hübsches.«
Mit einem empörten Keuchen riß sie sich los. »Oh ... du ... du gräßlicher Kerl! Du glaubst wohl, mir hat der Gedanke gefallen, daß du mit ihr schlafen würdest! Und von dem Armband hab' ich bis heute früh überhaupt nichts gewußt!« Sie riß sich das Schmuckstück herunter und warf es ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Es gelang ihm nur knapp, die Arme hochzureißen und das schwere Ding aufzufangen, um sich eine gebrochene Nase zu ersparen. Dann stürzte er zu ihr, denn sie weinte jetzt verzweifelt, das Gesicht in die Hände vergraben, so daß ihre zerzausten Korkenzieherlocken wie ein seltsamer, aber schöner Rankenvorhang ihren Kopf einhüllten. Komm, laß doch, Liebes, dachte er. Ich hab' doch nur Spaß gemacht. Sie hat dir leid getan, nicht? Sie schluckte und preßte wieder ihr Gesicht gegen seine Brust. Sie mußte erst das aufsteigende Schluchzen unterdrücken, bevor sie fähig war, auch nur in Gedanken zu sprechen. Natürlich hat sie mir leid getan, jede richtige Frau würde Mitleid mit dem armen Ding haben. Sie hat nie einen Mann gehabt, und sie hat sich in dich verliebt. Wie sie zu mir sagte (und es war anfangs nicht leicht, sie zu verstehen), daß ich dich immer haben würde, aber sie nur für eine einzige Nacht, da hab' ich alle Eifersucht vergessen. Trotzdem war's das Schwerste, was ich je getan hab', vergiß das nie! »Oh, Hiero«, sagte sie laut, und ihre Stimme klang traurig, »weißt du, was ihr letzter Gedanke heute morgen war?« Vielleicht wird meins das erste männliche Kind sein.
Vergiß du mich nicht, die du ihn für immer haben wirst. »Ich hab' fast weinen müssen dabei.« »Weine nicht mehr, Liebes«, sagte er und tätschelte ihr die Schulter. »Ich bin nicht böse. Außerdem hatte ich wirklich einen sehr hübschen Traum.« Sie sah auf, bemerkte, daß er sie angrinste, und kämpfte sich endlich selbst ein Lächeln ab. »Ach geh, ich möchte nichts mehr davon hören, einverstanden?« In diesem Augenblick tauchten die Seeleute in voller Marschausrüstung in der Lichtung am Waldrand auf und murmelten aufgeregt und reckten die Hälse, als sie den verbrannten Landstrich draußen entdeckten. Blutho und Gimp ließen sie haltmachen und kamen zu den beiden herüber. Auch Bruder Aldo war wieder zurückgekehrt, Klootz am Zügel führend, und Gorm kam aus dem schattigen Wurzeldickicht eines gewaltigen Baums gekrochen und herangetrabt. Da nun alle wieder beisammen und zum Aufbruch bereit waren, übernahm Hiero wie zuvor die Führung. Obwohl der Bär wieder mit ihm die Vorhut machte, ritt der Priester nun auf seinem getreuen Ellk. Klootz' Augen glänzten vor Freude, und er trompetete seine Begeisterung in einem heiseren Röhren hinaus, das in der gewitterschwülen Luft zwischen den hohen mächtigen Bäumen widerhallte und erst nach einigen Sekunden verstummte. Hiero schaute sich um in der Hoffnung, noch einmal den lieblichen Waldgeist zu sehen, dessen Traum er geteilt hatte, aber er konnte niemanden entdecken. Hoch
in den grünen Weiten der Baumkronen klang einmal ein trillernder Ruf auf, aber ob Vilah-ri ihm zum Abschied zugerufen hatte oder nicht, erfuhr er nie. Sie werden uns bis zur Grenze ihres Reichs folgen, erreichte ihn Aldos Gedanke vom rückwärtigen Ende der Kolonne. Sie wollen wissen, ob das Haus noch lebt, und sie glauben, du wirst es ihnen sagen können. Das hat Lucare von der Königin erfahren. Es lebt, sendete er zurück. Aber ich hoffe, wir können ihm ausweichen. Schon das erstemal konnte ich ihm nichts anhaben. Haben wir Feuer mit? Ja, Glutstücke in einem Tontopf. Wir können in Sekunden ein Feuer in Gang bringen, und wir haben viele Pfeile fertig. Gimps Leute haben auf meine Anordnung neue gemacht. Hoffen wir, daß wir sie nicht brauchen. In gleichmäßigem Tempo marschierten sie nach Süden, immer am Rand des Waldes entlang, der wie eine grüne Mauer neben ihnen aufragte. Ab und zu zeigte ihnen das Aufflackern kleiner Feuer zur Linken, daß die Baumfrauen immer noch damit beschäftigt waren, unverbrannte Flecken der Schimmelpest anzuzünden, wobei sie sich ungefähr in gleicher Höhe mit der Marschkolonne nach Süden vorarbeiteten. Schließlich aber hörte auch das auf. Sie blieben ein paar hundert Meter innerhalb des gesäuberten Geländes, wo sie über den leergebrannten und nur leicht gewellten Boden relativ schnell vorwärtskamen. Sie machten eine kurze Mittagsrast, aßen etwas und
brachen wieder auf. Gegen Abend ließen die schon den ganzen Tag drohenden Gewitterwolken endlich einen sturzbachähnlichen Regen auf sie herunterrauschen, bei dem sie kaum ein paar Meter weit sehen konnten, und der in Minutenschnelle die Schicht aus verkohltem Holz, Asche und Erde in klebrigen Schlamm verwandelte, so daß ein Weitermarsch wenig sinnvoll erschien. Sie schlugen ihr Lager unter den Riesenbäumen auf und hatten auch dort noch Schwierigkeiten, ein Feuer in Gang zu bringen. Schließlich gelang es ihnen doch, im Schutz eines provisorischen Regendachs, und sie brachten sogar ein saftiges Stew zum Abendessen zustande. Im übrigen war der Regen warm, und sie waren alle abgehärtete Wanderer, denen ein bißchen zusätzliches Wasser nicht viel ausmachte. Es regnete fast die ganze Nacht hindurch. Als es hell wurde, erkannten sie, daß sie nun langsam das Ende des gewaltigen Dschungels erreichten. Die Bäume selbst waren hier anders. Palmen und akazienähnliches Buschwerk wurden immer häufiger. Die breitblättrigen Urwaldriesen wurden kleiner und seltener und verschwanden schließlich ganz. Die Hitze nahm stetig zu. Durch den immer spärlicheren Baumbestand konnten sie im Süden weite Grasebenen erkennen, die sich in sanften Wellen bis zum Horizont hinzogen. Zur Linken rückten die Ausläufer der östlichen Wüste immer näher heran, und mit ihnen die nur zu gut bekannten, schmutzigen Farbtöne des Pilzgürtels. Hier am Südrand des Waldes
hatte das Feuer kaum Schaden angerichtet, hier drängte sich aber das Haus auch nicht so nahe an die Bäume heran, ja seine wuchernden Schimmelgewächse hielten hier sogar mehrere Meilen Abstand. Vielleicht machte das Fehlen der großen Bäume die Gegend weniger für sie geeignet. Es gab jedoch mehr als genug Wild. Rehähnliche Tiere, und andere, die wie Antilopen mit riesigen Hörnern aussahen, grasten hier und da in kleinen Herden und wichen den Menschen nur langsam aus. Einmal stießen sie auf eine kurzschwänzige, gestreifte Bestie, die an einem Kadaver fraß, der gut dreimal so groß wie Klootz, selbst aber nur halb so groß war. Sie machten vorsichtshalber einen großen Bogen um das Raubtier, das wie eine Kreuzung zwischen einem Bären und einem zehnfach vergrößerten Luchs aussah und sich auf ein tiefes Knurren beschränkte, vermutlich, weil es gerade satt war. An diesem Abend legten sie zwei gewaltige Feuer an und bauten eine hohe Mauer aus Ästen. Sie hatten früher als sonst Halt gemacht, um genügend Zeit für die Konstruktion eines Schutzwalls zu haben, was angesichts des Gebrülls und Getöses rundum vermutlich ein weiser Entschluß war. Die Tiere dieser Gegend kannten offensichtlich weder Menschen, noch fürchteten sie sie. Der nächste Morgen brach klar und heiß an, und die Luft war schwül und voll vielfältiger Gerüche. Bei jedem Schritt streiften sie blühende Gräser, die einen scharfen Duft ausströmten. An diesem Tag bogen sie nach Osten
ab, und nun marschierten alle Anführer vorn. Nach allem, was sie wußten, war jetzt der Zeitpunkt gekommen, nach der vergessenen Stadt zu suchen. Die Karten konnten ihnen nicht mehr helfen. Als sie in die halb wüstenhafte Grassteppe hinauswanderten, rückten die schillernden Bastionen des Hauses unerbittlich näher. Bald konnten sie einzelne Gewächse unterscheiden, knollige Formen wie riesige, braune Meeresschwämme und breite Kugelpilze in schmutzigen Rot- und Gelbtönen, aus deren pockennarbiger Oberfläche eine glänzende Substanz sickerte, die nicht weniger abstoßend war. Die hiesigen Geschöpfe des Hauses unterschieden sich von denen im Norden, und von dem glasharten Schutzschaum war hier nichts zu sehen, da er offensichtlich nicht nötig gewesen war. Die letzten Spuren des Feuers hatten sie längst hinter sich gelassen, es war nirgendwo so weit nach Süden vorgedrungen. Hiero ließ anhalten. »Ich habe nicht die Absicht, noch einmal diesem Ding«, er zeigte zu den grauroten Kugelpilzen hinüber, »in die Falle zu laufen, bevor wir nicht wenigstens zuerst die Gegend hier genau untersucht haben. Das Zeug ist jetzt kaum mehr eine Meile weit entfernt, und nach meinen Erfahrungen ist das verdammt nahe genug.« Aldo überlegte. »Wir sollten wahrhaftig genau an der Stelle sein, die du suchst, Hiero. Vielleicht befinden wir uns auch genau darüber. Ich kann zwar keine Anzeichen
dafür entdecken, daß dies hier nicht schon immer eine Steppe war, aber es gibt schließlich eine Menge vom Erdreich begrabene Städte.« Er klopfte dem Priester auf die Schulter. »Ich hoffe, du hast auch in Betracht gezogen, daß dein Ziel vielleicht unauffindbar begraben ist, mein Sohn. Wir wollen unser Bestes tun, aber wer weiß schon, wann diese Markierungen in die Karten eingetragen wurden, und ob sie nicht vielleicht schon hunderte Male kopiert worden sind?« Lucare dachte nicht daran, sich entmutigen zu lassen. Und der Bär erwies sich, wie schon oft, als unvermuteter und undurchschaubarer Helfer. »Wie könnten wir unter deiner Führung umsonst so weit gewandert sein?« rief sie. Ihr Vertrauen war wie eine Zurechtweisung für Hiero, und er gab das auch offen zu. »Nun gut, aber wir werden auf jeden Fall sehr sorgfältig suchen müssen. Am besten in einem breiten Fächer. Gimp, sag du und Blutho den Männern, daß wir eine unterirdische Stadt suchen. Jedes kleinste Restchen menschlicher Besiedlung, jede Spur, überhaupt alles, soll sofort gemeldet werden.« Gorms Gedankensignal war gelassen und unbeeindruckt wie immer. Hier hat es einmal sehr viele Menschen gegeben. Ich fühle es. Irgendwo hier, nicht weit weg, ist die Menschenstadt verborgen. Hiero hatte schon einen Ausbruch von Panik bei den Männern befürchtet, wenn sie erfuhren, daß eine der
toten Städte mit möglicherweise tödlicher Strahlung und gefährlichen Seuchen gesucht werden sollte, aber Gimp beruhigte ihn in dieser Hinsicht. »Die haben Euch und Bruder Aldo schon solche Wunder zuwegebringen sehen, Meister, daß ich wahrhaftig glaub', sie täten für Euch auch durchs Feuer gehen, wenn Ihr's ihnen sagt.« Dieser Beweis für das Vertrauen und die Zuneigung der Seeleute berührte Hiero tiefer, als er es für möglich gehalten hätte. Sie verteilten sich nun in alle Richtungen, nur nicht zur Pilzregion hin. Keiner hatte große Lust, sich diesem Wall abscheulicher Gewächse mehr zu nähern als unbedingt nötig. Nach einigen Stunden hatte sich die Gruppe so weit verstreut, daß Hiero unruhig wurde. Einige der Männer waren nur mehr dunkle Punkte am südlichen Horizont. Hier draußen in der trockenen Savanne schien es zwar wenige Tiere zu geben, aber wer konnte schon wissen, was hinter dem nächsten Busch lauerte? Er ließ Gimp mit dem Schiffshorn das Signal zum Sammeln geben, und atmete auf, als die Männer während der nächsten halben Stunde vollzählig zurückgeschlendert kamen. Er ließ sie rasten und essen, während er sich mit dem Elfer, seiner Gefährtin, Gorm und Kapitän Gimp beriet. Der Himmel war noch klar, aber am südlichen Horizont türmten sich bereits wieder Gewitterwolken auf und kündigten erneut Regen an. »Mir fällt leider nur eine einzige Schlußfolgerung ein«,
sagte Hiero widerstrebend. »Wenn die Karten stimmen und die Stadt nicht eine Meile tief unter der Erde begraben ist, wenn sie auch nur im entferntesten für uns erreichbar ist, dann – nun, dann sind wir zu weit westlich.« »Ich fürchte, du hast recht. Ich muß leider zu derselben unangenehmen Schlußfolgerung kommen.« Bruder Aldo starrte zu dem Wall abstoßender Pilze hinüber, der im Osten, jenseits von Gestrüpp und Gras, aufragte. »Wir werden unsere Suche in diese Richtung ausdehnen müssen. Und wir werden sehr vorsichtig sein müssen, hm?« »Du gehst nicht ohne mich!« Lucare packte Hiero am Arm. »Einmal war genug.« »Du wirst tun, was man dir sagt, oder ich leg dich übers Knie.« Er sagte es ziemlich geistesabwesend, denn seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf das ferne Gewucher. »Wir werden es genauso wie zuvor machen, Aldo. Du und Lucare, ihr werdet mir wieder als Anker dienen, sozusagen. Gorm sollte euch diesmal leichter erreichen können, er hat ja jetzt schon Übung. Er und ich werden in diese Richtung vorstoßen. Die Männer sollen sich mit den Feuerpfeilen bereithalten.« Während er sprach, hatte er mit dem Bären eine Gedankenverbindung offen gehalten. So ist es am günstigsten, sagte Gorm. Wir haben keine andere Wahl, fügte er noch hinzu. Hiero küßte Lucare und sagte ein kurzes Gebet für sie beide. Dann marschierte er los, auf die düster schillernden Bastionen zu, die den Osten abriegelten. Gorm wan-
derte etwa zehn Meter rechts von ihm dahin, scheinbar unbesorgt, aber aufmerksam herumschnüffelnd. Hinter ihm hielt das Mädchen mit einer Hand den Arm des alten Mannes, mit der anderen Klootz' Zügel fest, und dahinter hatten sich die besorgten Seeleute mit ihren beiden Anführern zu einem dichten Haufen zusammengedrängt. Rauch kräuselte von den Gluttöpfen auf, die sie sorgsam in Brand gehalten hatten, und die Bogenschützen machten sich bereit. Wie immer, wenn er einer Gefahr entgegenging, fühlte Hiero, wie Erregung und Neugier jede natürliche Angst in ihm unterdrückten. Sorgfältig, und ohne das Pilzgewucher auch nur zu beachten, suchte er den Boden nach Spuren uralter menschlicher Besiedlung ab. Dabei hielt er eine Gedankenverbindung mit seinem vierfüßigen Partner aufrecht. Eine halbe Stunde verging, und sie kamen immer näher an die Schimmelwelt des Hauses heran. Warte! Der Befehl ließ Hiero erschreckt zusammenzucken. Er sah, daß Gorm wie erstarrt an einer Stelle haltgemacht hatte und mit seinen schwachen Äuglein umherblinzelte, geräuschvoll die Luft in die zuckende feuchte Nase saugend, um irgendeine flüchtige Witterung aufzufangen. Hier ist irgendwo Metall, setzten seine Gedanken fort. Es ist kaum wahrnehmbar: rühr dich nicht, dann will ich versuchen, es zu finden. Zögernd machte der Bär ein paar Schritte. In diesem Teil der Steppe gab es einige kleine Sandhügel in dem sonst flachen Gelände, und vor einem von ihnen machte
Gorm schließlich halt, einer runden Erhebung von knapp zwei Metern Höhe. Auf der Kuppe wuchsen dornige Büsche, und da und dort sprossen dichte Büschel bräunlichen Grases. Gorm beschnüffelte den Fuß des kleinen Hügels sorgfältig und begann dann, um ihn herumzugehen. Hiero folgte in einigem Abstand, um den Bären im Auge behalten zu können, störte ihn aber nicht. Die Ostseite des Hügels, die dem Pilzgürtel gegenüber lag, war steiler und weniger abgerundet als die westliche. Das Schimmelgewucher war nun nicht mehr als hundert Meter entfernt, und Hiero unterdrückte ein Frösteln, als er daran dachte. Dann riß er sich zusammen und konzentrierte sich auf die bevorstehende Aufgabe. Der Bär scharrte in einem kleinen Geröllhaufen herum, der am Fuß des Hügels lag. Immer noch schweigend trabte er ein paar Schritte weiter und landete mit einem Satz in einer länglichen, flachen Vertiefung, die von dem vor zwei Tagen gefallenen Regen immer noch feucht war. Nun erhob sich Gorm auf die Hinterbeine und kratzte mit den Pranken an der vor ihm aufragenden Steilflanke des Hügels. Eine kleine Lawine von Sand und Steinchen prasselte herunter, und darunter wurde dunklere Erde sichtbar. Ohne zu zögern, machte sich der Bär erneut an die Arbeit und schälte vorsichtig die Erdschicht ab wie die Schale von einer Frucht. Hier, sagte ein Gedanke, gelassen und unbeeindruckt wie immer, hier ist Metall, sehr, sehr altes Menschenwerk, Ich kann hier nichts mehr ausrichten, und du wirst sehen müssen,
was du damit anfangen kannst. Er hörte auf, an dem Hügel herumzukratzen und ließ sich wieder auf die Vorderpfoten nieder. Oberhalb seines Kopfes konnte der Priester jetzt eine vielleicht handgroße Stelle sehen, die völlig von Erde befreit war. Die glatte, dunkle Oberfläche von irgendeinem unvorstellbar alten Metallgegenstand war sichtbar geworden – eine Wand vielleicht, oder sogar (er wagte kaum daran zu denken) eine Tür! Nachdenklich betrachtete er Gorms Entdeckung. Der Bär kauerte beobachtend daneben und wartete die nächsten Schritte seines Freundes ab. Hiero war von dem phantastischen Geruchssinn begeistert, den sein pelziger Gefährte mit dieser Leistung bewiesen hatte. Uraltes, fast geruchloses Metall unter einer gut dreißig Zentimeter dichten Erdschicht zu entdecken, und auf diese Entfernung, das war geradezu unglaublich. Ihr Menschen habt eben keine Nasen, war die lakonische Antwort des jungen Bären auf Hieros bewundernden Dank. Ich brauche oft genug deine Augen. Wir ergänzen einander also sehr gut. Hiero wußte jedoch genau, daß er sich trotzdem freute. Als nächstes rief er durch ein Gedankensignal die anderen herbei. Jetzt, da er sich tatsächlich einem Relikt jener vergessenen Zivilisation gegenübersah, fühlte er sich erschüttert und wußte auch, daß er nun Hilfe brauchte. Wenn er und der Bär wirklich einen Weg in die unterirdische Welt fanden, konnte es passieren, daß sie
