HELGA STÖTZER
Hier spricht Berlin
MILITÄRVERLAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Nach Tatsachen erzählt Fotos: Zentralbild (ADN). Faksimile: Staatliches Rundfunkkomitee der DDR, Abt. Rundfunkgeschichte
1. - 70. Tausend Die Tatsachenreihe erscheint monatlich Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin 1972 Cheflektorat Militärliteratur Lizenz-Nr. 5 ES-Nr. 14 E Lektor: Joachim Warnatzsch Umschlag: Harri Förster Vorauskorrektor: Ingeborg Kern Korrektor: Gertrud Meindl Hersteller: Ingeburg Zoschke Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden
«Volltreffer!» schreit der Junge und reißt begeistert die Arme hoch, so, als stünde er wieder in der Pause auf einer der hintersten Schulbänke, wenn nach wohlgezieltem Wurf der nasse Schwamm inmitten langer Zahlenkolonnen von Geschichtsdaten an der Wandtafel gelandet war. «Volltreffer!» will er noch einmal rufen, aber da haben die Flugzeuge neben der Maschine, die mit schwarzer Rauchfahne abtrudelt, schon die Bomben ausgeklinkt, um die Geschütze der Flakbatterie zum Schweigen zu bringen. Ein Splitter fährt ihm in den Hals. Er taumelt hilflos, stürzt. Langsam verrinnt das Leben des Flakoberhelfers Peter Öser. Seinen Kameraden Horst Baumert packt das Grauen, lahmt das Entsetzen! Er steht, starrt, preisgegeben dem ringsum dröhnend berstenden Tod. Doch es ist eine lebendige, warme Hand, die er jetzt im Nacken fühlt, die ihn zu Boden reißt und in die schützende Erde des Wallgevierts drückt. So nahe ist der andere ihm, daß er außer dem eigenen flatternden Puls dessen kräftige Herzschläge spürt. Die Angst des Jungen löst sich in kindlichem Weinen. Als das Getöse verebbt und er sich aufrichtet, sieht er in zwei dunkelbraune Augen. «Danke», will er sagen, und zugleich steigt ihm Schamröte ins blasse Gesicht. Nicht einen Namen der fünf sowjetischen Kriegsgefangenen, die die Stellung aufschütten müssen, kennt er.
Plötzlich wird ihm die Geringschätzung bewußt, mit der er bislang die «Iwans» wahrgenommen und über sie gesprochen hat. Er schämt sich. «Danke, du», sagt er leise. Kaum nimmt er das laute Fluchen wahr, mit dem der Zugführer hinter dem Geschütz hervorgekrochen kommt. Wie auf ein Ding zeigt er auf den Toten, herrscht gleich darauf die Kriegsgefangenen an, daß sie Horst Baumerts ehemaligen Schulkameraden fortschaffen sollen. Aus dem Knäuel der Gedanken, die den Jungen bestürmen, schält sich einer klar heraus: Er muß fort von diesem Geschütz, noch in der nächsten Nacht! Er flieht in das Zentrum Berlins und wird nie die Stunden vergessen, nicht die Tage und Nächte, die ihnen folgen, bis er in der Prenzlauer Straße das Haus erreicht, in dem er geboren wurde. Dieses Haus, vor dem er am 28. April steht, ist heil geblieben. Schief hängt die schwere Tür der hohen Mietskaserne in den Angeln, zersplittert sind die Fenster. Wie rohes Fleisch leuchten die Backsteine, dort, wo der schmutziggraue Putz heruntergerissen wurde, im flackernden Licht der brennenden Stadt, die widerhallt vom Lärm des Kampfes. Lautlos tastet sich Horst die drei Treppen empor. Oben aber schlägt er, als die Klingel keinen Laut von sich gibt, mit beiden Fäusten gegen das Holz. Doch es ist nicht die Mutter, die öffnet, sondern Tante Milda. Rasch und ängstlich zieht sie ihn hinein. Nach Rahnsdorf sei die Mutter mit der kleinen Jutta gefahren. «Seitdem,..» Tante Milda zuckt hilflos die Schultern. «Hast du denn Urlaub?» fragt sie und hat doch längst begriffen. So, wie der Junge in der Uniform hängt, ist das eine deutlichere Antwort als sein mürrisch-
müdes «Ach, nein!» Die Frau hat Mitleid mit dem Jungen. Aber da ist der Blockwart, eine Treppe tiefer, und im Radio hat man erst mittags wieder gesagt, daß der Endsieg doch noch käme. Leise und unsicher meint sie: «Mein Gott, wenn das dein Vater wüßte, so ein tapferer Mann, und du...!» Unter dem bösen, gar nicht mehr kindlichen Lachen des Siebzehnjährigen fährt die Frau zusammen, schweigt. Jammernd ringt sie die Hände, als er mit fiebrig glänzenden Augen in die gute Stube stürzt, das schwarzumrandete Foto des Vaters und das Hitlerbild von der Wand reißt und auf den Boden pfeffert. «Alle habt ihr gelogen, alle lügt ihr!» Seine Stimme ist rauh vor wirrer Wut und unterdrückten Tränen. Mit einer wilden Bewegung fegt er den Volksempfänger von der Anrichte. Doch das Klirren und Poltern bleibt aus; der alte Ledersessel hat das Radio aufgefangen. Fieber schüttelt den Jungen. Er ist krank, auch vor Enttäuschung. So, wie die Ruinen krachend zusammenstürzen, bricht für ihn eine ganze Welt ein. Denn er sieht nichts, an was er wieder glauben könnte. Wenn er die graublauen Augen aufschlägt, ist da nur Tante Mildas verhärmtes Gesicht, mit dem scheuen Blick, der sich gleichsam ständig vergewissert, ob man auch ja nicht aus Versehen gegen den Strom schwimme. Freilich'ist ihre Furcht berechtigt. Blockwart Schulz steht in dem Ruf, «Vaterlandsverräter» sofort an die SS auszuliefern. Am 2. Mai, Berlin hat kapituliert, hängt Tante Milda ein vergilbtes Christusbild an den Platz, wo das «Führer»-Bild gehangen hat. Gott allein mag wissen, wie es weitergehen soll, nachdem endlich die Waffen schweigen. Und am 8. Mai kapituliert das faschistische Deutschland.
Der Junge aber sitzt am Morgen des 13. in seinen viel zu kurzen Sonntagshosen im Sessel und hat den Radioapparat auf den Knien. Die Röhren haben den Fall überstanden, nur ein paar Drähte sind locker. Er kennt sich aus in diesen Dingen. Bereits als Zehnjähriger hockte er in Meister Fiedlers Werkstatt und stahl mit den Augen, was er konnte. Mit dreizehn brachten ihm seine geschickten Hände, denen defekte Klingeln und Schalter nur Kleinkram waren, manche Mark Taschengeld ein. Aber die Eltern entschieden, daß der Junge doch lieber studieren sollte, zumindest Abitur mit anschließender Beamtenlaufbahn. Tante Milda ist froh, daß der Junge sich beschäftigt. Fast wie früher bastelt er mit einem Eifer, daß er beinahe den Teller spelziger Suppe übersieht, den ihm die Tante zum Abendbrot hinschiebt. Es ist kurz vor zwanzig Uhr, als er sich mit dem Einschalten des Geräts lediglich die Bestätigung seines Arbeitserfolgs erhofft. Mehr als ein Knurren oder Quietschen erwartet er nicht aus dem Lautsprecher zu hören, weil der Skalenzeiger auf dem Berliner Sender steht. Da geschieht das Unerwartete, kaum Faßbare: Er hört eine Stimme in klarer, deutscher Sprache - «Hier spricht Berlin! Hier spricht Berlin! Auf Wellenlänge dreihundertsechsundfünfzig Meter gleich achthunderteinundvierzig Kilohertz. Wir beginnen unsere Sendung um zwanzig Uhr mitteleuropäischer Zeit.» Berlin, denkt der Junge, denken Tausende, die diese Stimme erreicht. Sender Berlin? Was für eine Sendung? Was für Menschen sind das? Rauch dunkelt den Morgenhimmel des 13. Mai 1945 über Berlin. Wund liegt das große Steinmeer, von dem
man im Land ringsum flüstert, es sei kein Leben mehr in ihm. Qualm' quillt aus dem Turm des Roten Rathauses. Krachend bricht Gebälk auseinander, und manchmal rutscht ein noch schwelender Balken durch die Fensterhöhlen der Ruine, stürzt hinunter auf die Straße. Wenn der Fahrer des Wagens, der in der schmalen Rinne zwischen den Trümmerbergen der aufgerissenen Rathausstraße dahinfährt, nicht sofort die Gefahr erkennt und das Steuer scharf nach rechts herumreißt, wird er nie nach Tegel kommen. Er nicht und nicht die drei anderen im Auto. Wie lang, wie schwer der Weg bis hierher, wie nah stets der Tod. Aus Rauch und Qualm formen sich für einen der Männer rasch wechselnde Bilder der Vergangenheit... «Matti! Matti! Du sollst doch auf dem Schulweg nicht trödeln! Die Gänse warten aufs Futter!» Das jüngste ihrer neun Kinder auf dem Arm, steht die Kleinbäuerin wartend, fährt vorwurfsvoll und liebevoll zugleich dem Jungen durch den schwarzen Haarschopf. Hart und verarbeitet sind ihre Hände. Saftgrün liegen die fränkischen Wiesen am Main, weißbetupft von der unentwegt schnatternden Gänseschar, die der Junge nach der Schule zu hüten hat. «Unser Matthäus besucht jetzt das Gymnasium. Hernach studiert er. Unser Matthäus wird Pfarrer.» Stolz sind seine Eltern. «Rechtschaffene, fromme Leute sind die Kleins», sagt man im Dorf. Später sprechen die Dörfler von den Kleins: «Der Matthäus hat nun sein Examen. Die älteren Geschwister haben ihn unterstützt, denn der Hof wirft nicht viel ab. In den Ferien hat er immer fleißig
mitgeholfen. Ein guter Pfarrer wird das, er hat den rechten Glauben, der kommt ihm aus dem Herzen. Gute Augen hat er, zuhören kann er, gescheit ist er.» Ein paar Jahre später. «Der Krieg ist eine Prüfung Gottes», sagt der Vikar Matthäus Klein und wird Soldat. «Wir müssen demütig die Strafe Gottes ertragen», sagt der evangelische Divisionspfarrer zu den anderen Soldaten. Auch er leidet. Er spricht Trost, aber er haßt nicht jene, die seine Gegner sein sollen. Nach zwei Jahren Krieg kommt er in sowjetische Kriegsgefangenschaft. «Schuldig bist du, denn du hast diesen faschistischen Krieg hingenommen, den wenige wollen, um sich zu bereichern. Schlechte Menschen, kein Gott!» So sagt der sowjetische Offizier. «Lies das, denke nach. Hilf das Morden beenden!» Er gibt ihm ein paar Bücher. Das geschieht in dem Jahr, da Truman den zynischen Satz von sich gibt: «Wenn wir sehen, daß Deutschland gewinnt, so sollten wir Rußland helfen. Und wenn Rußland gewinnt, so sollten wir Deutschland helfen. Sollen sie auf diese Weise sich gegenseitig soviel als möglich töten!» Matthäus Klein liest, hört zu, denkt nach, kämpft oft verzweifelt um jedes Stück dessen, das er doch für die «reine Wahrheit» gehalten hat. Er verliert seinen Glauben an das Unabänderliche und gewinnt dafür den an die für die gerechte Sache kämpf enden Menschen, daß sie vermögen, aus eigener Kraft miteinander in Frieden zu leben. Das Brot der Erkenntnis wird ihm oft bitter, denn er ist nicht von leichtfertiger Art. Viele Male prüft er jeden neuen Gedanken, ehe er einen alten verwirft. Zwölf Monate vergehen, ehe er das erste
antifaschistische Flugblatt schreibt, zwölf weitere, bis er die Antifaschule besucht. Sowjetische und deutsche Genossen lehren ihn zu lernen, sich für die Befreiung des deutschen Volkes vom Faschismus einzusetzen. An der Seite von Willi Bredel, Gustav von Wangenheim und Fritz Erpenbeck arbeitet er als Mitglied der Redaktionskommission des Senders «Freies Deutschland». Als Angehöriger des Nationalkomitees «Freies Deutschland» zählt er zu seinen Waffen Papier, Bleistift und Mikrofon. Seine Kanzeln sind die Schützenlöcher und Laufgräben in der vordersten Frontlinie. Eintausendzweihundertmal tragen die Frontlautsprecher auf dem Weg nach Berlin seine Worte zu den deutschen Soldaten, aufrufend, das Morden zu beenden, Leben zu erhalten. Mögen die Aufgaben, die hinter Matthäus Klein liegen, noch so schwer und gefahrvoll gewesen sein - eines jedoch scheint ihm am 13. Mai 1945 noch schwieriger: zu den Überlebenden der befreiten Stadt Berlin zu sprechen, Worte zu finden, aufmunternde Worte, das Leben wieder zu meistern. Die ganze vorangegangene Nacht haben sie zusammengesessen und beratschlagt, wie sie am wirksamsten die Menschen aufrichten könnten, haben Nachrichten aufgefangen, Meldungen geschrieben. Und nun? Plötzlich bricht der Wagen aus, holpert über Gemäuerbrocken und schießt mit einem gewaltigen Satz wieder geradeaus auf die Fahrbahn. Hinter dem Fahrzeug schlagen Balken auf, übersäen das Dach des Geländewagens mit Staub und Funken. Aber der Wagen ist schon Meter weit davon, der Fahrer hat ihn in der Gewalt. Die Männer atmen auf.
