Gary K. Wolf
Zwischen hier und nirgendwo
Science Fiction-Roman
BASTEI LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Ficti...
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Gary K. Wolf
Zwischen hier und nirgendwo
Science Fiction-Roman
BASTEI LÜBBE
BASTEI-LÜBBE-TASCHENBUCH Science Fiction Action Band 21 139 © Copyright 1979 by Doubleday & Company All rights reserved
Deutsche Lizenzausgabe 1981 Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch Gladbach Originaltitel: THE RESURRECTIONIST Ins Deutsche übertragen von Andreas Brandhorst Titelillustration: Fawcett Books. Umschlaggestaltung: Quadro-Grafik, Bensberg Druck und Verarbeitung: Mohndruck Graphische Betriebe GmbH, Gütersloh Printed in Western Germany ISBN 3-404-21139-1
Eine sensationelle Erfindung hat die Technik der Personenbeförderung revolutioniert. Es ist die „Brücke“, eine Art Leitungssystem, das die Erde überspannt. Der Reisende wird elektronisch „zerlegt“ und auf diese Weise durch die Leitungen geschickt, um am Zielort im umgekehrten Prozeß wieder zusammengesetzt zu werden. Diese Transportart erfreut sich steigender Beliebtheit, bis eine russische Primaballerina auf einer solchen Reise unterwegs »verlorengeht«. Ein Fall für Saul Lukas, Spezialist für heiße Kastanien, die er für andere aus sämtlichen Feuern holt.
DANKSAGUNG
Für die technische Beratung und seine Geduld gebührt Ed Lee, Präsident der Pro-Log Corporation, mein besonderer Dank. Teile des Kapitels 22 erschienen in ein wenig abgewandelter Form als Story »The Bridge Builder« in Orbit 14, Copyright 1974 by Damon Knight.
I
Eingehüllt in eine Aura aus Autorität betrat die TransporterHosteß den Warteraum. Sie trug die gestärkte, silberblaue Uniform der Brückengesellschaft. »Es ist soweit«, wandte sie sich in fehlerlosem Russisch an ihren Schützling. Sie überreichte ihrem Mündel eine folienumwickelte Kapsel und einen Kristallkelch mit Wasser. Galina Rosmanov schnippte den kräftigen amerikanischen Zigarillo in den marmornen Aschenbecher, erhob sich und glättete sorgfältig die Falten ihres entschieden nichtsozialistischen, maßgeschneiderten Wollrocks, des Kaschmirpullovers und ihrer Kalbslederjacke. Als Zugeständnis zur laufenden russischen Kampagne, Rußlands Prominente sollten sich bäuerlich kleiden, um so ihre große Verbundenheit mit dem gemeinen Volk zu zeigen, legte sie sich ein Kopftuch um. Es war aus reiner Seide. In einer exklusiven Boutique am Union Square von San Franzisko hatte sie hundert Dollar dafür bezahlt. Galina nahm die Kapsel entgegen, löste die Folie und nahm sie mit einem hastigen Schluck Wasser ein. Ohne diese Kapsel würde die Rückholzeit nach der Reise durch die Kanäle langweilige vierundzwanzig Stunden dauern, ganz unabhängig davon, wieviel Zeit die Reise selbst in Anspruch nahm. Die Kapsel, die in der Hauptsache Stimulanzien und gefäßerweiternde Lösungen enthielt, reduzierte diese Rückholzeit, die Zeit, in der sich der Körper von Transmission erholte, auf sechzig Minuten. Galina verließ den Warteraum und trat in den Korridor, der zu den Transportern führte. Sofort stürzten sich die Reporter
auf sie. Sie bettelten um Klatsch-Leckerbissen wie Tauben im Park um Erdnüsse. »Miss Rosmanov, trifft es zu, daß Sie um politisches Asyl ersuchen wollen und zwar in…« »Hier spricht Harry Kile von den ›CBS Evening News‹. Ich bin hier in Mexiko mit Galina Rosmanov, der weiteberühmten Tänzerin vom Kirov-Ballett. Sagen Sie uns, Galina…« »Hallo, Süße. Zeigen Sie uns Ihr nettes Lächeln. Kommen Sie, zeigen Sie uns ein richtiges Strahlen, ‘n hübsches Mädchen wie Sie kann doch ruhig zeigen, was es hat. Nun kommen Sie schon. Was ist denn dabei…« »Galina, Sie hatten ein paar interessante Romanzen mit einigen prominenten Politikern. Können Sie mir verraten – von einer Frau zur anderen – wer der beste von ihnen war…?« Die dünnen Absätze der Reporterin klackten über den Steinboden, als Galina ihren Schritt beschleunigte und die Journalisten hinter sich ließ. Sie trat durch eine Dickglastür, die die Hosteß für sie offenhielt, eine von sechs Türen, auf denen »Richtung: Washington« zu lesen war. Die Hosteß folgte Galina, schloß und verriegelte die Tür. Die Reporter blieben zurück und preßten sich dicht an das Glas, wie Goldfische, die versuchten, aus ihrer Kugel in die Illusion grenzenloser Freiheit zu entkommen. Der Transporter war eine kathedralenähnliche Konstruktion aus Rauchglas und Chrom mit einer Fläche von rund zehn Quadratmetern und nahm das hintere Drittel des Raumes für sich in Anspruch. Gerade war ein Passagier hineingetreten. Blauer Dunst füllte den Transporter aus, löste sich dann wieder auf. Der Passagier war verschwunden, durch das Leitungssystem auf dem Weg nach Washington. Galinas Hosteß begann ihren einstudierten Instruktionsvortrag. Ihr Russisch war fließend und nicht hölzern. Aber das war auch kein Wunder. Die
Brückengesellschaft hatte eine ganze Menge Geld in ihrer Schulung investiert; damit sie Dinge sagen konnte, die sie nicht verstand, zu Leuten, die es nicht interessierte. »Sie werden ein kurzes Brennen verspüren, nichts Unangenehmes, einen heißen Schauer, und schon sind Sie da. An Ihrem Ziel werden Sie sich ein wenig schwindelig fühlen. Haben Sie keine Angst, das ist völlig normal. Eine andere Hosteß wird Sie erwarten, um sicherzustellen, daß Sie nicht stolpern und fallen. In einem Aufenthaltsraum werden Sie sich eine Stunde ausruhen und sich einer einfachen medizinischen Untersuchung unterziehen. Sie wird Ihre vollständige Erholung bestätigen, und dann können Sie gehen.« In Gedanken ging die Hosteß noch einmal die Checkliste durch, um auch nichts zu vergessen. Wie gewöhnlich hatte sie nichts übersehen. Sie war eine der besten Hostessen für die ihr Anvertrauten, Stellvertreterin der Brückengesellschaft, Sinnbild für Zuverlässigkeit, und ihre Aufgabe war es, dafür zu sorgen, daß die Vorschriften strikt eingehalten wurden, während sie ihr freundlichstes Lächeln zeigte. »Haben Sie noch Fragen?« Galina schüttelte den Kopf. »Noch einmal, um ganz sicherzugehen: Haben Sie während der letzten Stunde irgendein alkoholisches Getränk oder Tranquilizer zu sich genommen?« Beruhigungsmittel minderten die Wirkung der Kapsel und führten dazu, daß sich die Rückholzeit verlängerte. Prominente vergaßen meistens, sich dieser Dinge zu enthalten. Wieder wurde der Kopf geschüttelt. »Gut. Und haben Sie die Pille genommen? Ganz bestimmt?« Es war erstaunlich, aber viele Leute hatten mehr Angst vor der Kapsel als vor dem Leitungsgeflecht. Galina nickte. »Wunderbar. Paß und Visa? Eine letzte Kontrolle.«
Galina entnahm das Gewünschte ihrer Gucci-Tasche und zeigte es ihr. Auf dem Plastikvisa war eine rot-weiß-blaue Prägung sichtbar. Der Paß wies Hammer und Sichel auf, und im Innern war ein schrecklich körniges Foto. Das Dokument war so voller Stempel, daß die US-Beamten wahrscheinlich eine zusätzliche Seite einfügen mußten, um das Emblem des nicht gerade kleinen fliegenden Adlers unterbringen zu können. »Ausgezeichnet. Sobald Sie vollständig erholt sind, werden sich die Einwanderungsbehörden sofort um Sie kümmern. Ich habe sie bereits informiert, so daß Sie nicht sehr viele Umstände haben werden.« Über ihren Köpfen blinkte ein rotes Licht auf. »Das bedeutet, daß alles zum Wiegevorgang bereit ist. Bevor Sie gehen, möchte ich Ihnen sagen, daß es mir ein Vergnügen war, Ihnen zu helfen, und im Namen der Brückengesellschaft wünsche ich Ihnen eine reibungslose und angenehme Reise.« Die Hosteß zeigte ein offenes, ehrliches Lächeln. Nach diesem Passagier war ihre Schicht beendet, und sie konnte sich auf ihr wichtiges Rendezvous in Toronto vorbereiten, das für diesen Abend vorgesehen war. Galina betrat den Wiegeraum. Ihr Gepäck, ein beige-rot gestreifter Gucci-Reisekoffer, der zu ihrer Tasche paßte, und ein oliv-khakifarbener Kabinenkoffer, erwartete sie bereits. Ein Förderband hatte es hierher transportiert. Galina trat auf die große elektronische Waage. Der Transferierer ermittelte ihr Gewicht mit 43 Kilogramm und speiste die Daten in sein Programm. Der Reisekoffer wog 16 Kilo, der Kabinenkoffer 22. Er gab auch diese Daten in sein Programm ein. Dann checkte er das gesamte Reisegewicht noch einmal sorgfältig durch. In gewisser Weise ähnelte die Materie-Transferierung dem Billard.
Das Problem war, den Passagieren gerade so viel Bewegungsimpuls zu geben, daß sie ihren Bestimmungsort erreichten. Gib ihnen zuviel, und sie schießen übers Ziel hinaus, zu wenig, und sie bleiben im Leitungsgeflecht stecken. Die Intensität des Abstrahlimpulses hing direkt vom Gewicht ab. Deshalb war beim Wiegen absolute Präzision nötig. Ein Fehler von nur einem halben Prozent konnte fatale Folgen haben. Als er sicher war, daß die Daten stimmten, führte der Transferierer Galina in eine gläserne Isolationszelle, eine von dreien, die direkt zum Transporter führten. Ihr Gepäck folgte auf dem Förderband nach. Der Reisende direkt vor Galina, innerhalb des Transporters, war bereit zur Abstrahlung. Der schon bekannte blaue Nebel füllte die Konstruktion, und der Passagier verschwand. Materie, die durch das Leitungsgeflecht transferiert wird, hat die Tendenz, sich mit zunehmender Entfernung auszudehnen. Deshalb ließen sich nur sehr wenige Passagiere direkt zu ihren Zielen abstrahlen. Die meisten durchliefen ein komplexes Netz von Sammelstationen, wo ihre zerlegten Körper wieder zusammengesetzt wurden. Zwischen Mexico City und Washington gab es zwölf solcher Stationen, und sie nahmen volle drei Minuten der Fünf-Minuten-Reise in Anspruch. Die Ankunftskontrolle des Transferierers blinkte auf und zeigte damit an, daß der letzte Passagier sicher in Washington angekommen war. Er betätigte die Taste, die die Glastür öffnete und Galina Zutritt zum Transporter gestattete. Sie trat ein. Ihr Gepäck fiel von dem Förderband in einen bereitstehenden Behälter. »In Washington ist es heute kalt und sonnig; die höchsten Temperaturen liegen um null Grad, die niedrigsten in der kommenden Nacht um minus zehn«, sagte der Transferierer fröhlich, während er seine letzten Justierungen vornahm. »Ich
hoffe, Sie tragen warme Unterwäsche.« Er berührte den Knopf, der Galina auf die Reise schickte. Die Sendeanzeige erlosch. Aber die Ankunftskontrolle leuchtete nicht auf. Fünf, sechs, sieben Minuten. Viel zu lange. Irgend etwas war schiefgegangen. Plötzlich flammten alle Fehlfunktionsindikatoren auf dem Kontrollpult des Transferierers gleichzeitig auf. Das elektronische Äquivalent eines verzweifelten Schreis. Mit der einen Hand betätigte der Transferierer den Aktivator für die Reservesysteme, mit der anderen den Alarmauslöser. Innerhalb weniger Augenblicke meldete sich Ralph Ferguson, Sicherheitsdirektor der Brückengesellschaft, per Telefon aus der Zentrale in Washington, D. C. »Sir«, brachte der Transferierer mühsam hervor, »ich befürchte, wir haben einen Code Eins hier in Mexico City.« In dem Materietransport-Geschäft konnte es nichts Schlimmeres geben.
II
Eine halbe Stunde später traf Saul Lukas in Mexico City ein. Die Brückengesellschaft zahlte Saul Lukas ein EinMillionen-Dollar-Jahreshonorar. Als Gegenleistung lieferte er eine ziemlich schwer zu erklärende Leistung. Er war kein Ingenieur. Es wäre ihm sogar sehr schwergefallen, die Arbeitsweise einer Brücke mit anderen als sehr einfachen Worten zu beschreiben. Er hatte keinen Collegeabschluß – nicht mal den einer einfachen Schule –, und deshalb hatte er nie eine leitende Stellung innegehabt. Sein zügelloser Individualismus und sein Widerwille, Anweisungen zu befolgen, machten ihn zu einem denkbar schlechten Kandidaten für einen Direktionsposten. Aber Saul hatte etwas, dem die Brückengesellschaft mehr Bedeutung zumaß als etwa einem Handelsschulabschluß oder einem MBA∗. Saul hatte eine Art sechsten Sinn, eine überaus effektive Methode, Probleme zu beseitigen, und die Probleme, mit denen sich die Brückengesellschaft herumschlagen mußte, waren nicht gerade unbedeutend. Nach der gutgehüteten Statistik der Brückengesellschaft hatten Passagiere nach genau 18850000 Transferierungen eine gute Chance, im Leitungsgeflecht steckenzubleiben. Sauls Funktion: Sie wieder herauszuholen. Lebend. In der Personalstruktur führte die Brückengesellschaft Saul nahe der Spitze der Pyramide, in einer Abteilung mit der Bezeichnung ›Sicherheitsberatung‹. Aber die Direktoren der Gesellschaft sprachen von ihm als dem Wiedererwecker, dem ∗
akademischer Grad in Wirtschaftswissenschaften (Anm. d. Übers.)
Mann, der die lebenden Toten aus dem elektrischen Fegefeuer errettete. Er war nur Michelle Warren gegenüber verantwortlich, der Präsidentin der Brückengesellschaft. Sie glaubte an die Notwendigkeit von Prioritäten, und sie war es gewesen, die die Praxis begründet hatte, vermißte Passagiere nach ihren Berufen, der Größe ihrer Familien, ihren Heimatstädten und insbesondere ihrer Wichtigkeit und Bedeutung – auch ihrer Verwandten – einzuschätzen. Die Codes Zwei, Drei und Vier betrafen Studenten, die in den Ferien nach Hause reisten, Großmütter, die ihre Erben besuchen wollten, Vertreter, die geschäftlich unterwegs waren. Jene Leute, die vielleicht einmal in ihrem Leben Schlagzeilen auf der ersten Seite machten, dann aber wieder der Vergessenheit anheimfielen. Ein Code Eins kennzeichnete einen Prominenten. Einen möglichen, internationalen Zwischenfall. Eine Titelstory im Time-Magazin, die eine Verschärfung der Sicherheitsbestimmungen hinsichtlich der Technik der Materie-Transmission verlangte. Ein Untersuchungsausschuß des Kongresses, der sich mit den Sicherheitsmaßnahmen der Brückengesellschaft befaßte. Saul spottete öffentlich über diese Einstufung und hielt sich in keiner Weise an sie. Das Leitungsgeflecht machte alles und jeden gleich. Im Innern der fingerdicken Kupferkanäle, den goldenen Highways, hatten sozialer Status, Einfluß und Vermögen keine Bedeutung mehr. Die einzige Sache, die für die im Leitungsgeflecht Gefangenen von Bedeutung war, war das undefinierbare Talent von Saul Lukas, einem sechsunddreißig Jahre alten Ex-Bullen aus Cincinnatti, der auf der ganzen Linie ein Code Vier war. Eine Reise durch das Leitungsgeflecht erhöhte die Temperatur eines Erwachsenen um drei oder vier Grad. Saul
erwachte im Warteraum mit leichtem Fieber. Er schüttelte seinen schlanken, hochgewachsenen Körper, um die Steifheit aus den Gelenken zu vertreiben. Er fühlte sich wie neugeboren, ein wenig euphorisch, wie immer, wenn man durch die Kupferkanäle gerast war. Diese Empfindung war zum Teil eine Nachwirkung der Kapsel, zum Teil beruhte sie aber auch auf einer tatsächlichen physischen Regneration. Die Befürchtungen, daß sich eine Transferierung schädlich auf den menschlichen Metabolismus auswirkte, hatten sich als völlig unbegründet erwiesen. Statt dessen war das Gegenteil eingetroffen. Krankes Gewebe rematerialisierte nicht in dem Maße wie gesundes. Eine Reise durch das Leitungsgeflecht konnte keinen Krebs heilen, aber für Schnittwunden, Akne und Hämorrhoiden war es die denkbar beste Heilungsmethode. Als Saul eintraf, konferierte Ralph Ferguson bereits mit einigen Ingenieuren. »Saul. Ich freue mich, Sie wiederzusehen.« Er streckte seine rechte Hand mit dem Widerwillen eines Mannes aus, der in einem Müllsack nach einer verlorengegangenen Salatgabel suchen mußte. »Wie geht’s Ihnen, Ralph?« Saul rieb sich die Stirn, und der Schatten seiner Hand ließ die Narbe über seinem Auge tiefer erscheinen, als sie war. Die krumme Nase deutete auf mehr als eine Begegnung mit einer Faust hin. Er griff nach Ralphs Hand wie nach einem Halt, erhob sich von der Liege und steuerte, mit Ralph an seiner Seite, auf die Aufenthaltsräume zu, die, wie in allen Brückenterminals, kreisförmig um die zentrale Energienabe angeordnet waren. »Wer ist es?« fragte Saul. »Galina Rosmanov.« Ralph setzte voraus, daß allein der Name der Frau jedermann genügte, um sofort zu wissen, um wen es sich handelte.
Aber Saul und Ralph lebten in zwei verschiedenen Welten. Opernhäuser und Polofelder standen Billard- und Basketballhallen gegenüber. »Na, und wer ist das?« »Kennen Sie Galina Rosmanov nicht? Die Ballerina? Vom russischen Kirovballett?« Saul schüttelte den Kopf. Die einzigen Tänzerinnen, denen er zuschaute, traten oben ohne auf und trugen Strapse. »Wohin war sie unterwegs?« »Letzte Nacht tanzte sie im Palast der Schönen Künste hier in Mexico City. Sie war auf dem Weg nach Washington, D. C. An diesem Wochenende wollte sie zusammen mit Alexei Drashow Romeo und Julia im Kennedy Center tanzen. Ich habe mir schon Karten besorgt.« Ralph hatte für das Paar Eintrittskarten den Wucherpreis von 400 Dollar bezahlt und wochenlang vor seinen Freunden damit angegeben. Da die meisten von ihnen Kultur nach dem Kostengesichtspunkt beurteilten, hielten sie ihn natürlich für einen ausgesprochen anspruchsvollen Genießer. »Was hatte sie bei sich?« »Einen Reise- und einen Kabinenkoffer.« Ralph überreichte Saul einen Computerausdruck, der drei Gewichtsangaben aufwies. Seit sich die Technik der Materie-Transferierung nur noch mit der Masse beschäftigte, machten die Ausdrucke keinen Unterschied mehr zwischen Galina Rosmanov und ihrem Gepäck. Nach Sauls Ansicht war dies typisch für die Einstellung der gesamten Brückengesellschaft. »Was ist mit Michelle?« erkundigte sich Saul. »Sie wird in etwa einer Stunde hier sein. Sie hat noch einige geschäftliche Dinge zu erledigen.« »Das hat sie immer.« Saul sprach aus Erfahrung. Michelle war seine Ex-Frau. Dann betraten Ralph und Saul die AbreiseSektion. Schwärme von Reportern – viele von den Journalisten waren vor noch nicht zwei Stunden Galina Rosmanov den
selben Korridor hinunter gefolgt – stürzten sich auf sie und bestürmten sie mit Fragen. Ralph gab einige aalglatte, nichtssagende Kommentare. Situation unter Kontrolle. Geringfügige Fehlfunktion. Haben sie bald wieder draußen. Nichts, worum man sich Sorgen machen müßte. Saul, der sich mehr mit der praktischen Seite als mit Public Relations befaßte, wußte es besser, sagte aber nichts. Wächter der Brückengesellschaft riegelten den Gang ab, der zu den Türen mit der Aufschrift »Richtung: Washington« führte, und ließen nur noch Passagiere durch, die die Tickets zeigten. Ralph und Saul traten durch die mittlere Tür ein, dieselbe, die auch Galina Rosmanov benutzt hatte. Der Transporter glühte in einem rötlichen Orange, das die Abschaltung kennzeichnete. Wie alles andere in dem Transferierungssystem existierte auch hier ein Ersatzsystem, so daß die Transmissionen ohne Unterbrechung weiterlaufen konnten. Der Reserve-Transporter befand sich hinter einer getönten Plexiglas-Trennwand. Er wurde nicht von sehr vielen Passagieren benutzt. Die Nutzungsfrequenz betrug bestimmt weniger als die Hälfte der normalen. Nach einem Unfall ließ der Verkehr immer ganz plötzlich nach. Gerüchte machten die Runde. Sie wirkten wie Schreie aus dem Behandlungsraum eines Zahnarztes. Dann wollte niemand der nächste sein. Der Transferierer, der Dienst gehabt hatte, als Galina Rosmanov verschwand, saß an einer Seite und vergrub sein Gesicht in den Händen. Ein Rechtsanwalt, der ihm von der Gewerkschaft zugeteilt worden war, stand neben ihm und hatte ihm mitfühlend eine Hand auf die Schulter gelegt. Eine Ausbuchtung unter dem Arm des Rechtsanwalts verriet die Gegenwart eines geräuschgesteuerten Taschenrecorders, der dazu in der Lage war, jede Unterhaltung in einem Radius von drei Metern aufzuzeichnen. »Was ist passiert?« fragte Saul den Transferierer.
»Ich habe meinen Klienten instruiert, solange auf keine Fragen Auskunft zu geben, bis der Prüfungsausschuß einberufen ist«, entgegnete der Anwalt. Die Federal Transportation Agency, jene Behörde, die die Arbeit der Brückengesellschaft überwachte, würde einen Ermittlungsausschuß einsetzen, der die Ursache des Unglücks zu untersuchen hatte. Wenn dem Transferierer eine Schuld zugestanden wurde, dann war eine mögliche Verurteilung denkbar, die sich von Fahrlässigkeit bis hin zu fahrlässiger Tötung erstrecken konnte. »Bis dahin haben wir nichts zu sagen.« Der Anwalt schob das Kinn vor und hob die Schultern. Weiß getüncht und nur bis zur Brust sichtbar hätte er ein weiteres Duplikat der Tausenden von Büsten sein können, die in den Korridoren der tausend juristischen Fakultäten aufgestellt waren. »Das Leben einer Frau steht auf dem Spiel«, erinnerte ihn Saul. »Während wir legale Spitzfindigkeiten diskutieren, schwebt sie wahrscheinlich irgendwo im Niemandsland. Um sie herauszubekommen, muß ich wissen, was eigentlich geschehen ist. Und ich muß es jetzt wissen, nicht nach der ersten Anhörung des Untersuchungsausschusses irgendwann nächste Woche.« »Die Vertragsbestimmungen sehen vor…« »Ich pfeife auf die verdammten Vertragsbestimmungen.« Saul deutete mit dem Finger auf den Transferierer. Während der Anwalt die vornehme Geziertheit der Rechtswissenschaft in irgendeinem Harvard-Klassenraum erlernt hatte, hatte sich Saul mit einem Streifenwagen in den dunklen Seitenstraßen von Cincinnati herumgetrieben und einige wirksamere Methoden zur Einhaltung von Gesetz und Ordnung praktiziert. »Wenn die Frau irgendwo dort drinnen stirbt, dann werden Sie wegen fahrlässiger Tötung verurteilt und werden den Rest Ihres Lebens damit verbringen, in Leavenworth große Steine in
kleine Steine zu zerhacken. Auf wen wollen Sie also hören? Auf Ihren Anwalt oder auf mich?« Der Transferierer, der niemals das Innere eines Gefängnisses gesehen hatte, stellte sich einen Zoo vor, vollgestopft mit eingesperrten Fleischfressern, die in dem Gestank ihres eigenen Kots erstickten, ruhelos auf und ab schritten, während ihre Wärter sie durch die Stahlgitter hindurch quälten. Für jemand, der seine Kenntnisse nicht aus erster Hand bezog, lag er überraschenderweise gar nicht einmal so falsch. »Ich werde Ihre Fragen beantworten.« »Mein Klient wird nur mit Ihnen sprechen, wenn keine Aufzeichnungen angefertigt werden«, sagte der Anwalt zu seinem Recorder. Für ihn teilte sich das Leben in zwei Kategorien. In die Anklage und in die Verteidigung. »Und nur aus Interesse an…« Saul ignorierte ihn. »Was ist geschehen?« Der Transferierer lehnte sich vor, legte die linke Hand auf das linke Knie, den rechten Ellenbogen auf den rechten Oberschenkel, als wolle er einem guten Kumpel beim Fischen von einem kapitalen Burschen erzählen, der ihm auf mysteriöse Weise durch die Lappen gegangen war. »Ich habe so etwas noch nie erlebt. Beim Training haben sie uns diese Computersimulationen über mögliche Fehlfunktionen gezeigt. Na ja, es hat damit angefangen, als hätte sie Übergewicht. Als wäre sie schwerer, als sie eigentlich hätte sein sollen. Die Nadeln der Frequenzanzeige zitterten, und die Abstimmimpulse wiesen eine Interferenz auf. Ein Bilderbuchbeispiel. Außer, daß es immer schlimmer wurde. Als hielten sich plötzlich zwei Galinas im Transporter auf, oder drei.« Er hielt die Hände etwa dreißig Zentimeter auseinander, streckte sie dann so weit auseinander, wie er konnte. »Als wäre sie plötzlich zu einem Riesen geworden. Als
hätten wir ihr Gewicht um mindestens eine Tonne oder mehr falsch eingeschätzt.« »Haben Sie die Gewichtsangabe zweimal geprüft?« »Natürlich. Es war alles in Ordnung. Wenn ich mich in ihrem Gewicht tatsächlich getäuscht habe, dann um nicht mehr als ein Hundertstel Gramm. Eine Erdnuß.« »Und Sie?« Saul wandte sich an Galinas Hosteß. »Sie waren bei ihr, bis sie verschwand?« Das war so üblich, wenn ein Prominenter verschickt wurde. »Ja, Sir.« Im Gegensatz zum Transferierer strahlte sie Ruhe aus. Sie hatte sich längst daran gewöhnt, das verdrehte Image einer Hosteß, das dem Zerrspiegelbild eines Menschen glich, zu akzeptieren. »Ich habe absolut nichts Ungewöhnliches bemerkt. Es funktionierte alles so reibungslos wie immer. Bis die Warnlichter aufflammten.« »Haben Sie an Galina Rosmanov etwas Ungewöhnliches bemerkt? War sie depressiv oder etwas in der Art?« Es war schon vorgekommen, daß einige Leute kurz vor der Transferierung ihr Gewicht veränderten. Eine Auflösung im Leitungsgeflecht war angeblich eine der angenehmsten Arten zu sterben. »Nein, eigentlich nicht. Sie hat nicht viel gesprochen, und sie machte einen schrecklich nervösen Eindruck. Als wäre sie vollkommen in Gedanken versunken. Aber sie war wirklich reizend. Nicht wie die anderen Prominenten. Sie folgte den Instruktionen aufs Wort. Keine Frechheiten, keine Beschwerden.« »Sie hat sich also nicht irgendwie außergewöhnlich benommen?« »Außer, daß sie so fügsam war, nicht.« Saul wandte sich Ralph zu. »Ich brauche Herman und Rosie.« Ralph besaß eine Notizbuch, in dem die persönlichen Vorlieben jeder wichtigen Person notiert waren, mit der er zu
tun hatte. Michelle Warren zum Beispiel füllte zwei Seiten. Saul hatte zwei Zeilen. Eine für Herman, eine für Rosie. Herman Lindstrom, ein junger, brillanter Ingenieur, verstand mehr von den technischen Aspekten der Materie-Transmission als jeder andere lebende Mensch. Rosie hatte das zweite Gesicht. Eine Fähigkeit, mit der sie die dünne Wand zwischen dem Hier und dem Überall durchdringen konnte. Sie nahm kein Entgelt für ihre Dienste an. Ihre Gabe war ihr von Gott gegeben, behauptete sie, und sollte darum nicht bezahlt werden. Anstatt sie also direkt zu bezahlen, ließ die Brückengesellschaft ihrem taoistischen, nichtkommerziellen Institut zur Entwicklung psychischer Heilmethoden regelmäßige Schenkungen zukommen. »Rosie ist gerade in der Erholungsphase. In fünfzehn Minuten müßte sie da sein. Und für Herman steht am Flughafen bereits ein Wagen bereit.« Herman setzte nie einen Fuß in einen Transporter. Allein die Vorstellung, in dem Leitungsgeflecht auf die Reise zu gehen, erschreckte ihn. Er reiste nur auf die altmodische Art und Weise: mit dem Flugzeug. Unnötig zu erwähnen, daß ihn die Brückengesellschaft von den Presseleuten fernhielt. Saul nickte und schritt die Treppe hinunter zur Computerabteilung, ein Matador, der sich anschickte, gegen einen unsichtbaren Stier zu kämpfen.
III
Sorgfältig überprüfte Saul die Aufzeichnungen über die Transferierung Galina Rosmanovs, die Impulsabgabe, die Videobänder. Er hatte nicht genug technischen Sachverstand, um dies auch entsprechend auszuwerten; das würde Herman später besorgen. Er hatte jedoch genügend einschlägige Kenntnisse, um sich einen allgemeinen Überblick zu verschaffen, und danach trafen die Aussagen des Transferierers zu. Er hatte die Vorschriften exakt eingehalten und die richtigen Knöpfe betätigt. Der erste Hinweis auf die Fehlfunktion hatte sich erst gezeigt, als Galina bereits abgestrahlt worden war, deshalb mußte der Fehler also irgendwo im Transportsystem liegen. »Sie.« Er deutete auf einen der in Ralphs Nähe herumstehenden Ingenieure. »Überprüfen Sie, ob alle Passagiere der letzten Stunde vollständig aus den Transportern herausgekommen sind, die mit diesem hier energetisch verbunden sind.« Im Anfangsstadium, damals, als die Brückengesellschaft noch nicht die narrensichere Isolierung entwickelt hatte, war es vorgekommen, daß Transferierte manchmal die Kanäle wechselten, in eine Parallellinie platzten und dann aus dem falschen Terminal herausstolperten. Aber schon seit Jahren war so etwas nicht mehr passiert, und Saul hatte auch nicht viel Hoffnung, daß es diesmal der Fall war. »Und vergessen Sie auch nicht die Privatanschlüsse«, fügte er hinzu. Auf der ganzen Welt gab es sechs private Transporter. Dem US-Präsidenten standen zwei zur Verfügung, einer im Weißen Haus, der andere im Wintersitz in Jacksonville. Ein weiterer befand sich in Moskau, noch einer in Peking. Der
fünfte stand in Michelle Warrens Haus in Big Sur. Der sechste Privattransporter war in Sauls Villen-Anwesen in Chumpato, Guatemala, aufgebaut worden. Saul wandte sich dem nächsten Ingenieur zu. »Führen Sie einen Energie-Check für jedes einzelne Terminal im ganzen System durch.« Das war eine gewaltige Aufgabe. Die Brückengesellschaft hatte in jeder Hauptstadt der Welt Transporter installiert. Außerhalb des nordamerikanischen Kontinents wurde mit Lizenzen gearbeitet. Ansässige Unternehmer lieferten Energie und Rohmaterialien, die Brückengesellschaft stellte die technische Ausrüstung und die Transferierer. Andere Staaten, insbesondere Rußland und Israel, hatten ihr eigenes Brückensystem entwickelt, aber deren Sicherheitseinrichtungen waren einfach schrecklich. Beide Netze wurden ständig von Fehlfunktionen und Wartungsproblemen heimgesucht. Die Brückengesellschaft lehnte es ab, sie an der patentierten Technik teilhaben zu lassen, die die Netze hätte in Ordnung bringen können. Das Resultat war, daß weder Rußland noch Israel auf dem Weltmarkt Fuß fassen konnten, der absolut zuverlässige Sicherheitssysteme verlangte. »Achten Sie auf unerklärliche Energieimpulse. Beginnen Sie mit diesem Netz, Relais für Relais, bis alles überprüft ist. Vielleicht ist sie irgendwo rausgekommen aber nicht rematerialisiert. Wahrscheinlich ist es vergebens, aber es ist schon vorgekommen.« »Sie nehmen sich die Sammelstationen vor«, wies Saul einen weiteren Ingenieur an. »Zuerst die zwischen hier und Washington. Wenn sich dabei nichts ergibt, wenden Sie sich wieder an mich, und ich gebe Ihnen weitere Anweisungen.« Diese Arbeit war bei weitem die schwierigste und zeitraubendste. Die Sammelstationen waren die komplexesten Bestandteile des Systems. Nur eine einzige von ihnen gründlich durchzuprüfen ähnelte der Aufgabe, jedes einzelne
Sandkorn eines turmgepeitschten Strandes dahingehend zu untersuchen, ob es zu der Trillion Körner gehörte, die vom gleichen Felsblock stammten. Eine Anweisung an einen anderen Ingenieur: »Sie inspizieren die Sicherheitssysteme.« Sollte auf der Transmissionsroute irgendwo Energie steckengeblieben sein, dann würden automatisch aktiv werdende Generatoren diese Energie aufnehmen – und der Passagier rematerialisierte im nächstgelegenen Ausgang. Seit Bestehen des Brückensystems war dies nur dreimal geschehen, und jedesmal hatten die Generatoren fehlerlos gearbeitet. Es gab keinen Hinweis darauf, daß dies jetzt erneut geschehen war, aber es war immerhin eine Möglichkeit, die untersucht werden mußte. Ein weiterer Ingenieur: »Sie prüfen das Frachtnetz. Stellen Sie fest, ob es eine Überschneidung gegeben hat.« Als Ergänzung zu ihrem Passagier-Netz betrieb die Brückengesellschaft auch noch ein teueres Frachttransmissions-System. Der einzige Unterschied zwischen den beiden Transportnetzen bestand darin, daß die Frachttransporter größer waren, um die Container aufnehmen zu können, und daß die Transferierung aufgrund der größeren Masse ein paar Mikrosekunden länger dauerte. Viele Reisende benutzten das Frachtnetz, um sich zusammen mit ihren Autos verschicken zu lassen. Das erhöhte den Preis des Tickets, ersparte aber Umstand und Kosten eines Mietwagens, wenn sie ihr Ziel erreichten. Außerdem hatten sie nicht den Ärger, am Terminal einen Parkplatz suchen und ihr Gepäck herumschleppen zu müssen. »Sie«, wandte sich Saul an den nächsten Ingenieur, »Sie untersuchen das militärische Transportnetz.« Es war größer als das zivile Netz und durfte nur von Militärpersonal benutzt werden. Die Wahrscheinlichkeit einer unabsichtlichen
Überschneidung war gering, aber es war eine Möglichkeit, die ebenfalls in Betracht gezogen werden mußte. Saul fischte eine Zigarette aus seiner Packung, zündete sie an und inhalierte tief. Das war es. Der Beginn der Prüfung. Jetzt konnte man nur noch abwarten, wie sich die Sache weiterentwickelte. Plötzlich fühlte sich Saul beschwingt und leicht, so, als hätten sich seine Probleme jäh in Luft aufgelöst, als hätte von einem Augenblick zum anderen der Winter dem Frühling Platz gemacht. »Hallo Saul«, sagte eine Stimme hinter ihm. Er drehte sich um und sah Rosie. »Hallo, Herzchen. Du siehst gut aus.« Er küßte sie auf die Wange. »Hat Ralph dich unterrichtet?« Sie nickte. »Hast du sie bereits lokalisiert?« Rosies Kopf sank einige Male hinauf und wieder hinab, aber das konnte ebensogut eine Bestätigung oder auch ein Zeichen fortgeschrittenen Alters sein. »Darf ich mich setzen, Saul? Du weißt ja, mit achtundsechzig machen die Beine nicht mehr so mit wie mit zwanzig.« Rosie ließ sich in den nächsten Sessel fallen. Sie war nur knapp einhundertsechzig Zentimeter groß, brachte aber fast zweihundert Pfund auf die Waage und schien jedesmal, wenn Saul sie sah, noch schwerer geworden zu sein. Menschen, die sich in ihrer Nähe befanden, überkam eine merkwürdige Ruhe, und fast glaubte Saul, daß sie größer wurde, indem sie den Menschen auf rätselhafte Art und Weise Not und Elend abnahm. »Absolut nichts, Saul. Kein Lichtblick, keine Spur, nichts. Gewöhnlich kann ich sie sofort spüren, indem ich mich auf ihre Furcht konzentriere. Die Angst geht von ihnen aus wie das Hitzeflirren von einem gerade verbrannten Stück Holz. Diesmal aber nicht. Ich empfange
nichts. Es ist, als sei diese Rosmanov über das Ende der Welt hinausgefallen.« »Sir«, unterbrach einer der Ingenieure, »ich habe inzwischen die Überprüfung aller Ausgänge beendet.« »Und?« »Negativ, Sir. Überprüft und nochmals überprüft. Nicht eine einzige außerplanmäßige Ankunft.« Kurz darauf meldeten sich zwei weitere Ingenieure. Keine ungewöhnlichen Energieimpulse, sagte der eine. Kein Anzeichen einer Störung in den Sicherheitssystemen, sagte der andere. Frachttransport-System und militärisches Netz konnten ebenfalls abgehakt werden. Damit blieben nur noch die Sammelstationen übrig. Saul rief alle Ingenieure zu sich. »Es müssen die Sammelstationen sein. Damit wir Zeit sparen, schlage ich vor, Sie bilden Zweiergruppen. Der eine führt eine Abtastung durch, der andere überprüft es noch einmal. Lassen Sie mich es sofort wissen, wenn Sie auch nur irgend etwas finden.« Währens Saul die Aufteilung vornahm, saß Rosie am Tisch und spielte mit den Karten, die sie ständig bei sich hatte. Sie mischte sie gründlich und deckte dann die oberste auf. Herzkönigin. Galina Rosmanov? Sie deckte die zweite auf. Pik-As. Die Todeskarte. Rosie steckte sie in das Pack zurück, mischte, sah sich die oberste Karte an, legte das Spiel auf den Tisch und erhob sich. »Ich bin müde, Saul. Ich glaube, ich werde ein Nickerchen machen. Sag’ mir Bescheid, wenn du mich brauchst.« Damit humpelte sie aus der Halle. Als sie gegangen war, beugte sich Saul nieder und drehte die Karte herum, die sie sich zuletzt angesehen hatte. Pik-As. Noch einmal. In diesem Augenblick trat Herman Lindstrom ein. Wie üblich hatte er ein Mädchen dabei, ein wohlproportioniertes,
honigblondes Ding, das nervös und unsicher den Tumult um sich herum betrachtete und offensichtlich nicht die geringste Ahnung hatte, was das alles zu bedeuten hatte. Aber Herman, sechsundzwanzig Jahre alt, mit tiefen, blauen Augen, vollen Schmollippen und einem ausdruckslosen, wie gemeißelt wirkenden Gesicht, das man gewöhnlich mit den Cinemascopefilmen der Sonntagnachmittagsvorstellungen assoziierte, wählte sich seine weibliche Begleitung selten nach dem Intelligenzquotienten aus. Die Frauen, die er bevorzugte, betrachteten ihren Körper als kurzfristige erstklassige Investition – und jede Falte als eine Verminderung ihres Kapitals. »Was ist los?« erkundigte sich Herman. Saul erklärte ihm die Situation, so gut er konnte. Herman machte sich keine Notizen. Herman machte sich nie Notizen. In seinen Händen war eine ganze Reihe von Patenten zur Verbesserung des Brückennetzes. Der Lindstrom-Kollektor wurde von der Brückengesellschaft exklusiv benutzt. Er teilte sich den Nobelpreis mit der MIT-Gruppe, die die erste funktionierende Brücke konstruiert hatte. Dabei hatte Herman niemals mit eigenen Händen eine Gleichung zu Papier gebracht. Er diktierte seine Erkenntnisse den Assistenten, die sie dann umsetzten. Die wissenschaftlichen Journale, die seine Arbeiten veröffentlichten, machten sich keine Gedanken um die Bedeutung und Exaktheit seiner Werke. Als die MaterieTransferierung entwickelt wurde, stand Herman stets in vorderster Front – und er irrte sich nie. »Was schlägst du vor?« fragte Saul, nachdem er seine Erläuterungen beendet hatte. Hermans Finger krochen über eine Computerkonsole. »Wenn sie sich in einem Kollektor befindet, dann wird sie dort etwas länger als im Netz überleben. Maximal etwa vierundzwanzig Stunden. Unglücklicherweise ist sie im Innern eines Kollektors
schwerer zu finden. Was bedeutet, daß wir hier nicht herumstehen und auf die einzelnen Analysen warten können.« Also blieb nur eins übrig. »Wir schicken die Instandsetzer hinein?« Herman zog seine Wildlederjacke aus, krempelte sich die Ärmel seines verwaschenen, bunten Baumwollhemds hoch und machte sich an die Arbeit. »Genau das.«
IV
Zu dritt und zu viert traten die Instandsetzer in den Computerraum. Insgesamt waren es sechsundzwanzig, etwas mehr Männer als Frauen. Sie waren jung, im Durchschnitt wahrscheinlich nicht älter als vierundzwanzig, und sie waren hochmütig. In kleinen Gruppen wanderten sie umher, machten Witze, fachsimpelten und gaben sich Mühe, die anderen Ingenieure zu ignorieren. Ihre Arroganz war nicht ungerechtfertigt. Instandsetzer bezogen ein Grundgehalt von 1750000 Dollar im Jahr. Überstunden und Risikozulagen konnten diesen Betrag weit über die Zwei-Millionen-Grenze hinaus erhöhen. Sie waren die höchstbezahlten Angestellten der Brückengesellschaft. Allerdings hatten sie für diese Stange Geld auch den gefährlichsten Job in der Organisation, möglicherweise sogar den gefährlichsten Job der ganzen Welt. Die durch den Beruf bedingte Todesrate lag bei 20 Prozent pro Jahr. Der durchschnittliche Instandsetzer zog sich normalerweise nach nur siebzehn Monaten aus diesem Beruf zurück. Ein schon fast legendärer Monteur namens Gus Wiley hielt den inoffiziellen Rekord für Langlebigkeit in diesem Job. Es fehlten nur zwei Monate an sechs Jahren. Er war der Held eines abendfüllenden Spielfilms, eines Theaterstücks, eines Popsongs. Eines Tages, sechs Monate nachdem er gekündigt hatte, ging Gus Wiley in den Keller seines luxuriösen BeverlyHills-Herrenhauses, schob sich den Lauf eines geladenen Revolvers in den Mund und drückte ab. Zweimal. Monteure haben unglaublich schnelle Reflexe.
Journalisten, die den Fall untersuchten, konnten sich den Fall nicht erklären. Der Mann war ein Held gewesen. Er hatte seine Gehälter gut angelegt, hätte den Rest seines Lebens außerordentlich komfortabel zubringen können. Er hatte alles, für das es sich zu leben lohnte. Aber seine Arbeitskollegen verstanden. Sie wußten, wie es war, mit subnormaler Geschwindigkeit durch das Netz, das Leitungsgeflecht, zu reisen. Sie kannten das rauschartige Gefühl, das niemals auch nur annähernd von solchen Anregern wie Sex, Schnaps oder Drogen hervorgerufen werden konnte. Im Innern des Netzes waren sie allgegenwärtig, allmächtig, allwissend und allsonstnochwas. Sie waren Götter, die eine Welt nach ihren ureigensten Vorstellungen schaffen konnten. Sie schmeckten Farben, berührten Töne. Sie konnten in ihre eigene Zukunft blicken, die Qual vorausspüren, die Gus Wiley bereits hinter sich hatte, die Agonie, sich zu sehr vor dem Leitungsgeflecht zu fürchten, um es jemals wieder aufzusuchen. Sie konnten nur zu gut verstehen, warum er sich selbst umgebracht hatte. Welche Zuflucht existiert für einen Gott, der für immer aus dem Himmel ausgestoßen ist? Saul war nur selten mit einer Lage konfrontiert worden, in der er auf die Hilfe der Instandsetzer zurückgreifen mußte. Jedesmal, wenn er sie angefordert hatte, beglückte ihn die Buchhaltung mit einer Notiz, die ihm im nachhinein deutlich machen sollte, daß eine solche Anforderung die Brückengesellschaft eine Menge Dollars als Risikozulage kostete. Das erste Mal waren es 550 000 Dollar gewesen. Was, berücksichtigte man die Inflation, inzwischen sicher schon nahe an 1 200 000 herangekommen war. Die Aktennotizen der Buchhaltung zerknäulte er dann immer auf die gleiche Größe. Zweieinhalb Zentimeter im Durchmesser. Gerade das richtige Maß, um damit haargenau den Papierkorb zu treffen.
Als die Instandsetzer alle anwesend waren, stand Saul auf und unterrichtete sie über die Situation. Ihre Aufgabe, erklärte er, war es, die Sammelstationen des Systems zu durchstöbern und nach einem Zeichen der vermißten Ballerina Ausschau zu halten. Saul händigte ihnen gekennzeichnete Computerausdrucke aus, die die jeweiligen fest eingeteilten Suchgebiete auflisteten. Sie zogen sich ihre speziell konstruierten Jacken über, traten einer nach dem anderen in den Transporter und verschwanden. Die Jacken hoben die Auswirkung der MaterieTransferierung auf und senkten die Transmissionsgeschwindigkeit. Sie enthielten einen Verstärker auf Mikroprozessorbasis, der eine Sammelstation in Miniaturausführung war. Das Ergebnis war, daß die Monteure das Innere des Netzes durchstreifen konnten und dabei gleichzeitig genug Kontrolle über ihr Hirn und die Körpervorgänge hatten, um vergleichsweise umfangreiche Einstellungen an der Konstruktion des Leitungsgeflechts vorzunehmen. Eine große Gefahr bestand allerdings: Wenn bei solch niedrigen Geschwindigkeiten ein Monteur wiederholt Kontakt mit dem normalen Verkehr erhielt und zu lange an einem Ort im Netz verweilte, dann konnte es ihn auseinanderreißen. Dies war, wie sich die Brückengesellschaft typischerweise untertreibend auszudrücken pflegte, das bedeutendste Problem dieses Berufes. »Wie stehen ihre Chancen, sie zu finden?« erkundigte sich Saul bei Herman, als die letzte Instandsetzerin verschwunden war. »Das kann ich beim besten Willen nicht sagen«, erwiderte Herman. »Normalerweise, wenn sie sich in einer Sammelstation befindet, sind ihre Chancen ausgezeichnet. Aber dies ist kein normaler Fall. Ich habe mir die Aufzeichnungen von Galinas Transferierung vielleicht fünfzig-
oder sechzigmal angesehen. Ohne Ergebnis. Alles ist vorschriftsmäßig abgelaufen. Ihr Gewicht ist richtig ermittelt worden, die Systeme arbeiteten fehlerlos. Ich sehe absolut keinen einleuchtenden Grund, warum sie an der anderen Seite nicht wieder herausgekommen ist.« »Nur, daß sie nicht herausgekommen ist!« »Ja, nur, daß sie nicht herausgekommen ist.« Herman zeigte den verwirrten Gesichtsausdruck eines Vaters, dessen unbescholtener Schüler wegen wiederholtem Autodiebstahl eingebuchtet worden ist. »Ich werde mit der Überprüfung fortfahren, aber eigentlich kann ich nicht mehr viel tun, bis ich ihre Berichte habe.« Mit dem Daumen deutete er auf den Transporter, durch den die Instandsetzer verschwunden waren, als wären sie noch immer in der Nähe und nicht mehr als tausend Kilometer entfernt. Saul setzte sich wieder und gab sich Mühe, die Phase der Untersuchung zu erdulden, die er am meisten haßte. Das Warten. Einer der Gründe, warum er noch immer mit den Brücken arbeitete, war, daß sie so gut zu seinem Charakter paßten. Das Mysteriöse. Die schrecklichen Konsequenzen, die jeder noch so kleine Fehler nach sich zog. Die augenblickliche Reaktion. Er nahm einen Taschenpieper an sich und teilte Herman mit, daß er gehen würde, um eine Kleinigkeit zu essen. Er winkte ein Taxi herbei, was um zwei Uhr nachmittags nicht gerade leicht war, und fuhr in die Pink Zone∗, wo er das La Bodega aufsuchte, sein liebstes Restaurant in ganz Mexico City. Ein Ort, wo früherer Glanz längst vergangen und unter einer dicken Schicht aus Erdnußschalen und Bier verschwunden war. Er setzte sich an die Bar, bestellte sich einen Dos Equis, um den ersten Durst zu löschen, und wechselte dann direkt zu Tequila. ∗
Pink Zone: Zone absoluten Parkverbots – d. Übers.
Nachdem er einen einigermaßen anständigen Teller sautierter Garnelen verdrückt hatte, wandte er seine Aufmerksamkeit der Band zu, einem bunten Trio aus älteren Männern, einer an der Violine, einer am Piano und der letzte an der Gitarre. Er sang in Englisch, hoffnungslos falsch, der Rest ebenso schlecht in Spanisch. Die Zuschauer, größtenteils Hilfsarbeiter und einige Touristen, die auf der Suche nach Lokalkolorit waren, applaudierten nach jeder Nummer innig. Die Kellner schoben einige Tische beiseite, um einen Freiraum fürs Tanzen zu schaffen.
Saul schnappte sich die attraktivste nächststehende weibliche Person, ein kurvenreiches, dunkeläugiges einheimisches Mädchen, und legte mit ihm eine verrückte Polka aufs Parkett. Das Mädchen lachte, schmiegte sich eng an ihn und folgte jeder seiner Bewegungen mit zügellosem Temperament. Während die Band eine Pause einlegte, schob es den Schlüssel seines Apartments in seine Tasche. Er nahm ihn wieder heraus, lächelte, nickte und half ihr in den Mantel. Während er ein Taxi herbeiwinkte, wartete sie in der Eingangsdiele. Das Taxi war gerade angekommen, als sich der Taschenpieper meldete. Er schaltete ihn ein und hielt ihn ans Ohr. »Was ist los?« meldete er sich. »Sie kommen zurück«, informierte ihn Herman. »Ich bin gleich da.« Er schob sich ins Taxi, gab dem Fahrer die Adresse des Mexico City Terminal und versprach ihm fünfhundert Pesos, wenn er es in weniger als fünfzehn Minuten schaffte. Erst einige Tage später, als seine Wäscherin ihm den fremden Schlüssel zeigte, den sie in seiner Kleidung gefunden hatte, erinnerte er sich an die dunkle Senorita, die im Eingang vom
La Bodega auf ihn gewartet und ihm so laut sie konnte Flüche hinterhergeschickt hatte.
Einer nach dem anderen kehrten die Instandsetzer zurück und lieferten die gleichen betrüblichen Berichte ab. Ohne Ergebnis. Negativ. Nichts. »Was hältst du davon?« erkundigte sich Saul bei Herman, nachdem der letzte Monteur wieder zurück war. »Ich weiß nicht. Es bringt mich in Verlegenheit.« Für Herman war das ein ungewöhnliches Eingeständnis. Er beugte sich über das Computerterminal und machte sich an dem Tastenlocher zu schaffen. Sauls Telefon klingelte. Seine ihm zugewiesene Sekretärin nahm das Gespräch entgegen. »Ja, Ma’am«, sagte sie. »Sofort.« Sie legte auf und gab Saul Bescheid. »Es ist Miß Warren, Sir. Sie ist oben im Büro des Direktors, und sie wünscht, daß Sie ihr dort oben unverzüglich Bericht erstatten.« Solange Saul Michelle schon kannte, solange sie Präsidentin der Brückengesellschaft war, immer, wenn ein Notfall eintrat, mußten ihre Angestellten zu ihr kommen. Saul hatte es noch nie erlebt, daß sie sich in den Computerraum gewagt hätte, einen Bereich, den sie als das Innerste der ganzen Organisation bezeichnete und auch so behandelte. Widerstrebend betrat Saul den Aufzug und begann seinen Ausflug in die höhergelegenen Regionen.