völlig von ihren Gefährten abgeschnitten wurden. Sie mußten jetzt einfach alle ein größeres Risiko auf sich nehmen, auch wenn das Haus und seine Geschöpfe bedrohlich nahe waren. Während er auf das Eintreffen der anderen wartete, stocherte er mit seinem Dolch in wachsender Aufregung in der Erde herum. Langsam begann eine senkrechte Fläche aus dunklem korrodierten Metall sichtbar zu werden, das unter der Patina von Jahrtausenden immer noch hell glänzte, wenn man den Belag ritzte. Gerade als Bruder Aldo und Lucare auf Klootz um die Ecke kamen, war er mit seiner Arbeit fertig. Er hatte eine Tür freigelegt, die völlig glatt und strukturlos war, wenn man von einem kleinen Stumpf auf der rechten Seite absah, der einmal ein Griff gewesen sein mußte. »Nun, das ist schon ein ganz schöner Erfolg. Aber wir sind dem Haus oder zumindest seiner unangenehmen Brut sehr sehr nahe, nicht wahr?« Bruder Aldo strich über die Oberfläche der Tür. »Wer weiß, was hinter diesem uralten Ding liegt? Aber – wir sind nun einmal da, und wir sollten uns besser rasch entschließen. Gimp und seine Leute kommen zu Fuß nach und werden gleich hier sein. Wie sehen deine nächsten Pläne aus, Hiero?« Schließlich wurde beschlossen, das sich noch immer ruhig verhaltende Schimmelmonster auch in Ruhe zu lassen, aber es auf jeden Fall scharf im Auge zu behalten. Das Problem war jedoch, wie sie das bewerkstelligen sollten. Alle vier, Lucare, Aldo, Hiero und der Bär waren
fest entschlossen, in die Tiefe vorzustoßen, wenn sie überhaupt durch diese Tür kamen. Wer würde dann den Männern oben Befehle übermitteln? Was war, wenn sie unter der Erde in Schwierigkeiten kamen, wie würden sie dann Hilfe herbeirufen? Ein Vorschlag Lucares ermöglichte einen Kompromiß. Ihre Idee war einfach: warum sollten sie nicht einmal versuchen, ob einer von ihnen, vor allem aber der Bär, sich gedanklich mit Kapitän Gimp verständigen konnte? An diese radikale und doch so einfache Lösung hatten sie bisher nicht gedacht. Sie begannen sofort mit Übungen, nachdem der kleine Schiffer eingehend darauf vorbereitet worden war, was geschehen würde. Gimp schien wenig begeistert und ziemlich nervös zu sein, aber er war kein Feigling. Als ihm die drei Menschen, denen er vertraute wie sonst niemandem, nachdrücklich versichert hatten, daß ihm nichts passieren würde, entspannte er sich und machte seinen Geist so aufnahmebereit, wie er es verstand. Trotzdem zuckte er sichtbar zusammen, als Hieros Gedanke mit einem einfachen »Hallo« sein Bewußtsein erreichte. Als er feststellte, daß es ihm nicht geschadet hatte, faßte er sich und versuchte mit aller Anstrengung, nun selbst eine Nachricht auszusenden. Das erwies sich als unmöglich, aber die Gesichter, die er dabei schnitt, ließen Lucare Tränen lachen. Nach sehr kurzer Zeit konnte er jedoch von allen vieren Botschaften ›empfangen‹. Immer wieder testeten sie sein Verständnis für die
Gedankensignale des Bären, worauf Hiero besonders bestand. »Wenn wir dort unten, was Gott verhüten möge, auf das Haus oder sonst eine Gefahr stoßen, dann ist Gorm unter Umständen der einzige, der mit einer Nachricht durchkommen würde. Ich wäre schon tot (und er auch), wenn es ihm letzthin nicht gelungen wäre, euch zu erreichen. Sein geistiger Ausstrahlungsbereich ist so ganz anders als ein menschlicher, daß der Feind anscheinend erst gar nicht auf die Idee kommt, er könnte überhaupt dazu imstande sein.« Endlich war alles geregelt, und sie begannen, die Tür zu bearbeiten. Allem Anschein nach bestand sie aus einer Art weißer Bronze. Eisen und Stahl hätten sich nie so lange gehalten, das wußten sie, aber dieses Metall war ihnen unbekannt. Nicht einmal der Metz-Priester hatte jene speziellen Aufzeichnungen im Abteiarchiv zu sehen bekommen, in denen Aluminiumlegierungen erwähnt wurden. Obwohl sie den Metallrahmen sorgfältig von den letzten Erdspuren befreiten, rührte sich die Tür nicht. »Wundert mich nicht!« meinte Lucare. »Nach so langer Zeit!« Bei dem Versuch, das widerspenstige Ding aufzustemmen, zerbrachen sie zwei Speerspitzen. Die glatte Metallfläche gab nicht einen Zentimeter nach. Der kleine Seefahrer war es, der mit einem bißchen gesunden Menschenverstand das Problem sehr einfach löste. Gimp
hatte die dünne Ritze zwischen Tür und Fassung rundherum besichtigt. »Schaut mal«, rief er plötzlich. »Da ist 'ne Art Riegel, da hier. Aber nicht auf der Seite bei dem kleinen Knauf da, sondern hier unten!« Ein schneller Blick zeigte, daß Gimp recht hatte. Eine dunkle Verfärbung an der Außenseite ließ erkennen, wo ein schwerer Riegel in den Türstock hineinragte. Noch erfreulicher war, daß die Schwelle an diesem Punkt leicht verworfen war. Ein schnell herbeigeschaffter Speer wurde in den Spalt gerammt. Der massive Eschenschaft bog sich ächzend durch, aber langsam, mit einem protestierenden Knirschen, begann die Türkante hochzugleiten! Alle schwiegen gebannt, als Hiero und Gimp daruntergriffen und die Tür weiter hochdrückten. Dabei wurden auf einmal vorher nicht wahrnehmbare Ritzen sichtbar, und die Metallfläche begann quer abzuknicken. Es war eine Falttür, etwas, das noch keiner von ihnen je gesehen hatte. Beim Hochgleiten klappten in regelmäßigen Abständen die Einzelteile zurück, und dann rutschte die ganze Tür in einen Spalt oberhalb des Stocks. Glücklicherweise war in den schmalen Einschnitt keine Erde eingedrungen, eine Tatsache, die den hohen Stand der Technik in jener weit zurückliegenden Vergangenheit bescheinigte. Ein letzter kräftiger Stoß schob die Tür so weit hinein, wie es möglich war. Die beiden Männer traten zurück und wischten sich den Schweiß von der Stirn, denn der
uralte Mechanismus war recht schwer zu betätigen gewesen. Jetzt klaffte eine dunkle Öffnung vor den schweigend unter der heißen Nachmittagssonne dastehenden Menschen. Ein kühler Lufthauch drang heraus, nicht unangenehm, aber irgendwie muffig, wie in einem seit langer Zeit nicht mehr benutzten Kellerraum. Viel interessanter waren jedoch die breiten Metallstufen, die in einer sanften Kurve in die Tiefe führten. Einer der Seeleute brach in einen etwas unsicheren Hurraruf aus, wurde aber gleich von seinen Kameraden zum Schweigen gebracht. Wer konnte wissen, was da unten lag? Sie spürten, daß der Augenblick zu feierlich für Freudengeschrei war. »Wie steht's mit Licht?« fragte Lucare sachlich. Natürlich hatte daran niemand gedacht, und alle schauten entgeistert drein. Bald war aber eine Lösung gefunden. Zwei der irdenen Gluttöpfe wurden herbeigeholt, womit noch drei oben zurückbehalten werden konnten. Lucare nahm den einen so wie er war, während Bruder Aldo bei dem zweiten die Flamme entfachte. Ein Stückchen Tau lieferte einen langsam glimmenden, dicken Docht, der vielleicht soviel Licht gab wie ein kleine Kerze, was für die Not ausreichen mußte. Zumindest war es das beste, was sie hatten. Gorm stieg als erster hinunter, und diesmal glitzerten seine kleinen Augen vor Aufregung, ganz im Gegensatz zu seinem gewohnten Phlegma. Der alte Mann folgte mit der improvisierten Lampe und seinem schweren Wan-
derstock. Hiero hielt sich dicht hinter ihm, mit gezogenem Schwert. Zuletzt ging Lucare mit dem Reservelicht und ihrem Speer in der Hand, jenem Speer, den Hiero so weit zurück in Zeit und Raum dem toten Snerg abgenommen hatte. Als sie hinunterstiegen, wurde der Lichtschimmer hinter und über ihnen immer schwächer, bis er überhaupt nicht mehr wahrzunehmen war. Nun waren sie ganz von ihrer Glutlampe abhängig. Lucare trug einen kleine Schlauch mit Öl, das als Reservebrennstoff dienen sollte, aber keiner von ihnen wußte, wie lange ihre Suche dauern würde. Die Treppe wand sich in einer scheinbar endlosen Spirale in die Tiefe. Gorms Nase witterte kein Anzeichen von Leben, und Hieros wiederholte telepathische Suche förderte auch nichts ungewöhnliches zutage. In regelmäßigen Abständen machten sie halt, um sich zu überzeugen, ob sie noch immer Gimp und seine Leute erreichen konnten. Es war jedesmal ganz einfach möglich, mit dem Geist des Schiffers Kontakt herzustellen. Diese kurzen Gedankenverbindungen beunruhigten ihn nicht, da dieses Sicherheitsmanöver zuvor mit ihm abgesprochen worden war. Nach einem Zeitraum, der ihnen wie Stunden vorkam, mündete der Treppenschacht endlich in eine größere ebene Fläche. Die flackernden Schatten zeigten ihnen, daß sie sich in einem weiten höhlenähnlichen Raum befanden, der sehr groß sein mußte, denn das Geräusch
ihrer Schritte verhallte in der Ferne. Im nächsten Augenblick spürten Hiero und Gorm gleichzeitig eine Bewegung auf, hoch über ihnen und ziemlich weit weg. Ein geisterhaftes Pfeifen und Zischen drang kaum wahrnehmbar an ihre Ohren. »Fledermäuse!« sagte Bruder Aldo. »Dieser Ort hier muß irgendwie mit der Außenwelt in Verbindung stehen.« Die sich daraus ergebenden Folgerungen waren wenig beruhigend. Wo lagen die anderen Eingänge in diese unterirdische Welt? Und wer oder was konnte an sie herankommen? Während die beiden Männer sich besprachen, hatte Lucare etwas untersucht, das sie zufällig entdeckt hatte. Jetzt rief sie die anderen herbei, um es ihnen zu zeigen. In die glatte Wand war eine Tafel mit einer Menge Schalter eingelassen, die mit irgendwelchen archaischen Symbolen beschriftet waren. »Ich habe offen gesagt Angst, diese Dinger anzurühren«, sagte der Priester. »Was hältst du davon?« »Mir sind sie auch nicht geheuer«, meinte der alte Mann nach einigem Überlegen. »Aber ich glaube, es wird uns nichts anderes übrigbleiben. Es muß hier unten irgendeine Lichtquelle geben, die wir dringend finden müssen, denn wer weiß, wie lange unser Öl ausreicht? Ich finde, wir müssen das Risiko eingehen. Unser ganzes Unternehmen ist ja eines.« Hiero unterdrückte seine Besorgnis und legte den ersten Schalter um. Eine Sekunde lang geschah überhaupt
nichts. Dann, während sie immer erstaunter nach Luft schnappten, begann rundum flackernd Licht aufzuleuchten, zuerst nur ein schwacher Schimmer, der aber ruckartig immer stärker wurde und sich schließlich nicht mehr veränderte. Das Licht war hart und weiß, viel schwächer als direktes Sonnenlicht natürlich, aber vielleicht mit der Beleuchtung an einem sehr trüben Tag vergleichbar. Jetzt sahen sie, daß sie auf einer Plattform hoch in der Wand eines ungeheuren Gewölbes standen.
12 Ein Ende und ein Anfang Der gewaltige unterirdische Saal jener uralten Zivilisation war ein Anblick, der einen verstummen und nachdenklich werden ließ. Die vier wußten nicht, wie weit sie unter der Erde waren, konnten es sich nicht einmal vorstellen, aber es mußte auf jeden Fall sehr weit sein. Und doch war diese gigantische Höhle anscheinend von Menschen geschaffen worden! Die langen, blaßleuchtenden Lichtstäbe, die hoch über ihnen von einer unsichtbaren Decke herabhingen – und Hiero an jene blaue Leuchtröhre auf Manoun erinnerten –, waren Beweis genug. Sie leuchteten den ganzen ungeheuren Raum gleichmäßig aus, bis auf wenige Stellen, wo eine dunkle Lücke anzeigte, daß einer der Leuchtkörper irgendwann einmal endgültig versagt hatte. Die Wände des phantastischen Saals bildeten ein Fünfeck, das äußerst exakt aus dem gewachsenen Felsen herausgeschnitten worden war. Ab einer bestimmten Höhe waren sie aus rohem Fels, darunter aber, bis vielleicht zehn Meter über dem Boden, geglättet und poliert. An vielen Stellen waren sie sogar mit schimmerndem Metall verkleidet. Rund um das kaum übersehbare Feld seltsamer Aufbauten in der Saalmitte führte ein offener, kreisförmiger Streifen, breit wie ein Karawanenweg, der sie von der Wand absonderte. »Gott, schaut euch bloß diese Sachen an!« Hieros
Stimme klang gedämpft, fast ehrfürchtig. Die unzähligen, großen Blöcke, die dort unten standen, vom Staub vieler Jahrhunderte verhüllt, waren allein durch ihre Größe unheimlich und fast unverständlich für einen Menschen des achten Jahrtausends nach Christus. Hiero empfand eine tiefe seelische Furcht, wie er sie noch nie verspürt hatte. Dies dort unten mußten die legendären Maschinen jener vergessenen Ära vor dem ›Tod‹ sein. Vielleicht hatten sie selbst geholfen, den Tod auf die Welt droben loszulassen! Jeder denkende Mensch, mit Ausnahme der Unreinen natürlich, empfand ein derartiges Grauen, ein beinahe angeborenes Entsetzen vor dem ›Tod‹, daß der Anblick solcher teuflischer Geräte wie ein Blick in den innersten Kreis der Hölle selbst war. Bruder Aldos Miene war zu Stein erstarrt, aber die Abscheu in seinen Augen war eine lebendige Flamme. Lucare war tatsächlich auf die Knie gefallen. Nach allem, was sie in ihrem achtzehnjährigen Leben durchgemacht hatte, war der leibhaftige Anblick der titanischen Maschinen jener legendären, schrecklichen Vergangenheit doch zuviel für sie gewesen und hatte die Beine unter ihr nachgeben lassen, wie es noch nichts je zuvor vermocht hatte. Hiero bückte sich und half ihr wieder auf die Füße, und als sie zu dem schweren Metallgeländer der Plattform traten, um einen besseren Überblick zu bekommen, legte er seinen Arm um sie. Als sie nach oben blickten, sahen sie auch dort ein
Gewirr schmaler Laufstege und Brücken, die an Stahlkabeln aufgehängt waren, an einer Decke, die so weit im Schatten oberhalb der Lampen verborgen war, daß viele der Strukturen in der Luft zu schweben schienen. Die Leere vieler Jahrhunderte brütete dort oben im Dunkel unter der Saaldecke, die man nicht sehen konnte. »Ein ganzes Grenzschutzregiment, zehn Regimenter hätten hier Platz, Platz genug, um sich zu verirren«, bemerkte Hiero fassungslos und halb zu sich selbst. Sein Geist weigerte sich noch immer, die ungeheure Größe des Raums zu begreifen. Auch etwas anderes brachte ihn aus der Fassung. Er wußte, wonach er suchen sollte – nach Computern, wenn es noch welche gab. Aber wie sollte er sie finden? Oder sonst irgend etwas, an einem so gewaltigen, fremdartigen Ort? Gut, er kannte verschiedene Namen, verschiedene Symbole in den toten Sprachen, aber würde er sie verstehen können, würden sie überhaupt noch lesbar sein? Jetzt, da er tatsächlich eine Anlage der vergessenen Jahrhunderte gefunden hatte, schien ihm seine Aufgabe auf einmal undurchführbarer denn je. Lucare löste sich von ihm und ging hinüber auf die andere Seite der Plattform, wo der weißbärtige Elfer eben etwas untersuchte, etwas, das wie ein Metallkäfig aussah, der über den Rand der Plattform hinausragte. Als Hiero schon zu ihnen gehen wollte, empfing er einen plötzlichen Gedanken Gorms. Die Fledermäuse sind alle fort. Wohin? Hiero – da ist etwas,
das mir an diesem Ort unangenehm ist. Auf der anderen Seite dringt irgendwo unreine Luft ein. Ganz schwach rieche ich wieder dieses tote Ding, das sich doch bewegt. Hiero benutzte sein Fernrohr, um den Saal unten genau abzusuchen, und tat währenddessen das gleiche auch mit seinem Geist. Der Äther enthielt nichts, das die Ausstrahlung eines vernunftbegabten Wesens hätte sein können, nur die schwachen Signale von einigen Fledermaushirnen waren aufzuspüren, weit weg und sich immer weiter entfernend. Die Tiere waren durch ein nicht erkennbares Loch in der Decke geflohen, durch irgendeinen natürlichen Spalt vielleicht, und ihre Signale waren nicht mehr stark genug, um eine Richtungspeilung zu ermöglichen. Mit dem Fernrohr entdeckte Hiero nicht nur eine weitere Öffnung, sondern mehrere, schwarze Tunnelmündungen, zwei davon auf der gegenüberliegenden, östlichen Seite der von Menschen geschaffenen Riesenhöhle. Sie waren vielleicht achthundert Meter entfernt. Als er sich genauer umsah, fand er etwas, das offensichtlich nicht Menschenwerk war. Soweit auf die Entfernung und bei der nicht sehr hellen Beleuchtung zu erkennen war, schienen die dunklen Flecken auf dem Boden Pfützen zu sein, von denen in Gruppen säulenförmige Objekte aufragten. Hiero war schon früher in Höhlen gewesen und kannte Stalagmiten, aber die dort drüben sahen irgendwie ungewöhnlich aus. War da nicht ein eigenartiger phosphoreszierender Schimmer an ihnen? Er vergaß die Tropfsteine jedoch, als Aldo ihn rief.