Matthäus Klein, der kleine, schmächtige Mann neben dem Fahrer, wendet sich wieder dem Gegenwärtigen zu, dem Bild grausamer Zerstörung, das sich nun auch Unter den Linden seinen wachen Augen bietet. Das Auto biegt rechts in die Friedrichstraße ein, rollt, Bombentrichtern ausweichend, der Chausseestraße zu, erreicht die Müllerstraße. Artur Mannbar, der hinter Klein im Wagen sitzt, wendet den Blick ab. Die klaffenden Wunden, die hier der Krieg dem Wedding geschlagen hat, erschüttern den Genossen. Ihn fröstelt in der schwarzen Zuchthauskluft mit den schmutziggelben Biesen. Müde wirkt er nach der durcharbeiteten Nacht. Wenn jetzt wenigstens einer der anderen etwas sagte, denkt er. Aber der Fahrer und Matthäus Klein konzentrieren sich auf die Fahrstrecke, und der schwarzhaarige Erwin Wilke zupft nervös an seiner Jacke herum. Nein, so grausam hat es sich Artur nicht vorgestellt. Er vergräbt das magere Gesicht in den Händen. Auch er denkt an Vergangenes... — Fünf Jahre KZ, Untersuchungshaft und Zuchthaus. Er kennt die Faschisten! Als kommunistischer Journalist hat er auch Wissen und Phantasie genug, wie es weitergehen wird. Doch es gab Augenblicke, in denen er nahe daran war aufzugeben. Es gab Augenblicke, in denen nur noch das Urteil des «Volksgerichtshofes» zu zählen schien: Lebenslänglich! Und er war erst fünfundzwanzig! Nur ein Jahr älter als er war Paul Öckert, einer jener Genossen, die ihn nicht vergaßen, die vom ersten Moment seiner Einlieferung an von ihm wußten, sich um ihn sorgten, mit ihm fühlten. Immerhin bekam ein Gefangener für die Arbeit eines Tages nur fünfzehn Pfennige. Lange mußte man sparen, um dafür ein Stück
Pferdewurst oder ein paar rote Rüben kaufen zu können. Und er hatte Hunger, den die Wassersuppe nie zu stillen vermochte. Dennoch sparte Paul diese fünfzehn Pfennige für Artur. Und dann kam die Stunde, da dieser nicht mehr in Einzelhaft schmachten mußte, mit zur Zuchthausarbeit in den Websaal getrieben wurde. Endlich nicht mehr allein! Natürlich war ihm die pausenlose Arbeit am klappernden Webstuhl ungewohnt - aber er war unter Genossen! Er erinnert sich an diesen Webstuhl, an den ersten Tag nach der Einzelhaft: Er richtete sich etwas auf, um den schmerzenden Rücken zu strecken. Erwischte sich über die Augen, weil er etwas sah, das von oben herab auf ihn zu kam. Er sah den kleinen Korb, roch die Wurst, die rote Rübe. Dann hielt er den Korb in den Händen. Aber er folgte mit den Augen dem Bindfaden, der am Henkel befestigt war. Und staunend sah er, daß dieser Bindfaden oben in einem Fenster des Postengangs, das einen Spalt geöffnet war, endete. Und er sah ein bekanntes Gesicht, das ihm zulachte. Ja, es war Paul, Paul Öckert. Später erfuhr er, daß die Genossen Paul auf die Wachbühne geschickt hatten, «etwas zu erledigen». Artur weinte damals vor Freude. Er war glücklich, solche Freunde zu haben. Diese Solidarität stärkte seinen Mut, gab ihm Zuversicht und stählte seinen Kampfeswillen. Diese proletarische Solidarität trug dazu bei, daß die politischen Häftlinge mit ungebrochener Kraft der faschistischen Barbarei im Zuchthaus Brandenburg begegnen konnten. Und noch weiter zurück gehen seine Gedanken. Er hört seine Mutter sagen: «So, wie Vater den Kopf trägt, mußt du dein ganzes Leben den Kopf hoch tragen im Kampf
gegen die Kapitalisten.» Ja, lange ist es her, da seine Mutter den Sechsjährigen fest an der Hand nahm, als zwei berittene Polizisten den Vater an schweren Ketten durch das Dorf schleiften. Es war schrecklich, aber Artur war sehr stolz auf seinen Vater, der für Gerechtigkeit kämpfte und litt. Deshalb schafften ihn die Polizisten in das Gefängnis ... Paul Öckert, der Junge aus dem Nachbardorf, sein späterer Kampfgefährte in der Kommunistischen Partei - der Genosse weckt Erinnerungen in Artur Mannbar, Bilder aus seiner Kindheit. Gern erinnert er sich an seine Eltern, die ihn im Sinne der Revolution erzogen haben. Zur Gemeindevertretung des siebentausend Einwohner zählenden Heimatortes gehörten sie; hatten das uneingeschränkte Vertrauen der Mehrheit der Bevölkerung. Und das macht ihn noch heute froh. «Karl sein Bub» nannten ihn die Nachbarn. Früh nahmen ihn die Eltern mit zu Versammlungen. Er half Plakate kleben, Losungen malen. Das war ganz selbstverständlich. Und er denkt an das feste Zusammengehörigkeitsgefühl der Kumpel und ihrer Familien im Kampf gegen die Ausbeuter. Mit Öckerts hatte es aber für die Kinder noch eine andere Bewandtnis. Mutter Öckert konnte nämlich gut backen, und im Herbst gab es bei ihr den «besten Pflaumenkuchen der Welt». Gut ist es, solche Erinnerungen zu haben, gut, solche Genossen neben sich zu wissen. Auf ihre Solidarität hat er sich immer verlassen können wie sie sich auch auf die seine. Und dann kam die Stunde der Befreiung. Am 27. April fuhr kettenrasselnd ein sowjetischer Panzer in den Zuchthaushof. Und Artur Mannbar war einer jener Genossen, die Stunden vorher die Macht in diesem Zuchthaus übernommen hatten.
Und dann marschierten sie nach Berlin und sahen die zerstörte Stadt. «Ruht euch aus», baten die sowjetischen Genossen. «Nein», antwortete Artur Mannbar. Ein Fahrrad wurde beschafft, eine Möglichkeit, von Spandau nach Lichtenberg zu gelangen, um Kontakt mit führenden Genossen der Partei aufzunehmen. Und heute legte ihm der ältere Genosse, als sie schon im Wagen saßen, kameradschaftlich den Arm um die Schulter. «Kleiner, Rundfunk muß gemacht werden.» Artur Mannbar erschrak. Er hatte an Zeitung gedacht. Davon versteht er etwas. Gleich nach der Lehre im Betriebsbüro einer Metallfirma hatte er als Expedient im Verlag der kommunistischen «Arbeiterzeitung» in Saarbrücken angefangen, war Lokalredakteur geworden, hatte als Parlamentsberichterstatter von den Rechten Prügel bezogen und 1933 von einem Redakteur der «Jungen Garde» gelernt, die Zeitung illegal herauszugeben und nach Deutschland zu schmuggeln. 1935 hatte er geholfen, die «Arbeiterzeitung», ein illegales Organ der KPD, herauszubringen. Ja, vom Zeitungmachen versteht er etwas! Aber doch nichts vom Rundfunk, das ist doch völlig neu für ihn! «Alles, was wir jetzt machen, ist neu.» Der ältere Genosse spürte die flatternden Gedanken des Jungen. «Du schaffst das schon!» «Wir werden das schon schaffen.» Matthäus Klein wandte sich um, unterstrich seine Worte mit einem aufmunternden Lächeln. Die stählernen Sendemaste in Tegel recken sich, den Männern im Wagen schon sichtbar, in den blauen Frühlingshimmel.
«Na, denn man 'ran!» spöttelt Erwin Wilke. Aber Kleins Gesicht bleibt ausgeglichen freundlich. Er ahnt, wie dem Techniker zumute ist, daß er Angst hat, Angst vor diesem Sender, vor den unbekannten technischen Apparaturen. «Ihr seid zwei. Was sag' ich - Erpenbeck, Mahle und die anderen Genossen warten auf euch! Eine ganze Handvoll seid ihr, habt euch beraten, alles abgesprochen, aufgeschrieben. Natürlich, die Hauptsache steht euch auch noch bevor, seh' ich ja ein. Aber Menschenskind, ich war noch nie in solch einem Sender. Noch nie, versteht ihr! Und was hilft mir meine grobe Ahnung, wenn ich nicht mal weiß, ob die Geräte noch funktionieren? Niemand weiß das, wieviel da eventuell kaputt ist!» Richtig wütend ist Erwin Wilke und am meisten auf sich selbst, weil er ohne Zögern «Ja» gesagt hat, als der sowjetische General ihn hat rufen lassen: «Dawai, Genosse Ingenieur! Sender Tegel in Betrieb nehmen. Du bist der einzige, der das kann. Deutsche Genossen müssen zu deutschen Menschen sprechen, sagen, daß neues Leben beginnt. Also, dawai Genosse Ingenieur!» Verdammt, warum hat er nur «Ja» gesagt? Warum nicht: «Entschuldige, Genosse, tut mir leid, Genosse General, aber ich kann das nicht! Ja, Genosse, ich bin Ingenieur, aber für Maschinenbau. Weil mein Vater, der wegen seiner Zugehörigkeit zur KPD meist arbeitslose Maschinensetzer, wollte, daß es mir einmal besser gehen sollte, und sich meine Oberrealschule und die zweieinhalb Jahre Ingenieurstudium vom Munde absparte. Ich habe dann bei Borsig Dampfkessel konstruiert und keine Sendeanlagen. Ich habe mich auch 1935 noch
nicht groß für Politik interessiert, sondern nur für die technische Seite von Munition und Waffen. Deshalb absolvierte ich auch die Feuerwerkerschule. Das änderte sich erst, als ich 1942 in Stalingrad als Artilleriehauptmann in Gefangenschaft kam. Jawohl, ich wurde im Waldlager
sozusagen ein anderer Mensch, aber noch lange kein Rundfunktechniker. Und so schnell ging das mit dem
den etwa fünfzig Meter entfernten Sendemasten führt, glänzt schwarz und glatt in der Vormittagssonne. In den weißgefliesten Räumen, die der Ingenieur mit klopfendem Herzen betreten hat, steht er vor den unversehrten Aggregaten und Geräten. In seinem Kopf aber kreisen Überlegungen, was zu tun sei, die Maschinen in Gang zu bringen. Wahllos faßt er nach einem Hebel, drückt ihn aber nicht hinunter. Unsicher weicht er vor ihm zurück. Er starrt auf die Schalter, die keine Auskunft geben. «Es geht nicht, ich schaffe es allein nicht!» Ein Gefühl der Ohnmacht kriecht in ihm hoch. Die sowjetischen Freunde draußen haben es gut gemeint, geglaubt, daß er sich in der Ruhe besser konzentrieren könne. Aber die Stille wird ihm unerträglich. Erleichtert atmet er auf, als er den Tritt ihrer Stiefel und ihre Stimmen wieder durchs Haus hallen hört. Werden sie nicht enttäuscht sein, ihn so hilflos zu finden? «Hier hast du Experte! Ein Nazi. Nicht gut als Mensch, aber jetzt gut für Sendung!» Lachend schieben sie ihm ein Bündel schlotternder Angst zu. «Wo habt ihr denn den aufgetrieben? Wer ist das?» «Gesucht und gefunden, für dich. Der ist hier 'rumgekrochen.» Plötzlich stottert der Mann herum: «Ich bin der ehemalige technische Leiter. Ich wollte doch nur nach dem Rechten sehen. Wenn ich bemerken darf, daß hier alles noch in Ordnung ist, dann, obwohl ich Mitglied der NSDAP war...» Erwin Wilke unterbricht ihn: «Sparen Sie sich das! Zeigen Sie mir lieber sofort, wie ich den Laden schnellstens in Gang kriege!»