V
»Du siehst gut aus, Saul.« Michelle eskortierte ihren Ex-Gatten in das Büro des Direktors. Mit einem Blick registrierte Saul die Dinge, die sie überall hin begleiteten. Ihr teurer Mantel hing über einem Stuhl. Ihre Aktentasche aus Schweinsleder stand offen auf dem Teetisch des Direktors. Ihre Korrespondenz lag sorgfältig geordnet auf dessen Schreibtisch. Ihr Duft, eine Kombination aus teurem französischen Parfüm und Moschus, füllte den Raum mit einem offenen Hinweis auf einen elementaren, nun aber unerreichbaren Genuß. Sie küßte ihn flüchtig auf die Wange, der beiläufige Kuß zwischen Freunden und ehemals Liebenden. E stapfte auf die Plüschsessel des Direktors zu und ließ sich in einen von ihnen hineinfallen. Wie ein Magnet, der von dem gleichen Pol eines zweiten abgestoßen wird, entschied sich Michelle für einen Sessel am anderen Ende des Büros, so weit wie möglich von Saul entfernt. »Was geht da unten vor?« Sie stopfte sich Tabak in ihre blauemaillierte Pfeife. Auf der einen Seite trug sie ihre Initialen, auf der anderen das Symbol der Brückengesellschaft. Eine überaus freundlich lächelnde und zu allen Diensten bereite Hosteß. »Diesmal ist die Sache wirklich schwierig.« Saul zündete sich eine Zigarette an und suchte nach einem Aschenbecher. Als er keinen in unmittelbarer Reichweite fand, legte er sein Streichholz einfach auf den sündhaft teuren Teppich. Vor der Zuschaustellung direktionalen Überflusses hatte er keinen Respekt. Allzu üppige Büros erinnerten ihn an Aquarien in
Zoohandlungen, in denen farbiger Kies, grelle Grünpflanzen und glitzerndes Lametta selbst den kleinsten Elritzen das Aussehen von Haien verliehen. »Das sagte mir Ralph bereits. Wie schlimm ist es?« Michelle saß mit dem Rücken zu einer Schautafel, die Beispiele früher Werbung für die Brücken zeigte. Für das Zeug hatte die Brückengesellschaft damals Millionen ausgegeben, nur um die Leute davon zu überzeugen, daß sie sich ruhig etwas anvertrauen könnten, was ihnen rätselhaft war. Große, doppelseitige Zeitungsanzeigen, extrem wahrheitsgetreu, die wissenschaftliche Erklärungen enthielten, eine Auflistung der Entfernungen, die nach der Statistik ohne die Wahrscheinlichkeit eines Zwischenfalls zurückgelegt werden konnten, mathematische Gleichungen, zwischen denen auf großzügige Weise überall Erklärungen und Grafiken wie Dreck von gelehrten Hühnern eingestreut waren. Aber so war es nur am Anfang gewesen. Heute wiesen die Werbekampagnen der Brückengesellschaft darauf hin, daß man eine Menge Geld sparen konnte, wenn man in der Wochenmitte reiste. Die einzelnen Anzeigen widmeten sich nicht mehr in dem Maße dem Sicherheitsaspekt. Warum auch? Heute machte sich niemand mehr über einen möglichen Unfall Gedanken. Zumindest so lange nicht, bis jemand wie Galina Rosmanov daherkam und deutlich machte, daß man es vielleicht doch tun sollte. »So schlimm, wie es überhaupt sein kann. Wir können sie nicht finden.« »Wie bitte?« Michelle lehnte sich zweifelnd vor, ihr Haar glitzerte. Es hatte die Farbe des Sonnenscheins. »Ihr könnt sie nicht finden? Das ist absurd.« Sie hatte nur selten in ihrem Leben eine Niederlage erlitten, und daher konnte sie nur schwer verstehen, daß anderen Leuten so etwas passieren
konnte. Harte Arbeit, Beharrlichkeit und ein wenig Mitleidslosigkeit räumten ihrer Meinung nach alle Hindernisse aus dem Weg. Zumindest war das in ihrem Fall so gewesen. Sie besaß ein B. A., ein L. L. B. und ein M. B. A. Wie ein Western-Marshall, der seinen fünfzackigen Stern an die Weste heftet, um potentielle Störenfriede allein mit diesem Symbol der Autorität einzuschüchtern, hingen die Diplome an einem bevorzugten Platz in ihrem eigenen Büro. Sie war als Statistikerin in die Brückengesellschaft eingetreten, hatte sich schnell emporgearbeitet und es zur Vizepräsidentin des Marketings gebracht. Kurz nachdem sie diese Position erreicht hatte, machte sie den einzigen Fehler ihres Lebens. Sie verbrachte drei liebeserfüllte Wochen in Europa, die sie, begleitet von Saul Lukas, mit einem BrückenTrip zu einer Schnellvermählungs-Kapelle in Reno abschloß. Sie beide hätten nicht verschiedener sein können. Sie bevorzugte herben Wein, er trank seinen Tequila pur. Er konnte nicht zwischen einem Burgunder und einem 72er Beulieu Zinfandel unterscheiden und trank sie beide mit Eis aus einem Becher. Michelle trug Gucci-Kleider und CapezioSchuhe. Saul lief in ausgebleichten Levi’s und schmutzigen Turnschuhen herum und trug eins der alten, ärmellosen UCLA-Sweatshirts, das sie zum Abstauben benutzt hatte. Ihre Freunde und Geschäftspartner stellten wiederholt fest, daß sie mehr seinem Bewährungshelfer als einer Ehefrau ähnelte. Sie fing an, nachts zu arbeiten und kam absichtlich erst dann nach Hause, wenn Saul längst schlafen gegangen war. Und sie war insgeheim erleichtert, als einer ihrer Freunde ausplauderte, daß Saul eine Affäre mit einem Sternchen von einem Reisetheater hatte. Ihre Scheidung hatte die Seiten in den Skandalblättchen des Landes gefüllt. Ihr wurde der größte Teil des Vermögens
zugesprochen, sie bekam den Löwenanteil der Sympathie und vollständige soziale Absolution für ihren kurzfristigen Ausflug über die Grenzen ihres sozialen Status. Und sie nahm ihren Mädchennamen wieder an. An dem Tag, als die Scheidung rechtskräftig wurde, gaben ihre Freunde ihr zu Ehren eine Party. In den folgenden Wochen stand ihr Haus jedermann offen, und sie versuchte vergeblich, die vielen leeren Räume mit geschäftlichen Bekanntschaften zu füllen. Obgleich sie es niemals zugeben würde, nicht einmal ihrem Psychiater gegenüber – sie hatte Saul geliebt, und manchmal, insbesondere dann, wenn sie dem Geschwätz der Verehrer zuhören mußte, die einen Gesellschaftstanz als formelles Menuett anstatt als feurigen Tango betrachteten, liebte sie ihn noch immer. Als Saul sie verließ, trug er nur seine Kleidung bei sich, die mehr als bequem in einen Koffer gepaßt hätte, ihr UCLASweatshirt und einen feingeschnitzten, beinernen Anhänger, einen blauen Schmetterling, den Michelle ihm während der Flitterwochen in Mendocino geschenkt hatte. Ab und zu trug er ihn, um sich selbst daran zu erinnern, wie schnell angenehme Dinge ein Ende finden konnten. »Ich weiß, daß es sich verrückt anhört«, erwiderte Saul, »aber wir können sie nicht finden.« »Was ist mit Lindstrom? Sicherlich kennt er eine Antwort.« Das war typisch für Michelles Logik. Die Uhr kaputt? Zu einem Uhrmacher bringen. Ein Problem mit dem Netz? Man konsultiere einen Wissenschaftler. »Er war gerade dabei, einige Berechnungen anzustellen, als ich ihn verließ, um hierher zu kommen. Rosie kann sie ebenfalls nicht lokalisieren.« Die letzte Bemerkung fügte er als Ergänzung hinzu. »Ich bin überrascht, daß sie das zugibt«, sagte Michelle sarkastisch. »Irgendwann werde ich nochmal eine Überprüfung
ihrer pseudowissenschaftlichen Stiftung vornehmen lassen. Jeder Angestellte dieser Gesellschaft weiß, daß sie ein nichtsnutziger Scharlatan ist. Jeder außer dir.« »Michelle, in dieser Stiftung habe ich Heiler gesehen, die ausgerenkte Beine gerichtet, Patienten das Augenlicht zurückgegeben und ihre Schmerzen beseitigt haben.« »Psychosomatische Krankheiten. Im Prinzip waren die Leute völlig gesund.« »Ich habe jemanden gesehen, der einen gebrochenen Arm geheilt hat. War der Bruch auch psychosomatisch?« »Sie behauptet nur das, was du hören willst.« »Ach ja? Angenommen, Rosie schwindelt nur. Angenommen, die energetischen Wirbel, die sie umgeben, sind genauso Einbildung wie die Fähigkeit einer Zigeunerin, im Kaffeesatz die Zukunft zu lesen. Was soll’s? Die Sache ist die, daß sie damit ein Bedürfnis befriedigt. Sieh dir die Welt an. Was erkennst du? Entpersönlichung. Automation. Alles funktioniert nach streng reglementierten, wissenschaftlichen Grundsätzen. Weißt du, was in dieser Welt vermißt wird? Liebe. Magie. Das Geheimnisvolle, Rätselhafte. Die Menschen brauchen etwas, das aus keinem einleuchtenden Grund funktioniert, sondern nur deshalb, weil sie daran glauben. Sie sehnen sich nach so etwas. Käme jemand auf die Idee, eine Heilungs-Schule für das westliche Äquivalent von Medizinmännern zu eröffnen, dann würde es nicht lange dauern, und an den Bürowänden der Park Avenue hingen die entsprechenden Diplome. Und du und deine hochmütigen, hochgestellten Freunde würdet zu ihnen laufen, mit Federn im Haar, in den Händen Sträuße getrockneter Ginsengknollen, und ihr würdet ihren Zaubertrank aus getrocknetem Fledermausblut trinken und beschwören, daß das eure Magengeschwüre, euer Rheuma und eure chronische Impotenz heile.« Saul griff in die Tasche und fischte eine weitere
Zigarette heraus. »Wollen wir nun wieder zu Galina Rosmanov zurückkommen?« »Ich glaube, das ist nicht mehr nötig.« »Da komme ich nicht ganz mit.« Sauls Zigarette baumelte von seinen Lippen, und das Licht des Feuerzeugs war wie eine miniaturisierte Ewige Flamme, die das Grab eines Märtyrers kennzeichnete, der vergeblich nach der Gerechtigkeit gesucht hatte. »Du hast doch selbst gesagt, daß ihr sie nicht im Leitungsgeflecht finden könnt.« »Richtig.« »Das überzeugt mich davon, daß sie sich nicht mehr im Übertragungsnetz befindet, uns folglich auch nichts mehr angeht. Ich schlage vor, wir schieben es der mexikanischen Regierung in die Schuhe und waschen unsere Hände in Unschuld. Es ist ja nicht so, als ob wir keine entsprechenden Präzedenzfälle hätten.« Da hatte sie recht. In Mexico City gingen mehr Menschen verloren als in allen anderen Terminals der Brückengesellschaft zusammen. Seltsamerweise handelte es sich bei den meisten dieser Mexico-City-Verschwinder um niederrangige Diplomaten, Botschaftssekretäre für Öffentlichkeitsarbeit und Kulturattaches, Titel, die mit den Jahren Synonyme für Geheimagenten geworden waren. Offiziell hieß es, diese überdurchschnittlich hohe Rate verschwundener Personen sei auf die Inkompetenz der Mexikaner zurückzuführen, eine unwahrscheinliche Erklärung, wenn man bedachte, daß das Tranferierer-Personal international war. Die meisten waren Amerikaner, von der Brückengesellschaft exportiert, und die verstanden ihr Handwerk.
Inoffiziell hieß es, daß Mexico City durch eine stillschweigende Übereinkunft zu einer straffreien Zone für politischen Mord geworden war. Unter vorgehaltener Hand wurde erzählt, daß schon mehr als einmal einem Transferierer ein Schmiergeld angeboten worden war, daß es mehr als einen Fall sabotierter Elektronikwaagen gab, aber das waren und blieben Spekulationen. Sicher war, daß ein jeder solcher Plan die Mittäterschaft und stillschweigende Billigung der Brückengesellschaft erfordert hätte, und Michelle leugnete jedesmal jedes einschlägige Wissen, wenn Saul diese Vermutung äußerte. Nichtsdestotrotz machte er sich eine gedankliche Notiz, bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit Galina Rosmanovs politischen Background auszuloten. »Sieh mal«, fuhr Saul fort, »alle Leute, die bisher im Netz verlorengingen, haben wir entweder in einem Stück herausgeholt – tot oder lebendig –, oder sie haben sich verflüchtigt, bevor wir sie befreien konnten. In jedem Fall aber ist es uns gelungen, sie ausfindig zu machen. In jedem Fall. Diesmal ist es völlig anders, und ich werfe nicht eher die Flinte ins Korn, bis ich herausgefunden habe, was da im Leitungsgeflecht geschehen ist.« »Ich könnte es dir befehlen. Wie du weißt, bin ich dein Vorgesetzter.« Sie sagte es in einem Tonfall, als plaudere sie über das Wetter, über den kommenden Frühling oder irgendeine andere unabänderliche Selbstverständlichkeit dieser Welt. »Versuch es nur, und ich werde eine Kampagne starten, die die Ertragskurven auf euren Grafiken so abrutschen läßt, als sei die erste große Talfahrt in einer Achterbahn gekommen.« »Das ist Erpressung.« »Nenn es, wie du willst. Hauptsache, ich kann meine Arbeit machen.«
Eine Hälfte ihres Mundes senkte sich, die andere kam in die Höhe, als könne sie sich nicht entscheiden, ob sie lachen oder schreien solle. »Verschwinde. Geh wieder runter, zu den anderen Verrückten und Idioten.« Es war ihr allererster Befehl an Saul, den er mit Vergnügen ausführte.
VI
Herman saß vor dem Terminal und hämmerte mit der Virtuosität und dem Vergnügen eines Ragtime-Pianisten in einer Hinterhofkneipe auf der Tastatur herum. »Was rausgefunden?« fragte ihn Saul. Herman wartete auf das Ende des gelochten Papierbogens, der aus dem Schreiber rasselte. Er betrachtete ihn, runzelte die Stirn und ließ ihn zu Boden fallen. »Absolut nichts.« Er schaltete das Terminal ab und erhob sich. »Ich glaube, ich werde alt«, sagte er und schüttelte kräftig seine Arme. »Die Dinger schlafen mir ein.« Saul öffnete seine Aktentasche, einen uralten Lederranzen, der mit zwei Riemen geschlossen wurde, und holte eine Flasche Jack Daniels Red Label hervor. Er schenkte zwei Gläser voll und reichte eins an Herman. Der streckte seine Hand danach aus. Sie zitterte so stark, daß er sie mit der anderen beruhigen mußte. »Dir geht’s nicht gerade gut, was?« sagte Saul. »Vielleicht sollten wir einen Arzt holen.« »Nicht nötig. Ich habe in letzter Zeit nur ein bißchen zuviel gearbeitet. Ich bin nur übermüdet, das ist alles.« Mit beiden Händen führte er das Glas an die Lippen und leerte es zur Hälfte in einem Zug. Das Zittern ließ merklich nach. »Sieh nur.« Er streckte seine Hand aus. Sie war so unbewegt wie ein Felsbrocken. »Ein bißchen von diesem Zeug, und ich bin wie neugeboren.« Er hielt Saul das Glas entgegen, um es erneut füllen zu lassen. »Wie ist es dir da oben ergangen?«
Saul schenkte ihnen beiden von der Medizin nach. »Michelle will die Suche aufgeben, es den Mexikanern in die Schuhe schieben und sich nicht mehr darum kümmern.« »Ich hoffe, du hast dich nicht darauf eingelassen.« »Was glaubst du wohl?« Herman trat an ein nahes Kontrollpult. Eine Vielzahl von winzigen Blips bewegte sich über den Monitor. Jeder dieser Leuchtpunkte kennzeichnete einen Passagier im Transportnetz zwischen Mexico City und Washington, D. C. »Ich schätze, Michelle wird erst richtig aus der Haut fahren, wenn sie hört, was ich als nächsten Schritt vorschlage.« »Oh, oh. Das hört sich ganz so an, als müßte der gute alte Saul zu einer zweiten Runde gegen die Bulldogge antreten. Was hast du vor?« Herman betätigte einen Schalter, und der Monitor wurde dunkel. »Ich möchte den gesamten Verkehr innerhalb des Transmissionsnetzes stoppen. Das Resultat wird eine Steigerung der Empfindlichkeit unserer Instrumente sein. Wir wären dann in der Lage, eine Feinjustierung auch auf den geringsten verbleibenden Impuls vorzunehmen.« Saul betrachtete den dunklen Bildschirm. »Wie lange willst du das Netz außer Betrieb setzen?« »Bis wir sie gefunden haben. Das kann in weniger als einer Stunde sein oder auch länger als eine Woche dauern.« »Ich glaube nicht, daß jemand im Netz eine Woche lang in einem Stück bleiben kann.« »Normalerweise nicht. Aber vielleicht, wenn kein Verkehrsstrom mehr existiert, der den aufgelösten Körper auseinandertreibt. Wir haben es noch nie probiert.« »Wie ist es, wenn wir den Verkehr nur zwischen Washington und Mexico City unterbrechen?«
»Tja, ich befürchte, sie könnte in eine andere BrückenSektion hinübergeglitten sein. Zu diesem Zeitpunkt kann sie sich wer weiß wo im gesamten System befinden.« Saul warf einen Blick auf die komplizierte, vielfarbige Weltkarte an der Wand, die die vielen Routen zeigte. Konnten sie die Weltwirtschaft wirklich lahmlegen, um eine neunzehnjährige russische Tänzerin aus dem elektronischen Spinnennetz zu befreien? »Rosie«, sagte Saul, »kannst du jetzt etwas empfangen?« Rosie saß mit geschlossenen Augen und im Schoß gefalteten Händen auf einem bequemen Sessel, den Saul ihr besorgt hatte, in einer Ecke und wiegte sich vor und zurück. »Keine mentalen Impulse. Obgleich ich ein gutes Gefühl habe.« Sie nickte in Richtung des Transporters. »Ich glaube, daß sie noch da drin ist. Ich glaube, du solltest Hermans Rat folgen.« »Also gut.« Saul strich sich mit den Fingern durch das kurzgeschnittene Haar. »Jetzt kommt der schwierige Teil. Michelle überzeugen. Sie betrachtet ihre Kunden nicht unbedingt als menschliche Wesen, wie ihr wißt.« Mit einem Tastendruck rief er den Lift. »Sie betrachtet sie als endlosen Zug von Dollars, als leblose Geldbündel, die von ihr auf die Seite geschafft werden müssen.« Die Liftkabine war da, und Saul trat ein. Michelle war nicht allein. Sie stellte ihren Gast als Nikolei Bulgavin, den russischen Sekretär für auswärtige Angelegenheiten, vor. Saul kannte sich gerade genug in Politik aus, um zu wissen, daß Bulgavin in dem Ruf stand, der Kopf der russischen Geheimpolizei zu sein. »Sekretär Bulgavin wird sich persönlich von unseren Fortschritten in der Sache Galina Rosmanov überzeugen«, erklärte Michelle. »Du kannst in seinem Dabeisein ruhig offen sprechen.« »Ich befürchte, es gibt nicht viel Neues zu berichten. Wir haben sie immer noch nicht gefunden.« Dann ließ er die
Bombe platzen. »Herman hat vorgeschlagen, wir sollten den gesamten Verkehr innerhalb des Netzes stoppen.« »Den Verkehr unterbrechen?« Mit einem Bleistift klopfte Michelle auf die Schreibtischplatte. Stufenweise beschleunigte sie den Rhythmus. War es erst das unsichere Herumtasten des Spazierstocks eines Blinden, so war es bald das ratternde Stakkato eines feuernden Maschinengewehrs. »Den Verkehr stoppen? Das ist unmöglich. Wir würden in jeder Stunde Millionen Dollars verlieren. Das dadurch ausgelöste Chaos im weltweiten Handelsaustausch gar nicht zu erwähnen. Hast du auch nur eine Vorstellung davon, wie viele Leute wir an einem durchschnittlichen Tag durch das Netz schicken? Millionen. Nein, ich fürchte, das können wir nicht machen.« Saul wandte sich an Bulgavin. Zumindest hatte er in ihm einen Verbündeten. »Vielleicht sollten wir erst Sekretär Bulgavin um seine Meinung bitten, bevor wir einen seiner Landsleute abschreiben.« Aber Bulgavin überraschte Saul. »Ich glaube, ich muß Miß Warren zustimmen.« Er streckte einen Arm in Richtung Michelle aus, den Handteller oben, die Finger gespreizt, in der Art eines Zauberkünstlers, der beweisen wollte, daß er nirgends Kaninchen versteckt hatte. »Da es Ihnen allem Anschein nach nicht möglich ist, eine Spur von Galina zu finden, werden wir widerstrebend die Tatsache, daß sie in dem Transmissionsnetz gestorben ist, akzeptieren. Ich werde die Zeitungen davon in Kenntnis setzen, daß die Brückengesellschaft in unseren Augen frei von jeder Schuld ist, daß ihr Tod ein Akt der Vorsehung war.« Er lächelte. Seine falschen Zähne sahen so mies aus, daß Saul zu der Überzeugung kam, Bulgavin hatte seinen staatlichen Zahnarzt angewiesen, sie entsprechend seiner ansonsten schon erheblichen Ähnlichkeit mit einem tollwütigen Schakal zu
gestalten. »Ist die Brückengesellschaft mit einem solchen Statement einverstanden, Miß Warren?« »Vollkommen«, gab sie zurück. »Das ist sehr großzügig von Ihnen. Im Namen der Brückengesellschaft werde ich eine Erwiderung vorbereiten, die unser Mitgefühl darüber ausdrückt, daß Ihr Land eine so berühmte Künstlerin verloren hat. Natürlich wird unsere Versicherung auf sie zukommen.« »Natürlich.« Bulgavin wollte ihre Hand schütteln. »Ich glaube, es ist noch ein bißchen voreilig, jetzt schon Erde auf den Sarg zu schaufeln«, wandte Saul ein, »insbesondere, da wir noch immer keine Leiche haben. Um es noch einmal zu sagen: Saul meint, daß wir eine gute Chance haben. Galina Rosmanov lebend herauszuholen, wenn wir den Verkehr stoppen.« Michelles wohlgeformte Hände wedelten dicht vor ihr wie zwei umgestülpte Pendel. »Ich sehe wirklich keinen Grund, diese Unterhaltung weiter fortzuführen«, sagte sie gereizt. »Meine Entscheidung ist gefallen.« »Die schwerwiegenden Beeinträchtigungen der Weltwirtschaft, die mit einer Stillegung des gesamten Systems einhergehen würde, scheinen mir der außerordentlich geringen Erfolgsaussicht nicht angemessen.« Bulgavin sprach mit der hastigen Logik eines Bürokraten, der fürchtete, ein gerade getätigter Geschäftsabschluß könne wieder rückgängig gemacht werden. »Möglicherweise stimmt Ihnen beiden die Federal Transporting Agency nicht zu«, sagte Saul. »Vielleicht hat man dort Verständnis für die üble Lage des Passagiers. Ein Verständnis, das hier, glaube ich, nicht vorhanden ist.« Die Federal Transporting Agency. Die einzige Drohung, mit der Michelle zu beeindrucken war. Zu Beginn des Materietransmissions-Geschäfts waren eine Menge
unverbürgte Berichte über Fehlfunktionen und verpfuschte Transfers aufgetaucht. Die öffentliche Meinung zu der Zeit war gewesen, daß die Technik der Brücken zu komplex und bedeutend war, um sie allein der Industrie zu überantworten. Die Regierung hatte darum die Brückengesellschaft unter die Aufsicht der Federal Transportation Agency gestellt. Tatsächlich arbeitete die Brückengesellschaft autonom. Aber diese Autonomie hatte in dem Augenblick ein Ende, in dem die FTA auf ihrer legalen Rechtshoheit bestand. »Laß es mich mit Sekretär Bulgavin besprechen«, schlug Michelle vor. »Unter vier Augen.« Saul verließ das Büro. Einige Minuten später rief ihn Michelle zurück. Bulgavin war verschwunden. Während Sauls Abwesenheit hatte er das Büro durch eine Nebentür verlassen. »Das war ja wirklich nett von dir«, sagte Michelle. »Du bezahlst deinen Tequila mit unserem Geld. Du stehst auf unserer Lohnliste. Wenn wir die Leine straff ziehen, solltest du deinen Brötchengeber eigentlich nicht ins Bein beißen.« »Manchmal halte ich mich eben für einen Wächter über Moral und Sittlichkeit in diesem Unternehmen. Scheint im Augenblick aber eine eher unsichere Stelle zu sein. Zu welcher Entscheidung bist du mit dem entzückenden Sekretär gekommen?« »Ich werde das Netz stillegen.« »Eine gute Entscheidung.« »Aber nur um jeweils eine weitere Stunde. Ich erwarte von dir alle sechzig Minuten einen genauen Bericht. In dem Augenblick, wo ich glaube, daß es vergeblich ist – ich wiederhole: in dem Augenblick, wo ich glaube, daß es vergeblich ist – werden wir das Netz sofort wieder öffnen. Kapiert?«
»Alles klar.« Er drehte sich um und verließ das Büro. Niemand von ihnen machte Anstalten, auf Wiedersehen zu sagen.
»Wir schalten ab«, informierte er Herman. Der nickte und machte sich sofort an die Arbeit, um die nötigen Vorbereitungen zu treffen. »War’s schwer?« erkundigte sich Rosie. »Allerdings. Wißt ihr, es ist seltsam. Die da oben wollen offenbar gar nicht, das wir was rauskriegen. Ich beginne zu befürchten, daß diese ganze Sache etwas mit Politik zu tun hat. Die Frage ist, wie wir das feststellen können.« Saul umwickelte seine Hand mit einem langen Streifen des gelochten Papiers. Durch die wie zufällig angeordneten Löcher konnte er immer noch kleine Ausschnitte der Haut erkennen. »Rosie, wir beide werden uns einmal Galina Rosmanovs Apartment ansehen.«
VII
Genau als die Pressekampagne, die die große Bürgernähe der Brückengesellschaft und ihre enorme Sorgfalt im Umgang mit der Sicherheit ihrer Passagiere zum Inhalt hatte, ihren Höhepunkt erreichte, wurde das gesamte Transmissionsnetz auf Bereitschaft zurückgeschaltet. Dieser Vorgang war beispiellos. Es wurde nur noch solchen Personen Zutritt gewährt, die etwas mit der Überprüfung oder Instandhaltung des Leitungsgeflechts zu tun hatten. Auf dem Weg zu den Abreisezugängen trafen Saul und Rosie auf Hunderte von hier gestrandeten Passagieren, die ihrem Ärger Luft machten. »Ich hoffe, es geht alles gut«, sagte Saul, als Rosie und er durch den Zugang schritten, auf dem »Richtung: Rom« zu lesen war. Kurz nachdem Italien kommunistisch geworden war, hatten die Russen das Land mit einer Armee aus Wissenschaftlern, Athleten und Staatsbeamten überfallen. Der Aufenthalt in Italien wurde zu einer Belohnung für loyales Verhalten der Partei gegenüber, eine offizielle Anerkennung für einen wertvollen Beitrag zur gemeinsamen Sache. Damit wurde Italien zum qualitativen Gegenstück zu Sibirien. Die meisten russischen Künstler zogen es vor, in Florenz zu leben; die Wissenschaftler in Mailand; die Athleten in Sizilien. Die russischen Staatsbeamten waren in Rom zu Hause. So wie auch Galina Rosmanov. Saul und Rosie schluckten ihre Rückhol-Kapseln und traten, Rosie voran, in den Transporter. Eine Stunde später winkte Saul nach einem Taxi, das sie in die Stadt bringen sollte. Die Fahrt würde fünfundsiebzig
Minuten dauern, länger als die Reise von Mexico City, aber das schien eine gängige Nebenerscheinung bei der Entwicklung neuer Transportsysteme zu sein. Außerhalb der Städte war das Land billiger, es existierten Bebauungspläne, Gründe, die dazu führten, daß solche Terminals immer weitab einer Stadt errichtet wurden. So war es den Flughäfen ergangen, und so geschah es auch mit den Brücken. Der Portier des Apartment-Hauses, in dem Galina lebte, trug eine russische Armeeuniform. Direkt über dem Herzen befanden sich sechs fortschreitend verkürzende Streifen mit Orden. Der Glanz der Messingknöpfe hatte sich getrübt. Er sprach perfekt Englisch, aber er gab solange vor, nicht zu verstehen, bis ihm Saul ein großzügiges Trinkgeld in die Hand drückte. Kaum hatte er das Geld eingesteckt, da geleitete er Saul und Rosie ins oberste Stockwerk und verschaffte ihnen mit seinem Hauptschlüssel Zugang zu Galinas PenthouseApartment. Es hätte ebensogut 90 Prozent der anderen arbeitenden und alleinstehenden Mädchen auf der Welt gehören können. Auf jeden Fall enthielt es die wichtigsten Gemeinsamkeiten. Ein Frühstückstisch mit zwei Stühlen. Ein schweres Sofa und der dazu passende Lehnstuhl, auf dem Bücher wie zufällig verstreut waren, um der Wohnung die angeblich richtige Atmosphäre zu geben. Eine teure japanische Stereoanlage mit einer außergewöhnlich schlechten Klangqualität. Platten, etwa zu gleichen Anteilen Klassik und gewöhnlicher amerikanischer Pop. Ein Bett, das zwei Personen bequem Platz bot, vorausgesetzt, die doppelte Belastung dauerte nicht länger als ein paar Stunden. Der Kühlschrank enthielt zwei Flaschen eines guten französischen Weins und ein Sortiment verschiedener DiätSalatsoßen. Ein Kopfsalat hatte sich braun verfärbt. Die Kartoffeln im Gemüsefach keimten. Grüner Schimmel
bedeckte den Käse; das Fleisch war verdorben. Offenbar hatte Galina Rosmanov fürs Kochen nicht viel übriggehabt. »Wonach suchst du?« fragte Rosie. Sie öffnete eine Schublade und durchsuchte den Inhalt, ein zartes Sortiment durchscheinender Damenunterwäsche. Sie ergriff einen dünnen Büstenhalter und hielt ihn vor ihre Brust. Er war nicht einmal halb so groß, wie er hätte sein müssen. Sorgfältig legte sie den BH an seinen Platz zurück. Sie behandelte ihn wie ein vergilbtes Foto, das sie aus einem Album genommen hatte, das ihre eigene frivole Jugend dokumentierte. »Irgend etwas Ungewöhnliches«, antwortete Saul. »Irgend etwas, das uns einen Hinweis darauf gibt, warum jemand ein Interesse daran hätte haben können, sie im Netz verschwinden zu lassen.« Saul warf einen Blick in die Küche und das Wohnzimmer. Dort hatte er Glück. Hinter einer kleinen Radierung, die anscheinend aber ein echter Picasso war, entdeckte er einen Safe. Er zerrte an dem Griff. Verschlossen. »He, Rosie!« rief er. »Wie gut bist du bei der psychischen Erfassung von Safe-Kombinationen?« Sie streckte den Kopf ins Zimmer. »Einfach großartig. Versuch es mal mit fünfundachtzig links, sechzehn rechts, dreißig links.« »Willst du mich auf den Arm nehmen?« »Versuch es, und du wirst es wissen.« Das tat Saul. Die Safetür schwang auf. »Meine Güte. Das gibt’s doch nicht. Wir hast du das fertiggebracht?« Sie watschelte auf ihn zu. »Ganz einfach. Ich hab’ die Schublade ganz aus dem Nachtschränkchen herausgezogen und auf der Unterseite einen aufgeklebten Zettel mit drei Nummern gefunden.« Sie grinste breit. »Außer einer der größten Seherinnen aller Zeiten bin ich auch noch der berühmteste Fan der Detektivshows im Fernsehen. Mittlerweile könnte ich wie ein Profi in jede Wohnung
eindringen. Glaub mir, wenn ich Safekombinationen einfach so aus dem Ärmel schütteln könnte, dann hätte ich mich schon vor Jahren zur Ruhe gesetzt.« Sie legte den Kopf in den Nacken. »Nur macht mir da der da oben einen Strich durch die Rechnung«, fügte sie munter hinzu. Saul griff in den Safe hinein und holte den Inhalt heraus. Ein Notizbuch, das mit technischen Gleichungen gefüllt war, ein bernsteinfarbenes Kunststofffläschchen mit einem weißen Sicherheitsverschluß und eine Milchglasflasche, die zur Hälfte mit kreideweißem Pulver gefüllt und mit einem Korkstöpsel verschlossen war. Das Fläschchen enthielt etwa fünfzig graue fingernagelgroße Tabletten. Saul schnupperte an einer. Sie verströmte ein beißendes Aroma, wie eine Mischung aus Honig und Gewürznelken. Keine der Tabletten wies eine Identifikationsprägung auf. Und sie waren auch nicht alle genau gleich groß, so, als seien sie von Hand hergestellt. Das Pulver hatte keinen wahrnehmbaren Geruch. »Könnte es sein, daß sie mit irgendeinem Rauschgiftring zu tun hat?« »Möglich«, entgegnete Saul. »Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.« Während Rosie auf direktem Wege nach Mexico City zurückkehrte, machte Saul in New York Zwischenstation, wo er Tabletten und Pulver einem Labor der Brückengesellschaft zur chemischen Analyse übergab. Sofort nach seiner Ankunft in Mexico City suchte er Herman auf. »Irgendwelche Fortschritte?« fragte er. »Ich glaube ja«, sagte Herman. »Ich empfange seltsame Impulse aus der ersten Sammelstation zwischen hier und Washington. Ich bin gerade auf dem Weg, eine genauere Überprüfung vorzunehmen. Kommst du mit?« »Wie lange wird’s dauern?« »Eine Stunde mit dem Flugzeug.«
Saul blickte auf seinen Schreibtisch. Seit fast fünf Stunden hatte er Michelle keinen Bericht erstattet. Mindestens sechs Nachrichten hatte sie für ihn hinterlassen. Jede mit gleichem Inhalt. SOFORT ZU MIR KOMMEN. DRINGEND! Er zerknüllte sie und warf sie in den Papierkorb. »Laß uns gehen.«
Jede Sammelstation kennzeichnete das Ende eines BrückenSektors, und natürlich den Beginn eines neuen. Ein Kanal des Computers geleitete den Reisenden hinein, ein anderer wieder hinaus. Natürlich waren die einzelnen Kanäle von den anderen bestens abgeschirmt, um völlige Sicherheit zu garantieren und Kollisionen auszuschließen. Die Sammelstation selbst setzte sich aus Hunderten von metallenen Waben zusammen, die in einem konstant klimatisierten Gebäude untergebracht waren. Eine Wabe war der einzige Ort, an dem die Materie-Transferierung physische Formen annahm. Jedesmal, wenn ein Passagier in einer solchen Wabe zusammengesetzt und dann sofort wieder entmaterialisiert wurde, kam aus ihr ein Summen. Die Veteranen behaupteten, sie könnten allein aus dem charakteristischen Summen das Gewicht des jeweiligen Passagiers bis auf das Gramm abschätzen. Die Neuen hingegen spotteten über solche unwissenschaftlichen Erklärungen und zogen ein Vielmillionen-Dollar-Instrumentarium vor, mit dem sie zum gleichen Ergebnis kamen. Nachdem sie sich dem Chefingenieur der Station vorgestellt hatten, ließ sich Herman vor der Kontrollkonsole nieder und schloß einige mikroprozessorgesteuerte Meßinstrumente an, die er mitgebracht hatte, und begann dann seine Sondierung. Nach fast einer Stunde schaltete er seine Instrumente wieder ab. »Ich bin mir nicht ganz sicher«, sagte er, »aber ich glaube,
daß sie hier drin ist. Obwohl mir meine Meßinstrumente noch niemals zuvor solche Daten geliefert haben. Es ist, als hätte sich ihr Gewicht verdreifacht. Als hätte sie sich mit zwei anderen Passagieren verbunden. Das ist absolut unmöglich, aber es würde erklären, warum wir sie nicht finden konnten. Wir haben nach einer kleinen, aufgelösten Teeny gesucht, nicht nach den Rocky Mountains.« »Was nun?« »Weitere Tests und Berechnungen. Es ist noch ein wenig zu früh, um ganz sicher zu sein. Ich muß sagen, daß ich noch niemals mit etwas konfrontiert worden bin, daß diesem Fall hier ähnelt.« »Was machen wir, wenn es Galina ist? Könntest du sie da herausholen?« Herman rieb sich mit dem Finger an der Schläfe, als wolle er weitere Informationen aus seinem Hirn herausmassieren. »Schwer zu sagen. Solange sie da drin ist, können wir ihr Gewicht nicht exakt genug ermitteln, und ohne diese Information können wir nicht viel machen.« Saul klopfte ihm auf die Schulter. »Mach weiter, alter Junge. Wenn es jemand fertigbringen kann, dann du. Ich wünschte nur, ich könnte hierbleiben und dir moralische Unterstützung geben, aber ich fürchte, ich kann Michelle nicht länger hinhalten.« Er wollte gehen, erinnerte sich dann aber an das Notizbuch in seiner Aktentasche. Er holte es heraus und zeigte es Herman. »Dies hier habe ich in Galinas Apartment gefunden. Hast du eine Ahnung, was diese mathematischen Anmerkungen zu bedeuten haben?« Herman betrachtete sie, ging sie langsam durch und reichte das Notizbuch dann zurück. »Nichts Wichtiges. Ein paar zusammenhanglose Notizen über Hydroelektronik. Wahrscheinlich nur die Gedächtnisstütze eines Studenten.«
»Was sollte sie mit so etwas anfangen?« »Keinen blassen Schimmer.« Plötzlich, ohne Vorankündigung, krümmte sich Herman vor Schmerz zusammen. Saul stürzte an seine Seite, half ihm zu einer nahen Couch und ließ ihn auf die Polster gleiten. »Es ist mir egal, was du mir jetzt sagst«, meinte Saul. »Ich werde sofort einen Arzt holen lassen.« »Nein.« Mühsam richtete sich Herman auf. »Ich bin okay. Es ist nur ein Magenkrampf. Wahrscheinlich habe ich nur etwas Verdorbenes gegessen.« »Ein Arzt wird es sich ansehen.« »Na gut. Aber nicht jetzt. Später. Sobald ich das hier erledigt habe. Bitte, Saul. Dies ist wirklich wichtig für mich. Später. In Ordnung?« Jetzt mußte Saul eine Entscheidung treffen, die er haßte. Er mußte zwischen Freundschaft und Pflicht wählen. Ohne Hermans Genie war es mehr als fraglich, wann es der regulären Ingenieur-Abteilung der Brückengesellschaft gelingen würde, Galina Rosmanov zu befreien. Auf der anderen Seite brauchte Herman ganz offensichtlich eine medizinische Behandlung. Vielleicht mußte er sogar in ein Krankenhaus. Was sollte er tun? Natürlich traf Saul die für ihn typische Entscheidung. Die Pflicht ging vor. »Versprochen? Du gehst sofort zu einem Arzt, sobald wir sie da rausgeholt haben?« »Natürlich.« Herman schenkte Saul sein bestes jungenhaftes Es-ist-nicht-von-Bedeutung-Lächeln. »Und hast du jemals erlebt, daß ich ein Versprechen gebrochen habe?« »Nein, niemals.« Aber irgendwie hatte Saul das Gefühl, als könne es diesmal anders kommen, auch wenn er nicht zu sagen vermochte, warum.
VIII
Jackson, Michelles neuer persönlicher Sekretär, ein junger Mann mit den Muskeln eines Gewichtshebers, erinnerte Saul an einen deutschen Schäferhund, dem er einmal begegnet war. Der Hund hatte einem Gefängniswärter gehört. Gehorsam hatte er den Wärter auf Schritt und Tritt begleite, dabei oft die Hand seines Herrn geleckt. Es war ein ausgesprochen dummes Tier gewesen, und das einzige, was es jemals hatte lernen können, war, auf einen Befehl das Handgelenk eines Menschen mit einem einzigen Zupacken der kräftigen Kiefer zu zermalmen. Nur diese eine Fähigkeit. Aber sie genügte für ein ganzes komfortables Leben. Über Interkom informierte Jackson Michelle, daß Saul sie zu sprechen wünschte. Sie erwiderte, daß sie in einer Minute soweit sei. Saul zündete sich eine Zigarette an und setzte sich. »Man hat mir gesagt«, meinte Jackson, »daß Sie und Michelle mal Mann und Frau waren.« Wie ein immaterieller Kinnhaken durchdrang Sauls Antwort seinen ausgeatmeten Zigarettenrauch. »Ich glaube, Mungo und Schlange paßt besser.« »Das verstehe ich nicht.« Jackson neigte den Kopf zur Seite, als könne er es dadurch seinen Ohren leichter machen, die Information an sein beschränktes Hirn weiterzugeben. Saul fragte sich, wie schnell er beim Tippen war. »Ich sagte, ja, wir waren einmal verheiratet.« »Das ist genau das, was ich gehört habe. Es muß für Sie nicht leicht gewesen sein, von einer so großartigen Frau hinausgeworfen zu werden.«
Obwohl Jackson offensichtlich nicht in der Lage war, sich übermäßig Gedanken über den Kummer eines völlig Fremden machen zu können, so hatte seine Bemerkung doch offenbar eine tiefere Bedeutung, als Saul vermutet hätte. Teurer Schmuck. Modische Kleidung. Vor allen Dingen aber die frischen Falten in dem Gesicht des Sekretärs, die wie winzige Narben waren, die ihm durch wiederholte Schläge mit einer scharfen Zunge zugefügt worden waren. »Ich sag’ Ihnen was. Ich gebe Ihnen einen kostenlosen Ratschlag. Wenn sie eine lange, nette Beziehung zu Michelle im Auge haben, dann waschen Sie ihre Hände mindestens zweimal jede Stunde. Und kleckern Sie keine Pizza auf ihre Satin-Bettwäsche.« Jackson nickte mit der verwirrten Zustimmung eines wackelköpfigen Kunststoffvogels, der am Heckfenster eines Autos auf und ab hüpft. »Jackson«, sagte Michelle, »ich werde jetzt mit ihm sprechen.« Michelle setzte sich an ihren Schreibtisch und streckte die Arme aus. Sie trug ein enges blaues Kostüm, das einer der besten New Yorker Couturiers für sie entworfen hatte. Sie trug ihr Haar in einer komplizierten Frisur, wie sie nur drei Stunden unter der Obhut eines sehr teueren Friseursalons hervorbringen konnten. Sie sah makellos aus. Wie immer nach einer solchen Intensivbehandlung. An einer Hand konnte Saul die Augenblicke abzählen, in denen er sie unordentlich gesehen hatte. Tatsächlich hatte er oft gesagt, daß er kaum zwischen ihr und ihrem selbstreinigenden Backofen unterscheiden könne. Saul deutete auf den Sekretär. »Mit einem Pudel könntest du dich wahrscheinlich auf einem höheren Niveau unterhalten.« »Aber könnte er es auch so gut machen?« Ihr Lächeln war süß wie Kirschlikör. Voller Herzlichkeit, aber falsch. »Laß uns zum Kern der Sache kommen. Das Netz ist jetzt bereits seit
fast vierundzwanzig Stunden geschlossen. Der Welthandel ist fast zum Erliegen gekommen. Das Verkehrsnetz ist völlig überlastet. Fluglinien, Züge und Busse sind nicht für solche Belastungen vorgesehen. Nach der letzten Übersicht, die ich vorliegen habe, sind fast acht Millionen Passagiere in den verschiedenen Terminals auf der Welt hängengeblieben. Unsere Aktien sind um fast dreihundert Punkte gefallen und nähern sich jetzt der 2000er-Marke, zum erstenmal seit Jahren. Geschäftsleute und Transportsekretäre aus jedem wichtigen Land rufen mich an. Wir verlieren in jeder Stunde Millionenprofite. Meine Aktionäre sitzen mir im Nacken. Ich kann das Netz nicht mehr lange geschlossen halten. Habt ihr inzwischen irgendwelche Fortschritte gemacht?« »Ja. Herman glaubt, daß er Galina in der ersten Sammelstation zwischen hier und Washington lokalisiert hat.« »Bis wann habt ihr sie herausgeholt?« »Schwer zu sagen. Anscheinend hat sich ihr Gewicht erhöht. Wie, das wissen wir nicht. Um wieviel, wissen wir ebenfalls nicht. Das ist das nächste, was wir herausfinden müssen.« »Du willst also, da ich das Netz noch nicht wieder öffne?« »Im Gegenteil. Herman meint, du könntest es wieder in Betrieb nehmen. Ausgenommen die Sektoren zwischen Washington und Mexico City.« Bevor er noch das letzte Wort ausgesprochen hatte, hatte sie schon den Telefonhörer in der Hand und die Nummer ihres Transportleiters gewählt. »Wann kann ich auch die Strecke wieder freigeben und damit auf Vollservice gehen?« fragte sie Saul über die Sprechmuschel hinweg. Der trat ans Fenster und sah auf Mexico City hinab, das sich unter ihm ausbreitete. In der Ferne war der Chapultapec Park zu sehen, unter einem heiteren, wolkenlosen Himmel in Sonnenlicht getaucht. Wann war er das letzte Mal im Sonnenschein durch den Park gegangen? Es mußte Jahre her
sein. Plötzlich erfüllte ihn die schreckliche Vorstellung, daß er ebenfalls zu einem menschlichen Maulwurf wurde, der in Diensten der Brückengesellschaft zusammen mit den anderen halbblinden Geschöpfen der Nacht in den Geschäftsbüros und Korridoren herumlief. »Du siehst immer nur die negative Seite einer Sache, nicht wahr?« fragte er. »Du bist niemals mit einem Teilerfolg zufrieden.« »Nein, allerdings nicht, Schätzchen. Du etwa?« Über Telefon meldete sich ihr Transportleiter. »Otto«, sagte sie, »ich habe gute Neuigkeiten. Wir schalten fast alles wieder auf volle Aktivität.«
»So, und was geschieht nun?« fragte sie Saul, nachdem sie mit dem Leiter der Werbeabteilung gesprochen hatte, um ein Maximum an öffentlicher Beachtung für die Reaktivierung des Transportsystems zu arrangieren. Saul bot ihr eine Zigarette an, die sie ablehnte, um sich statt dessen eine von ihren eigenen anzuzünden. Das blaue Papier paßte perfekt zu ihrem Kostüm. »Ich habe eine Vermutung«, erwiderte er. »Ich glaube, jemand mit den entsprechenden technischen Kenntnissen will Galina Rosmanov auf Eis legen.« Michelles Zigarette rollte zwischen Daumen und Zeigefinger vor und zurück wie eine winzige Dampfwalze. »Das ist lächerlich. Was könnte sie schon getan haben, was einen derart einflußreichen Gegenspieler auf den Plan ruft? Man ist höchstens böse auf sie, wenn sie nicht gut tanzt.« »Richtig. Und darum glaube ich, daß sie in irgendeiner politischen Sache steckt.« Er verzog sein Gesicht zu einer Grimasse, als hätte er einen Schluck aus einer Flasche mit bitterer Medizin genommen. »Ich möchte das Ballett, in dem sie getanzt hat, unter die Lupe nehmen. Und es wäre nicht schlecht, wenn du mich begleiten würdest.«
Michelle riß die Augen auf, kniff sie dann zu Schlitzen zusammen und musterte ihn mißtrauisch. »Warum?« »Ich brauche deine Hilfe.« »Das wäre das erste Mal.« »Ich möchte, daß du für mich übersetzt.« »Tut mir leid, Liebling. Ich spreche kein Russisch.« »Die Sprache meine ich nicht.« Jetzt hatte sie ihn da, wo sie ihn wollte, und sie hatte nicht die Absicht, ihn wieder so leicht aus dem Schwitzkasten herauszulassen. »Mit anderen Worten, du brauchst mich aufgrund meines Zitat Anfang kulturellen Sachverstandes Zitat Ende. Weil ich mich zum Abendessen umziehe, meinen Kaffee nicht aus der Untertasse schlürfe und das Bildungsfernsehen unterstütze.« »Das ist genau das, was ich damit sagen wollte.« »Schade, daß wir nicht fünf Jahre früher eine solche Allianz schließen konnten. Wir hätten zusammen einen Artikel für ›Wahre Geschichten‹ schreiben können. ›Wie uns das Ballett und ein potentieller Mord zusammenschweißten und unsere Ehe retteten.‹« Sie zog sich ihren Mantel über und folgte Saul.
Als sie im Kennedy Center ankamen, waren es noch sechs Stunden bis zur Aufführen von Romeo und Julia. Sergei Popovich, der Ballettleiter, ein herausgeputzter, dunkelhaariger Mann in den Vierzigern, probte wie besessen mit der jungen Ballerina, die in der Aufführung den Part von Galina Rosmanov übernehmen sollte. Saul und Michelle traten an seine Seite. »Mr. Popovich«, sagte Saul, »ich bin Saul Lukas, und das ist Michelle Warren. Wir haben telefonisch schon über Galina Rosmanov gesprochen.«
»Äh, ja. Sie kommen von der amerikanischen Brückengesellschaft, nicht wahr?« Popovich wandte nicht eine Sekunde den Blick von seiner Truppe. »Nein, nein, nein!« rief er seinem Vortänzer zu. »Mehr Grazie, mehr Anmut. Du mußt den Drang nach Freiheit ausdrücken, nicht einfach in die Luft hüpfen.« Die junge Partnerin des Tänzers vollführte eine perfekte Gargouillade, wirbelte um die eigene Achse, als hätten sich versteckte, aufgezogene Federn gelöst. »Ist sie nicht wundervoll?« fragte Popovich. »Und erst sechzehn. Ich habe sie in einer unbedeutenden Ballettschule in Wolgograd entdeckt. Sie werden noch viel von ihr hören. Denken Sie an meine Worte!« »Haben Sie auch Galina Rosmanov entdeckt?« fragte Saul. »Ah, Galina. Eine brillante Künstlerin. Aber ich habe sie nicht entdeckt. Nein. Mein Vorgänger. Gregor Alexian. Er wurde wegen seiner eher unorthodoxen Überzeugungen von seiner Position… nun, sagen wir, befreit. Armer Gregor. Er war der Meinung, seinen Tänzern müsse eine größere Freiheit gewährt werden, damit sie sich besser selbst verwirklichen könnten, daß so wenig Zwang wie möglich angewandt werden solle.« Popovich berührte die Ballerina mit seinem Spazierstock an der Schulter. »Etwas tiefer hinunter, und dann mit einem Satz in die Höhe. Aus diesem Kontrast heraus wird die Bewegung eindrucksvoller.« Er hielt den Stock mit beiden Händen, wie ein Samurai, bereit, jeden zu enthaupten, der auch nur geringfügig von seinen Vorstellungen abwich. »Und Sie sind nicht der Meinung, daß den Künstlern mehr Freiraum für ihre Selbstverwirklichung gewährt werden müßte?« erkundigte sich Michelle. »Natürlich nicht«, sagte er in einem Tonfall, als müsse er einen zurückgebliebenen Schüler über die Grundlagen der Arithmetik belehren. »Wir dürfen nicht zulassen, daß
individuelle Eigenarten die großen Traditionen beeinträchtigen. Nein, das Ballett muß wie alle anderen Künste auch mit unserer Politik harmonisieren. In gewisser Weise haben wir einen Auftrag zu erfüllen. Dies zu verändern, den Auftrag zu ignorieren, ist, milde ausgedrückt, unklug.« »Und, klar ausgedrückt, möglicherweise tödlich?« fügte Saul hinzu. Popovich klemmte sich den Stock unter einen Arm und gab mit beiden Händen in Einklang mit der Musik den Takt an, einen strengen Rhythmus. »Klar ausgedrückt«, stimmte er fast unhörbar zu. »Hat Galina Rosmanov diesen Auftrag ignoriert?« fragte Michelle. »Galina Rosmanov war ein kompliziertes Mädchen, eigentlich noch ein Kind, mit der Widerspenstigkeit und dem Eigensinn eines Kindes. Eine Tänzerin, die man nur schwer in die Gruppe integrieren kann. Aber auch eine Realistin. Sie wußte, daß sie, wollte sie Primaballerina werden, Kompromisse einzugehen hatte. Das tat sie auch. Obwohl sie sich Mühe gab, ihre individuelle Erscheinung zu wahren.« Das hört sich ganz nach dem Typ von Frauen an, den Saul bevorzugte. »Mir sind Gerüchte zu Ohren gekommen«, sagte er, »daß sie in letzter Zeit nicht mehr ganz so loyal war. Ist das richtig?« Popovich gab das Zeichen zu einer kurzen Pause. »Leider verschwendete Galina ihre Energie an das, was Sie das süße Leben nennen würden. Das Resultat war, daß ihre Tranzqualität darunter litt. Ich mußte sie mehrmals darauf hinweisen, ihr Timing besser im Auge zu behalten. Ihre Bewegungen verloren ihre Präzision, ihre Eleganz. Nur einen Tag, bevor sie in der Mexikolinie verlorenging, habe ich das noch einmal mit ihr diskutiert. Ich habe ihr gesagt, sie solle sich zusammenreißen und ihrer Arbeit mehr Konzentration
widmen, andernfalls würde ich ihr eine unbedeutendere Rolle geben. An diesem Punkt erhitzte sich unser Gespräch etwas. Sie drohte, sie würde in einem anderen Land um politisches Asyl ersuchen, aber nur in der Weise, in der ein Kind damit droht, von seinem Zuhause fortzulaufen. Es war eine leere Drohung, die mich einschüchtern sollte. Ohne eine wirkliche Absicht, sie auch konkret werden zu lassen. Ich habe hier eine Aufzeichnung, die zeigt, wie sie einen Abschnitt von Ophelia tanzt. Ich glaube, wenn Sie sie sich ansehen, verstehen Sie, was ich mit ihrer schlechter gewordenen Technik meine.« Sergei übergab sie an einen Assistenten, der sie zu einem Umkleideraum führte. Dort baute der Assistent einen kleinen Projektor mit Bildschirm auf. Er legte den Film ein, aktivierte den Projektor und löschte das Licht. Galina Rosmanov begann zu tanzen. Ihr zerbrechlich wirkender Körper schwebte durch die Luft, schien gewichtslos, als er sich herumdrehte. Es war das erste Mal, daß Saul sie wirklich sah – ließ man die Transmissionsaufzeichnung außer acht –, und er war von ihrem elfenhaften Charme völlig hingerissen. Sie trug ein ärmelloses, schwarzes Trikot. Ihr Haar, das zu einem Knoten zusammengesteckt war, umgab einem Halo gleich ihren Kopf. Sie hatte kleine, aber wohlgeformte Brüste und außergewöhnlich hübsche Beine. »Das gefällt mir verdammt gut«, flüsterte Saul Michelle zu, und es war klar, daß er nicht über ihre Art zu tanzen sprach. »Das überrascht mich nicht. Du hast dich schon immer zum athletischen Typ hingezogen gefühlt. Zu schwitzenden Mädchen in Jogging-Anzügen.« »Schließt du dich in diese Kategorie mit ein?« »Ganz sicher nicht. Ich schwitze nie.« Sie grinste. »Das solltest du eigentlich wissen. Ich transpiriere, und das auch nur unter gesellschaftlich akzeptierbaren Umständen – am
Swimmingpool des Kairoer Hilton oder am Strand der Costa del Sol.« Der Film war zu Ende. Saul und Michelle verließen den Raum und machten sich auf die Suche nach der Ballerina, die inzwischen Galinas Platz eingenommen hatte. Ihr Name war Felice Pierenska, und sie führte selbst die gewöhnlichsten Bewegungen – ein Glas Wasser trinken, sich am Arm kratzen, die Augen schließen – mit einer unglaublichen Anmut durch. »Erzählen Sie uns etwas über Galina Rosmanov«, forderte Saul sie auf. »Hatte sei Feinde?« »Feinde? Natürlich. Hunderte.« Aus dem Mund des Mädchens hörte es sich wie die normalste Sache der Welt an. »Sie ist ein Star. Sie hat viele Feinde. Leute, die ihr ihr Talent und ihre Stellung mißgönnen.« »Und Sie? Was ist mit Ihnen? Was halten Sie von Galina?« »Oh, ich verachte sie.« Während Felice sprach, bewegte sie ständig Arme und Beine. Offenbar war sie nicht in der Lage, einen Moment stillzusitzen. »Ich bin nun so gut, wie es Galina zu ihrer Glanzzeit war, aber im Gegensatz zu ihr hatte ich bis jetzt immer nur Nebenrollen. Ehrlich gesagt, ich hoffe, sie kommt nie wieder zurück.« In einer Welt, in der nur der Starke überlebte, würde dieses Mädchen sehr einsam sein. »War sie mit jemandem zusammen? Mit jemandem, zu dem sie Vertrauen hatte?« Der Blick aus ihren halbgeschlossenen Augen war verschlagen. Sie hatte bereits die Hinterhältigkeit eines Erwachsenen, aber noch nicht die Selbstkontrolle, sie auch verbergen zu können. »Sie hat einen Liebhaber.« Ein Informationsleckerbissen, den sie bisher in ihrem Reservoir für Offensivwaffen aufbewahrt hatte, um den Zeitpunkt für den günstigsten Einsatz abzuwarten. »In einem Apartment in
Madrid.« Spanien war ein weiterer bevorzugter Treffpunkt der russischen Elite. »Er ist nicht zufällig Hydroelektronikingenieur?« fragte Saul, als er sich an das Notizbuch erinnerte. »Nein, ich glaube, es ist ein Dichter. Ein unveröffentlichter Dichter.« Konnte sie nicht einen Augenblick stillsitzen? »Können Sie mir die Adresse geben?« »Nein, aber da Galina ihre Freizeit zu gleichen Anteilen in Madrid und Rom zugebracht hat, wird der TourneeKoordinator sie sicher haben.« Popovich gab das Zeichen zur Wiederaufnahme der Proben; Felice glitt davon und schwebte über die Hauptbühne, in der vorgeschriebenen Art und Weise, dem offiziellen Staatsauftrag angemessen.
IX
»Erinnerst du dich?« fragte Saul, als sie nach der Fahrt vom Terminal Madrid erreichten. An dem Platz, über den sie jetzt fuhren, lag ein nettes, gemütliches Restaurant namens Meson de San Javier, ein Ort, an dem Gourmets geröstetes Lammfleisch und Liebespaare die romantische Atmosphäre genossen. Während der ersten, glücklichen Wochen ihrer Ehe war es eines ihrer bevorzugten Lokale gewesen. Sie hatten es mindestens einmal im Monat zum Abendessen aufgesucht. »Ich bin seitdem nicht mehr in Madrid gewesen«, gestand Saul. Michelle auch nicht, aber sie sagte es nicht, um Saul nicht die Befriedigung über diesen Umstand zu geben. Was Geld und Gefühl anging, so war sie den Prinzipien der Ein-KanalÜbertragung treu geblieben. Nehmen – aber niemals geben. Während der restlichen Fahrt starrte sie schweigend aus dem Fenster, betrachtete die vorbeiziehenden Gebäude, ohne sie wirklich zu sehen, während eine bittere Erinnerung nach der anderen an ihr vorbeistrich. Vor einem Apartmenthaus der Oberklasse hielt der Wagen an. Eine zerrissene russische Flagge hing schlaff und bewegungslos an der Frontseite. In der Eingangshalle überprüfte Saul die Apartmentnummer, die der Tournee-Koordinator des Kirov-Balletts ihnen genannt hatte. Zwei Namen. G. Rosmanov und Kurchienka, ohne Vorname. Saul klopfte an die Tür. »Ja, wer ist da?« antwortete eine hohe, affektierte, mädchenhafte Stimme.
»Mein Name ist Saul Lukas. Ich arbeite für die amerikanische Brückengesellschaft. Ich untersuche das Verschwinden von Galina Rosmanov.« »Oh ja. Natürlich.« Ein schmächtiger, kaum zwanzigjähriger Junge öffnete die Tür. Er war negroider Abstammung; seine Haut hatte die Farbe von Butter und Honig, die Augen waren mandelförmig und leicht orientalisch. Über einem schwarzen Trikot trug er einen zu großen Fischerpullover. Die Lippen waren üppig geschminkt, die Augen zierte Lidschatten, die Wangen Rouge. In jedem beliebigen anderen Land wären Aufmachung und Make-up dieses Mannes hochmodisch gewesen. Nicht jedoch für einen Russen in Spanien. Hier waren solche Geziertheiten nur das exklusive Kennzeichen der Homosexuellen, kaum des Typs eines Begleiters, den Saul in Anbetracht einer attraktiven, ausgesprochen femininen, weltweiten Berühmtheit erwartet hatte. Der Junge trat zur Seite, so daß sie eintreten konnten. Déjàvu. Als Saul ins Innere des Apartments trat, hatte er das Gefühl, schon einmal an diesem Ort gewesen zu sein. Es war ein fast perfektes Duplikat von Galinas Apartment in Rom. Die selben Farben, das gleiche Mobiliar, die gleichen Teppiche. Nur hatte diese Wohnung nicht die gleiche beiläufige Eleganz. Die Bilder waren unpassend aufgehängt, die Möbel schlecht plaziert, so, als hätte Galina erst einen professionellen Dekorateur mit der Ausstaffierung ihres Apartments in Rom beauftragt, um sich danach unter eigener Regie hier zu versuchen. »Mein Name ist Kurchienka«, sagte Galinas Stubengenosse. »Aber jeder nennt mich Kurch.« Vorurteile können sich schnell als falsch herausstellen. Saul war über die Kraft von Kurchienkas Handschlag mächtig überrascht.