»Hiero, komm herüber«, sagte der alte Mann. »Ich glaube, wir haben hier die Möglichkeit, hinunterzukommen, wenn man den unglaublichen mechanischen Errungenschaften eines längstvergessenen Zeitalters noch trauen darf. Ich habe Zeichnungen von Dingen wie diesem gesehen. Dieser käfigartige Behälter gleitet an diesen Schienen an der Wand hinauf und hinunter. Deshalb gehen die Stiegen, die ich ohnehin nur für einen Notausgang halte, nur bis zu dieser Plattform. Komm und sieh dir das an.« Er erklärte allen dreien über eine Gedankenverbindung, wie ein Lift funktionierte. Er und Lucare hatten von dem Schaltbrett den Staub entfernt, wobei drei Knöpfe zum Vorschein gekommen waren. Als nächstes probierte er sie aus, indem er von der Plattform aus in das Gehäuse hineinlangte und auf einen Knopf drückte. Mit einem Knirschen setzte sich der uralte Mechanismus in Bewegung. Aldo hielt ihn hastig wieder an. »Das dachte ich mir! Ich kenne die Symbole. Der untere schwarze Knopf ist für ›Hinunter‹, der obere für ›Hinauf‹. Den roten verstehe ich nicht, aber Rot wurde oft als Symbol für Gefahr verwendet, also werden wir den in Ruhe lassen. Steigen wir ein. Hiero, was machst du denn?« »Ich hab' Verbindung mit der Oberfläche aufgenommen. Gimp und seiner Mannschaft geht's gut. Sie haben für die Nacht ein Lager aufgeschlagen. Ich wollte mich noch einmal vergewissern, daß alles in Ordnung ist,
bevor ich mich diesem Ding anvertraue.« So zuversichtlich Aldo sich auch gezeigt hatte, er wäre kein Mensch gewesen, hätte er sich nicht ziemlich ungemütlich gefühlt, als sie alle den Lift betraten. Auf dem Boden der offenen Kabine lag der Staub gut fünfzehn Zentimeter hoch. Sie hatten bereits gelernt, sich langsam zu bewegen, um nicht zuviel Staub aufzuwirbeln. Glücklicherweise schien die Schicht vor allem aus pulverisiertem Gestein zu bestehen, so daß die aufgerührten Wolken sich ziemlich schnell wieder setzten. Die zwei Führungsschienen des Lifts waren tief in die Felswand eingelassen, so daß sich kaum irgendeine Ablagerung darauf hatte halten können. Aber die Maschine war natürlich unvorstellbar alt, so alt, wie ihre Hersteller sich niemals hätten träumen lassen. Sie ächzte und knirschte bedrohlich, als sie langsam nach unten glitt, und die ominösen Geräusche verminderten sich auch während der Fahrt nicht. Irgendein hinfälliger Schaltkreis hielt den Lift in jedem Zwischenniveau an, und Hiero mußte sich jedesmal fast gewaltsam zwingen, wieder auf den Knopf zu drücken und den klapprigen Mechanismus erneut in Gang zu bringen. Es gab ziemlich ähnlich aussehende Plattformstockwerke, so daß sogar der Bär, der seine Gedanken abgeschirmt hatte, einen hörbaren Schnaufer der Erleichterung tat, als sie endlich am Boden der Halle angelangt waren. In der Beziehung fühlten sie alle das gleiche. Ihre Erleichterung war jedoch nicht von langer Dauer.
Bevor sie den Lift verließen, griff der vorausblickende Aldo, der als letzter aus dem Metallkäfig trat, noch einmal hinein und drückte auf den ›Hinauf‹-Knopf. Er wollte herausfinden, ob sie bei Gefahr auch schnell wieder nach oben zurückkehren konnten. Jetzt ließ sein erschrockener Ausruf die anderen herumfahren. Der Lift rührte sich nicht. Zehn Minuten lang quälten sie sich mit dem widerspenstigen Mechanismus, dann gingen sie auf die Suche nach der Energiequelle. Offenbar war aber das Notaggregat – oder was immer es war – irgendwo tief im Boden eingebaut, weil sie nichts finden konnten. Sie saßen also jetzt fünf Stockwerke unter dem einzigen Ausgang fest, den sie kannten. »Ich möchte wetten, daß wir mindestens eine halbe Meile tief unter der Erde sind«, meinte Aldo nüchtern und faßte damit den Hauptgedanken aller in Worte. Wir werden einen anderen Weg nach oben finden müssen, sagte ein gelassener Gedanke Gorms. Wenigstens können wir uns wieder auf die eigenen Füße verlassen, nicht wie in diesem Ding, das sich mit uns bewegt. Der fremdartige Mechanismus hatte den Bären mehr beunruhigt, als er sich hatte anmerken lassen. Hier unten, wo das Licht weitaus gedämpfter war als in Deckennähe, sahen sich die vier Entdeckungsreisenden von den gigantischen, staubverhüllten Formen eingekreist, die nichts anderes sein konnten als die geheimnisvollen Maschinen der ältesten Vergangenheit. Von der Plattform hoch droben hatten die Größenordnungen
noch normal gewirkt. Jetzt mußten sie feststellen, daß die meisten Geräte riesig waren, und ein paar davon einfach ungeheuerlich. Hiero ging zu dem nächsten hin, dessen Umrisse ihm irgendwie seltsam vorgekommen waren. Er benutzte die fast watende Gangart, bei der, wie sie herausgefunden hatten, am wenigsten Staub aufgewirbelt wurde, und wischte vorsichtig die zentimeterdicke Schicht von der Oberfläche der Maschine, während die anderen abwarteten. »Dachte ich mir's doch!« Sein Lachen weckte ferne Echos in den staubigen Gängen zwischen den stummen Maschinenriesen und hallte wider von Metallplattformen und Felsvorsprüngen hoch oben. »Das ist eine Schutzhülle! Alle diese Geräte sind zugedeckt. Da, man kann das Zeug hochheben und sehen, was darunter ist.« Er hob eine Ecke der schweren Plastikhülle an, vorsichtig, um den Staub nicht aufzuwirbeln. Darunter sahen sie – ihre Augen hatten sich mittlerweile an das schwache Licht gewöhnt – ein metallisch schimmerndes Gehäuse, das wohl seit Jahrtausenden niemand mehr erblickt hatte. Aufgeregt lief der Priesterkrieger zur nächsten Riesenform und dann zur übernächsten. Alle waren mit dicken Plastikplanen zugedeckt, einem Material, das den vielen Jahrhunderten unverändert widerstanden hatte, und das Metall darunter schien weder durch Korrosion noch durch sonstige Verfallserscheinungen angegriffen zu
sein. Hiero zog seinen Dolch und schnitt das Plastik in großen Stücken herunter, weil die schweren Planen nicht so leicht zu entfernen waren – manche der damit verhüllten Geräte waren so hoch wie ein zweistöckiges Haus mit einer Grundfläche von tausend Quadratmetern und mehr. »Hiero«, meldete sich die tiefe Stimme des alten Elfers. »Ich glaube, wir sollten jetzt besser erfahren, was wir suchen, meinst du nicht auch? Ich möchte nicht neugierig erscheinen, aber...« »Natürlich. Ich hab's euch schon früher sagen wollen. Nur hatte ich in letzter Zeit so viel zu denken, da habe ich es einfach vergessen.« Als sie alle um ihn herumstanden oder sich an die Gehäuse der unglaublichen Maschinen lehnten, gab er ihnen im Geist einen kurzen Überblick über seinen Auftrag, beschrieb die verlorengegangenen Computer, oder zumindest ihren Zweck, so weit er ihn selbst verstand, und erklärte eingehend, warum die Abteien diese Maschinen für so wichtig hielten. »Wenn das, was Demero mir sagte, alles stimmt, und ich glaube jedes Wort davon«, schloß er mündlich, »dann brauchen wir dringend so ein Ding. Die Angriffe auf uns verstärken sich, und sie sind koordiniert. Verteidigung und Gegenangriff müssen es auch sein, sonst haben wir nicht den Hauch einer Chance.« Aldo hatte keine Fragen mehr. Jetzt, da er wußte, worum es ging, begann er sofort die umstehenden Geräte
zu untersuchen und nach Beschriftungen und Symbolen Ausschau zu halten. Die anderen machten sich ebenfalls an die Arbeit. Gorm und Lucare halfen Hiero, die Plastikhüllen zu entfernen. Etwa eine Stunde später machten sie eine Pause und sahen einander an, worauf sie alle in Gelächter ausbrachen. Sie waren alle von Kopf bis Fuß mit einer grauen Staubschicht bedeckt. Besonders der Bär sah aus wie ein graues zottiges Gespenst. »Schauen wir mal«, sagte Bruder Aldo, der sich in ein kleines Büchlein Notizen gemacht hatte, »was wir alles haben – leider vorläufig noch nichts, was nach Computer aussähe, Hiero.« Der Priester wischte sich mit einer schmutzigen Hand den Schweiß von der noch schmutzigeren Stirn und versuchte sich zu konzentrieren. Bruder Aldos Kenntnisse in den alten Sprachen waren nun ungeheuer wertvoll, da Hiero selber nur einige einfache Wörter und Symbole hatte lernen können, bevor er sich auf seine Reise machte. »Wir haben die Aufschrift ›engine‹ gefunden, das heißt soviel wie Motor«, fuhr Aldo fort, »und eine Menge anderer Schränke, die anscheinend Maschinen zum Steuern von irgendwas sind. Übrigens ist mir ein Rätsel, womit diese Motoren betrieben wurden, was ihre Energiequelle war. Falls es nicht«, seine Miene war sehr ernst geworden, »... die vergessene Atomkraft selbst ist, die, als sie mißbraucht wurde, den Heißen Tod über die Welt brachte. Aber daran will ich lieber gar nicht denken.«
Hiero fand die Gelegenheit nicht sehr günstig, seine Befürchtungen zu erwähnen, daß die Unreinen sehr wohl diese unheimliche Energiequelle wiederentdeckt haben mochten. Es war nur ein Verdacht, aber er konnte nicht umhin, sich zu fragen, welche nahezu lautlosen Maschinen ihre dunklen, segellosen Metallschiffe antrieben. »Wir haben auch etwas gefunden, das ›Klimaanlage‹ und ›Wärmekontrolle‹ heißt«, warf Lucare ein. »Ja, aber das sind, wie ich dir schon erklärt habe, Dinge, die auch an den anderen archaischen Stätten zu finden sind, die ich besucht habe. Sie haben nur mit frischer Luft und Heizung zu tun, das ist alles. Wir wissen nicht, wie die Geräte funktioniert haben, aber wir wissen mit Sicherheit, daß es weder Waffen noch Computer sind.« »Wir haben bis jetzt nur am Rande dieser Anlagen herumgestöbert«, sagte Hiero nach kurzem Überlegen. »Wie wär's, wenn wir mehr ins Zentrum vorstoßen? Wenn es hier überhaupt eine Informationsspeicheranlage gibt, dann sollte sich die logischerweise in der Mitte befinden. Wenn ich mich recht erinnere, wie die Anlage von oben ausgesehen hat, dann müßte, glaube ich, in der Mitte ein kreisrunder freier Platz sein, auf dem ein paar kleinere Geräte regelmäßig angeordnet sind.« Damit waren die anderen einverstanden, und so begannen sie, sich auf Umwegen zur Mitte durchzuarbeiten. Immer wieder gerieten sie zwischen den gewaltigen Blöcken in eine Sackgasse, so daß sie zurückgehen mußten. Hiero kam es vor, als wären sie winzige Geschöpfe,
die in einem gigantischen Labyrinth gefangen waren. Endlich erreichten sie, mittlerweile alle hustend und niesend, das Ende eines langen, von klobigen Maschinen gesäumten Gangs und traten hinaus auf den freien Platz, den Hiero von oben entdeckt hatte. Seit einiger Zeit schon war der Boden leicht ansteigend, und jetzt erkannten sie, daß dieser Zentralteil des Saals höher lag als der Rest. »Vielleicht ist unter all diesem Staub eine Art Rinnensystem verborgen, so daß sie die Böden zum Reinigen einfach nur abzuspritzen brauchten«, meinte Hiero. Mehrere interessante Dinge fielen ihnen sofort auf. Vor ihnen lag ein großes, halbkreisförmiges Instrumentenpult, leicht als solches zu erkennen, da es von allen Apparaturen die einzige war, die man nicht mit Plastikfolien zugedeckt hatte. Doch sie war zugedeckt gewesen, daran bestand kein Zweifel. Hier und da lagen nämlich Stücke der Plastikhülle – ohne jeden Staub – so als wären sie von der Steuerkonsole aufs Geratewohl heruntergerissen und beiseitegeworfen worden. Die rund dreißig Sitze, die an der Innenkurve des Pults am Boden befestigt waren, trugen noch ihre Plastikhüllen, und die Staubschicht darauf war unberührt. In der Mitte der Instrumentenkonsole brannten mehrere kleine Glimmlämpchen, zwei gelbe und ein rotes, an einem Kontrollbord, das vermutlich den Hauptteil der Anlage darstellte, da es sich genau im Scheitel des breiten Bogens befand. Die drei Menschen starrten einen Augenblick lang fassungslos darauf und begriffen erst nach und
nach, was diese Entdeckung bedeutete. »Jemand ist hier gewesen«, flüsterte das Mädchen. »Wer kann das gewesen sein? Und wie lange ist es her? Da, diese Lampen muß jemand eingeschaltet haben.« Abrupt warf sie sich herum, als versuche sie, jemanden oder etwas zu ertappen, das sich hinterrücks an sie heranschlich. Aber außer ihnen selbst rührte sich nicht das geringste. Die staubigen Monumente einer uralten Vergangenheit ragten rundum in stummer Majestät empor, und nur die drei winzigen Glimmlichter auf dem Pult bewiesen, daß noch Leben in den Relikten eines vergessenen Zeitalters war. Der Bär tappte langsam näher und begann den Boden zu beschnüffeln. Kommt her, sagten seine Gedanken. Etwas ist hier gewesen und hat eine Spur hinterlassen. Etwas, das wir kennen, fügte er grimmig hinzu. Hiero trat vor, bückte sich, und dann sah er, was der Bär entdeckt hatte. Eine breite, schmierig schillernde Furche zog sich durch den Staub. Sie kam vom Ende eines Gangs zwischen den Reihen gewaltiger Maschinen von links auf die Vorderseite des Instrumentenpults zu, verbreiterte sich da und dort zu verschmierten Flecken, wo die Plastikbahnen zu Haufen aufgetürmt lagen, und verschwand dann wieder auf der anderen Seite im Schatten zwischen den Monsterapparaturen. Es war klar, was hier geschehen war. Irgend etwas war gekommen, hatte das Steuerpult abgedeckt und untersucht und war dann wieder gegangen. Hatte es irgendwie die Lämpchen
eingeschaltet? Wo war es jetzt, und wann mochte es wiederkommen? Hiero schauderte. Was immer diese sonderbare Spur hinterlassen hatte, war ganz gewiß nicht menschlich, und noch vor der nächsten Bemerkung des Bären glaubte er zu wissen, um was es sich dabei handelte. Dieses Wesen, das ihr Haus nennt, oder eine seiner Kreaturen war hier, dachte Gorm ruhig. Kannst du es denn nicht riechen? Hiero spürte im Geist seines vierfüßigen Freunds ungläubige Verwunderung über den schlechten menschlichen Geruchssinn, aber er kümmerte sich nicht darum. Schnell gab er die Warnung an die anderen beiden weiter und wies Lucare an, die improvisierte Lampe wieder anzuzünden, die sie ausgelöscht hatte, als ihnen das Beleuchtungssystem der Halle mehr als genug Licht lieferte. Schon einmal war Feuer ihre einzige Waffe gegen das Haus gewesen, und Feuer mochte sie auch ein zweitesmal retten, falls das Schimmelungeheuer wieder auftauchte oder seine Diener auf sie hetzte. »Seht her!« Aldo hatte den Teil des Instrumentenpults sorgfältig studiert, in dem die drei Lämpchen glommen. »Ich kann diese Aufschriften lesen, oder zumindest einige davon. Ein paar Wörter wie ›gantry‹ und ›silo‹ sind mir unbekannt, aber hier haben wir ›missile launch‹ und darunter eine Reihe von Ziffern. Wir haben hier etwas Fürchterliches entdeckt, Hiero. Dies ist eine der Anlagen, die den fliegenden Tod durch die Luft aussandten, die großen Maschinen, die über die ganze Erde dahinflogen