«Jawohl, mein Herr.» Im devoten Ton der Stimme des Mannes schwingt basses Erstaunen mit, wieso ein Russe ein derart perfektes Deutsch mit unverkennbarem Berliner Dialekt sprechen kann. Aufmerksam folgt der Ingenieur den übereifrig vorgetragenen Erläuterungen. Jedes Detail prägt er sich ein. Dann ist es soweit. Er drückt im Hochspannungsraum die fünf Hebel herauf und schaltet die Aggregate der Verstärkeranlage ein. Feines, helles Summen ertönt, und die Birnen der Kontrollampen zeigen gleichmäßig aufleuchtend an: Der Sender Tegel ist technisch betriebsbereit! Erwin Wilke ist es leicht und froh ums Herz - wie einem Jungen, der den schwierigsten Teil seiner Schulaufgaben hinter sich hat. Rasch geht ihm nun die Arbeit von der Hand, er schließt das Mikrofon für den Sprecher im Haus an das Kabel des Übertragungswagens im Hof an. «Hallo Erwin, alles in Ordnung?» Einwandfrei kommt Matthäus Kleins Frage beim Probesprechen im Ü-Wagen an. «Bestens», ruft der Ingenieur zurück. Es ist siebzehn Uhr, und Matthäus Klein kann sich noch keine Zigarettenpause gönnen. Drüben in der Baracke warten Artur Mannbar und die anderen auf ihn, um den Manuskripten noch den letzten Schliff zu geben. Die klapprige Schreibmaschine paßt zu dem schäbigen Raum. Doch wenn man die Männer, die hier Stunden übers Papier gebeugt sitzen, später einmal fragen wird, werden sie nicht über die zerbrochenen Fensterscheiben, die bröckeligen Wände und die harten Stühle sprechen; denn das alles sehen sie kaum. Tief in ihr Erinnern aber wird sich jede Zeile ihres Sendeplans eingraben, jene siebzig Minuten, die mit der Ansage und der Hymne der
Sowjetunion begannen, der die «Botschaft an das sowjetische Volk anläßlich der Kapitulation der deutschen Wehrmacht» und der Wortlaut der Kapitulationsurkunde folgten, auch jene Nachrichten der letzten Nacht aus aller Welt, die von der Forderung der Völker berichteten, die Kriegsverbrecher hart zu bestrafen; jene siebzig Minuten, die aus-. klangen mit einer Reportage über das Fest des Sieges auf dem Roten Platz in Moskau und mit russischen Volksliedern. Diese siebzig Minuten werden die Beteiligten niemals vergessen, zu viele Gedanken haben sie sich gemacht, was sie sprechen, wie sie die Sendung gestalten wollen. Und der Zeiger rückt unvermeidlich auf zwanzig Uhr zu. Hastig überfliegt Matthäus Klein vor dem Mikrofon noch einmal die Seiten seines Sprechermanuskripts. Wie zugeschnürt ist ihm die Kehle. Auch Erwin Wilke ist aufgeregt. Ein allerletztes Mal überprüft er die Apparaturen im Sendehaus in der Masurenallee, das ihnen von den sowjetischen Genossen zur Verfügung gestellt worden ist und das zur sowjetischen Besatzungszone gehört. Dann geht der Ingenieur zum Übertragungswagen, kontrolliert dort noch einmal die Technik. Dann legt er ein Musikband zur Kontrolle auf. «Band läuft!» Doch der Kontrollautsprecher im Haus bleibt stumm. Aber das laute Fluchen des sowjetischen Generals ist zu hören, der diese erste Sendung mit leitet. Es dröhnt in Wilkes Ohren. Dann sieht er den General aus dem Haus kommen. Mit einem Sprung ist dieser im Ü-Wagen und läßt sich auf einen Hocker nieder. «Nix Musik! Alles kaputt! Keine Sendung!» Und nur noch zwei Minuten bis zwanzig Uhr!
Wie gelähmt steht der Ingenieur vor dem Gerät. Dann schlägt er sich mit der Hand vor die Stirn. «Der Regler! Ich habe vergessen, den Regler hochzuziehen!» Ein Handgriff; in die aufrauschende Musik mischt sich das befreiende Lachen der Männer, dringt in das Sprechzimmer zu Matthäus Klein, dessen Augen gebannt am Uhrzeiger hängen. Er springt auf. «Ruhe da unten! Ich fang' jetzt an!» Da rutscht der Zeiger auf voll, und zu der wunden, von Bomben und Granaten verwüsteten Stadt, zu Tausenden in dem befreiten Land spricht Matthäus Klein. Und seine Stimme erreicht die Menschen. Einer von ihnen ist Horst Baumert, der Junge, der aus der Flakstellung geflohen ist. Einer von denen, deren Glieder wohl heil geblieben sind, deren Seelen aber tiefe Wunden haben, die lange brauchen, um zu vernarben. Neu und fremd sind Horst die russischen Volkslieder, so ganz anders als das, was er bislang zu singen gewohnt war. Auch von Moskau hört er so zum erstenmal. Und er denkt sich, es wäre schön für den Mann in der Flakstellung, der ihm das Leben gerettet hat, wenn er dort auf dem Roten Platz dabeisein könnte, mitfeiern könnte in seiner Heimat. Die letzten Sonnenstrahlen des 13. Mai 1945 fallen auf die Ruinen, wärmen auch das blasse Gesicht des Jungen, der grübelnd am Fenster sitzt, bis die letzten Worte des Sprechers verklingen: «Hier spricht Berlin! Hier spricht Berlin! Sie hören uns wieder morgen mittag um zwölf Uhr!» Es gibt keine Zeitung, es gibt keine U-Bahn, keine Milch, keine Brötchen. So vieles gibt es nicht mehr in Berlin in dieser Minute. Aber es gibt wieder ein Morgen.
«Beim Bäcker an der Ecke stehen die Leute Schlange, noch heute abend soll es das erste Brot geben!» Tante Mildas Atem geht kurz und pfeifend. Die zwei Wassereimer sind zu schwer für sie gewesen. «Ich lauf schon», sagt der Junge. Die milde Mailuft, die noch nach Rauch und Verbranntem schmeckt, macht ihn benommen. Endlos scheint ihm der kurze Weg, und als er keuchend die Ecke erreicht, sich dann in die Schlange der Wartenden eingereiht hat, fühlt er, daß es ihm vor Erschöpfung naß den Rücken hinabrinnt. Die drei Männer im Wagen, der von Tegel wieder stadteinwärts rollt, haben schweißfeuchtes Haar unter den Mützen, und ihre Gesichter sind gezeichnet. Doch das «Morgen mittag um zwölf Uhr» bedeutet für sie kaum drei Stunden Schlaf in der Nacht, in der mit dem Abendprogramm um zwanzig Uhr bereits zwei Sendungen vorbereitet werden müssen. Trotz ihrer Müdigkeit halten sie die Augen offen. Denn das, was sie in der Abenddämmerung wahrnehmen, dieses zaghafte, noch unsichere Leben, soll Wohnungen schleppen; von dem alten Mann, der mit bloßen Händen in der Müllerstraße Steinbrocken vom Eingang des Hauses zur Seite wuchtet; von den Müttern, die das kostbare Stückchen Brot vom Bäcker zu den Kindern tragen. Und Matthäus Klein wird sagen, daß die Kinder wieder Brot essen können, weil es einen Befehl der sowjetischen Kommandantur gibt, der die Versorgung der Stadt regelt. Am 14. Mai wird man wissen, daß bis in die Nachtstunden hinein von sowjetischen Lastwagen Lebensmittel vor den Geschäften abgeladen worden sind. Viel geleistet haben die drei Männer heute, am 13. Mai. Mehr zu leisten liegt vor ihnen.
Das Manuskript der ersten Sendung
morgen den anderen Beispiel sein. Die Hörer werden von den Frauen erfahren, die unermüdlich Wasser in die Es wird noch dauern, bis Artur Mannbar Zeit findet, inmitten der Trümmer die Frau zu suchen, die er liebt: Hilde, das Arbeitermädel, dessen seltene Briefe ihn im Zuchthaus erreicht und ihm das Herz erwärmt haben. Nie haben sie einander gesehen. Sie hat geschrieben, um einem jungen Genossen Mut zu machen. Aus der kameradschaftlichen Herzlichkeit ist ein zärtliches Gefühl aufgeblüht, das Artur, so oft es den Genossen gelungen war, einen Kassiber hinauszuschmuggeln, erwidert hat. Verschreckt weicht Milda Baumert zurück. Doch dann sieht sie, daß der Rotarmist den Jungen stützt. «Mir ist schlecht geworden.» Horst schämt sich ein bißchen seiner Schwäche. Als sich die Tante immer noch nicht von der Tür rührt, murrt er ärgerlich: «Ist ja schon wieder vorbei, und der Soldat tut dir ja nichts!» «Brot war ihm schwer.» Freundlich reicht der Rotarmist der Frau den Laib, der dem Jungen beim Fallen aus der Hand geglitten ist. «Dein Mutter?» Er wendet sich an Horst. «Nein, meine Tante.» «Und Mutter?» «Ich weiß nicht.» „ Tante Milda blickt ängstlich auf das Gewehr, das an dem großen Ledersessel lehnt. Kaum älter als neunzehn kann der sein, dem es gehört. Kräftiger, viel reifer wirkt er als Horst, und doch liegt noch eine Spur Kindliches um den vollen Mund. Horst drängt, den Namen des jungen Soldaten zu erfahren. Er fragt den Rotarmisten.