»Dies ist Michelle Warren«, sagte er, »die Direktorin der Brückengesellschaft.« »Angenehm.« Kurch streckte auch ihr die Hand entgegen, allerdings mit dem Handrücken nach oben, so, als ob er erwarte, sie würde sie küssen. Michelle nahm sie, schüttelte sie kurz und ließ sie dann wieder los, in der gleichen Weise, wie man zwei Wochen alten Fisch wieder loswerden möchte. »Sie sagten, Sie untersuchen Galinas Verschwinden«, stellte Kurchienka fest. »Haben Sie schon etwas herausgefunden?« »Ja«, erwiderte Saul. »Wir glauben, sie gefunden zu haben, aber wir wissen nicht, ob sie noch lebt.« »Oh Gott!« Kurchienka ließ sich in einen Lehnsessel fallen, warf seinen Kopf in das Kissen und stöhnte theatralisch, als hätte er es von den Schauspielern der alten HollywoodSchinken gelernt, wie man seinen Schmerz zeigte. »Ich habe befürchtet, daß ihr etwas Schreckliches zustoßen würde. In letzter Zeit hat sie sich so merkwürdig benommen. Können Sie mir Ihr Taschentuch leihen?« bat er Saul. Saul zerrte sein Taschentuch aus der Gesäßtasche und reichte es Kurchienka. »Sie sagen, sie hat sich seltsam aufgeführt. Wie meinen Sie das?« Kurchienka betupfte seine Augen, achtete aber darauf, daß sich seine falschen Wimpern nicht lösten. »Nun, sie hat sich mehr und mehr in eigenartige Vorstellungen hineingesteigert. Sie sprach dauernd davon, daß sie genug Geld zusammenbringen wollte, um in Luxus auf dem Gipfel eines hohen Berges leben zu können.« Er gab das Taschentuch zurück. »Es ist wirklich komisch, daß sie in dem Transmissionsnetz verschwunden ist.« »Tatsächlich?« Saul nahm ihm gegenüber Platz. Kurchienka warf Michelle einen mißtrauischen Blick zu, beugte sich zu Saul vor und senkte die Stimme, um deutlich zu
machen, daß seine geheimen Offenbarungen nur für Saul bestimmt waren. »Nun, in den letzten Monaten hatte sie nichts anderes mehr als diese Brücken im Kopf. Unablässig redete sie davon, wie angenehm es doch wäre, eine private Brücke zu haben, um hierherzukommen, wann sie wollte. Die Brücken faszinierten sie.« »Können Sie sich vorstellen warum?« »Das weiß Gott allein. Zuvor hat sie sich nie dafür interessiert. Ich habe ihr oft gesagt, daß ich ihre neue Leidenschaft für Blödsinn hielte, aber sie ignorierte mich natürlich. Zwischen uns bestand niemals eine echte Beziehung, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich war nur ein Spielzeug für sie, ein Ersatz für ihre Puppen, für die sie inzwischen zu groß war.« »Hat sie irgendwelche Drogen genommen?« »Na klar.« Kurchienka breitete die Hände aus und schüttelte sie wie ein alter Minnesänger. »Die nimmt doch jeder.« »In ihrem anderen Apartment habe ich ein Fläschchen mit Tabletten und ein anderes mit undefinierbarem Pulver gefunden. Haben Sie eine Ahnung, was das sein könnte?« »Das Pulver könnte Kokain gewesen sein. Das schmuggelt sie nämlich für gewöhnlich, wenn sie in Mexiko gewesen ist. Aber die Tabletten? Sie hat nie Tabletten genommen. Sie sagte, daß ihr davon schlecht würde. Die einzigen Tabletten, die ich sie je habe nehmen sehen, war ein gelegentliches Aspirin, ihre Pille und natürlich die, die man nehmen muß, bevor man im Leitungsgeflecht auf die Reise geht.« Michelle trat hinter Saul, legte ihm die Hände auf die Schultern und lehnte sich ein wenig über ihn, so daß Kurchienka nicht länger nur Saul ansprechen konnte, ohne sich dabei ebenfalls an sie zu wenden. »Kennen Sie ein Motiv, warum jemand Galina zu schaden versuchen könnte?« fragte sie.
»Ihr schaden? Galina?« Kurchienka kicherte und warf seinen Kopf zurück wie eine läufige Stute. »Was für eine dumme Frage. Ich kenne niemanden, der keinen Grund gehabt hätte, ihr schaden zu wollen. Sie bevorzugte verheiratete Männer als Liebhaber, überredete sie dazu, ihre Familien zu verlassen und ließ sie dann wie heiße Kartoffeln fallen. Sie intrigierte auf schamlose Weise gegen ihre Kollegen vom Ballett. Ich wäre auch nicht überrascht, wenn ich hörte, daß sie Tiere gequält und Kindern die Bonbons aus dem Mund gestohlen hat.« »Nun, sie kann ja nicht ganz ohne ausgleichende Eigenschaften gewesen sein«, meinte Michelle. »Sie, zum Beispiel, haben sie doch offenbar ganz akzeptabel gefunden.« Das stritt Kurchienka mit der gleichen Hingabe ab wie ein angeklagter Geisteskranker seine Schuld an einem Axtmord. »Genau das Gegenteil. Sie hat mich schrecklich beleidigt.« Er grapschte nach der Hand Sauls. »Sie hat mich mit Schimpfnamen belegt. Mir damit gedroht, mich bei den Behörden wegen meiner… sexuellen Neigungen zu melden.« »Warum haben Sie sie dann nicht verlassen?« fragte Michelle. »Sie müssen meine. Lage verstehen«, entgegnete Kurchienka und schob ihr wie ein reuiger Sünder, der das Abendmahl empfangen möchte, sein Gesicht entgegen. »Ich bin ein Dichter. Und für einen Dichter ist es sehr wichtig, auf ein Reservoir an Leid und Qual zurückgreifen zu können, das er in Verse umsetzen kann. Galina hat mich mit einer wahren Fülle von Pein beliefert.« »Wenn du dir mit einem Hammer auf den Kopf geschlagen hättest, dann hättest du denselben Effekt erzielt«, kommentierte Michelle gerade laut genug, damit Saul es verstehen konnte. »Hatte Galina viele Liebhaber?« fragte der.
Kurchienka dachte ungewöhnlich lange darüber nach, als könne er sich nicht recht entscheiden, wie er eine solche Frage interpretieren sollte. »Sie hatte Männer, die sie liebten«, sagte er schließlich, »aber sie hat nie jemanden von ihnen geliebt. Ich glaube, in Wirklichkeit liebte sie nur sich selbst.« »Wer waren diese Männer?« fragte Michelle. »Kennen Sie ihre Namen?« »Nein. Ich weiß nur, daß sie sehr wichtig und bedeutend waren. Gewöhnlich gab sie damit an. Hochgestellte russische und chinesische Diplomaten. Amerikanische Athleten. Israelische Wissenschaftler.« »Wissenschaftler, sagen Sie.« Saul verfolgte die eine nicht sonderlich vielversprechende Spur. »Jemand, der mit Hydroelektronik zu tun hatte?« »Das möchte ich bezweifeln.« Kurchienka fummelte nervös an seinem Pullover herum. »Die sind für Galina in der Regel nicht reizvoll genug. Sie neigt mehr zu Nuklearphysikern und Nervenärzten. Vor kurzem hatte sie gerade ein Pläsierchen mit einem Materietransmissions-Spezialisten. Ich glaube, daß dies auch für ihre Begeisterung für die Brücken verantwortlich ist. Nein, keine Hydroelektronik-Ingenieure, nichts in der Richtung.« »Was ist mit den Diplomaten? Hat Sie jemals Namen erwähnt.« »Nein.« »Hat sie Ihnen gegenüber jemals die Namen ihrer Liebhaber erwähnt?« »Nein.« »Hat sie jemals angedeutet, daß ihr irgend jemand geheime Informationen hat zukommen lassen?« »Nein.« »Hat Galina jemals eine Heirat ins Auge gefaßt?« fragte Michelle.
Kurchienka gab ein Kichern von sich. »Galina bekam schon auf dem Klo klaustrophobische Anfälle. Und da reden Sie von einer Heirat?« Seine pathetische, dramatische Vortragsweise ließ Saul vermuten, daß er diese Worte schon mehr als einmal ausgesprochen hatte. »Es gab Gerüchte, denen zufolge sie in den Vereinigten Staaten um politisches Asyl ersuchen wollte. Ist da was dran?« Kurchienka stützte erst den einen Arm auf ein Knie, dann den anderen auf das andere, wie ein Marathon-Läufer, der nach der halben Strecke des zermürbenden Wettkampfs mit Krämpfen zu kämpfen hatte. »Keine Ahnung. Aber wenn es tatsächlich zutrifft, dann würde ich sagen, war es Ihr Land, nicht meins, das dies verhindert hat.« »Können Sie das erklären?« fragte Michelle, die offensichtlich durch diese paradoxe Bemerkung verwirrt war. »In letzter Zeit ist Galina für unsere Regierung ein Ärgernis geworden, da sie die Einschränkungen des Theaters ablehnte und einen anderen Weg der Selbstverwirklichung einschlug. Gewiß wäre ihr Gebaren nicht ungestraft hingenommen worden, wäre sie nicht eine solche internationale Berühmtheit gewesen. Ich glaube, meine Regierung wäre froh gewesen, sie loszuwerden. Auf der anderen Seite ist Ihr Land gewöhnlich mit sehr delikaten Verhandlungen über die wechselseitige Umfangsreduzierung des militärischen Brückennetzes beschäftigt. Ein Seitenwechsel von ihr hätte zu diesem Zeitpunkt zu ernsthaften Verwicklungen oder Behinderungen führen können.« Nach einer weiteren halben Stunde im großen und ganzen unproduktiven Fragestellens dankten sie Kurchienka für seine Mühe und gingen.
Als sie nach Mexico City zurückkehrten, wurden sie von Ralph Ferguson bereits in der Rückholung erwartet. »Ich glaube, ihr macht euch besser sofort wieder auf den Weg«, sagte er, sobald sie wieder zu Verstand gekommen waren. »Galina Rosmanov ist gerade aus dem Leitungsgeflecht herausgestolpert.«
X
Zwei Stunden später rasten Saul und Michelle auf dem Rücksitz eines weißen Mercedes eine Bergstraße in der Schweiz hinauf. Auf der linken Tür des Wagens stand in diskreten goldenen Buchstaben »Ryker Sanatorium«. Saul war noch nie in diesem Sanatorium gewesen. Er hatte noch nicht einmal etwas von seiner Existenz gewußt, bis ihn Michelle auf dem Weg zum Transporter, der sie nach Zürich abstrahlen sollte, wie beiläufig davon unterrichtete. »Diese Kombination aus…aus Hospital und Hotel wird von der Brückengesellschaft unterhalten«, hatte Michelle gesagt. »In den Schweizer Alpen. Etwa dreißig Kilometer nördlich von Zürich. Eine nette Einrichtung, richtig gemütlich, mit einer wundervollen Aussicht. Die Patienten bekommen das beste Essen, trinken die erlesensten Weine, sehen die neuesten Filme.« »Das hört sich großartig an«, hatte Saul erwidert. »Da würde ich selbst gern mal Urlaub machen. Wie krank muß ich sein, um da unterzukommen?« »Sehr.« Sie dachte eine Weile darüber nach, wie sie es Saul erklären konnte. Es war so schwer wie für einen Angestellten der Gesellschaft, der nach einer Ausrede suchte, weil man ihn dabei überrascht hatte, wie er sich mit beiden Händen aus der Kasse bediente und daher nun seine ihm bisher bescheinigte Zuverlässigkeit bezweifelt werden mußte. Michelle entschied sich für einfache Worte. »Wir unterhalten das Sanatorium, um Passagiere unterzubringen, die verformt aus dem Netz herauskommen.«
Ihre Hosteß begann mit ihrem vorschriftsmäßigen Vortrag, doch Saul, der ihn bereits so oft gehört hatte, daß er ihn auswendig kannte, winkte ab. »Das kann nicht dein Ernst sein«, sagte er, an Michelle gerichtet. »Ein solcher Unfall kann nicht geschehen. Es ist physikalisch unmöglich.« Die Hosteß kehrte mit zwei Rückhol-Tabletten zurück. Michelle nahm sie beide, schluckte eine und reichte die andere an Saul. »Nein, das ist es nicht.« Er nahm die Tablette entgegen und drehte sie zwischen den Fingern hin und her, als versuche er, die Berührungsflecken auf der Silberfolie, die von Michelle stammten, abzuwischen. »Verdammt, du mußt schon einen guten Grund nennen, um mir begreiflich zu machen, warum du eine solche Tatsache verschwiegen hast.« Michelle ließ die Gewichtsbestimmung über sich ergehen und trat dann in die Isolierung. Saul folgte ihrem Beispiel. Mittels zweier Interkome führten sie ihr Gespräch weiter. »Das wirst du verstehen, wenn wir ankommen. Die Insassen sind nur noch im weitesten Sinne Menschen. Mit ihnen sind wirklich furchtbare Dinge geschehen. Entsetzliche Dinge, über die ich nicht einmal nachdenken möchte. Organe sind außerhalb des Körpers materialisiert. Arme und Beine sind vertauscht worden. Der Knochenbau hat sich verzerrt.« »Was sagst du den Familien?« »Daß sie im Netz verlorengegangen sind. Nach Ansicht unserer Betriebspsychologen ist das das beste. Für die nächsten Verwandten wäre es ein fürchterlicher Schock, ihre Angehörigen in fehlgruppiertem Zustand wiederzusehen.« »Die Auswirkungen auf deinen Profit gar nicht zu erwähnen, wenn das rauskommt.« »Das ist nicht fair, Saul. Einige der Fehlgruppierten können nur mit ungeheuer komplexen Lebenserhaltungssystemen weiterexistieren. Wir haben ein Vermögen ausgegeben, um
diese Gerätschaften zu entwickeln und die Patienten zu pflegen und versorgen. Den Hinterbliebenen zahlen wir eine großzügige, lebenslange Rente, um sie für den Verlust zu entschädigen.« Saul betrachtete den Transporter. Bis zu diesem Augenblick war ihm seine fatale Ähnlichkeit mit einem hochkant stehenden, offenen Sarg noch nicht aufgefallen. »Mein Gott! Und ich habe über Herman gelacht, weil er nicht über die Brücken reist. Wenn er ankommt, ist er jedenfalls noch der alte. Dieser ganze Scheiß über unfallfreies Reisen ist absoluter Blödsinn.« »So schlimm ist es nun auch nicht.« Sie öffnete ihre Handtasche, kramte darin herum und entnahm ihr einen Lippenstift. Ihre Lippen waren plötzlich trocken und spröde geworden, so, wie sie es wurden, wenn sie mit einer schwachen Gewerkschaft neue Vertragsinhalte aushandelte, einen unfähigen Sekretär feuerte oder eine Entlassungsanweisung unterschrieb. In ihr war eine Kraft, der kaum jemand widerstehen konnte. »Es geschieht mit weniger als Null-Komma-Null-Null-Null-Vier Prozent aller Reisenden.« Die Zahlen flossen aus ihr heraus wie Roheisen aus einem Hochofen, das so heiß war, das alles in seinem Weg verbrannt wurde. »Wenn man sich die Statistiken ansieht, dann ist die Unfallhäufigkeit vernachlässigbar.« In Sauls Magen war ein ungutes Gefühl entstanden. Unbewußt legte er eine Hand auf den Bauch und stellte sich vor, wie es sein mußte, wenn sich der Magen plötzlich außerhalb des Körpers befand. »Warum hast du mir nie davon erzählt?« »Da diese Angelegenheit nicht in deinen Zuständigkeitsbereich fällt, war es meiner Ansicht nach nicht nötig.« »Wie viele Leute hast du in deinem Unterschlupf versteckt?«
»Das ist verschieden. Wie du dir vorstellen kannst, haben Fehlgruppierte eine geringe Lebenserwartung. Für gewöhnlich haben wir im Sanatorium so um die zweihundert untergebracht.« Eine weitere Kurve, und Saul konnte das Sanatorium zum erstenmal sehen. Es war ein Komplex aus vierzig rechtwinkligen, weißen Gebäuden, die Wand an Wand errichtet worden waren und wie eine Bandage aus Beton wirkten, der die in die Hänge des Berges gemeißelte Wunde bedeckte. Ein drei Meter hoher Maschendrahtzaun umgab das Gebiet. In regelmäßigen Abständen entlang des Zauns waren Kiefern gepflanzt worden, um der Ähnlichkeit des Sanatoriums mit einem Gefängnis für besonders gefährliche Personen etwas an Schärfe zu nehmen. Der Wächter am Haupttor erkannte Michelle sofort und winkte den Wagen mit einem kurzen Salutieren durch. Vor einem Gebäude, das mit dem Schild ›Verwaltung‹ gekennzeichnet war, hielt der Wagen an. Durch den Warteraum führte Michelle Saul ins Büro. Dort stellte sie ihn Dr. Warner Ryker vor, der mit seinem vollen weißen Haar und dem ebenfalls weißen Bart Ähnlichkeit mit dem Weihnachtsmann hatte. »Ralph Ferguson sagte uns, daß Sie Galina Rosmanov hier untergebracht haben«, meinte Saul. »Ja, ja.« Rykers Kopf tanzte auf und nieder, wie ein pelzbedeckter Basketball, der für den letzten, spielentscheidenden Punktgewinn über den Boden zum gegnerischen Korb getrieben wurde. »Ralph hat die Identifizierung persönlich über die interne Videokommunikation vorgenommen. Sie kam aus einem Terminal in Albuquerque, vor ungefähr zwei Stunden.« »Kann ich sie sehen?« fragte Saul.
Ryker fuhr sich vorsichtig mit den Fingern durch den Bart, als hätte er Angst, er könne abreißen. »Haben Sie schon einmal einen Fehlgruppierten gesehen?« »Nein, noch nie.« »Dann muß ich Sie vorwarnen. Fehlgruppierte haben eine fatale Ähnlichkeit mit Filmmonstern. Für jemand, der so etwas noch nie gesehen hat, ist es schwer, die Fassung zu wahren.« Saul rief sich die vielen furchterregenden Kreaturen aus den Horror-Schockern ins Gedächtnis zurück. War eins dabei gewesen, das Ballettschuhe getragen hatte? Rasch verdrängte er die Bilder wieder aus seinen Gedanken. »Ich werde mir Mühe geben.« »Gut, gut.« Ryker führte Saul und Michelle zur Tür. »Gehen wir?« In einem kleinen Elektrowagen fuhren sie durch den Komplex zu einem Gebäude, das am Rand lag. Im Innern bewachten bewaffnete Wärter die acht Türen, die zum Hauptkorridor führten. »Unsere Sektion für Neuzugänge«, erklärte Ryker. »Unserer Meinung nach ist es das beste, wir halten sie so lange unter Verschluß, bis sich ihre neue Gestalt stabilisiert hat. Nach etwa sechs Wochen werden sie in den Trakt für Daueraufenthalt überwiesen. Dort bekommen sie ihr eigenes Zimmer, und die Möglichkeit, mehr oder weniger auf sich selbst gestellt umherzustreifen.« »Solange, wie sie den Komplex nicht verlassen«, warf Saul ein. »Oh Himmel, natürlich. Das können wir kaum zulassen«, gab Ryker zurück. »Rosmanov, Rosmanov.« Ryker las die schreibmaschinengeschriebenen Namensschilder auf jeder Tür. »Rosmanov. Ja, hier ist es. Galina Rosmanov. Sie können sie sehen. Durch das Sichtfenster.« Saul blickte hindurch. Eine erschütternde Masse menschlichen Fleisches hockte auf dem Boden der
einrichtungslosen Zelle. Mit der anmutigen Ballerina, die Saul in der Filmaufzeichnung tanzen gesehen hatte, bestand nicht die geringste Ähnlichkeit. Zunächst einmal hatte dieses Wesen keinen Kopf. Augen, Nase und Mund ragten aus einer schaurigen Geschwulst auf dem Rücken. Es hatte nur einen Arm und überhaupt keine Füße. Es erinnerte Saul an die Babys, die im Gerichtssaal während eines Prozesses gegen einen pharmazeutischen Betrieb oder einen unmenschlichen Nazi-Wissenschaftler gezeigt wurden. »Wie können Sie sicher sein, daß dies – Galina Rosmanov ist?« »Wir führen eine sorgfältige Doppelkontrolle durch«, sagte Ryker. »Wir untersuchen, wer vermißt wird und vergleichen die genetische Struktur. Wenn sich eine Übereinstimmung ergibt, nun, dann ist alles klar.« »Aha, auf der Basis Ihrer Doppelkontrolle folgern Sie also, daß das Mädchen da drin – oder das Ding, das einmal ein Mädchen war – mit seiner Größe von fast einsneunzig und seinem Gewicht von ungefähr hundertfünfzig Pfund Galina Rosmanov ist.« Ryker öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus. Sofort eilte ihm Michelle zu Hilfe. »Du mußt bedenken«, sagte sie, »daß solche Veränderungen seltsame Auswirkungen auf die Physiologie eines Menschen haben. Der Umfang des Körpers weitet sich aus, die Extremitäten verkürzen sich. Wir erleben das immer wieder. Nicht wahr, Dr. Ryker?« Ryker tupfte sich mit einem seidenen Taschentuch, das sein Monogramm aufwies, über die Stirn, auf der plötzlich feine Schweißtropfen perlten. »Ja, ja, das passiert oft. Allein durch die äußere Erscheinung kann man sie kaum voneinander unterscheiden. Man muß die genetische Struktur untersuchen. Wirklich der einzige Weg, um sicher zu sein.« Noch niemals zuvor war Saul einem schlechteren Lügner begegnet. Ryker erstickte fast an seinen eigenen Lügen. Saul
hoffte zu Rykers eigenem besten, daß er mit seinem so durchschaubaren Gesichtsausdruck nie auf den Gedanken kam, Poker zu spielen. Er hätte sein Stethoskop verloren. Saul wandte sich angeekelt um und verließ das Gebäude.
»Das war nicht Galina Rosmanov, und du weißt das«, wandte sich Saul an Michelle, als sie die Straße wieder hinabfuhren. »Ihr habt mir irgendein undefinierbares Exemplar vorgeführt einen falschen Namen an die Tür geklebt und das Geschöpf als Galina ausgegeben. Stimmt’s?« Michelle schlug mit der Faust auf die Armlehne. Saul umfaßte ihren Ellbogen und drehte sie zu sich herum. »Warum?« Michelle löste sich aus seinem Griff, kauerte sich zusammen und legte ihren Kopf so weit in den Nacken, daß sie direkt an das Dach blicken konnte. »Du würdest es nicht verstehen. Es geht um mehr als ein verschwundenes Mädchen. Es geht um die Zivilisation.« Die Lächerlichkeit einer solchen Bemerkung reizte Saul zum Lachen. »Das ist wirklich gut. Galina Rosmanov. Eine achtundneunzig Pfund schwere Tänzerin. Angelpunkt für einen Generalangriff auf die Demokratie. Mann, das ist gut, Michelle, wirklich gut.« »Ich habe nicht von Demokratie gesprochen, Saul.« Michelle setzte sich auf, drehte sich zu ihm um und sah ihm in die Augen. Sie sprach mit ruhiger, unbewegter Stimme, als nenne sie ihm die Sonnenaufgangszeiten von einem Kalender des nächsten Jahres. »Ich habe ›Zivilisation‹ gesagt. Unsere, ihre, jede. Vertrau mir nur dieses eine Mal. Laß sie im Netz. Glaub mir, es ist besser, wir vergessen sie.« Sie lehnte sich wieder zurück und weigerte sich hartnäckig, mehr zu sagen.
Sie reisten über New York zurück, so daß Saul das Laboratorium der Brückengesellschaft besuchen und sich die Analyse der Tabletten und des Pulvers, das er in Galinas Apartment gefunden hatte, ansehen konnte. »Das Pulver ist noch nicht identifiziert«, sagte der Wissenschaftler, der die Analyse vorgenommen hatte. »Aber die Tabletten! Ein tolles Zeug. Eng verwandt mit der Droge, die vor einer Reise durch das Leitungsgeflecht verabreicht wird.« Michelle, die unruhig auf und ab geschritten war, hielt jäh inne und starrte ihn an. »Die Mischung gehört der gleichen chemischen Gattung an«, fuhr der Wissenschaftler fort, »aber es gibt doch einen kleinen Unterschied. Ich habe einige Tests durchgeführt, und, ob Sie’s glauben oder nicht, als ich die Chemikalie einem Versuchstier eingegeben und es dann transmittiert habe, ist es augenblicklich erholt. Ohne irgendeine Verzögerung. Ich schlage vor, daß wir hier noch weitere Tests durchführen. Wenn sich dann unsere bisherigen Ergebnisse bestätigen, dann bedeutet das eine radikale Neuerung in Sachen Materietransmission. Darf ich fragen, woher Sie die Tabletten haben?« Saul gab die übriggebliebenen Tabletten in das Fläschchen zurück, das er dann in die Tasche steckte. »Sagen wir, daß ich darüber gestolpert bin.« Als sie das Labor verlassen hatten, stellte sich Michelle ihm in den Weg. »Gib mir die Tabletten, Saul.« »Warum sollte ich?« »Weil sie der Brückengesellschaft gehören. Sie sind uns gestohlen worden.« Ihre aufgehaltene Hand wurde zu einer
Faust, die sie ebenso rasch wieder öffnete, als könne sie sich nicht entscheiden, ob sie bitten oder fordern sollte. Saul holte die Phiole wieder hervor, warf sie in die Luft, fing sie auf und verbarg sie in der Hand, als Michelle danach griff. »Du willst mir weismachen, du hast die ganze Zeit von dieser Chemikalie gewußt und es für dich behalten?« »Genau das. Wir kennen sie bereits seit einigen Jahren. Wir haben sie nie auf den Markt gebracht, weil wir vor den ökonomischen Folgen Angst haben. Zur Aufrechterhaltung des Brückennetzes ist eine Menge Energie notwendig. Die Energie ist ein konstanter Faktor, gleich, wie lang die Reise ist. Wir sind nicht in der Lage, noch rentabel zu arbeiten, wenn es mehr kurze als lange Reisen gibt. Wenn die Existenz dieser Chemikalie allgemein bekannt wird, dann wird alle Welt fordern, wir sollten ein kontinent- oder sogar weltweites Netz von Kurzstrecken-Verbindungen schaffen. Unsere Profite würden stark beschnitten.« »Und so bleibt Galina Rosmanov im Leitungsgeflecht, und die Brückengesellschaft kommt nicht in die roten Zahlen.« »Das ist zum Teil richtig, ja. Andere Dinge spielen auch noch eine Rolle, aber das muß dir genügen.« Michelle holte ihr Scheckbuch hervor, preßte es gegen die Wand und begann zu schreiben. »Ein Bonus«, sagte sie, als sie unterschrieb, »mach Urlaub. Vergiß Galina Rosmanov. Sie ist nur ein kleines Rädchen in einem viel größeren Getriebe, das du nicht verstehen würdest.« Als sie sich umdrehte, um ihm den Scheck zu überreichen, war Saul bereits gegangen.
XI
Saul, Herman und Rosie saßen an einem runden Tisch in der Cafeteria der Sammelstation. Der Tisch war an eine Wand geschoben worden, um für fünfundzwanzig Feldbetten Platz zu schaffen. Die Standardbesetzung der Station – dreißig Personen – war auf das siebenfache angewachsen. Ingenieure, Mathematiker, Transferierer, alle damit beschäftigt, einen Weg zur Befreiung von Galina zu finden. »Ich verstehe nichts mehr«, sagte Saul und schenkte sich eine Tasse Kaffee aus der Kanne auf dem Warmhalter ein. »Die Brückengesellschaft hat kein Interesse an der Befreiung Galinas. Die Russen auch nicht. Aber was kann sie getan haben, was den Zorn der Mächtigen dieser Welt auf sie gelenkt hat?« Obgleich er seinen Kaffee ohne Zucker trank, rührte er ihn immer noch um, eine Angewohnheit aus seiner Jugend, als er noch geglaubt hatte, zwei Zuckerstücke würde ihn beleben anstatt zur Zunahme seiner Körperfülle beizutragen. »Herman, wie lange kann sie noch da drin bleiben, ohne daß es ihr schadet?« Herman, der sich über den Tisch gebeugt und seine Kaffeetasse mit beiden Händen umklammert hatte, antwortete nicht. In Gedanken versunken starrte er ins Leere. Sanft berührte Saul ihn an der Schulter. »Herman, wie lange kann Galina noch im Kollektor bleiben, bevor sie sich auflöst?« Herman zwinkerte einige Male, als ob Saul ihn aus einem tiefen Schlaf gerissen hätte und sich seine Augen nun erst wieder ans Licht gewöhnen müßten. »Wie bitte?«
Saul wiederholte seine Frage zum dritten Mal. »Wie lange kann Galina noch im Kollektor bleiben, bevor sie sich auflöst?« Herman gab seiner Tasse einen Stoß, so daß sie sich um die eigene Achse drehte, beobachtete, wie sie allmählich wieder zur Ruhe kam, einer sterbenden Welt inmitten einer Galaxis aus massiver Schlechtigkeit gleich. »Ich weiß nicht, Saul. Ich weiß es wirklich nicht. Sie könnte es noch ein oder zwei Tage überstehen. Sie könnte sich aber auch schon in der nächsten Stunde auflösen. Ich weiß es einfach nicht.« »Hast du in der Zwischenzeit irgendwelche Fortschritte gemacht?« »Nicht einen.« Herman hob die Tasse und nahm einen Schluck. Er brauchte beide Hände, um sie an seinen Mund zu führen. »Kann ich dir helfen?« »Nun, wenn ich wüßte, um welchen Wert sich ihr Gewicht verändert hatte, dann würde das mir schon weiterhelfen.« »Wenn du diesen Unterschied kennen würdest, dann könntest du sie herausholen? Okay. Fünfzig Prozent? Vierzig?« Herman schenkte sich nach, und wieder brauchte er beide Hände, um die Kanne ruhig zu halten. »Nein, so viel nicht. Ich würde sagen, fünf bis zehn Prozent. Aber das ist nur eine Schätzung. Es kann auch weniger sein.« Saul schüttelte den Kopf. »Du bist wahrlich kein Quell von Optimismus, Herman.« »So ist eben die Lage, Saul.« Herman holte einen Taschenrechner hervor. »Weißt du, was die Zahlen mir sagen? Sie sagen mir, daß ich am Ende meiner Weisheit bin.« »Und wie ist es mit dir, Rosie? Irgendwelche Eindrücke?« Rosie hatte in den vergangenen achtundvierzig Stunden nur ein kleines Nickerchen gehabt, doch das schien ihr nicht im geringsten etwas auszumachen. Es war, als bezöge sie ihre
Kraft aus einem verborgenen Reservoir, das für andere Leute unerreichbar war. »Ich hatte eine flüchtige Vision, Saul. Ein Hauch von ungeheurer Euphorie. Eine auf- und abschwellende Empfindung. Ein ungeheures Entzücken. Saul, ich glaube, dort, wo Galina Rosmanov jetzt ist, ist sie vollkommen glücklich. Sie will gar nicht heraus. Niemals wieder.« »Oh, das ist ja wirklich nett. Dann sind ja alle einer Meinung. Michelle will, daß ich meine Sachen packe und nach Hause gehe. Rosie sagt mir, daß das Mädchen glücklich ist, wo sie sich jetzt aufhält. Und Herman sagt, daß unsere Chancen, sie zu befreien, genauso groß sind wie die eines Schneeballs, in der Hölle nicht zu schmelzen. Nun, ich habe für jeden von euch eine Überraschung. Ich werde dafür bezahlt, Passagiere aus dem Netz zu befreien. Ob sie nun herauskommen wollen oder nicht. Ob es für sie politisch gefährlich ist oder nicht. Ob die Wahrscheinlichkeit dafür spricht oder nicht. Ich hole sie raus. Das ist mein Job, und ich mache meine Arbeit. Ohne Einschränkungen.« Saul registrierte, daß Herman erneut in eine meditative Träumerei versunken war und offenbar nicht ein einziges Wort von seinem Vortrag verstanden hatte. »Herman, bist du in Ordnung?« Herman antwortete mit einer seltsamen Stimme, als ob seine Zunge halbseitig gelähmt und nun nicht mehr in der Lage wäre, die Bewegungen zu vollführen, die die Worte in der richtigen Weise formte. »Keine Ahnung, Saul. Mein ganzer Körper prickelt so merkwürdig.« »Kannst du weitermachen? Oder soll ich mich nach einem Ersatzmann umsehen?« Sie wußten beide, daß das unmöglich war. Herman war mit seinen Kenntnissen über die MaterieTransferierung einmalig. Es gab niemanden, der ihn ersetzen konnte.
»Nein. Ich komme schon wieder in Ordnung. Ich glaube, es ist nur der Kreislauf. Bestimmt ist es gleich wieder vorüber.« Bevor Saul etwas darauf erwidern konnte, sprang Herman auf und stürzte aus der Cafeteria heraus, in die Richtung zum Hauptcomputer. »Was machen wir nun?« »Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich werde versuchen herauszufinden, um welchen Wert sich Galinas Gewicht erhöht hat. Um diese Information zu bekommen, werde ich jeden unter die Lupe nehmen, der ein Interesse daran gehabt haben könnte, sie abzumurksen. Und es sieht ganz so aus, als gehörten diese Leute zum exklusivsten Club auf dieser Welt.« »Sie war nicht besonders beliebt?« »Wohl kaum. Ihre Mittänzer haßten sie. Sie ist für mehr Ehescheidungen verantwortlich als die Rechtsanwälte in Tijuana. Sie hat Drogen von der Brückengesellschaft gestohlen. Ein Mädchen mit mannigfaltigen Eigenschaften.« Rosie kicherte. »Hört sich ganz nach deinem Typ an.« Saul zog die Mundwinkel in der schwachen Andeutung eines Lächelns in die Höhe. »Vielleicht ist das der Grund, warum ich so davon besessen bin, sie herauszuholen. Offenbar stoße ich dabei aber auf nicht sonderlich viel Gegenliebe.« »Mr. Lukas«, sagte Sauls Sekretärin, während sie sich einen Weg durch das Labyrinth aus Feldbetten bahnte. »Ein Telefongespräch aus Mexico City.« »Na gut«, gab Saul zurück. Er trat an den nächsten Anschluß, betätigte eine Taste und nahm den Hörer ab. »Saul Lukas«, stellte er sich vor. »Ich habe eine Information über Galina Rosmanov«, krächzte eine gedämpfte, offenbar verstellte, weibliche Stimme. »Wenn Sie sie hören wollen, dann seien Sie in zwei Stunden am Nordosttor des Plaza del Toros in Mexico City. Seien Sie pünktlich, und kommen Sie allein.« »Was für eine Information? Und wer sind Sie?«
»Seien Sie pünktlich und kommen Sie allein.« Im Hörer knackte es, als der Anrufer die Verbindung unterbrach. Saul wartete am Nordosttor der Plaza del Toros. Fünfzehn Minuten. Dreißig. Fünfundvierzig. Niemand kam. Er entschied sich, noch eine Viertelstunde zu warten und dann das ganze als Scherz aufzufassen. Sein willkürlich gesetztes Zeitlimit war beinah abgelaufen, als eine kleine Bettlerin an ihn herantrat und die Hand ausstreckte. Als Saul in seiner Tasche nach einer Münze suchte, legten sich von hinten ein paar überaus kräftige Arme um seinen Brustkorb. Zwei weitere Arme bedeckten Nase und Mund mit einem mit einem Betäubungsmittel getränkten Lappen. Saul versuchte freizukommen, aber je mehr er es versuchte, desto müder wurde er. Er unternahm eine letzte Anstrengung, sich selbst zu befreien, dann wurde er bewußtlos. Er erwachte gut gefesselt auf einem Stuhl inmitten eines verdunkelten, gründlich schallisolierten Raumes. Kein Licht, nicht ein einziges Geräusch von draußen, das ihm einen Hinweis darauf hätte geben können, wo er sich befand. Es sah ganz nach dem Werk von Profis aus. »Guten Abend, Mr. Lukas.« Vor ihm schaltete eine Frau eine Glühbirne ein, die zwischen ihnen von der Decke herunterhing. Saul erkannte sie sofort. Mary Hemke. Die Führerin von Eine Vereinte Welt, einer Gruppe, die die Aufhebung der nationalen Grenzen und die Formung einer einzigen Weltregierung verlangte. Mit der ewv an der Spitze natürlich. Seit sich die Aufmerksamkeit der Bevölkerung diesen ihren Zielen gegenüber gelegt hatte, unterstrich die EVW ihre Forderung durch Entführungen prominenter Geschäftsleute, durch das Erschießen von Regierungsbeamten, durch Bombenexplosionen in Firmenzentralen und durch das Ausrauben von Banken. Das hatte dazu geführt, daß Mary
Hemke inzwischen von fast jedem Staat der Welt polizeilich gesucht wurde. »Mary Hemke, nicht wahr?« »Ich sehe, ich bin zu einer internationalen Berühmtheit geworden.« Sie setzte sich Saul gegenüber nieder und schlug anmutig die Beine übereinander. »Berüchtigt wäre das passendere Wort.« So sehr sich Saul auch anstrengte, er konnte sich diese Frau nicht als gefährliche Stadtguerilla vorstellen. Kein Tarnanzug, keine Munitionsriemen oder Kampfstiefel, kein verfilztes und verschmutztes Haar, keine aufpeitschenden Reden. Mary hatte ein gepflegtes Äußeres, war außerordentlich attraktiv und besaß eine weiche, angenehme Stimme. Ihr blondes Haar fiel in sanften Wellen zu ihren Schultern, streichelte ihre Wangen wie seidene Streifen, die in Sonnenschein eingetaucht waren. Ihr Lächeln hätte sie für die Zahnpastawerbung prädestinieren können. Natürlich, welches bessere Versteck gab es schon für ein rasiermesserscharfes Bajonett als einen mit Zuckerguß überzogenen Kuchen? »Ich nehme an, ich habe mit Ihnen am Telefon gesprochen.« »Richtig.« »Sie sagten, Sie hätten Informationen über Galina Rosmanov.« Mary faltete die Hände unter den Beinen zusammen und nickte. »Galina Rosmanov gehörte zu uns.« »Sie war in der EVW?« »Nicht als aktives Mitglied, nein, aber sie sympathisierte mit uns. Vor rund sechs Monaten kam sie mit einer unglaublichen Geschichte zu uns. Sie sagte, sie könne uns etwas verkaufen, was unserer Sache eine unermeßliche Hilfe wäre.« »Eine russische Wasserstoffbombe?« Hinter sich hörte Saul das unruhige Scharren von Füßen, und plötzlich hatte er die
ungute Vorstellung, daß das gar nicht einmal so weit hergeholt sein könnte. »Kaum.« Mary zeigte mit dem Finger auf ihn. Es war eine Geste voller Feindseligkeit. Mary hatte eine übersichtliche Methode, Menschen in Kategorien zu pressen. Freunde auf der einen, Feinde auf der anderen Seite. Und da sich Saul bisher noch nicht als Freund erwiesen hatte, blieb nur eine Kategorie übrig. »Eine drahtlos transferierende Brücke, Mr. Lukas, eine drahtlos arbeitende Brücke.« Ihre Stimme hatte einen Tonfall, der in früheren Zeiten Millionen von normalerweise geistig gesunden Menschen dazu veranlaßt haben könnte, im Stechschritt Tausende von Kilometern über die Welt zu marschieren. »Denken Sie darüber nach. Mit so einem Gerät könnten wir die entlegensten Winkel der Erde besuchen. Die traditionellen Grenzen der Nationalstaaten würden verschwinden. Und schließlich hätten wir eine vereinte Welt. Wenn man irgendwohin möchte, dann geht man einfach. Ohne sich zuerst diesem bürokratischen Moloch unterwerfen zu müssen.« Eine drahtlos arbeitende Brücke? So etwas schien unmöglich zu sein, doch das hätte man vor hundertsechzig Jahren von Radio und Fernsehen auch behauptet. »Sie haben ihr natürlich nicht geglaubt?« »Zu Anfang nicht. Um meine Zweifel zu zerstreuen, hat sie mir einen Acht-Millimeter-Film von der Arbeitsweise des Gerätes gezeigt. Und es hat funktioniert, Mr. Lukas, es hat wirklich funktioniert.« »Trickfilmerei?« »Nein. Unsere Filmexperten, die, die auch unsere Informationsdokumentationen zusammenstellen, haben die Aufnahmen sehr sorgfältig überprüft. Kein Trick. Was sie uns gezeigt hat, war wirklich ein Film über eine primitive, aber voll einsatzfähige, drahtlos arbeitende Brücke.«
»Wie ist sie an einen solchen Apparat herangekommen?« »Das wollte sie nicht sagen.« »Haben Sie den Film noch?« »Nein. Sie wollte ihn nicht aus der Hand geben.« »Was hat sie verlangt?« Mary lehnte sich in ihrem Sessel zurück, genoß die Worte, die sie sprach, jeden einzelnen Buchstaben. »Zehn Millionen Dollar.« Saul fragte sich, wie viele Banken die EVW überfallen mußte, bis sie einen solchen Batzen Geld beisammen hatte. »Und Sie hatten die Absicht, zu kaufen?« »Wir hatten die Vereinbarung getroffen, daß sie uns zuerst das Gerät liefert. Wir hatten eine Verabredung am Kennedy Center. Ich glaube, sie hatte es bei sich, als sie schnell verschwand.« »Sie meinen, sie trug eine drahtlos arbeitende Brücke in ihrem Gepäck mit sich? Ist sie so klein?« »Nach der zu beurteilen, die sie uns im Film gezeigt hat, ist sie nicht größer als dreißig mal neunzig mal neunzig Zentimeter.« Sie veranschaulichte die Größe, indem sie die Hände ausbreitete. Wenn ihre Schätzung richtig war, dann war das Gerät kompakt genug, um es in dem Kabinenkoffer unterzubringen, den sie mit auf die Reise genommen hatte. »Der Erfinder dieser drahtlos arbeitenden Brücke. Haben Sie ihn einmal getroffen? Hat sie einmal seinen Namen erwähnt?« »Nein, nie. Wir haben nur mit ihr verhandelt.« »Damit kann ich nicht viel anfangen.« »Es war nicht meine Absicht, Ihnen Anhaltspunkte zu geben, Mr. Lukas. Ich wollte Ihnen eine Botschaft zukommen lassen. Wir sind bereit, zehn Millionen Dollar für diese drahtlos arbeitende Brücke zu zahlen. Jedem, der sie uns beschaffen kann.«
»Großartig. In der Zwischenzeit können Sie mir schon einmal fünf Pesos für die Busfahrt nach Hause leihen.« Erneut wurde ihm der Lappen mit dem Betäubungsmittel auf Mund und Nase gepreßt, und wieder fiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
XII
Saul und Herman betraten den Aufenthaltsraum, der an den Computersaal der Sammelstation angrenzte. Dort fanden sie Hermans Freundin auf dem Sofa, tief und fest schlafend. Sie hatte sich mit einem großen, roten Leinensack zugedeckt, in denen die Programmierer der Station den Lochstreifen-Müll abtransportierten. Name und Zeichen der Brückengesellschaft, die auf die Mitte des Sacks aufgedruckt waren, hoben und senkten sich im Rhythmus ihres Atems. Herman hob ihren Kopf, nahm müde Platz und ließ ihren Kopf dann auf seinen Schoß sinken. Saul schnappte sich einen Stuhl, einen riesigen, gepolsterten Lehnsessel, und kämpfte sich mit ihm bis an das Ende des Sofas, an dem Herman saß. »Was ist los?« fragte Herman, als sie beide saßen. »Ich habe eine hypothetische Frage.« Herman strich mit seinen Händen durch die Haarsträhnen seiner schlafenden Freundin. »Auf die gebe ich immer hypothetische Antworten.« »Einverstanden. Hier ist meine Frage.« Als die Worte von seiner Zunge geformt wurden, fühlte er die gleiche nervöse Mischung aus Furcht und Faszination, die einst die alten Kapitäne empfunden haben mußten, als sie auf ihre Karten starrten, die behaupteten, sie befänden sich am Rand der Welt. »Ist es möglich, daß jemand, aufbauend auf der herkömmlichen Technologie der Materie-Transmission, eine drahtlos transferierende Brücke bauen kann?« Für einen Augenblick leuchtete es in Hermans Augen auf, dann ließ der Glanz wieder nach, sank auf die Intensität von Autoscheinwerfern zurück, die hinter einem Beerdigungszug
zu sehen sind. »Ich sage dir dies nur, weil wir beide uns lange kennen, es muß zwischen uns und diesen Wänden bleiben.« Hermans überraschender Ernst gab Saul mehr als genug Grund zu der Annahme, daß das, was er jetzt hören würde, nicht nach seinem Geschmack war. »Absolut vertraulich, alter Knabe.« Herman beugte sich näher an Saul heran, als seien seine Worte von solchem Gewicht, daß sie zu Boden sinken könnten, wenn die Entfernung, die sie zu überwinden hatten, zu groß war. »Wir haben vor fast einem Jahr das erste drahtlos funktionierende Transport-Verbindungsstück fertiggestellt. Ich habe fast ein ganzes Jahr nur daran gearbeitet.« Also eine weitere Sache, die offenbar auch nicht in Sauls Zuständigkeitsbereich fiel. Er fragte sich, wieviele Überraschungen noch für ihn bereitstanden, bevor diese Angelegenheit erledigt war. »Es war ein streng geheimes, gemeinsames Projekt der Brückengesellschaft und der Armee.« Vielleicht durch Zufall, vielleicht auch in voller Absicht, bedeckte Herman die Ohren des schlafenden Mädchens. »Es ist noch immer eine Verschlußsache. Einer dieser verschlüsselten, Fixkosten-plusSpesen-Haushaltsposten, über die sich der Kongreß so gerne aufregt. Der Brückengesellschaft wird eine halbe Milliarde Dollar für die Errichtung eines drahtlosen Transportnetzes zwischen Washington und Los Angeles garantiert. Diese Summe beinhaltete noch nicht einmal den Satelliten, den wir in einer geostationären Umlaufbahn unterbringen sollten – das drahtlose Netz existiert bereits. Später hat die Armee den Auftrag noch einmal modifiziert, die Summe auf eine Milliarde Dollar erhöht, für die wir einen zweiten Satelliten hinaufschießen und ein drittes Terminal in Deutschland errichten sollten.«
»Das sind ja nette Sümmchen, mit denen man da um sich wirft. Gewöhnliche Transporter kann man für einen Bruchteil des Geldes bauen. Warum so ein Batzen?« »Aus verschiedenen Gründen. Während wir einen LeitungsTransporter in maximal zwei Wochen aufbauen können, brauchen wir für einen drahtlosen fast zehn Monate. Allein die Kontrollüberprüfungen nehmen sechs bis acht Wochen in Anspruch. Und die Rohmaterialien. Dir würde schwindelig werden, wenn du wüßtest, wieviel Metall in einem solchen Ding steckt.« Das war angesichts dessen, was Mary Hemke gesagt hatte, ein krasser Widerspruch. »Wieviel Metall braucht man denn für ein so kleines Gerät?« »Klein?« Hermans Kichern wurde zu einem asthmatischen Husten. »Klein, sagst du? Wenn du Goliath wärst, vielleicht. Saul, die drei drahtlos arbeitenden Transporter sind jeweils so groß wie ein Raketenbunker. Sie wiegen Hunderttausende von Tonnen. Die Abschirmung allein besteht aus anderthalb Metern massivem Blei. Im Vergleich allein mit dem Fokussierungsmechanismus wäre diese Station hier ein Zwerg.« »Das muß die Gigant-Version sein, um ganze Armeedivisionen zu transportieren.« »Kaum. Die Transmissionskapazität dieser drahtlosen Brücken beträgt weniger als fünfundzwanzig Kilogramm.« Er sah sich in dem Raum um, fand aber nichts, was seine Worte hätte veranschaulichen können. »Die Kapazität ist deshalb so gering, weil eine umgekehrte Proportionalität zwischen dem Gewicht der zu transferierenden Masse und dem Energieaufwand besteht. Diese Beziehung ist noch wesentlich stärker ausgeprägt als bei den Leitungs-Transportern. Es hat mit der Verhinderung von Auflösungserscheinungen zu tun, mit der Absicherung des Zusammenhalts der transmittierten
Masse. Es ist nicht nur einfach so, daß wir ein paar Geräteeinstellungen ändern mußten und dann das Leitungsgeflecht stillegen konnten. Mit einer Verfeinerung des Netzes, wie wir es kennen, ist es nicht getan. Es unterscheidet sich so stark von all dem, was wir bisher kennengelernt haben, daß man getrost von einer neuen Technologie sprechen kann.« »Was ist mit Prototypen?« »Wir haben mit Computer-Simulationen gearbeitet. Die erste arbeitende Version hatte gleich das Ausmaß, von dem ich gesprochen habe. Vom ersten Tag an hat sie fehlerlos gearbeitet, und es hat seitdem noch keine Abweichung gegeben.« »Ihr habt nie etwas Kleineres produziert? Klein genug etwa, um es in einem Kabinenkoffer unterzubringen?« Ganz offensichtlich fand Herman diese Bemerkung ausgesprochen lustig, aber die Verschlechterung seines gesundheitlichen Zustandes ließ ihm nicht genug Kraft, um angesichts einer solchen Nebensächlichkeit für die Aufrechterhaltung seiner Körperfunktionen mehr Energie zu verschwenden, als für ein rauhes Lachen nötig war. »In einem Kabinenkoffer? Um Himmels willen, nein. Ich wünschte, wir hätten diesen Stand der Miniaturisierung schon erreicht. Davon sind wir noch Jahre entfernt. Wir mußten unser ganzes Abschirmungs-Know-how einsetzen, um die gefährlichen Nebenerscheinungen wie etwa Strahlungsausbrüche, Überhitzung und was der angenehmen Dinge mehr sind, auszuschalten. Natürlich, wenn wir einen Durchbruch in der Metallurgie oder der Hochenergie-Physik erreichen, sind wir vielleicht in der Lage, eine etwas kompaktere Ausführung zu konstruieren, vielleicht von der Größe eines Güterwagens oder eines kleinen Hauses. Aber wie gesagt, davon sind wir noch Jahre entfernt.«
»Was ist mit den Russen? Oder den Israelis? Haben sie die Möglichkeit, eine tragbare, drahtlos arbeitende Brücke zu bauen?« Herman schüttelte bereits mit dem Kopf, bevor Saul noch das letzte Wort ausgesprochen hatte. »Kaum. Sie haben alle Hände voll zu tun, um die Fehlfunktionen ihrer Leitungstransporter auszugleichen. Nein, niemand von ihnen hätte die Fähigkeit dazu.« »Eine letzte Frage. Kann jemand diese drahtlos arbeitenden Brücken dazu verwenden, etwas in das Leitungsgeflecht der Netz-Transmission zu transportieren?« »Nein. Unmöglich.« Herman streckte die Arme aus, Handflächen nach oben, als hielte er in jeder Hand ein Beispiel beider Techniken. Seine rechte Hand befand sich ein ganzes Stück höher als die linke. »Die beiden Systeme sind nicht kompatibel. Beide strahlen vom Sender zum Empfänger. Es gibt keine Berührungspunkte. Es besteht absolut keine Möglichkeit, so etwas durchzuführen.« Er ließ die Hände wieder sinken. Saul hatte alle Fragen gestellt. Jetzt war die Reihe an Herman. »Warum eigentlich das plötzliche Interesse an drahtlos transferierenden Brücken?« Saul massierte sich seinen Nacken. Um den Knoten aufzulösen, der sein Denken behinderte. »Ich habe einen Tip bekommen, nach dem Galina Rosmanov in ihrem Gepäck einen solchen Transporter mit sich trug.« Herman schlug auf die Armlehne des Sofas. »Das ist wirklich lustig. In ihrem Gepäck, sagst du. Mein Gott, die ÜbergewichtGebühren hätten Saudi-Arabien in den Staatsbankrott getrieben. In ihrem Gepäck? Das ist wirklich gut. Offenbar war das keine von unseren Brücken.« »Wohl kaum. Nach meinem Informanten hat diese Brücke die Größe von dreißig mal neunzig mal neunzig.«
Auf Hermans Gesicht machte sich ein Ausdruck breit, der an den eines senilen Schiedsrichters erinnerte, dem gerade der sichere Beweis vorgeführt worden war, daß er durch seine Pfiffe das Entscheidungsspiel verpfuscht hatte. »Das ist ganz schön klein. Haben deine Informanten diese Brücke jemals in Funktion gesehen?« »Nein, nicht persönlich, einen Film allerdings schon.« »Filme kann man fälschen.« »Sie sagen, sie haben ihn überprüft und keinerlei Hinweise darauf gefunden.« Herman lehnte sich zurück und lächelte; der Glaube an seine wissenschaftliche Überlegenheit war wiederhergestellt. »Dann sage ich, daß sie sich geirrt haben. Wenn man sich entscheiden soll, ob der Film eine Fälschung war, oder ob die Rosmanov in ihrem Gepäck wirklich eine drahtlos arbeitende Brücke bei sich hatte, gibt es nur eine logische Wahl.« Saul erhob sich. »Genau das habe ich befürchtet. Aber für mich enthält die Geschichte doch genug Nachdenkenswertes, um eine nähere Untersuchung durchzuführen.« Herman umfaßte Sauls Arm und zog ihn näher zu sich heran. »Ich sag’ dir was«, flüsterte er. »Wenn du jemals eine Brücke in einem solchen miniaturisierten Format auffinden solltest, dann wäre ich dir dankbar, wenn ich sie als erster sehen könnte.« Er zwinkerte ihm anzüglich zu. »Na klar«, entgegnete Saul. »Wenn du zehn Millionen Dollar auf den Tisch legen kannst…« »Wie bitte?« »Nichts. Ein schlechter Witz.« Er klopfte Herman auf die Schulter. »Ich bin in Mexico City. Gib mir Bescheid, wenn sich etwas Neues tut.« Nachdem Saul gegangen war, versuchte Herman aufzustehen. Vergeblich. Seine Beine gehorchten ihm nicht. Er versuchte so verzweifelt, auf die Beine zu kommen, daß seine Freundin
erwachte. Mit ihrer Hilfe gelang es ihm schließlich, sich zu erheben, nur um festzustellen, daß er nicht gehen konnte. Auf das Mädchen gestützt humpelte er in den Computerraum. Dort ließ er sich vor dem Hauptterminal in den Sitz fallen, legte seine Hände auf die Kontrollen und verlor im gleichen Augenblick das Interesse daran, ob sein Körper unterhalb der Taille noch wie gewünscht funktionierte.