und entsetzliche Gifte und radioaktive Vernichtung verbreiteten. ›Missile‹ nannte man die Maschinen des Todes, und ›launch‹ bedeutet Start.« Der alte Mann starrte bis ins Innerste erschüttert auf die riesige schweigende Instrumentenanlage. »Vielleicht«, fügte er fast flüsternd hinzu, »vielleicht stehen immer noch einige dieser ›Missile‹ bereit, und warten darauf, noch mehr Tod zu verbreiten, selbst nach fünftausend Jahren!« Keiner sagte etwas, selbst der Geist des Bären blieb stumm, denn ihnen allen war der entsetzliche Gedanke gekommen, sie könnten irgendwie, durch einen Fehler, einen Zufall, nochmals das Chaos auf die Welt loslassen. Hiero war der erste, der sich wieder faßte. Sein Geist konnte einfach nicht so lange über Vergangenes nachgrübeln. Er war hierhergekommen, um etwas zu finden, eine Waffe, und was er gefunden hatte, war ein tödlicher Feind, der zwar augenblicklich nicht zu sehen, aber bestimmt nicht allzu weit entfernt war. In einer solchen Situation war es einfältig, sich über jahrtausendealte Tragödien den Kopf zu zerbrechen. »Was bedeuten diese Lichter?« fragte er absichtlich schroff. Er wollte Aldo aus seiner bedrückten Stimmung herausreißen und ihm etwas anderes zu denken geben. So kräftig er auch noch war, der Elfer war ein sehr alter Mann, und er hatte zum erstenmal in seinem Leben Dinge erblickt, die bisher für ihn nur abstrakte Komponenten eines uralten Alptraums gewesen waren. Jetzt aber wurde dieser Alptraum wieder lebendig, ja drohte sogar, die
Erde erneut in seinen Griff zu bekommen, etwas, das er wie jeder Elfer tausendmal mehr fürchtete als jede persönliche Bedrohung. Mit einem Ruck kehrte Bruder Aldo in die Gegenwart zurück. »Diese Lichter? Du siehst, unter allen steht ein Wort. Bei den zwei gelben heißt es ›standby‹, was glaube ich soviel wie ›warten‹ bedeutet.« Er beugte sich dicht über den rotglühenden Punkt auf dem glatten schwarzen Pult. »Bei diesem hier steht ›alert‹, und das heißt ›Alarm‹ oder ›Achtung‹. Aber warte! Da führt doch ein silbriger Metallstreifen herüber nach rechts, zu einem anderen Teil der Anlage.« Vor sich hinmurmelnd ging er um zwei der Sitze herum, während er der hellen Linie mit den Augen folgte. Die anderen kamen nach, auf eine Erklärung oder Übersetzung wartend. Der Metallstreifen zog sich ein ganzes Stück über das Instrumentenpult und endete schließlich bei einem schwarzen, eiförmigen Buckel, bei dem wieder eine Beschriftung zu sehen war, diesmal eine längere. »Schauen wir mal, was hier steht«, sagte der alte Mann. »Ich glaube, es heißt so etwas wie ›Kappe entfernen für Selbstzerstörung‹.« Er drehte sich um und sah die anderen an. »Versteht das jemand von euch?« Ich, warf Gorm unerwartet ein. Ihr alle benutzt euren Geist sehr unvorsichtig, hier unten. Ihr strahlt Gedanken aus, selbst wenn ihr eure menschliche Sprache verwendet. Ihr habt etwas sehr Altes entdeckt, das die ganze Höhle vernichten
kann, und uns dazu, nehme ich an. Seine Gedanken klangen jetzt wieder so ruhig, fast erheitert, als beschriebe er seine Lieblingsmahlzeit. »Ich werde diese Kappe entfernen«, fuhr Bruder Aldo fort, ohne den Bären zu beachten. »Das beste, was ich bis jetzt über diese Dinge hier erfahren habe, ist die Tatsache, daß wir vielleicht die Mittel haben, sie völlig zu zerstören. Ich bedaure es, daß ich euch geholfen habe, hierher zu kommen.« Sein brennender Haß gegen alle technischen Dinge aus der Zeit vor dem ›Tod‹ vibrierte in jeder Silbe, jedem Wort. »Laß mich das tun«, sagte Hiero ruhig. »Vergiß nicht, daß ich mehr an Maschinen gewöhnt bin als du. Du kannst mir über die Schulter zusehen und sagen, was die Symbole bedeuten. Ich werde nichts tun, ohne dich vorher zu fragen, das verspreche ich.« Die Anspannung in Aldos Stimme und in seiner geistigen Ausstrahlung war so deutlich zu spüren, daß Hiero zu fürchten begann, der alte Mann könnte irgend etwas Unvernünftiges tun. Der Elfer schloß für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete, war seine Miene ruhiger geworden, und um seinen Mund spielte sogar ein winziges Lächeln. »Ich habe ein Stück von deinem Gedanken eben aufgefangen, mein Junge«, sagte er. »Du hast völlig recht. Ich darf nicht meinen Gefühlen nachgeben, und ich war vorhin sehr nahe daran. Mach du weiter, und ich will versuchen, dir zu helfen.« Der Metz studierte die schwarze Ausbauchung, die
wie ein abgerundeter Kegelstumpf aussah. Er entdeckte, daß der Rand mit fingerbreiten Rillen versehen war, offensichtlich der besseren Griffigkeit wegen. Er begann, die Kappe vorsichtig abzuschrauben. Als er sie behutsam abhob, sah er, was darunter lag und verstand, weshalb eine Verschlußkappe nötig war. Wenn ein einziger Mechanismus die Vernichtung der ganzen Anlage bewirken konnte, darin gab einem ein Schraubverschluß wenigstens Zeit, einen Wahnsinnigen oder ein Selbstmordkommando des Feindes davon abzuhalten. Eine einfache Deckelkappe hätte diesen Zweck nicht erfüllt. Unter der Kappe, die er vorsichtig beiseite legte, war eine offene Skala. Eine Reihe von dreißig Zahlen, in den archaischen Symbolen der Alten geschrieben, säumten einen halbkreisförmigen Schlitz. An seinem einen Ende war quer dazu ein kurzer Seitenschlitz zu sehen, in dem ein Schieber saß. Nach einigem Überlegen begriff Hiero, daß dieser Schieber aus seinem Schlitz nach vorn gezogen werden konnte und dann auf der Kurve des längeren bis zu einer beliebigen Zahl. »Das sind Stunden, oder die Symbole für Stunden, davon bin ich überzeugt«, sagte Aldo über Hieros Schulter. »Offenbar kann man diesen Mechanismus auf eine Zeit bis zu dreißig Stunden später einstellen, dann – dann geht alles hier in die Luft.« »Und wenn es Minuten sind, nicht Stunden, oder sonst eine Zeiteinheit, die wir gar nicht mehr benutzen?« fragte Hiero trocken. Lucare, hinter den beiden, hielt
erschrocken die Luft an. »Hier steht ›h‹, das heißt ›Stunden‹«, Aldo zeigte auf ein kleines Symbol an einem Ende der Ziffernreihe, das Hiero noch gar nicht entdeckt hatte. »Das ist eine Abkürzung, aber eine, die ich schon oft gesehen habe.« »Tut mir leid«, meinte der Priester. »Ich bin ein bißchen nervös. Was meint ihr, sollen wir nicht was essen? Droben muß es längst Nacht sein, und ich finde, wir haben jetzt einen Bissen nötig.« Nachdem sie wieder an ihre Mägen erinnert worden waren, bemerkten alle, daß sie in der Tat ziemlich hungrig waren, und Gorm beschwerte sich bitterlich, daß er viel zu wenig bekäme, als Lucare die Rationen austeilte. Du bist so dick, daß du eine Woche von überhaupt nichts leben könntest, meinte sie und puffte ihn in die rundlichen Flanken. Tut dir ganz gut, wenn du mal nicht so viel frisst. Während sie ihre Mahlzeit aus Trockenfleisch und Zwieback aßen, fragte sich Hiero, ob das Wasser reichen würde, bis sie wieder nach oben kamen. Er sagte jedoch nichts, um die anderen nicht zu beunruhigen. Sie hatten nur einen Wasserschlauch mit, und der war nur noch etwas mehr als halbvoll, als alle getrunken hatten. Der allgegenwärtige Staub machte zu schnell durstig. Sie hatten kaum ihre Mahlzeit beendet, als der Bär sich plötzlich aufrichtete und mit hochgereckter Nase einer Witterung nachzuspüren schien. Es kommt nichts, dachte er. Es ist nur der Geist von Gimp
(er fügte ein gedankliches Bild des kleinen Schiffers bei). Er hat versucht, uns zu erreichen. Es gibt Schwierigkeiten droben. Sofort schlossen Hiero und Aldo die Augen und bemühten sich, Kontakt mit dem Gehirn des Schiffers weit oben auf der dunklen Steppe zu bekommen. Droben war es schon seit Stunden Nacht. Gimp spürte ihre Signale augenblicklich, und die beiden konnten große Erleichterung in seinem Geist lesen. Er war natürlich nicht daran gewohnt, in dieser Weise Mitteilungen auszusenden, aber mit geduldiger Sondierung bekamen sie nach und nach aus dem Wirrwarr von undeutlichen Bildern, Gefühlen und verzweifelten Versuchen, sich verständlich zu machen, die Geschichte heraus, oder wenigstens das wichtigste davon. Folgendes war geschehen: Der eine Wachtposten – alle anderen hatten sich schlafen gelegt – hatte in den Büschen ein Geräusch gehört und war so gescheit gewesen, sich still zu verhalten und unauffällig Gimp aufzuwecken. Dieser hatte zwei weitere Männer, die sich leise bewegen konnten, aufgescheucht und dann den einäugigen Blutho geweckt, ihm das Kommando übertragen und ihn angewiesen, die übrigen heimlich zu wecken und zu bewaffnen. Gimp und seine beiden Getreuen schlichen sich aus dem Lager und hörten schließlich, wie sich jemand, ein Mann, wie sie annahmen, nach Süden entfernte. Sie stahlen sich näher heran und entdeckten, offenbar im Mondlicht, eine
Gruppe berittener Leute auf Hüpfern (Hiero: auf was? Aldo: Laß nur, erklär' ich dir später); Gimp lockte einen dieser Reiter schlau in einen Hinterhalt, wobei das Reittier getötet wurde und der Reiter ohne Lärm gefangengenommen worden war. Dieser Mann, denn es war ein Mann, war ins Lager zurückgebracht und hastig verhört worden. Was sie erfuhren, war mehr als beunruhigend. Eine kleine, ausgesuchte Truppe von Unreinen, sowohl Menschen wie Lemut, näherte sich von Süden (der Reiter hatte zu einer Vorhut von Kundschaftern gehört), und ihr Ziel war eine ›begrabene Welt‹, zu der sie eine ›Tür‹ kannten. Sie wurden von Dunklen Meistern angeführt (Gimp nannte sie ›Zauberer‹), und sie jagten einen gefährlichen Mann aus dem hohen Norden, einen schrecklichen Feind, der um jeden Preis vernichtet werden mußte. Der Kapitän bat um eine rasche Anweisung, denn jetzt konnte er bereits den Haupttrupp herankommen hören. Das war im Moment alles. Hiero verschwendete keine Zeit. Der Gefangene sollte sofort getötet werden. Die Seeleute sollten Klootz am Zügel nehmen und so rasch und leise wie möglich nach Norden zurückweichen. Der Tod des Gefangenen war notwendig, weil sonst sein Geist vom Feind aufgespürt werden könnte. Sein spurloses Verschwinden dagegen würde man höchstwahrscheinlich wilden Tieren oder einem Unfall zuschreiben. Dann wandte sich Hiero zu den anderen und erklärte, was vorgefallen war. Aldo hatte alles mitbekommen,
aber Lucare und Gorm mußten näher informiert werden. Das Mädchen sprach dann aus, was die anderen längst vermutet hatten. »Sie wollen zu einer ›begrabenen Welt‹. Das ist genau der Ort, an dem wir sind, Hiero. Gorm hat uns gesagt, daß wir unseren Geist zu auffällig benutzen. Die Feinde müssen uns irgendwie ›gehört‹ haben. Es muß einen zweiten Eingang geben, und sie kennen ihn. Wir sitzen in der Falle!« Gorm hatte die Neuigkeit mit seiner üblichen Gemütsruhe aufgenommen, und sogar mit ein bißchen Selbstgefälligkeit. Ich habe euch ja schon längst gesagt, Ihr geht mit euren Gehirnen zu unvorsichtig um, aber jetzt läßt sich nichts mehr daran ändern. Wir müssen einen anderen Ausweg finden. Das ist uns auch schon früher gelungen. Seine Gedanken wirkten unbeteiligt und fast etwas desinteressiert. Er schloß: Sagt es mir, wenn ihr aufbrechen wollt. Bruder Aldo klopfte Hiero tröstend auf die Schulter. »Der wirkliche Anhaltspunkt für unsere Feinde, Hiero, war sicher unser Kampf mit dem Haus. Die intensive geistige Ausstrahlung davon muß leicht zu registrieren gewesen sein. Mach dir keine Vorwürfe, mein Junge. Die Unreinen sind diesmal ein bißchen schlauer gewesen, als wir angenommen haben. Außerdem müssen sie auch viel näher gewesen sein, müssen Neeyana schon viel früher verlassen haben, um uns zu suchen. Keiner von uns hätte etwas dagegen tun können, aber jetzt werden wir uns wirklich etwas ausdenken müssen.«
»Sduna hat das veranlaßt«, sagte Hiero bitter. »Er hat geschworen, mich zu töten. Er muß ein paar sehr schlaue Berechnungen angestellt haben, um unsere Marschrichtung so genau erraten zu können.« Er sah sich in dem spärlich erhellten Riesengewölbe um. »Wie in Gottes Namen können wir uns hier wehren oder entkommen?« Er ließ bedrückt die Schultern sinken. »Denk nach!« sagte Aldo brüsk, nun gar nicht mehr der freundliche alte Mann. »Du bist ein Krieger, nicht nur ein Priester, und jetzt ist nicht die Zeit zum Resignieren. Sogar ich weiß etwas, was uns hilft: sie haben immer noch tödliche Angst vor dir. Weshalb sonst haben sie ihre eigenen Geisteskräfte nicht angewendet, um Gimp aufzuspüren und gefangenzunehmen? Sie tragen Abschirmgeräte, diese mechanischen Gedankenschilde, hinter denen sie sich verstecken. Aus Furcht vor dir! Und jetzt sieh zu, daß du diese Furcht ausnützt!« Lucare sagte nichts. Sie kam einfach zu ihm, legte die Hände auf seine Schultern und sah ihn an, stumm, aber mit Augen, die von Liebe und Vertrauen sprachen. Dann berührte sie leicht seine Wange. Der Mann, den sie liebte, würde einen Ausweg finden, das wußte sie. Wie, das war für sie nur eine Nebensächlichkeit. Dieser doppelte Appell an seine Fähigkeiten riß Hiero aus seiner verzweifelten Stimmung. Das geheimnisvolle, riesige Gewölbe kam ihm nicht mehr wie ein Kerker vor, in dem sie rettungslos gefangen waren. Er konnte wieder denken, planen, das Problem von allen Seiten analysie-
ren. Bruder Aldo bemerkte seinen veränderten Gesichtsausdruck und den neuen, entschlossenen Zug um seinen Mund, und wartete befriedigt ab. Ihr Anführer war wieder bei ihnen. Gleich im ersten Augenblick, als er wieder zu planen begann, war ihm klar, daß es vor allem um zwei Punkte ging: das Haus, und seinen unerfüllten Auftrag. »Ihr beide geht euch umsehen, aber achtet darauf, daß ihr eine deutliche Spur im Staub hinterlaßt, damit ihr zurückfindet. Gorm, geh mit Lucare. Halte Ausschau nach dem Haus oder sonst einem Feind. Bruder Aldo, such du nach Zeichen oder Aufschriften, die auf Computer hinweisen – wenn diese verdammten Dinger überhaupt je an einem Ort wie diesem aufgestellt wurden!« »Das wurden sie«, lautete Aldos Antwort. »Wir haben gelesen, daß es die Computer waren, die auf irgendeine Art diese schrecklichen Waffen über die Erde ausschickten und sie ins Ziel lenkten. Ganz sicher gibt es hier zumindest einen.« Er drehte sich um und marschierte davon, seinen Stock in der einen Hand und den kleinen Dolch in der anderen, um die Plastikhüllen aufschneiden zu können. Lucare und Gorm hatten sich bereits in eine andere Richtung auf die Suche gemacht. Der Bär würde mit seinem hochentwickelten telepathischen Spürsinn sofort jede Gefahr schon aus der Ferne wahrnehmen, aber Lucare hatte vergessen, daß sie die alte Sprache und Schrift nicht kannte und deshalb kaum etwas ausrichten konnte.