«Iwan, Iwan Malenkow, Kiew.» «Du heißt wirklich Iwan, ganz richtig?» Iwan versteht nicht, warum Horst das einfach nicht glauben will. «Da, Iwan.» Dann schlägt der Soldat vor, Horst solle ihn im ehemaligen Funkhaus in der Masurenallee besuchen. «Ich ab morgen dort Posten. Masurenallee, Charlottenburg. Verstehen?» «Das ist jetzt noch zu weit für dich. Es fährt doch nichts hin», protestiert Tante Milda. «Charascho, Horst. Do swidanija!» Iwan Malenkow hat schon die Türklinke in der Hand. Übers Treppengeländer gebeugt, ruft Horst ihm nach: «Ich komme. Ich komm' bestimmt bald, Iwan!» Der halbkreisförmige, massige Bau, dessen gerade Vorderfront an der Masurenallee liegt, hat den Bombenhagel beinahe unbeschädigt überstanden. Nur durch die geborstenen Fensterscheiben aller fünf Etagen fährt der Frühwind des 15. Mai. Er fegt das Papier der Durchhalteparolen, das letzte Gefasel vom «Endsieg des Führers», von den Schreibtischen. Er weht das Geschmier übler Hetztiraden in die Ecken. Artur Mannbar und die anderen Genossen haben einen bitteren Geschmack auf der Zunge, als sie den Unrat forträumen. Auch wenn sie froh sind, daß die wilde Flucht, in der die Banditen davongerannt sind, ihnen keine Zeit mehr gelassen hat, die wertvollen technischen Einrichtungen zu vernichten. Besonders glücklich darüber ist Erwin Wilke, der die unversehrte Technik in der ersten Etage in Besitz nimmt. Seine Freude wird rasch gedämpft. Die Kabelleitung
zwischen Funkhaus und Sender Tegel ist unterbrochen. Die Genossen beraten. «Wir nehmen die Sendungen hier auf Band auf und bringen sie 'raus nach Tegel!» «Wenn der Geländewagen auch das Letzte hergibt -die Brücken, die Charlottenburg mit dem Norden verbinden, sind gesprengt!» Mit dem sowjetischen Armeefahrzeug kommen sie dann doch bis zur Spree. «Hol über, Fährmann!» Der dort eingesetzte Genosse nickt. Der Kahn erreicht das andere Ufer der Schloßbrücke. Doch wie weiter? Der Grauhaarige im Boot legt die wertvolle Fracht in jüngere Hände. «Tritt in die Pedalen, Jung'! Die Leute warten auf's Programm.» Der schont sein Fahrrad nicht. Scherben, spitze Steine. Aus dem notdürftig geflickten Vorderreifen zischt die Luft. Er fährt weiter. Da brechen zwei der rostigen Speichen. Den Rest des Weges schiebt er, rennt. Die Sendung kann pünktlich beginnen! Sie beginnt auf die Sekunde genau auch am 16. und am 17. Mai. Staunend hören die Berliner die Ankündigung des ersten öffentlichen Symphoniekonzerts, das am 18. Mai im großen Sendesaal des Funkhauses erklingen soll. Musik in dieser Zeit? Ja, Musik gerade für diese Zeit! Nur, die Übertragung ist mit der bisherigen Staffelte nicht möglich. Niemand weiß das so gut wie Erwin Wilke. Abgespannt lehnt er am Übertragungswagen vor dem Tegeler Sender. Die Zigarette schmeckt ihm nicht. So sehr ist er in die neuen Sorgen versunken, daß er zunächst die Gruppe sowjetischer Soldaten gar nicht
wahrnimmt, die mit anfeuernden Rufen eine dicke Kabeltrommel über das unebene Gelände auf ihn zurollt. Da ist ein sommersprossiger Rotarmist schon bei ihm, «Charascho, Horst. Do swidanija!» Iwan Malenkow hat schon die Türklinke in der Hand. Übers Treppengeländer gebeugt, ruft Horst ihm nach: «Ich komme. Ich komm' bestimmt bald, Iwan!» Der halbkreisförmige, massige Bau, dessen gerade Vorderfront an der Masurenallee liegt, hat den Bombenhagel beinahe unbeschädigt überstanden. Nur durch die geborstenen Fensterscheiben aller fünf Etagen fährt der Frühwind des 15. Mai. Er fegt das Papier der Durchhalteparolen, das letzte Gefasel vom «Endsieg des Führers», von den Schreibtischen. Er weht das Geschmier übler Hetztiraden in die Ecken. Artur Mannbar und die anderen Genossen haben einen bitteren Geschmack auf der Zunge, als sie den Unrat forträumen. Auch wenn sie froh sind, daß die wilde Flucht, in der die Banditen davongerannt sind, ihnen keine Zeit mehr gelassen hat, die wertvollen technischen Einrichtungen zu vernichten. Besonders glücklich darüber ist Erwin Wilke, der die unversehrte Technik in der ersten Etage in Besitz nimmt. Seine Freude wird rasch gedämpft. Die Kabelleitung zwischen Funkhaus und Sender Tegel ist unterbrochen. Die Genossen beraten. «Wir nehmen die Sendungen hier auf Band auf und bringen sie 'raus nach Tegel!» «Wenn der Geländewagen auch das Letzte hergibt - die Brücken, die Charlottenburg mit dem Norden verbinden, sind gesprengt!» Mit dem sowjetischen Armeefahrzeug kommen sie dann
doch bis zur Spree. «Hol über, Fährmann!» Der dort eingesetzte Genosse nickt. Der Kahn erreicht das andere Ufer der Schloßbrücke. Doch wie weiter? Der Grauhaarige im Boot legt die wertvolle Fracht in jüngere Hände. «Tritt in die Pedalen, Jung'! Die Leute warten auf's Programm.» Der schont sein Fahrrad nicht. Scherben, spitze Steine. Aus dem notdürftig geflickten Vorderreifen zischt die Luft. Er fährt weiter. Da brechen zwei der rostigen Speichen. Den Rest des Weges schiebt er, rennt. Die Sendung kann pünktlich beginnen! Sie beginnt auf die Sekunde genau auch am 16. und am 17. Mai. Staunend hören die Berliner die Ankündigung des ersten öffentlichen Symphoniekonzerts, das am 18. Mai im großen Sendesaal des Funkhauses erklingen soll. Musik in dieser Zeit? Ja, Musik gerade für diese Zeit! Nur, die Übertragung ist mit der bisherigen Staffelte nicht möglich. Niemand weiß das so gut wie Erwin Wilke. Abgespannt lehnt er am Übertragungswagen vor dem Tegeler Sender. Die Zigarette schmeckt ihm nicht. So sehr ist er in die neuen Sorgen versunken, daß er zunächst die Gruppe sowjetischer Soldaten gar nicht wahrnimmt, die mit anfeuernden Rufen eine dicke Kabeltrommel über das unebene Gelände auf ihn zurollt. Da ist ein sommersprossiger Rotarmist schon bei ihm, hält ihm ein Stück des schweren Feldkabels der Armee unter die Nase, strahlt. «Dom - Sender, charascho?!» Und die Sendung kann beginnen. Hemdsärmlig, nur um ein Stück Brot nach dem langen Fußmarsch aus der Schorf beide bittend, tritt dann im
Funkhaus in der Masurenallee der berühmte Sänger Peter Anders vor das Mikrofon. Die Musiker, bunt zusammengewürfelt aus allen ehemaligen Orchestern der Stadt, sind trotz der wenigen Proben ein Ganzes, wachsen über sich selbst hinaus. Kopf an Kopf steht im Saal und im Foyer ergriffen eine dichtgedrängte Menge. Der Zauber der Musik, der aus den Radios dringt, füllt die Herzen. Erwin Wilke aber denkt an die Drähte, die sich über Ruinen und zerborstene Brückenpfeiler schlängeln, an das sowjetische Feldkabel. «Charascho! Sehr gut!» murmelt er, und er meint damit nicht nur die Musik. Voll Sonne sind die letzten Maitage für Artur Mannbar. Er hat Hilde gefunden. Auch die Meldungen, die er als verantwortlicher Nachrichtenredakteur in den Äther schickt, stimmen ihn froh. Es geht aufwärts, sagt jede einzelne. «Im Bezirk Mitte vierhundert Geschäfte und die Krankenhäuser wieder geöffnet. - Siebzehn Kinos spielen. - Die Gruppen freiwilliger Helfer, die sich den Kommandanturen und Bürgermeisterämtern zur Verfügung stellen, wachsen von Stunde zu Stunde.» Vergnügt sitzt der Redakteur in seiner — von den Genossen irgendwo aufgetriebenen - neuen Hose am Schreibtisch, froh, die Zuchthauskluft endlich vom Leibe zu haben. Und er würde morgen schon heiraten, wenn nur das Mädel wollte. Eins ist klar, beschließt er, länger als drei Monate wartet er nicht mit dem «Kennenlernen», das Hilde gefordert hat. «Im Herbst ist Hochzeit!» Energisch setzt er einen dicken Punkt hinter den Satz seines Manuskripts. Matthäus Kleins Stimmung paßt sich nicht ganz dem schönen Wetter draußen an. Er denkt an seine Frau.
Die Faschisten warfen sie 1944 ins Gefängnis, nahmen ihr die Kinder fort, um sich an ihr zu rächen, weil man seiner nicht habhaft werden konnte. Überlebt haben alle, wie er von Genossen erfahren hat. Wann aber wird er die Familie wiedersehen? Was er jedoch im Moment vor sich sieht, ist ein verdrossenes Jungengesicht. Dieses Gesicht gehört Horst Baumert, der nicht weiß, was er hier im Zimmer des Kaderchefs vom Rundfunk verloren hat. Widerwillig hockt Horst auf der äußersten Stuhlkante. Nein, er will sich nicht unterhalten. Er will nur möglichst schnell wissen, wo Iwan ist. «Einen Iwan kenne ich nicht.» «Er sagte mir, er würde ab heute hier Posten stehen.» «Stimmt, ja, heute sollte ein neues Wachkommando bei uns aufziehen. Die Genossen sind aber nicht gekommen.» Horst ist enttäuscht. «Da hat man mal jemanden gefunden...» «Hast du denn sonst gar niemanden?» «Doch, eine Tante.» Matthäus Klein hat Verständnis für den Jungen. Vielen wie Horst ist er auf seinem Marsch nach Berlin begegnet. Jedes Mal schlug eine Welle des Hasses in dem Mann hoch, gegen die Faschisten, die, um sich noch ein paar Stunden halten zu können, Kinder mißbrauchten. Er ahnt, was Horst bewegt. Er muß diesem Jungen helfen. Eine sinnvolle Arbeit an der Seite erfahrener Genossen, das wäre das Richtige. Doch für den Journalismus scheint der Junge kaum geeignet zu sein, soviel Menschenkenntnis hat Klein. Von sechs bis vierundzwanzig Uhr strahlt nun schon der Sender aus. Wie nötig braucht man Mitarbeiter, auch wenn sie noch
lernen müssen. Denn vom alten Personal kommt der politischen Vergangenheit wegen kaum einer in Frage. Als Bote? Klein verwirft den Gedanken wieder. Das schmächtige Bürschchen ist den Strapazen langer Wegstrecken nicht gewachsen. «Du interessierst dich also überhaupt nicht für den Rundfunk?» Das ist eigentlich der Abschluß des Gesprächs. Beinahe, denn nun erfährt der Kaderleiter Klein von Horsts technischen Fähigkeiten. Erst zögernd erzählt der Junge, dann taut er mehr und mehr auf. Daß ich daran nicht gedacht habe! Zu Wilke muß der Junge. Das ist die Lösung, für den Jungen und auch für Wilke, der junge Leute braucht wie das tägliche Brot. Brot, fällt ihm ein. Ich muß nachher gleich zu den sowjetischen Genossen, um Brot und ein bißchen Butter für ein paar Mitarbeiter abzuholen. Na, da fällt auch etwas für den Jungen ab. «Komm bitte morgen gegen elf zu mir. Ich kann dir bestimmt helfen.» Und er kann helfen. August 1945. Ein sonniger Himmel wölbt sich über Berlin. Wenn Horst zur Arbeit fährt, braucht er den Lenker des Rades nicht mehr herumzureißen, um einem Schutthaufen oder einem Bombentrichter auszuweichen. Durch Hunderte fleißiger Hände sind die Auto- und Panzerwracks verschwunden. Auf seinem Weg sieht er Mädchen in hübschen, bunten Kleidern. Auch sie blicken nach ihm. Immerhin, in Vaters grauem Sommeranzug macht er einen fast erwachsenen Eindruck. Seine mageren Schultern beginnen sich wieder zu runden. Jeder Wochentag fordert von Horst eine Erweiterung seines Wissens und viel Energie, um in die Geheimnisse der komplizierten Rundfunktechnik eindringen zu können.
Erwin Wilke, dem Technischen Leiter, geht es nicht anders. In jeder freien Minute sitzt er über Fachbüchern, damit er seinen Schülern das notwendige Wissen über Verstärkertechnik und Magnettonaufbau sowie deren Funktionen vermitteln kann. Gern fährt Horst zur Arbeit, die ihm Spaß macht, zu den Menschen, zu denen er Vertrauen gefaßt hat. Truman, der inzwischen Präsident der USA geworden ist, wird der Schritt bleiern schwer an den Konferenztisch in Potsdam, zu dem ihn die Völker zwingen. Am Vorabend seiner Abreise schreibt er: «Ich würde lieber nicht gehen, aber ich muß, ein Zurück gibt es nicht mehr.» Winston Churchill zieht mißmutig an einer Zigarre. In seinen Memoiren wird man später lesen können, was er damals gedacht hat: «Die gemeinsame Gefahr, das stärkste Band zwischen den drei Bundesgenossen, hatte sich aufgelöst, und schon war in meinen Augen die kommunistische Gefahr an die Stelle des bisherigen Feindes getreten.» Diesen beiden Vertretern des internationalen Monopolkapitals paßt es nicht, daß in Potsdam Brief und Siegel gegeben werden sollen, für - alle Zeit in Deutschland den Faschismus auszurotten. Die Herren sprechen auch vom Frieden, doch sie denken an Krieg, an den «kalten Krieg» - vorerst. Bald darauf sagt William B. Jackson, Chef des Ausschusses für die Informationspolitik der USA auf dem Gebiet der psychologischen Kriegführung: «Für den ideologischen Krieg brauchen wir keine Wahrheit, sondern Untergrundtätigkeit. In diesem Krieg brauchen wir die Unterstützung aller Halsabschneider und Gangster, die wir nur irgendwie anwerben können.»