XIII
Am frühen Abend traf Saul in Mexico City ein. Ein Schreiberling in Michelles Hotel sagte ihm, daß sie diesen Abend im Caballo Bayo speiste, einem Restaurant, das in der letzten Zeit besonders von statusbewußten amerikanischen Touristen besucht wurde. Da Saul nichts auf Standesdünkel gab und noch weniger für amerikanische Touristen übrig hatte, war er noch nie dort gewesen. Vor dem Eingang wurde ihm klargemacht, daß man hier großen Wert auf die äußere Erscheinung legte. Ohne Krawatte wollte ihn der Türsteher nicht einlassen. Brummend seine Mißbilligung über Lokalitäten ausdrückend, die an überkommenen Gepflogenheiten festhielten, spazierte Saul die Straße hinunter, bis er einen durchgehend geöffneten Supermarkt erreichte. Dort, zwischen einem Regal mit Kartoffelchips und einem Tiefkühlfach mit Fertiggerichten, entdeckte er einen Krawattenständer. Die Mehrzahl war farbenfroh gestreift und gesprenkelt. Saul nahm aufs Geratewohl eine heraus. Sie war aus glänzender Kunstseide, wies das handgezeichnete Bild eines Matadors auf und hatte ganz offensichtlich schon bessere Abende gesehen. Der Kassierer, offenbar ein Verwandter des Türstehers vor dem Caballo Bayo, bot ihm an, sie zu kaufen oder zu mieten. Saul kaufte und achtete darauf, daß er einen Rechnungsbeleg für seinen Spesenbericht erhielt. Dann kehrte er zum Restaurant zurück, gelangte an dem Türsteher vorbei und fragte den Empfangschef nach Michelle. Der Empfangschef stieg eine nahe Treppenflucht empor und klopfte diskret an eine der verschiedenen Türen, die auf den
Balkon führten, von dem aus man den Speisesaal überblicken konnte. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit, und ein Kopf schob sich daraus hervor. Michelles Sekretär. Er unterhielt sich mit dem Empfangschef, schloß die Tür wieder, öffnete sie einige Sekunden später wieder und sprach erneut mit dem Empfangschef. Der kehrte daraufhin zu Saul zurück und sagte ihm, daß ihn Miß Warren in einigen Augenblicken Zutritt gewähren würde. Aus den einigen Augenblicken würden dreißig Minuten, bevor Michelle schließlich die Tür öffnete und Saul erlaubte, hinaufzukommen. Als er eintrat, stellte er fest, daß sie allein war. Ihr Sekretär war offensichtlich durch eine Nebentür in einen Raum verschwunden, bei dem es sich um das private Badezimmer handeln mußte. Der Raum war in dem Stil einer mexikanischen Hazienda im neunzehnten Jahrhundert eingerichtet. Ein massiver Eichentisch, umgeben von sechs reich verzierten, hölzernen Stühlen. Ein geometrisch gemusterter, flauschiger Teppich, dessen Gewebe die Struktur von Luftziegeln hatte. Wandleuchter und Kerzenständer aus reinem Silber. Ein schweres, mit Kuhleder bezogenes Sofa nahm auf einer Seite die ganze Wandlänge ein. Saul prüfte mit der Hand die Polsterung, um festzustellen, ob es wirklich so unbequem war, wie es aussah. »Extra hart«, sagte er zu Michelle. »Gut für den Rücken.« Michelle zeigte auf seine Brust. »Nette Krawatte. Laß mich raten. Saks? Nein, sie hat nicht dieses südwestliche Flair. Ich würde sagen Horstmans.« »Ich glaube, auf dem Markenzeichen steht ›Jose’s Modeboutique und Spirituosengeschäft‹.« Michelle setzte sich an den Tisch, der für zwei Personen gedeckt war und schenkte sich ein Glas aus einer halbleeren
Flasche Champagner ein. Saul bot sie nichts an. »Schon Fortschritte gemacht?« »In gewisser Weise schon. Ich bin da über eine sehr interessante Sache gestolpert. Es gibt Gerüchte, nach denen Galina Rosmanov eine drahtlos arbeitende Brücke bei sich hatte, als sie auf die Reise ging.« »Unmöglich. So etwas gibt es nicht.« Michelle sprach mit der Selbstsicherheit einer Prophetin, die gerade von dem Berg herabgestiegen war, auf dessen Gipfel sie diese Information von Gott selbst erhalten hatte. »Oh, ich bitte um Verzeihung.« Saul hob in gespielter Überraschung die Augenbrauen. »Du meinst sicher, daß du davon nur noch nie etwas gehört hast? Dann laß mich der erste sein, der dir die Neuigkeit überbringt. Die Brückengesellschaft hat bereits drei drahtlos arbeitende Transporter gebaut. Von West nach Ost stehen sie in Los Angeles, Washington und Deutschland. Ich bedaure sehr, daß ich, was die Brücke in Deutschland betrifft, nicht ein wenig genauer sein kann, aber ich bin sicher, daß du diese Information angesichts deiner vorzüglichen geschäftlichen Kontakte schon noch bekommen wirst.« Obwohl sie verblüfft war, fand Michelle mit der gleichen Gewandtheit die Sprache wieder, mit der ein Weinkellner einen mißbilligten Jahrgang ersetzt. »Das ist eine streng geheime Information. Ich weiß nicht, woher du die hast, und ich will es auch gar nicht wissen. Du mußt nur verstehen, daß eine Bekanntmachung die Schlagkraft unserer Armee beeinträchtigen kann.« »Aber, aber, ich bin der patriotischste Amerikaner, den es gibt. Ich trage rot-weiß-blaue Unterwäsche. Mein Land steht immer an erster Stelle. Ihr könnt mich daher ruhig in euren Geheimklub aufnehmen. Was ist also mit diesen drahtlos arbeitenden Brücken?«
Michelle schien nicht übermäßig beunruhigt über das entsprechende Wissen Sauls zu sein. Sie machte eher den Eindruck von jemandem, der in einem Hurrikan-Schutzkeller saß, in dem Bewußtsein, hier absolut sicher zu sein, während draußen der Wirbelsturm vergeblich gegen die Befestigungen antoste. »Vor fast fünf Jahren hat uns die Regierung mit einem Verteidigungsplan bekannt gemacht, der auf der Entwicklung eines drahtlos arbeitenden Brücken-Netzes basiert. Zu der Zeit hatte es niemand in der Brückengesellschaft, nicht einmal dein Freund Lindstrom, für möglich gehalten, so etwas zu entwickeln, aber wir wollten das Geld auch nicht abweisen, und so nahmen wir den Auftrag an.« »Das ist der Geist, der Amerika groß gemacht hat.« Sie reagierte nicht auf seinen Sarkasmus. »Um es zusammenzufassen: Wir hatten Glück. Lindstrom und einige unserer Chemiker erzielten einen Durchbruch, und wir konnten unseren Vertrag erfüllen.« Plötzlich begriff Saul den Zusammenhang zwischen den drahtlos arbeitenden Brücken und den Drogen in Galinas Apartment. »Du erwähntest Chemiker. Ich vermute also, ein Teil des Vertrages sah die Entwicklung einer Droge für die sofortige Rückholung vor.« Michelle starrte ihn über den Rand ihres Champagner-Glases an, wie ein Bombenschütze, der die Ziele unter ihm fixiert. »Schätzchen, du hast deinen Beruf verfehlt. Du hättest in die Runde der Profi-Puzzlespieler einsteigen sollen.« »Galina Rosmanov ist es gelungen, an die Drogen heranzukommen. Vielleicht hat sie auch Zugang zu den Brücken erhalten.« »Vielleicht, aber ich glaube kaum, daß sie eine dabei hatte, als sie Mexico City verließ. Die Dinger sind gewaltig. Solange du keins gesehen hast, hast du auch keine Vorstellung davon. Sie sind so groß wie Wolkenkratzer.«
»Angenommen, sie hatte keine wirkliche Brücke dabei. Aber vielleicht die Pläne.« Michelle schenkte sich nach und genoß das Bukett. Sie ließ sich ihren Unwillen über den Verlauf des Gesprächs nicht anmerken. Zeichen ihrer guten Erziehung. »Unmöglich. Selbst die Pläne würden eine mittlere Bibliothek füllen.« »Na gut. Wie wär’s, wenn sie eine Mikrofilm-Aufzeichnung der Pläne gemacht hätte? Wie wäre das?« »Wir haben so etwas nie durchgeführt, also kann sie so etwas auch nicht von uns gestohlen haben. Selbst wenn sie Zutritt zu unseren Archiven gehabt hätte, was ihr bestimmt nicht leichtgefallen wäre, sie hätte Monate gebraucht, um die Pläne auf Mikrofilm zu bringen. Was glaubst du, wieviele Dokumente da untergebracht sind.« Saul setzte sich auf das Sofa und rieb sich mit einer Hand die Augen. Die Rückhol-Tabletten wirkten noch einige Stunden nach der Transferierung anregend. Dann setzte eine milde, kurzlebige Ermüdung ein. Zu viele Tabletten über eine zu kurze Zeitspanne eingenommen, erhöhten die Ermüdungserscheinungen rapide, dehnten die Schwächungsphase über einige Stunden hinaus aus, manchmal sogar Tage. Aus diesem Grund befürwortete die Brückengesellschaft nicht mehr als einen Transfer pro Tag. Während der letzten zweiundsiebzig Stunden hatte Saul neun Transferierungen über sich ergehen lassen und hatte daher steigende Schwierigkeiten, mit den Nebenwirkungen fertigzuwerden. »Okay. Laß uns annehmen, daß sie keine tragbare, drahtlos arbeitende Brücke dabei hatte. Aber sie hatte etwas, das fast genauso gut war. Jemand glaubte, sie hätte einen solchen Transporter. Sie zeigte ihm einen gefälschten Film, klaute danach die Droge für die zeitlose Rückholung und trieb einen Käufer auf. Es gibt Gerüchte, nach denen sie eine einsatzfähige, tragbare, drahtlos arbeitende Brücke an eine
radikal-militante Gruppe verkaufen wollte. An die EVW zum Beispiel. Wenn dies zutrifft, wer hätte dann Interesse daran gehabt, sie aufzuhalten?« Michelle breitete in einer grandiosen Geste die Arme aus, als sei der Raum von Menschen überfüllt. »Jeder, der einigermaßen bei Verstand ist.« »Das mußt du mir erklären.« »Gern.« Sie trank den letzten Champagner, schritt zur Tür, öffnete sie und signalisierte dem Kellner, eine neue Flasche zu bringen. »Angenommen, der EVW wäre es möglich, ein Netz von wirklich funktionsfähigen, tragbaren, drahtlos arbeitenden Brücken zu konstruieren und zu betreiben. Angenommen, sie würden die ganze Welt mit diesen Geräten überziehen. Was würde geschehen? Nun, zuerst einmal würden alle nationalen Grenzen verschwinden. Aber was für ein Chaos würde damit der Welt auferlegt?« Sie trat an ein Fenster. Dem Elend nahestehende Verkäufer säumten draußen die Straße und bewarben sich erbittert um die paar gesparten Pesos der ebenso schäbig aussehenden Passanten. »Wenn diese Leute da draußen einen fliegenden Teppich hätten, der sie an jeden Punkt der Erde tragen könnte, wo würden sie sich dann wohl aufhalten? Hier etwa, in den dunklen Seitengassen von Mexico City? Oder in Palm Springs? Miami Beach? Cape Cod? An der Côte d’Azur? Stell dir das einmal vor, Saul. Ganze Schwärme von Armen würden wie eine gewaltige Wolke Wanderheuschrecken über die Welt herfallen und sie verwüsten. Auf der Suche nach einem Nirwana, das nicht existiert. Ob du es glaubst oder nicht, aber die Menschen in den Entwicklungsländern haben sich an ihren anspruchslosen Lebensstandard gewöhnt. Ist es fair, ihnen offenen Zugang zu etwas zu gewähren, mit dem sie nicht umgehen können? Wir transferieren eine Million sterbender
Bettler aus den Straßen von Kalkutta in die Straßen von San Franzisko. Ist das Fortschritt?« Der Kellner trat mit der bestellten Flasche Champagner ein, öffnete sie und verschwand. Michelle nahm sie aus dem Silberkübel heraus, griff nach einem Glas, öffnete die Tür zum Badezimmer einen Spalt breit und reichte beides hinein. Währenddessen zeigte ihr Gesicht den gleichen Ausdruck gutmütigen Wohlwollens, den man auch in den Zügen eines älteren Hausmütterchens beobachten konnte, das Essensreste dem Pudel vorwarf. »Nächster Punkt. Die Welt würde zu einem einzigen großen Schlupfwinkel. Sollte tatsächlich ein offenes, ungesichertes Netz aus tragbaren, drahtlos funktionierenden Brücken erreicht werden, dann hätten Gauner, Mietkiller, Kidnapper und Schmuggler ihren Festtag. Sie könnten sich in aller Ruhe ihrem Opfer widmen und dann irgendwohin verschwinden. Und die Steuern. Ein gewaltiger Teil unseres Sozialprogramms wird aus Steuermitteln finanziert. Was geschieht, wenn die nationalen Grenzen verschwinden? Und die Aasgeier nicht zu vergessen. Leute, die das jetzt noch unzugängliche Land aufkaufen, es entwickeln, eine drahtlose Brücke installieren und ruhig zusehen, wie die Bodenpreise wie eine Rakete in die Höhe schnellen. Was ist mit der Ökologie? Sollen in jedem Wald Vergnügungszentren aus dem Boden schießen? Auf dem Gipfel jeden Berges? An jedem Wasserfall? Es gibt keinen Zweifel, Saul. Die Entwicklung einer wirklich drahtlos arbeitenden Brücke würde unsere ganze Gesellschaft über Nacht auf den Kopf stellen. Ich will vollkommen ehrlich sein. Wenn du mich fragen würdest, wie weit ich ginge, um so etwas zu verhindern, dann würde meine Antwort mich an die erste Stelle auf deiner Verdächtigenliste bringen. Zugegeben, Verkauf und Wartung einer solchen tragbaren, drahtlosen
Brücke wären für uns überaus lukrativ. Aber wie weit würde damit wirklich unser Kundendienst verbessert? Nach Meinung meiner technischen Berater ist es unmöglich, Passagiere durch die Luft wesentlich schneller zu transportieren als durch das Leitungsgeflecht. Eine tragbare, drahtlose Brücke würde die Reisegeschwindigkeit also so gut wie gar nicht erhöhen. Sie würde allerdings die Aufsicht und Kontrolle über die Transmissionen dezentralisieren, was wiederum die Probleme der Sicherheit des Transports in einem anderen Licht erscheinen läßt. Warum eine neue, potentiell sehr gefährliche Technik entwickeln, wenn die bestehende bereits mehr als ausreichend ist?« Sie setzte einen Fuß vor den anderen, wie ein Tennisspieler, der sich darauf vorbereitete, nach seinem Matchball ans Netz zu springen. »Aber diese ganze Diskussion ist ohnehin nur akademisch, da es sicher ist, daß eine solche tragbare, drahtlos arbeitende Brücke nicht existiert und auch in den nächsten Jahrzehnten wahrscheinlich nicht entwickelt werden wird. So, wenn du jetzt nichts anderes mehr auf dem Herzen hast, dann würde ich mich gern meinem Abendessen widmen.« Saul nickte. Zu viele Dinge paßten nicht zusammen. Michelles plötzliche und entschieden untypische Besorgnis um die Qualität des Kundendienstes und der Sicherheit – im Gegensatz zu ihrer sonst üblichen Gepflogenheit, mehr die Profite der Gesellschaft im Auge zu haben. Ihre frühere Behauptung, daß Galina Rosmanov eine Gefahr für die Zivilisation darstelle. Mary Hemkes Gewißheit, daß das, was sie in Galinas Film gesehen hatte, tatsächlich eine solche tragbare, drahtlose Brücke gewesen war. Auch wenn Herman der gegenteiligen Ansicht war, war es vielleicht doch möglich, daß die drahtlos arbeitende, tragbare Brücke bereits existierte?
Fragen über Fragen. Er mußte woanders hingehen, um die Antworten zu finden. Michelle würde sie ihm nicht geben. Als er den Raum verlassen hatte, legte er seine Krawatte über das Treppengeländer, ließ sie dort baumeln, still und leblos, wie die Standarte einer besiegten Armee.
XIV
»Wenn eine tragbare, drahtlose Brücke existiert«, sprach Saul zu Herman, »dann besteht sie aus zwei Transportern. Vielleicht hat Galina den Satz getrennt. Einen Transporter an die EVW verkauft, den anderen an irgend jemand anders. Vielleicht hatte außerdem noch jemand anders Interesse daran, der sich schließlich dazu entschloß, den zweiten Verkauf zu verhindern.« »Eine gute Theorie«, entgegnete Herman. »Aber es gibt noch eine andere, die ebensogut zutreffen kann. Angenommen, Galina hatte zwei drahtlose Transporter. Beides Fälschungen. Den ersten verkauft sie an einen Kunden, der ihn sofort als Fälschung identifiziert. Und darum führt dieser Käufer Galina einmal vor, was mit Leuten passiert, die mit schäbiger Ware bei hohen Tieren hausieren gehen.« Das klang logisch. Eigentlich hätte Saul auch selbst auf diesen Gedanken kommen sollen. Aber seine geistige Beweglichkeit war weit unter das übliche Maß gesunken. Er ließ wichtige Informationen außer acht, verfolgte keine möglichen Alternativen. Zu viele Transferierungen in zu kurzer Zeit. Und noch immer kein Ende in Sicht. Rosie saß in einer Ecke, mit gesenktem Kopf und geschlossenen Augen. Ein zufälliger Beobachter hätte vielleicht vermutet, daß sie eingenickt war, aber Saul wußte es besser. Im Gegensatz zum traditionellen modus operandi der Detektive fand sie ihre Anhaltspunkte am leichtesten mit geschlossenen Augen. »Überprüfe die anderen prominenten Materie-Transmissions-Wissenschaftler«, schlug sie vor. »Vielleicht hat der erste Käufer die Brücke zu einem von ihnen
gebracht, um sie überprüfen zu lassen. Oder vielleicht hat einer von ihnen sie sogar konstruiert.« Eine andere offensichtliche Möglichkeit, die er übersehen hatte. Vielleicht hätte Saul wirklich eine Pause einlegen sollen. Eine Weile ausspannen. Seinem ausgebrannten Hirn die Chance geben, sich wieder zu regenerieren. Aber dann sah er auf die Uhr, die Herman über dem Computer montiert hatte. Sie zeigte eine ständig kleiner werdende Zahl an, die Zeit, die nach Hermans Schätzung Galina noch unbeeinträchtigt im Netz verbringen konnte. Noch etwas mehr als sechsunddreißig Stunden. »Herman«, sagte Saul, »nenn mir alle Namen derjenigen, die deiner Meinung nach in der Lage wären, eine tragbare, drahtlose Brücke zu entwickeln oder zu bauen.« Herman bewegte sich unruhig in seinem Sessel und versuchte vergeblich eine Sitzposition zu finden, die sein körperliches Unbehagen linderte. Er hätte eine ordentliche Massage gebrauchen können, aber es war niemand da, der sie hätte durchführen können. Die Geduld seiner Freundin hatte sich erschöpft. Sie hatte bereits vor einer Stunde die Sammelstation verlassen. Sie war mehr als guten Willens gewesen, mit Herman Familie zu spielen, nicht aber, wenn die Rollen in Mutter und invalides Kind aufgeteilt waren. »Du vertrödelst deine Zeit, Saul. Das Gebiet der Materie-Transmission ist auf ein paar Personen beschränkt. Da breiten sich Gerüchte wie ein Steppenbrand aus. Hätte jemand an einer solchen Brücke gearbeitet, sie auch nur gesehen, dann hätte ich ganz bestimmt etwas darüber gehört. Aber das habe ich nicht.« Saul rieb Daumen und Zeigefinger aneinander. »Wenn man jemanden den Mund verschließen möchte, dann gibt es keinen besseren Klebstoff als Geld.« Herman kam widerstrebend Sauls Wunsch nach, wie jemand, der gezwungen war, seinen Hund im Regen auszuführen. »Es gibt zwei Männer, einen Japaner und einen Israeli. Beide
stehen bei der Brückengesellschaft unter Vertrag. Von Zeit zu Zeit haben wir zusammen gearbeitet, und ich glaube, sie haben beide was auf dem Kasten. Ihre Namen sind Omura Takahashi und Sammy Blonder.« »Weißt du, wo sie leben?« »Omura irgendwo in den Anden, Sammy in Rio, glaube ich.«
Samuel Blonder residierte in einem ausgesprochen exklusiven Viertel von Rio de Janeiro. Seine gewaltige Villa hatte den Reiz eines riesigen Tresors. Sie enthielt jedes Sicherheitssystem, das derzeitig auf dem Markt erhältlich war. Eine hohe steinerne Mauer, auf der ein elektronischer Zaun das Eindringen von unerwünschten Personen unmöglich machte. Uniformierte Wächter innerhalb und außerhalb dieser Barriere. Ein Eingangstor mit doppelter Tür und dreifacher TVÜberwachung. Umherstreifende Wachhunde. Entweder war Blonder extrem mißtrauisch veranlagt, oder er war ein sorgsam gehüteter Schatz. Ein Wächter an dem Tor nahm Sauls Ausweis entgegen, legte ihn unter ein Glühlicht, das vermutlich nachträgliche Änderungen offenbarte, und entschloß sich dann auch noch zu einer Doppelkontrolle, indem er in der Zentrale der Brückengesellschaft nachfragte. Als sich Sauls Identität bestätigte, gab der Wächter zweien seiner Kollegen ein Zeichen, und die eskortierten ihn von dem Tor zur Eingangstür. Die Wächter schienen so abgebrüht wie Söldner, Männer, die zu den Waffen griffen oder sich ergaben, ganz danach, wie der Befehl lautete. An der Eingangstür wurde Saul von Blonder in Empfang genommen. Seine kompakte, muskulöse Gestalt zitterte nervös. Die Füße scharrten dauernd über dem Marmorboden.
Seine auffallend dünnen Finger krochen hierhin und dorthin, wie fünfschnäblige Kolibris, die von Blüte zu Blüte huschen. Unruhig sah er an die Decke, auf den Boden, die Wände, so als würde jede seiner Bewegung genau registriert, als würde alles von versteckten Kameras aufgezeichnet. Saul hatte eine solche Verhaltensweise schon vorher kennengelernt, bei Menschen allerdings, die Fußfesseln getragen hatten, die durch eine Kette mit der Wand einer Sicherheitszelle in einem Gefängnis für besonders gefährliche Häftlinge verbunden waren. Blonder geleitete Saul in das Wohnzimmer. Während er mit Michelle verheiratet gewesen war, war er oft gegen seinen Willen zu Empfängen und Parties in einer Reihe von luxuriösen Herrenhäusern geschleppt worden. Aber noch niemals zuvor war er in einer Residenz gewesen, die so verschwenderisch eingerichtet war wie diese. Ausgesprochen wertvolle Bilder und Statuen wohin man blickte, die meisten von Künstlern, die so berühmt waren, daß selbst Saul sie kannte. Geschickt beleuchtet. Teure Antiquitäten. Saul fragte sich, wer häufiger kommen mußte, das Reinigungsunternehmen, um den Staub von Bildern und Statuen und Fingerflecken vom Mobiliar zu entfernen, oder der Kosmetiker, der ähnliches mit Blonders Gesicht anstellte. »Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?« fragte Blonder. Obwohl er wußte, daß er bald die nächste Transferierung über sich ergehen lassen mußte, bat Saul um einen doppelten Scotch ohne Soda. Blonder schenkte zwei ein und reichte einen davon an Saul. »Was kann ich für Sie tun, Mr. Lukas? Am Telefon sagten Sie etwas von tragbaren, drahtlos arbeitenden Brücken.« »Richtig. Ich wüßte gern Ihre Meinung betreffend der Möglichkeit, ein solches Gerät zu entwickeln.« »Oh, eines Tages werden wir sie haben«, sagte Blonder zuversichtlich. »Eines Tages. Wir werden einen
wissenschaftlichen Durchbruch erzielen, und jemand wird sie konstruieren.« »Sie glauben nicht, daß sie bereits existieren?« »Ganz sicher nicht.« Blonders Worte waren gleichförmig und monoton, wie das letzte Ticken einer abgelegten Uhr. »Wissen Sie, vor einigen Jahren, da hat es einen Punkt gegeben, da hat mich die Vorstellung, eine tragbare, drahtlose Brücke zu bauen, außerordentlich fasziniert. Für die Wissenschaftler, die sich mit Materie-Transmission beschäftigen, wäre das so aufregend wie das Auffinden des Heiligen Grals. Wahrscheinlich gibt es nicht einen unter uns, der während seiner Karriere nicht auf diese Idee gekommen wäre. Eine Zeitlang habe ich daran gearbeitet, dabei einen, ich möchte sagen, gewissen Erfolg erzielt. Ich habe einige mathematische Gleichungen erstellt, die, richtig angewandt, einige der technischen Probleme bei der Entwicklung eines solchen Geräts lösen würden. Allerdings habe ich sie nie in die Praxis umgesetzt.« Blonder sprach immer langsamer, wie ein Mann, der aus einem Geschichtsbuch den Abschnitt über die eigenen Verdienste vorlas. »Die Brückengesellschaft ist nicht an der Entwicklung einer tragbaren, drahtlosen Brücke interessiert. Wissen Sie, solange sie das Leitungsgeflecht kontrollieren, haben sie auch gleichzeitig den Welthandel in der Hand. Nehmen Sie das Leitungsgeflecht fort, dann entfernen Sie damit gleichzeitig den Hauptbestandteil ihrer Macht. Die Gesellschaft wird alles unternehmen, um eine solche Entwicklung zu verhindern.« Blonder streckte seine Hände aus, als wolle er diese in der Luft herumschwebende Vorstellung einfangen und zerquetschen, bevor sie Flügel entwickeln und davonfliegen konnte. »Es gibt eine ganze Menge Geld dafür, sich nicht mit der Forschung zu beschäftigen, die einmal zu einer solchen Entwicklung führen könnte.« Er hob eine nahe Statue an, wog sie teilnahmslos in
der Hand und setzte sie dann auf ihr Podest zurück, wie ein Kind, das gelangweilt war, obwohl sein Laufstall von Spielzeugen überquoll. »Wenn Ihnen jemand ein Gerät in die Hand gäbe und behauptete, es sei eine tragbare, drahtlose Brücke, wären Sie dann in der Lage, das zu überprüfen?« »Das will ich hoffen.« Blonder stützte seinen Ellenbogen auf den Kaminsims und warf sich unter eine Reihe von Bildern in Pose, die ihn selbst zusammen mit einigen der berühmtesten Wissenschaftler der Welt zeigten. Man umgebe sich mit den Abbildern prominenter Gelehrter, und ein wenig von ihrem Ruhm wird auch auf den Besitzer übergehen. So war es seit dem Anbeginn der Welt. »Ist in der letzten Zeit jemand mit einer solchen Bitte an Sie herangetreten? Hat Ihnen jemand eine tragbare, drahtlose Brücke zur Prüfung vorgelegt? Ein Gerät, daß Sie vielleicht als Schwindel entlarvten?« »Nein, es tut mir leid.« »Sie sind ganz sicher? Innerhalb der letzten Wochen haben sie keine tragbare, drahtlose Brücke überprüft, ob sie nun echt war oder nicht?« »Ganz sicher.« Saul öffnete seine Aktentasche und holte das Notizbuch hervor, das er in Galinas Apartment gefunden hatte. »Haben Sie das schon einmal gesehen?« Blonder betrachtete die wissenschaftlichen Aufzeichnungen und lächelte ausgesprochen melancholisch, als erinnere er sich plötzlich an eine zurückliegende, vergnüglichere Zeit. »Ich selbst habe diese Gleichungen geschrieben. Dies ist mein Notizbuch.« Das war ganz sicher nicht die Antwort, die Saul erwartet hatte. »Sie sind Hydroelektroniker?« fragte er verblüfft.
»Ich verstehe nicht ganz. Hydroelektroniker? Was hat das hiermit zu tun? Das hier sind die Notizen, von denen ich Ihnen erzählt habe. Die Gleichungen, die sich mit der Konstruktion einer tragbaren, drahtlosen Brücke befassen. Das letzte, was ich hörte, war, daß die Brückengesellschaft sie irgendwo an einem sicheren Ort aufbewahrt.« »Sie sind wirklich sicher? Sie sind ganz sicher, daß dies Ihre Aufzeichnungen sind?« »Mr. Lukas, ich kann ganz bestimmt meine eigene Arbeit wiedererkennen, wenn ich sie sehe.« Die Frage war nur, warum war Herman nicht in der Lage dazu?
XV
Omura Takahashi konnte Saul nicht sonderlich weiterhelfen. Wie Blonder lebte auch er in einer gewaltigen, erlesen eingerichteten Villa. Schwer bewacht. Auch er hatte vorbereitende Forschungen in Sachen tragbare, drahtlose Brücke unternommen. Und auch er war davon überzeugt worden, daß es besser war, wenn er seine Energien anderen Dingen zuwandte. Auch er hatte keine solche Brücke gebaut, noch hatte sich jemand mit der Bitte an ihn gewandt, ein Gerät daraufhin zu überprüfen. Als er ihm Blonders Gleichungen zeigte, nahm Takahashi das Notizbuch so vorsichtig in die Hände, als sei es eine heilige Offenbarung, die auf einen brüchigen Papyrus-Streifen gekritzelt war, den man bei einer Ausgrabung im alten Jerusalem in einer uralten Urne gefunden hatte. Er begriff natürlich, worum es sich handelte.
Herman, über das Computerterminal der Sammelstation gebeugt, war zunehmend von seiner Unfähigkeit frustriert, selbst die simpelsten Berechnungen präzise zu Ende zu führen. Seine Finger führten sich wie plumpe Würmer auf, die ziellos durch einen Komposthaufen krochen. Immer wieder mußte er die Löschtaste seines Schaltpults betätigen, um seine ständig zunehmenden Eingabefehler zu berichtigen. Saul trat hinter ihn und berührte ihn an der Schulter. Aber Herman war völlig mit dem vergeblichen Versuch beschäftigt, seine Berechnungen mit dem Inhalt des rotgedruckten
Computerausdrucks, den er an die Wand zu seiner Seite geheftet hatte, in Übereinstimmung zu bringen. Normalerweise hätte Saul Herman seiner Arbeit überlassen und wäre später zurückgekehrt, dann, wenn er Zeit für ihn gehabt hätte. Aber jetzt nicht mehr. Er packte Herman bei der Schulter und riß ihn rauh auf seinem Hocker herum. »He! Was glaubst du, was du jetzt gemacht hast!« beschwerte sich Herman. »Du hast meine ganze Dateneingabe zunichte gemacht. Jetzt muß ich wieder von vorn anfangen.« Hermans Augen waren in den Höhlen angeschwollen, sahen jetzt wie zwei trübe Zwiebeln aus, die ein schwerer Frühjahrsregen aus dem Boden gewaschen hatte. Er war so offensichtlich krank, daß Saul versucht war, die unausweichliche Auseinandersetzung solange hinauszuschieben bis er einen Arzt alarmiert hatte. Aber die Uhr über dem Terminal zeigte an, daß Galina Rosmanov nur noch einunddreißig Stunden überleben würde. »Ich glaube, es ist an der Zeit, mal eine offene Aussprache zu führen«, sagte Saul, packte Herman unter den Achselhöhlen und zerrte ihn auf die Beine. »Unter vier Augen.« Ihn halb tragend, halb schleppend, transportierte er Herman in das Büro des Programmierungsleiters, eine rundumverglaste Kabine, in der man den ganzen Computersaal überblicken konnte. Er deponierte ihn in dem nächstgelegenen Sessel und stieß die Tür zu. Dann bohrte er seinen Zeigefinger in Hermans Brust, um seine folgenden Worte zu unterstreichen. »Ich will, daß Galina Rosmanov da ‘rausgeholt wird, und zwar auf der Stelle.« Das Blut schoß Herman ins Gesicht, und das rote Glühen offenbarte tiefe Kummerfalten. »Die Gleichungen. Du warst noch nicht einmal eine halbe Stunde weg, als mir einfiel, daß du die Gleichungen noch bei dir hast.« Herman rieb sich die Hände wie ein verlegener Schach-Großmeister, der ein Spiel
auf dilettantische Weise verloren hat. »Du, hast die Gleichungen Blonder gezeigt, und der hat sie identifiziert.« »Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen.« Saul packte Herman beim Hemdkragen und zerrte ihn halb aus dem Sessel heraus. »Wir beide sind eine ganze Zeitlang Freunde gewesen. Aber wenn du glaubst, daß dir das jetzt etwas nützt, dann irrst du dich, mein Junge. Wenn das Mädchen da drin das Zeitliche segnet, dann werde ich dafür sorgen, daß du des Mordes angeklagt wirst.« Hermans Mund klappte auf und schloß sich sofort wieder. Seine Lippen begannen zu beben, als würden ihm jetzt erst die Folgen seines kriminellen Vergehens klar. »Du glaubst, ich könnte sie zu jeder Zeit da herausholen. Du glaubst, daß ich sie aus Absicht immer noch da drin lasse. Um meine eigene Verwicklung in dieser Angelegenheit zu vertuschen.« Saul ließ ihn wieder zurückfallen. »Das ist genau das, was ich denke. Ich weiß nicht, wie du sie da ‘reingekriegt hast, aber ich bin davon überzeugt, daß du ganz genau weißt, wie man sie wieder herausholen kann.« Herman schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Das ist nicht wahr. Das ist nicht wahr.« Saul gab sich verzweifelte Mühe, das zu glauben, aber es war ihm unmöglich. Es gab zuviel Anhaltspunkte, die auf das Gegenteil hindeuteten. »Fangen wir ganz von vorn an. Du hast dieses Paar tragbarer, drahtloser Transporter gebaut?« Herman setzte sich aufrecht, ein Sämling aus Stolz, der in einem Wald aus Ausreden keimte. »Ja. Bereits vor sieben Jahren habe ich die Möglichkeit des Baus einer solchen Brücke erkannt. Ich bin an die Brückengesellschaft herangetreten und habe vorgeschlagen, mich als Leiter eines Entwicklungsprojektes einzusetzen. Statt dessen boten sie mir zwanzig Millionen Dollar und ein Schloß in Frankreich an, vorausgesetzt, ich würde meine Forschungen vergessen. Sie
machten deutlich, daß sie mir, sollte ich ihr Angebot ablehnen, den Zugang zum Brückennetz verweigern würden. Das hätte auch das Ende meiner Karriere bedeutet. Darum stimmte ich zu. Seit damals haben sie mich ständig überwacht. Wächter, die mein Haus beobachteten. Meine Forschungen wurden aufgezeichnet. Jedesmal, wenn ich Fragen der MaterieTransferierung mit einem Kollegen bespreche, ist ein Vertreter der Gesellschaft dabei. Sie überwachen meine Telefongespräche. Sie besuchen meine Vorlesungen, lesen meine Artikel, bevor sie veröffentlicht werden. Sie wollen absolut sichergehen, daß ich nicht der Versuchung unterliege, die Forschungen in Sachen tragbare, drahtlose Brücke weiterzuführen.« Saul legte verwirrt den Kopf auf die Seite. »Wenn du so scharf überwacht worden bist, wie hast du es dann fertiggebracht, die tragbare, drahtlose Brücke zu konstruieren?« Herman legte sein bestes Lächeln auf, jenes, das er nur für Fernseh-Talkshows oder internationale PreisverleihungsEmpfänge reserviert hatte. Kompetenz gut gemischt mit jugendlichem Überschwang. Das Bild des nicht älter gewordenen, gutmütigen Jungen. »Das war eigentlich ganz einfach. Weißt du, die Brückengesellschaft stellt sich drahtlose Brücken immer so ähnlich wie die vor, die sie bereits hat. Außerordentlich komplex, riesige Mengen Energie verlangend, auf einer Technologie basierend, für die rar gewordene Rohmaterialien erforderlich sind. Dreyfus-Kristalle zum Beispiel, oder Bleiglanz-Arsen-Hochfrequenzsender. Das ist es, nach dem sie Ausschau halten. Aber ich habe sie an der Nase herumgeführt. Für meine Brücken sind solche Materialien nicht notwendig. Meine Brücken basieren nicht einmal auf der Technik des
drahtlosen Armeenetzes. Ich habe ein völlig neues System entwickelt, das so verschieden von dem militärischen ist, wie das wiederum von dem kommerziellen, das wir hier haben. Ich hatte schließlich ein Paar kleiner, einfacher und extrem ökonomisch arbeitender, tragbarer, drahtloser Transporter. In der Massenproduktion hergestellt, würden sie wahrscheinlich nicht mehr als hundert Dollar kosten.« Soweit es Saul betraf, gaben die Erläuterungen Hermans nur den Hintergrund für die wichtigste Frage ab. »Wie paßt Galina Rosmanov in die Sache?« Herman legte die Arme auf die Knie und beugte sich so weit hinunter, daß sein Kinn darauf zur Ruhe kam. Die hochgekrempelten Hemdsärmel waren wie Kissen für die Wangen. »Ich hatte gerade mit meiner Arbeit begonnen, als ich sie kennenlernte. Auf der Party eines gemeinsamen Bekannten. Heinrich Boehm, der deutsche Chirurg. Es war wie in einem Film. Zwei Blicke, die sich über die Menschenmenge hinweg trafen. Unausgesprochene Übereinstimmung. Sanftes Geflüster. Ein Spaziergang auf der Terrasse. Ein romantischer Abend in einem malerischen französischen Restaurant. Von diesem Tage an haben wir uns so oft gesehen, wie es möglich war. Natürlich immer heimlich. Immer eine andere Stadt. Abgelegene Hotels. Wir wollten die Mißbilligung vermeiden, die uns entgegengeschlagen hätte, wäre es allgemein bekannt geworden, daß ein amerikanischer Wissenschaftler eine Affäre mit einer russischen Ballerina hatte. Als wir uns näher kennenlernten, erzählte ich Galina natürlich von meiner Arbeit hinsichtlich tragbarer, drahtloser Transporter. Ich sagte, daß ich die Pläne schon fertig im Kopf hätte und daß ich jederzeit ein funktionierendes Modell bauen könne. Sie fragte mich, was mich denn daran hindern würde, und ich entgegnete, daß die Konstruktion eine ziemlich ausgefallene und teure Maschinerie erfordere. Geräte, die ich mir nicht besorgen könnte. Das
nächste Mal, als ich sie sah, es war, glaube ich, drei oder vier Tage später, erzählte sie mir, daß sie jemanden gefunden hätte, der meine Arbeit finanzieren würde, die EVW. Ich weiß nicht, ob du schon einmal von dieser Gruppe gehört hast. Ich jedenfalls nicht.« Das war nicht überraschend. Wenn Herman überhaupt Zeitungen las, dann nur sehr selten. Er war weniger an der Welt interessiert, wie sie war, sondern an der, wie sie sein könnte. »Hast du dich denn nicht darüber informiert, was das für eine Gruppe ist?« Herman wischte sich über die Stirn, um die Müdigkeit zu vertreiben. »Ich wußte nicht, wer das war, und, um ehrlich zu sein, es kümmerte mich auch nicht. Galina sagte, sie würden mir das Geld geben, das ich brauchte. Als Gegenleistung wollten sie zwei funktionierende Prototypen. Sie versprachen, dafür zu sorgen, daß sie in Massenproduktion gingen und über die ganze Welt verteilt würden. Genau das Gegenteil also von dem, was die Brückengesellschaft damit angestellt hätte. Darum war ich einverstanden.« Die nicht ausbalancierte Waage der Welt: Politik und Wissenschaft. Die Politiker nutzen einen nicht unbeträchtlichen Teil ihres Einflusses, um die Wissenschaftler in der Luft hängen zu lassen. Dann kommt die EVW mit einer Leiter, ein Wissenschaftler klettert herunter, und der ganze Spielplatz wird zu einem Friedhof. »Weißt du eigentlich, woher die Eine Vereinte Welt ihr Geld bekommt, um dein Projekt finanzieren zu können?« »Nein.« Saul lehnte sich vor, stützte jeweils einen Arm auf die Lehnen von Hermans Sessel und sprach die Worte direkt in sein Gesicht. »Sie entführen Politiker und andere bekannte Persönlichkeiten und erpressen mit ihnen Lösegelder. Sie überfallen Banken und Geldtransporte. Sie handeln mit
Haschisch. Und das alles auch noch mit einer angeblich weltverbessernden Intention.« Herman hob den Unterarm, als trüge er ein magisches Band, das von einem Zauberer geschaffen worden war, um alle Verderblichkeiten von den Rittern und Kreuzfahrern auf der Pilgerfahrt zur Rettung der Welt fernzuhalten. »Das geht mich nichts an. Ich persönlich habe nichts Unrechtes getan. Es gibt nichts, dessen ich mich schämen müßte.« »Das erinnert mich an andere Leute, die einmal ähnlich gedacht haben. Sie trugen Hakenkreuze und schlossen die Augen, während ihre Volksgenossen aus Menschenhaut Lampenschirme herstellten.« Herman streckte seine Arme aus und formte mit den Händen das Muster einer besseren Zukunft. »Saul, wenn du jemals diese Brücke gesehen hättest, dann würdest du verstehen. Sie treibt die Wissenschaft um Jahrzehnte voran. Was macht es da, wer das alles bezahlt? Das Endresultat ist es, worauf es ankommt. Diese Brücke ist einfach wunderbar. Absolut sicher. Das Problem von Fehlgruppierungen ist völlig ausgeschaltet. Die Transporter sind so sicher, daß sogar ich mich ihnen anvertrauen würde. Und sie verbrauchen nur wenig Energie, eine eingebaute Zehn-Volt-Batterie reicht völlig aus. Sie stellen eine solche Verbesserung zu dem vorhandenen Netz dar, daß mir nicht die richtigen Superlative einfallen. Sie müssen der Öffentlichkeit übergeben werden. Es muß gewährleistet werden, daß eine solche Brücke jederzeit von jedermann gekauft werden kann.« Seine Predigt produzierte keinen neuen Gläubigen. Saul kümmerte sich nur insoweit um die tragbare, drahtlose Brücke, wie sie mit Galina Rosmanov im Zusammenhang stand. »Wie ist Galina an Blonders Aufzeichnungen herangekommen?« »Ich weiß es nicht.« Herman rieb sich mit Daumen und Zeigefinger die Nase. »Eines Tages stellte ich fest, daß sie aus
meiner Aktentasche verschwunden waren. Ich verliere dauernd irgendwo Notizen, daher wunderte ich mich nicht sonderlich. Niemand außer einem Experten hätte etwas damit anfangen können. Nebenbei gesagt, ich war bereits über dieses Forschungsstadium hinaus, so war es auch nicht unbedingt nötig, daß ich sie wiederfand. Als wissenschaftlicher Berater der Brückengesellschaft hatte ich freien Zugang zu den Dokumenten des Konfiskationsarchivs. Das ist jener Ort, wo die Arbeiten der Wissenschaftler aufbewahrt werden, von denen man befürchtete, daß sie kurz vor einem Durchbruch, einer richtungweisenden Entdeckung standen. Die meisten der Wissenschaftler waren denkbar weit davon entfernt. Aber einige, Blonder etwa, waren tatsächlich auf etwas Bedeutungsvolles gestoßen. Hätte man ihnen ausreichend Zeit und Geld gegeben, dann hätte einer von ihnen die Arbeit bestimmt zu einem erfolgreichen Ende führen können. Der Bau einer tragbaren, drahtlos arbeitenden Brücke. Natürlich hat es die Brückengesellschaft nicht soweit kommen lassen.« »Was ist mit den Drogen? Die, die ich in Galinas Apartment gefunden habe?« Seltsamerweise, gerade in Anbetracht dessen, was er alles getan hatte, schien ihn diese Frage wirklich in Verlegenheit zu bringen. »Die habe ich gestohlen. Um die tragbare, drahtlose Brücke tatsächlich zu einer wirklichen Möglichkeit zu entwickeln, Kurzdistanzen zurückzulegen, benötigte ich etwas, das die Rückholzeit senkte. Das waren diese Drogen. Ich erfuhr während meiner Arbeit an dem drahtlosen Militär-Netz davon. Eines Abends bin ich in das chemische Laboratorium eingebrochen und habe sie geklaut. Und da ich vermutete, daß die Brückengesellschaft während meiner Abwesenheit ständig
meine Wohnung durchsuchte, gab ich sie Galina zur sicheren Aufbewahrung.« »Was ist mit dem anderen Zeug? Das Pulver, das noch nicht identifiziert werden konnte?« »Keine Ahnung, was das ist oder wo es herstammen könnte. Es hat nichts mit mir zu tun.« Saul unterbrach seine Befragung nur, um sich eine Zigarette anzuzünden. »Deine tragbare, drahtlose Brücke«, sagte er, und seine Worte tauchten durch den Tabakrauch, der seinen Kopf umgab, »wie funktioniert sie?« Hermans Brust schwoll sichtlich an – ein stolzer Vater, der mit den Erfolgen seines noch frühreifen Sohnes prahlt. »Jeder Transporter bekommt eine Nummer, so ähnlich wie eine Telefonnummer. Um irgendwohin zu reisen, gibt man die Nummer des Sendetransporters ein, dann die des Empfangstransporters. Der Sendetransporter peilt den Empfänger an und gibt einem ein rotes Leuchtsignal, was bedeutet, daß eine Brücke errichtet worden ist. Dann betätigt man den Sendeknopf und wird abgestrahlt. Das ist alles, was man tun muß. So einfach ist es. Irgendwelche Sammelstationen sind nicht notwendig, da das irdische Magnetfeld nicht wie beim Leitungs-Transport die Impulse stört, auch wenn ich noch nicht genau weiß, warum nicht. Ich muß noch einige kleine Änderungen vornehmen, aber das ist nicht weiter bedeutsam. Zum Beispiel braucht die Brücke nicht viel Energie, um zu senden oder zu empfangen, aber es ist ein gehöriger Stromaufwand nötig, um die Transporter auf Betriebstemperatur zu bringen. Es ist ökonomischer, die Brücke einmal auf Bereitschaft zu schalten und dann nicht mehr zu deaktivieren. Auch muß ich noch eine Möglichkeit finden, den Empfang nach Bedarf zu blockieren. Sonst könnten sich jederzeit, nach Belieben, Gauner und andere dunkle Gestalten zu dem Transporter abstrahlen lassen, den man in
seinem Haus aufgestellt hat. Aber das sind wirklich nur geringfügige Probleme, die ich sofort lösen könnte, hätte ich etwas Zeit dafür. Ich habe auch schon mit der Entwicklung der nächsten Brückengeneration begonnen. Eine Brücke, zu deren Errichtung man keinen Transporter mehr benötigt. Das Ganze wird nur durch eine taschenbuchgroße Kontrolleinheit funktionieren. Mittels dieser Kontrolleinheit kann man jeden gewünschten Ort aufsuchen. Und ich habe auch diese Entwicklung fast beendet, Saul. Ich bin schon fast damit fertig.« Aber Saul ignorierte auch diese wissenschaftliche Großtat und wandte sich den ihn mehr interessierenden relevanten Fakten zu. »Wie viele Transporter hast du gebaut?« »Zwei.« »Und wo sind sie jetzt?« »Galina hat sie, aus dem gleichen Grund, warum ich ihr auch die Drogen übergeben habe. Ich wollte nicht, daß einige Angehörige der Brückengesellschaft darüber stolpern, während sie meine Wohnung unter die Lupe nehmen.« Saul stand auf und schritt auf und ab, sechs Schritte in die eine Richtung, sechs in die andere, so präzise in seinen Bewegungen, das er als Taktgeber für einen Pianostudenten hätte arbeiten können. »Diese Transporter. Wie groß sind sie?« Herman deutete mit seinen ausgestreckten Händen die gleiche Größe wie auch Mary Hemke an. »Etwa so groß. Es sind nur Prototypen. Die Modelle der Serienproduktion würden wahrscheinlich ein wenig größer ausfallen.« Sechs Schritte in die eine Richtung, sechs Schritte in die andere. »Also würde eins dieser Geräte in einen Kabinenkoffer passen?« »Sicher. Leicht. Wahrscheinlich sogar beide.« »Ist es möglich, daß Galina eins oder gar beide bei sich hatte, als sie im Leitungsgeflecht auf die Reise ging?«
»Durchaus möglich, obwohl ich mir nicht vorstellen kann, warum sie die Transporter mit sich hätte herumschleppen sollen. Wir waren beide übereingekommen, sie solange versteckt zu halten, bis ich sie zur Perfektion entwickelt habe. Erst dann wollten wir sie der Öffentlichkeit vorstellen.« Saul drückte seine Zigarette aus und zündete sich sofort eine neue an. »Du sagtest, diese tragbaren, drahtlosen Transporter sind Energie-Selbstversorger und werden nie völlig deaktiviert.« »Richtig.« Saul hielt inne. Seine Zigarette, zwischen die Finger geklemmt, zitterte wie ein Taktstock, der eine Symphonie aus Intrigen und Schlechtigkeit dirigierte. »Laß uns die Transporter A und B nennen. Nehmen wir jetzt mal an, daß Galina den Transporter A bei sich hatte, in ihrem Koffer. Nehmen wir ferner an, jemand habe – ob aus Absicht oder Zufall, sei einmal dahingestellt – etwas von Transporter B in den Transporter A gesendet, gerade zu dem Zeitpunkt, als der Koffer in das konventionelle Brücken-Netz eingespeist wurde.« Herman rieb sich die Augen in dem vergeblichen Versuch, etwas von dem Brennen, das durch die fürchterliche rote Glut im Augapfel hervorgerufen wurde, zu lindern. »Eine interessante Hypothese.« Saul schüttelte den Kopf. »Vielleicht ist es nicht so hypothetisch, wie du annimmst. Was genau wäre die Folge einer solchen Übertragung?« Herman zeichnete eine imaginäre Grafik auf die Armlehne des Sessels, ein Diagramm, in dem die möglichen Resultate der Wahrscheinlichkeit nach aufgelistet waren. »Nun, wenn so etwas geschähe, dann würde das das Bruttogewicht des tragbaren Transporters radikal verändern. Es würde die Transmissions-Fokussierung jäh unterbrechen. Als Resultat
würde die tragbare Einheit im Leitungsgeflecht anschwellen wie ein Schwamm in einem Wasserrohr.« »Und alles, das sich in unmittelbarer Nähe befände, würde blockiert werden.« Herman legte das Kinn auf die Brust. »Genau.« »Ist es das, was mit Galina Rosmanov passiert ist?« Noch einmal nickte Herman. »Ich vermute es.« Saul explodierte, Ärger, der an seinem Inneren zerrte, war für ihn wesentlich einfacher zu ertragen wie Treubruch, der ihm ans Herz ging. »Und wie lange vermutest du das schon?« Hermans errötendes Gesicht gab Saul die Antwort, noch bevor Herman gesprochen hatte. »Ungefähr eine Stunde, nachdem ich hier eingetroffen bin. Die Anzeichen sind nicht zu übersehen, wenn man weiß, nach was man Ausschau zu halten hat.« »Du hast mir nichts davon gesagt.« Herman versuchte, Sauls Arm zu umfassen, um so eine direkte Verbindung zwischen ihnen herzustellen, aber Saul bewegte den Arm zur Seite. »Ich hatte Angst davor«, gab Herman zu. »Wenn die Brückengesellschaft herausfindet, daß ich weiß, wie man eine tragbare, drahtlos funktionierende Brücke konstruiert, dann würden sie mich umbringen, um dieses Wissen auszulöschen.« »Aha, um dich selbst zu schützen, läßt du Galina also da im Netz sterben.« Saul zog aus allen Verwicklungen den nächstliegenden Schluß. »So ist das nicht, Saul.« Wieder faßte Herman nach Sauls Arm, und diesmal erwischte er ihn, bevor Saul ausweichen konnte. Sobald er ihn berührt hatte, klammerte er sich wie ein abgerutschter Bergsteiger daran fest, der nur noch an einem einzigen Vorsprung an einer ansonsten glatten Felswand Halt hatte. »Ich habe wirklich alles getan, um sie da herauszuholen. Ich habe es wirklich. Wirklich!«
Saul zeigte durch nichts an, ob er ihm glaubte oder nicht. »Du sagtest, du hättest zwei von diesen tragbaren, drahtlosen Transportern konstruiert, beide für die EVW bestimmt.« »Richtig.« »Aber als ich mit der EVW gesprochen habe, ist mir erzählt worden, Galina hätte ihnen nur einen zugesagt. Ein einzelnes Gerät. Das bedeutet, daß sie wahrscheinlich die Absicht hatte, das andere irgend jemand anderem anzubieten. Und wem auch immer sie es verkauft hat, er hat es gegen sie benutzt.« Herman schüttelte den Kopf. »Nein, niemals. Galina würde mir das nicht antun. Ich meine, sie liebte mich.« Angesichts all seines enormen Fachverstandes war er doch, was die Einschätzung der menschlichen Natur betraf, erstaunlich zurückgeblieben. »Laß uns mal für einen Augenblick annehmen, daß sie es doch könnte. Irgendeine Idee, wo der zweite Transporter sein könnte?« Herman dachte einen Moment nach, bevor er antwortete. »Ich habe nicht die geringste Vorstellung.« »Hat sie dir nicht wenigstens mal einen Hinweis gegeben?« »Nein. Nichts.« Herman blickte auf die Uhr über dem Terminal und kämpfte sich auf die Beine. »Würdest du mich jetzt entschuldigen? Ich habe ein zeitlich bemessenes Experiment eingeleitet, das jetzt überprüft werden muß.« Nachdrücklich schüttelte Saul den Kopf. »Ich fürchte, jemand anders wird diese Arbeit übernehmen müssen. Du hast ab sofort mit diesem Projekt nichts mehr zu tun.« Herman blickte nervös auf die Uhr, sah dann wieder Saul an. »Ich habe dir die Wahrheit gesagt. Ob du es glaubst oder nicht, Saul, ich bin der einzige, der das Mädchen retten kann.« »Ich werde Sammy Blonder eine Chance geben, das zu widerlegen.«
»Saul, Blonder ist nur zweite Wahl. Er wird alles verpfuschen.« Saul erhob sich. »Vielleicht, aber zumindest kann ich bei ihm sicher sein, daß er sein Bestes geben wird.« Saul nahm den Telefonhörer ab und gab der Sicherheitsabteilung der Station die Anweisung, Herman Lindstrom zu verhaften. Nichts war ihm jemals schwerer gefallen.
XVI
Der sechzig Meter durchmessende, kugelförmige Kollektor befand sich auf einem schwarzen Stahlsockel, der mit einer dreifachen Sicherheitsausstattung von Monroe HydraulikNivellierern ausgerüstet war. Automatiksensoren und Frequenzablenker bedeckten die Sockelhülle. Im Falle einer ernsten Störung, d. h. wenn die Transferierungstoleranzen um mehr als ein Hundertstel überschritten wurden, würden sich diese Ablenker selbständig aktivieren, den Kollektor abschalten und den Reiseverkehr auf andere Routen umleiten. Rolltreppen brachten Saul rasch an diesen Sicherheitsvorrichtungen vorbei zum Kopf des Sockels. Hier marschierte er das gute Dutzend Meter bis zu jenem Punkt, wo ein ziemlich großer Mann, wie er es war, sich hinaufrecken und dann den eigentlichen Kollektor berühren konnte. Diese Kugel machte wahrscheinlich mehr als jede andere Konstruktion die Erfahrung der Brückengesellschaft in der Produktionstechnik deutlich. Um eine einzige dieser Kugeln herzustellen, brauchte man zwei volle Jahre. Nach Aussagen der Public Relations Abteilung der Gesellschaft, in der sich wahrscheinlich ein ganzer Stab nur damit beschäftigte, unwahrscheinliche Vergleiche zu erfinden, enthielt jeder Kollektor genug Rohmaterial, um damit entweder ein fünfundzwanzigstöckiges Bürogebäude errichten, einen U. S Navy-Zerstörer oder eine Pluto-Rakete bauen zu können. Die Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit behauptete auch, daß, baute man die integrierten Schaltkreise aus und setzte man die einzelnen Drähte aneinander (vermutlich mit der Hilfe einer extrem kleinen Pinzette), diese Drähte ein Kabel bilden
würden, das zweimal um die Welt führte. Wissenschaftler beschäftigen sich monatelang nur damit, die Schaltkreise mit Simulationen zu konfrontieren, bevor sie ihre Zustimmung zur Freigabe erteilten. Selbst dann durfte der Kollektor noch immer keine Passagiere abfertigen, bevor er nicht zweimal mit der energetischen Belastung von sechzig aufeinanderfolgenden Tagen beschickt worden war und keine Fehlfunktion gezeigt hatte. Um eine präzise Refokussierung der Abstrahlimpulse sicherzustellen, hatten Spiegelspezialisten Tausende von Arbeitsstunden damit zugebracht, die Innenfläche des Kollektors zu polieren. Die Außenfläche erhielt nur einen matten, grüngoldenen Anstrich, da sie nichts mit dem Transmissions-Vorgang zu tun hatte. Als Saul diese Außenfläche berührte, war er überrascht, sie eiskalt vorzufinden. Während normaler Aktivität war die Außenfläche der Kugel zumindest zwanzig Grad wärmer als die sie umgebende Luft. Jeder Reisende, der die Schaltkreise passierte, erhöhte die Innentemperatur um durchschnittlich ein halbes Grad. Ein Suboberflächen-Wärmeaustauscher leitet diese Wärme ab. Seit der Kollektor aber ausgeschaltet war, entstand keine Wärme mehr, die abgeleitet werden mußte. Es war irgendwie gespenstisch, einen kalten Kollektor zu berühren, so, als wolle man das Fieber auf der Stirn eines Toten messen. Saul klopfte mit den Knöcheln gegen das Metall, wie ein Spiritist, der in einem Haus, in dem es spukte, Kontakt zu dem in den Wänden hockenden Geist aufnehmen wollte. So viel lag dahinter verborgen. Galina Rosmanov natürlich, aber auch die Informationen, die sie benötigten, um sie zu befreien. Zum Beispiel glaubte Herman, daß die EVW seine Konstruktion einer tragbaren, drahtlosen Brücke finanziert hätte. Aber Mary Hemke hatte Saul erzählt, daß sie sich bereit erklärt hatte, das
Endprodukt anzukaufen. Nicht mehr. Wenn die EVW Herman also nicht finanziell unter die Arme gegriffen hatte, wer dann? Die Russen? Die Israelis? Oder jemand anders? Es herrschte gewiß kein Mangel an Regierungen und Organisationen mit den entsprechenden Voraussetzungen: einer Menge Geld und der Gier nach Macht. Sauls Hand glitt erneut über den Kollektor, aber kein Djinn erschien, um sein Rätsel zu lösen. Selbst Rosie hatte in diesem Punkt versagt. Sie hatte hier oben zwölf Stunden lang die gewaltige Anstrengung unternommen, einen positiven Kontakt zu der gefangenen Ballerina herzustellen, aber ohne Erfolg. Außer der Wiederholung des Eindrucks, den sie schon zuvor gewonnen hatte, hatte sie nichts empfangen. Galina war glücklich dort drinnen. Nicht nur, daß sie nicht heraus konnte, sie wollte es auch nicht. Durch die Drehtür, die gleich in zweifacher Ausfertigung errichtet worden war, da die Temperatur innerhalb dieses Sektors exakt auf konstanter Höhe gehalten werden mußte, trat ein junges Mädchen. Vor ihrer Brust hielt sie ein Register, wie eine Deckung in Erwartung eines physischen Angriffs. »Mr. Lukas«, sagte sie zögernd, als sie Saul erreicht hatte. »Hier sind die Aufzeichnungen, nach denen Sie gefragt haben.« Sie hielt ihm das Register mit dem Widerwillen einer Veterinärin entgegen, die gerade darangeht, an einem nervösen Löwen eine Rachenuntersuchung vorzunehmen. Jeder in der Brückengesellschaft kannte den Wiedererwecker und sein launenhaftes, unbeherrschtes Verhalten Untergebenen gegenüber, die weniger als perfekt arbeiteten. Die Angestellten der Gesellschaft machten sich große Mühe, Saul möglichst aus dem Weg zu gehen. Aufgrund ihre niedrigen Ranges hatte diesmal das Mädchen, eine Studentin, die nur während der Semesterferien für die
Brückengesellschaft arbeitete, den unangenehmen Part übernehmen müssen, mit Saul zusammenzutreffen. Sie hatte nichts zu befürchten. Saul nahm kaum ihre Gegenwart wahr. Die ganze Zeit, während sie bei ihm war, wandte er seinen Blick nicht ein einziges Mal von dem Kollektor ab. Auf dem Rückweg betrachtete sie selbst die Kugel, um herauszufinden, was den Wiedererwecker so daran fesselte. Aber sie unterschied sich nicht von dem Dutzend anderer, die sie bereits gesehen hatte. Ein großer Metallball, der allerdings nicht summte und schwirrte, wie die anderen. Die Art und Weise allerdings, wie Saul ihr betrachtete, ließ vermuten, daß es eine Kristallkugel war, die ihm die Zukunft voraussagen konnte. Ein letztes Mal schlug Saul mit der Hand gegen den Kollektor, trug dann das Register zu einem nahen Tisch, öffnete es und betrachtete den Inhalt. Das Register enthielt eine Computerauflistung jedes einzelnen Tickets, das Galina Rosmanov in den letzten sechs Monaten gelöst hatte. Seiner Aktentasche entnahm Saul eine zweite Liste. Es war ein Spielplan des Kirov-Balletts, der die gleiche Zeit umfaßte. Er legte die beiden Listen Seite an Seite und hakte mit einem Stift die Tickets ab, die sie ganz offensichtlich zu dem Zweck gelöst hatte, um zu den Vorstellungen zu gelangen. Dann strich er die Reisen zu ihren Wohnungen in Madrid und Rom ebenfalls aus. Der dritte Schritt bestand darin, all die Reisen auszuklammern, während denen sie jeweils eine andere Stadt besucht hatte. Er nahm an, daß es sich dabei entweder um Einkaufstrips, Treffen mit Mary Hemke oder Herman handelte. Blieben noch achtunddreißig Punkte übrig. Fünf Tickets jeweils nach Tokio und Peking, vier nach Tel Aviv und Beirut, zwanzig nach Washington, D. C. Die Trips nach Tokio, Peking, Tel Aviv und Beirut hatte sie ganz zu Anfang des
angegebenen Zeitraums unternommen. Die Reisen nach Washington jedoch hatten begonnen, nachdem die anderen beendet waren, und sie blieben konstant bis zum Ende der Auflistung. Das ließ vermuten, daß sie mehrere potentielle Kunden überprüft hatte, bevor sie in ernsthafte Verhandlungen eingestiegen war. Die Tatsache, daß der Verhandlungsort Washington gewesen zu sein schien, konnte bedeuten, daß es sich bei dem letztendlichen Käufer um die Vereinigten Staaten handelte. Aber das konnte auch nur eine List gewesen sein, um von einem ganz anderen Land abzulenken. Said suchte den Transporter der Sammelstation auf. Da er normalerweise nur Stationspersonal beförderte, war er nicht so üppig ausgestattet wie eine reguläre Passagiereinheit. Die Seiten bestanden aus nacktem Metall anstatt aus Holzvertäfelung. Die Kabinenpolster waren mit schwerem Denim bezogen anstatt mit dem teureren und weniger belastbaren Velour. Der Transporter selbst befand sich in einem winzigen Raum zwischen zwei Energie-Speicherbänken des Kollektors. Normalerweise traf man hier weder auf eine Hosteß noch einen diensttuenden Transferierer, aber seitdem die Station zum Zentrum aller Bemühungen geworden war, Galina Rosmanov zu befreien, waren Rund-um-die-UhrSchichten eingeführt worden. Saul ließ ungeduldig die Belehrung der Hosteß über sich ergehen, schluckte seine Pille, ließ sein Gewicht aufnehmen und betrat den Transporter. Die Welt löste sich in einem blauen Nebel auf, und eine Stunde später erwachte er in Washington. Als er die Erholungsphase beendet hatte, war er heißhungrig. Als er darüber nachdachte, stellte er fest, daß er sich, überhaupt nicht daran erinnern konnte, wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte. Er sah auf eine der Uhren, um
festzustellen, was für eine Mahlzeit angebracht war. Fünf Uhr dreißig. Also Frühstück. Obwohl er einen Ausweis besaß, der ihm Zugang zu dem exklusiven Gourmet-Restaurant gestattet hätte, das den hochrangigen Angehörigen der Brückengesellschaft zur Verfügung stand, zog er es wie immer vor, zusammen mit den zahlenden Passagieren in der eher gewöhnlichen Snack Bar zu speisen. Die Snack Bar war im Kellergeschoß untergebracht, unmittelbar über dem Computerraum. Der Korridor, durch den er schritt, ähnelte dem, der zum Transporter führte. Saul trat ein und nahm an der Theke Platz. Ausgestattet war die Bar in, wie Saul es nannte, modernem Public RelationsStil. Erfundene Zeitungsschlagzeilen proklamierten Meilensteine in der Entwicklung des BrückenTränsportsystems. »Materie, abgestrahlt durch ein Kabelnetz«, lautete eine. »Erstes transkontinentales Passagiernetz installiert«, eine andere. »Weltweites Brückennetz offiziell fertiggestellt«, lautete eine dritte. Die Tischplatten waren aus mit Plexiglas bedeckten Netz-Leitungssträngen hergestellt. Saul überflog die Menü-Karte. Da die Gäste aus allen möglichen Welt-Zeitzonen stammen konnten, bot die Snack Bar gleichzeitig Frühstück, Mittag- und Abendessen den ganzen Tag über an. Offenbar war die Speisekarte ebenfalls von der Public Relations-Abteilung zusammengestellt worden, denn sie listete solche Dinge wie das »Transporter-ThunfischSandwich« und das »Schnell-wie-der-Blitz-Omelett« auf. Saul bestellte sich zwei Marmeladenbrote (das »Super-EiligSpezial«) und Kaffee. Dann schlug er die Zeitung auf, die er beim Eintreten gekauft hatte. Er überflog die politische Spalte, verkleckerte den Aufstrich eines Brotes auf die Sportnachrichten und die Comics, beendete seine Lektüre dann mit den Fortsetzungsgeschichten.