Hiero wollte dringend ein wenig mit sich allein sein. Er mußte einige geistige Erkundungen durchführen und danach seine weiteren Schritte sehr sorgfältig planen und abwägen. Es war ihm auch bereits etwas dazu eingefallen – eine Idee, der Keim eines schrecklichen Plans voller Unsicherheiten und Gefahren, der aber auch, wenn er funktionierte, einen überwältigenden Erfolg bringen würde. Nun schickte er seinen Geist nach oben, dem Feind entgegen. In wenigen Augenblicken hatte er den Trupp der Unreinen aufgespürt, und was er dabei feststellte, erschreckte ihn ein wenig. Er hatte Gimp zu fragen vergessen, ob der Gefangene einen Gedankenschild getragen hatte. Jetzt nämlich waren alle Gehirne, die er wahrnehmen konnte, damit geschützt, so daß er nicht einmal abschätzen konnte, wie zahlreich der Feind war. Was er jedoch abschätzen konnte, das war die geographische Entfernung zwischen ihm selbst und der näherkommenden kollektiven Aura von Abschirmgeräten. Wie ein undurchdringlicher Energieklumpen drang sie von Süden heran, jetzt wahrscheinlich nicht mehr als eine Meile entfernt. Das war wirklich eine Leistung, gab er widerwillig zu, in so kurzer Zeit so viele Personen mit Abschirmgeräten zu versorgen. Kühl schätzte er die Chancen für sich und seine Gefährten ab. Etwas stand jedenfalls fest: die Unreinen wußten anscheinend genau über diesen Ort hier Bescheid und marschierten geradewegs darauf zu. Heißt das, daß
sie schon früher hier gewesen waren? Er überlegte. Bei genauerer Betrachtung schien es eigentlich unwahrscheinlich. Schließlich war von der ganzen riesigen Anlage einzig und allein das zentrale Instrumentenpult angerührt worden, und wer, beziehungsweise was das getan hatte, wußte er. Nein, die Unreinen Meister mußten ihre eigenen Archive durchstöbert haben, genauso, wie es der Abteirat getan hatte, bevor man ihn auf die Suche geschickt hatte. Außerdem war der Ort recht genau auf der feindlichen Karte eingezeichnet, die er dem toten Adepten abgenommen hatte. Ohne Zweifel besaßen die Feinde noch andere Karten, vielleicht mit detaillierteren Angaben. Dieses Gewölbe hier war wohl als eine von vielen Stätten vorgemerkt worden, die man bei Gelegenheit irgendwann einmal untersuchen wollte. Dieser Plan war geändert worden, als Sduna und seine Gesellen beschlossen, ihren gefährlichsten Feind bis zur endgültigen Vernichtung zu jagen. Und jetzt hatten sie ihn gefunden, teils durch Vermutungen, teils durch die psychischen Energieausbrüche aufmerksam gemacht, die sein Geist bei dem Kampf mit dem Haus ausgestrahlt hatte. Das war Bruder Aldos Annahme – und höchstwahrscheinlich hatte er recht. Das geistige Duell mußte über weite Entfernungen hin wahrnehmbar gewesen sein, für alle, die sich für derartige Dinge interessierten. All diese Überlegungen zuckten binnen wenigen Augenblicken durch Hieros Geist. Während des Nachden-
kens hatte er sich auf das Hauptkontrollpult gestützt. Jetzt richtete er sich abrupt auf und entfernte nochmals die Kappe des Zerstörungsmechanismus. Dabei begann er über das Haus nachzudenken, und dies ließ seinen Plan zum unverrückbaren Entschluß werden. Mit einer schnellen Handbewegung war alles getan. Nun setzte der Metz den Schraubdeckel wieder auf und entfernte sich rasch in Richtung der östlichen Tunnelöffnungen, die er von der Plattform aus gesehen hatte. Der Gang war fast gerade, so daß er schnell gehen konnte, wobei er allerdings seine gewohnte Wachsamkeit noch verstärkte. Unterwegs nahm er Kontakt mit dem Bären und Aldo auf, in einem Bereich, den Lucare noch nicht meisterte, und erklärte den beiden kurz, wohin er ging und warum. Er hatte das Haus und seine hinterhältigen Methoden noch nicht vergessen. Falls er sich nicht in regelmäßigen Abständen meldete, sollten sie ihm zu Hilfe kommen. In diesem Augenblick entdeckte er plötzlich die Schleimspur irgendeiner Kreatur des Hauses, die von links in den Korridor einmündete, in dem er sich befand. Bei der nächsten Gelegenheit wechselte er auf den Parallelgang zur Rechten über. Wozu dem Ding geradewegs in den Rachen laufen? Er hatte einen Bolzen auf seine Armbrust gelegt und fachte jetzt auch die Glut in dem zweiten Feuertopf an. Um den Bolzen war ein ölgetränkter Lappen gewickelt, den er in einem Sekundenbruchteil entzünden konnte, wenn es nötig war. Wenn ich diesen
Sekundenbruchteil Zeit habe, ergänzte er bei sich. Jetzt kam zu Hieros normalen Wahrnehmungen ein neuer Faktor hinzu. Der muffige, staubige Geruch des großen Gewölbes bekam langsam eine faulige Komponente, die er nur zu gut kannte. Der Bär mußte das die ganze Zeit schon gerochen haben, dachte Hiero, obwohl es hier nicht so deutlich war wie droben an der frischen Luft. Süßlich und ekelerregend drang der Gestank lebender Fäulnis in seine Nase, das Kennzeichen des Hauses und seiner Geschöpfe. Er duckte sich und spähte nach links, um die Ecke einer der riesigen Apparaturen – und zog den Kopf blitzartig wieder zurück. Hier begann das Reich des Scheusals! Hier, weit unter der Erde, sahen die Pilze weit seltsamer aus als die an der Oberfläche. Es war, als ob das Haus seine empfindlicheren und selteneren Gewächse nur der schützenden Tiefe anvertrauen wollte. Daß sie kein Tageslicht nötig hatten, war leicht zu sehen, denn viele von ihnen glommen mit der Phosphoreszenz ihres Giftes. Ein breiter, dunkler Teich voll schwimmenden Unrats hatte sich an einer Stelle gebildet, wo der Boden in der Nähe der östlichen Höhlenwand eingesunken oder durchgebrochen war. Wasser sickerte einen breiten Streifen schleimigen Felsens herunter. Hier war die Wand von den einstigen Schöpfern des Gewölbes nicht verkleidet, ja kaum geglättet worden. Vor Urzeiten mußte hier einmal eine unterirdische Quelle hervorgebrochen sein,
die jetzt noch den Teich füllte. Der Abfluß war nicht zu entdecken. Rund um diesen mehrere Meter breiten, unheimlichen Tümpel wuchs ein Wald von schlanken, leicht zugespitzten Türmen aus weichem, lebendem Moder. Sie waren sechs, acht, manche zehn Meter hoch, blaß gefärbt, mit warzenartigen Flecken auf dem graugelben oder blaßvioletten Schleim. An den Spitzen von einigen glühten kugelförmige phosphoreszierende Auswüchse. Dies waren die sonderbar schimmernden ›Stalagmiten‹, begriff der Priester, die er von der Plattform in der Ferne gesehen hatte! Während er das unterirdische, abstoßende Zerrbild eines Waldes studierte, fühlte Hiero eine seltsame Faszination in sich aufkeimen. Fremd und schrecklich war das Leben des Hauses, und doch konnte es eine Art geisterhafter Schönheit schaffen. Bei diesem Gedanken rief er sein Gehirn barsch zur Ordnung und überprüfte seine Motivationen genau, weil er eine neuerliche geistige Falle des Hauses vermutete, eine heimtückische Lockung jenes Zentralwesens, das schon einmal versucht hatte, ihn sich einzuverleiben. Aber es war keinerlei psychischer Kontakt vorhanden, und er wußte, daß er noch völlig Herr über sich selbst war. Außerdem hatte er irgendwie das Gefühl, daß dieser Ort für das Haus eine Art geheimes Versteck war, in das es sich zurückziehen konnte, und das es für völlig unzugänglich und sicher hielt. Woher er das wußte, hätte
er nicht sagen können, aber vielleicht hatte ihm sein schreckliches Duell mit dem Beherrscher der Schimmelwelt einen unbewußten Einblick in dessen Gefühle und Denkprozesse ermöglicht; der Kampf hatte eine Art Rapport zwischen ihm und dem Feind geschaffen. Als er das erstemal um die Ecke spähte, dachte er, daß sich drüben nichts rührte, und wollte eben seine Deckung verlassen, als er aus dem Augenwinkel einen gleitenden Schatten gewahrte und sofort erstarrte. Dieser Wald aus Pilzstengeln war tatsächlich lebendig! Die Wesen bewegten sich so langsam und rhythmisch, daß er es anfangs überhaupt nicht bemerkt hatte; jetzt, da er genauer hinsah, war alles deutlich zu erkennen. Die unheimlichen Gestalten waren nicht verwurzelt, nicht wie ein gewöhnlicher Pilz, sondern bewegten sich völlig frei, wenn auch sehr langsam, auf einer knollig verdickten Basis voran. Während er ihnen fasziniert zusah, begriff er, daß diese Wesen eine Art langsamen, rituellen Tanz aufführten. Sie näherten sich einander, bis sich ihre schillernden Flanken berührten, worauf eine sonderbare Wellenbewegung durch den gesamten säulenförmigen Körper lief. Während sie langsam aufeinander zuglitten, bildete sich an ihrem Fuß ein Schleimklumpen, ein weicher Auswuchs, der dann wieder verschwand, wenn sie sich fast langsam aber doch unmerklich zurückzogen und ihren seltsamen Tanz mit einem neuen Partner begannen. Diese unheimlichen Wesen besaßen Bewußtsein, des-
sen war sich Hiero sicher. So wie die großen, kriechenden Schimmelwesen, die er beobachtet hatte, fähig waren, ihre Feinde, ihre Opfer oder ihre Nahrung aufzuspüren, so waren diese tanzenden Säulenpilze imstande zu fühlen, zu reagieren, vielleicht sogar zu denken. Wenn er tatsächlich seine Deckung verlassen hätte, dann wäre er gewiß entdeckt, wenn nicht gefangen und getötet worden. Er zog sich noch tiefer in den Schatten der gewaltigen Maschine zurück, die ihm Deckung gab. Die lebenden Pilzstengel verdeckten zum Teil die schwarze Öffnung des Tunnels jenseits des Wassers. Daß es ein Tunnel war, davon war er überzeugt. Die Öffnung war zu glatt, zu regelmäßig rund, um natürlich entstanden sein zu können. In den vergessenen Zeitaltern mochte dies einer der Haupteingänge zum unterirdischen Versteck der mächtigen Raketengeschosse gewesen sein. Jetzt aber bewiesen Schleim und wuchernder Schimmel rund um die Öffnung, daß seit vielen Jahren kein Mensch mehr hier durchgekommen war. Nun, jetzt wußte er alles, was er brauchte. Leise entfernte er sich von dem Tümpel und den denkenden Schimmelsäulen. In sicherer Entfernung begann er zu laufen, im Zickzack durch die staubigen Korridore, immer nach Süden. Ein Teil seines Gehirns hatte die ganze Zeit die undifferenzierbare, gemeinsame Ausstrahlung des Unreinen Stoßtrupps überwacht. Sie war stetig stärker geworden. Das hieß, daß die Feinde immer näher kamen, und es gab nur eine Stelle, an der sie in das Gewölbe
hereinkamen – durch den Tunnel im Süden. Die Unreinen Meister würden ihre Leute so schnell wie möglich hinführen – wenn sie nicht bereits den oberen Eingang erreicht hatten. Nun blieb Hiero stehen und stellte verschiedene zeitliche Berechnungen an. Die Feinde konnten weder seinen Geist noch den seiner Gefährten aufspüren. Dessen war er sich jetzt ganz sicher, denn seine psychischen Kräfte hatten sich so verstärkt, daß er leicht einen Schutzschild über viel mehr als nur vier Gehirne hätte legen können, selbst wenn Aldo nicht dabei geholfen hätte. Aber Verteidigung war in jedem Fall viel weniger anstrengend als Angriff, weil eine Abschirmung unbewußt aufrechterhalten werden konnte. Nein, wenn er auch den Vormarsch der Feinde verfolgen konnte, sie waren nicht imstande, ihn aufzuspüren! Aldo hatte recht gehabt. Sie fürchteten ihn so, daß sie sich nur noch auf rein physische Übermacht verließen und sich hinter ihren mechanischen Gedankenschilden verkrochen. Er sendete eine Nachricht an seine Gefährten, daß sie zu ihm kommen sollten, gleichgültig, ob sie etwas Brauchbares gefunden hatten oder nicht. Er blieb einfach an Ort und Stelle stehen und wartete, bis sie eintrafen. Nach wenigen Minuten tauchte hinter einer Ecke Aldos weißer Lockenbart auf, und gleich danach kamen auch die beiden anderen. Der Priester war so mit seinem Plan beschäftigt, daß er das kleine Paket nicht bemerkte, das Lucare trug.