Der Sender des Klassenfeindes RIAS wird aufgebaut; er sendet nur selten in deutscher Sprache. Gegen die imperialistischen Meinungsmacher stehen Menschen wie der Reporter Werner Klein, dessen Mutter die Faschisten in Auschwitz umgebracht haben. Er ist der Feind derer, die am gelieferten Gas verdient haben. Deren Feind ist auch die Frau, die zu heiraten dem «Staatenlosen» verboten gewesen ist, die dennoch zu ihm gehalten hat. Die Schläge in der Gestapohaft, die Zwangsarbeit vergißt er nicht. Und er ist einer der besten Reporter, die dem Klassenfeind gegenüberstehen, dieser Genosse Klein. Da hören die Leute zu, wenn er berichtet, wie man rings um Berlin den Boden der Großgrundbesitzer an die Landarbeiter verteilt. Da weint auch der Städter dem enteigneten Junker keine Träne nach! Und er hat einen Freund: Helmut Koch... - Als Fünfjähriger pfiff Helmut schon die Internationale. Ein musikbegabtes Kind war er wie kaum ein zweites in Wuppertal-Bärmen. Jeden Groschen drehten die Eltern um, damit er Chordirigent werden konnte. Als Leiter des «Schubertchors», des besten der Arbeitersängerbewegung Berlins, steigt der Stern des Dirigenten Helmut Koch. Nach 1933 sinkt er in die Anonymität. Als er die Panzerfaust in die Hand nehmen soll, taucht er unter. Kaum ist der Lärm der Waffen verebbt, läuft er von Tür zu Tür, sucht alle, die singen wollen. Unter Hunderten Schwierigkeiten beginnt er die Musikabteilung des Senders aufzubauen. Mit dem Heraufgüben des Herbstes 1945 singt dann schon die «Solistenvereinigung des Berliner Rund-
funks», erklingen Lieder für die Aktion «Rettet die Kinder». Noch sind die Folgen des Krieges nicht gebannt. Hundertzehn Neugeborene sterben allein in einem Berliner Stadtbezirk an Unterernährung, und der Winter steht vor der Tür. Zierlich klein ist Cläre Jung, die Frau mit dem großen Herzen, das mitfühlend schlägt. Erste graue Fäden ziehen sich durch ihr kurzgeschnittenes Haar, zeugen vom schweren, tapferen Leben der Kommunistin. Sie zu greifen und festzusetzen wegen Beihilfe zur Desertion, so lautet bereits 1915 die Order der kaiserlichen Polizei. Ein Jahr später heiratet die Berliner Kaufmannstochter den revolutionären Publizisten Franz Jung. Illegal, in durchwachten Nächten, stellen sie Nachrichten über die Revolution in Rußland zusammen, verbreiten Informationen über die Sowjetmacht, gegen die sich die gesamte kapitalistische Welt zusammenrottet. Auch die deutsche Presse strotzt vor Lügen, Entstellungen, denn die Besitzer der bürgerlichen Blätter fürchten sich vor dem Roten Oktober. Wichtig ist die Wahrheit, die Franz und Cläre Jung zu den Arbeitern tragen: vom Kampf der jungen Friedensmacht gegen ihre mächtigen Feinde, vom Sieg der gerechten Sache. Doch es fallen Väter und Mütter. Es hungern ihre Kinder dort, wo der weiße Terror wütet. Aber der erste Arbeiter-und-Bauern-Staat hat Freunde. Die in die Dörfer und Städte kommen, sind Genossen der «Internationalen Arbeiterhilfe», unter ihnen Cläre Jung. Von 1921 bis 1923 sind Wolga und Don ihr näher als die heimatliche Spree. Sie sammeln Spenden, führen Buch über eingegangene Lebensmittel, legen Lager an, bauen Kinderheime auf. Es gibt da eine alte Fotografie. Sie
zeigt Cläre Jung im Kreis von französischen, polnischen und spanischen Genossen. Und Mischka ist dabei, der kugelig braune Jungbär, den sie eingefangen haben und der den Kindern oft das Lachen in die verweinten, runden Hungeraugen zurückbringt. Männer sind sie geworden, die Kinder der Revolution, die ihre Feinde geschlagen haben. Die Kinder von Berlin aber sind nicht ihre Feinde. Deshalb will auch der für die Sendungen verantwortliche Offizier im Funk, Hauptmann Rosanow, daß sie in der Frühlingssonne spielen können, satt, so gut es in dieser Zeit geht. Darin weiß er sich einig mit Stadtrat Ottomar Geschke, dem Vorsitzenden der «Vereinigung der Opfer des Faschismus» und mit Cläre Jung, der Frau, durch deren selbstlose Hufe viele Verfolgte, insbesondere jüdische Mitbürger, dem sicheren Tode entrinnen konnten. Eigentlich wollte Cläre Jung nur ins Funkhaus kommen, um einer Bekannten etwas auszurichten. Aber die Redaktion Kultur braucht für die Aktion «Rettet die Kinder» niemanden so nötig wie gerade diese Frau. Kurz darauf schreibt Cläre Jung den ersten Bericht über die Not nieder. Am Tag nach dem Konzert ist das Foyer des Funkhauses voll von Menschen, die das Wenige, was sie noch besitzen, teilen wollen: Eßwaren, Kleidung und Geld. Ergriffen blickt Cläre Jung in die Gesichter der Spendenden. Auch Hauptmann Rosanow kann seine Bewegung nur schwer verbergen. Sechs Monate läuft nun jeden Sonntag dreißig Minuten lang diese Sendung, in der Musikwünsche erfüllt werden zur Hilfeleistung für die Kinder. Suchmeldungen rufen
vermißte Eltern und Kinder. Ohne Honorar sprechen, singen und spielen die Künstler. Darüber hinaus spenden die Mitglieder des Deutschen Theaters 5 500 Mark. Für mehrere Vorstellungen verzichteten sie auf ihre Gage. Kuchen und Getränke kommen von Konditoreien. Insgesamt 5 000 000 Mark - Lebensmittel und Kleidung nicht gezählt -, das ist die Bilanz dieser Aktion! Cläre Jung ist sehr glücklich. Froh ist sie, wenn sie erfährt, daß eine Mutter ihr Kind wieder in die Arme schließen kann, daß ein Vater seinen kleinen Buben wiederfindet, daß sich Menschen melden, die eines der Kinder annehmen wollen. Mag der Winter des Jahres 1945/46 hart und kalt zupacken; es gibt etwas, das warm und gut ist. Durch diese Sendung erfährt auch Horst Baumert, daß seine Mutter nicht mehr lebt, daß sie in den letzten Kriegstagen umgekommen ist. Erwin Wilke streicht ihm über das Haar. Er sagt nichts; Worte sind zuwenig für einen Jungen, der solches erfahren hat. Durch diese Sendungen werden Familien zusammengeführt, finden sich Freunde und Genossen. Aber auch Unternehmer möchten die Suchsendung für ihre Zwecke ausnutzen. An einem Vormittag melden sich bei Artur Mannbar mehrere Herren. Ihre Namen haben sie nicht gesagt. Während er auf den Besuch wartet, grübelt er, wer es sein könnte. Da treten sie auch schon in das Zimmer. Einer hat ein Paket unter dem Arm, er ist es, der sich an den Genossen wendet. «Guten Tag. Herr Mannbar?» Der Angeredete nickt kurz und bittet die Herren, Platz zu nehmen. «Guten Tag.» Die Besucher, setzen sich. Artur Mannbar tritt hinter
seinen Schreibtisch. Als der Wortführer der drei das Paket auf den Tisch stellt, kann Mannbar das Firmenzeichen erkennen: «Garbaty». Aha, denkt er, die kommen auch. Die Männer stellen sich vor. Artur Mannbar sagt darauf: «Angenehm. Meinen Namen kennen Sie ja schon. Um was handelt es sich?» «Wir möchten über den Funk eine Suchmeldung geben lassen, Herr Mannbar.» «Sehr schön. Und wen wollen Sie suchen lassen?» Die zwei anderen sitzen stumm auf ihren Stühlen. Nur ihr Wortführer steht lässig vor Mannbars Schreibtisch. Er blickt den Rundfunkjournalisten lächelnd an, legt sehr auffällig seine rechte Hand auf das Paket und gibt Antwort: «Wissen Sie, Herr Mannbar, es geht um unser Unternehmen, die Zigarettenfabrik . Wir haben schon versucht, die Teilhaber der Firma zu finden. Bisher ergebnislos. Wir ahnen, daß sie sich im Westen Deutschlands aufhalten. Vermutlich sind einige noch in Kriegsgefangenschaft. Wir möchten sie suchen lassen.» Nervös trommelt der Elegante mit den Fingern auf dem Paket. Artur Mannbar unterdrückt ein Lächeln, brummt etwas Unverständliches, nimmt das Zigarettenpaket vom Schreibtisch und stellt es hinter sich auf einen Stuhl. Dann wendet er sich wieder dem Vertreter der größten Zigarettenfabrik Berlins zu. «Nun ja», sagt er etwas lässig. Dabei fährt er sich mit der Rechten über das Haar. Der Firmenvertreter fährt nach dieser Reaktion ungewollt zusammen. «Sie können wirklich etwas für uns tun? Wahrlich, Herr Mannbar, wir werden uns erkenntlich zeigen. Natürlich wissen wir...»