Die Hauptstory handelte von einem Eskimo, der Miami Beach besuchte. Saul überflog den ersten Abschnitt bis zur überaus originellen Pointe, die darin bestand, daß der Eskimo Magengeschwüre bekam, weil er sich so sehr nach Alaska zurücksehnte. Saul ließ die Überreste seines zweiten Brotes auf dem Teller, steckte die Zeitung in den Mülleimer an der Seite der Theke, bezahlte und ging. Von der Snack Bar aus suchte er sofort die Dienstbereiche auf. Dort unterrichteten ihn entsprechende Aufzeichnungen davon, daß das letzte Mal, als Galina Rosmanov Washington besucht hatte, sie von einer Hosteß namens Nacy Lee betreut worden war. Ein Blick auf den Dienstplan sagte ihm, daß das Mädchen sich im Innern des Terminals befinden mußte. Als er sie fand, war sie gerade damit beschäftigt, ihren Schützling, eine schwangere Frau, davon zu überzeugen, daß die Reise ihrem ungeborenen Kind nicht schaden würde, daß die Netztechnologie durchaus imstande sei, mit zwei Personen fertigzuwerden. Saul wartete, bis die Schwangere ihre Reise im Leitungsgeflecht angetreten hatte, dann stellte er sich Nacy Lee vor und berichtete ihr von seinem Interesse an Galina Rosmanov. Er bat Nacy, sich daran zu erinnern, ob sich während Galinas letztem Aufenthalt in Washington etwas Ungewöhnliches ereignet hätte. Sie entgegnete, daß Galina so wie immer gewesen wäre, nicht außergewöhnlich lustig, nicht außergewöhnlich unglücklich. Außer ein paar allgemeinen Bemerkungen über das Wetter hätte Galina nichts gesagt. Es hatte den Anschein, als wäre Sauls Reise nach Washington, von der er sich zugegebenermaßen nicht viel erhofft hatte, nichts anderes als vergeudete Zeit gewesen. Er dankte Nacy und wandte sich zum gehen. »Oh, Mr. Lukas!« rief sie ihn zurück. »Da war eine Sache. Ich hatte sie schon fast vergessen. Sie bat mich, ihr ein Taxi zu
bestellen. Zufällig habe ich gehört, welches Ziel sie dem Fahrer angegeben hat, und das kam mir doch sehr merkwürdig vor.« Saul trat erneut an ihre Seite. »Warum?« »Nun, ich meine, weil sie eine Russin ist und so.« Nacy strich sich über den Aufschlag ihrer Hosteß-Jacke, als wolle sie einen nur in ihrer Einbildung existierenden Schmutzfleck entfernen. »Ich meine, was kann eine Russin schon mit dem Hauptquartier der Brückengesellschaft zu tun haben?«
XVII
»Er kommt wieder zu sich, Doktor.« Die Stimme streichelte seinen Schädelinhalt wie feine Seide, immer wieder, gab ihm Kraft, munterte ihn auf. »Gott sei dank.« Wenn die erste Stimme aus Seide war, dann war diese aus grobem Leinen, rauh, hart, vom Alter angegriffen. »Es wäre bestimmt ein Untersuchungsausschuß einberufen worden, wenn der Wiedererwecker unter meinen Händen das Zeitliche gesegnet hätte.« Saul öffnete die Augen. Er spürte die Elektroden, die auf Arme, Beine und Bauch geklebt waren, wie Schraubzwingen, die an ihm für das Leichenhemd Maß nahmen. Ein dicker, weißer Nebel hüllte seinen Kopf ein. Er versuchte, eine Hand zu heben, um den Nebel beiseite zu wischen, aber weder die rechte noch die linke Hand ließ sich bewegen. Beide waren stramm an das Bett gefesselt. Die Elektroden sandten die Meßdaten seiner Körperfunktionen an verschiedene Lebenserhaltungssysteme, und die reagierten auf seinen Bewegungsversuch, indem sie eine Pumpe aktivierten, die ein kreislaufstabilisierendes Mittel in seine Blutbahn einspeiste. Der Nebel löste sich auf. Die transparente Plastikplane, die ihn bis zur Taille einhüllte, wurde geöffnet; eine Krankenschwester schob ihren Oberkörper hinein und legte seine Arme so, daß der rauhstimmige Doktor die Bluttransfusionsnadeln herausziehen konnte. »Nun, Mr. Lukas«, sagte der Arzt, während er damit beschäftigt war, »Sie haben uns einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Wir hatten schon befürchtet, Sie wollten eine Einwegpassage auf der Großen Leitung buchen, die direkt in
den Himmel führt.« Er lachte lärmend über seinen makabren Witz. Er kümmerte sich nicht darum, daß niemand in dieses Lachen einstimmte. Offenbar war er es gewohnt, immer allein über seine Witze zu lachen. Er löste die Elektroden, befreite Sauls Arme und half ihm in eine sitzende Position. »Sagen Sie, Mr. Lukas, was meinen Sie, wie viele Reisen durch das Netz haben Sie in den letzten Tagen eigentlich unternommen?« Saul versuchte sie zu zählen, aber seine Erinnerung arbeitete noch nicht genau genug, um zu einem klaren Ergebnis zu kommen. Es war nicht einmal leicht, sich der letzten zu vergegenwärtigen, der von Washington nach Mexico City, die, die ihn schließlich in dieses Bett gebracht hatte. »Keine Ahnung. Zwölf. Vielleicht auch mehr.« Der Arzt schüttelte den Kopf, mit geweiteten Augen und einer Mischung aus Abscheu und Faszination, wie jemand, der ein Tennismatch zwischen dem Todesengel und Luzifer beobachtet. »Das ist weit über dem empfohlenen Limit. Ich schlage Ihnen zu Ihrem eigenen Besten vor, daß Sie zur Beobachtung hierbleiben. Bis wir sicher sein können, daß Sie Ihrer Gesundheit keinen ernsten Schaden zugefügt haben.« Saul rieb seine Handgelenke und schwang die Beine aus dem Bett. »Tut mir leid, Doc. Unmöglich.« Er stand auf. Wäre die Krankenschwester nicht sofort an seiner Seite gewesen, um ihn zu stützen, dann wäre er augenblicklich zusammengebrochen. »Mr. Lukas«, sagte der Arzt. »Sie sollten wirklich hierbleiben.« »Ich fürchte, ich habe keine Wahl.« Saul zog sich sein Hemd über und hatte erhebliche Mühe, es zuzuknöpfen. Der Arzt breitete die Arme aus und starrte an die Decke, als hielte er nach den Unglückstropfen Ausschau, die auf all die herunterregnen würden, die seine medizinischen Feststellungen ignorierten. »Ich kann Sie nicht gegen Ihren Willen hierbehalten. Aber ich kann Ihnen einen guten Rat geben.
Wenn Sie am Leben bleiben wollen, dann setzen Sie zumindest zwei, besser drei Wochen lang keinen Fuß in einen Transporter.« Er nahm sein Stethoskop, schob es in die Tasche und zeigte einen Gesichtsausdruck, der deutlich machte, daß er jede weitere Verantwortung ablehnte. Von dem Telefon im Praxisbüro rief er Sammy Blonder in der Sammelstation an. »Wie geht’s voran?« fragte er. Der Aufruhr im Hintergrund paßte mehr zu einem sich selbst steuernden Montagewerk als zum Computerraum der Sammelstation. »Nicht gut, Saul. Wie Sie vorgeschlagen haben, habe ich eine Dreierschicht dazu eingesetzt, unabhängig voneinander Lindstroms Berechnungen zu überprüfen.« »Und?« Sauls letzte Hoffnung. Vielleicht hatte Herman, um sich selbst zu schützen, hinsichtlich der wirklichen Beschaffenheit von Galina Rosmanovs Lage gelogen. Vielleicht war sie gar nicht so fest in dem Leitungsgeflecht gefangen, wie Herman ihm gegenüber behauptet hatte. »Es tut mir leid, Saul.« Blonders Stimme war sanft. Er wußte, daß dies nicht das war, was Saul erwartet hatte. »Alles, was Lindstrom Ihnen gesagt hat, ist wahr. Soweit ich das feststellen kann, hat er sich nicht in einem einzigen Punkt geirrt. Er hat wirklich sein Bestes gegeben, um sie herauszuholen.« Saul schlug mit der Hand gegen die Wand. Er hatte mit Wehmut zwei Dinge verschwinden sehen, als die Welt immer mehr zu einem unpersönlichen technologischen Komplex geworden war. Das kostenlose Mittagessen und die Möglichkeit, Probleme auf einfache Weise zu lösen. »Danke. Sammy. Lassen Sie mich wissen, wenn sich etwas tut.« Saul rief ein Taxi und fuhr damit zum Paseo de Robles, Michelles Hotel. Trotz mittelmäßigen Services und Beköstigung, viel zu engen Räumen und absoluten Wucherpreisen war dieses Hotel zweifellos die favorisierte Unterkunft internationaler Würdenträger und bedeutender
Geschäftsleute. Der Grund? Ein besonderer Extraservice. Das Paseo de Robles hatte ein Sicherheitssystem, das noch undurchlässiger als das von fünfundsiebzig Prozent aller militärischen Anlagen war. Jede Etage enthielt ein komplettes vollelektronisches Überwachungsnetz von Mikrosensoren, die im Fußboden verborgen waren, bis hin zur totalen, vierundzwanzigstündigen TV-Beobachtung. Bewaffnete Männer bewachten die Aufzüge und die Treppenzugänge. Der Portier und die Pagen waren mit Revolvern ausgerüstet und mußten infolge einer Anordnung der Hotelleitung mindestens sechs Stunden in der Woche in dem Kellerschießstand des Hotels üben. All dies, nur um die Gäste vor politisch motivierten Kidnappern und Mietkillern zu schützen. Ein Büroangestellter – die eine Seite seines Hotelblazers wies dort, wo das Schulterholster untergebracht war, eine Ausbuchtung auf – nahm Sauls Ausweis entgegen, tippte die Angaben in das Terminal eines Computers, der mit den Datenverarbeitungsanlagen von Interpol verbunden war. Nach einigen Minuten flammte ein grünes Licht auf, was bedeutete, das Saul von allen terroristischen Motivationen freigesprochen wurde und infolgedessen in das heilige Innere des Hotels vordringen durfte. Der Angestellte klingelte nach einem Pagen, dessen einzige Funktion darin bestand, Saul direkt zu seinem Ziel zu bringen. Dort würde er vor der Tür auf ihn warten, um ihn nach Erledigung des Gesprächs wieder hinauszueskortieren. Saul betätigte den Summer, und Michelle, der seine Ankunft bereits avisiert worden war, gewährte ihm Zutritt zu ihrer Suite. Das Apartment war in dem populären, eklektischen Stil eingerichtet, der die Multikultur der Brückengesellschaft zum Ausdruck bringen sollte. Diele, Wohnzimmer und Kochnische sahen jeweils so aus, als seien sie aus den Ersatzteilen eines
chinesischen Tempels, eines neuenglischen Farmhauses und eines Western-Saloons zusammengestellt. Michelle komplettierte dieses chaotische Dekor auf perfekte Art und Weise. Sie trug ein bauschiges, dreiteiliges Kostüm, das an Knien und Ellenbogen abgewetzt war. Was Modeschöpfer als den »Gossen-Chic« bezeichneten. Obgleich sie bestimmt etwa 800 Dollar für diese Ausstattung bezahlt hatte, war Saul ziemlich sicher, daß sie etwas ähnliches auch in einem Gebrauchtkleidungs-Stapel der Heilsarmee gefunden hätte. Wenn sie sich jemals dazu herablassen würde, dort hinzugehen. Oder wenn sie überhaupt wußte, daß solche Orte existierten. »Was ist denn mit dir passiert, Schätzchen?« fragte sie Saul. »Du siehst ja furchtbar aus.« Saul wollte ihr eine passende Erwiderung zukommen lassen, aber, zu seinem eigenen Erschrecken, war er plötzlich unfähig, ein Wort über die Lippen zu bringen. Seine Zunge war in den Streik getreten. Dann begann sich der Raum zu drehen. Er stolperte vorwärts, seine Knie gaben nach. Michelle erreichte ihn gerade, als sein Kopf auf den Boden prallte.
Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit tropften durch seine Gedankenkanäle. Er träumte von einem Leitungsgeflecht, in dem zylindrische Uhren die zylindrische Lebenserwartung zylindrischer Menschen anzeigten. Und nirgendwo sah er auch nur den kleinsten Hoffnungsschimmer. Er war zu einem Antihelden geworden, gefangen in einer melancholischen Geschichte ohne Happy End, einer Geschichte, in der nach dem dramatischen Ende niemand mehr glücklich leben kann. Er öffnete die Augen. Er lag in einem Bett. Er wußte sofort, daß es Michelles Bett war. Ihr Duft, ein teures französisches Parfüm, von dem eine
einzige Unze fünfhundert Dollar kostete, entströmte den Kopfkissen und konnte das nichtsahnende Opfer dazu verfuhren, seinen Kopf in die gepolsterte Aussparung in einer Guillotine zu legen. »Ich kann es nicht glauben«, sagte Michelle von der offenstehenden Tür her. »Der Doktor hat genug Sedative in dich hineingepumpt, um dich eine Woche lang schlafen zu lassen.« Saul stützte sich auf einen Ellenbogen und stemmte sich so in eine halbsitzende Position. »Was ist passiert? Wie lange bin ich weggewesen?« Michelle berührte mit dem Handrücken seine Stirn. »Leg dich wieder hin. Du hast immer noch Temperatur.« »Die Florence-Nightingale-Allüren kannst du ruhig weglassen. Du würdest nicht einmal Fieber diagnostizieren, wenn deinem Patienten der Rauch aus den Ohren quillt.« Michelle zwickte ihn in die Wange. »Dein Glück, daß heute kein Doktor mehr einen Aderlaß verschreibt.« »Dein medizinisches Fachwissen einmal beiseite. Du hast meine Frage noch nicht beantwortet. Was ist mit mir passiert?« Michelle zündete sich eine Zigarette an. »Du bist vor drei Stunden auf meiner Diele zusammengebrochen. Der Hotelarzt wäre beinahe erstickt, als ich ihm erzählte, wieviel Transmissionen du in den letzten paar Tagen über dich hast ergehen lassen. Er sagte, daß genau das das Problem wäre. Dein Organismus reagiert auf die Rückhol-Droge. Nach seiner Meinung könnte eine weitere Dosis zu einem Herzstillstand führen. Er sagte, du solltest im Bett bleiben, viel schlafen und deinem Körper eine Ruhepause gönnen.« Saul setzte sich aufrecht, zögerte und sammelte Kraft für das Aufstehen. »Ich kann mich hier nicht ausruhen. Nicht, solange Galina Rosmanov immer noch im Netz gefangen ist.«
Michelle zeigte auf das Telefon. »Hör mal. Ich kann veranlassen, daß Ralph hier eine Kommunikationskonsole aufstellt. Dann könntest du mit jedem sprechen, den du zu sprechen wünschst. Direkt von hier aus.« Saul schwang seine Beine aus dem Bett, fand jedoch nicht die Energie, aufzustehen. »Es ist nicht dasselbe wie von Angesicht zu Angesicht. Die Leute sagen einem eher die Wahrheit, wenn sie eine Faust ins Gesicht bekommen können.« »Du mußt ein gefürchteter Bulle gewesen sein.« »Einer der besten.« Er schlug mit der rechten Hand auf den linken Oberarm. »Bei der Cincinnati-Police halte ich noch immer den Rekord für die meisten Zusammengeschlagenen in einer Saison.« Da er nicht aufstehen konnte, ließ er sich wieder zurücksinken. »Ich sag dir was. Du gibst mir ehrliche Antworten auf einige Fragen, und ich werde tun, was du sagst. Ich werde dann hier im Bett liegenbleiben und mich ausruhen.« »Nein, ich handle nicht mit dir. Es war nur der Vorschlag des Doktors, nicht der meine. Ich habe ihm versprochen, dir seine Nachricht zu übermitteln. Was ich hiermit getan habe. Was mich betrifft, kannst du machen, was du willst. Wenn du aufstehen und dich umbringen willst, bitte schön. Mich geht das nichts an.« »Und ich habe dich schon für einen uneigennützigen Samariter gehalten.« »Tja, es sieht so aus, als sei deine Kombinationsgabe doch nicht so unfehlbar, wie du uns immer glauben machen willst.« Sie setzte sich neben das Bett. »Aber ich glaube, du wirst mich solange traktieren, bis ich doch nachgebe. Wenn du also extra hierhergekommen bist, um mich zu durchleuchten, dann los.« »Wunderbar.« Er schob die Nachttischlampe so herum, daß sie genau in ihre Augen leuchtete. »Würdest du bitte dort in
meine Manteltasche greifen und mir meine Gummihose bringen?« Sie deutete ein schwaches Lächeln an und schaltete das Licht aus. »Nicht nötig. Ich werde den Room Service beauftragen, dir eine Bettpfanne zu bringen.« Er kicherte. »Mein lieber Mann, du kennst den Dreh, wie man einem verschärften polizeilichen Verhör entgeht.« Er schob sich an dem Kopfbrett in die Höhe. »Aber so schlimm wird’s schon nicht werden. Ich habe nur eine Frage. Ich hätte nur gern gewußt, was du und Galina während eurer zwanzig Treffen im Washingtoner Büro besprochen habt.« Ihr Gesicht zeigte völlige Verwirrung. »Was meinst du damit, daß sie mich in Washington besucht hat? Ich habe das Mädchen in meinem ganzen Leben noch nicht getroffen.« »Ein Augenzeuge hat es dein Büro betreten sehen«, log er. Michelles Mundwinkel deuteten erneut ein dünnes Lächeln an. »Du solltest deinem Augenzeugen vorschlagen, sein Gehalt in eine Brille zu investieren. Das Mädchen ist nicht einmal in die Nähe meines Büros gekommen.« »Aber sie war im Hauptquartier der Brückengesellschaft.« »Na und? Allein in diesem Monat waren das bestimmt Tausende von Menschen. Vielleicht ist sie gekommen, um den Verlust ihres Gepäcks anzuzeigen oder eine Beschwerde über einen Angestellten einzureichen oder um unser Museum zu besuchen. Ich meine, was könnten sie und ich schon zu besprechen haben?« Saul legte den Kopf in den Nacken und starrte an die Decke. »Zum Beispiel die tragbare, drahtlose Brücke.« Michelle atmete tief durch und stieß die Luft mit einem ärgerlichen Zischen wieder aus. »Willst du endlich mit diesem Quatsch aufhören? Den Punkt haben wir doch bereits geklärt.« »Es sieht ganz danach aus, als müßten wir ihn noch einmal behandeln.« Er beugte sich vor und blickte sie an. »Herman
Lindstrom hat bereits eine tragbare, drahtlose Brücke konstruiert. Er hat zwei Transporter gebaut, und einen von ihren hat Galina Rosmanov ins Netz mit hineingenommen.« »Das glaube ich nicht.« Sie dehnte jedes Wort, aber sie konnte dennoch nicht die Schatten des Zweifels verbergen, die sich auf ihre Gewißheit gesenkt hatten. »Er war dazu überhaupt nicht in der Lage. Wir haben ihn zu genau überwacht.« »Vielleicht brauchen eure Spione eine Brille?« Die Worte quollen aus ihrem Mund wie Blut aus einer offenen Wunde. »Ich glaube, es ist nicht nötig, dich zu fragen, welche Rolle dein Drehbuch mir zuschreibt.« »Ich werde es dir mit Vergnügen erklären.« Er brachte seine Füße unter seinen Hintern, so wie ein Hochspringer, der sich darauf vorbereitet, über den Mond hinauszuschießen. »Ich vermute, daß Galina Rosmanov zu dir gekommen ist, dir von der tragbaren, drahtlosen Brücke erzählt hat, dir einen Film zeigte und dann anbot, sie an dich zu verkaufen.« Michelle zündete sich eine neue Zigarette an, obwohl die alte noch im Aschenbecher vor sich hin qualmte. Ihre Antwort war kühl und verriet nichts von dem, was in ihr vorging. »Weißt du, Saul, wenn du daraus einen Roman machst, einige interessante Charaktere hinzufügst, dann könntest du damit die Bestseller-Liste in der New York Times erobern. Sag mir, wie geht’s weiter?« »Sie hat einen Transporter an dich verkauft und den anderen behalten. Später fandest du heraus, daß sie die Absicht hatte, diesen an jemanden anders zu verkaufen. Daher hast du etwas in ihren ständig aktivierten Transporter transferiert, gerade als sie im konventionellen Netz auf die Reise ging. Das hat sie ausgeknockt, und du konntest wieder beruhigt Schlafengehen.« Michelle lächelte, unbeeindruckt, überlegen, und Saul wußte, daß er nun Ärger bekommen würde. »Eine tolle Theorie, Saul.
Nur ein logischer Fehler, sieht man einmal von der gesamten Blödsinnigkeit ab. Nehmen wir wirklich an, daß sie, wie du meinst, mit mir verhandelte. Wäre es dann nicht logisch – da sie ja auf dem Weg nach Washington war –, daß dieser Transporter in ihrem Gepäck gerade der war, den sie uns verkaufen wollte? Und, um diesen Gedanken weiterzuführen, brächte dich das nicht auf den Gedanken, daß sie den ersten Transporter an einen anderen Kunden verkauft hat? Und daß der es war, der sie ausschaltete?« »Daß dieses Argument nicht stichhaltig ist, weißt du selbst. Es ist genauso leicht, sich nach Paris transferieren zu lasen, wie hier über die Straße zu gehen. Du könntest jeden beliebigen Ort für die Übergabe des Transporters ausgewählt haben.« »Ebenso wie der zweite Kunde.« Michelle preßte ihm ihren Zeigefinger auf die Brust, hart genug, um eine Druckstelle auf seiner Haut zu hinterlassen. »Laß es sein, Saul. Diese ganze Sache ist wie eine Zwiebel. Schäle eine Schicht ab, und darunter findest du die zweite, dann noch eine, jede genauso scharf und sauer wie die erste. Sicher, mit der Zeit stößt du vielleicht bis zum Kern vor, aber alles, was du für deinen ganzen Ärger bekommen wirst, ist ein Gesicht voller Tränen.« Saul nahm den Signalgeber für den Room Service auf und wog ihn in der Hand. »Hätte ich gewußt, was für ein großartiger Philosoph du bist, dann hätte ich dich in eine Intellektuellenkneipe eingeladen.« Er legte den Signalgeber auf das Nachtschränkchen zurück, lehnte sich an die Kopfkissen und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. »Ich werde nicht aufgeben, Michelle. Ich werde herausfinden, wer das Mädchen da drin festgesetzt hat, und ich werde herausfinden, warum.« Sie drückte ihre Zigarette mit solchem Nachdruck aus, daß sie in zwei Teile zerbrach anstatt zu erlöschen. »Na klar, Saul.
Du willst mit dem Kopf durch die Wand und Supermann spielen. Zur Hölle mit den Konsequenzen. Wen kümmert es schon, was der Welt blüht, solange Saul Lukas nur wieder einmal beweisen kann, daß er der letzte der großen Kreuzritter ist.« Das Telefon klingelte. Sie nahm ab, lauschte einen Augenblick lang dem Anrufer und reichte dann den Hörer an Saul. »Für dich. Das New Yorker Laboratorium.« »Lukas«, stellte er sich vor. »Saul, hier spricht Harry Kile. Von New York. Ich glaube, wir wissen jetzt, um was es sich bei der zweiten Droge handelt, die Sie uns gebracht haben.« Saul hörte das Knistern von Papier, als Kile seine Aufzeichnungen durchsah. »Es ist eine synthetische Droge, wie die andere, die Sie uns gebracht haben. Diese allerdings ist auf der konträren Seite des Spektrums angesiedelt. Es ist keine Stimulans, sondern ein außerordentlich starkes Beruhigungsmittel. Eigentlich so stark, daß wir es bei den Giften einordnen müssen.« Ein Gift? Was hätte Galina Rosmanov mit einem Gift anfangen können? »Wie wirkt es?« »Das hängt von der Dosierung, dem Körpergewicht, dem Alter, dem physischen Zustand, der Körperaktivität und noch einer Menge anderer Dinge ab. Allgemein jedoch würde ich ein Nachlassen der Kontrollmöglichkeit der Extremitäten erwarten, ein Nachlassen der Konzentrationsfähigkeit, die zunehmende Unfähigkeit, selbst so einfache mechanische Dinge wie sitzen oder gehen durchzuführen.« War es möglich, daß…? Kile hatte gerade Hermans Symptome bis ins letzte Detail beschrieben. »Und dann?« Kile betrachtete die letzte Seite. »Lähmung der Extremitäten, Lähmung der inneren Organe. Tod.«
Tod? Nein. Galina Rosmanov hätte wohl kaum ihren Geliebten vergiftet. Oder? »Wie ist das Gegenmittel beschaffen?« »Da fragen Sie mich zuviel. Ich bin nicht einmal sicher, ob überhaupt eins existiert.« Saul umfaßte den Hörer so fest, daß seine Knöchel weiß hervortraten. »Wie lange brauchen Sie, um eins zu entwickeln?« »Schwer zu sagen. Wenn alles gutgeht und keine unvorhersehbaren Schwierigkeiten auftauchen, etwa sechs bis acht Wochen.« »Wie lange, glauben Sie, kann jemand überleben, der diese Droge genommen hat? Wo liegt die absolute Obergrenze?« »Wie ich bereits sagte, hängt das von der Dosierung, dem Körperzustand und einer Menge anderer Faktoren ab.« Verdammt! Konnten Wissenschaftler keine einfache, direkte Antwort geben? Mußten sie ständig Abhängigkeiten und Beziehungen in ihre Sätze aufnehmen? »Dann eine Schätzung. Wie lange kann jemand, der die Droge eingenommen hat, überleben?« »Eine Schätzung?« Kile dachte einige Sekunden lang nach. »Ich würde sagen vier bis fünf Tage.« Vier bis fünf Tage. Galina Rosmanov befand sich bereits seit fast drei Tagen im Netz. Das bedeutete, daß Herman praktisch zu jeder Zeit umkippen konnte. »Doc, es gibt hier einen Mann, der die Droge genommen hat. Er braucht das Gegenmittel, und er braucht es heute, spätestens morgen.« Vielleicht war es eine Störung in der Leitung gewesen, vielleicht auch ein nervöses Kichern Kiles. »Ich werde mich sofort an die Arbeit machen, aber ich kann nichts versprechen. Solch eine Sache braucht Zeit.«
Zeit. Das einzige, das Saul nicht hatte und auch nicht kaufen konnte. »Unternehmen Sie alles Menschenmögliche.« Er legte den Hörer auf. Den Schwindel niederkämpfend kletterte Saul aus dem Bett und zog sich an. »Und was, wenn ich fragen darf, willst du jetzt machen?« erkundigte sich Michelle. »Ich muß zur Sammelstation.« Er erzählte von dem Analysebericht und machte ihr die Implikationen deutlich. »Ich muß zu Herman.« »Ich begleite dich«, sagte sie und warf sich den Mantel über. »Die ganze Sache sieht mir danach aus, als könne sie sich zu einem ordentlichen Skandal auswachsen.« Saul hatte nicht das geringste Verständnis für ihre einseitige, gefühllose Betrachtungsweise. »Du meinst, du willst dabei sein, wenn Herman abkratzt, damit du alles unter den Teppich kehren kannst, bevor es dir zu gefährlich wird?« »Sei nicht blöd. Natürlich bin ich um Lindstroms Wohlergehen besorgt. Aber wenn er stirbt, dann will ich sicher sein, daß die Brückengesellschaft in keinster Weise eine Mitschuld daran trägt.« Eskortiert von dem Pagen, der immer noch vor der Tür wartete, schritten sie den Korridor entlang zum Lift. »Weißt du, Herzchen«, sagte Saul, »ich habe so eine Ahnung, daß irgendein Industriegigant in hundert Jahren den Antrag an die Kirche stellt, dich heiligzusprechen. Saint Michelle vom Orden der Harten Herzen. Schutzheilige aller Geldscheffler.« Sie widersprach ihm nicht. Ganz tief in ihrem Herzen glaubte sie, daß er damit sogar recht haben könnte.
XVIII
Die Landschaft, die unter ihnen hinweghuschte, schien völlig flach zu sein und wies ein unwirklich schönes Muster aus hell und dunkel auf. Üppiger, grüner Dschungel ging in eine dürre, schiefergraue, nur dünn besiedelte Wüste über. Saul lehnte den Kopf gegen die Kopfstütze des schaumstoffgepolsterten Sicherheitssessels und schloß die Augen. Einmal war ein Großteil des Reiseverkehrs durch die Luft erfolgt. Eine Zeit der Entspannung und der Besinnung. Wie oft hatte er auf dem Schoß seiner Großmutter gesessen, die ihm dann von der Kreuzfahrt zu ihrer früheren Heimat anläßlich ihrer Silberhochzeit erzählt hatte? Sie hatte sich noch an die unmöglichsten Details erinnern können. Ihre Hände hatten das sanfte Wiegenlied der Wellen beschrieben. Die freudige Erwartung der Ankunft. Staubige Überbleibsel einer vergangenen Ära. Heutzutage reiste kaum noch jemand mit dem Schiff über das Meer. Statt dessen fuhren sie fünfzehn Kilometer darunter ihren Zielen entgegen. Zugegeben, sie erreichten ihre Bestimmungsorte in einem Bruchteil der Zeit, die man damals benötigt hatte, aber was man an Zeit einsparte, das bezahlte man mit verlorenen Erinnerungen. Es war ein kurioser Diebstahl, denn nur die wenigsten unter den Bestohlenen begriffen, welche Erlebnisse, welcher Spaß ihnen vorenthalten wurde. Der Pilot setzte zum Landeanflug an und setzte den Helikopter sanft auf das Zentrum des Betonlandefeldes, nahe dem Haupteingang der Station, auf. Eine interne Kabinenbahn beförderte Saul und Michelle zum Zentralbereich.
Herman war als zu krank diagnostiziert worden, um heraustransferiert zu werden, daher hatte man die Ausstattung eines mittleren Krankenhauses hereintransferiert. In dem kleinen Lazarett der Station waren so viele Behandlungs- und Diagnostiziergeräte untergebracht, ganz zu schweigen von den unzähligen medizinischen Spezialisten, die sich jetzt hier aufhielten, daß Saul Mühe hatte, den Patienten ausfindig zu machen. Als er Herman sah, erschrak er zutiefst. Er sah entsetzlich aus, noch hundertmal schlimmer, als ihn Saul das letzte Mal gesehen hatte. Eingefallene, sich über den Knochen spannende Haut, gelbliche Zähne, eine schwarz angelaufene Zunge, ausgefallene Haarbüschel. Hätte es Saul nicht besser gewußt, er hätte geschworen, daß der Mann, der vor ihm lag, mindestens neunzig Jahre alt war. Herman erkannte Saul und schenkte ihm ein kraftloses Lächeln. »Ich glaube, ich bin für die Leute ein medizinisches Mysterium«, sagte er schwach. »Wahrscheinlich werden sie mir den Hauptartikel im Medical Digest des nächsten Monats widmen.« Saul setzte sich an seine Seite. »Wie fühlst du dich?« fragte er, und er mußte die Worte durch seine zusammengeschnürte Kehle hindurchzwingen. »Wie ein neugeborenes Baby in einem Brutkasten, um den eine Menge Leute herumhetzen, um das neue Leben zu erhalten. Mir geht’s nicht so schlecht, wie die Kerle hier behaupten.« Hermans Augen hatten Ähnlichkeit mit denen von blinden Straßenbettlern. »Ich sehe es in deinem Gesicht. Du weißt, was mit mir los ist, nicht wahr?« Saul nickte wortlos. Herman antwortete mit der Tapferkeit eines zum Tode verurteilten Provinzsheriffs, der sich dem schnellsten und sichersten Revolvermann des Wilden Westens gegenübersah.
»Okay, würdest du das Geheimnis mit mir teilen? Ich glaube, ich habe das Recht darauf.« Saul fischte eine Zigarette aus der Packung, schob sie zwischen seine Lippen und ließ sie dort wie einen Taktstock für die folgende Unterhaltung baumeln. »Wann hast du Galina Rosmanov das letzte Mal getroffen?« »Was hat das damit zu tun?« Herman versuchte zu lächeln, aber das steigerte nur seine bereits beträchtliche Ähnlichkeit mit einem nur schlecht erhaltenen Leichnam. »Hat sie mich mit der Moskaupest angesteckt oder so etwas in der Art?« Jedes Wort Sauls war wie ein tödliches Geschoß aus der Trommel eines Revolvers, dessen Lauf auf ein Herz zeigte. »Wann hast du Galina Rosmanov das letzte Mal getroffen?« Herman umklammerte das Ende des Bettlakens und zog es dann auseinander, als wolle er damit liebevolle Erinnerungen erdrosseln. »Am Tag, bevor sie verschwand. Wir haben uns in dieser Sennhütte in der Schweiz getroffen. ›Fröhlich‹ hieß sie, glaube ich. Warum?« »Hat sie dort für dich etwas zubereitet? Oder dir einen Drink gemixt?« Herman begann zu begreifen. »Du glaubst, Galina hat mich vergiftet. Das ist doch, was du vermutest, nicht wahr? Nun, da bist du auf dem falschen Dampfer. Ich meine, man vergiftet schließlich nicht jemanden, den man liebt.« Saul wußte es besser, sagte aber nichts davon. »Beantworte nur meine Frage. Hat sie dir etwas zu essen gemacht? Oder dir einen Drink zubereitet?« Herman legte das Kinn auf die Brust, hatte aber nicht mehr die Kraft, den Kopf wieder zu heben, um das Nicken zu Ende zu führen. »Ja, etwas zu essen. Irgend so’n exotisches chinesisches Zeug. War sehr lecker, glaube ich. Hat mir allerdings fürchterliches Sodbrennen bereitet. Aber ich habe
noch nie von jemandem gehört, der an Sodbrennen gestorben wäre.« »Es sollen schon Leute an ihrem Hamburger erstickt sein.« Saul zwang sich selbst, in die beiden weißen Marmorkugeln zu starren, die sich als Hermans Augen ausgaben. »Ich habe Drogen in Galinas Apartment gefunden. Weißt du etwas darüber?« »Na klar. Du meinst diese Tabletten für die zeitlose Rückholung. Ich habe dir doch bereits alles darüber gesagt.« »Nein, ich meine etwas anderes. Außer diesen Tabletten. Das Pulver. Es war Gift.« »Und du glaubst, daß sie mir das verabreicht hat?« »Es sieht ganz danach aus.« Herman konnte sich mit dieser Schlußfolgerung nicht anfreunden, nahm sie so widerstrebend hin wie ein Kunstsammler, dessen hochgeschätztes Meisterwerk sich als Fälschung herausgestellt hat. »Aber Saul, sie hat mich geliebt.« Saul zündete sich endlich seine Zigarette an. Der Rauch stach angenehm in seinen Lungen. »Es sieht so aus, als hätte sie Geld noch lieber gehabt.« »Sie hat mich verkauft?« Eine für Herman nur schwer zu begreifende Idee. Herman schuftete nicht für Geld, sondern einzig und allein für neues Wissen. Oftmals vergaß er, seine Schecks einzulösen, und Wechselgeld zählte er schon gar nicht. Er konnte sich niemanden vorstellen, der eine persönliche Beziehung nur deshalb pflegte, weil er sich finanzielle Vorteile davon versprach. Vielleicht wäre er weniger naiv gewesen, wenn er weniger Zeit in seinem Labor und mehr in der Geschäftswelt zugebracht hätte. »Ich glaube, sie hat für die Russen gearbeitet, Herman. Als Vermittler. Sie gaben ihr Geld, das sie an dich weiterreichte, für deine Forschungen. Ich glaube, sie sollte dich nach
Beendigung deiner Arbeit ausschalten, um zu verhindern, daß du die Ergebnisse deiner Forschungen auch der Brückengesellschaft zukommen läßt. Darum das Gift. Und dann sollte sie die tragbare, drahtlose Brücke ihren Genossen übergeben. Aber sie betrieb doppeltes Spiel, schnappte sich die beiden Transporter selbst und verkaufte sie.« »Aber die Russen hätten doch irgendwann herausgefunden, daß sie hintergangen worden sind. Was wäre dann mit ihr geschehen?« »Ich vermute, sie spekulierte darauf, daß, sobald die tragbaren, drahtlosen Brücken Allgemeingut geworden sind, die Staaten, so wie sie heute existieren, bedeutungslos werden. Dann gäbe es kein Rußland mehr, und folglich hätte sie sich auch keine Sorgen mehr machen müssen.« »Aber das ist doch Unsinn. Selbst wenn Rußland aufhörte, als nationale Einheit zu existieren, dann gäbe es doch immer noch Einzelpersonen, die Vergeltung für den Verrat suchen würden.« Saul kicherte. »Ich habe nur gesagt, daß sie ein Spion war. Ich habe nicht gesagt, daß sie ein guter Spion war. Sie hat sich so mit Intrigen beschäftigt, wie andere Mädchen in ihrem Alter mit Make-up, ohne die Feinheiten dieses Geschäfts zu verstehen. Sie hatte die nötigen Eigenschaften für eine gute Spionin. Beziehungen und die Unbekümmertheit, ihr entgegengebrachtes Vertrauen zu mißbrauchen. Aber sie war nicht schlau genug, um auf Dauer zu überleben. Sie war ein kleines Mädchen, das Mata Hari spielte. Und wie jedes Kind, das ein Erwachsenenspiel spielt, war sie dazu verurteilt, früher oder später zu verlieren, da sie die Regeln nicht verstand.« »Und was geschieht nun? Ich meine, muß ich sterben?« Saul klopfte auf seinen Arm. »Hoffentlich nicht. Die gesamte Mannschaft des Drogen-Laboratoriums der Brückengesellschaft arbeitet an der Entwicklung eines
Gegenmittels.« Saul produzierte sein zuversichtlichstes Lächeln. »Sie haben mir gesagt, daß es ein Klacks wäre. Übermorgen bist du schon wieder der gleiche häßliche Kerl, der du vorher warst.« Aber Herman hatte schon zu viel falsche Zuversicht gesehen, um sich noch einmal an der Nase herumführen zu lassen, selbst durch einen Experten auf diesem Gebiet nicht. »Saul, ich… ich…« Er konnte den Satz nicht zu Ende bringen. Er warf den Kopf herum und preßte sein Gesicht ins Kissen. Saul setzte sich auf die Bettkante und umfaßte Hermans Schultern. »Laß mich allein«, schluchzte Herman. »Laß mich doch allein.« »Natürlich, alter Knabe. Wenn du willst.« Saul erhob sich. »Nur noch eine Frage. Wo hast du an der Entwicklung des drahtlosen militärischen Netzes gearbeitet?« Herman drehte sich um. Tränenspuren bedeckten seine Wangen. Mit dem Handrücken wischte er sie fort, doch sofort rollten neue Tränen aus den Augenwinkeln. »Warum willst du das wissen?« »Es scheint mir, daß das genau der richtige Ort wäre, um eine tragbare, drahtlos arbeitende Brücke zu studieren. Vorausgesetzt, die Brückengesellschaft hat eine. Wahrscheinlich haben sie dort bereits ein narrensicheres Sicherheitssystem und inzwischen auch die nötige Geräteausstattung.« Herman richtete sich interessiert auf. »Du glaubst also, daß Galina Rosmanov einen von meinen Transportern an die Brückengesellschaft verkauft hat?« »Ich würde meinen Kopf darauf verwetten. Sag mir also, wo du deine Arbeit durchgeführt hast.« Herman zuckte mit den Achseln. »Den weitaus größten Anteil in Boulder, Colorado. In einer Einrichtung, die im
Verzeichnis der Gesellschaft unter ›Rocky Mountain Forschungslabor ‹ geführt wird. Eine hyper-ultra-strenggeheime Anlage. Wie du bereits vermutet hast, schwer bewacht und mit allem ausgerüstet. Aber soweit ich weiß, ist da seit der Arbeit an dem militärischen Transmissionsnetz nicht mehr viel los. Es ist nur noch die Stammbesatzung da. Da passiert nichts mehr.« »Zumindest nichts, von dem du etwas wüßtest.« Saul berührte Hermans Hand. »Paß auf dich auf. Ich werde dich wieder besuchen, wenn ich zurückkomme.« Sobald er draußen war, lehnte er sich gegen die Wand. Die Uhr über dem Computer-Terminal zeigte an, daß Galina Rosmanov nur noch etwa acht Stunden blieben. Und wieviel Zeit hatte Herman noch? In einem plötzlichen Wutanfall packte er einen Aschenbecher und schleuderte ihn auf die Uhr, deren LED-Anzeigen daraufhin zersplitterten. Dann sank er wieder gegen die Wand, und in seinen Augen formten sich Tränen. Nur Rosie hatte den Mut, an ihn heranzutreten. Sie legte einen Arm um seine Schulter und drückte ihn an sich. »Hast du das mit Herman gehört?« fragte er. »Ich mußte es nicht erst hören. Vor etwa zwölf Stunden habe ich es schon in ihm gesehen, wie ein wachsendes Krebsgeschwür, das ihn langsam von innen her auffrißt. Er wird es nicht überstehen, Saul. Du kannst nichts mehr für ihn tun. Es ist bereits zu spät.« Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht konnte er Herman nicht mehr retten. Aber zumindest konnte er das weiterführen, wofür Herman sein Leben gegeben hatte. Und er könnte seinem Mörder das Handwerk legen. Ja, das ganz sicher. Hermans Mörder das Handwerk legen. »Rosie, ich muß mich nach Boulder, Colorado, transferieren lassen.«
Das war eine der seltenen Gelegenheiten, in denen Rosie wirklich überrascht war. »Glaubst du, daß das vernünftig ist? Ich habe von deinen beiden Kreislaufzusammenbrüchen gehört. Ein weiterer Trip könnte dich umbringen.« »Beide Ärzte waren der Auffassung, daß dafür die RückholDroge verantwortlich war. Also werde ich die Version probieren, die wir in Galinas Wohnung gefunden haben. Vielleicht wird sie mich nicht in dem Maße in Mitleidenschaft ziehen.« »Vielleicht sogar mehr.« Diese Möglichkeit war ihm auch schon in den Sinn gekommen. »Genau aus diesem Grund möchte ich, daß du mich begleitest. Dann ist wenigstens jemand da, der die Sache weiterführt, wenn ich nicht mehr in der Lage sein sollte.« »Was zu Ende führen?« »Das erzähle ich dir auf dem Weg zur Brücke.«
In der Gewichtsermittlung nahm er eine der Tabletten für die zeitlose Rückholung; die sie in Galina Rosmanovs Apartment aufgefunden hatten, zur Hand. Er hielt sie vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger, behandelte sie so, als sei es eine potentielle Bombe, die jeden Augenblick explodieren und ihm den Kopf von den Schultern blasen konnte. Er schloß die Augen, öffnete sie wieder, steckte die Tablette in den Mund und schluckte sie hinunter. Dann betrat er die Brücke. Er stieg in den Transporter, warf einen letzten Blick auf die Welt hinter sich und sah, wie sich das Universum in einem heißen, blauen Dunst auflöste.
XIX
Saul winkte die Hosteß beiseite, die in den Transporter eilte, um ihn in Empfang zu nehmen, und trat aus eigener Kraft heraus. Er fühlte sich wunderbar. Keine Übelkeit, kein Schwindel, vollkommen frisch, bereit, Urwaldriesen aus dem Boden zu reißen. Ganz offensichtlich wirkten die Tabletten für die augenblickliche Rückholung genau so, wie es die Analyse behauptet hatte. Er zeigte dem diensttuenden Transferierer seinen Identifikationsausweis und ließ ihn einen Kommunikationskanal zur Sammelstation freimachen, wo Rosie wartete. Als sie sich meldete, erzählte ihr Saul, daß sie die Tablette, die er ihr gegeben hatte, unbesorgt nehmen und ihm folgen könnte. Das tat sie. Kaum fünfzehn Minuten später stand sie an seiner Seite, genauso klar bei Verstand wie er. Zusammen traten sie an den nächsten Telefonanschluß. Saul tippte die Nummer des Rocky Mountain Forschungslabors ein und reichte den Hörer an Rosie. »Ich möchte Gordon Christianson sprechen«, sagte sie der Vermittlung, die sich gemeldet hatte. Bevor sie die Sammelstation verlassen hatten, hatten sie einen Blick in die Übersicht für die Personalstruktur des RMF geworfen. Nach der Auflistung war Christianson der Chefwissenschaftler des Labors. »Hier spricht Gordon Christianson«, meldete er sich. »Gordon, hier ist Michelle Warren.« Rosie streckte ihre freie Hand in Sauls Richtung und kreuzte die Finger. Sie konnte
Michelles Stimme zwar glaubhaft, nicht aber perfekt nachahmen. Wenn Christianson das bemerkte… »Ich weiß wirklich nicht, was ich Ihnen noch sagen soll, Ma’am«, antwortete Christianson mit der Unterwürfigkeit eines Angestellten, der viel Zeit damit zubringen mußte, sich für die Fehler anderer zu entschuldigen. »Wir haben seit Ihrem letzten Anruf fast keine Fortschritte gemacht. Wir wissen noch immer nicht, wie dieses Höllending funktioniert.« Rosie nickte Saul zu und zwinkerte. »Vielleicht ist es an der Zeit, einen Chef-Wissenschaftler mit ein wenig mehr Phantasie aufzutreiben«, sagte sie. »Nein, ich bitte sie«, antwortete Christianson. »Geben Sie mir noch ein wenig mehr Zeit. Wir werden es bald geschafft haben. Das garantiere ich. Es ist nur so, daß dieses relativ kompakte Gerät eine unglaubliche Anzahl von technischen Neuerungen enthält. Bitte, haben Sie noch etwas Geduld. Wir werden es schaffen.« Rosie atmete tief ein. Jetzt kam der entscheidende Teil. »Es tut mir leid, aber ich kann nicht warten. Ich habe mich dazu entschlossen, einen auswärtigen Experten einzuschalten. Saul Lukas. Er und seine Assistentin, Rosie St. Michaels, werden in Kürze bei Ihnen eintreffen. Ich wünsche, daß Sie ihnen freien Zugang zum zu untersuchenden Gerät gewähren.« »Aber Ma’am«, entgegnete Christiansen völlig verwirrt, »das widerspricht doch Ihrer früheren Anordnung, nach der ich unter gar keinen Umständen Mr. Lukas in dieses Labor hereinlassen darf.« Rosies Stimme wurde so scharf wie ein Messer, und sie hieb es direkt in Christiansons Widerstand hinein. »Ich habe meine Meinung geändert. Sie haben hiermit meine ausdrückliche Genehmigung, Mr. Lukas alles zu zeigen, was er zu sehen wünscht.« »Ja, gewiß.«
Der Mann schien mit sich selbst im Widerstreit zu liegen, gab dann aber nach. »Wenn er ankommt, werde ich ihn mit äußerster Zuvorkommenheit behandeln.« »Was in Ihrem eigenen Interesse liegt. Rufen Sie mich zurück, sagen wir in sechs oder sieben Stunden, und lassen Sie mich dann wissen, welche Fortschritte Sie gemacht haben.« Rosie knallte den Hörer auf die Gabel und drehte sich zu Saul um. »Die Runde ging an uns«, sagte sie und lächelte.
Sie parkten ihren Mietwagen vor dem Vordereingang des RMF. Angesichts der Bedeutung und der strikten Geheimhaltung dieser Anlage wirkte sie erstaunlich harmlos. Üppiger Rasen und sachkundig geschnittenes Strauchwerk. Ein einzelnes, niedriges Gebäude mit einer Vielzahl von Fenstern. Kieswege, die an Ruhebänken und Springbrunnen vorbeiführten. Stahlschranken und elektrische Zäune waren nicht zu sehen. Aber das hatte Saul auch nicht erwartet. Die besten Sicherheitseinrichtungen waren die, die man nicht zu sehen bekam. Es waren solche, die auf den Versuch unbefugten Eindringens mit einem Blitzstrahl aus dem Verborgenen reagierten, der das Opfer in zwei Teile schnitt, bevor es überhaupt merkte, daß es entdeckt war. Sie betraten das Gebäude. Saul zeigte der Sekretärin am Schreibtisch seinen Ausweis, und sie führte ein kurzes Telefongespräch. Kaum eine Minute später wurden sie von einem Mann in Empfang genommen, der ausgebleichte Bluejeans, ein schon ramponiert aussehendes, blumenbedrucktes Hemd und ausgelatschte Sandalen trug, offenbar seine normale Arbeitskleidung. Um seiner Stellung als Forschungsleiter gerecht zu werden, hatte er zu diesem Anlaß eine neue, karierte Sportjacke übergezogen, die
allerdings sein mehr als nachlässiges Äußeres eher betonte als abmilderte. »Mr. Lukas. Wie geht’s Ihnen. Mein Name ist Gordon Christiansen. Ich bin der Leiter des RMF.« Seine Hand übertrug einen dünnen Schweißfilm auf die Sauls. »Und Sie müssen Rosie St. Michaels sein. Wunderbar, daß Sie hier sind.« Er verneigte sich steif, aus der Taille heraus, wie ein Zinnsoldat mit zu wenigen Gelenken. »Ich nehme an, Michelle hat Ihnen bereits gesagt, warum wir hier sind«, sagte Saul. Christianson nickte. »Bitte, Mr. Lukas, wenn ich vorher noch einige erklärende Worte sagen könnte. Mein Stab und ich haben in dieser Angelegenheit gewaltige Anstrengungen unternommen. Wir haben jeden Tag vierzehn bis sechzehn Stunden daran gearbeitet, das Geheimnis dieses Gerätes zu lüften. Wir haben enorme Fortschritte gemacht, aber es gibt eine Grenze, die der menschlichen Belastbarkeit. Wir sind erledigt, emotional, physisch und geistig. Wenn wir einige Tage Zeit bekommen würden, um unsere Erkenntnisse zu koordinieren, sie in ein System zu bringen, wenn wir diese Zeit bekommen würden, dann könnten wir das Rätsel für Sie lösen. Das garantiere ich.« Christianson gehörte nicht in dieses Labor. Er paßte in einen Trickfilm, war prädestiniert für die Darstellung des vierten kleinen Schweinchens, des unbedeutendsten von allen, des Schweinchens, das sich vor dem Wolf dadurch schützen wollte, indem es ein Haus mit immateriellen Ziegeln aus Logik errichtete. Saul legte seinen Arm um Christiansons Schultern, zog ihn zu sich heran, wie einen Verbündeten gegen den tückischen, aus dem Hinterhalt einer Barrikade aus Kurzsichtigkeit und Rücksichtslosigkeit auf sie schießenden Feind. »Aber Gordon. Machen Sie sich keine Sorgen. Ich bin nicht der Inquisitor der Gesellschaft. Nehmen Sie sich soviel Zeit, wie Sie brauchen. Ich bin nicht hierher gekommen, um Ihnen auf die
Hühneraugen zu treten. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Das ist alles.« Er legte sein strahlendstes, überzeugendstes Lächeln auf, das er besaß. »Im Ernst?« Christianson machte ein Gesicht wie jemand, der gerade den Weihnachtsmann gesehen hatte. »Mein Wort darauf«, versicherte Saul. »Sie wissen gar nicht, was es für mich für eine Erleichterung ist, daß Sie das gesagt haben«, meinte Christianson. »Um ganz ehrlich zu sein, nachdem ich mit Michelle gesprochen hatte, sah ich mich plötzlich als Obstverkäufer an irgendeiner dunklen Straßenecke.« Saul lachte. »Offensichtlich kennen Sie Michelle nicht gut genug. So schlecht ist sie nun auch wieder nicht.« Nein, sie war noch viel schlimmer, nicht nur in der Lage, ihn für den Rest seines Lebens an irgendeinen Obststand an irgendeiner schmutzigen Straßenecke zu verbannen, sondern sie würde darüber hinaus noch dafür sorgen, daß er ausschließlich wurmbefallene und verfaulte Äpfel von seinen Lieferanten bekam. Saul lockerte seinen Griff und trat zurück. »Sehen wir uns dieses Gerät doch einmal an.« »Natürlich.« Christianson wischte sich mit einem Taschentuch über die Stirn, um die Perlen der Besorgnis zu entfernen, die dort wie tropfenförmige Parasiten klebten. »Wenn Sie mir bitte folgen wollen.« Christianson führte sie in die Liftkabine. Dann schob er eine Codekarte in den Schlitz unter den Tasten, und eine Metallplatte glitt zur Seite, die dreißig weitere Knöpfe offenbarte, von denen nicht einer gekennzeichnet war. Die Tür schloß sich, und der Lift glitt lautlos in die Tiefe. Obgleich nach der Leuchtanzeige über der Tür nur zwei Stockwerke existierten, bewegte sich die Kabine fast eine volle Minute hinab, bevor sie wieder zur Ruhe kam.