»Schaut her«, sagte Hiero und bückte sich. Er zeichnete eine Skizze in den Staub auf dem Sockel eines Maschinenblocks. Es war schwer, in dem Dämmerlicht genaueres zu sehen, aber als er seine improvisierte Lampe dazustellte, reichte es aus. »Hier sind wir. Hier drüben, auf der Ostseite, ist ein Wassertümpel. Das Haus hat dort einen Ausgang. Darüber sprechen wir noch. Dort drüben«, sein Finger malte noch einen Kreis in die Staubschicht, »ist der südliche Eingang. Sduna und die Unreinen müssen dort hereinkommen. Diese Aufzug-Maschine funktioniert nicht mehr, dort kommen wir also nicht hinaus. Paßt auf – wir werden genau dort hinausgehen, wo der Feind hereinkommt, im Süden. Aber ihr müßt genau das tun, was ich euch sage.« Er unterbrach sich und grinste, was sein Gesicht einen Augenblick lang um Jahre jünger erscheinen ließ. »Selbst dann besteht die Möglichkeit, daß es nicht klappt. Mein Plan hängt von zwei Dingen ab. Erstens, daß Sduna so begierig darauf ist, mich zu erwischen, daß er vor nichts zurückschreckt und – was ich sehr hoffe – nicht mehr klar denken kann. Zweitens, daß es auch jemand anders nicht mehr kann. Klar denken, meine ich. Ach ja – und die beiden wissen voneinander nicht das geringste. Das ist meine Rechnung, und damit sie aufgeht, müssen eine Reihe Dinge haargenau funktionieren.« Bruder Aldo lachte. »Ich glaube, ich errate deinen Plan! Vielleicht klappt er wirklich, und wenn nicht, nun,
dann wird mir auf jeden Fall eine große Last von der Seele genommen. Sag mir, was du von uns willst.« Gorm, den er zugleich mit einer Gedankenverbindung auf dem laufenden gehalten hatte, sendete eine kurze Bemerkung. Ein schreckliches Vorhaben. Hoffen wir, daß es gelingt. »Wir werden folgendes machen«, fuhr der Priester fort. »Ihr geht in diese Richtung, hinunter zur südwestlichen Wand, und versteckt euch dort, so gut ihr könnt. Ich werde euch schon finden. Jetzt muß ich noch einmal dorthin, wo ich vorhin war. Beeilt euch!« Er küßte Lucare auf die dunklen Wangen und wandte sich dann rasch ab, jeden Gedanken aus seinem Geist löschend, der nicht mit seinem Vorhaben zu tun hatte. Die Heerschar der Unreinen war schon zu nahe. Zu dem unheimlichen Wassertümpel zurückzufinden war einfach, da er nur seinen eigenen Spuren in dem jahrhundertelang unberührten Staub zu folgen brauchte. Nach wenigen Minuten spähte er wieder hinter einem riesigen Maschinengehäuse hervor auf das dunkle Wasser und den lebendigen Alptraumgarten des Hauses. Immer noch tanzten die stinkenden Pilzstengel im Dämmerlicht. Er zielte sorgfältig mit seiner Armbrust, senkte die Waffe wieder und merkte sich den Schußwinkel. In Sekunden hatte er die öligen Lappen an dem Bolzen entzündet. Mit einer schnellen Bewegung hob er die Waffe, legte an und drückte ab. Mit einem Zischen schnellte der
flammende Bolzen über den Tümpel hinweg und bohrte sich tief in das schwammige Fleisch des größten der umhergleitenden Schimmeltürme. Das Geschoß wirkte wie eine Brandbombe. Er hatte gehofft und gebetet, daß diese scheußlichen Wesen ebenso entflammbar waren wie ihre Artgenossen droben auf der Erdoberfläche. Das Feuer raste binnen Sekunden über die hohe, zuckende Gestalt, und die abrupten, peitschenden und sich windenden Bewegungen setzten augenblicklich ein halbes Dutzend der anderen Schimmelwesen in Brand. Hiero hatte ein zweites Feuergeschoß vorbereitet, aber die lodernde Vernichtung, die das erste bewirkt hatte, griff so schnell um sich, daß er nicht mehr abdrückte. Jetzt vibrierte ein schreckliches Schrillen durch sein Gehirn, ein durchdringender geistiger Schrei auf einer unglaublich kurzen Wellenlänge, der an- und abschwoll wie ein Chor Dämonen. Er wußte, daß er die Todesschreie der unheimlichen Wesen hörte, und einen Atemzug lang empfand er sogar etwas wie Mitleid mit ihnen. Dann aber dachte er an seinen Plan und trat aus seiner Deckung hervor. Die Pilzstengel – alle, die noch nicht brannten und sich in feurigen Todeskrämpfen wanden – bemerkten ihn sofort. Er erkannte, daß er richtig vermutet hatte: diese Wesen besaßen tatsächlich Intelligenz! Sie verstanden augenblicklich, daß er der Urheber ihres Untergangs war. Mit einem Ruck beugten sich die schwammigen Säulen
alle in seine Richtung. Er konnte die Aura von Haß fühlen, die sie gegen ihn anbranden ließen, als ihre Artgenossen rundum im Feuer starben. Selbst der Schleim, mit dem sie bei ihren Tänzen den nackten Felsen bedeckt hatten, war entzündbar wie Öl, Feuerbäche rasten darüber hinweg und setzten immer mehr der Wesen in Brand. Von der schrecklichen Schönheit der Szene wurde Hiero wie gebannt beinahe selbst zum Opfer eines Anschlags. Einer der abscheulichen Pilztürme, dessen Spitze noch im Licht seines eigenen giftigen Feuers glühte, krümmte sich, bis er genau auf den Menschen zielte. Dann spritzte er aus der glimmenden Blase an seinem Scheitel glimmende Schleimklumpen in Hieros Richtung. Diese Attacke kam so überraschend, daß er kaum Zeit hatte, vor dem ersten der glühenden Geschosse zur Seite zu springen. Der Klumpen zerspritzte knapp vor seinen Füßen, und ein winziger Tropfen traf seinen rechten Handrücken. Ein sengender, ätzender Schmerz zuckte durch seinen Arm und ließ erst nach, als er hastig mit dem ölgetränkten Fetzen, den er immer noch in der Hand hielt, über die getroffene Stelle wischte. Eilig zog er sich weiter zurück, damit die Giftfeuerklumpen ihm nicht mehr zu nahe kamen. Die ganze Zeit jedoch hatte sein Geist an etwas anderes gedacht, sogar darum gebetet. Er hatte bewußt und in kühler Berechnung den Herrscher dieser Fäulniswelt herausgefordert. Aber wo blieb das Scheusal? Hatte er
sich verrechnet? Langsam wich er von dem Inferno sterbender Pilzwesen zurück, Geist und Körper aufs äußerste angespannt. Der Gestank der brennenden Schleimkörper und der dicke, ölige Rauch waren selbst aus gebührendem Abstand nur schwer auszuhalten. Wo bist du, Haus, verdammtes Scheusal? dachte er, und in diesem Augenblick kam es. Er hatte die dunkle Tunnelmündung jenseits des Tümpels unausgesetzt im Auge behalten, weil er davon überzeugt war, daß sich dort der Eingang zum Schlupfwinkel des Ungeheuers befand. Das stimmte vielleicht, aber es war jedenfalls nicht der einzige. Bevor er ganz begriff, was vorging, wallte eine Flutwelle schleimigen Wassers über den vorderen Rand des unterirdischen Teichs und sprudelte über den Boden auf ihn zu, während der warzige Gallertquader des Hauses aus dem Wasser aufzutauchen begann. Und noch während es hochkam, schnellte es eine geistige Lanze nach der anderen auf den einzigen Menschen, der es je herausgefordert hatte. Es war gut, daß Hiero sich auf eben diesen Augenblick sorgfältig vorbereitet hatte. Immer wieder hatte er in freien Augenblicken die medusenhafte Fähigkeit des Hauses, den Widersacher zu lähmen, analysiert und darüber nachgedacht, seit seinem ersten Zusammentreffen mit dem Scheusal. Er war zu dem Schluß gekommen, daß seine eigentliche Stärke darin lag, weil sich der Angriff gegen die unbewußten, emotionellen Gehirnzentren
richtete und nicht auf die Denkprozesse des Cortex. Sein unheimlicher Würgegriff setzte also allein im Unterbewußtsein an. In einem entlegenen Winkel seines Geistes war Hiero überrascht, daß das unheimliche Scheusal eigentlich von recht bescheidener Größe war. Der bräunliche, schleimige Klumpen reichte ihm selber gerade bis zur Schulter und hatte sicher keinen größeren Umfang als fünf oder sechs Meter. Das Haus zeigte noch immer die beinahe rechtwinkelige Form, nach der Vilah-ri es benannt hatte, aber die Kanten wellten sich, pulsierten und waberten, und die Ecken quetschten sich in widerlicher Weise zusammen und blähten sich wieder auf. Hiero sah auch, daß das Haus sich auf seiner Grundfläche fortbewegen konnte, genau wie die Pilztürme – und daß es sich überdies sehr schnell bewegen konnte. Nun wuchsen schillernde Tentakel oder Pseudopodien aus dem oberen Teil und vibrierten hungrig, während das Scheusal rasch auf ihn zuschlitterte. Unausgesetzt stürmten sein Haß und seine Wut gegen Hieros Geist an. Sein Rapport mit dem unheimlichen Wesen war jetzt so stark, daß er zu verstehen begann, warum es hier in der Tiefe lebte, und was er angerichtet hatte, als er die Pilzstengel angriff. Der Teich war nicht so sehr Mittelpunkt eines gespenstischen Gartens, sondern vielmehr eines Harems! Der Block, mit dem er mühevoll sein Unterbewußtsein geschützt hatte, hielt dem Ansturm stand. Trotzdem betete er um Beistand und um innere Kraft, während er
sich vom Wasser zurückzog und durch den Gang zwischen den Maschinenblöcken floh. Hinter ihm rutschte das Scheusal eilig über den Boden, gefolgt von den überlebenden Stengeln. Jetzt versuchte das Haus nicht mehr, ihn durch trügerische Versprechungen anzulocken, denn jetzt kannte es ihn. Der Haß gegen das einzige Wesen, das je seine Macht gebrochen und einen Großteil seines Reichs zerstört hatte, überwältigte sein seltsames Kollektivbewußtsein, bis es an nichts anderes mehr denken konnte, als diesen Eindringling zu vernichten. Waren nicht einmal mehr die verstecktesten Kammern in der Tiefe seines Reichs sicher genug für seine Gefährten? Weiter, weiter – töten! Schneller und schneller glitt es vorwärts, und seine dünnen Tentakel peitschten durch die Luft, als es den Menschen zu fassen, zu zerreißen suchte. Hiero floh vor dem Scheusal und seiner Horde. Die Angriffe gegen seinen Geist schlug er zurück, ohne selbst zum Angriff überzugehen, denn damit gab er sich vielleicht eine ungeahnte Blöße, und wozu mochte das Ungeheuer nicht fähig sein, wenn er es auch nur für einen einzigen Augenblick seine blinde Wut vergessen ließ? So ging die seltsame Jagd weiter, die stillen, staubbedeckten Korridore entlang, im trüben Licht unverwüstlicher jahrtausendealter Leuchtkörper. Der Mensch floh, und der Beherrscher von Moder, Pilz und Schleim versuchte seinen tödlichsten Feind einzuholen und ihn auszutilgen.
Der Priester führte seine Verfolger nach Süden, ab und zu mit ein paar kleineren Abweichungen vom Weg, damit seine Flucht nicht verdächtig wirkte, aber im wesentlichen zu einer ganz bestimmten Stelle. Und jetzt, endlich, drang ein Geräusch an sein Ohr, auf das er verzweifelt gewartet hatte. Ein kaum vernehmbares Vibrieren war es, der entfernte Widerhall vieler Schritte! Die Streitmacht der Unreinen war schon eingetroffen und mußte jeden Augenblick in die große Halle hereinströmen! Aber Hiero rannte weiter, mit seinen Kräften haushaltend, und der Herr der Schimmelwesen und seine Getreuen folgten ihm auf den Fersen, längst alle durch jahrhundertealten Staub einheitlich grau gefärbt, wie eine gespenstische Prozession. An einer bestimmten Stelle erhöhte Hiero plötzlich seine Geschwindigkeit. Er jagte auf die südliche Wand der Höhle zu und dann – knapp bevor er auf den offenen Ring hinauskam, der den Maschinenpark umgab – schnellte er zur Seite, tauchte in einen schmalen Spalt zwischen zwei gewaltigen Apparaturen und war verschwunden. Wutentbrannt schoß der bebende Gallertbrocken noch schneller voran, Schleim nach allen Seiten verspritzend, und die schwankenden Säulen hinter ihm beschleunigten ebenfalls ihr Tempo. Hiero, der sich in dem Augenblick gut zweihundert Meter links von seiner ursprünglichen Fluchtroute be-
fand, lugte vorsichtig auf den freien Streifen entlang der südlichen Wände hinaus. Was er dort sah, erfüllte ihn mit Begeisterung. Die Streitmacht der Unreinen strömte in das Gewölbe. Mindestens zweihundert waren jetzt auf dem freien Streifen zwischen Wand und Maschinenanlagen, Männer in dunklen Uniformen darunter, die mit Lanzen bewaffnet waren, andere unbekleidete Lemut. Hiero erkannte rötliche Zottelheuler, braune Menschenratten, und drüben auf der anderen Seite eine Gruppe von den Wesen, deren Bekanntschaft er erst kürzlich auf dem Schiff gemacht hatte: Glith in ihrer grauen Schuppenhaut. Nicht weit vom Eingang entfernt standen mehrere Männer in dunklen Kapuzenmänteln, die eben Befehl zum Sammeln und Antreten gaben. Die Adepten bereiten sich auf einen Vernichtungsschlag vor; Hiero lächelte grimmig bei dem Gedanken, daß ein einzelner Mann Anlaß für den Aufmarsch einer derartigen Streitmacht war. Die Feinde waren offensichtlich allzulange nicht mehr herausgefordert worden. Und dann geschah es. Der erste Teil seines wahnwitzigen Plans trug Früchte. Die erste Phase war erfolgreich, wie er vorausberechnet und erhofft hatte – obwohl er tief im Innersten nicht daran zu glauben gewagt hatte. Blind vor Wut kam das Haus auf den offenen Streifen geschlittert. Von seinem Versteck aus konnte Hiero alles sehen, jede Phase des Aufeinandertreffens seiner beiden grausa-
men Feinde. Binnen einer Sekunde erstarrte jede Bewegung auf dem ein paar hundert Meter breiten, freien Streifen zwischen Maschinen und Höhlenwand. Kein Mensch, kein Unreiner, kein Lemut konnte auch nur noch ein Glied rühren. Er warf einen Blick zum Haus hinüber. Es hatte ebenfalls angehalten, und zum erstenmal waren seine ewig verfließenden Umrisse erstarrt. Ein paar Schritte vor der Mündung des Gangs, den er zuvor entlanggeflohen war, hockte es reglos, und auch seine Gefährten bewegten sich nicht mehr. Das Ziel seiner Verfolgung war vergessen, als es sich mit allen seinen Kräften der veränderten Situation anzupassen versuchte. Ich hatte recht! frohlockte der Priester. Die unheimliche, unbewußt wirkende Gedankenkraft des Hauses wurde nicht beeinträchtigt durch die mechanischen Gedankenschirme der Unreinen, die Hiero selber nicht hatte durchdringen können. Das Haus beeinflußte also wirklich nicht das bewußt denkende Gehirn, deshalb war die Abschirmung, die die Wissenschaftler der Unreinen entworfen hatten, jetzt völlig nutzlos. Rund um sich spürte Hiero mit fast körperlicher Intensität die wütenden Befreiungsversuche der Unreinen Meister. Aber das einzige Gehirn, das nicht im Bann des Hauses stand, war sein eigenes, das wiederum die seiner Gefährten schützte. Die haßerfüllte Attacke des Scheusals gegen seinen Geist hatte schlagartig aufgehört, als es auf die neuen und unerwarteten Feinde gestoßen war. Noch
nie hatte es so viele Wesen auf einmal beeinflussen müssen, und es hatte mehr als genug damit zu tun, sie alle festzuhalten. Hiero, jetzt nahezu ein unbeteiligter Beobachter, konnte durch seinen Geist tatsächlich verfolgen, wie das Haus sich um die Aufrechterhaltung seines eigenen Schutzschirms bemühte, während die große Anzahl von Feinden dagegen anrannte, um den Bann zu brechen, der ihre Körper lähmte. Der Priester jedoch war schon wieder unterwegs, rannte so schnell er konnte an der äußersten Reihe der riesigen Maschinen entlang nach Westen. Er hielt sich in ihrem Schatten, und weder das Haus noch die Streitmacht der Unreinen schienen in ihrem stummen, reglosen Gefecht die lautlos dahinhuschende Gestalt wahrzunehmen. Nach wenigen Augenblicken entdeckte er Spuren im Staub die aus dem Innern des Maschinenlabyrinths kamen, und folgte ihnen bis zu einer Nische zwischen zwei verhüllten Pfeilern. Hier warteten Bruder Aldo, das Mädchen und der Bär. Die Mienen der beiden Menschen waren gespannt und besorgt, und selbst Gorm zitterte vor Aufregung und trat nervös von einer Pratze auf die andere. Kommt! sendete Hiero. Von jetzt an dürft ihr nicht einmal denken, wenn es nicht unbedingt nötig ist. Ich werde euren Geist abschirmen. Aldo – errichte einen zweiten Schild unter meinem, wenn du kannst. Und jetzt schnell fort! »Hiero«, rief Lucare und versuchte, etwas zu sagen,
aber der vernichtende Blick, den er ihr zuwarf, ließ ihr die Worte in der Kehle stecken bleiben. Ihr Versteck lag nur wenige Schritte abseits des freien Streifens im Süden, auf den er sie jetzt eilig hinausführte. Er spürte, wie Lucare, die er an der Hand mit sich zog, beim Anblick der erstarrten feindlichen Streitmacht zur Linken zusammenzuckte, aber nicht für einen Augenblick ihren Schritt verlangsamte. Hinter ihnen trotteten die beiden anderen und rührten noch mehr Staub auf. jetzt sind wir im Blickfeld der anderen, dachte Hiero. Gott steh uns bei, wenn mein Schirm versagt! Das Haus schien tatsächlich irgendwie ihre Bewegung wahrzunehmen. Trotz der Anstrengung, die das Festhalten der ganzen Unreinen Heerschar es kostete, schnellte es noch einmal eine geistige Lanze gegen seinen meistgehaßten Feind ab. Hiero parierte den Angriff mittels seiner neuen Technik mit verächtlicher Leichtigkeit. Wenn man einmal wußte, wie die Tricks des Hauses funktionierten, dann waren sie gar nicht mehr so gefährlich. Auf den anderen Feind allerdings, der dem Haus noch nie zuvor begegnet war, wirkten seine Waffen verheerend. So verzweifelt sie sich auch wehrten, die Unreinen – Meister und Sklaven, Menschen und Lemut – konnten nicht einen einzigen Muskel rühren. Bald darauf mußten Hiero und seine Gefährten knapp an einem Trupp schwarzgekleideter Soldaten vorbei, die dunkle Metallhelme und lange Lanzen trugen. Sie waren im Laufschritt nach Norden unterwegs gewesen, als das
Haus seinen Bann über sie warf und mitten in ihrem Lauf anhielt. Die bewegungsunfähigen Augen der Männer glühten vor tödlichem Haß, als die vier an ihnen vorbeihuschten, aber sie konnten nicht einmal einen Finger gegen sie rühren. Noch einmal kamen die vier an einer solchen Gruppe vorüber, und ein drittesmal – Gruppen regloser Statuen, die wohl noch lebten, aber durch den entsetzlichen Würgegriff des Schimmelungeheuers gelähmt waren. Als nächstes kamen sie an einer geduckt und sprungbereit erstarrten Horde der riesigen Menschenratten vorbei, Wesen, die Hiero von früher her als schreckliche Gegner kannte, große, mutierte Nagetiere mit menschlichem Verstand und Klauenhänden, die genauso geschickt wie Menschenhände waren. Jetzt umklammerten sie mit erstarrtem Griff scharfe Messer, Keulen und Lanzen. Die versteinerten, schmutzigbraunen Körper waren mit komplizierten Gurthalftern für ihre übrige Kampfausrüstung versehen. Aber sie konnten genausowenig wie ihre menschlichen Gebieter den Klammergriff des Hauses um Muskeln und Nerven abschütteln. Das einzig Lebendige an ihnen waren die glühenden, haßerfüllten Augen. Jetzt, nahe an der Tunnelmündung, trafen die vier Fliehenden auf das halbe Dutzend verhüllter Gestalten der feindlichen Anführer. Bei denen, die zufällig in seine Richtung blickten, konnte Hiero Erkennen und tödlichen Haß in den Augen aufflackern sehen. Die Dunklen Meis-
ter hätten sich zweifellos gern mit ihrem Tod abgefunden, wenn nur auch er umkam, aber sie waren nun ebenso hilflos wie die niedrigsten Söldner in ihrer Streitmacht. Es war klar, daß sie die Kräfte und Methoden des Hauses genausowenig verstanden wie der Priesterkrieger selbst, als er das erstemal mit ihm zusammengestoßen war. Die Armbrust über der Schulter, das gezogene Schwert in der Rechten, zog er Lucare mit der linken Hand weiter, so schnell er nur konnte. Seine Befürchtung, daß sich einer oder mehrere der Unreinen aus dem Griff befreien könnten, erwies sich jedoch als grundlos. Schließlich stürmte er – seine Gefährten waren knapp hinter ihm – an den letzten Gegnern vorbei, einem Paar Heuler, deren säuerlicher Gestank sogar den Modergeruch des Hauses überdeckte. Und dann waren sie im Tunnel, und Hiero begriff sofort, warum der Feind diesen Zugang gewählt hatte. Vor ihnen, deutlich erkennbar im matten Licht der Leuchtröhren in der Halle, lag eine glatte Rampe, vielleicht zehn Meter breit, die in einer sanften Spirale hinauf ins Dunkel anstieg. Viele Füße hatten einen breiten Pfad in die Staubschicht getreten, ja der Staub hatte kaum Zeit gehabt, sich wieder zu setzen, doch der Weg nach oben war frei. Der Priester blieb stehen und fachte seinen Gluttopf wieder an. Sie würden auf dem Weg hinauf ihr eigenes Licht brauchen, denn der weißliche Schimmer aus der unterirdischen Halle verblaßte rasch hinter ihnen.