Ärgerlich unterbricht Artur Mannbar mit einer schnellen Handbewegung die Rede des Mannes. Er tritt vor den Schreibtisch und legt die Hände auf den Rücken. Ungewollt muß er dabei auf seine Hosen blicken; ironisch belächelt er seine «Ausgeborgten». Dann geht er auf den Vertreter von «Garbaty» zu. «In diesem Fall, mein Herr, kann ich Ihnen nicht helfen. Die Suchsendungen dienen ausschließlich der Familienzusammenführung, also rein privaten Zwecken, nicht aber der geschäftlichen Manipulation.» Während dieses Bescheids geleitet er die Herren Unternehmer höflich hinaus. Die Zigaretten aber verteilt er kurz darauf an seine Mitarbeiter im Hause. Wochen später, der Schnee schmilzt. Die Babys haschen nach den Sonnenkringeln. Helmut Koch ist mit dem Chor nach Buna gefahren. In der großen Werkhalle lauschen die Arbeiter des großen Werkes den alten und neuen Liedern. Aber in Westberlin erstarken immer mehr die Reaktionäre. Matthäus Klein erhält den Auftrag, in den sowjetischen Sektor der Stadt überzusiedeln. Seit sein Stellvertreter, ein alter Genosse, aus der Wohnung im Westsektor spurlos verschwunden ist, ist ein Antifaschist dort nicht mehr sicher. Klassenfeindliche Elemente haben sich auch in den Sender geschlichen, aber sie kommen nicht weit. Bald können sie isoliert und ihre Gruppierungen zerschlagen werden. Für Werner Klein beginnt der Frühlingsanfang 1946 mit einem ehrenvollen Auftrag. Als Reporter hilft er mit, die Einheit der Kommunisten und Sozialisten vorzubereiten. Am 15. Januar ist er schon bei der Dresdner
Funktionärskonferenz der KPD und der SPD des Landes Sachsen dabeigewesen. Während des Vereinigungsparteitages aber siebter -wie alle Arbeiter in Deutschland - im Händedruck des Vorsitzenden der KPD und der SPD, Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl, sein eigenes Denken und Handeln bestätigt. Jahrzehnte haben die Besten unseres Volkes für die Einheit der Arbeiterklasse gekämpft und gelitten. Tausende sind Opfer der Reaktion geworden. Er weiß, daß dieser 21. April 1946 ein Höhepunkt des Kampfes der Arbeiterklasse ist - die Gründung der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Der kleine wendige Genosse ist ganz eins mit dieser Stunde. Er ist so erregt über diesen Tag, an dem die deutsche Arbeiterklasse die Einigung ihrer Parteien vollzieht, daß ihm die gewohnte Reporterfixigkeit abhanden kommt. In respektvoller Entfernung steht er mit seinem Mikrofon. Da winken ihn die Genossen im Präsidium zu sich heran. Im Eifer setzt er sich direkt neben das Rednerpult auf den Präsidiumstisch. Lächelnd hält er das Mikrofon dem Redner vor, damit dem Reporter kein Wort der bedeutenden Rede Wilhelm Piecks verlorengeht. Kaum hat die Pause begonnen, greift er sich die Tonbänder, schwingt sich auf sein Fahrrad und strampelt die fünfzehn Kilometer vom Admiralspalast (dem heutigen Metropoltheater) die Linden hinunter, am Brandenburger Tor, an der Siegessäule vorbei, zum Funkhaus in der Masurenallee. Daß es zu all diesen wichtigen Sendungen gekommen ist, verdankt unser Volk jener Gruppe deutscher Antifaschisten, die unter der Leitung der Arbeiterpartei
und durch die uneigennützige Hilfe der Sowjetunion den politisch-ideologischen und den technischen Grund gelegt haben. Die Mitarbeiter des Berliner Rundfunks und des Deutschlandsenders im Funkhaus in der Masurenallee wußten, welche der vier Besatzungsmächte es ehrlich meinte mit der Einhaltung der Beschlüsse des Potsdamer Abkommens. Sie sahen es täglich. Der Rundfunk, der zweiundzwanzig Jahre lang Mittel und Werkzeug im Dienste der Imperialisten und der Faschisten gewesen war, wurde nur in einem Teil Deutschlands, in der sowjetischen Besatzungszone, dem Volk übergeben. Die westlichen Alliierten gestatteten vorerst keine selbständige Tätigkeit deutscher Rundfunkstationen. Unter der Befehlsgewalt amerikanischer, britischer und französischer Offiziere strahlten die westlichen Sender, zum Beispiel der «Rundfunk im amerikanischen Sektor», vorerst nur Programme in englischer Sprache aus. Erst Ende 1945, nachdem der Berliner Rundfunk schon ein dreiviertel Jahr gesendet hatte, begannen die Westsender mit deutschsprachigen Programmen. «Mußt du denn schon wieder weg?» Horst Baumerts Tante versteht den Jungen immer weniger. Seit er Mitglied der Freien Deutschen Jugend geworden ist, hat er dauernd etwas vor. Weilt er zu Hause, darf ihn Tante Milda nicht beim Lesen stören. Sie kann sich nicht erinnern, daß es in der baumertschen Wohnung jemals so viele Bücher gegeben hat,, besonders keine politischen. So sehr auch Horst äußerlich in den vergangenen zwei Jahren an Ähnlichkeit mit dem Vater gewonnen hat, in seinem Wesen gleicht er dem Buchhalter Hans Baumert keineswegs. Und Tante Milda ertappt sich dabei, das
nicht einmal zu bedauern. Vor allem jetzt nicht, da der Junge ihr die Schürzenbänder aufzieht. «Mildchen?» Er hat sich angewöhnt, Mildchen zu ihr zu sagen, und sie hat es aufgegeben, dagegen zu protestieren. «Mildchen, du kommst mit!» «In deinen FDJ-Zirkel? Das fehlte noch!» «Unsinn. Also aus dir wird nie eine fortschrittliche Frau. Du hast wieder mal keine Nachrichten gehört!» «Es reicht doch, wenn du im Funkhaus steckst. Außerdem, wenn ich in der Küche bin...» «Ja doch, ich bastle dir noch diesen Monat den Lautsprecher, sowie ich die Fenster gestrichen habe!» Nein, Tante Milda kann sich wirklich nicht über den Jungen beklagen. Hilfsbereit ist er, ein guter Junge, dieser Neunzehnjährige. An seiner Seite sitzt Milda Baumert wenig später mitten auf dem Gendarmenmarkt, auf dem Bauarbeiter im freiwilligen Einsatz Hunderte Plätze und das Riesenviereck einer Bühne aufgebaut haben. Die Planken erzittern unter den kühnen Sprüngen der Tänzer des Alexandrow-Ensembles. «Kaiinka, Kaiinka...» Hell und klar strahlt Nikitins reiner Tenor. Rauschender Beifall belohnt die Sendboten des Friedens. Der Junge ist mit den anderen begeistert aufgesprungen. Ihr Beifall fordert Zugabe auf Zugabe. Tante Milda wischt sich gerührt über die Augen. Auf den Lautsprecher in der Küche muß sie aber noch lange warten. Horst Baumert hat immer weniger Zeit, zu Hause etwas in Ordnung zu bringen. Der Klassengegner versucht, im Funkhaus Fuß zu fassen. Doch es gelingt ihm nicht. Und so versuchen imperialistische Handlanger, die Sendetätigkeit des
«kommunistischen Senders» einzuschränken. Ihnen ist der Berliner Rundfunk ein Dorn im Auge, weil er ein wirkungsvolles Instrument ist, mit dem die progressiven Kräfte Berlins die Massen für den Aufbau eines friedliebenden Staates mobilisieren und die demokratischen Kräfte Westdeutschlands im Kampf gegen die reaktionäre Adenauerpolitik unterstützen. Der Klassengegner will diesen Sender zum Schweigen bringen. Am 16. Dezember 1948 kommt Artur Mannbar vom Leipziger Sender, wo er seit geraumer Zeit arbeitet, nach Berlin. Natürlich besucht er auch Erwin Wilke in der Masurenallee. «Wie kommst du mit dem Nachwuchs zurecht?» erkundigt sich der Redakteur. «Gedeiht prächtig, schreit nur ein bißchen viel.» Artur Mannbar lacht. «Den Nachwuchs hab' ich nicht gemeint, aber seit du Vater geworden bist...!» «Hör auf!» Der Ingenieur hebt in komischer Verzweiflung abwehrend beide Hände. Wie er Mannbar kennt, wird er gleich wieder fragen, ob er sich nicht endlich die bewußte Schachtel Zigaretten — durch die Wilke jener hübschen Sekretärin des sowjetischen Offiziers näherkam - eingerahmt habe. Dabei mußte er Ursula damals erst überzeugen, daß ihr abwesender Chef die Schachtel tatsächlich für ihn auf den Tisch gelegt hatte. Drei Jahre ist das nun schon her. «Matthäus Klein läßt dich grüßen», unterbricht Mannbar die Erinnerungen des Technikers. Der erste Sprecher des Senders Berlin ist Dozent geworden. Die Studenten der Berliner Universität schätzen ihn, der sie mit der Weltanschauung der Arbeiterklasse ausrüstet.
Doch bevor Erwin Wilke den Gruß erwidern kann, wird die schwüle Luft von einem ohrenbetäubenden Knall erschüttert, der die Fenster zum Klirren bringt. Eine böse Ahnung durchzuckt die Männer. Die Tür fliegt auf. «Tegel! Komm!» Atemlos stürzt Erwin Wilke hinter dem sowjetischen Offizier die Treppen hinunter, wird von ihm in den Wagen gezogen, dessen Motor bereits läuft. Keines der sonst üblichen Scherzworte durchbricht das lastende Schweigen während der Fahrt. Wilkes Augen suchen den Horizont ab. Er sieht nur noch den kleineren der beiden Sendetürme. Nun weiß er, daß der Hauptturm gesprengt worden ist. Seit sich die weiße Staubwolke verzogen hat, liegen die Stücke wie ein Riesenhaufen Schrott auf dem Gelände. Losheulen könnte Erwin Wilke.
16. Dezember 1948. Trümmer des gesprengten Sendeturms des Berliner Rundfunks in Berlin-Tegel
Losgehen möchte er auf die Kette französischer Soldaten, die ihn, die MPi im Anschlag, mit einem Fünkchen Bedauern im Blick mustern. Schütteln möchte er sie, bis sie begreifen, wem diese Zerstörung nützen soll, daß die Erweiterung des Flugplatzes nur ein willkommener Vorwand ist. Der französische General Ganneval, der im Sendehaus lässig elegant an einer Verstärkeranlage lehnt, weiß das nur zu gut. Ihm ist der Vertragsbruch mehr als recht. Als Kind reicher Eltern hat er noch nie etwas für «Proleten» übrig gehabt. Widerwillig, als fürchtete er, die weißen Handschuhe zu beschmutzen, tippt er gegen die Geräte: «In drei Tagen müssen Sie geräumt haben, sonst fliegt das Zeug mit in die Luft!» «In drei Tagen, das geht nicht!» begehrt Erwin Wilke auf. Doch der sowjetische Genosse legt ihm beschwichtigend die Hand auf die Schulter. Unmöglich, denkt der Ingenieur, wo die Menschen, die Lastwagen hernehmen? Wie das alles sachgemäß ausbauen und wegschaffen? Am nächsten Tag liest Erwin Wilke in der Westberliner Zeitung «Tagesspiegel»: «Der Tegeler Sender wurde 1935 in einer Stärke von 100 Kilowatt erbaut und war der in Berlin am weitaus günstigsten gelegene Sender. Er wurde überall am besten gehört. Die beiden anderen Sender (Wilke weiß, daß damit der RIAS und der NWDR-Berlin gemeint sind) sind mit der Lage ihrer Apparaturen nicht so begünstigt.» Hier also steht es schwarz auf weiß, weshalb sie den Hauptturm gesprengt haben, denkt der Ingenieur, gerade dieser Umstand mißfällt den Westberliner Politikern.
Natürlich, vor etwa zwei Wochen hat der demokratische Berliner Magistrat seine Tätigkeit im Roten Rathaus begonnen. Der Berliner Rundfunk hat sich seitdem bemüht, ein festes Bindeglied zwischen den fortschrittlichen Kräften Berlins und diesem Magistrat zu sein. Da kommt ein Monteur erregt herein. «Hier, Erwin, hast du die Erklärung, warum der Sendeturm gesprengt worden ist!» Er hält ihm die Zeitung der Westberliner SPD, den «Sozialdemokrat» hin. Vor seinen Augen sieht Erwin Wilke die Schlagzeile: «KP ihres Hauptpropagandamittels beraubt» Bedächtig sagt der Ingenieur: «Die haben sich wieder einmal verrechnet! Wir schaffen es schon!» Daß sowjetische Soldaten gut kämpfen und unübertroffen singen und tanzen können, das hat Milda Baumert erlebt. Nun aber schildert ihr Horst überzeugend, was sie in der Arbeit zu leisten vermögen: Tag und Nacht, zweiundsiebzig Stunden lang: Hammerschlag um Hammerschlag für die Kisten, die gebraucht werden, um die aus ihren Verankerungen gelösten und zerlegten Maschinen zu transportieren. Zweiundsiebzig Stunden lang: Gebrumm der schweren Armeefahrzeuge. Zweiundsiebzig Stunden: Aufladen in Tegel, abladen in Königs Wusterhausen. Und für Horst und alle, die helfen, gibt es große Körbe belegter Brötchen. Als das Dynamit gezündet wird, fällt nur leeres Mauerwerk in sich zusammen. Die westlichen Geheimdienste wünschen sich sehr, daß es mehr als ein Jahr dauern möge, bis die geretteten Anlagen in Königs Wusterhausen eingebaut sind; denn der fahrbare Ersatzsender bei Potsdam hat nur etwa ein Hundertstel der Leistung von Tegel.