Die Tür öffnete sich, und sie traten in einen kahlen Raum mit grauen Metallwänden, der etwa acht Quadratmeter maß. Er war ohne jede Einrichtung. Hinter ihnen schloß sich der Liftzugang wieder – und damit waren sie gefangen. Es existierte kein anderer Ausgang. Zwei Reihen von seltsamen, etwa einen Zentimeter durchmessenden Löchern waren in den Wänden zu sehen, eine in Schulterhöhe, die andere dicht unter der Decke. Vielleicht Schießscharten. Oder Gasdüsen. Christianson schob seine Karte erneut in einen Schlitz. Die Lifttür öffnete sich wieder. Eine teleskopartig ausgefahrene Lauffläche hatte sich durch den Kabinenschacht gestreckt und gewährte ihnen damit Zugang zum Laborbereich auf der anderen Seite. »Wirklich nett«, sagte Saul, als sie hinüberschritten. »Sie benutzen den Schacht als eine Art Burggraben.« Sobald sie sicher drüben angelangt waren, betätigte Christianson eine Taste; die Lauffläche zog sich wieder zusammen, und der Zugang zum Labor schloß sich zischend. »Sie können sicher sein, daß wir dadurch hier keinen Ärger mit Hausierern haben«, sagte Christianson ironisch. Die unmittelbare Nähe von Analysatoren, summenden Schalttafeln und anderen Gerätschaften stellte einen Teil seiner Selbstsicherheit wieder her, die er jedesmal verlor, wenn er sein Labor verließ und gezwungen war, mit Menschen umzugehen. Christianson führte sie zu einer Werkbank. »Da ist es«, sagte er und deutete auf ein Objekt, das etwa die Größe und das Aussehen eines jener altmodischen Röhrenradios hatte. Christianson nahm es auf, löste die Kabel, die zu einer Reihe von Kontrollgeräten führten, die auf der Werkbank nebeneinander aufgereiht waren, und reichte das Gerät an Saul weiter.
Der wendete es mehrmals hin und her, betrachtete es von allen Seiten. Es sah, wie Herman schon gesagt hatte, ausgesprochen simpel aus. Eigentlich war es nur ein Behälter, der sechzehn Schaltschablonen enthielt. Auf jeder Schablone waren verschiedene 64-Bit-Mikroprozessoren, einige EingangMemory-Chips und eine FokussierungsimpulsAutomatiksteuerung untergebracht. An der Seite befanden sich eine Subminiatur-Energiezelle und ein entsprechender Spannungsregler. Es existierten noch einige andere Elektronikkomponenten, aber die konnte Saul nicht identifizieren. Die abgerundete Stirnseite des Gerätes, die auch maßgeblich zu der Ähnlichkeit mit einem Röhrenradio beitrug, war hohl. Hier konnte offenbar eine Beförderungslast eingelegt bzw. entnommen werden. »Existiert eine äußere Schalttafel?« fragte Saul. »Ja«, entgegnete Christianson. »Wir haben sie abmontiert, um besser an das Innere heranzukommen.« »Würden Sie sie für mich bitte wieder anbringen?« »Selbstverständlich.« Christianson nahm einige verschiedene, stumpf aussehende Metallplatten von einer nahen Ablage, führte sie in die entsprechenden Aussparungen, schraubte sie fest, und vollführte das gleiche mit der Seitenverkleidung. »Das ist es«, sagte er und übergab Saul das fertige Produkt. Saul hob es an. Selbst vollkommen zusammengebaut wog es kaum mehr als elf Kilo. »Wir werden es zu unserem Hauptlabor in New York mitnehmen und es dort untersuchen«, sagte er. Christiansons Stirn begann erneut die Massenproduktion von Schweißtropfen, jedes einzelne Zeichen seiner inneren Zerrüttung. »Ich fürchte, daß Sie mich mit dieser Bitte in eine überaus unangenehme Lage bringen, Mr. Lukas. Auf der einen Seite ist da Miß Warrens Order, in jeder von Ihnen gewünschten Weise mit Ihnen zu kooperieren. Auf der anderen
Seite besteht immer noch ihre Anweisung, unter keinen Umständen zuzulassen, daß dieses Gerät aus dem Labor hier herausgebracht wird.« »Ach, wie dumm von mir«, entgegnete Saul und schnippte mit den Fingern. »Ich hatte ganz vergessen, daß ich ja eine Bevollmächtigung dabei habe.« »Tatsächlich?« fragte Christianson, dem seine Erleichterung darüber, daß sich auch diese heikle Lage in Wohlgefallen auflöste, deutlich anzusehen war. »Wunderbar, das vereinfacht die ganze Sache natürlich. Lassen Sie mich einen kurzen Blick darauf werfen, und wir können wieder hinaufgehen.« »Aber natürlich«, antwortete Saul. Er griff in seine Manteltasche und zog einen kleinen Revolver aus Hartplastik hervor. Die abzufeuernden Geschosse hatten über größere Distanz eine nur geringe Treffgenauigkeit und Durchschlagskraft. Außerdem besaß die Waffe die unangenehme Angewohnheit, nach zwei oder drei Schüssen zu explodieren, aber dafür kostete sie auch nur drei Dollar, gerade der Preis für fünf Eiscocktails oder zwei Bier, und das war selbst für neun Zehntel der Weltbevölkerung gerade noch erschwinglich. Saul hatte sie sich allerdings aus einem völlig anderen Grund zugelegt. Da sie aus Plastik war, blieb sie für die herkömmlichen Metalldetektoren unauffindbar. Nur eine körperliche Abtastung hätte sie ans Tageslicht gefördert. Er hatte darauf spekuliert, daß man beim RMF mit hochgestelltem Besuch nicht so weit gehen würde, und er hatte recht gehabt. Er zielte genau auf Christiansons Bauch. »Dies hier ist eine ›Hände hoch!‹-Blankovollmacht.« Christianson war ausgesprochen blaß geworden. Er hob seine Hände bis auf Schulterhöhe und verankerte sie dort, als wollte er mit ihnen erste, sein Vertrauen zu erschüttern drohende
Schläge abfangen. »Ich habe eine Frau, drei Kinder und zwei Hunde, Mr. Lukas.« Mit dem Revolverlauf streichelte Saul Christiansons Wange. »Dann seien Sie lieber artig, es sei denn, Sie wollen der Welt eine weitere, vaterlose Familie hinzufügen. Klar?« Christianson nickte und versuchte verzweifelt, in seinem Mund genug Speichel anzusammeln, um damit seine plötzlich ausgedörrte Kehle wieder zu schmieren. »Dann wollen wir mal.« Saul deutete mit der Waffe in Richtung Lift. Christianson schlurfte zum Aufzugzugang, schob seine Karte in den Aktivierungsschlitz und marschierte mit Saul und Rosie im Schlepptau in den kleinen, gegenüberliegenden Raum. Die Tür glitt wieder zu und setzte sie damit fest. »Ist alles in Ordnung, Mr. Christianson?« erkundigte sich eine Stimme, die von jenseits der Wand kommen mußte. Rosie umfaßte den tragbaren, drahtlosen Transporter fester. Saul preßte durch die Tasche hindurch den Revolverlauf in Christiansons Rückgrat. »Natürlich, Harry«, entgegnete Christianson erstaunlich gefaßt. »Alles ist in bester Ordnung.« »Ich frage, weil Sie so blaß sind.« »Ich bin krank gewesen. Muß so was wie ‘ne Grippe gewesen sein. Aber ich habe das Schlimmste schon überstanden.« »Geben Sie auf sich acht«, sagte die Stimme noch, dann öffnete sich die Tür erneut, und diesmal lag dahinter die Liftkabine. Sie ließen sich zum Erdgeschoß hinauftragen und suchten dann Christiansons Büro auf. Dort fesselten sie Christianson mit Gardinenschnüren, die Rosie mitgebracht hatte, an seinen Sessel. Saul riß einen Streifen von einem Vorhang ab, knüllte ihn zusammen und stopfte ihn Christianson in den Mund.
Dann verließen Saul und Rosie das RMF, verstauten den tragbaren, drahtlosen Transporter im Kofferraum ihres Mietwagens und fuhren davon.
Saul zeigte seinen Reiseprioritäts-Ausweis, und so konnten sie die Warteschlange, die sich vor dem Zugang zur Mexiko/Südamerika-Brücke gebildet hatte, umgehen. »Wenn du zu meiner Wohnung gekommen bist«, instruierte er Rosie, »dann sag meinem Hausboy, er soll den Transporter in meinem Tresor verstauen. Sag ihm, er soll das Kombinationsschloß ausschalten und den Tresor darauf programmieren, daß er sich nur noch auf meine Handberührung hin öffnet. Es ist bereits alles vorbereitet. Danach treffen wir uns in der Sammelstation. Noch Fragen?« »Nur eine. Wie ist eine elegante, vornehme und gottesfürchtige Dame wie ich nur in einen solchen illegalen Mumpitz hineingeraten? Und was passiert mit mir, wenn ich verhaftet werde?« Saul küßte sie auf die Wange. »Täusche Senilität vor und trage bei der Verhandlung ein Kopftuch. Kein Richter auf der ganzen Welt würde dich dann noch verurteilen.« Lachend betrat sie den Transporter und verschwand. Saul kramte eine weitere Tablette für zeitlose Rückholung hervor, legte sie auf die Zunge, schluckte sie hinunter und betrat ebenfalls, diesmal irgendwie widerstrebend, den Transporter.
XX
Saul erreichte die Sammelstation, trat aus dem Transporter heraus und krümmte sich vor Schmerz zusammen. Soviel zur vorbeugenden Wirkung der Tablette für augenblickliche Erholung. Seine Empfangshosteß manövrierte ihn in einen Rollstuhl, der dafür gedacht war, Passagiere von der Rematerialisierung zum Erholungsraum zu transportieren. Er zeigte den Ausweis der Brückengesellschaft und befahl ihr, ihn nicht zur Rückholung zu bringen, sondern statt dessen zum Büro des Direktors zu rollen. Vor der entsprechenden Tür wies er sie an, zu verschwinden. Er wollte Michelle nicht wie ein hilfloser Invalide vorgeführt werden. Er wollte wie ein Mann auf seinen eigenen zwei Beinen das Büro betreten, ganz gleich, wie groß der Schmerz war. Und der war wirklich groß. Jeder der beiden Schritte in Richtung Tür verursachte einen Magenkrampf von solcher Intensität, daß er nicht mehr zu atmen vermochte. Er holte einige Male tief Luft, um seine Fassung wiederzuerlangen, drehte dann den Türgriff herum und trat ohne anzuklopfen in das Büro. Als Michelle ihn zu Gesicht bekam, wurden ihre Augen zu zwei schmalen Schlitzen und ihr Mund zu einem dünnen, blutleeren Strich. Mit einem Hanfseil in der einen und einem Stempel mit der Aufschrift »In Abwesenheit des Angeklagten zum Tode verurteilt« in der anderen Hand hätte sie wie ein zu allem entschlossener Richter gewirkt.
»Blasen Sie die Suche ab«, wies sie ihren unsichtbaren Gesprächspartner am anderen Ende der Telefonleitung an. »Lukas ist gerade aufgetaucht.« Sie knallte den Hörer auf die Gabel, umrundete den Schreibtisch und stach ihm den Zeigefinger in die Brust. »Wenn das nicht der Vorkämpfer der Unterprivilegierten ist. Unser unerschrockener Kreuzritter. Ich hoffe, du Superheld weißt, daß dein Spielchen Christianson seinen Job kosten wird.« Ihre Worte hatten die Kraft eines Bulldozers, der Erde über die unschuldigen Opfer des Massakers schob. »Noch schlimmer. Es wird ihn seine Karriere kosten. Ich werde persönlich dafür sorgen, daß er niemals wieder in seinem Leben auf dem Gebiet der Materie-Transmission arbeiten kann. Und wenn du nicht willst, daß dir etwas ähnliches widerfährt, dann gibst du mir besser meine tragbare Brücke zurück.« Sie hielt ihm die Hand entgegen, als glaubte sie, Saul hätte das Gerät in irgendeiner Tasche versteckt. Saul schlenderte zu dem nahen Lehnsessel, bewegte sich dabei langsam vorwärts in dem vergeblichen Versuch, seine Qual zu lindern. Er ließ sich in den Sessel fallen und legte wie beiläufig ein Bein über die Armlehne. Das schien ein wenig zu helfen. Dann wies er seine Lippen an, ein wölfisches Grinsen zu formen. »Es sieht so aus, Schätzchen, daß du im Augenblick das Zepter nicht mehr in der Hand hast. Mir scheint, die einzige Frage, die wir hier klären müssen, ist, wie hoch dein Angebot sein muß, um mein Wohlwollen zu erwecken. Diese Runde wird nach meinen Regeln gespielt, oder das erste, was ich morgen früh unternehme, ist, die tragbare, drahtlose Brücke an Mary Hemke zu liefern.« Michelle kehrte zu ihrem Schreibtisch zurück, ließ sich in den Sessel sinken, nahm einen Bleistift und tippte damit auf die Schreibtischplatte, wie ein Funker auf einem sinkenden
Schiff, der das letzte SOS in den Äther hinausschickt. »Was genau willst du also von mir?« Saul pflanzte beide Füße auf den Boden, wie gejätetes Unkraut, das versuchte, neue Wurzeln zu schlagen, bevor es vertrocknete. »Zuerst einmal einige offene Antworten. Wann und wie hast du herausgefunden, daß eine tragbare, drahtlose Brücke existiert?« Michelle rieb sich mit der Hand über die Wange, als wolle sie eine Gummimaske entfernen. »Wir haben bereits von Anfang an Bescheid gewußt. Routinemäßig hören wir alle Kommuniques ab, die beim Transport-Amt in Moskau einoder ausgehen, und dieses Amt war Galina Rosmanovs Kontaktadresse. Als wir entdeckten, womit sie sich dort beschäftigten, war unser erster Impuls, einfach hineinzumarschieren und einen Schlußstrich zu ziehen. Aber dann, als wir etwas intensiver über die Lage nachgedacht hatten, entschieden wir uns anders. Wenn die Russen die hundert Millionen Dollar springen lassen wollten, die nach unserer Schätzung für die Entwicklung einer tragbaren, drahtlos funktionierenden Brücke notwendig waren, dann sollten sie doch. Wir waren der Ansicht, daß wir, sollte Lindstrom mit seiner Arbeit tatsächlich erfolgreich sein, noch rechtzeitig genug eingreifen konnten, bevor die Russen das Endprodukt der Forschung in die Hände bekommen würden. Wir hatten also eine Menge zu gewinnen und nichts zu verlieren.« Michell nahm den Briefbeschwerer des Direktors der Sammelstation in die Hand, ein aus Plastik hergestelltes Modell eines Transporters, ein typisches Anerkennungsgeschenk der Brückengesellschaft für ihre Angestellten. Diese Briefbeschwerer wurden in einem vollautomatisierten Fertigungsbetrieb zum Stückpreis von weniger als dreiundzwanzig Cents in Serie produziert. Die
Inschrift, zwei Zeilen, die der fünfzehn Jahre andauernden, aufopferungsvollen Tätigkeit des Direktors für die Gesellschaft gedachten, stammte von einer vollcomputerisierten Graviermaschine, deren Programmierungssektor mit der Personalabteilung, Unterabteilung Geburtstage und Jubiläen, und der Filiale für Touristenandenken verbunden war. Eingepackt und mit’ einer Adresse versehen worden war der Briefbeschwerer von einer automatischen Verpackungsmaschine. An dem Tag, als der Direktor das Modell aus dem Geschenkkarton genommen hatte, war der Briefbeschwerer zum ersten Mal von einem menschlichen Wesen berührt worden. »Als wir herausfanden, daß Herman seine Arbeit beendet hatte, versuchten wir ihn dazu zu bewegen, die Geräte an uns auszuhändigen. Aber er leugnete sogar ihre Existenz. Also versuchten wir, sie zu stehlen, aber er hatte sie zu sorgfältig versteckt. Daher, als letzter Versuch gewissermaßen, sorgte ich dafür, daß sich Ralph Ferguson mit Galina Rosmanov in Verbindung setzte, um zu einer Übereinkunft zu kommen. In unserem Namen bot er ihr an, ihr zwei Millionen Dollar für die beiden kompletten Geräteeinheiten zu zahlen. Aber sie wollte nicht darauf eingehen. Sie bestand darauf, eine an ihre Regierung weiterzugeben. Also erhöhten wir unser Angebot, indem wir die zwei Millionen Dollar für eine Einheit anboten. Schließlich wurden wir handelseinig. Es waren weniger als zwei Prozent von der Summe, die wir hätten ausgeben müssen, um die tragbare, drahtlose Brücke in eigener Regie zu entwickeln. Wir gaben ihr das Geld, sie uns den Transporter.« Michelle überlegte ihre nächsten Worte mit der unerhörten Schamlosigkeit eines nichts bereuenden Sünders, der darauf brennt, seine Sünden zu beichten, sich nach den Bedingungen für die Absolution erkundigt und dann in die Welt zurückeilt, um erneut zu sündigen. »Wir wußten also, daß sie den zweiten
Transporter sehr bald den Russen aushändigen würde. Das konnten wir natürlich nicht zulassen. Wenn die Russen jemals eine tragbare, drahtlose Brücke in die Hände bekommen, dann würden sie sie dazu benutzen, in jede bedeutende amerikanische Stadt ihre Agenten einzuschleusen.« »Und ich vermute, daß die amerikanische Regierung genau das gleiche mit den russischen Städten anstellt, oder?« Michelles Mundwinkel kamen in die Höhe und deuteten ein dünnes Lächeln an. »Selbstverständlich, aber doch im Namen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung. Nun, da wir jedenfalls nicht zulassen konnten, daß die Russen ein solches Gerät bekamen, unternahmen wir geeignete Schritte, das zu verhindern.« »Und eben diese Schritte beinhalteten, etwas in den tragbaren, drahtlosen Transporter Galinas zu transmittieren, gerade zu dem Zeitpunkt, in dem sie in unserem konventionellen Netz auf die Reise ging.« Michelle preßte die Fingerspitzen der rechten und linken Hand aneinander und formte damit einen Käfig, um so zu demonstrieren, wie einfach es war, einem allzu Unvorsichtigen eine Falle zu stellen. »Ja. Wir übernahmen volle Kontrolle über das Transferierungsnetz, warteten so lange, bis sie abgestrahlt wurde und schalteten sie dann aus.« Sie klatschte die Hände zusammen. In diesem Punkt konnte Galina Rosmanov in die Geschichte der Medizin eingehen. Der erste Mensch, der an der Ethik der Brückengesellschaft gestorben war. »Eine verdammt aufwendige Methode, um jemanden zu killen.« »Genau das habe ich auch gedacht, zumal sich meine Techniker ganz und gar nicht sicher waren, ob es auch klappen würde. Die Vermutungen über das, was passieren könnte, schwankten zwischen gar nichts und einer kleinen atomaren
Explosion hin und her. Eigentlich haben wir diese Methode mehr oder weniger als ein Experiment aufgefaßt.« »Obgleich du damit das Risiko eingingst, den zweiten tragbaren Transporter zu verlieren?« »Klar. Warum nicht? Wir brauchten ihn nicht. Wir hatten doch bereits einen, den wir untersuchen und studieren konnten. Und selbst wenn diese Untersuchungen nichts gebracht hätten, war da immer noch Herman als letzte Möglichkeit.« »Eine Sache wundert mich. Warum hast du, nachdem du dich zu all diesem bereits entschlossen hattest, mich überhaupt noch eingeschaltet? Ich meine, warum habt ihr sie nicht einfach sang- und klanglos im Leitungsgeflecht verschwinden lassen?« »Das hätte zuviel böses Blut gegeben. Denk daran, daß sie immerhin eine internationale Berühmtheit war. Wir mußten also die Flucht nach vorn antreten. Ein angemessener Preis: Ein wenig öffentlichkeitswirksames Larifari für die Eliminierung einer akuten Bedrohung der derzeitigen Gesellschaftsordnung.« »Darum also hast du versucht, mich dazu zu bewegen, die Suche aufzugeben. Weil du eigentlich gar nicht wolltest, daß sie gerettet wird. Aber was ist mit diesem Russen? Diesem Nikolei Bulgavin? Wie hast du ihn dazu überredet, nicht auf die Pauke zu hauen?« »Das war ganz einfach.« Michelle zeigte den Stolz eines renommierten Künstlers, der gerade das neueste Meisterwerk enthüllte, das wie alle anderen vorher aus materialisierter Boshaftigkeit geschaffen worden war. »Ich habe ihm geradeheraus gesagt, daß er nicht die geringste Chance hätte, die tragbare, drahtlose Brücke jemals in die Hand zu bekommen. Für sein Versprechen, nicht auf der Befreiung Galinas zu bestehen, bot ich ihm als Gegenleistung an, den Russen gewisse wichtige, technische Informationen zu verkaufen, die aus unserer Sicht bereits veraltet sind, das
russische, konventionelle Transmissionsnetz aber bedeutend verbessern können.« »Und er ist darauf eingegangen?« »Er hatte keine Wahl. Entweder nahm er die Krümel, oder er starb den Hungertod.« Michelle nahm die vornübergeneigte Haltung eines Straßenredners an, der, auf einer behelfsmäßigen Rednerbühne stehend, auf sein Publikum einredet. »Weißt du, Saul, was die fundamentalen, sozialen Zusammenhänge betrifft, um die es hier geht, legst du eine bemerkenswerte Naivität an den Tag. Wenn es nicht nach deiner Nase geht, dann drohst du damit, die tragbare, drahtlose Brücke an Mary Hemke und die EVW zu übergeben. Laß uns mal einen Moment darüber nachdenken. Die EVW will die völlige Veränderung, die sie anstrebt, dadurch bewirken, daß sie überall auf der Welt tragbare, drahtlose Brücken unter die Leute bringt. Ich möchte, daß das Brückennetz so bleibt, wie es heute besteht. Diese beiden Ziele sind, zumindest, was die Leute betrifft, die sie vertreten, durchaus vernünftig und zu rechtfertigen. Mit dem Transportsystem, wie es heute beschaffen ist, kann man große Entfernungen in kurzer Zeit und relativer Sicherheit zurücklegen. Falls das System geändert wird, kann man große Entfernungen in kurzer Zeit, relativer Sicherheit bei minimalen Kosten zurücklegen. Mit anderen Worten, ganz gleich, welche Vorstellung sich letztendlich durchsetzt, die Endresultate werden gleich sein. Was mich erschreckt, ist die Übergangszeit. Jahre, vielleicht Jahrzehnte, in denen die Erde ein einziges Tollhaus ist, bis sich die Menschen an die neue Reisemöglichkeit gewöhnt und angepaßt haben. Ich frage dich, ist dieser Aufruhr, der unvermeidlich sein wird, ein angemessener Preis für den Aufbau eines neuen Netzes, das in Wirklichkeit kaum effektiver arbeiten kann als jenes, das wir bereits haben?«
Sie legte die Hände auf die Schreibtischplatte und brachte sich in eine bequemere Sitzposition. »Weißt du, als diese ganze Sache begann, da haben wir der Möglichkeit, ein Netz aus tragbaren, drahtlosen Brücken zu entwickeln, viel Beachtung geschenkt. Rein ökonomisch gesehen, hätten wir ein Vermögen machen können. Wir hätten die Transporter in Serie fertigen und über unsere Filialen auf den Markt bringen können; wir hätten Zubehör entwickeln können. Dann der Aufbau des nötigen Wartungsnetzes. Wir hätten Milliarden verdienen können. Aber in diesem speziellen Fall sind die Konsequenzen für mich wichtiger als der Profit.« Michelle schob ihr Kinn vor und wirkte dadurch für einen Augenblick wie die Bugfigur eines Schoners aus Rationalität. »Saul, ich glaube, dieses Gerät ist genauso gefährlich wie die Atombombe. Die tragbare, drahtlose Brücke darf der Öffentlichkeit auf keinen Fall zugänglich gemacht werden. Ich glaube, die Bevölkerung würde mir, wäre sie entsprechend informiert, zustimmen.« Das war genau der Punkt, über den sie sich während ihrer kurzen Ehe oft gestritten hatten. Michelles penetrante Angewohnheit, ständig bedeutende Entscheidungen für andere Menschen zu treffen, Saul eingeschlossen. »Noch immer der Wächter über das Wohl des Volkes, wie?« Saul antwortete mit einer geringfügigen Variation des Arguments, mit dem er ihr schon so oft entgegengetreten war. »Gut, vielleicht stellt die tragbare, drahtlose Brücke die Welt tatsächlich zeitweise auf den Kopf. Aber du hast nicht das Recht, ebenso wenig wie ich oder die Brückengesellschaft oder eine beliebige Einzelperson, zu entscheiden, eine solche Erfindung zurückzuhalten. Diese Entscheidung muß von der Gesellschaft, dem Volk, getroffen werden, und ich meine, du solltest den Menschen durchaus die Chance geben, zwischen zwei Alternativen zu wählen.«
Michelle schüttelte den Kopf. »Die augenscheinlichen Vorteile sind zu groß. Transmissionen zu Niedrigstpreisen. Ein Knopfdruck – und man ist dort, wo man gerade sein möchte. Das hört sich alles verdammt gut an. Gib den Leuten die Möglichkeit, zu wählen, und ich habe nicht den geringsten Zweifel, wofür sie sich entscheiden werden. Sie werden die falsche Entscheidung treffen. Das ist dein größter Fehler, Saul. Du hast nicht das geringste Verständnis dafür, daß man manchmal unangenehme Entscheidungen für andere treffen muß. Ganz egal, was ich tue, ich greife auf jeden Fall in den Kurs der menschlichen Zivilisation ein. Entweder, indem ich sie zwinge, sich durch eine Zeit der Wirrnis zu kämpfen, oder aber, indem ich ihr eine Entscheidung abnehme und dadurch das Tollhaus erst gar nicht entstehen lasse. Ganz gleich, was ich hier auch unternehme, jeder Schritt beinhaltet das Risiko, daß ich niemals wieder in der Lage sein werde, mich selbst zu achten, weil ständig der nagende Zweifel in mir ist, ich könnte mich vielleicht doch falsch entschieden haben. Aber die Sache ist die, daß ich im Gegensatz zu dir in der Lage bin, etwas zu tun, von dessen Richtigkeit ich überzeugt bin.« Saul verglich ihre leidenschaftliche Predigt mit einer herrlichen Filigranverzierung, die den Eingang zu einer Kloake schmückte. »Hübsch gesagt, Michelle. Da du nun offensichtlich fertig bist, laß uns darüber diskutieren, wie wir Galina Rosmanov aus dem Leitungsgeflecht befreien können.« Michelles Hände sanken herunter, wirkten wie ein Toppsegelmast, der von einem Tornado zerfetzt worden war. »Natürlich. Das alles geht dich ja nichts an. Du kümmerst dich nur um deinen blöden Ehrenkodex, der dir sagt, daß du das zu Ende führen mußt, was du einmal angefangen hast. Nun, es gibt Gelegenheiten, zu denen eine solche Haltung ausgesprochen hinderlich ist. Es gibt Gelegenheiten, da muß
man seine Prinzipien im Interesse einer größeren Sache vergessen können.« Saul wiederholte sein Ultimatum, als wäre es eine magische Beschwörung, die vor einem bösen Zauber namens Vernunft schützte. »Ich will Galina Rosmanov. Wenn du sie sterben läßt, händige ich den Transporter Mary Hemke aus.« Da die Niederlage unausweichlich schien, richtete Michelle ihre Aufmerksamkeit auf das Aushandeln für sie annehmbarer Kapitulationsbedingungen. »Was ist mit dem Transporter, den sie mit ins Netz genommen hat?« »Wenn wir sie herauskriegen, bekommst du ihn ebenfalls.« »Versprochen?« »Ich gebe dir mein Wort.« Bevor sie endgültig kapitulierte, unternahm Michelle noch einen letzten Versuch. »Saul, dieses Mädchen hat sich inzwischen länger im Leitungsgeflecht aufgehalten, als irgend jemand vor ihr. Ich habe diesen Punkt mit Dr. Ryker besprochen. Er ist davon überzeugt, daß sie sich schon jetzt körperlich völlig verändert hat. Das Mädchen, das das Netz verlassen wird, wird mit dem, das es betreten hat, nicht mehr die geringste Ähnlichkeit haben. Sie wird eine Schwachsinnige sein, Saul. Ein Monstrum. Sie wird nie wieder in der Lage sein, klar und vernünftig zu denken. Jedenfalls ist Ryker davon überzeugt. Sie wird für den Rest ihres Lebens von jemandem versorgt werden müssen. Sie wird nicht mehr in der Lage sein, zu sprechen oder nur die einfachsten körperlichen Vorgänge zu kontrollieren. Es wäre weitaus menschlicher, sie nicht herauszuholen. Laß sie dort drinnen in Frieden sterben. Laß ihre Fans sie so in Erinnerung behalten, wie sie einmal war.« Obgleich in Sauls Vorstellung eine Horrorvision entstand, die große Ähnlichkeit mit dem Monster hatte, auf das er im RykerSanatorium einen Blick hatte werfen können, gab er nicht einen Millimeter nach. »Ich will sie herausholen, Michelle. Ob
als menschliches Wesen oder schwabbelige Sülze. Ich hole sie heraus.« »Meinetwegen. Wie du meinst.« Aus ihrer Aktentasche holte sie einen blauen Ordner, den sie auf den Tisch warf. »Das hier ist die Aufzeichnung dessen, was wir mit ihr angestellt haben.« Saul streckte seine Hand nach dem Ordner aus. »Ich kann dir die Mühe ersparen«, sagte sie. »Wir haben Galina Rosmanovs Gewicht um exakt 3,4 Kilo erhöht. Aber da gibt es ein Problem.« Michelle schien außerordentliche Schwierigkeiten zu haben, die richtigen Worte zu finden. »Nun, erinnere dich bitte daran, daß wir nicht genau wußten, welche Wirkung die Erhöhung ihres Gewichts haben würde. Wir mußten daher ganz sicher gehen. Wovon ich spreche, das sind, äh, diese 3,4 Kilo. Es ist nicht nur einfach eine Masse inaktiver Materie oder etwas in der Art. Es ist so etwas wie eine Versicherung für den Fall, daß nichts geschehen und sie tatsächlich den Empfangstransporter erreichen würde.« »Eine Versicherung? Worüber sprichst du überhaupt? Was habt ihr denn nun in den Transporter transferiert, den sie in ihrem Gepäck mit sich führte?« Michelle deutete hinauf, auf das unendliche Universum, dorthin, wo die Luft klar und die Sichtweite durch nichts begrenzt war. »Weißt du, du mußt es einmal aus unserer Sicht betrachten. Saul, wir…« Saul schlug mit der Hand auf den Tisch. »Hör endlich auf mit dieser idealistischen Augenwischerei. Sag mir in einfachen Worten, was ihr hineingeschickt habt.« Michelle rollte ihren Stuhl zurück, entfernte sich damit von ihm, als hätte sie Angst davor, Saul könnte sich, wenn er die Antwort hörte, auf sie stürzen. Damit hatte sie gar nicht einmal so unrecht. »Fünf Stangen Dynamit, die entsprechende Verkabelung und einen Zünder. Wir haben eine Bombe hineingeschickt, Saul. Eine Bombe, die darauf programmiert
ist, in dem Augenblick zu explodieren, in dem sie das Netz verläßt.«
XXI
Ärzte und Krankenschwestern flatterten durch den Raum wie große, weiße Schmetterlinge, die die Instrumente zu bestäuben versuchten, die an die fünfzig Mikrosensoren angeschlossen waren, die in Hermans Körper steckten. Saul bahnte sich einen Weg zu Hermans Bett, kniete daneben nieder und berührte den Kranken vorsichtig an der Schulter. »He, alter Junge. Bist du wach?« Herman drehte seinen Kopf zu ihm herum. Er machte keinen Versuch, die Binde abzunehmen, die seine Augen bedeckte. Es gab keinen Grund dazu. Bereits vor einigen Stunden hatte er sein Augenlicht verloren. Inzwischen war er vollkommen blind. »Saul? Bist du das?« Seine Hand flatterte durch die Luft wie eine müde Taube, die auf der Suche nach einem Unterschlupf für die Nacht war. Saul berührte Hermans Hand und deckte sie mit seinen eigenen zu. Es war, als berührte er die Hand einer Gummipuppe. Oder einer Leiche. »Wie fühlst du dich?« »Wie ein Cyborg. Sie haben mich an eine künstliche Niere, eine Herz-Lungen-Maschine und verschiedene andere Dinge angeschlossen. Aus mir kommen so viele Drähte heraus, daß ich mir wie eine der Steckdosen aus den Anzeigen der Elektrizitätswerke vorkomme, an die fünfundzwanzig Geräte angeschlossen sind, was natürlich die Sicherungen durchbrennen läßt.« Sein Lächeln löste sich auf, als wäre es nur mit zweitklassigem Kleister auf seinem Gesicht befestigt gewesen. »Ein Freundschaftsbesuch oder Dienstpflicht?« fragte er.
»Ich fürchte, ich bin noch immer im Dienst.« Saul rutschte zur Seite, damit eine Krankenschwester die Flüssigkeit in einer Flasche ersetzen konnte, die in einen durchsichtigen Schlauch tropfte, der wiederum irgendwo hinter Hermans Nacken in seinem Körper verschwand. »Ich habe einige heue Informationen in der Sache Galina Rosmanov, und ich hätte gern deine Meinung dazu gehört.« Jede einzelne Anzeige auf den medizinischen Überwachungsgeräten zeigte plötzlich eine jähe Zunahme von Hermans Körperaktivität an. »Ich dachte, du hättest mich gefeuert?« Spezialisten stürmten in den Raum, kontrollierten die Instrumente, versuchten eine Erklärung für die so unerwartete Besserung des Gesundheitszustandes ihres Patienten zu finden. »Ich mußte dich ablösen, Herman«, erklärte Saul. »Ich hatte keine andere Wahl. Du warst mein Hauptverdächtiger.« »Und nun nicht mehr?« Die Anzeigen schlugen erneut wild aus. »Nun nicht mehr. Ich bin zu dir gekommen, weil du der absolute Champion auf diesem Gebiet bist. Du bist der einzige, der mir die richtigen Antworten geben kann. Du bist der einzige, dem ich vertraue.« Die Verwirrung der Spezialisten nahm weiter zu. Sie waren die besten medizinisch-elektronischen Diagnostiker in ihrem Geschäft, aber nicht einer von ihnen konnte die Stabilisierung der Körperfunktionen ihres Patienten erklären, die ihre Instrumente auswiesen. »Nach einem solchen Kompliment«, sagte Herman, »bin ich erst recht gelackmeiert, wenn ich keinen Erfolg habe. Wie ist die jetzige Lage?« »Ich weiß, um wieviel sich Galina Rosmanovs Gewicht erhöht hat.«
»Tatsächlich? Das ist großartig. Dann sollte es nicht weiter schwierig sein, sie auch herauszuholen. Um wieviel?« Die Spezialisten hatten in einer Ecke des Raumes mit einer hitzigen Diskussion begonnen. »Drei Komma vier Kilo. Aber das ist noch nicht alles. Weißt du, dieses zusätzliche Gewicht ist nämlich auf eine Bombe zurückzuführen, die darauf eingestellt ist, in dem Augenblick hochzugehen, in dem sie das Netz verläßt. Hier ist meine Frage: Gibt es eine Möglichkeit, Galina Rosmanov von ihrem Gepäck zu trennen, bevor wir sie herausholen?« Herman dachte eine Weile darüber nach, bevor er antwortete. »Das ist noch nie versucht worden, aber theoretisch müßte ein wirklich guter Monteur in der Lage sein, zu ihr vorzustoßen und sie zu isolieren. Aber das ist in jedem Fall verdammt haarig, und die Erfolgsaussichten sind nicht gerade groß.« Die Spezialisten waren schließlich zu einem Ergebnis gekommen. Sie führten die plötzliche Verbesserung von Hermans körperlichem Zustand auf eine schwache Spannungsschwankung im energetischen Verbund der Sammelstation zurück, die zu falschen Anzeigen auf ihren Instrumenten geführt hatte; sie kehrten in die Cafeteria zurück und setzten ihre Skatrunde fort. »Hast du eine Ahnung, wer der geeignetste Instandsetzer für diesen Job wäre?« »Nun, Carl Eller und Judy Laskow sind die besten, die ich kenne. Jeder von ihnen könnte es vielleicht schaffen. Aber da ist jemand, der noch besser ist.« »Wer?« Herman schlug sich selbst mit solchem Nachdruck auf die Brust, als müsse er auf einer großen Trommel das Signal für den Beginn der Parade geben. »Ich, Saul. Ich.« Nicht oft war Saul solcher Tapferkeit begegnet. Ein gelähmter, blinder Mann, der sich freiwillig auf eine
Konfrontation mit seinen schlimmsten Alpträumen einließ. »Vielleicht hast du recht, aber glaubst du, dazu, naja, physisch in der Lage zu sein?« Herman vollführte eine alles einbeziehende Geste. »Saul, dort drinnen, im Leitungsgeflecht, da brauche ich keine Arme, Beine oder Augen. Dort ist alles anders. Dort drinnen ist der Geist das einzig Wichtige. Man braucht keine Augen, um zu sehen, keine Hände, um zu fühlen, keine Beine, um zu laufen. Und ich glaube, niemand kann besser als ich verstehen, was dort drinnen vor sich geht.« »Für jemanden, der noch nie im Leitungsgeflecht war, bist du deiner Sache ja ziemlich sicher. Das ist doch richtig, oder? Du warst noch nie im Netz.« Herman setzte sich so krampfhaft für seine Sache ein, wie ein Mann, der von einem hysterischen Mob gelyncht zu werden droht. »Was macht das schon für einen Unterschied? Ich habe die Brücke immerhin konstruiert. Ich habe die Erfahrungen von tausend Monteuren und mindestens zweimal soviel Passagieren ausgewertet. Das sollte eigentlich genügen, um den Mangel an Erfahrung aus erster Hand wettzumachen. Ich kann es schaffen, Saul. Laß mich ins Netz. Ich weiß, ich schaffe es.« »Du kannst dort drinnen sterben. Daran solltest du auch denken.« »Dort drinnen, oder hier im Bett, ist das so ein großer Unterschied? Beide Tode sind in jedem Fall verdammt endgültig. Das muß ich dir doch wohl nicht extra sagen.« Saul hatte, bevor er Herman aufgesucht hatte, mit dem Labor in New York gesprochen, und die Berichte der Wissenschaftler hatten seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Trat kein plötzlicher und unvorhergesehener Durchbruch ein, dann war man noch Wochen von der Entwicklung eines Serums gegen
Galina Rosmanovs Gift entfernt. Herman würde sterben, sehr bald, und sehr qualvoll. Saul nickte und erhob sich. »Ich werde die nötigen Vorbereitungen treffen.«
Eine Hosteß brachte Herman in einem Rollstuhl zum Transporter. Einer der Instandsetzer streifte ihm eine ihrer Spezialjacken über und paßte sie dann seiner Größe an. Als er mit Hermans Ausstattung zufrieden war, hoben er und Saul den Todkranken auf die Füße und schleppten ihn vorsichtig in den Transporter hinein. Da im Innern keine Sitze vorhanden waren, legten sie ihn so auf den Boden, daß er es möglichst bequem hatte. Der Instandsetzer zog sich zurück und ließ Saul und Herman damit allein. »Noch kannst du es dir überlegen«, sagte Saul. Herman kicherte. »Wie in ›Zwölf Uhr Mittags‹. Die Aufforderung an den Marshai, sich doch noch rechtzeitig aus dem Staub zu machen.« Saul trat ebenfalls aus dem Transporter heraus und nickte dem diensttuenden Transferierer zu. Der gab die entsprechenden Daten in seinen Transmissions-Computer ein und drehte sich dann nach Saul um. Saul starrte auf den Transporter, betrachtete Herman. Noch niemals hatte er soviel Entsetzen in einem Gesicht gesehen. Und er hatte auch noch niemals den Befehl zu einer Exekution gegeben. Er wandte sich ab und gab dem Transferierer das Zeichen zur Auslösung der Transmission. Der Transferierer betätigte die Sendetaste, und Herman verschwand mit zu Fäusten geballten Händen.
XXII
Als Vorsichtsmaßnahme für den Fall, daß Hermans Bemühungen kein Erfolg beschieden war und plötzlich die Bombe rematerialisierte, war der Transporter hinter einem zweieinhalb Meter hohen Wall aus Sandsäcken verschwunden, hinter dem sich die ganze Monteur-Mannschaft der Sammelstation eingefunden hatte. Sie konnten nur warten. Saul setzte sich auf ein dickes, bloßliegendes Rohr, lehnte sich an die Wand und stützte, um nicht abzurutschen, seine Beine auf ein weiteres, etwas kleineres Rohr. Michelle trat auf ihn zu, langte in die Innentasche seiner Jacke, und versorgte sich mit einer von seinen Zigaretten. »Es tut mir leid, daß die Farbe des Papiers nicht zu deinem Kostüm paßt«, sagte Saul, während er ihr Feuer gab. »Es sind eben harte Zeiten«, erwiderte sie, beugte sich über sein Feuerzeug und unterband sein Zittern mit beiden Händen. »Wir alle müssen irgendwann einmal ein Opfer bringen.« Das war natürlich eine Anspielung. Michelle liebte die Auseinandersetzung, und oftmals provozierte sie jemanden, um ihre Langeweile zu überbrücken. Aber Saul war nicht in der richtigen Stimmung. Schweigend steckte er das Feuerzeug wieder ein, lehnte sich zurück an die Wand und starrte demonstrativ an die Decke. Michelle zuckte mit den Achseln und verschwand irgendwo in der Menschenmenge, auf der Suche nach einem etwas unvorsichtigeren Diskussionsopfer. Da die Sandsäcke den Zugang zum Haupttransporter blockierten, war eine Ersatzeinheit an das Zweitnetz
angeschlossen worden. Gerüchte hatten die Runde gemacht, die behaupteten, daß das Hilfsgerät nur für solche Transmissionen gedacht war, die von entscheidender Bedeutung für die laufende Mission waren. Daher breiteten sich sofort Unruhe und Nervosität aus, als die Empfangs-Kontrolleuchte des Hilfsgerätes aufleuchtete und Rosie im Innern des Transporters materialisierte. Das Stimmengewirr nahm deutlich an Lautstärke zu, als Rosie, anstatt benommen zu taumeln und auf die Hilfe einer Empfangshosteß angewiesen zu sein, aus eigener Kraft aus dem Transporter trat. Michelle, die natürlich sofort begriff, daß Rosie eine der Tabletten für zeitlose Rückholung genommen hatte, warf Saul durch den ganzen Raum hindurch einen bitterbösen Blick zu, sagte aber kein Wort. Saul sprang auf und trat auf Rosie zu. »Alles erledigt, was ich dir aufgetragen habe?« erkundigte er sich. »Man nennt mich auch Rosie, die Tüchtige«, antwortete sie. »Der Transporter ist sicher in deinem Privatsafe untergebracht.« Dann nahm sie den offensichtlichen Mangel an Aktivität um sie herum wahr. »Was ist hier los?« Saul führte sie zu dem Rohr und setzte sich neben sie. »Ich habe schließlich herausgefunden, um wieviel sich Galina Rosmanovs Gewicht erhöht hat. Es hat sich herausgestellt, daß die Brückengesellschaft dafür verantwortlich ist.« Er deutete mit dem Daumen auf Michelle, wie ein Schiedsrichter, der einem Spieler aufgrund eines schweren Fouls die rote Karte zeigte. »Und nicht nur das. Das Zusatzgewicht ist auch noch eine Bombe.« Rosie beantwortete Michelles feindseligen Blick mit einem übertrieben fröhlichen Lächeln und einem freundlichen Wink. »Sie ist wirklich ein Wolf im Schafspelz. Wie kriegen wir Galina dann ‘raus?«
Saul bedachte den sandsackumhüllten Transporter mit einem Blick, der dem eines Staffelkapitäns in Kinoschnulzen über den Ersten Weltkrieg nicht unähnlich war, eines Staffelkapitäns, der mit ausgesprochener Hoffnungslosigkeit den dunklen Punkten am Himmel nachsah, die seine Piloten und MG-Schützen einem häßlichen Tod entgegenführten. »Herman hat sich ins Netz transferieren lassen und versucht, Galina von ihrem Gepäck zu isolieren. Wenn er Erfolg hat, dann können wir Galina herausholen, während sich die Bombe auf Nimmerwiedersehen auflöst.« »Herman ist im Leitungsgeflecht? Ich dachte immer, er hätte Angst davor.« »Hat er auch. Aber ebenso davor, außerhalb des Netzes an dem Gift zugrunde zu gehen. Zumindest hat er jetzt noch die Chance, einen letzten, technischen Coup zu landen.« Rosie zog ihre Überjacke enger um die Schultern, konnte jedoch nicht verhindern, daß ein Kälteschauer ihren Rücken hinabrieselte. »Saul, Galina Rosmanov ist genau die, die ihn vergiftet hat. Vielleicht hat er die Absicht, sich dafür an ihr zu rächen, so daß sie ihn auf seiner letzten Reise begleitet.« Saul schüttelte den Kopf. »Ich glaube, tief in seinem Innern liebt er sie noch immer. Trotz allem, was sie ihm angetan hat, wird er sein Bestes geben, um sie zu retten.« »Wie lange ist er schon drin?« erkundigte sich Rosie. Saul warf einen Blick auf die Uhr über dem TransporterKontrollpult. »Fast zwei Stunden. Das Schlimmste ist, daß wir keine Möglichkeit haben, herauszufinden, was da drinnen vor sich geht. Es gibt keine Instrumente, keine Geräte, die zu einer solchen Sondierung in der Lage wären.« »Was meinst du, soll ich es einmal versuchen?« »Meinetwegen.« Rosie entschied sich für einen der Stühle und bat Saul, ihn so nah wie möglich an den Transporter heranzuschieben. »Kannst
du dafür sorgen, daß für eine Weile absolute Ruhe herrscht?« fragte sie, als sie sich setzte. »Na klar.« Saul gab bekannt, was Rosie versuchen wollte und bat die Anwesenden, sich still zu verhalten. Alle fügten sich, alle außer Michelle, die mit heftigem Klacken ihrer hochhackigen Schuhe den Raum durchquerte und hinausstürmte, nicht bereit, solchen Unsinn auch noch mit ihrer Anwesenheit aufzuwerten. Rosie schloß die Augen, legte die Handflächen an die Schläfen und ließ das Kinn auf die Brust sinken. In dieser Stellung verharrte sie für einige Minuten. Dann schrie sie auf. Ihre Arme zuckten wie Windmühlenflügel durch die Luft. Der Mund war sperrangelweit offen, schloß sich dann wieder, ohne daß ein Wort über die Lippen gekommen war. An jeder Seite ihres Kinns tropfte ein dünnes Rinnsal aus Speichel entlang. Gerade als Saul den Entschluß gefaßt hatte, sie zu schütteln, um sie in die Wirklichkeit zurückzuholen, ließen ihre wilden Zuckungen jäh nach. Die Arme sanken wieder hinab, ihr Gesicht glättete sich. Dann begann sie zu sprechen.
Ein dicker, kompakter Kloß aus purer Panik bildete sich in Hermans Kehle, verwandelte sich dann in einen Tropfen eines regenerierenden Elixiers, rann durch seinen ganzen Körper, heilte alle seine Leiden. Seine Hände. Er konnte sie wieder bewegen. Und seine Augen. Sie zeigten ihm Bilder, die er nie für möglich gehalten hätte. Geflochtene Regenbogen aus Elektrizität, die, wie an einer herrlichen, nicht enden wollenden Perlenkette aufgereiht, durch den Kabelkosmos glitten. Große, pechschwarze Wände, die er später als Widerstände identifizierte. Abtastungsimpulse in Gestalt von großen, runzligen Scheiben, die sich langsam und träge vor ihm drehten, ihm den Weg versperrten, abgesehen von den
paar Mikrosekunden, während denen die winzigen Löcher in ihnen in seine Richtung wiesen und er schnell hindurchschlüpfen konnte. Plötzlich nahm er eine geringfügige Diskontinuität wahr. Ein Instandsetzer hätte sie wahrscheinlich für eine tolerierbare Spannungsabweichung gehalten und sich nicht weiter darum gekümmert. Eine der Abweichungen, wie sie durch verlorengegangene Haarsträhnen oder Hautschuppen verursacht werden konnte. In diesem Fall aber bestand die Haarsträhne aus Galina Rosmanov und ihrem tödlichen Gepäck. Wenn er der Diskontinuität folgte, sollte es eigentlich möglich sein, direkt in das Zentrum von Galinas auseinandergedrifteter Masse zu gelangen. Er legte eine kurze Pause ein und überprüfte noch einmal die Ausrüstung seines Monteurgürtels. Der Feron-Sauger, der zehntausendmal soviel Masse in Form korpuskularen Schutts aufnehmen konnte, als das Gerät selbst besaß. Der Transferierungs-Verlangsamer. Der Verstärker, der als Massen-Konzentrator fungierte. Zufrieden darüber, daß alles in Ordnung war, setzte er seine Reise fort, kroch Hand über Hand an dem Energiestrang entlang, der in unregelmäßigen Intervallen dicker und dünner wurde, als verlöre er irgendwo Energie, die dann aus einem Reservoir wieder aufgefüllt wurde. Als er sich endgültig aufzulösen begann, wechselte Herman in den Q-Kanal und arbeitete sich bis hinter den ersten Dämpfer vor. Dort kollidierte er mit einer Phasenverschiebung. Um sie zu überwinden, mußte er vier Klystronen öffnen und sie, nachdem er hindurch war, wieder justieren. Ungehindert setzte er seinen Weg fort, bis er auf den PIN-Diode eines Umformers stieß, durch die er sich mit seinem Frequenzumkehrer einen Weg bahnen mußte. Aber die Diode markierte auch das Ende seiner
Reise. Die PIN-Zweipolröhre öffnete sich für ihn und gewährte ihm so Zugang zu der formlosen Mikrokammer, in der sich Galina Rosmanov befand. Herman überprüfte sofort den Delta-Q-Kanal, der in die Kammer hineinführte, und stellte fest, daß das energetische Niveau außerordentlich instabil war. Er konnte es also nicht riskieren, sie mit einem Impulsablenker herauszuholen, der nächstliegenden Möglichkeit. Da Spannung und Substabilisierung aber normal waren, überbrückte er die Fokussierungsimpuls-Überwachung, um zu sehen, ob ihn das weiterbringen würde. Aber nichts geschah. Die Stabilisierung des Delta-Q-Kanals ließ weiter nach, und das führte zu einem außerordentlich unangenehmen Energieverlust. Offenbar gab es nur eine Möglichkeit, seine Arbeit zu einem Ende zu bringen. Feinabstimmung seiner Parameterverstärker und Mikrowellenfilter, und sie dann per Hand herauslösen. Nachdem er die entsprechenden Einstellungen vorgenommen hatte, streckte er seine Hand vorsichtig in die knisternde Masse hinein und tastete umher, um den Impuls-Kreuzpunkt zu finden, der Galina an ihr Gepäck fesselte. Bis zur Ellenbogenhöhe spürte er eine zitternde, dahinschwindende Masse. Der Energieverlust nahm zu, und seine Hand wurde steif. Er schüttelte sie, damit die Lähmung verschwand, aber statt dessen löste sich seine Hand vom Arm, fiel herunter und verschwand. Seltsamerweise berührte ihn dieser Verlust nicht im geringsten. Ruhig schob er die andere Hand hinein und fuhr damit fort, den Impuls-Kreuzpunkt zu suchen. Mit der Handkante stieß er die verschiedenen Knoten aus Antriebsenergie zur Seite, zwischen denen Galina eingeschlossen war. Aber gerade, während er damit beschäftigt
war, kam es zu einem weiteren Energieverlust, der diesmal seine Beine lähmte. Ohne sich darum zu kümmern kroch er durch einen Hochspannungs-Kondensator und überbrückte die Sicherheitskreise, was notwendig war, um Galinas Freikommen zu ermöglichen. Dort unterschätzte er die Stärke des Output-Signals und bezahlte für diesen Fehler mit dem Verlust der Hälfte der übriggebliebenen Hand. So gut er es mit nur noch zwei Fingern konnte, unterbrach er die Beschleunigungsimpuls-Überwachung, stabilisierte die Freiwegsignal-Impulsstärke und bereitete Galina auf die Rückkehr in die Wirklichkeit vor. Er löste sie von ihrem Gepäck und gab ihr einen Stoß, der sie wegtreiben lassen sollte, konnte dabei aber nicht verhindern, daß er durch eine Impulsvibration mit ihrer gestaltlosen Masse zusammenprallte. Es warf ihn gegen die Netzisolierung und zerstörte alles, was noch von seinem Körper übrig war. Mit einer letzten rein körperlichen Bewegung warf er Galina mit seinen bereits immateriellen Lippen noch einen Kuß zu. Dann wurde er durch die Sicherheitskreise gerissen, gefangen in dem Strom der tertiären Trägerwelle, immer weiter, immer schneller. Es war die aufregendste Reise seines Lebens. Ein Nonstopflug in die Unendlichkeit.
Rosie hob ihren Kopf. Tränen rannen über ihre Wangen. »Er ist von uns gegangen«, kam es über ihre Lippen. Fast im gleichen Augenblick schrie Sammy Blonder: »Er hat es geschafft! Die Instrumente zeigen zwei verschiedene Massen im Netz an. Nur eins beunruhigt mich.« Blonder fummelte nervös an seinen Schaltpulten herum, aber die Anzeigen seiner Meßinstrumente reagierten nicht darauf. »Die
beiden Massen sind nahe aneinander. Ich kann sie nicht identifizieren.« Saul trat nervös an seine Seite, während Sammy den mühsamen Versuch unternahm, seine Geräte neu zu justieren. »Was geschieht, wenn Sie zuerst die Bombe herausholen?« erkundigte er sich. Die Neueinstellung brachte keine Ergebnisse. Frustriert hieb Blonder mit der Hand gegen das Kontrollpult. »Nach der ersten Rematerialisierung wird das energetische Gleichgewicht im Netz zusammenbrechen. Was immer dann dort drinnen geblieben ist, wird sich auflösen und für immer verschwinden.« Noch einmal überprüfte er seine Geräte, als hätten sie sich inzwischen vielleicht dazu entschließen können, sich die Sache noch einmal zu überlegen und die Anzeigen zu liefern, die so dringend benötigt wurden. Aber die Skalenzeiger bewegten sich noch immer nicht. »Ich kann beim besten Willen nicht sagen, welche Masse die Bombe und welche Galina Rosmanov ist.« Saul malte mit den Fingern ein kompliziertes Muster auf die Konsole, ein Muster, das genau dort endete, wo es begonnen hatte. »Entscheiden Sie sich für einen der beiden Massekomplexe, und bringen Sie ihn heraus«, sagte er mit weitaus mehr Gelassenheit, als in ihm war. Blonder nickte und wandte sich um. In ausgesprochen unwissenschaftlicher Manier schloß er die Augen und betätigte den ersten Knopf, den seine umhertastende Hand berührte.