Er ließ Lucares Hand los, schob sie weiter und winkte die anderen vorbei. Schweigend gehorchten sie seiner Weisung und gingen weiter. Hiero wandte sich noch einmal um, zu einem letzten kurzen Blick über die erstarrte Szene vor der Tunnelmündung. Die ganze Zeit über hatte er das Hin und Her der telepathischen Ströme verfolgt, die die stumme Schlacht dort draußen begleiteten, hatte die verzweifelten Anstrengungen der Unreinen gespürt, sich aus dem Bann des Hauses zu befreien, der sie noch immer unerbittlich festhielt. Zum letztenmal sah Hiero den schleimüberzogenen grauen Quader und seine blassen, säulenförmigen Begleiter, und davor, zwischen dem Haus und ihm selbst, die stummen, bewegungslosen, hilflosen Vasallen der Unreinen, die gekommen waren, um ihn zu vernichten. Der Metz wandte sich abrupt ab und rannte die Rampe entlang, mit hochgehaltener Lampe, bis er die anderen einholte. Sie waren nicht weit gegangen, sondern warteten wenige Spiralwindungen höher auf ihn. Aldo hielt die zweite improvisierte Lampe, die Lucare eben mit dem letzten Öl füllte und dann den leeren Schlauch wegwarf. Sie zündeten sie nicht an, sondern folgten Hiero dicht aufgeschlossen, so daß seine Lampe ausreichte. Er schlug ein äußerst scharfes Tempo an, und niemand protestierte dagegen; sie waren allerdings alle zu erschöpft, um rennen zu können, und ein lahmer Trab war alles, wozu sie noch imstande waren. »Wie lange, glaubst du, kann es sie festhalten?« keuch-
te Lucare nach einer Weile. »Lang genug«, erwiderte Hiero kurz. »Aber um Himmels willen Schatz, spar dir deinen Atem! Wir sind noch nicht außer Gefahr. Die Alten hatten genaue Zeitmesser, aber ich hab' keinen! Lauf einfach weiter und versuch, an nichts zu denken.« Sie wurde nicht ärgerlich, denn mittlerweile hatte sie erkannt, daß alle seine Anordnungen einen Grund hatten, und so trabte sie schweigend weiter. Das flackernde Licht ihrer Lampe ließ erkennen, daß die Rampe in einem glattwandigen Tunnel in sanfter Steigung nach oben führte, der mit irgendeiner nahezu unvergänglichen Substanz verkleidet war. Zweimal kamen sie an Türen vorbei, aber sie hielten sich nicht damit auf. Beleuchtungssystem gab es hier anscheinend keins, und sie mußten mit dem trüben Schein ihrer improvisierten Öllampe auskommen. Dies muß der Hauptzugang gewesen sein, überlegte der Priester, während er sich zwang, ein Bein vor das andere zu setzen. Sie waren bereits eine lange Zeit unterwegs, jedenfalls kam es ihnen so vor, aber er wagte nicht, eine Rast einzuschalten. Die hinter ihnen in einem phantastischen Kräftepatt gefangenen Feinde waren zu mächtig, als daß er noch ein zusätzliches Risiko hätte eingehen mögen. Aber vielleicht konnte er die anderen durch seine Reden von ihrer Müdigkeit ablenken und auf andere Gedanken bringen. »Habt ihr einen Computer gefunden?« fragte er
schließlich. »Nein«, lautete Aldos Antwort. »Eine umfassende Suche hätte Wochen, wenn nicht Monate gedauert. Aber Lucare hat etwas gefunden und mitgenommen. Glaubst du, die Unreinen können sich noch befreien? Sie nämlich hätten genug Leute, um dort unten alles zu finden, was sie wollen. Und das Haus – Hiero, es ist so mächtig. Was könnte es nicht alles anfangen mit dem Wissen der Vergangenheit?« »Das Haus kümmert sich nicht um die Vergangenheit, um Maschinen oder Waffen. Ich weiß jetzt besser als sonst ein Mensch auf der Welt, was es denkt und fühlt. Es interessiert sich nicht für mechanische Dinge, sondern allein für das, was es selbst hervorbringt.« Er vergaß, nach Lucares Fund zu fragen, als er schaudernd an das Haus dachte. »Trotzdem hat es, oder eine seiner Kreaturen, das Schaltpult untersucht. Vergiß das nicht.« »Gewiß nicht.« Hieros Lachen klang grimmig. »Aber ich bin sicher, daß es keine Ahnung hatte, was es tat. Und es hat uns damit die Lösung aller Probleme gezeigt, denn wie es auch ausgeht ... Was glaubst du, wie lange wir jetzt unterwegs sind?« »Zumindest eine Stunde, denke ich. Sind wir noch nicht in Sicherheit?« »Nein. Wir müssen weiter. Solange wir uns nur auf den Beinen halten können. Ich fühle noch immer einen psychischen Druck hinter uns. Und das Haus wird
schwächer!« »Können sie es töten und uns folgen? Vielleicht sollten wir dann versuchen, diesen Tunnel zu blockieren.« Lucares Ton war kühl und trotzig, ihre Haltung die der Kriegerprinzessin, die sie war. Hiero spürte, wie warmer Stolz in ihm aufglomm. »Vielleicht könnten wir das«, sagte er etwas munterer. »Aber noch hat es sie nicht losgelassen. Es hat noch niemals so viele mächtige Gehirne auf einmal unter Kontrolle gehabt, die ihm alle fremd sind und die sich mit aller Macht zu befreien versuchen. Es hat nicht gewagt, sich von der Stelle zu rühren, das spüre ich deutlich. Vielleicht ruft es seine fleischfressenden Schimmelwesen herbei. Auch die Unreinen sind immer noch an der gleichen Stelle. Ich kann ihre Gehirne selbst unter der Abschirmung wahrnehmen, als eine Art Energiezusammenballung.« »Ich auch«, fügte Aldo hinzu. »Welch ein erstaunliches Geschöpf das Haus doch ist. Wie gerne würde ich es studieren, erfahren, was es denkt, fühlt und im Leben anstrebt.« Seine Stimme klang bedauernd. Hiero warf seinem alten Verbündeten einen fassungslosen Blick zu. Das Elfte Gebot umfaßte anscheinend wirklich alles! Wir erreichen bald gute Luft. Gorm war unglücklich dahingetrabt, mit heraushängender Zunge, eine zentimeterdicke Staubschicht auf dem Pelz. Jetzt witterte er das Ende dieser unterirdischen Welt, die ihm zutiefst un-
sympathisch war, und sofort hob sich seine Stimmung. Hiero deckte für einen Augenblick die Lampe mit einem Zipfel seiner Jacke ab, und alle starrten angestrengt nach vorn. War dort die Dunkelheit nicht ein bißchen weniger dicht? Der bloße Gedanke an die Außenwelt gab ihnen neuen Auftrieb. Bald erfüllte sich ihre Hoffnung. Als der Lichtschimmer stärker und stärker wurde, zögerte Hiero. »Sie könnten jemanden zur Rückendeckung zurückgelassen haben«, sagte er. »Sie wären ja Narren, nicht an so was zu denken. Ich will mal ein bißchen sondieren, während ihr euch ausruhen und wieder zu Atem kommen könnt.« Sein Geist tastete sich vor und suchte nach der Ausstrahlung irgendeiner Intelligenz, die vielleicht an der Tunnelöffnung lauerte. Er konnte jedoch nichts entdecken, nicht einmal die undeutliche Energiebarriere, die für die mechanischen Gedankenschirme der Unreinen charakteristisch war. So unglaublich es schien, der Feind war bis auf den letzten Mann in die Tiefe vorgestoßen! Die Unreinen waren anscheinend sehr sicher gewesen, daß sie ihn vernichten würden! Er sagte den anderen, daß die Luft vor ihnen rein war, und sie marschierten vorsichtig weiter. Nach drei weiteren großen Spiralwindungen war das Tageslicht bereits stark genug, daß sie die flackernde Lampe nicht mehr benötigten. Jetzt vernahmen sie auch, wenn auch noch ziemlich schwach, das Gezwitscher von Vögeln, und selbst die
Nasen der Menschen registrierten nun den sauberen, frischen Geruch der Luft, die in den Rampenschacht heruntersickerte. »Laßt mich vorausgehen.« Hiero übernahm wieder die Führung und konnte bald das große, offenstehende Tor am Ende des Gangs erkennen. Er stellte fest, daß die massiven Torangeln zerschmettert waren, aber erst draußen begriff er verblüfft die ganze Raffiniertheit der Anlage. Die beiden gewaltigen Torflügel waren nämlich außen mit etwas verkleidet, das wie verwitterter grauer Felsen aussah, aber bei weitem dauerhafter sein mußte als der härteste Granit. Die Unreinen waren wirklich sehr schlau gewesen, daß sie das Geheimnis so schnell hatten lüften können. Während er darüber nachdachte, saugte er begierig die kühle Morgenluft ein, drängte aber die anderen weiter unnachgiebig vorwärts. »Schnell«, sagte er, »eilt euch! Wir dürfen noch nicht rasten! Wir sind vielleicht erst in Stunden außer Gefahr!« Er nahm Lucare, die gestolpert war, wieder beim Arm. Er bemerkte das kleine Paket nicht, das sie mit der anderen Hand umklammert hielt, weil sie den Speer, den sie zuvor in der anderen Hand getragen hatte, nun zusammengeschoben am Gürtel trug. Die vier eilten, so schnell sie konnten, über die geröllbedeckte Ebene nach Süden, auf die sie der Tunnelausgang geführt hatte. Hinkend und taumelnd stolperten sie weiter, aber niemand stellte Hieros Recht in Frage, sie
derart anzutreiben. Aldo stützte sich zuweilen schweratmend auf seinen Stab, etwas, das ihn noch keiner hatte tun sehen. Trotzdem hasteten sie weiter, keuchend, mit brennenden Lungen und stechenden Seiten. Die Gegend hatte hier ebenfalls nahezu wüstenhaften Charakter. Große Stauden und Dornbüsche wuchsen zwischen Geröll und Felsen. Die kühle Luft des Tagesanbruchs wich bald der Hitze eines tropischen Vormittags, und die vier hinkten immer langsamer weiter. Die Zeit schien unbarmherzig langsam zu vergehen. Da geschah es. Hiero, der mit sämtlichen Sinnen danach gelauscht hatte, fühlte es als erster. »Hinlegen!« schrie er und warf sich zu Boden, Lucare mit sich reißend. Auch Aldo ließ sich blitzartig fallen, während der Bär einfach an Ort und Stelle umkippte. Zuerst war nur ein ganz leises Zittern des Erdbodens zu verspüren, so leicht, daß sie es gut für einen Muskelkrampf ihrer überanstrengten Körper hätten halten können. Aber dann begann die Erde zu beben und zu wanken, in gewaltigen Stoßwellen zu schwingen, als ob die winzigen Moleküle Leben, die sich an ihr festklammerten, auf einer gigantischen Decke durchgeschüttelt würden. Wahrscheinlich das erste Mal in seinem Leben brach Gorm in ein Schreckensgeheul aus. Ein dumpfes Brüllen rollte durch die Luft. Langsam klang das Beben der erschütterten Erde ab. Das Schrillen
in den Ohren der vier hörte ebenfalls auf. Sie hoben vorsichtig die Köpfe und sahen einander an. Hiero war der erste, der zu grinsen anfing, und seine weißen Zähne blinkten in einem Gesicht auf, das so schmutzig war, daß es völlig aus Erde zu bestehen schien. Dann lachte Aldo laut, befreit und glücklich. Wie zur Antwort begann in der Nähe ein Vogel zu singen, erst zögernd, dann in eine Kaskade trillernder Töne ausbrechend. Lucare küßte Hiero. Und als sie ihre Lippen von seinen löste, murmelte sie undeutlich, vor Erschöpfung schon halb schlafend: »Was war das?« »Das«, antwortete Bruder Aldo, als er beiden aufhalf, »war der Hebel mit der Bezeichnung ›Selbstzerstörung‹ auf dem zentralen Schaltpult. Richtig, mein Sohn?« »Ja, ich hab' ihn auf vier Stunden eingestellt. Welch ein Volk muß das gewesen sein! Nach fünftausend Jahren können ihre Maschinen immer noch den Tod bringen! Wenigstens haben die Unreinen nichts gefunden außer ihr eigenes Ende. Das Haus auch. Und doch – wenn es sie nicht festgehalten hätte, wäre alles fehlgeschlagen.« Schweigend blickten sie nach Norden. Wo zuvor eine weite Ebene mit Pilzbastionen des Hauses gewesen war, sahen sie jetzt einen gewaltigen, flachen Trichter, der bis über den Rand hinaus mit Erdbrocken und zerborstenen Felsen bestreut war. Die niedrigen Bäume und struppigen Büsche am Rand des Kraters waren durch die Gewalt der Explosion einfach hinweggefegt worden. »Wir sollten uns besser auf den Weg machen«, sagte
der Priester. »Klootz und die Männer müssen mittlerweile ziemlich weit nach Norden gekommen sein, und wir sollten zusehen, daß wir sie so bald wie möglich einholen.« »Diese Reise wird in Zukunft leichter sein«, sagte Aldo, und das klare Sonnenlicht ließ unter der grauen Staubschicht auf Bart und Haaren das ursprüngliche Weiß durchschimmern. »Das hoffe ich«, meinte Hiero müde. »Aber ich habe immer noch keinen Computer gefunden. Und diese Streitmacht da unten war nicht einmal ein Bruchteil dessen, was die Unreinen an Kräften mobilisieren können, wenn sie wollen.« »Übrigens«, fügte er nach kurzem Schweigen hinzu, »ist Sduna nicht tot. Ich hätte es gespürt, wenn er da unten dabeigewesen wäre. Er war nicht da. Irgendwann aber haben wir beide noch eine Verabredung. Dessen bin ich sicher.« »Du hast vielleicht keinen Computer gefunden«, sagte der alte Mann, »aber sieh dir einmal an, was Lucare trägt. Sie fand einen ganzen Stoß von diesen Dingern auf einem anscheinend nicht benutzten Pult. Vielleicht irgend jemandes Studienplatz. Ich konnte die Titel lesen. Versuche es selbst.« Noch halb betäubt von allem, was er durchgemacht hatte, studierte Hiero die Aufschrift auf einem kleinen, dünnen Buch, das Lucare ihm gegeben hatte, mit dem Zeigefinger den Zeichen folgend. »Principles of a Basic
Analog Computer«, las er in stockendem Englisch, der Sprache der vergessenen Zeitalter. Er schlug es auf und sah ein Plastikseite nach der anderen voll Diagrammen und enggedrucktem Text. Er fühlte ein seltsames Würgen in der Kehle und brachte kein Wort heraus. Hier wurde beschrieben, wie ein Computer gebaut werden konnte, vielleicht von jedermann! Die beiden anderen lächelten über den Ausdruck in seinem schweißverschmierten, schmutzigen Gesicht. »Schau«, sagte Aldo und zeigte auf ein paar Symbole, »hier steht ›Volume‹. Lucare hat einen ganzen Stoß davon gefunden. Und sie hat auch die anderen Bände, II und III. Sie hat mich geholt und ich hab' ihr die Titel vorgelesen. Aber ich glaube, irgendwie wußte sie es auch ohne meine Hilfe!« Stumm zog Hiero Lucares Arm um seine Hüfte, und dann machten die drei Menschen und der Bär kehrt und humpelten wie Krüppel über das zerstörte und verbrannte Land nach Norden. Gorm bemühte sich, das letzte Wort zu haben, oder eher: den letzten Gedanken. Niemand sollte so rennen müssen, brummte er. Von jetzt an wollen wir ein vernünftigeres Tempo einschlagen. Die Welt bewegt sich mit einer bestimmten Geschwindigkeit vorwärts, antwortete Aldo nach einer Weile. Wir alle müssen lernen, mit ihr Schritt zu halten.