Die Reichweite der Stimme des antifaschistisch-demokratischen Rundfunks bleibt jedoch nur für die Hälfte der veranschlagten zwölf Monate eingeschränkt. Durch ein unvorhergesehenes Wunder der Technik? Keineswegs. Junge Menschen richten gemeinsam mit erfahrenen Kommunisten den Sender mit wahrem Feuereifer ein. Dabei haben die FDJler nur gelernt, daß dies weitaus klüger Und angenehmer ist, als sich für die fetten Banknoten einer kleinen Clique von Aktionären totschießen zu lassen. Mädchen sind auch dabei. — Was Horst betrifft, nur ein einziges. Mehr sieht er nämlich nicht, aber dafür ist er eben verliebt. Das ist verständlich bei einem Mädchen wie Renate. Es ist Februar 1949 und noch kalt. Der Sender ist betriebsbereit. Niemand wird den neuen Mast antasten. Er steht sicher auf dem Boden des künftigen Staates der Arbeiter und Bauern. Die Herren in Westberlin und ihre Auftraggeber haben sich verrechnet! «Das ist Renate, und wir müssen bald heiraten!» «Müssen?» Tante Milda läßt sich fassungslos auf den Küchenstuhl fallen. Doch so hat es Horst gar nicht gemeint. Das «Müssen» hat seine Ursachen lediglich im Wunsch der beiden, sich täglich zu sehen, sich nicht nur abends an einer Ecke zu küssen. «In der Wohnung haben wir zu dritt Platz, und du hast sogar noch Hilfe und Gesellschaft, wenn ich Spätdienst habe», argumentiert Horst. Alles scheint einfach, schwerelos, wenn man jung ist und verliebt. - Doch gib acht, Horst Baumert, wenn du
abends durch Charlottenburg gehst. Denk nicht nur an Renate, die in der Prenzlauer Straße auf dich wartet. Es kann auch dir passieren, was dem Dirigenten Helmut Koch Ende Juli 1947 geschehen ist. Plötzlich steht ein Kerl vor ihm, aus dem Schatten aufgetaucht. Sehr dicht, Helmut Koch spürt seinen üblen Atem. Kleiner ist er als der hochgewachsene Dirigent, aber ein bulliger Schlägertyp. Das sind Hände, die sich nicht zum erstenmal im Kragen eines anderen verkrallen. Geübt ist der Griff. «Russenfreund!» zischt der Unbekannte und spuckt auf das Abzeichen der «Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft», das Koch am Rockaufschlag trägt. Schon vor Tagen ist er wegen dieser Nadel auf offener Straße am hellichten Tag angepöbelt worden, er und andere Genossen. Das hier aber ist gefährlicher. Der Kerl muß ihm aufgelauert haben. Ein gedungenes Subjekt, wie sie im RIAS, in der Kuf steiner Straße, ein und aus gehen, um das schmutzige Gekeif mit ebensolchen Taten zu ergänzen. «'runter mit dem Ding!» Drohend hebt sich die Faust, bereit, schwer zuzuschlagen. Koch ist sich bewußt, daß er mit seinen schmalen, sensiblen Künstlerhänden gegen den anderen nicht aufkommen kann. Aber so hart er den Hieb auch erwartet, so hart ist sein Wille, diese Nadel, die alle Chormitglieder seit ein paar Wochen tragen, niemals abzunehmen. Vor ihm verschwimmt die wutverzerrte Visage. - Er erinnert sich an zwei dunkelbraune Augen. Sie sind das eigentlich Schöne an dieser sonst unscheinbaren Frau, Ende Dreißig, mit dem dünnen dunklen
Zöpfchenkranz, der ein ernstes Gesicht umrahmt. In diesen Augen steht alles: das Leid um die von den Faschisten ermordete Familie; ihre feinfühlige Hilfsbereitschaft, denn sie kam nach Berlin, um Deutschen zu helfen; ihre Bescheidenheit, mit der sie trotz ihres großen Könnens auftritt. Genossin Leutnant Treblowa, die Leiterin der Volksmusikabteilung des Konservatoriums in Leningrad, ist eine Persönlichkeit. Was sie gibt, gibt sie mit ganzem Herzen. Sie, der man Abkehr von allem Deutschen nachgesehen hätte, überrascht mit äußerster Einfühlsamkeit in die deutsche Sprache bei der Übersetzung der russischen Folklore. Nicht denkbar wäre der «Große Preis von Paris», den der Chor in diesem Jahr ersang, ohne diese Frau. Niemand wird Helmut Koch dieses Erlebnis entreißen können. Der Schläger reißt ihm die Nadel aus dem Stoff und verschwindet schnell in der dunklen Straße. Helmut Koch hebt das Abzeichen auf und steckt es sich wieder an. Und dieser Mann, der ein paar Monate später für seinen Chor die Noten der Nationalhymne der DDR abschreibt es sind die Tage vor der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik -, wird Mitglied der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. «Chef, da hinten wird wieder eine müde!» Irgendeiner der Starkstrommonteure ruft es Erwin Wilke zu. Seit Wochen geht das nun schon so, zeigen die Kontrollmessungen, daß die Leistung der «Telefunken»-Röhren abfällt. Erwin Wilke kann es sich ausrechnen, wann das kalte Licht einer der hohen Birnen verlischt. Noch nie hatten die Glühfäden, von denen die Funktionstüchtigkeit eines Senders abhängt, das ewige Leben. Man gerät deswegen nicht in Panik, man wechselt einfach aus. So
schön steht das in den Büchern, die der Ingenieur inzwischen an Horst Baumert und an die anderen jungen Techniker weitergegeben hat. Aber die Praxis des Jahres 1950 sieht anders aus: In absehbarer Zeit ist nämlich nichts mehr zum Auswechseln da! Der geringe Bestand an Ersatzröhren schmilzt weg wie Butter an der Sonne. Und «Telefunken» liefert nicht! Es gibt ein Röhrenembargo. Die unter Bruch des Potsdamer Abkommens von den Westmächten wieder in den Sattel gehobenen Besitzer der westdeutschen Konzerne reiben sich kräftig die Hände bei dem Gedanken, den «kommunistischen Sender» sozusagen am steifen Arm verhungern zu lassen. Schlecht gespieltes Bedauern steht in ihren Gesichtern, wenn ein Vertreter der DDR sie aufmerksam macht, daß sie ihre Verträge einhalten sollen. «Sie müssen verstehen, unvorhergesehene Schwierigkeiten ...» Erwin Wilke sind die Bittgänge leid. Zu seiner Frau sagt er: «Ich habe es satt, Ursula! Satt bis oben hin! Die erste Sendung, damals am dreizehnten Mai neunzehnhundertfünfundvierzig, so schwer das auch war, aber bitte sehr, von mir aus gern noch mal! Aber dieses Röhrentheater, jetzt, wo alles prima laufen könnte! Nein!» Ursula Wilke kennt ihren Mann zu gut, um nicht genau zu wissen, daß er gar nicht daran denkt aufzugeben. Er wird weitermachen, sich nicht unterkriegen lassen. Doch jetzt muß er sich von der Seele reden, was an seinen Nerven zerrt. «Daß sie das können, uns hängen lassen können mit der versprochenen Lieferung! Daß wir von diesen Halunken
abhängig sind, nur weil die Röhrenindustrie schon immer im Westen lag und nicht hier bei uns!» «Aber ihr habt doch neulich hierentwickelte Röhren gekriegt.» «Ja, das ist auch was Feines! Vorsicht beim Husten. Einen Tag brennen die, wenn's hoch kommt, mal drei, dann ist's zappendüster! Und' mit den Produkten stell dich mal vor die jungen Leute hin, überzeug sie glaubwürdig, daß wir den Imperialisten das Wasser abgraben und nicht umgekehrt!» Bitter lacht der Mann auf. «Sei nicht ungerecht gegen unsere Wissenschaftler. Überlege mal, wie lange du gebraucht hast, um mit deiner Arbeit zurechtzukommen, und du lernst heute noch dazu.» «Man merkt wirklich, daß du bei den sowjetischen Freunden in die Schule gegangen bist.» Erwin Wilkes Miene hellt sich auf. Im Grunde ist ihm das, was seine Frau vorbringt, selbst klar. Aber es wird Schwierigkeiten bei der Entwicklung solcher komplizierter Senderöhren geben. Das kann nicht auf Anhieb klappen! Da quälen sich unsere Ingenieure herum. Genossen, parteilose Kollegen zerbrechen sich den Kopf, auch nach Feierabend, denn die Röhren werden gebraucht! Und sie werfen den Kram nicht hin, wenn sie erfahren, daß es «wieder nicht geklappt» hat. Und die Arbeiter, die das Glas blasen, Sockel herstellen, sagen nicht «verlorene Zeit». Sie vertrauen alle ihrer Kraft. Sie wissen, daß wir uns auf diesem Gebiet so ' lange unabhängig machen müssen, bis das Röhrenembargo aufhört zu existieren! «Telefunken»-Röhren brauchen sie bald nicht mehr. Was jedoch für den Genossen Wilke starke Gewißheit
ist, treibt den Klassenfeinden die Galle ins Blut. Sie merken, daß es nicht ausreicht, ihr Gift durch den RIAS zu spucken,'nicht langt, ihre Agenten und Diversanten loszuschicken, den Aufbau in der DDR zu stören. Auch das Röhrenembargo prallt an der Stärke der Werktätigen unserer Republik ab. Kaum haben der Berliner Magistrat, die Deutsche Post und der Berliner Rundfunk dieses Problem durch die Produktion eigener Röhren aus der Welt zu schaffen begonnen, schreiten die imperialistischen Kräfte in Westberlin zu einem neuen Störmanöver. Am 1. November 1950, Erwin Wilke will gerade die Technik im Funkhaus in der Masurenallee überprüfen, fällt der Zeiger des Starkstrommessers auf Null. Erwin Wilke bleibt wie angewurzelt stehen, starrt auf die Meßuhr. Einer der Monteure flüstert rauh: «Das kann doch nicht wahr sein!» Die Männer rennen zu den Sicherungen. Einer brüllt: «Die sind in Ordnung!» «Los, Männer, alle Geräte überprüfen!» weist Wilke an. Die Überprüfung ergibt: Alle Maschinen und Geräte sind in Ordnung. Da sagt einer: «Die haben uns den Saft abgedreht!» Tatsächlich, an der Stelle, wo das Kabel der BEWAG ins Funkhaus eintritt, ist die Leitung tot. Wilke läuft zum Telefon und verlangt die BEWAG in Westberlin. Was er dann erfährt, ist verdächtig genug: «Zehn Tage wird die Stromabschaltung dauern. Es tut mir leid; ich habe meine Anweisungen.» Wilke haut den Hörer auf die Gabel. «Verflixt! Diese Banditen!» Dann rennt er auf den Flur, wo die
Starkstrommonteure auf einen Bescheid warten. «Notstromdiesel einschalten!» «Aber der schafft das doch gar nicht so lange!» sagt Horst Baumert dann in das Aufbrummen des Motors. Ratlosigkeit schwingt in seiner Stimme. Aber auch die anderen sehen ziemlich skeptisch auf die Maschine. «Ärmel aufkrempeln, mein Lieber, ab morgen wird ein Ersatzdiesel eingebaut!» beantwortet Erwin Wilke die bangen, stummen Fragen der anderen, wie es weitergehen soll. Graues Gewölk hängt über dem Funkhaushof. Pausenlos rinnt der Regen herab. Die schmutzverkrusteten Sachen kleben den Männern an der Haut. Die feuchten Stiele der Hacken und Spaten rutschen widerspenstig durch die aufgescheuerten Hände. Die Rücken schmerzen. Schwer ist die nasse Erde. Tief muß sie ausgehoben werden für das Fundament. Als der Diesel dann steht und Strom spendet, weiß Erwin Wilke, daß ein noch wesentlich härteres Stück Arbeit vor den Männern liegt, als es dieser Einsatz gewesen ist. Die Strecke Weges, die es von nun an unter die Füße zu nehmen gilt, wird weniger schwer sein und doch mehr Energie und Ausdauer fordern. Nein, es ist nicht unbedingt sensationell, neue Maschinen zu bauen. Nur die erste ist ein besonderes Ereignis, das gefeiert wird. Am Abend trinkt er mit Renate und Tante Milda eine Flasche Wein. Es tut ihm gut, daß ihn die Frauen ein bißchen bewundern. Aufregung herrscht am nächsten Morgen: «Das Ding ist weg! Geklaut!» Welche Empörung und Enttäuschung! Nur Erwin Wilke verzieht keine Miene. Ist denn das zu fassen, daß es ihn kalt läßt, während sich die anderen heiser brüllen?