XXIII
Die Empfangs-Kontrolleuchte flackerte schwach auf. Jedesmal, wenn sie leuchtete, duckte sich Saul aus Angst vor der explodierenden Bombe unwillkürlich hinter die Sandsäcke. Aber nichts geschah. Die Kontrolleuchte gab erneut eine Serie pulsierenden Flakkerns von sich, flammte kurz mit voller Leuchtkraft auf und erlosch dann ganz. Und noch immer keine Detonation. Was immer auch rematerialisiert war, es war bestimmt keine Bombe. Aber war es Galina Rosmanov? »Ist sie draußen?« fragte Saul Sammy Blonder. Dessen Hände huschten flink über das Kontrollpult und riefen die einzelnen Informationen ab, die, wie in einem Puzzle zusammengesetzt, ein übersichtliches Bild des Ganzen ergaben. Als er das Ergebnis hatte, drehte er sich grinsend zu Saul um. »Sie ist draußen.« Jubel brandete durch den Raum. Einige Männer stürzten in Richtung Transporter, um die Sandsäcke zu entfernen. »Halt, wartet!« rief Saul. Zwei Erinnerungsbilder waren vor seinem inneren Auge aufgetaucht. Die wunderschöne, anmutige Galina Rosmanov, die er in der Videoaufzeichnung tanzen gesehen hatte. Dann das abscheuliche, entsetzlich deformierte Monster, das er im Ryker-Sanatorium gesehen hatte. Angenommen, Michelle behielt letztendlich recht? Angenommen, Galina Rosmanov war als Monster wiederaufgetaucht? Trotz der offensichtlichen Schlechtigkeit des Mädchens fühlte Saul sich ihm verpflichtet, wie ein Rechtsanwalt einem Klienten gegenüber, der wußte, daß der
Klient schuldig war. Ganz gleich, was Galina Rosmanov auch getan hatte, wenn sie tatsächlich deformiert rematerialisiert war, dann verdiente sie zumindest Schutz vor einer sofortigen, öffentlichen Zurschaustellung. »Sammy, transferieren Sie sie zu meiner Villa. Jetzt sofort, bevor sie jemand zu Gesicht bekommt.« »Was? Wieso?« »Das spielt keine Rolle. Führen Sie die Order aus.« Blonder zuckte die Achseln. »Sie sind der Boß.« Er tastete die entsprechenden Daten ein und betätigte dann den Sende-Knopf, der Galina ungesehen durch das Leitungsgeflecht in Sauls Villa transmittierte. »Und nun schicken Sie mich hinterher.« Saul stopfte sich eine der Tabletten für zeitlose Rückholung in den Mund und trat in die Gewichtsermittlungssektion, die mit dem Hilfstransporter verbunden war. Rosie bekam die Tür gerade noch zu fassen, bevor sie sich schloß. »Meinst du, daß das richtig ist?« fragte sie. »Denk daran, was der Arzt über weitere Transferierungen gesagt hat.« »Mach dir keine Sorgen«, antwortete er. »Diese neuen Tabletten machen mir nichts aus.« Er schauderte, als er sich daran erinnerte, daß genau das Gegenteil der Fall war. Er warf Rosie einen Kuß zu, als sie die Tür schloß. Saul hatte die Gewichtsermittlung gerade verlassen und war in den Transporter getreten, als Michelle den Raum betrat. »Ich muß mit ihm sprechen«, sagte sie an Blonder gerichtet. »Privat.« Sammy reichte ihr einen Interkom-Kopfhörer und schaltete die Abschirmung ein, so daß sich Saul und Michelle unterhalten konnten, ohne von den anderen gehört zu werden. »Saul.« Ihre Stimme war wie ein Strang von Teppichknallern, und jedes einzelne Wort explodierte aus den Lautsprechern, eine Druckwelle vor sich herschiebend. »Was
hast du vor? Warum hast du mich nicht benachrichtigt, als sie aus dem Netz gekommen ist? Ich mußte es aus zweiter Hand von einem meiner Reserve-Ingenieure erfahren. Und warum hast du sie in deine Villa transferieren lassen? Und wo ist der zweite tragbare Transporter?« Saul musterte seine Ex-Ehefrau durch das Quarzglas der Sicherheitstür. »Weißt du, Herzchen, du hast alle auf der Hand liegenden Fragen gestellt. Außer einer: Wie geht es Galina Rosmanov? Aber beinahe hätte ich vergessen, daß du nicht auf den Spuren Albert Schweitzers wandelst, sondern eher den Hunnenkönig Attila bevorzugst.« Michelle brüllte so laut in ihr Kinnmikrofon, daß ihr Geschrei sogar die Abschirmung durchdrang und für die, die sich außer ihr noch im Raum aufhielten, deutlich hörbar wurde. »Hör endlich mit dieser Ironie auf. Ich will eine direkte Antwort, und zwar auf der Stelle. Hast du das zweite Gerät, oder hast du es nicht?« Saul sah keinen Grund, ihr noch weiter Widerstand zu leisten. »Ich habe es nicht.« »Wo ist es also?« »Noch immer im Netz.« »Und wann willst du es da ‘rausholen?« »Gar nicht. Frag nur Sammy Blonder. In dem gleichen Augenblick, in dem wir Galina Rosmanov herausholten, hat es bereits begonnen, sich aufzulösen.« »Du meinst, ich werde es nie bekommen?« »Genau. Ebensowenig wie irgend jemand anders.« Wie Saul angenommen hatte, akzeptierte Michelle diese Tatsache sofort als nicht zu ändernden Umstand. Die ganze Angelegenheit war ihr so lange gleichgültig, solange sie im alleinigen Besitz des einzigen tragbaren, drahtlosen Transporters war, der existierte. »Was ist dann mit dem anderen Gerät? Erinnere dich daran, daß wir eine Übereinkunft
getroffen haben. Ich habe dir das Gewicht der Bombe angegeben, und du hast mir das andere Gerät versprochen.« Saul zauberte einen theatralischen Ausdruck auf sein Gesicht. »Und das war der Ort, wo sie ihn an den Vertrag erinnerte, der mit Blut geschrieben war.« Michelle vergaß alle Vorschriften, stürmte durch die Gewichtsermittlung und zerrte mit Gewalt an der Tür, die zum Transporter führte. Aber sobald sich ein Passagier im Innern eines Transporters befand, konnte nur noch der Transferierer, in diesem Fall Sammy Blonder, die Tür entriegeln. Sammy blickte Saul an, und Saul schüttelte den Kopf. Die Tür blieb zu. »Saul«, sagte Michelle so laut, daß ihre Worte erneut die Abschirmung durchdrangen. »Du hast mir die tragbare, drahtlose Brücke versprochen. Ich habe mich in gutem Glauben zu dieser Vereinbarung bereit erklärt, und nun verlange ich, daß du deinen Teil der Übereinkunft erfüllst.« Saul hatte nie die Absicht gehabt, sie zu hintergehen. Er hatte erreicht, was er wollte, Galina Rosmanov aus dem Leitungsgeflecht befreit. Und er hatte sein Wort gegeben. »Ich werde dir das Gerät über das Transmissionsnetz zukommen lassen.« »Nein.« Michelle überprüfte die Abschirmung, um ganz sicher zu gehen, daß sie funktionierte. Es lag nicht in ihrer Absicht, daß irgend jemand die Bemerkung des Direktors der Brückengesellschaft hörte, die nun folgte. »Nicht über das Netz. Alles, aber nicht über das Netz. Das ist mir viel zu unsicher. Ich darf nicht das geringste Risiko eingehen. Sag mir, wo es ist, und ich schicke ein Flugzeug.« »Wie du willst. Es ist in meiner Villa.« »Ich werde sofort irgendein Transportmittel besorgen.« Sie zerrte sich den Hörer vom Kopf, reichte ihn Blonder und verließ den Raum.
Saul nickte Blonder zu und lehnte sich an die rückwärtige Wand des Transporters. Sammy betätigte die Taste, die mit der Aufschrift »Sendung« markiert war.
Ein entsetzlich scharfes Messer aus purem Schmerz schnitt durch seinen Körper. Er schrie Blonder zu, er solle die Transmission sofort abbrechen, aber seine Bitte kam zu spät. Der Transferierungsprozeß war schon zu weit fortgeschritten. Als sein Bewußtsein langsam schwand, mußte er zugeben, daß er sein Glück schließlich überstrapaziert hatte. Aber zumindest existierte noch ein Lichtblick. Zumindest würde er nicht mehr lange genug leben, um dies zu bedauern.
Schreiend materialisierte er im Empfangstransporter. Jeder einzelne Nerv in seinem Körper loderte in peinigendem Feuer. Er konnte kaum atmen. Sein Herz hämmerte dreimal so schnell wie sonst. Wieviel Zeit hatte er noch? Wie lange konnte ein menschliches Wesen solche Qual ertragen? Fünf Minuten? Zehn? Sein Hausboy zerrte ihn aus dem Transporter heraus und trug ihn zum Sofa im Wohnzimmer. »Ich rufe einen Arzt«, sagte er und stürmte ins Foyer. »Nein.« Saul rief ihn zurück. »Dazu ist es bereits zu spät.« Eine weitere Welle aus glühendem Schmerz, die einen anderen Mann umgebracht hätte, brandete durch seinen Körper. »Das Mädchen. Galina Rosmanov. Ist sie hier?« Der Hausboy nickte. »Ja, aber, sie ist sehr…« Sein Englisch war nicht gut, um sich exakt ausdrücken zu können. »Sie ist nicht wie ein gewöhnlicher Mensch. Sie ist irgendwie anders.«
Saul erinnerte sich an Michelles Warnung, daß das Mädchen schrecklich entstellt sein würde. »Ich muß sie sehen. Und zwar schnell. Ich habe nicht mehr viel Zeit.« »Sie schläft. Erholt sich, glaube ich, von ihrer Reise durch das Netz.« Natürlich. Selbst unter normalen Bedingungen hätte sie nach der Rematerialisierung zumindest eine Stunde ruhen müssen. Es war schwer zu sagen, wie lange sie nach dem langen Aufenthalt im Leitungsgeflecht, den sie hinter sich hatte, bewußtlos sein würde. »Trag sie herunter. Ob sie nun wach ist oder schläft. Ich muß sie sehen.« »Wie Sie wünschen.« Der Hausboy erhob sich und stürmte die Treppe hinauf. Saul öffnete den Mund und saugte Luft in sich hinein, aber es schien, als sei Atemluft zu einem schädlichen Stoff für ihn geworden, etwas, das seine Lungen nicht mehr verarbeiten konnten. Sie brannte in seiner Kehle und legte ihm den ranzigen Geschmack von Blut auf die Zunge. Sein Hausboy kehrte zurück. Allein. »Wo ist sie?« fragte Saul und mußte seine ganze ihm verbliebene Kraft sammeln, um diese Worte herauszubringen. Wortlos deutete sein Hausboy auf die offen stehende Tür. Und Galina Rosmanov trat ein. Entgegen allen seinen Befürchtungen war sie völlig normal. Sie sah sogar noch besser aus als in dem Film, den er gesehen hatte. Ihre Haut glühte. Ihre Augen funkelten. Sie ähnelte jemandem, der gerade von einem ausgedehnten Aufenthalt in einem sehr exklusiven Kurort zurückgekehrt war. Ihre dicke Winterkleidung hatte sie mit einem von Sauls Hemden vertauscht. Der durchgescheuerte Kragen und die ausgefransten Ärmel betonten nur noch die absolute Perfektion des Mädchens. Saul hatte viele attraktive Frauen
kennengelernt, aber niemals eine, die auch nur annähernd so schön war wie Galina. Ihr Körper war ohne jeden Makel. Sie hatte nicht einmal ein Muttermal. Es war einfach unglaublich. Anstatt entstellt aus dem Netz herausgekommen zu sein, war sie noch schöner als zuvor. »Ich weiß, daß ich dir mein Leben verdanke«, sagte sie. Sie sprach in fließendem Englisch, was Saul außerordentlich befremdete, da in allen Unterlagen, die von ihr existierten, behauptet wurde, sie spräche nur Russisch. Er wollte sie danach fragen, als eine neue Flutwelle aus Schmerz durch seinen Körper jagte und ihm die Fähigkeit raubte, ein Wort zu formulieren. »Oh, du bist krank«, sagte Galina erschrocken zu ihm. Sie kniete sich neben ihm nieder und legte eine Hand auf seine Stirn. »Du hast schrecklich hohes Fieber.« Sie legte die Hand auf seine Brust. »Und dein Herz rast.« »Hol mir… hol mir einen Arzt«, keuchte Saul. Jetzt bedauerte er es, daß er seinen Hausboy zurückgehalten hatte, einen Arzt zu rufen, zumal ihm ein Mediziner vielleicht wirklich helfen konnte. »Ich glaube, das wird nicht nötig sein«, sagte Galina mit dem unerforschlichen Lächeln, wie es Kirchenmadonnen oder geisteskranken Mördern zu eigen ist. Sie kletterte auf das Sofa, legte sich neben Saul und preßte ihren kaum bedeckten Körper an den seinen. Alle Kraft war aus ihm verschwunden. Er konnte nichts tun, um sie abzuwehren. Er konnte nur passiv neben ihr liegen, dem Mädchen, das seinen besten Freund umgebracht hatte, und zusehen, wie es sein Teufels werk an ihm verrichtete. Galina umfaßte mit den Händen seinen Kopf, massierte sanft seine Schläfen. Sie näherte ihre Lippen den seinen. Und küßte ihn.
Er erwachte in seinem Schlafzimmer. Allein. Und er fühlte sich prima. Völlig wiederhergestellt, physisch wie psychisch. Aber warum? Anstatt sich wie Tarzan zu fühlen, hätte er sich zu diesem Zeitpunkt schon die Radieschen von unten ansehen sollen. Spontane Genesung? Nein, so etwas geschah nur in den Werbespots der Pharmaindustrie, nicht im wirklichen Leben. Vielleicht hatte ihn ein Arzt behandelt, während er geschlafen hatte. Obwohl nichts darauf hindeutete. Kein Tablettenröhrchen auf dem Nachtschränkchen. Nicht die Spur einer Injektionsspritze. Nein, nur Galina und ihr seltsamer Kuß, der ohne Leidenschaft, aber sehr liebevoll gewesen war. Er schwang seine Beine aus dem Bett und stand vorsichtig auf, wobei er sich am Bettpfosten festhielt, da er nicht genau wissen konnte, ob er wirklich so gesund war, wie er sich fühlte. Aber das schien der Fall zu sein. Nicht nur, daß er ohne sich abzustützen auf seinen Beinen stehen konnte, er hatte sogar den verrückten Drang, sich seinen Trainingsanzug überzuziehen und seinen allmorgendlichen Dreikilometerlauf um die Umzäunung seines Anwesens zu beginnen. »Ich bin froh, daß es dir besser geht«, sagte Galina in seinem Rücken. Von dort aus, wo er jetzt stand, hatte er die einzige Tür seines Schlafzimmers im Auge, und er hätte beschwören können, daß er sie nicht hatte eintreten sehen. Aber vielleicht hatte ihn das Nachdenken über seine überraschende Genesung so in Anspruch genommen, daß er sie einfach übersehen hatte. Wie hätte sie auch sonst hereinkommen sollen? Dieser Raum lag im dritten Stock, und sie konnte wohl kaum durch die Fenster gekommen sein. Es sei denn, sie konnte sich Flügel wachsen lassen. Oder durch Wände gehen. Er kicherte über sich selbst.
»Viel besser sogar, danke. Obwohl es mir ein Rätsel ist, warum.« Galina ließ sich in den Polstersessel neben seinem Bett sinken, hob die Knie bis zur Brust und legte dann die Arme um die Beine, als müsse sie achtgeben, daß ihre erlesene, porzellanähnliche Haut nicht durch eine unbedachte Bewegung splitterte. »Betrachte es als ein Wunder«, sagte sie. »Du glaubst doch an Wunder, oder?« »Natürlich. Ein Wunder ist zum Beispiel, wenn ich ein Paar Würfel aufnehme, mit einem einzigen Dollar in der Tasche, und mir, wenn ich sie wieder aus der Hand lege, das ganze Kasino gehört.« Ihr Lachen war wie ein perlender Strom glitzernder Seifenblasen, und es war so ansteckend, daß Saul mit einstimmen mußte. Er setzte sich wieder aufs Bett und betrachtete sie. Sie entsprach nicht im geringsten dem Bild, das er sich während der Befreiungsaktion von ihr gemacht hatte. Dort saß sie, noch nicht einmal eine Frau, eine sowjetische Agentin, eine Mörderin. Und doch umgab sie eine Aura aus Liebenswürdigkeit und Weisheit, wie man sie nur bei einem tibetanischen Mönch vermutete, der die meiste Zeit seines Lebens in einem Kloster meditiert hatte. Diese Ausstrahlung, zusammen mit ihrer verletzbar wirkenden Weiblichkeit, hatte eine verheerende Wirkung auf Saul. Er hatte das kaum zu bezwingende Bedürfnis, sich vorzubeugen und sie zu berühren. Nicht etwa, weil sie romantische Gefühle in ihm geweckt hatte, sondern weil er so von ihr gefesselt war, wie der verlorene Sünder von einer mächtigen Religion, die ihm trotz seiner Verfehlungen die Aussicht auf die Erlangung des Ewigen Lebens gewährte. Als hätte sie sein Verlangen und den Widerstand in seinem Innern gespürt, den er nicht zu überwinden vermochte, ergriff
sie die Initiative, streckte ihren Arm aus und streichelte mit dem Handrücken seine Wange. Eine angenehme Wärme breitete sich von dort, wo sie ihn berührte, durch seinen ganzen Körper aus. »Du fühlst dich besser.« Das war eine Feststellung, keine Frage. »Viel besser. Habe ich das dir zu verdanken?« »Nein. Die Kraft zur Selbstregenerierung schläft in jedem Menschen. Du hast dich selbst geheilt. Ich war nur der auslösende Faktor.« Da er ihr sehr nahe war, registrierte er etwas Seltsames. Ihre Lippenbewegungen stimmten nicht ganz mit den Worten überein. Es war, als würden ihre Worte noch während der Formulierung übersetzt, als spräche sie gar nicht wirklich in Englisch. »Weißt du, Galina, wir hatten befürchtet, daß du schrecklich verändert aus dem Leitungsgeflecht wieder herauskommen würdest. Du hast dich auch verändert, aber offensichtlich nur in positivem Sinn. Hast du eine Erinnerung daran, was im Netz mit dir geschah?« Galina drehte sich im Sessel herum, so daß sie ihn direkt ansehen konnte, lehnte ihren Rücken gegen die eine Armlehne und preßte die Füße gegen die andere. »Nicht die geringste. Von dem Augenblick an, in dem ich in Mexico City in den Transporter getreten bin, bis zu meiner Rematerialisierung hier in deiner Villa ist bei mir alles dunkel.« »Spürst du irgendwelche nachteiligen Auswirkungen?« »Nur, daß ich sehr schnell ermüde. Saul, wenn du nichts dagegen hast, dann gehe ich jetzt auf mein Zimmer und mache ein kurzes Nickerchen.« »Geh nur. Wenn du wieder erwachst, dann wird mein Koch uns etwas zu essen machen.« »Das wäre nett.« Als sie aufstand, legte sie eine Hand auf sein Knie, was ein intensives Prickeln durch seinen Körper schickte. »Und nochmals vielen Dank für alles.«
Saul erhob sich ebenfalls, um sie hinauszubegleiten, aber sie schüttelte den Kopf. »Nicht nötig. Ich finde mich schon selbst zurecht. Wir setzen unser Gespräch fort, wenn ich wieder erwacht bin.« »Ich freue mich schon darauf.« Sie lächelte ihm zu, winkte, und löste sich in Luft auf.
XXIV
Saul rollte den Barwagen auf die Terrasse, schenkte sich einen ordentlichen Drink ein, setzte sich in den Sessel, von dem aus er den besten Blick auf den Park hatte, und dachte gründlich nach. In gewisser Weise hatte Michelle recht behalten. Galina Rosmanov hatte sich als Folge ihres langen Aufenthaltes im Netz tatsächlich völlig verändert. Aber diese Veränderung schien ausschließlich positive Aspekte zu haben. Man nehme nur ihre neue Fähigkeit, fließend Englisch zu sprechen. Besser gesagt, ihre Pseudofähigkeit. Saul hatte ihre Lippenbewegungen genau analysiert und war zu dem Schluß gekommen, daß sie gar nicht wirklich Englisch sprach, sondern vielmehr ihre Gedanken direkt in sein Gehirn sandte. Worte und Lippenbewegungen stimmten deshalb nicht überein, weil sie noch nicht erfahren genug war, ihre Botschaft ohne mechanische Vorformulierung zu telepathieren. Dann ihre rätselhafte Heilkraft. Das allein konnte zum einzigen Untersuchungspunkt eines wissenschaftlichen Lehrbuches werden. Oder sie zur zentralen Figur einer Neuen Heiligen Schrift machen. Und schließlich ihre Fähigkeit, sich ohne jedes technische Hilfsmittel von einem Ort zum anderen zu versetzen. Der Gedanke daran verunsicherte ihn derart, daß er diesen Aspekt vorerst außer acht ließ. Die Frage war: Warum hatte sie der Aufenthalt im Leitungsgeflecht mit derart phantastischen Fähigkeiten gesegnet? Zugegeben, ein kurzes Verweilen im Netz hatte eine schwache Heilwirkung. Aber die Monteure, die ebenfalls nicht
unbedeutende Zeitspannen im Netz zugebracht hatten, hatten niemals etwas erfahren, was auch nur im entferntesten dem ähnelte, was mit Galina geschehen war. Ganz offensichtlich führte eine bestimmte Aufenthaltsdauer im Leitungsgeflecht dazu, daß der Geist seine normalen Beschränkungen überwand, einen Punkt erreichte, an dem das ganze Spektrum des brachliegenden Potentials voll aktiviert wurde. Die Monteure, die schon so viele Ent- und Rematerialisierungen hinter sich hatten, hatten sich einfach nicht lange genug ununterbrochen im Netz aufgehalten, um diese Vollaktivierung zu erreichen. Das hatte nur Galina Rosmanov. Aber wenn das wirklich der Grund war, dann war anzunehmen, daß dieses Stadium der geistigen Erweiterung, die Fähigkeit, sich ohne Technik zu teleportieren, jede Sprache zu sprechen, jede Wunde und Verletzung zu heilen, von jedem erreicht werden konnte, der nur entsprechend lange im Leitungsgeflecht verweilte. Was wäre das Endresultat einer solchen Entwicklung? Würde jeder, der über diese Macht verfügte, auch so abgeklärt und engelhaft werden, wie Galina Rosmanov geworden zu sein schien? War die Vergrößerung von Weisheit und Verständnis ein integraler Bestandteil einer solchen Veränderung? Würde sich die Menschheit, gäbe man ihr eine solche Allmacht, zu neuen Höhen emporschwingen, oder würde sie ins Chaos stürzen, weil Götter gegen Götter um die totale Kontrolle des Paradieses kämpften? Und in wessen Verantwortung sollte es liegen, die Existenz einer solch ungeheuren Kraft bekannt zu machen? In der der Brückengesellschaft? Der Vereinigten Staaten? Der Vereinten Nationen? Oder in der Sauls? Von der philosophischen Komplexität überwältigt, die diese Frage beinhaltete, wandte er seine Aufmerksamkeit einem
anderen Problem zu, das mehr praktischer Natur aber kaum weniger komplex war. Ihre Heilkraft und Engelhaftigkeit einmal beiseite gelassen, war es eine Tatsache, daß Galina Rosmanov eine Mörderin war. Ohne sie und ihr Gift wäre Herman Lindstrom noch am Leben. Aber welches Gefängnis konnte sie festhalten, wenn sie in der Lage war, sich selbst durch massive Wände zu transferieren? Gab es eine Grenze für ihre neuen Fähigkeiten? Vielleicht eine Substanz, die sie nicht zu durchdringen vermochte? Die Helden der Mythologie hatten alle ihre Schwächen gehabt, eine Stelle, an der sie verwundbar gewesen waren. Superman und sein Kryptonit. Achilles und seine Ferse. Waren auch die wirklich existierenden Supermenschen nicht perfekt? Und angenommen, ein Supermensch fand Gefallen daran, über die Welt zu herrschen. Gab es für die Normalsterblichen eine Möglichkeit, das zu verhindern? Das Knattern von Rotorblättern brachte Saul zurück in die Wirklichkeit. Ein Helikopter überflog seine Villa und setzte dann auf dem Betonlandefeld jenseits der Mauer, die sein Anwesen umgab, zur Landung an. Saul hatte das Haupttor gerade erreicht, als die Luke des Helikopters aufschwang und Michelle auf den Boden sprang. Sie trug eine hautenge, maßgeschneiderte Fliegerkombination, die trotz dieser Bezeichnung niemals dafür vorgesehen worden war, sich höher über den Erdboden zu erheben, als bis zur Bar auf dem Wolkenkratzer des Internationalen Handelszentrums. Sie duckte sich unter den Rotorblättern hinweg und trat an das Haupttor in der Umgrenzungsmauer heran. Ihre nervös umherscharrenden Füße wirbelten Staub auf, während sie darauf wartete, daß Saul das Schloß löste. »Willkommen in meinem bescheidenen Heim«, empfing Saul sie und vollführte eine übertrieben tiefe Verbeugung. »Hätte ich gewußt, daß uns die bestangezogene Dame der Welt mit
ihrer Anwesenheit beehrt, dann hätte ich natürlich das Silberbesteck herausgeholt.« »Anstatt des gewöhnlichen, von der Armee ausgemusterten Eßgeschirrs? Mir fehlen die Worte.« Sie trat an ihm vorbei in den Vorhof der Villa. »Ich habe nicht viel Zeit. Lassen wir also die Höflichkeitsfloskeln beiseite. Gib mir die Brücke, und ich verschwinde wieder.« Saul nickte. »Natürlich. Gern. Aber zuerst solltest du dir einmal ansehen, was aus Galina Rosmanov durch den ausgedehnten Aufenthalt im Leitungsgeflecht geworden ist.« Michelle hielt abrupt inne. » Einen Augenblick mal. Wenn du deine Schuldgefühle irgendwo abladen willst, dann geh zu einem Priester. Ich habe dir gesagt, was ihr passieren würde. Es ist deine eigene Schuld, wenn sie als eine Art Monster herausgekommen ist. Du hättest sie drinnen lassen sollen, so, wie ich gesagt habe.« »Aus den Augen, aus dem Sinn, nicht wahr? Deine Büroteppiche müssen bereits Beulen haben von all dem Dreck, den du im Laufe der Jahre daruntergekehrt hast.« Michelle sah demonstrativ auf ihre Uhr. »Ich habe heute noch eine wichtige Besprechung in Rio, und ich muß dazu auch noch einige Vorbereitungen treffen. Verschieben wir also den Austausch weiterer Nettigkeiten, ebenso wie die Monstervorführung. Gib mir die Brücke und laß mich gehen.« »Zuerst Galina Rosmanov, dann die Brücke. Das sind meine Bedingungen. Und in diesem Punkt lasse ich nicht mit mir reden.« Michelle stieß ihm mit solcher Gewalt mit dem Finger auf die Brust, als hätte sie in letzter Zeit drei Abende in der Wochen in einem exklusiven, europäischen Bodybuilding-Institut zugebracht. »Saul, du willst mich doch wohl nicht hintergehen, oder? Wir haben eine Abmachung getroffen. Willst du dich jetzt nicht mehr daran halten?«
»Du kriegst deine verdammte Brücke.« Saul schnappte sich ihre Hand und hielt sie als Geisel zwischen seinen eigenen fest. »Nachdem du Galina Rosmanov gesehen und mit ihr gesprochen hast.« Michelle versuchte, sich aus seinem Griff zu lösen. Vergeblich. Also nickte sie. »Na gut. Wie du willst. Führe sie vor, damit wir es hinter uns bringen.« Saul verlagerte seinen Griff zu ihrem Ellenbogen, führte sie die Treppen hinauf und klopfte an Galinas Tür. »Galina. Bist du wach? Hier ist jemand, den ich dir gern vorstellen würde.« »Komm herein, Saul.« Er öffnete die Tür. Galina Rosmanov saß in der halbdunklen, ihnen gegenüberliegenden Ecke des Zimmers, erhob sich jetzt und trat auf sie zu. »Galina«, sagte Saul. »Ich würde dich gern…« Saul registrierte einen kurzen Schwindel, als Galina in seinen Geist eindrang und flink den Informationsgehalt seiner Worte aufnahm. »Ja. Michelle Warren«, sagte Galina. »Präsidentin der Brückengesellschaft.« Sie hatte Fortschritte gemacht. Sie bewegte kaum noch die Lippen. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Wenn Michelle von Galinas offensichtlicher Unversehrtheit überrascht war, dann verbarg sie es gut. »Ich bin hocherfreut, daß wir Sie sicher aus dem Netz herausholen konnten«, entgegnete sie ohne jede Verlegenheit. »Besonders, weil ich zugeben muß, eine Ihrer größten Verehrerinnen zu sein. Geselle, letztes Jahr in Moskau. Eine wirklich brillante Vorstellung.« Mit gut verborgener Verblüffung musterte Michelle Galina mit der Gründlichkeit, mit der man die Requisiten eines Zauberkünstlers nach Geheimfächern und doppelten Böden absucht. Michelle registrierte, daß etwas Seltsames an Galina
war, in der Art, wie sie sprach, aber sie konnte nicht genau herausfinden, was es war. »Es freut mich, daß Ihnen mein Tanz gefällt.« Galina bedankte sich mit einem Knicks, der ausgesprochen anmutig war, trotz der Tatsache, daß sie eins von Sauls Überhemden trug, was sie wie ein teilweise demontiertes Zirkuszelt wirken ließ. Sie schlug den Kaftan zurück und setze sich mit überkreuzten Beinen auf das Bett. »Sie sind Sauls Arbeitgeber, nicht wahr?« Michelle betrachtete Galinas Lippen und versuchte herauszufinden, ob ihr die Schatten einen Streich spielten, oder ob tatsächlich zutraf, was sie sah. »Wie? Oh ja, da haben Sie recht. Saul und ich haben eng zusammengearbeitet, um Sie zu befreien. Ich bin überglücklich, daß unsere Bemühungen von Erfolg gekrönt waren.« Graziös legte Galina den Kopf auf die Seite. »Ich kann Ihren Versuch, die Rolle, die Sie während meiner Befeiung spielten, mir gegenüber falsch darzustellen, gut verstehen, aber Sie sollten wissen, daß ich über den wirklichen Sachverhalt durchaus unterrichtet bin.« Ihre Stimme war ohne jeden Groll. Sie hätte genausogut über das Wetter am vorangegangenen Tag sprechen können. »Ich weiß sehr wohl, daß ich, wäre es nach Ihnen gegangen, für immer im Netz geblieben wäre.« Michelle warf Saul einen scharfen Blick zu. »Das hast du ihr erzählt«, kam es zischend aus ihrem Mundwinkel. »Nein, ganz bestimmt nicht. Ich schwöre es. Nicht ein Wort.« »Woher weiß sie es dann?« »Keine Ahnung. Vielleicht ist sie ein Medium«, entgegnete Saul grinsend. Michelles völlig untypische Verwirrung amüsierte ihn köstlich. Michelle interpretierte Galinas offensichtlichen Mangel an Rachlust als ein hinterlistige Taktik, ihr doch noch eines auszuwischen. Jedenfalls wurden Auseinandersetzungen in
Michelles Kreisen genau auf solche Weise ausgetragen. Niemals jemandem die Pistole auf die Brust setzen. Besser das Messer in den Rücken rammen. »Es tut mir schrecklich leid, daß ich eine solche Haltung einnehmen mußte.« Sie hatte sich eine Erklärung zurechtgelegt, von der sie annahm, daß Galina sie am leichtesten schlucken würde. »Aber Sie müssen wissen, daß viele prominente Wissenschaftler mich davon überzeugt haben, daß Sie das Netz auf deinen Fall unbeeinträchtigt verlassen würden. Ich habe nur so gehandelt, wie ich wünschte, daß man auch in meinem Fall handeln würde. Besser, schnell und schmerzlos zu sterben, als den Rest des Lebens als Monstrum verbringen zu müssen.« »Wenn es sich so verhielte, dann wäre es eine sehr menschliche Geste von Ihnen gewesen«, entgegnete Galina mit dem entzückenden Liebreiz eines Mädchens, das den Geschmack der Praline beschreibt, die es gerade im Mund hat. »Aber Sie übersehen geflissentlich den eher eigennützigen Aspekt Ihrer Handlungsweise.« Michelle antwortete nicht. Nicht, weil sie nicht eine passende Erwiderung gehabt hätte. Niemand konnte sich schneller passende Lügen zurechtlegen als sie. Nein, sie gab deswegen keine Antwort, weil sie endlich herausgefunden hatte, in welcher seltsamen Art und Weise Galina zu ihr sprach. »Saul«, flüsterte sie, »sie bewegt nicht die Lippen, wenn sie redet. Was hat das zu bedeuten? Wollt ihr mich auf den Arm nehmen?« »Ganz im Gegenteil, Michelle«, gab Saul zurück. »Es ist noch nicht einmal alles.« Dann wandte er sich direkt an Galina. »Ich habe den tragbaren, drahtlosen Transporter unten auf dem Eßzimmertisch liegenlassen. Würdest du so nett sein, und ihn Michelle bringen?«
»Natürlich.« Galina warf Saul ein konspiratives Lächeln zu und verschwand. Kaum fünfzehn Sekunden später erschien sie wieder mit dem Transporter im Arm. Sie reichte ihn Michelle. Der klappte die Kinnlade herunter und ihre strahlend weißen Zähne wirkten wie Knochen, die aus einer offenen Wunde ragten. Ein Stöhnen entrang sich ihrer Kehle. Sie war so perplex, daß sie den Transporter, für den sie so schwer gearbeitet hatte, beinah auf den Boden fallengelassen hätte. »Es war mir ein wirkliches Vergnügen, sie kennengelernt zu haben«, sagte Galina ruhig, als hätte sie Michelle nur bewiesen, daß sie häkeln könne. »Wenn Sie mich nun entschuldigen wollen. Ich möchte mich noch ein wenig hinlegen. Ich bin noch immer ziemlich erschöpft.« Sie küßte Saul flüchtig auf die Wange. Michelle schien weder sprechen noch sich bewegen zu können, so daß Saul sie am Arm ergreifen und aus dem Zimmer führen mußte, was kein leichtes Unterfangen war, da sie immer noch fassungslos über die Schulter starrte, als würde sie von einem sich immer mehr erweiterndem Riß in ihrer Vorstellung von der Wirklichkeit verfolgt. »Michelle«, rief ihnen Galina von der Türschwelle freundlich nach. »Schlagen Sie es sich aus dem Kopf, mich in Ihr Labor zu bringen, um mich dort untersuchen zu lassen. Ich bin kein hilfloser Frosch, den man aufschneiden und sezieren kann.« Irgendwie brachte es Michelle zustande, tugendhafte Empörung zu zeigen. »Aber daran habe ich doch überhaupt nicht…« »Ich weiß sehr genau, was Sie gedacht haben. Sie hatten vor, mich darum zu bitten. Und falls ich ablehnte, wollten Sie mich zwingen.« Michelle wollte widersprechen, doch Galina unterbrach sie bereits im Ansatz. »Bitte versuchen Sie nicht, es zu leugnen. Akzeptieren Sie nur die Tatsache, daß ich mich zu einer
solchen Untersuchung nicht bereit erkläre. Und daß Sie nicht die Möglichkeit haben, mich dazu zu zwingen. Absolut keine Möglichkeit.« Gelassen lächelnd schloß sie die Tür.
XXV
Michelle nahm eine Ausgabe von Sports Illustrated vom Teetisch und fächerte sich damit Luft zu wie eine viktorianische Matrone, die dadurch der Ohnmacht zu entgehen hofft. Neben ihr, völlig unbeachtet, lag der tragbare, drahtlose Transporter. »Wenn ich das eben nicht mit meinen eigenen Augen gesehen hätte«, brachte sie hervor. Sie blickte hinauf, auf die Tür von Galinas Zimmer, dann neben sich, zu ihrem Transporter. Mit umständlichen Bewegungen rollte sie das Magazin zusammen und schlug damit in ihre andere Hand. »›Sehen ist glauben‹ sagt man zwar, aber ich werden bei dieser ganzen Sache trotzdem das Gefühl nicht los, daß das alles nur ein sorgfältig geplantes Unternehmen ist, mit dem Ziel, mir den Transporter abzujagen.« Saul genehmigte sich einen Drink. »Das ist die Michelle, die ich kenne. Du vermutest selbst noch Blech unter dem echten Silberglanz des besten Eßbestecks.« Mit dem Glas in der Hand prostete er ihr zu. »Ich gebe dir mein Ehrenwort – wenn es dir vielleicht auch nicht viel wert ist –, das, was du gesehen hast, war kein Trick. Galina Rosmanov kann Gedanken lesen, sich ohne technische Ausrüstung transferieren, und sie kann auch noch etwas, von dem du nichts gesehen hast. Sie kann Verletzungen und Wunden heilen.« »Unglaublich.« Michelle führte ihre improvisierte Waffe an die Lippen, wie ein Priester, der seinen Rosenkranz küßt, um den Teufel zu vertreiben. »Hast du auch nur die geringste Vorstellung darüber, zu was eine solche Kraft führen kann? Stell dir Bankräuber vor, die ungehindert in die bestgesicherten Tresore hinein- und wieder hinausmarschieren. Kidnapper, die
mit ihren hilflosen Opfern Gott weiß wohin huschen können. Keine Privatsphäre mehr, weder physisch noch psychisch. Und stell dir bloß einmal vor, daß es keinerlei Beschränkungen für die Entfernungen gibt, die man auf diese Weise zurücklegen kann. Dann ist die Erde plötzlich leer und verlassen.« Saul konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. »Und was das erst für deine Gewinn-und-Verlust-Rechnung im nächsten Jahr bedeutet…« Sie ignorierte seine Spitze, stand auf und trat auf den Treppenaufgang zu. »Wir müssen handeln, solange wir überhaupt noch eine Chance haben.« Sie trat mit einem Fuß auf die oberste Stufe, bereit, hinaufzustürmen, die Tür zu Galinas Zimmer aufzubrechen und ein für alle Mal zu verhindern, daß sich Galina in die Angelegenheiten von Menschen einmischen konnte. »Zuerst einmal müssen wir sofort die nötigen Sicherheitsmaßnahmen in die Wege leiten, um zu verhindern, daß sich so etwas noch einmal wiederholen kann, ob nun zufällig oder absichtlich. Wer immer auch von nun an im Netz verschwindet, er wird für immer dort bleiben. Es wird nie wieder einen Saul Lukas geben, der diese Menschen der Umarmung der Ewigkeit entreißt. Von nun an trennen sich unsere Wege, mein lieber Saul.« Saul packte sie an der Schulter und wollte sie herumdrehen, damit er ihr ins Gesicht sehen konnte. Genausogut hätte er auch versuchen können, einen in einem Betonblock verankerten Eichenpfahl zu bewegen. »Du siehst die ganze Sache wieder einmal viel zu einseitig. Wenn jeder einzelne Mensch auf der Welt Galinas Kraft besäße, dann glaube ich nicht, daß das Ergebnis so düster wäre, wie du gerade behauptet hast. Du hast das Mädchen gesehen. Sie ist fast eine Heilige. Sie ist so untadelig und rein, wie man nur sein kann. Du denkst an Diebe. Mörder. Kidnapper. Spanner. Ich glaube
nicht, daß Galina so etwas im Sinn hat, und ich glaube weiter, daß das für jeden zutreffen würde, der so wäre wie sie.« »Und wenn du dich irrst? Was dann? Angenommen, sie ist nicht die Heilige Jungfrau, die sie zu sein scheint. Angenommen, sie hat bereits gelernt, ihr wahres Ich vor uns zu verbergen, uns an der Nase herumzuführen. Denk daran, daß du sie nicht mehr mit menschlichen Maßstäben beurteilen kannst. Sie steht so hoch über uns wie wir über Küchenschaben.« Saul drehte ihr den Rücken zu und trat von ihr fort. »Ich hasse solche Gespräche. Ich hasse sie über alles. Ich kenne dich schon viel zu lange, Herzchen, um nicht zu wissen, auf was du hinauswillst.« Michelle wirbelte herum, folgte ihm und blieb vor ihm stehen, so daß er die Entschlossenheit in ihren Augen sehen konnte. »Es gibt keine Alternative, Saul. Wir müssen sie töten. Wie lange, glaubst du, wird es wohl dauern, bis sie herausgefunden hat, daß sie alles haben kann, was diese Welt zu bieten hat? Alles. Geld, Macht, Anerkennung.« »All das, was bisher den oberen Zehntausend vorbehalten war, dich eingeschlossen.« »Darum geht es nicht. Dieses Mädchen ist eine Gefahr. Wenn sie vom Mars gekommen wäre, in einem Raumschiff, das mit Laserkanonen bespickt ist, dann würdest du nicht eine Sekunde zögern, sie umzublasen. Aber da sie niedlich und anmutig ist, hübsche blaue Augen hat…« »Grün. Ihre Augen sind grün. Und sie sind sogar wunderhübsch.« »…schirmst du sie ab und beschützt sie und gibst ihr die Möglichkeit, ihre Kraft voll auszubilden, so stark zu werden, daß wir uns nicht mehr gegen sie erwehren können, niemals wieder. Siehst du das nicht ein? Wir müssen sofort handeln. Jetzt, weil wir jetzt noch eine Chance haben.«
Saul setzte sich, stützte sich auf beide Arme, wie ein Vogel, der bereit war, hinaufzuflattern, um den Fängen des sich heranschleichenden Schakals zu entgehen. »Du kannst nichts anderes als Feuer spucken, nicht wahr? Aber bei allem hast du eine sehr reale Möglichkeit übersehen. Anstatt die Invasion der Erde vorzubereiten, könnte Galina Rosmanov auch der Erlöser der Menschheit sein. Ich kann nicht für dich sprechen, aber ich will auf deinen Fall als der zweite Mensch in die Geschichte eingehen, der einen Messias ans Kreuz genagelt hat.« »Himmel, Saul, du sprichst nicht von einem Heiland. Du sprichst über das Mädchen, das deinen besten Freund umgebracht hat.« Ein wenig schwerfällig, als wären sie gefühllos, krümmte sie ihre manikürten Finger und bildete mit der Hand eine Faust. »Ich werde es tun, Saul, und du kannst mich nicht aufhalten. Wenn nötig, mobilisiere ich eine Armee mit genug Feuerkraft, um diese Villa und alles, was sie enthält, dem Erdboden gleichzumachen.« »Tolle Idee. Und während du draußen herumschleichst und Alexander der Große spielst, versetzt sich Galina nach Buenos Aires oder Port-au-Prince oder irgendeinen anderen Ort. Denk daran, daß Galina Gedanken Lesen kann. Es gibt keine Möglichkeit, dieses Mädchen zu überraschen. Sie kennt deine Pläne in dem Augenblick, in dem du sie entwickelst.« »Ich werde einen Weg finden, Saul. Sie kann nicht unbesiegbar sein. Sie muß einen wunden Punkt haben. Den werde ich finden und dazu benutzen, sie auszulöschen.« »Viel Glück, Herzchen. Aber ich glaube, du bist auf dem falschen Dampfer. Galina Rosmanov ist hier, unter meinem Schutz. Und ich persönlich teile deine Auffassung nicht. Ich glaube, die Welt wird durch ihr Wirken ein bißchen besser werden.« »Und ich glaube, du unterliegst einem tödlichen Irrtum.«
»Du darfst ruhig anderer Meinung sein, schließlich ist dies immer noch ein freies Land.« »Aber vielleicht nicht mehr lange.« Plötzlich vernahmen sie das Knattern eines sich nähernden Helikopters. Es war nicht die kleine, zweisitzige Ausführung, mit der Michelle gekommen war, sondern der große Typ, mit dem Bauunternehmen schwere Lasten zum obersten Stock von Wolkenkratzern beförderten. »Wer, glaubst du, könnte das sein?« fragte Saul, während er sah, wie die Maschine über die Villa hinwegflog. In der geöffneten Schiebetür im Bauch des Helikopters hatten sich etwa fünfzehn Personen zusammengedrängt. »Die Presse«, sagte er. »Es müssen Pressefritzen sein. Um Galina zu interviewen.« »Das können wir nicht zulassen, Saul.« Plötzlich hatte sie eine Pistole in der Hand, so klein, daß sie wie ein Spielzeug wirkte. »Wir können nicht zulassen, daß die Außenwelt erfährt, was mit ihr geschehen ist.« Saul brach fast in schallendes Gelächter aus, als Michelle ihre winzige Waffe mit beiden Händen umklammerte. »Warte einen Augenblick«, schlug er vor. »Ich hole nur gerade meinen Plastikrevolver, dann können wir auf den Rasen hinaus und uns für die Abendnachrichten duellieren.« Michelle stand mit dem Rücken zum Fenster. Über ihre Schulter blickend sah Saul, wie der Helikopter landete. Keine fünfzehn Sekunden später flogen ein gutes Dutzend Enterhaken über die Mauer. Zugegeben, Reporter waren manchmal etwas übereifrig, aber… Dann sah er den ersten Kletterer, der von der Mauer in den Vorhof sprang. Das war bestimmt kein Reporter. Zumindest hatte er noch nie von Reportern gehört, die ihre Nachrichten mit Hilfe von Maschinenpistolen sammelten. »Michelle«, sagte er langsam.
»Die Kerle sind keine Reporter. Die sehen eher wie Soldaten aus.« Michelle lächelte gezwungen. »Ich hätte eigentlich etwas Originelleres von dir erwartet. Aber ausgerechnet dieser ›Da!Hinter-Ihnen‹!-Trick. Das hat doch schon einen Bart.« Eine Maschinenpistole bellte auf, als einer der Männer mit einer Salve die Reifen des Jeeps zerstörte, den Saul in der Zufahrt geparkt hatte. Als Michelle sich umdrehte, um aus dem Fenster zu blicken, riß Saul ihr die Waffe aus der Hand. Sie nahm den Verlust nicht einmal zur Kenntnis. »Mein Gott«, kam es von ihren Lippen, als sie den Kommandotrupp sah, der auf die Villa zustürmte. »Was sind das für Kerle?« »Keine blasse Ahnung. Russen vielleicht. Oder Israelis.« Saul deutete auf die tragbare, drahtlose Brücke. »Wir haben hier eine verdammt begehrte Ware bei uns. Ich schätze, es gibt eine ganze Reihe von Gruppen, die uns das Ding liebend gern abnehmen würden.« Er schob sie auf die Tür zu. »Schnell. In den Keller. Ich bringe dich und das Gerät mit meinem Privattransporter in Sicherheit.« Aber als Saul den Transporter sah, wußte er im gleichen Augenblick, daß nichts mehr zu machen war. Selbst bei einer Bereitschaftsschaltung funkelten auf den Kontrollpulten mehr Lichter als an einem Weihnachtsbaum. Jetzt war alles dunkel. Jede Anzeige. Ohne Energie. Und das war einfach unmöglich. Die privaten Transporter waren, nicht zuletzt aufgrund der hochrangigen Personen, die sie zu befördern hatten, die sichersten im ganzen Netz. Jeder Schaltkreis war dreifach gesichert. Auch die Sicherheitskreise. Die Transmissionskabel waren in neunzig Zentimeter durchmessendem, massiven Beton eingelagert, an dem sich Saboteure die Zähne ausbeißen konnten. Oh, für diese offensichtliche Fehlfunktion würde ein
Kopf rollen. Vorausgesetzt natürlich, daß der Kommandotrupp einen Überlebenden zurückließ, der davon berichten konnte. Dann dämmerte es ihm, daß trotz allem noch ein Lichtblick existierte. Es gab jemanden in seiner Villa, der es leicht schaffen konnte, Hilfe herbeizuholen. Er rannte zurück. »Galina!« schrie er ins Treppenhaus. »Galina, wir…« Ein harter Schlag traf seinen verlängerten Rücken. Er stürzte auf den Boden, rollte sich herum, um seinen Widersacher erkennen zu können. Mary Hemke stand über ihm, mit einem gemeinen Lächeln auf den Lippen. Wie Michelle trug auch sie eine Fliegerkombination. Aber ihre war mit Öl bespritzt. Und ein kastanienbrauner Fleck, den Saul für geronnenes Blut hielt, umgab ein kleines Loch im Oberarm. Damit konnte sie sich jedenfalls auf keiner Party sehen lassen. »Ich vermute, das hier bedeutet, daß ich meinen ZehnMillionen-Dollar-Finderlohn nicht bekommen werde, was?« sagte Saul. »Eine durchaus logische Annahme«, antwortete Mary Hemke. Sie zielte mit dem Lauf der Maschinenpistole auf seinen Kopf. Saul gab alle Gedanken an Widerstand auf. Die Erfolgsaussichten schienen ihm weniger als gering zu sein. »Sie finden die Brücke im Keller beim Transporter«, sagte er hastig. »Und wo wir gerade dabei sind: Wie haben Sie das Ding lahmgelegt?« »Durch Magie«, sagte Mary und gab einem ihrer Männer mit einem Schlenker der Waffen den Befehl, in den Keller zu gehen. Kurz darauf kehrte der Mann zurück, mit der tragbaren drahtlosen Brücke unter dem einen und Michelle unter dem anderen Arm. »Nein!« kreischte Michelle. »Das könnt ihr nicht kriegen. Ihr versteht nicht. Die Öffentlichkeit darf nichts davon erfahren.«
»Wenn sie noch ein einziges Wort sagt«, wies Mary einen ihrer Männer an, »dann legt sie um.« Mary nahm ihrem Soldaten den tragbaren, drahtlosen Transporter ab und wog ihn in der Hand. »Hm, das ist der kleine Teufel also.« Sie streichelte ihn mit einer Hand. »Okay«, sagte sie ihren Leuten. »Dann wollen wir mal wieder.« Ihre Genossen stürzten zur Eingangstür. Michelle und Saul genau beobachtend, folgte Mary ihnen. Sie hatte einen Fuß gerade auf die oberste Stufe der Treppe gesetzt, die auf den Vorhof führte, als sich oben Galinas Tür öffnete und die Ballerina auf den Treppenabsatz trat. »Saul!« rief sie hinunter. »Etwas nicht in Ordnung?« »Wartet einen Augenblick«, wies Mary ihre Männer an und kehrte in die Villa zurück. »Wenn das nicht Galina Rosmanov ist…« Es war nur rhetorisch gemeint. »Komm runter, Süße.« Mit ihrer Maschinenpistole verlieh sie ihren Worten den nötigen Nachdruck. Zögernd folgte Galina der Aufforderung. »Komm schon, beeil dich, Mädchen.« Ungeduldig deutete Mary auf die offenstehende Tür. »Du kommst mit uns.« »Was können Sie schon mit ihr anfangen?« fragte Saul. »Sie kann uns das Geld beschaffen, das wir brauchen, um diese Brücke in die Serienproduktion gehen zu lassen. Ich habe so eine Ahnung, daß die Russen eine ganze Menge bezahlen werden, um eine solche Berühmtheit zurückzubekommen. Nun komm schon, Süße.« Sie stieß Galina mit dem Lauf der Maschinenpistole in die Seite. »Beweg dich.« »Ich habe nicht die Absicht, Sie zu begleiten«, sagte Galina. »Meinst du wirklich, du hättest die Wahl?« Sie schlug mit der Hand auf Galinas verlängerten Rücken, trieb sie dadurch auf die Tür zu. »Es war mir ein Vergnügen, mit Ihnen Geschäfte zu machen«, sagte sie zum Abschied.
Plötzlich, ohne Vorankündigung, griff sich Mary an die Kehle, zuerst nur mit einer Hand, dann, nachdem sie die Waffe fallengelassen hatte, auch mit der anderen. Ihr Gesicht lief rot an, sie sank auf die Knie, keuchte. Saul rannte zu ihr. Er sah, daß es ihren Männern nicht anders erging. Auch sie wälzten sich auf dem Boden umher, ihre Hälse umklammernd, nach Luft schnappend. Galina stand auf der untersten Stufe, mit geschlossenen Augen und zusammengepreßten Lippen, wie ein Kind, das in einem Alptraum gefangen war. »Das reicht!« rief Saul ihr zu. »Hör auf.« Er umfaßte Mary Hemkes Arm, um nach ihrem Pulsschlag zu fühlen. Er flatterte und versiegte dann von einer Sekunde zur anderen. Saul ließ den leblosen Arm der Frau wieder sinken und erhob sich. »Mein Gott«, wandte er sich an Michelle. »Sie ist tot.« »Sie wollten mir wehtun«, sagte Galina und lief Saul hinterher, der wieder ins Haus getreten war. »Ich habe es in ihren Gedanken gelesen. Das hat mich erschreckt, mir die Kontrolle über meine…Kraft geraubt.« Tränen rollten ihre Wangen hinunter. »Ich wollte ihnen nicht wehtun. Ich will niemandem wehtun, niemals wieder.« Sie drehte sich um, rannte die Stufen hinauf und schloß sich in ihrem Zimmer ein. »Na, was hältst du nun von der Harmlosigkeit dieser kleinen Prinzessin?« erkundigte sich Michelle, während sie die auf dem Vorhof verstreut liegenden Körper betrachtete. »Du hast es ja gehört. Ein Unfall.« »War es das? War es wirklich ein Unfall?« Michelle nahm die tragbare, drahtlose Brücke an sich und überprüfte sie sorgfältig auf mögliche Beschädigungen.