Anhang
Glossar
ABTEIEN, die: Theokratische Struktur der KandaKonföderation, welche aus der Republik Metz im Westen und der Otwah-Liga im Osten besteht. Jede Abtei besitzt eine militärisch-politische Infrastruktur. Der Abteirat hat etwa die Funktion, die das Oberhaupt des englischen Parlaments im 18. Jahrhundert innehatte, das heißt, sämtliche wissenschaftlichen wie auch religiösen Angelegenheiten stehen unter seiner Kontrolle. BATWAH, das: Die Lingua franca der Kaufleute; eine Kunstsprache, die rund um die Inlandsee und in den angrenzenden Gebieten gesprochen, aber auch andernorts verstanden wird. BUFFER, der: riesiges Wildrind, wahrscheinlich eine Mutation des amerikanischen Büffels oder Bisons. Die Buffer durchwandern jahreszeitlich in großen Herden die westlichen Regionen von Kanda. CHESPEK: Kleines Königreich an der Lantik-Küste (Name vermutlich aus dem alten Chesapeake entstellt), des öfteren mit Dalwah verbündet, aber ebensooft auch im Kriegszustand mit dem südlichen Nachbarland. DALWAH: Größter und fortschrittlichster der drei Ostküstenstaaten am Lantikmeer. Name vermutlich von dem alten Delaware abgeleitet. Ein Königreich mit gemäßigtem Despotismus, in dem das gewöhnliche Volk jedoch nur sehr wenige Rechte besitzt. Ein entar-
teter Zweig der Universalkirche ist Staatsreligion und zugleich Stütze der weltlichen Macht. DAMMVOLK: Nagetiere mit amphibischer Lebensweise, die jedoch fast menschliche Intelligenz und mehr als menschliches Körpergewicht aufweisen, und die an den von ihnen geschaffenen Stauseen in der Republik Metz leben. Den Menschen gegenüber besteht ein Verhältnis gegenseitiger Duldung. Wahrscheinlich mutierte Biber. DUNKLE BRUDERSCHAFT: So nennen sich die Herren der Unreinen selbst. Die Verwendung des Wortes »dunkel« deutet an, daß sie grundsätzlich auf der Seite des Bösen stehen, sich dieser Tatsache bewußt und sogar stolz darauf sind, und in ihrem Machtstreben sich allein der Mittel des Bösen bedienen. Der Satanismus des 20. Jahrhunderts in seinem eigentlichen Sinn wäre ein Analogen. (S. auch Zirkel; Unreine.) ELFER, die: Die Bruderschaft des »Elften Gebotes« (»Du sollst nicht vernichten die Erde oder das Leben, das sie trägt.«) Entstanden aus einer Gruppe von Soziologen, die sich nach dem Heißen Tod zusammenfanden, um die Kultur des Menschen zu bewahren und um Liebe, Wissen und Verständnis gegenüber jeder Art von Leben zu verbreiten. Mit der Zeit durchdrang die Bruderschaft das gesamte menschliche Gesellschaftsleben; obwohl sie Gewalt grundsätzlich ablehnt, bekämpften sie die Unreinen auf vielerlei, manchmal recht geheimnisvolle, Weise.
ELLK, der: Das wichtigste Reit- und Zugtier (obwohl für letzteren Zweck nur minderwertigere Tiere verwendet werden) der Republik Metz, wo sie zuerst gezüchtet wurden, und der Otwah-Liga. Eine große und ziemlich intelligente Abart des ehemaligen amerikanischen Elchs. (Schon im alten Skandinavien waren Elche zum Reiten und Ziehen abgerichtet worden, allerdings sehr selten. Das wichtigste Nutztier des Nordens war damals das Ren, ein kleinerer Verwandter des Elchs.) GLITH, der: Eine neuere Art von Lemut (s.d.), vermutlich von den Unreinen bewußt aus einer Reptilform gezüchtet, mit Schuppenhaut und gewaltiger Körperkraft. Alle Glith sind bedingungslos Sklaven der Dunklen Herren. Sie haben annähernd menschliche Gestalt. GRENZSCHUTZ: Die Armee, genauer, die gesamten Streitkräfte der Republik Metz. Die Otwah-Liga unterhält eine ähnliche Streitmacht. In der Republik Metz gibt es sechzehn »Legionen « oder selbständige Heerkörper, die jedoch nicht unter dem Oberbefehl der Republik, sondern dem des Abteirates stehen. Der Abteirat verständigt das Unterhaus (die Volksversammlung) von seinen Beschlüssen, die von diesem jedoch ausnahmslos gebilligt werden. Die Offiziere des Grenzschutzes sind fast immer Priester. GROKON, das: Riesenhafter Nachfahre des Wildschweins, das es im Zeitalter vor dem ›Tod‹ gab. Die Grokons leben in den nördlichen Wäldern, ihr Fleisch wird sehr geschätzt, doch die Jagd auf sie ist sehr ge-
fährlich, da sie schlau sind und die erwachsenen Tiere fast die Größe des (ausgestorbenen) Hausrindes erreichen. HEISSE TOD, der: Bezeichnung für die atomare und biologische Vernichtungsschlacht, durch die – einige Jahrtausende vor Hieros Zeit – alle wichtigeren Bevölkerungszentren zerstört wurden, und der ein Großteil der Menschheit zum Opfer fiel. Selbst nach tausenden Jahren ein Symbol unsagbaren Entsetzens. »Alles Böse zeugte der Heiße Tod« ist ein Sprichwort. INLANDSEE, die: Das große Süßwassermeer, das vor Jahrtausenden durch die Vereinigung der ehemaligen »Großen Seen« entstand und immer noch ungefähr ihre Umrisse erkennen läßt. Das Binnenmeer weist eine Unzahl von Inseln auf, ist kaum kartografisch erfaßt, und wird von den (zum Teil versunkenen) Ruinen uralter Städte gesäumt. Der Seehandel ist rege, wenn auch sehr vom Piratenunwesen behindert. KANDA: Die Länder des einstigen Dominion Canada haben ihren alten Namen fast unverändert beibehalten, doch sind in Hieros Zeitalter viele Gebiete unerforschte Wildnis, abgesehen natürlich vom zentralen Kanda mit der Republik Metz im Westen und der Otwah-Liga im Osten. KAW, das: Ein Trag- und Zugtier, das südlich der Inlandsee sowohl in der Landwirtschaft als auch zur Fleischviehzucht verwendet wird. Es ähnelt dem Wasserbüffel in der Zeit vor dem ›Tod‹, ein großes Kurz-
hornrind, vermutlich eine kaum veränderte Form irgendeiner damaligen Nutzviehrasse. LANTIKMEER: Der ehemalige Altantische Ozean, dessen westliche Küstenlinie sich im Lauf der Jahrtausende stark geändert hat, und von dem zu Hieros Zeit nur die Küstengewässer befahren werden. Jedenfalls sind seit mehr als dreitausend Jahren keinerlei transatlantische Kontakte bekannt. LEMUT: Die Bezeichnung für ein Tier oder ein anderes nichtmenschliches Wesen mit menschlicher Intelligenz, das im Dienst der Unreinen steht. Der Bär Gorm würde niemals als Lemut bezeichnet werden, ebensowenig wie das Dammvolk. Das Wort ist aus ›lethale Mutation‹ entstellt, worunter urpsrünglich ein Tier verstanden wurde, das aufgrund seiner Mutation unter natürlichen Bedingungen nicht lebens- und fortpflanzungsfähig ist. Die Bedeutung des Terminus hat sich dahingehend geändert, daß ›lethal‹ nun gefährlich für den normalen Menschen‹, beziehungsweise ›gefährlich für jede Art von nichtmutiertem Leben‹ besagt. Es werden laufend neue Arten von Lemuts, also gefährlichen Mutantenrassen, entdeckt (wie etwa die Froschwesen, denen Hiero begegnete), sowie Mutantenarten, die keine Lemuts sind. LOWAN, der: Eine unvorstellbar große, nicht flugfähige Art von Wasservögeln, die nach Fischen tauchen und in den entlegeneren Gewässern der Inlandsee leben. Obwohl sie sehr scheu sind, haben die Lowane nur wenig natürliche Feinde, da ein ausgewachsenes Tier
bis zu dreißig Meter lang und entsprechend schwer ist. Sie sind sehr selten und werden vielerorts für Fabeltiere gehalten. LUZIN: Eine von den Abteien verwendete Droge, welche die geistigen Kräfte der Adepten und Priester vor allem dann vermehren soll, wenn sie einen Gedankenkontakt herzustellen suchen. Wirkt auch als Beruhigungsmittel und in geringer Dosierung einschläfernd. MANOUN auch: (DIE TOTE INSEL): Ein felsiges Eiland im Norden der Inlandsee, auf dem Hiero gefangengehalten wurde. Eines der bedeutenderen Hauptquartiere des Blauen Zirkels der Dunklen Bruderschaft. MENSCHENRATTEN: Riesige Nagetiere von der Größe eines erwachsenen Mannes und hohem Intelligenzgrad, die von den Unreinen als Kämpfer eingesetzt werden. Höchst gefährlicher Typ von Lemut. Wahrscheinlich eine Mutation von Rattus norvegicus; abgesehen von Gehirnmasse und Körpergewicht gleichen sie der ehemaligen Wanderratte. METZ: Die vorherrschende Menschenrasse von Kanda. Der Name stammt von dem alten Wort Metis, das die Mischung von weißer und indianischer Rasse bezeichnete. Das spanische Wort mestizo hat dieselbe Wurzel und Bedeutung. In Relation zu den anderen Rassen überlebten weitaus mehr Metz den »Heißen Tod‹ da sie im wesentlichen in kleinen isolierten Gruppen in entlegeneren Gegenden lebten. So entging eine proportional hohe Anzahl von Metz den atomaren und bakteriologischen Vernichtungswaffen. Die Metz der
Otwah-Liga haben eine etwas hellere Hautfarbe, da der weiße Erbanteil größer ist. NEEYANA: Der größte Hafen der Südostregion der Inlandsee. Obwohl eigentlich ein normaler Warenumschlagplatz, steht die Stadt unter Kontrolle der Unreinen. Tatsächlich befindet sich das Hauptquartier des Gelben Zirkels der Dunklen Bruderschaft unter der Stadt. Nichts in ihr entgeht dem Einfluß des Bösen; durch Infiltration des Stadtrates sind es die Unreinen, die in Neeyana herrschen. (Name wahrscheinlich aus »Indiana« entstellt.) OTWAH-LIGA: Der östliche Bundesstaat der KandaKonföderation. Die Liga, die ihren Namen von dem alten Ottawa ableitet, ist kleiner als die Republik Metz, von der sie durch einen breiten Streifen unwegsamer Wildnis getrennt ist. Trotzdem bleibt ein reger Kontakt zwischen den beiden Bundesstaaten gewahrt, vor allem durch das gemeinsame System der Abteien, die in der Regierung der Liga die gleichen Funktionen ausüben wie in der Republik. PALOOD, der: Riesiges Sumpfgebiet im Nordwesten der Inlandsee. Der Palood wird sogar von den Unreinen gemieden; in seinem weglosen Moorland existieren viele fremdartige Lebensformen, die sonst nirgendwo zu finden sind. Schreckliche Fieberkrankheiten sind eine weitere tödliche Gefahr für diejenigen, die sich in den Palood wagen. Seine Ausdehnung ist kaum erforscht.
PER: Die fast unveränderte frankokanadische Anrede für einen Priester, pere = Vater in der Universalkirche von Kanda immer noch üblich, wenn auch mehr als Ehrentitel. POROS, das Ungeheurer: Pflanzenfresser der dichten südlichen Urwälder, mit vier Stoßzahnen bewaffnet, Schulterhöhe vielleicht sieben Meter Abstammung unbekannt. SCHLANGENKÖPFE: Riesenreptilien, Allesfresser die in kleinen Gruppen tief in den Urwäldern des Südens leben. Im wesentlichen ernähren sie sich von weichen Pflanzen und Früchten, fressen aber auch Aas oder das Fleisch von Beutetieren die nicht zu schnell für sie sind. Ähneln durchaus zweifüßigen Dinosauriern obwohl sie natürlich von irgendeinem viel kleineren Reptil aus der Zeit vor dem Tod abstammen SCHNAPPER: Die kaum veränderte Schnapperschildkröte, die in Hieros Zeit jedoch die Ausmaße eines Kleinwagens erreicht hat Die Schnapper sind höchst angriffslustig und praktisch unverwundbar TAIG, die: Der weite Nadelwald von Kanda, im wesentlichen ähnlich dem im 20. Jahrhundert und früher, doch kommen viel mehr Laubbaume und sogar einige Palmen vor, da das Klima viel wärmer geworden ist Die Bäume sind im Durchschnitt auch größer, doch nicht annähernd mit den Urwaldriesen des Südens zu vergleichen. TODESWÜSTEN: Jene Gebiete, die damals am intensivsten von den atomaren Vernichtungsschlägen getroffen
wurden, und in denen es kaum oder überhaupt kein Wasser und immer noch so gut wie gar keine Vegetation gibt. Trotzdem existiert Leben in den Todeswüsten – fremdartige und größtenteils gefährliche Lebensformen, die sich unter harter Strahlung und unbarmherzigen Auslesebedingungen entwickelten Einige dieser Wüsten sind hunderte Quadratkilometer groß In Hieros Zeitalter werden sie gefürchtet wie der ›Heiße Tod‹ selbst In Kanda sind sie selten, aber in den südlicheren Gegenden gibt es viele. Nachts sind die gefährlichsten der Todeswüsten durch ein bläuliches, radioaktives Glimmen gekennzeichnet. UNIVERSALKIRCHE VON KANDA: Die Staatsreligion der Republik Metz und der Otwah-Liga Im wesentlichen eine Mischung der verschiedenen christlichen Bekenntnisse des 20. Jahrhunderts, wobei das traditionelle, römisch-katholische Element vorherrscht, obwohl seit Jahrtausenden kein Kontakt mit Rom mehr besteht Der Zölibat ist wie eine Menge anderer Regeln, Riten und Dogmen der Alten Kirche vor langem aufgegeben worden Die Staatsreligion der Ostküstenstaaten (Chespek, Dalwah s d, Kalma – vermutlich nach dem alten Carolma benannt) wird von einer ähnlichen, jedoch ziemlich korrupten Sekte bestimmt. UNREINEN, die: Allgemeine Bezeichnung für die Dunkle Bruderschaft und alle ihre Diener und Verbündeten, sowie auch für andere Lebensformen, die bewußt die Vernichtung der normalen Menschen anstreben und die Natur ihren üblen Absichten unterwerfen.
VIERZIG SYMBOLE: Die winzigen holzgeschnitzten Zeichen, die ein ausgebildeter Priester-Exorzist stets bei sich trägt. Indem er (oder sie, da es auch Priesterinnen mit großen geistigen Kräften gibt) sich in Trance versetzt hält der Priester Vorschau, das heißt, er kann durch Verwendung der Symbole zu einem gewissen Grade die Zukunft voraussehen. VOLLKÄMPFER: Ein bestens ausgebildeter Krieger der Republik Metz, der ein (großteils psychologisches) Intensivtraining in der Kriegführung und der Handhabung aller bekannten Waffen durchgemacht hat. Vollkämpfer sind automatisch Offiziere es Grenzschutzes, können aber auch als Waldläufer der Sonderagenten der Abteihierarchie eingesetzt werden. Selten sind sie, wie Hiero, außerdem noch Priester-Exorzisten, diese sehr erwünschte Kombination von Fähigkeiten ist nicht häufig, wenn auch kein Einzelfall. WERBÄREN: Eine wenig bekannte Abart von Lemut. Keine richtigen Bären, sondern schaurige, durch die Nacht streifende Ungeheuer mit kurzem Zottelpelz. Sie scheinen geheimnisvolle geistige Kräfte zu besitzen mit denen sie ihre Opfer ins Verderben locken. Diese Wesen sind erst wenige Male flüchtig gesehen worden Sie gehören zu den Unreinen, sind aber vermutlich eher Verbündete als Diener. Ihre Herkunft ist nicht bekannt. Glücklicherweise scheinen sie ziemlich selten zu sein. ZIRKEL, die: Nach Farben benannte Verwaltungsregionen der Unreinen und ihrer Herren, der Dunklen Bru-
derschaft. Hiero kam auf seiner Reise nach Süden und Osten durch drei Zirkel, den Roten, Blauen und Gelben. Bis dahin war über ihre Existenz nichts bekannt. ZOTTELHEULER, der: Eine der verbreitetsten und gefährlichsten Abarten von Lemut. Große, schwanzlose Primaten mit zottigem Fell, ziemlich intelligent, die den Unreinen als Kämpfer und Sklaven dienen. Sie hassen alle Menschen außer ihren Herren von der Dunklen Bruderschaft und sehen wie aufrechtgehende Riesenpaviane aus.