«Da muß die Polizei her!» «Wochenlang abgeschunden für nichts-!» «So eine Sauerei, da müssen doch alle geschlafen haben!» «Die hat doch keiner in die Tasche stecken können! Wenn ich den Pförtner erwische!» «Nun mal sachte, Jungs!» greift der Ingenieur jetzt beruhigend ein. «Das hat schon seine Ordnung mit der Maschine. Die hat sich keiner unter den Nagel gerissen. Und wir? Wir bauen eine neue, sofort!» Die Männer schweigen, schauen ihn an, verblüfft, nachdenklich. Der eine oder der andere mag ahnen, was wenige eingeweihte Genossen beschlossen haben, wohl wissend, wie trügerisch die momentane Ruhe ist. Sie haben beschlossen, daß die Geräte und Aggregate aus dem Westsektor gebracht werden müssen! Den Technikern aber genügen Wilkes karge Erklärungen. Er hat ihr Vertrauen, und sie vertrauen ihm nicht blind; die Erfahrung, daß Wilke stets sagte und tat, was ihnen nützte, beruhigt sie. Sie fragen nicht weiter. Sie bauen neue Geräte und verlieren kein Wort mehr darüber, wenn sie über Nacht verschwunden sind. Sie haben sogar aufgehört, sich darüber zu wundern, daß der Chef jetzt so oft nicht da ist. Aber sie machen ihre Arbeit. Erwin Wilke kann sich auf sie verlassen. Die Männer und Frauen wissen, daß das wieder einmal einer der Versuche ist, die Sendetätigkeit des Berliner Rundfunks lahmzulegen, obwohl es einen Vertrag zwischen der Deutschen Post und der Westberliner BEWAG gibt, der die notwendige Stromzufuhr für den Sender garantiert. Der Berliner Magistrat protestiert beim Westberliner Reuter-Magistrat gegen die Will-
kürmaßnahme. Und der Protest hat Erfolg. Die BEWAG muß nach vierzehn Tagen wieder Strom in das Funkhaus liefern. Während Werner Klein im Cutterraum schnell noch einen «Versprecher» aus seinem Reportage-Tonband schneidet, Helmut Koch mit dem «Großen Chor des Berliner Rundfunks» probt, wird am Ufer der Dahme in Grünau das moderne Gebäude eines ehemaligen Ruderklubs zu einem Funkhaus des Berliner Rundfunks eingerichtet. «Aber ich habe Ihnen doch schon gesagt, das ist beim ersten völlig normal! Fragen Sie heute abend noch einmal nach.» Die Oberschwester in der Charite legt resolut den Telefonhörer auf und überläßt den «werdenden Vater» Horst Baumert seinem Schicksal. Horst findet es aber keineswegs normal, daß ihn sein Kind bereits vierundzwanzig Stunden warten läßt. Die Kollegen im Funkhaus werden schön enttäuscht sein, daß die Feier des «freudigen Ereignisses» noch nicht stattfinden kann. «Heute abend», seufzt er in sich hinein. Das bedeutet, acht Stunden dem gutgemeinten Spott der Männer ausgesetzt zu sein, und zu Hause wird Tante Milda sagen: «Stell dich doch bloß nicht so an!» Dabei ist die gute Seele gar nicht so ruhig, wie sie tut. Aber davon, wie rasch man bei seiner kniffligen Arbeit zwei linke Hände kriegen kann, wenn die Gedanken zu Renate in die Charite spazieren gehen, davon hat sie natürlich keine Ahnung. Ich hätte doch Urlaub nehmen sollen! Horst verwirft den Gedanken ebenso schnell, wie er in ihm aufgetaucht ist. Wilke im Stich lassen? Gerade jetzt, wo jeder dringend gebraucht wird? Nein! Er flüchtet sich in die Vorstellung künftiger Vaterfreuden. Sieht neben
sich ein blondlockiges Etwas trippeln. Hört sich mit einigem Stolz sagen: «Ja, meine Tochter», und seine Freunde werden vielleicht spöttisch-heiter feststellen: «Ganz die Mama - nur die Augen hat sie von dir.» Wäre Horst Baumert an diesem Junitag 1952 nicht so völlig seinen Träumen hingegeben, hätte er schon von weitem gesehen, was ihn jetzt jäh in die Wirklichkeit zurückstößt: Rings um das Funkhaus zieht sich Stacheldraht. Dicke Rollen davon liegen auf der Masuren-allee, um den Verhau noch zu verstärken. Rostige Schienenstücke türmen sich auf, verbeulte Benzintonnen vervollständigen die Sperre. Dahinter schußbereit britische Soldaten. Horst Baumert traut seinen Augen nicht, tritt so dicht heran, daß er den Draht berühren kann. Er greift fest zu, als müßte er sich durch den Schmerz, mit dem sich die spitzen Stacheln in seine Haut bohren, erst vergewissern, daß dieses Bild des Krieges Wirklichkeit ist! «Stop!» herrscht ihn einer der Bewaffneten an. Die beiden anderen, junge Leute noch, die flachen Mützen tef in die Stirn geschoben, sehen nicht aus, als ob sie begriffen hätten, weshalb sie hier stehen. Trotz des weißen Lederzeugs erinnern sie Horst an sich selbst und die Jungen in der Flakstellung, damals im April 1945. Der Deutsche aber, in der Uniform der Westberliner Polizei, holt drohend mit dem Gummiknüppel aus. «Hau ab!» brüllt er ihn an. Die britischen Soldaten sagen gelangweilt: «Go home, boy, go home.» «Zieh Leine!» brüllt der Polizist noch einmal. Horst Baumert denkt nicht daran wegzugehen. «Was ist hier eigentlich los? Ich muß ins Funkhaus. Ich arbeite hier!»
Der Wachtmeister lacht zynisch. «Weiß ich! Für die Kommunisten! Hast gearbeitet! Und das die längste Zeit! Damit ist Schluß jetzt! Verzieh dich in deine sogenannte DDR, aber schleunigst!» «Ich denke gar nicht daran! Laßt mich durch!» Der Wachtmeister kommt einige Schritte näher an ihn heran. Er stellt sich breitbeinig vor ihm auf. «Schön ruhig, Baby! Sei froh, daß du nicht mit im Funkhaus sitzt. Deine Kumpane hungern wir nämlich aus. Ihre Russenpropaganda wird ihnen schon noch vergehen. Und nun mach, daß du wegkommt! Hau ab!» Er bückt sich nach zwei faustgroßen Schottersteinen, zielt auf eines der Fenster des Funkhauses. Die Soldaten grinsen, wenden aber kaum ihre Köpfe. «Okay», sagt der eine nur. Klirrend zersplittert Glas. Das geschieht am ersten Arbeitstag nach Pfingsten.
3. Juni 1952. Britische Militärpolizei blockiert das Funkhaus in der Masurenallee
Großen Vorrat an Bändern für die verschiedenen Sendungen haben sie im Funkhaus natürlich nicht. Auch an aktuellem Material fehlt es ihnen. Wie es aber heranschaffen? Seit den frühen Morgenstunden hält ein etwa zweihundert Mann starkes Kommando der britischen Militärpolizei und der Stumm-Polizei das Gebäude umzingelt. Sie ziehen einen Stacheldrahtverhau in einer Länge von fast zwei Kilometern durch die Straßen Masurenallee - Messedamm - Soorstraße - Kaiserdamm. Das Funkhaus ist völlig von der Außenwelt abgeschnitten. Trotzdem geht der Betrieb im Innern zügig weiter. Keiner der Rundfunkleute ängstigt sich oder verläßt seinen Arbeitsplatz. Karl Eduard von Schnitzler bringt noch am selben Tag mehrere Reportagen von der Blockade und entlarvt die Drahtzieher. Erste Meldungen besagen, daß der Befehlshaber der britischen Besatzungstruppen in Westberlin, Brigadier Stephens, den Führer des sowjetischen Wachkommandos im Funkhaus darüber informiert: Auf Befehl des Militärkommandanten des britischen Sektors, General Coleman, darf niemand, auch kein sowjetischer Militärangehöriger, das Gelände und das Gebäude betreten. Personen, die das Funkhaus verlassen wollen, dürfen ungehindert passieren. Der Vertreter der sowjetischen Kontrollkommission, Generalmajor Dengin, erhebt sofort bei dem britischen General Einspruch gegen die den Frieden in Europa bedrohende Provokation. Das hat zur Folge, daß der Zugang zum Funkhaus in der Masurenallee bis einschließlich 11. Juni des Jahres freigegeben wird und danach Erleichterungen eintreten.
Die Angestellten des Berliner Rundfunks und des Deutschlandsenders aber verlassen ihren Posten nicht. Die Steine des Stumm-Polizisten bleiben nicht die einzigen, die in die Fenster des Funkhauses geworfen werden. Eine von der Westberliner Reaktion aufgeputschte Horde, meist Jugendliche, wütet mehrere Tage lang vor dem Stacheldraht. Trotz aller Schikanen sind die Männer und Frauen im Funkhaus ihren Belagerern überlegen; sie verlieren nicht einmal ihren Humor. Das Hemd kann Karl Eduard von Schnitzler nicht wechseln, aber jedesmal, wenn er einem britischen Offizier gegenübersteht, hat er eine andere von den Genossen ausgeborgte Krawatte um. konnte. Alle Sicherungsmaßnahmen waren doch vorschriftsmäßig. Die Untersuchungen am nächsten Tag bringen das Verbrechen an's Licht. Ein Saboteur hatte sich eingeschlichen, der in das Kanalsystem der Klimaanlage mehrere Brandsätze legte. Für dieses Verbrechen hat er sich nun vor den Sicherheitsorganen unserer Republik zu verantworten. Der Große Sendesaal, das Hauptstück dieses Gebäudes, wird aber für Monate nicht mehr benutzt werden können. Ein Jahr danach, der Brandstifter ist hart bestraft worden, durchbrausen die Klänge der Rundfunkorgel den Großen Sendesaal. Mehrere Monate vor dem Termin der Fertigstellung ist es den Werktätigen gelungen, den Sendesaal wieder aufzubauen. Ehrengäste des Eröffnungskonzertes sind all jene, die ihn und die anderen Räume, die das Feuer vernichtete, haben erstehen lassen. Obwohl es zeitweise gelang, den Sendebetrieb des
Demokratischen Rundfunks zu beeinträchtigen, scheiterten doch die Versuche des Klassengegners an der Kraft unserer Gesellschaft, scheiterten an der festen Zusammenarbeit der Bürger unserer Republik und der Sowjetunion. Sommer 1972. Sonnenstrahlen streicheln die Stadt an der Spree. Der rotweiße Mast über der Silberkugel des Fernsehturmes piekt übermütig in eine kleine weiße Wolke. Auf dem Gelände in der Nalepastraße stehen jetzt mehrere Gebäude, technisch ebenso vollkommen ausgerichtet wie die 15 Funkhäuser und Studios in den Bezirken unseres sozialistischen Staates. 40 UKW-, 22 Mittelwellen- und l Langwellensender strahlen ihre Programme weit über unsere Grenzen. Der Auslandsender «Radio Berlin International» gibt Journalisten und Technikern aus den Nationalstaaten Möglichkeiten, hier in Berlin ihre Kenntnisse zu erweitern. Dem Ziel der Völkerfreundschaft dienen ebenfalls die engen Kontakte, die der Deutsche Demokratische Rundfunk mit über 100 Sendestationen in mehr als 70 Ländern pflegt. Durch ihre hochentwickelte Übertragungstechnik gewinnt die DDR zunehmend an internationaler Bedeutung als Transitland für den Programmaustausch zwischen den europäischen Stationen. 70 Minuten dauerte die erste Sendung, damals, am 13. Mai 1945 - rund 1300 Sendestunden werden heut wöchentlich ausgestrahlt, über 600 Minuten aktuelle Kurzinformationen in 87 deutschsprachigen Nachrichtendiensten! - Artur Mannbars Traum hat sich erfüllt. Er hat seine Rundfunkarbeit in jüngere Hände gelegt und übt eine leitende Funktion beim Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst aus. Weltberühmt wie das Berliner
Rundfunksymphonieorchester sind auch die Berliner Rundfunkchöre und das Kammerorchester Berlin unter der Leitung ihres Chefdirigenten Professor Generalmusikdirektor Helmut Koch. Namhafte Wissenschaftler und Schriftsteller stehen immer wieder vor unseren Mikrofonen. Auch Professor Matthäus Klein. Der Weg bis zu diesen Erfolgen ist hart gewesen. Keiner hat sich geschont. Keiner denkt daran, sich nun auszuruhen, wenn auch mancher aus jener Gruppe deutscher Antifaschisten, die vor siebenundzwanzig Jahren die erste Sendung der neuen Zeit in den Äther gesprochen hat, seine Funkarbeit durch jüngere Hände gut weitergeführt weiß. Zu diesen ersten Aktivistendes Deutschen Demokratischen Rundfunks gehören auch Cläre Jung, Erwin Wilke und Werner Klein. Für Horst Baumert wird unvergessen bleiben, was er im Mai 1945 gehört hat, was ihm Mut gegeben hat für einen neuen Anfang: die drei Worte «Hier spricht Berlin».