XXVI
Michelle handelte ohne Umschweife. Kaum eine Stunde später brachte noch ein Helikopter eine Gruppe von Männern zu Sauls Villa. Keine Uniformen, keine Insignien. Selbst eine sorgfältige Leibesvisitation hatte nicht einmal so viel wie einen Busfahrschein zutage gefördert. Sie unterhielten sich in einer Mixtur aus Deutsch, Französisch und Englisch, die Sprachen der Söldner, die so gleichgültig in den Krieg zogen, wie andere Menschen morgens ins Büro fuhren. Ohne jede Nervosität, als hätten sie so etwas schon unzählige Male zuvor erledigt, sammelten die Männer die Leichen ein – es stellte sich heraus, daß es insgesamt achtzehn waren – und stopften sie in Leinenbeutel, die sie ordentlich im Innern des Helikopters verstauten. Als sie fertig waren, starteten sie in Richtung der Sammelstation, die die Brückengesellschaft, nur fünfzehn Kilometer entfernt, in Oaxa, unterhielt. Michelle begleitete sie, natürlich nicht ohne die tragbare, drahtlose Brücke. Kurze Zeit später hörte Saul den Bericht eines lokalen Radiosenders, nach dem achtzehn Mitglieder der EVW, einschließlich der berüchtigten Stadtguerilla Mary Hemke, bei einem Helikopterabsturz am Stadtrand von Havanna umgekommen waren. Der Sprecher erwähnte weder die Brückengesellschaft noch Galina Rosmanov. Auch von einer tragbaren, drahtlosen Brücke war nicht die Rede. Saul schaltete das Radio aus, marschierte in die Küche, wobei er über Kabel und Instrumente hinwegsteigen mußte, mit denen Techniker der Brückengesellschaft seinen privaten Transporter zu reparieren gedachten. Mit einer Laserkanone,
die vor einigen Monaten aus einem Munitionslager der Armee in Duluth, Minnesota, gestohlen worden war, hatten Mary Hemkes Leute die Betonabschirmung überwunden und die Haupt- sowie auch die Reserve-Transmissionsleitungen zerstört. Eine vollständige Wiederherstellung würde einige Tage in Anspruch nehmen. Für die Zwischenzeit wollten die Techniker den Transporter mit einer nicht abgeschirmten, im Boden verlegten Transferierungsleitung verbinden. Diese Arbeiten waren schon fast beendet, und sie waren bereits dabei, die Instrumente neu zu justieren. Wenn sie fertig waren, würde ein Monteur einen letzten, inneren Check durchführen. Bis dahin würden aber noch einige Stunden, wenn nicht ein ganzer Tag, vergehen. Das kam ganz darauf an, wie problemlos die Eichung vor sich ging. Damit Saul während dieser Zeit nicht an einen Ort gefesselt war, hatte die Brückengesellschaft ihm mehrere Helikopter zur Verfügung gestellt, die auf dem Landefeld auf ihn warteten. Wenn er sich irgendwohin abstrahlen lassen wollte, dann konnte ihn eine der Maschinen schnell zur Oaxa-Sammelstation bringen. Von dort aus konnte er schnell jeden Ort der Erde erreichen. Nach den unzähligen Transferierungen der vergangenen Tage war er allerdings durchaus damit zufrieden, wenn er sich für eine Weile nur an einem Ort aufhalten mußte. Er durchstöberte den Kühlschrank, fand die notwendigen Zutaten für ein ordentliches Schinkenbrot, das für Galina gedacht war. Er klopfte an ihre Tür. »Komm herein, Saul«, sagte sie. Sie saß auf dem Boden, inmitten mehrerer Stapel von Magazinen mit Geschichten, »Wie das Leben sie schrieb«. Einer der Techniker hatte ihr die russischsprachigen Ausgaben besorgt. »Ich dachte, du hättest vielleicht Hunger.«
»Sehr aufmerksam von dir«, antwortete sie, »aber ich habe keinen Appetit.« Sie blätterte weiter, auf der vergeblichen Suche nach einer Story mit Happyend. »Möchtest du dich aussprechen?« erkundigte sich Saul. Galina nickte, eine Bewegung, die neue Tränenströme über die Wangen rinnen ließ. »Ich wußte nicht, was ich tat. Ich habe nicht gewußt, daß die Kraft in mir auch so destruktiv sein kann. Bis zu diesem schrecklichen Augenblick habe ich immer gedacht, sie sei ausschließlich positiv, etwas, das man nur einsetzen kann, um Gutes zu tun. Ich schwöre dir, Saul, ich will eher sterben, als noch einmal so etwas Entsetzliches zu tun.« Saul nahm sein Taschentuch und wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht. »Ich glaube dir. Aber leider gibt es auch Menschen, die das nicht tun.« »Michelle Warren«, sagte sie. »Ja, ich weiß Ich habe es in ihren Gedanken gelesen.« Mit einem Finger beschrieb sie eine Linie, die von einem Ohr über den Hals bis zum anderen Ohr reichte, eine Schlinge andeutend, die sie erdrosselte. »Sie will mich umbringen. Gerade in diesem Augenblick berät sie sich mit ihren Rechtsanwälten darüber, ob es eine Möglichkeit gibt, mich aufgrund des Mordes an Herman Lindstrom an den Galgen zu bringen.« Saul studierte ihr Gesicht mit der gleichen Intensität, mit der ein Juwelier einen ihm angebotenen Diamanten nach Flecken absuchte. »Du hast nicht die Absicht, einen Präventivschlag zu führen? Sie zu erledigen, bevor sie dich erledigt?« Galina schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Ganz bestimmt nicht! Glaub mir, ich finde diesen Teil meines Ichs abstoßend. Ich werde ihm nie wieder erlauben, mich zu beherrschen, und sei es auch nur für den Bruchteil einer Sekunde. Nein, ich kann mich auf andere Art und Weise vor ihr schützen. Ich werde ihre Gedanken überwachen, so wie jetzt, und kann dadurch
allem entgehen, was sie gegen mich im Schilde führt. Es wird mich ungeheuer viel Kraft kosten, aber, zumindest was die nähere Zukunft betrifft, gibt es deine Alternative. Sie ist eine Frau mit einem ausgesprochen ausgeprägten Willen, aber sie weiß auch, was sie durchsetzen kann und was nicht. Wenn sie dann endlich merkt, daß ich nicht die Absicht habe, etwas gegen sie oder ihr wirtschaftliches Imperium zu unternehmen, dann wird sie mich vergessen und sich wieder anderen Dingen zuwenden.« »Und was willst du machen, wenn es soweit ist?« »Ich weiß nicht.« Sei verankerte ihre Hand in der seinen. »Ich dachte, vielleicht könntest du mir bei dieser Entscheidung helfen. Ich möchte meine Talente in der bestmöglichen Art und Weise einsetzen, aber ich weiß nicht genau, was das Beste ist.« Sie hob die andere Hand, als flattere die Lösung für ihr Problem durch die Luft, und als müsse sie sie nur einfangen. »Vielleicht sollte ich es so machen, wie die Helden in euren Comics. Mir eine Tarnidentität zulegen. Meinen Beruf, das Tanzen, nur als Plattform benutzen, von der aus ich den Kampf gegen die Kriminalität und für Gerechtigkeit aufnehme.« Sie legte die Hände wie eine Maske vors Gesicht. »Ob mir schwarze Maske und Umhang wohl stehen?« Saul schüttelte den Kopf und lachte. »Darin sähst du nur wie ein zu groß geratener Schmetterling aus.« Sie preßte sich Sauls Taschentuch in die Augenwinkel, um einem neuen Tränenstrom zuvorzukommen. »Bitte hör nicht auf. Ich meine es wirklich ernst. Es ist wirklich ein Problem für mich, zu entscheiden, wie ich meine Talente am nutzbringendsten anwende.« Saul kniete sich neben ihr nieder und nahm sie in die Arme. Sie schien wie geschlafen dafür zu sein. »Hab Geduld, Galina. Diese ganze Angelegenheit ist och viel zu neu, als daß du sie schon jetzt bewältigen könntest. Ich habe so ne Ahnung, daß
dich die ganze Sache nach einer gewissen Zeit nicht mehr so mitnehmen wird, daß dir dann ganz von selbst klar wird, welchen Weg du beschreiten mußt. Du wirst das tun, was du für richtig hältst. Ich zweifle nicht daran.« Sie warf die Arme um seinen Nacken und küßte ihn. »Ich weiß nicht, was ich ohne dich machen würde. Für das, was ich deinem Freund angetan habe, solltest du mich verachten. Statt dessen gibst du mir die Kraft, mit der ich mein Selbstvertrauen wiederfinden kann, ohne das ich nicht überleben könnte.« Er war davon überzeugt, daß die Galina, die er in seinen Armen hielt, nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit der Galina hatte, die vor Tagen in Mexico City auf die Transmissionsreise gegangen war. »Ich bin genau der gleichen Meinung«, sagte sie, als sie seine Gedanken gelesen hatte. »Ich bin ein völlig anderer Mensch, ein besserer Mensch. Aber davon bist nur du überzeugt.« Er blickte ihr tief in die Augen, und er sah darin eine bessere Zukunft der Welt. »Mit der Zeit werden das auch die anderen einsehen. Auch Michelle.« Sie kuschelte sich an ihn, wie ein Tier, das sich in seinem Bau zusammenrollt, um der schneidenden Kälte des Winters zu entgehen. »Ich hoffe von ganzem Herzen, daß du recht hast.«
XXVII
Mit dem Enthusiasmus eines Mannes, der auf seinen Galgen zuschreitet, stieg Saul die Marmorstufen des Moskauer Palastes für Schöne Künste empor. Er hatte nur deshalb zugestimmt, sich der doppelten Qual von klassischer Musik und eines Smokings auszusetzen, weil dies der erste öffentliche Auftritt Galinas nach der Rettung aus dem Leitungsgeflecht war und sie ihn ausdrücklich gebeten hatte, zu kommen. Im Foyer sah er die goldene Büste Lenins. Hier wollte er Rosie treffen. Er lehnte sich gegen Lenins Schulter und betrachtete die vorbeiziehende Parade aufgedonnerter Haartrachten, manikürter Fingernägel, maßgeschneiderter Abendanzüge und bis zum Boden reichender Pelzmäntel. Die Dekoration eines Kaufhausfensters, die sich selbständig gemacht hatte. Eine der eher hübschen, lebendig gewordenen Schaufensterpuppen löste sich von einer sich leise unterhaltenden Gruppe und trat auf ihn zu. Es war Michelle. Sie trug ein grünes Abendkleid, das ihren Körper wie eine zweite Haut bedeckte. Als Saul sie betrachtete, hatte er plötzlich das Gefühl, in einer Rakete den Sternen entgegenzurasen. Dann begann sie zu sprechen. Die Rakete stürzte zur Erde zurück und zerschellte. »Entschuldigen Sie, mein Herr«, sagte sie. »Aber ich fürchte, Sie haben sich in der Adresse geirrt. Die Oben-ohne-Bar ist zwei Blocks weiter.« Saul hakte die Daumen hinter die Hosenträger und nahm die Pose eines größenwahnsinnigen Landstreichers an. »Nee, ick
bin hier schon janz richtich. – Das gehört alles zu meinem neuen Image. Von heute an bin ich ein hundertprozentiger Theaterfreak.« Er wollte in die Tasche greifen, in der er normalerweise seine Zigaretten aufbewahrte, ertastete jedoch nur einige Absteppfäden. In den neuen Smokings befanden sich keine Taschen mehr. Der Verleiher hatte ihm gesagt, daß er nur die Wahl hatte, entweder den ganzen Abend aufs Rauchen zu verzichten, oder aber eine Handtasche zu fragen. Und genau das war auch der Grund, warum er Rosie und ihre größte Handtasche eingeladen hatte, mit ihm die Vorstellung zu besuchen. »Eigentlich habe ich nicht damit gerechnet, dich hier zu treffen«, gab er Michelle gegenüber zu. Kokett streichelte sie ihn mit ihrer Federboa unter dem Kinn. »Aber Schätzchen, ich hätte es um nichts in der Welt versäumen wollen. Wann bekommt unsereins denn schon einmal eine lebende Legende zu Gesicht, die zudem auch noch von den Toten wiedererweckt worden ist.« Sie wickelte ihre Boa um den einen und ihre männliche Begleitung – den Sekretär – um den anderen Arm. »Ich muß sagen«, gab Saul ungern zu, »daß du in Sachen Galina mehr Zurückhaltung an den Tag gelegt hast, als ich jemals erwartet hätte.« Während der vier Monate, die Galina in Sauls Villa verbracht hatte, waren sie von Michelle nicht im geringsten gestört worden. Aus Michelles Gedanken hatte Galina entnommen, daß sich Michelle zu einer abwartenden Haltung entschlossen hatte. Solange, wie sich Galina zurückhielt, solange würde Michelle auch nichts gegen sie unternehmen. Und das genau hatte Galina getan. Sich zurückgehalten. Einige Teilbereiche von Galinas neuer Persönlichkeit waren natürlich nicht zu verbergen. Ihre auffallend ausgleichende Wirkung auf das emotionale Wirrwarr anderer Menschen, ihre äußere Ruhe, ihre innere Ausgeglichenheit.
Aber die bedeutendsten Veränderungen hatte sie verheimlichen können. Im zweiten Monat nach ihrer Rückkehr aus dem Leitungsgeflecht war sie zum Kirov-Ballett zurückgekehrt. Saul hatte sie zu den Proben begleitet und beobachtete, wie sie sich auf ihr Comeback vorbereitete. Aus den Bemerkungen ihrer Kollegen hatte Saul entnommen, daß sich ihre Tanzkunst ebenso radikal verändert hatte wie ihre Persönlichkeit. Ursprünglich war sie aufgrund ihrer vorzüglichen technischen Kunstfertigkeit zu Ruhm gelangt. Ihre Fähigkeit zur kreativen Interpretation war bestenfalls durchschnittlich ausgebildet gewesen. Aber das hatte sich geändert. Sie hatte ihr technisches Können behalten, aber es vereinte sich jetzt mit einem tieferen Verständnis, das jede ihrer Bewegungen mit einem fast schillernden Glanz erfüllte, den sie vorher nie gezeigt hatte. »Na, und wie steht’s mit den beiden Schnäblern?« erkundigte sich Michelle. »Man kämpft sich so durch«, entgegnete Saul. »Und da wir gerade von emotionalem Engagement sprechen: Wie kommen die Arbeiten an der tragbaren Brücken voran?« Michelle sah mißtrauisch zu Lenins Ohr hinauf. »Sehr gut, danke der Nachfrage. Nachdem wir herausgefunden haben, wie die ganze Sache funktioniert, haben wir sie an das Militär verkauft. Vor ein paar Tagen haben wir gerade mit einer begrenzten Produktion begonnen. Wir bringen jetzt zwei Geräte die Woche ‘raus, aber in sechs Monaten wird der Ausstoß auf zehn Einheiten die Woche erhöht werden. Natürlich achten wir darauf, daß niemand an die Innereien herankommt. Man muß schließlich seine kleinen Geheimnisse zu hüten wissen. Jedes einzelne Gerät wird versiegelt und mit einem Selbstzerstörungsmechanismus ausgerüstet, der nachhaltig verhindert, daß einer unserer Transporter geöffnet
und die Schaltkreise darin untersucht werden können. Alles in allem würde ich sagen, steht bei uns alles bestens.« »Ich werde die frohe Botschaft Herman Lindstrom übermitteln, wenn ich ihm mal über den Weg laufen sollte.« Michelle warf ihm ein Lächeln zu, das so hohl war wie das Innere eines Kanonenrohrs. Und genauso gefährlich. »Ich habe über dieses Thema eigentlich nicht sprechen wollen, aber da du es schon einmal angeschnitten hast: Wenn ihr mit dem Gedanken spielen solltet, der Öffentlichkeit gegenüber die Existenz dieser Geräte bekanntzugeben und zu behaupten, sie seien eigentlich nicht unsere Entwicklung, sondern die Herman Lindstroms, dann mache ich deine Freundin kalt. Mein Safe ist mit eindeutigem Beweismaterial für ihren Mord vollgestopft. Richte ihr also von mir aus, daß sie entweder spurt oder in die Ewigen Jagdgründe eingeht.« Saul legte einen Arm um ihre Schulter und drückte sie wollüstig an sich. »Hach, ich liebe es, wenn du so redest«, sagte er in einem lispelnden Falsett. Michelle befeite sich von ihm und zupfte ärgerlich an den Federn ihrer Boa. Nicht eine ging das Risiko ein, sich zu lösen. »Ich meine es ernst, Saul. Wenn sie mir in die Quere kommt, ist sie tot.« Sie warf sich die Boa wie eine Richterrobe um. »Genieße die Vorstellung«, schlug sie vor. »Und, im Interesse der anderen Zuschauer, unterdrücke diesmal dein übliches ›Runter mit den Klamotten!‹, wenn das erste Mädchen die Bühne betritt.« Den Sekretär hinter sich herzerrend, betrat sie den Theatersaal. Rosie trat gerade ein, als Saul mit dem Gedanken spielte, auf gut Glück einen Passanten anzuhalten und um eine Zigarette zu bitten. Sie öffnete ihre Handtasche, reichte ihm Schachtel und Feuerzeug.
»Du hast gerade Michelle verpaßt«, informierte er sie, während er sich abmühte, das Feuerzeug aktiv werden zu lassen. »Das ruiniert meinen ganzen Abend«, entgegnete Rosie, Enttäuschung heuchelnd. »Aber vielleicht kann ich sie noch treffen, wenn sie nach der Vorstellung zur Garderobe kommt, um ihren Besen abzuholen.« Dort standen sie, Auge in Auge, schweigend, wie Bruder und Schwester, die sich auf verschiedenen Seiten eines Bürgerkrieges gegenüberstanden. Seit Galina in Sauls Leben getreten war, hatten sie sich nicht mehr oft gesehen. Galina hatte gesagt, daß Rosies Nähe ein unbehagliches Gefühl in ihr entstehen ließe, und daß sie deshalb sehr dankbar wäre, wenn Saul sie solange nicht einlud, bis sie diese Empfindung überwunden hatte. Damit hatte sie mit wenigen Sätzen genau die Trennung herbeigeführt, die Michelle schon seit Jahren zu erreichen suchte. »Wie geht’s Galina?« fragte Rosie, um das Schweigen zu brechen. »Bestens. Bei uns gibt’s keine Probleme. Wir haben zusammen einige Tests durchgeführt, um festzustellen, ob wir die Grenzen ihrer Talente ausfindig machen können. Bis jetzt haben wir herausgefunden, daß ihre Transmissionsweite auf tausend Kilometer beschränkt ist, zumindest mit einem einzigen Sprung. Sie kann größere Entfernungen in kleineren Abschnitten zurücklegen, da die Rückholzeit nach einer solchen Transmission praktisch gleich null ist. Sie kann auch drei Kilo Nutzlast mitnehmen, vorausgesetzt, diese Nutzlast ist inaktiv. Lebende, organische Materie kann sie nicht entmaterialisieren.« »Was ist mit ihrer Heilkraft?«
»Die ist offensichtlich auf die Heilung von TransferierungsSchäden begrenzt. Sie kann nicht einmal einen Schnitt von einem Rasiermesser in Ordnung bringen.« »Und die Telepathie?« »Die ist außerordentlich ausgeprägt. Für ihre Fähigkeit, Gedanken zu lesen, gibt es keine räumliche Beschränkung, aber je größer die Entfernung, desto länger die Erholungszeit. Sie kann etwa den Gedankeninhalt eines Bewußtseins auf der anderen Seite der Erde aufnehmen, aber ungefähr nur eine Stunde, und danach ist diese Fähigkeit für etwa einen halben Tag verschwunden.« »Kann sie jeden beliebigen Gedankeninhalt aufnehmen?« »Nein, man kann sich auch abschirmen. Ich kann das, mein Hausboy ebenfalls, aber man braucht eine Weile, bis man die Technik dazu beherrscht. Und es ist eine gehörige Portion Konzentration dazu erforderlich.« »Das ist, glaube ich, der Mühe wert, wenn man eine Privatsphäre zu schätzen weiß.« »Da hast du recht.« Er drückte seine Zigarette aus, nahm Rosie beim Arm und führte sie durch die Tür in den Theatersaal. Als sie in den Sesseln saßen, blickte Saul von seinem Programmheft auf und fügte hinzu: »Weißt du, Michelle und ich sind in Sachen Galina völlig entgegengesetzter Meinung. Sie glaubt, daß Galina die schlimmste Plage seit der Schwarzen Pest ist. Ich glaube, sie ist das Tollste seit der Speisung der Fünftausend. Wie denkst du darüber?« Rosie schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Von ihr gehen keine Vibrationen aus, weder negative noch positive. Die paar Mal, die ich lange genug in ihrer Nähe wahr, um sie zu sondieren, habe ich nicht das geringste empfangen, so, als existierte sie überhaupt nicht. So etwas ist mir noch nie untergekommen. Ich bin immer in der Lage gewesen,
zumindest irgend etwas aufzufangen. Entweder sie ist so fremdartig, daß ich sie nicht ausloten kann, oder sie schirmt sich bewußt von mir ab.« »Warum sollte sie so etwas tun?« fragte Saul. »Eigentlich nur aus einem Grund.« Sie sprach endlich das aus, was sie ihm schon lange hatte sagen wollen. »Vielleicht hat sie etwas zu verbergen.« Die Lichter erloschen, und der Vorhang hob sich. An diesem Abend wurde Der Zensor aufgeführt, ein Stück, dessen Choreographie eine kraftvolle, anmutige Ballerina vorsah. Galina füllte diese Rolle mit aller Perfektion aus. Ihre Partner schienen fast überflüssig zu sein. Man hatte beinahe den Eindruck, daß sie durchaus in der Lage war, auch ohne jede Hilfe durch die Luft zu schweben. Als nach dem letzten Akt der Vorhang fiel, brandete der Applaus wie eine Sturmflut zur Bühne. Saul suchte die Umkleidekabinen auf und fand dort eine Galina vor, die von zwei annähernd gleich großen Gruppen aus Reportern und Dolmetschern belagert wurde. »Elain’s?« erkundigte sie sich telepathisch bei Saul, während sie geduldig darauf wartete, daß ein Dolmetscher eine Frage für sie übersetzte, die sie bereits aus dem Gedankeninhalt des betreffenden Reporters entnommen hatte. Saul hätte eine der ruhigeren Arbeiterkneipen vorgezogen, die er in der Lower East Side von New York häufig besuchte, aber dies war ihr Abend, und wenn sie die Nacht unter Snobs verbringen wollte, dann sollte sie die Möglichkeit dazu bekommen. »Gut, also Elaine’s«, antwortete er fast tonlos. Er wußte, daß er die Worte nicht laut aussprechen mußte, um sich ihr verständlich zu machen, aber solange er nicht die nötige Praxis hatte, konnte er den Impuls, sich ihr akustisch mitteilen zu wollen, kaum unterdrücken.
»Geh jetzt«, telepathierte ihm Galina. »Ich treffe dich dort in einer Stunde.« Saul würde durch die Drähte reisen, während Galina auf dem direkten Weg folgen würde. Mit einem Taxi raste Saul zum Moskauer Terminal, ließ sich von dort aus nach New York abstrahlen, und fuhr, nachdem er die Erholungsphase hinter sich hatte, wiederum per Taxi zu ihrem Treffpunkt. Galina wartete dort bereits auf ihn. »Hat dir die Vorstellung gefallen?« fragte sie ihn. »Sie war sensationell.« Er winkte den Kellner herbei und bestellte zwei Drinks. Für sie einen Orangensaft. Infolge der Veränderung durch den langen Aufenthalt im Netz hatte sie auch ihre Vorliebe für Alkohol und Tabak verloren. In dieser Beziehung war Saul Gott sei Dank der alte geblieben. Er entschied sich für einen doppelten Bourbon mit Eis und eine dicke Havanna. Er war kaum dazu gekommen, beides zu genießen, als er sah, daß Felice Pierenska das Restaurant betrat. Galinas brillantes Comeback hatte sie im Kirov-Ballett wieder auf einen der hinteren Ränge verwiesen. Als sie Galina erkannte, änderte sie den Kurs und kam direkt auf sie zu, während sie wild mit den Armen gestikulierte und in Russisch lallende Flüche von sich gab. Obwohl Saul kein Wort dieser Sprache verstand, hatte er doch keine Mühe, ihre Botschaft zu dechiffrieren. Ganz offensichtlich behagte ihr ihre Degradierung überhaupt nicht, und sie machte Galina Rosmanov für diese Schmach verantwortlich. Galina versuchte, das Mädchen zu beruhigen, aber Felice ließ sich in keinster Weise besänftigen. Ganz im Gegenteil. Sie war mehr als entschlossen dazu, an Ort und Stelle zu klären, wer im Kirov-Ballett die erste Geige zu spielen hatte. Sie entfesselte einen zweiten verbalen Frontalangriff, schnappte sich das Glas mit dem Orangensaft und schleuderte den Inhalt direkt in Galinas Gesicht.
Sauls Hirn schien unter der mentalen Stoßkraft von Galinas Wut explodieren zu wollen. Einen schrecklichen Augenblick lang befürchtete er, sie könne die Kontrolle über sich verlieren und ihre jugendliche Widersacherin auf dieselbe Weise erdrosseln, wie sie es mit Mary Hemke und ihren Männern gemacht hatte. Aber offensichtlich meinte es Galina wirklich ernst, was die Unterdrückung des destruktiven Aspekts ihrer neuen Persönlichkeit anbelangte. Ihre Wut löste sich fast genauso schnell auf, wie sie entstanden war. Mit der Serviette trocknete sie sich so gut es ging das Gesicht ab und erhob sich dann. Mit hocherhobenem Kopf und einer Hand an Sauls Arm stolzierte sie an Felice vorbei und aus dem Restaurant heraus. Jede einzelne Bewegung verriet, daß sie eine wirkliche Lady war.
Am nächsten Morgen betrachtete Saul den Zwischenfall mit Felice als eine scheußliche Fußnote in einem sonst einfach großartigen Werk. Zumindest so lange, bis er die Morgenzeitung zu Gesicht bekam. Die erste Seite brachte direkt nebeneinander zwei wichtige Meldungen. Die eine verkündete Galinas Rückkehr zum Ballett. Die andere beschrieb in allen Einzelheiten, wie Felice Pierenska, nach einer öffentlichen Ruhestörung in einem nicht genannten, exklusiven New Yorker Nachtklub, in ihre Madrider Wohnung zurückgekehrt war, wo sie sich dann von ihrem im sechsundzwanzigsten Stock befindlichen Balkon gestürzt hatte. Den Nachbarn war kurz vor ihrem tödlichen Sprung ein lauter Schrei an die Ohren gekommen. Daraufhin hatten sie die Tür zu Felices Apartment aufgebrochen, die Wohnung aber leer vorgefunden. Weiter hieß es in dem Bericht, die Polizei würde zwar mit ihren Untersuchungen fortfahren, sehr
wahrscheinlich aber, da ganz offensichtlich keine Anhaltspunkte für ein Verschulden Dritter existierten, den Vorfall als Selbstmord zu den Akten legen. Saul las die Meldung noch ein zweites Mal sorgfältig durch und widmete seine Aufmerksamkeit dabei besonders den Zeitangaben. Felice hatte sich um sechs Uhr früh von dem Balkon gestürzt. Berücksichtigte man die Zeitverschiebung, dann war das um elf Uhr letzte Nacht gewesen. Und genau zu dieser Zeit war er wach geworden, weil Galina ins Bett geschlüpft war. Sie hatte ihm gesagt, daß sie nur in die Küche gegangen sei, um ein Glas Wasser zu trinken. In der Zeit allerdings, die ein normaler Mensch dazu brauchte, aus Sauls Schlafzimmer in die Küche zu gelangen, konnte sich Galina leicht nach Madrid und auch wieder zurück transferiert haben. Er reichte Galina die Zeitung. »Weißt du etwas darüber?« erkundigte er sich. Sie las die Meldung. »Armes Mädchen«, sagte sie dann. »Ein solches Talent. Vergeudet.« Sie legte die Zeitung beiseite, nahm Sauls Hand und preßte sie mit einer gehörigen Portion Zärtlichkeit an ihre Lippen, als wäre genau das die wichtigste Sache, die an diesem Tag erledigt werden mußte. »Natürlich weiß ich nichts Näheres. Warum fragst du?« Sie rückte näher an ihn heran und streichelte seine Schläfen. »Du bist in letzter Zeit so in dich gekehrt. Ich glaube fast, du vertraust mir nicht mehr.« Plötzlich riß sie die Augen auf, und ihre Pupillen wurden zu zwei dunklen, bodenlosen Abgründen. »Du glaubst, ich hätte etwas mit ihrem Tod zu tun. Das ist es dich, nicht? Du glaubst da, weil sie mich beleidigt hat. Du glaubst, ich hätte mich mitten in der Nacht davongeschlichen, um sie von ihrem Balkon zu stoßen.« »Hast du?«
»Natürlich nicht.« Sie zuckte fast erschrocken zusammen. »Du weißt selbst, daß ich niemandem mehr etwas zuleide tun kann.« »Nein, du kannst diesen durchaus menschlichen Impuls nur unterdrücken. Das ist ein Unterschied.« »Nein, nur Wortklauberei. Ich bin zu so etwas wirklich nicht mehr in der Lage. Und wenn du mir nicht glaubst, wenn du denkst, ich würde dich anlügen, dann ist es vielleicht an der Zeit, unsere Beziehung einmal zu überdenken.« Sie rückte von ihm fort und kehrte ihm den Rücken zu. Er streichelte ihre Schulter und unterbreitete ihr eine bedingungslose Kapitulation, die so oft schon einen Liebeskrieg beendet hatte. »Tut mir leid, Mäuschen«, sagte er. »Verzeih mir bitte, daß ich an dir gezweifelt habe. Weißt du, manchmal verdrängt das mir angeborene Mißtrauen meinen Verstand.« Sie wandte sich ihm wieder zu und umarmte ihn. »Oh, Saul. Wie kannst du nur so dumm sein. Aber ich liebe dich so, wie du bist.« Er erhob sich. »Weißt du was? Um den Frieden zu besiegeln, werde ich mich nach Paris transferieren lassen und uns von dem Restaurant, was du so gerne hast, vom Maxim, einen Picknickkorb zusammenstellen lassen. Vielleicht könnten wir an den Yosemite-Fällen in Kalifornien entlangwandern. Na, wie wäre das?« Sie drückte seine Hand. »Es wäre großartig.« Er stieg die Treppen zu seinem Privattransporter hinunter. »Ich werde für einige Stunden nicht da sein«, sagte er seinem Hausboy. »Würdest du mir einen Gefallen tun? Setze dich mit dem Maxim in Paris in Verbindung und bitte den Chef, ein Picknick für zwei Personen zusammenzustellen und hierher zu transferieren. Aber sag ihm, nichts von diesem Frou-FrouZeug, okay? Etwas, das man auch essen kann. Er soll auch ein
halbes Dutzend dieser tollen Zigarren mitschicken. Und ein Sechserpack Bier.« Saul tastete die Zielkoordinaten in das TransporterSchaltpult. »Und schirm deine Gedanken ab. Ich möchte nicht, daß Galina erfährt, daß ich die Sachen nicht selbst hole, sondern hierher schicken lasse.« Dann betätigte er den Sendeknopf. Eine Stunde später erwachte er in Madrid.
XXXVIII
Aus der obersten Schreibtischschublade holte Roberto Fernandez, Captain bei der Madrider Polizei, eine schmutzige Flasche spanischen Brandys hervor. Sie beide, die Flasche und er, hatten eine Menge gemeinsam. Sie hatten beide das gleiche Alter, hatten beide die gleiche satte, braune Farbe, und sie konnten beide Menschen dazu verleiten, Dinge zu erzählen, die sie am nächsten Morgen tief bereuten. Fernandez öffnete die Flasche und bleckte gleichzeitig die Zähne, was er offenbar für ein Lächeln hielt. Eine scheußliche, weiße Narbe zierte die volle Länge seines rechten Unterkiefers. Souvenir einer nächtlichen Begegnung mit einer scharfen Klinge. Ein Spezialist für plastische Chirurgie hatte das restauriert, was zwischen dem Ende der Narbe und dem rechten Ohr lag. In Höhe des Kinns klaffte jedoch eine Lücke im Knochen. Entweder war dort dem Chirurgen das Füllmaterial ausgegangen, oder er hatte das Interesse verloren. Fernandez’ Uniform schien gerade frisch gewaschen worden zu sein, aber die vielen Sitzfalten bewiesen, daß er schon lange nicht mehr aus seinem Büro herausgekommen war. Auf dem einen Ende seines Schreibtisches, dort, wo andere Beamte Bilder von der Ehefrau und den Kindern aufstellten, lag seine Kanone. »Ich habe gehört, daß du deinen Job losgeworden bist.« Fernandez gab der Flasche einen Stoß, so daß sie auf Saul zurutschte. »Von jetzt an, hörte ich, wird für jemand, der im Netz verlorengeht, keine Rettungsaktion mehr gestartet. Kein Saul Lukas mehr, der sie herausholt. Ist das richtig?« Er sprach so undeutlich und lallend, als sei er betrunken. Saul konnte
sich nicht daran erinnern, ihn jemals völlig nüchtern gesehen zu haben. Aber er hatte ihn auch noch niemals volltrunken erlebt. »Leider nur zu richtig.« Er schenkte sich etwas von dem Brandy in ein Glas, das so verdreckt war, daß er kaum die Füllmarke erkennen konnte. »Jedenfalls bin ich tatsächlich arbeitslos.« Fernandez holte sich die Flasche zurück, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und nahm einen ordentlichen Schluck direkt aus der Flasche. Mit der Flagge, die neben ihm auf dem Schreibtisch stand, wischte sich Fernandez über den Mund. »Was führt dich nach Madrid?« Saul stürzte den Brandy in sich hinein und vereitelte den Versuch seines Gegenübers, ihm nachzuschenken. »Ich überprüfe einen Selbstmord. Eine junge Ballerina. Felice Pierenska. Ist gestern morgen so um sechs herum passiert. Sie hat einen Kopfsprung aus ihrem Fenster gemacht.« »Ach, das, meinst du.« Fernandez zündete sich etwas an, das wie eine verfaulte Bananenschale stank. »Der Fall ist schon erledigt. Ein übersensibles Mädchen, verzweifelt darüber, daß sie sich in ihrem Ballett mit einer niedrigeren Position zufriedengeben muß. Zuviel Alkohol, der Entschluß, allem ein Ende zu machen, der Sprung. Ein typischer Fall.« »Irgendein zurückgelassener Brief?« Fernandez schnippte die Asche von seiner Zigarre und starrte sinnierend auf die Glut. »Nein.« Sie wußten beide, daß Selbstmörder für gewöhnlich eine Nachricht zurückließen. Aber daß dies hier nicht der Fall war, bewies noch gar nichts. »Was ist mit den Stimmen, die die Nachbarn gehört haben wollen? Bevor sie gesprungen ist? Habt ihr das überprüft?« Fernandez legte die Füße auf den Schreibtisch, direkt neben den Schießprügel und die sich leerende Flasche. »Das ist eine
seltsame Sache. Der Kerl, der direkt neben ihr wohnte, ist keine acht Sekunden, nachdem er den Schrei gehört hat, in ihrer Wohnung gewesen. Ihr Apartment liegt am Ende des Korridors. Wenn also jemand die Wohnung nach diesem Schrei verlassen hätte, dann wäre das nicht unbemerkt geblieben. Der, der dem Mädchen zu Hilfe eilen wollte, hat aber niemanden gesehen. Auch in ihrem Apartment nicht. Es besteht aus zweieinhalb Zimmern mit Bad, und er hat alles gründlich überprüft. Die Wohnung war leer. Ohne jeden Zweifel. Aber die Nachbarn sind sich absolut sicher, daß sie gehört haben, wie sich das Mädchen, kurz bevor es sprang, noch mit jemandem unterhielt.« »Mit einem Mann oder einer Frau?« »Einer Frau. Sie soll Russisch gesprochen haben. Die Nachbarn sprechen nur Spanisch, also konnten die keine Auskunft darüber geben, worüber sich das Mädchen und die unbekannte Person unterhielten.« »Ich nehme an, du hast die Radio- und Fernsehprogramme der in Frage kommenden Zeit überprüft?« »Als erstes. Aber keine russischen Dialoge.« »Habt ihr eine Autopsie durchgeführt?« »Natürlich.« Er deutete auf eine Reihe rot eingebundener Bücher, die auf einem kleinen Tisch hinter ihm als Staubfänger fungierten. »Es gibt auch Vorschriften, die ich beachte.« »Irgend etwa Ungewöhnliches?« »Nichts Konkretes.« Fernandez sackte in sich zusammen, als belaste ihn plötzlich der ganze Berg aus Widersprüchlichkeiten. »Sie ist durch den Aufprall ums Leben gekommen. Daran besteht kein Zweifel. Aber die Quacksalber haben Spuren gefunden, die auf eine vorhergehende Strangulation hindeuten. Sauerstoffmangel im Hirn. Geplatzte Blutgefäße in den Lungen. Obwohl äußerlich nichts zu erkennen war. Keine Fingerspuren oder Quetschungen am
Hals. Keine Beschädigungen der Luftröhre. Als wenn die jemand per Fernbedienung erdrosselt hätte und sie nur durch Zufall vom Balkon gestürzt wäre, nach Atem ringend.« Er schielte in die Flasche hinein, aber dort waren die Antworten auf seine Fragen nicht zu finden. »Obwohl wir natürlich wissen, daß so etwas unmöglich ist. Nicht wahr, Saul?« »Klar.« Saul wandte sich zum Gehen. »So etwas ist unmöglich.«
XXIX
Über das schweizerische Tal, das Galina für ihr Picknick ausgewählt hatte, trieben Wolken, die sich so unglaublich ähnlich waren, daß Sauls Vertrauen in Reiseprospekte wiederhergestellt wurde. Während er auf der Decke saß und sich ein Bier genehmigte, erforschte Galina einen nahen Hügel. Sie war in einige dünne, farbige Fetzen gehüllt, die sie Kleid zu nennen beliebte, die aber mehr Haut offenbarten, als sie verbargen. Mit einer hinter dem Rücken verborgenen Hand trat sie auf ihn zu und kniete sich neben ihn. »Für dich.« Mit einer großartigen Geste ließ sie einen Strauß wilder Blumen zum Vorschein kommen. »Sehr hübsch, danke.« Er löste eine einzelne Blume aus dem Strauß und zupfte nacheinander die Blütenblätter ab. Als nur noch ein einziges übrig war, hielt er ihr die Blume entgegen. »Wenn das hier stimmt, dann liebst du mich nicht.« »Das zeigt nur, daß man Blumen nicht trauen darf.« Galina zog ihn zu sich heran und gab ihm einen Kuß, der, wenn er aus Musik bestanden hätte, sofort in die Top Twenty gekommen wäre. Aber Saul reagierte nicht so, wie sie es erwartet hatte, was Galina dazu veranlaßte, sich nach dem Grund zu erkundigen. Saul killte sein Bier und legte den Soldaten neben seine toten Kameraden. »Ich habe gerade über deine Zukunft nachgedacht, darüber, ob du dich wirklich ausreichend vor Michelle oder jemand anders, der dir ans Leder will, schützen kannst.« Ihr Lachen plätscherte dahin wie einer der trügerischen Bergbäche, die nach und nach zu reißenden Strömen werden
und schließlich ins Meer münden. »Ich versichere dir, daß du dir in diesem Punkt bestimmt keine Sorgen zu machen brauchst. Ich bin weder so schwach, wie du zu glauben scheinst, noch bin ich völlig wehrlos.« Sie öffnete das letzte Bier und reichte es ihm. »Erinnerst du dich an die Tests, die wir durchgeführt haben, um festzustellen, welche Grenzen meine neuen Fähigkeiten haben? Wie lang ist das her? Vielleicht zwei Monate? Nun, es scheint, daß wir ein bißchen voreilig waren. Ich entwickle mich noch immer weiter. Wenn wir heute diese Tests wiederholen würden, dann würden wir bestimmt feststellen, daß sich meine Kraft mindestens verdoppelt hat. Und selbst das ist nur eine vorsichtige Schätzung. Einige Teilbegabungen haben sich möglicherweise sogar verdreifacht. Ich kann nun mehrere Gedankeninhalte gleichzeitig aufnehmen, sogar über größere Entfernungen als früher. Ich kann mich direkt, ohne Zwischenstation, an jeden Punkt auf diese Globus transferieren. Und, was noch erstaunlicher ist…« An diesem Punkt unterbrach Saul das Mädchen und bat es, ihre Worte zu wiederholen. Es war so aufgeregt, daß es unbewußt ins Russische übergewechselt hatte, wovon Saul nicht eine Silbe verstand. »Vor einigen Tagen«, begann sie von neuem, »habe ich durch reinen Zufall herausgefunden, daß ich Menschen manipulieren kann. Ich kann sie wie Marionetten herumspazieren lassen, kann sie dazu veranlassen, Dinge zu tun, die sie sonst nie tun würden. Kannst du dir das vorstellen?« »Ich weiß es nicht. Ich bin mir nicht ganz sicher, was du meinst. Kannst du mir das praktisch vorführen?« »Selbstverständlich.« Sie kräuselte verführerisch die Lippen. »Wie wäre es, wenn ich dich dazu bringen würde, mich zu lieben?«
Saul streichelte mit seinen Fingerspitzen ihre Lippen und schüttelte den Kopf. »Zu einfach. In diesem Punkt bin ich ohnehin schwach. Etwas anderes, etwas, was ich aus freiem Willen heraus normalerweise nie tun würde.« Ihre Stimme fiel in ein dunkles Loch, und der Blick ihrer Augen folgte nach. »Ich möchte alles andere, als mit dir herumexperimentieren. Es würde mich zu sehr an die schrecklichen Dinge erinnern, die Wissenschaftler mit ihren Versuchstieren anstellen.« »Bitte. Ich bestehe darauf. Ich möchte die Kraft deines neuen Talents am eigenen Leibe spüren. Ich gewähre dir umfassende Absolution für alles, was auch geschehen mag.« Sie hob die Hände. »Na gut. Aber denk daran, daß du mich dazu überredet hast.« Sie schloß die Augen. Und das war schon alles. Nicht eine einzige Bewegung. Sie schloß nur die Augen, und Saul fiel augenblicklich auf alle Viere. »Mach den Mund auf.« Sie hielt eine Hand auf. Sauls Blick fiel auf ein Stück herrlichen Hundekuchens. Speichel tropfte von seiner Unterlippe. Er bellte, bis seine Kehle wund war. Galina hielt die Hand über seinen Kopf. »Mach Männchen.« Ein Unsichtbarer zog an den Marionettenfäden, und Saul fiel auf die Hinterbeine. Seine Arme streckten sich selbständig aus. Die Handgelenke wurden schlaff. Und er machte Männchen. Oh, und wie er Männchen machte. Um das Stückchen Hundekuchen zu erhalten, hätte er sich mucksmäuschenstill hingesetzt, apportiert, sich auf den Rücken gelegt und toter Mann gespielt, eine Katze auf einen Baum gejagt, einen Briefträger in Fetzen gerissen. Galina öffnete die Augen, und augenblicklich war er wieder er selbst.
»Begreifst du nun, was ich meine?« sagte sie. »Und ich habe mich kaum dabei angestrengt. Wenn ich mich wirklich nur darauf konzentriere, dann könnte ich, glaube ich, jeden Menschen unter meinen Bann zwingen. Du brauchst dir also wirklich keine Sorgen darüber machen, daß mir jemand zu nahe tritt. Ich habe ganz bestimmt die Möglichkeit, mich vor allem zu schützen.« »Allerdings.« Der Goliath unter den Ameisen schleppte einen Brotkrumen über Sauls Fußknöchel. Saul versuchte sich vorzustellen, wie es war, als Ameise zu leben, nur dazu da zu sein, die Bedürfnisse einer unersättlichen Königin zu befriedigen. Es hatte bestimmt seine Vorteile. Ein einfaches Leben mit klar abgesteckten Zielen und ungeheurer Kameradschaftlichkeit. Wahrscheinlich waren Ameisen mit ihrer Existenz durchaus zufrieden. »Und da ist noch etwas. Noch ein weiteres, neues Talent.« Sie nahm eine der Blumen aus dem Strauß und zupfte an den Blütenblättern. »Ich besitze jetzt auch die Fähigkeit, meine Kraft, meine Begabungen auf andere Menschen zu übertragen.« Saul vergaß einen Augenblick lang zu atmen. »Meine Güte! Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Willst du es tun? Willst du jemandem deine Talente schenken?« Sie zupfte eines der beiden letzten Blütenblätter ab. »Ja, das will ich. Ich möchte meine Kraft auf dich übertragen.« Sie hob die Blume an, drehte sie so herum, daß das letzte Blütenblatt wie eine Flagge zwischen ihnen beiden aufragte. »Weil ich dich so sehr liebe.« Saul löste die Blume aus ihrer Hand, drehte sie zwischen seinen Fingern hin und her. Das letzte Blütenblatt wurde vom Wind davongetragen. »Ich erinnere mich daran, daß mir mal jemand gesagt hat, man dürfe keiner Blume trauen.«
Galina zeigte mit dem Finger auf ihn, den Cowboy spielende Kinder dazu benutzen, imaginäre Indianer zu erschießen. »Wir sprechen nicht über hypothetische Möglichkeiten oder Gleichnisse. Wir sprechen über die Realität. Ich bin dazu in der Lage, dir die Macht zu geben, von der andere Männer nur träumen, dich zu einem zweiten Neuen Menschen zu machen. Es widerspräche aller Vernunft, wenn du das ablehntest.« »Ich muß zugeben, daß der Gedanke einen gewissen Reiz hat.« Er schluckte mehrmals, um den Kloß in seinem Hals loszuwerden. »Aber du mußt wissen, daß ich tief im Innern eigentlich ein anspruchsloser Mensch bin. Was du mir vorschlägst, bedeutet eigentlich eine radikale Änderung meines Wesens. Ich muß darüber nachdenken.« »Selbstverständlich.« Sie lehnte sich zurück und machte es sich bequem, wie jemand, der sein ganzes Geld auf das einzige Pferd des Rennens gesetzt hatte. Die Frage war nicht, ob sie gewann, sondern, wie schnell das Pferd die Ziellinie erreichte, wie bald sie ihren Gewinn einstreichen konnte. »Nimm dir soviel Zeit, wie du brauchst. Ich werde dich umwandeln, wann immer du dazu bereit bist.«
XXX
Trotz der späten Stunde sah Michelle einfach umwerfend aus, wie eine der Elfen auf den Reklameplakaten, von denen die Werbefirmen behaupteten, sie zeigten einen Ausschnitt aus der wirklichen Wirklichkeit. Perfekt frisiertes Haar, makelloses Make-up, genau das passende Parfüm, ein überaus modischer Morgenrock. In ihren trockenen Achselhöhlen ein Deodorant, das Geschäftstüchtigkeit versinnbildlichte. »Laß mich raten«, sagte sie gelassen, als sie auf sein Klopfen hin die Tür öffnete, die den zum Strand hin gelegenen Bereich ihres Palais mit dem Transporter-Raum verband. »Du konntest nicht einschlafen, also dachtest du dir, du könntest mal bei mir vorbeischauen und mich bitten, dir meinen Teddybär auszuleihen.« Saul verstaute Hände und Stolz in den Gesäßtaschen seiner Jeans. »Hör mal, ich bin nicht sonderlich darin geübt, mich zu entschuldigen, also tu mir den Gefallen und laß diese Anzüglichkeiten.« »Entschuldigen? Wofür?« Er nickte in Richtung des hinter ihr liegenden Zimmers. »Vielleicht könnten wir dort drinnen darüber sprechen?« »Natürlich«, antwortete Michelle. »Selbstverständlich. Warte nur eine Minute.« Sie schloß die Tür. Er hörte zwei gedämpfte Stimmen, eine davon gehörte offensichtlich einem Mann. Eine Tür fiel ins Schloß. Dann kam Michelle zurück und bat ihn herein. Er folgte ihr zur Bar, wo sie eine Flasche billigen Bourbons hervorholte. »Kommt mir doch irgendwie bekannt vor«, stellte er fest.
»Sollte es auch. Es ist eins deiner Überbleibsel.« »Ein Andenken?« »Wohl kaum. Ich habe schon versucht, das Zeug Hausierern oder Bettlern anzudrehen, aber keiner wollte sich damit vergiften.« »Den Landstreichern und ihrem guten Geschmack gebührt mein innigster Dank«, sagte Saul und brachte einen Toast auf die gußeisernen Mägen der Welt aus. Während er sich nachschenkte, stellte sich Michelle ein Gebräu aus vier Likören, einem Spritzer Magenbitter, einigen Eiern, einem Berg Zucker und etwas geraspeltem Eis zusammen, etwas, das besser aussah, als es schmecken konnte. »Ich nehme an, dieser nächtliche Besuch hat etwas mit Galina Rosmanov zu tun.« Saul ließ sich auf dem Sofa nieder, ignorierte Michelles verbalen Hieb und legte seine Füße auf den Teetisch, dessen aus Holz modellierte Beine dem Fahrgestell einer ältlichen Jungfer nicht unähnlich waren. »Bevor ich beginne, möchte ich mit Nachdruck feststellen, daß ich nicht die Spur eines Beweises für meine Befürchtungen habe. Ich bin ausschließlich aufgrund von Indizien zu einem Entschluß gekommen.« Dann erzählte er seine Geschichte, berichtete von dem Zwischenfall in Elaine’s, erläuterte die mysteriösen Umstände, unter denen Felice Pierenska ums Leben gekommen war, erzählte von Galinas neuester Begabung und ließ auch ihr Angebot nicht aus, ihre Kraft auch auf ihn zu übertragen. »Aufgrund deiner deutlichen Mißbilligung nehme ich an«, meinte Michelle, als er fertig war, »daß du gedenkst, deinen Supermannumhang abzulegen und dich wieder dem gemeinen Volk anzuschließen.« »Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen. Allmählich würde ich jedem mißtrauen, der eine solche Macht in sich
vereinigt. Ich glaube, selbst ein Heiliger könnte nicht lange der Versuchung widerstehen, mit Hilfe dieser Kraft seinen Willen durchzusetzen, seine Überzeugungen anderen Menschen aufzuzwingen. Ein Supermann macht sich in den Comics recht gut. In der Wirklichkeit jedoch kommt es nur zu leicht vor, daß sich ihre Umhänge in ihren selbstsüchtigen Ichs verheddern. Sicher, Galina kann Wunder vollbringen. Aber ich glaube, unter dieser Schale ist noch alles wie zuvor. Sie war eine Mörderin, und sie ist es noch immer. Der einzige Unterschied besteht darin, daß sie sich jetzt besser tarnen kann.« »Nimm’s nicht so schwer«, entgegnete Michelle und hob ihr Glas. »Du bist bestimmt nicht der erste, der mitten in einem wunderschönen Traum wachgerüttelt wird.« Sie setzte sich in einen Lehnsessel und faltete die Hände auf der Brust wie ein siegreicher General, der den einzigen überlebenden Feind verhört. »Was wir jetzt machen müssen, ist, uns zu entscheiden, wie wir weiter vorgehen.« Mit ihrem Zeigefinger vollführte sie einen Halbkreis, als wähle sie eine vertraute Telefonnummer. »Irgendwelche Vorschläge?« Saul steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und wünschte, seine Skrupel könnten sich ebenso leicht in Rauch auflösen. »Ich glaube, wir machen das, was du vorgeschlagen hast.« Sie legte den Kopf auf die Seite, um ihre Verwirrung deutlich zu machen. »Wie bitte? Wie ich vorgeschlagen habe? Ich verstehe nicht ganz…« »Nun komm schon. Du weißt ganz genau, was ich meine.« »Es tut mir leid, nein. Erklär es mir.« »Wie du willst.« Er drückte seine Zigarette in einem Aschenbecher aus, hämmerte solange auf ihr herum, bis auch die letzten Glutreste erloschen waren. »Ich glaube, wir sollten Galina Rosmanov umbringen. Verstehst du jetzt?«
»In der Tat.« Sie lächelte wie ein Psychiater, der bei der Analyse seines Patienten gerade ein ordentliches Stück weitergekommen war, ihm aber mitteilen mußte, daß noch eine Menge weitere Sitzungen notwendig sein würden, jede einzelne zu hundert Dollar. »Ich hoffe, du verstehst, warum ich dich gezwungen habe, das auszusprechen. Ich will, daß du von Anfang an begreifst, daß wir das Risiko gemeinsam tragen. Wenn alles vorüber ist, dann werden wir auch die Konsequenzen gemeinsam zu tragen haben. Wir werden uns beide viele Nächte um die Ohren schlagen, von dem Gedanken gequält, ob wir auch wirklich das Richtige getan haben. Wir werden in kalten Schweiß ausbrechen, sobald uns ein Polizist auch nur schief ansieht. Wir werden unser Schuldgefühl mit Beruhigungsmitteln und dummem Geschwätz zu begraben versuchen.« »Die Predigt ist angekommen. Beende deinen Vortrag, und laß uns zur Sache kommen.« Michelle leckte ihr Glas aus, bis es so trocken war wie der Abendmahlkelch nach der Kommunion. »Einige meiner Experten haben sich mit dieser Sache bereits beschäftigt. Nach ihrer Meinung gibt es nur eine narrensichere Methode.« Sie deutete auf den Privattransporter, dessen Kontrollen ihnen durch die geöffnete Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Raumes zublinzelten. »Wir machen es so, wie wir es schon einmal gemacht haben. Wir betäuben sie, transferieren sie ins Leitungsgeflecht, fixieren sie dort in einer Zone mit starkem Verkehr, wo sie relativ großen elektrischen Spannungsschwankungen ausgesetzt ist, und warten, bis sie sich aufgelöst hat.« »Das erstemal hat’s nicht geklappt. Bist du sicher, daß es diesmal funktionieren wird?« »So sicher, wie man nur sein kann. Wenn kein Eingriff von außen erfolgt, dann geben meine Mathematiker die
Wahrscheinlichkeit des Erfolges mit mehr als siebenundachtzig Prozent an. Die andere Alternative, das Einsetzen eines Mietkillers, bringt nur dreiundvierzig Prozent und gleichzeitig das Problem, eine Leiche beiseite schaffen zu müssen. Ich bin dafür, den besseren Zahlen zu vertrauen.« »Wie erklären wir ihr Verschwinden?« »Gar nicht. Sie ist einfach von einem Tag auf den anderen verschwunden. Berücksichtigt man ihren Ruf, außerordentlich starrsinnig und individualistisch zu sein, dann wird jedermann glauben, die Russen hätten sie gekascht. Die werden das natürlich dementieren, aber niemand wird ihnen glauben. An uns wird keiner denken.« Michelle trat an die Wand, schob ein Bild beiseite und öffnete den Safe, der dahinter zum Vorschein kam. Sie holte eine Ampulle mit einem weißen Pulver hervor, die sie an Saul weiterreichte. »Geruchlos, geschmacklos, löst sich in jeder Flüssigkeit sofort auf. Und garantiert stark genug, um auch unser Supergirl sechs Stunden lang tief schlafen zu lassen.« Saul steckte das Fläschchen in die Tasche. Mit klaren Vorstellungen darüber, wie es nun weitergehen mußte, kehrte er in den Transporterraum zurück, tastete die Koordinaten seiner Villa ein, betätigte den Sendeknopf und verschwand.
XXXI
»Du bist heute Abend so in Gedanken versunken.« Galina schob ihren Teller zur Seite und verschränkte die Arme auf der Tischkante. »Hat das etwas mit meinem Vorschlag zu tun?« Saul spürte das schwache, fast unmerkliche Prickeln, das er immer spürte, wenn sie versuchte, seine Mentalblockade zu durchdringen. »Genau damit, ja. Einige Dinge sind mir noch nicht ganz klar.« Er löste die Banderole und zündete sich die Zigarre mit der Tafelkerze an. »Wie lange wird es dauern? Und werde ich ohne Bewußtsein sein, während du mich umformst?« Sie faltete ihre unbenutzte Serviette fein säuberlich zusammen, legte die dann neben den Teller. Mit ihrer übertriebenen Ordentlichkeit konnte sie selbst noch Michelle in den Schatten stellen. »Was die Zeitdauer anbelangt, weiß ich nicht viel mehr wie du. Ich schätze, es wird nicht weniger als eine und nicht mehr als drei Stunden dauern. Du wirst in dieser Zeit in einer Art tiefer, hypnotischer Trance sein.« »Und sobald es vorbei ist, besitze ich die gleichen Fähigkeiten wie du?« Es konnte nur Einbildung sein, aber Saul hatte das Gefühl, daß der Druck auf seinen Geist zugenommen hatte. »Jede einzelne.« Saul dachte eine Sekunde lang nach und sagte dann: »Dann laß es uns hinter uns bringen.« Galina lächelte hocherfreut. »Ich versichere dir, daß du es nicht bereuen wirst.« Saul erhob sich und trat an die Bar. »Hast du etwas dagegen, wenn ich mir noch etwas Mut antrinke?« Er schenkte sich
einen ordentlichen Bourbon und ihr einen Orangensaft ein. Dann hob er sein Glas. »Auf uns.« Sie nahm ihr Glas entgegen und stieß mit ihm an. »Darauf, daß wir bald das einzigartigste Paar auf der Welt sind.« Sie trank ihren Orangensaft. Sie hatte ihr Glas kaum abgesetzt, als die Droge zu wirken begann. Ihre Pupillen erweiterten sich. Ihr Kopf schwankte hin und her. Sie versuchte, sich aufrecht zu halten, aber die Beine gaben unter ihr nach. »Saul, was hast du getan?« klagte sie. »Und warum?« Saul stürzte ein zweites Glas mit der goldgelben Medizin hinunter, aber es linderte seine innere Qual ebensowenig wie das vorhergehende. »Ich glaube, daß du mich und auch eine Menge andere Leute an der Nase herumgeführt hast. Rosie war der einzige Mensch, den du nicht getäuscht hast, vielleicht der einzige Mensch, den du nicht täuschen konntest Aber dieses Problem hast du ja nett gelöst. Indem du mich einfach gebeten hast, sie von dir fernzuhalten…« »Saul, wovon sprichst du? Ich verstehe nicht.« »Oh, ich glaube, du verstehst mich nur zu gut. Ich behaupte zum Beispiel, daß dich Mary Hemke und ihre Gorillas nicht annähernd so aus der Fassung gebracht haben, wie du vorgegeben hast. Ich glaube, daß du dich jederzeit hättest forttransferieren können, aber statt dessen hast du es vorgezogen, das destruktive Potential deiner neuen Kraft auszuprobieren. Es war eine wirklich gute Gelegenheit, da du ja immer behaupten konntest, deine neuen Talente seine noch zu neu für dich.« Galina versuchte, sich zu entmaterialisieren und damit in Sicherheit zu bringen, aber sie war nicht mehr in der Lage, die dafür nötige Konzentration aufzubringen. Alles, was sie erreichte, war, daß das Bild vor ihren Augen verschwamm. »Ich kann nur das wiederholen, was ich dir schon damals gesagt habe. Ich wußte nicht, daß meine Kraft
auch so schreckliche Auswirkungen haben kann. Ich habe mich nicht transferiert, weil ich so erschrocken und durcheinander war, daß ich daran ganz einfach nicht gedacht habe. Die Talente waren neu für mich, das weißt du doch.« »Aber ganz gewiß wußtest du um deine Fähigkeiten, als die Zeit gekommen war, mit Felice Pierenska abzurechnen. Ich werde dir sagen, wie es war. Du hast dich in ihr Apartment teleportiert, sie mit deiner Kraft gequält, ihr damit die Kehle zugeschnürt. Und dann hast du sie zu ihrem tödlichen Sprung gezwungen.« »Du mußt verrückt sein. Ich war den betreffenden Abend bei dir. Welche Beweise hast du, daß ich bei Felice war?« »Ihre Nachbarn haben eine Frau in ihrer Wohnung gehört, die Russisch gesprochen hat.« »Na und? Wäre ich dort gewesen, hätte ich mich telepathisch mit ihr unterhalten. Niemand hätte mich gehört.« »Es sei denn, du wärst so wütend und aufgeregt gewesen, daß du deine Stimme benutzt hast. Das ist schon geschehen. Außerdem war ihr Apartment leer, als die Nachbarn sich Zutritt verschafften. Du bist der einzige Mensch, den ich kenne, der so schnell verschwinden kann.« »Saul, Felice war eine Schauspielerin. Sie war durchaus dazu in der Lage, ihre Stimme völlig zu verstellen. Vielleicht haben ihre Nachbarn nichts als ein Selbstgespräch gehört.« Galina verknotete ihre Arme, als umarme sie einen Geist. »Und was ist mit meinem Angebot, auch dir die Kraft zu verleihen? Würde ich so etwas tun, wenn ich wirklich so größenwahnsinnig geworden wäre, wie du vermutest?« Saul strich mit den Fingerspitzen über den Bartresen und hielt selbst bei den winzigsten Kerben und Flecken kurz inne. »Ich glaube nicht, daß du damals die Absicht gehabt hast, das wirklich zu tun. Ich glaube, du wolltest nur meine mentale Abschirmung durchdringen und meinen Gedankeninhalt so
verändern, daß ich niemals mehr deinen Anordnungen zuwiderhandeln oder mich vor dir abblocken könnte.« »Das ist doch lächerlich!« Ihre Stimme schwankte, als sei sie betrunken. »Das würde ich niemals tun. Saul, du bist kein Richter. Du darfst mich nicht verurteilen. Wenn du an meiner Schuldlosigkeit zweifelst, dann bring mich vor ein ordentliches Gericht. Und laß unvoreingenommene Geschworene über mein Schicksal entscheiden. Wenn du diese Entscheidung in deine eigenen Hände nimmst, dann verleugnest du all die Prinzipien der Gerechtigkeit, für die du dich bisher eingesetzt hast.« Sie hatte natürlich recht. Und Saul wußte das. Unfähig zu einer Antwort drehte er sich um und verließ den Raum. Er suchte sein Arbeitszimmer auf, setzte sich an den Schreibtisch, zog die oberste Schublade auf und entnahm ihr ein Bündel Briefe. »Lieber Mr. Lukas«, heiß es auf dem obersten. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen dafür danken soll, daß Sie mich aus dem Leitungsgeflecht gerettet haben.« Der Brief war von dem ersten Passagier geschrieben worden, den er aus dem Netz herausgeholt hatte. Er zerknüllte ihn und warf ihn in den Papierkorb, dann auch die anderen Dankesbriefe, einen nach dem anderen. Es waren so viele, daß der Papierkorb bald überquoll und er die Fetzen mit dem Fuß zusammenstampfen mußte. Dann zündete er alles an und sah zu, wie die Überbleibsel zusammenschrumpften, zu einem schwarzen Wirrwarr sinnloser Worte wurden. Als er ins Eßzimmer zurückkehrte, hatte Galina das Bewußtsein verloren. Er nahm sie in die Arme, bewunderte wahrscheinlich zum letzten Mal ihren geschmeidigen, zerbrechlich wirkenden Körper, trug sie dann zu seinem Transporter und schickte sie zur Zentrale der Brückengesellschaft. Dann trat auch er in den Transporter und ließ sich ebenfalls dorthin abstrahlen.
Als er das Bewußtsein wiedererlangte, hatte Michelle bereits fast alle Vorbereitungen abgeschlossen. Galina befand sich im Innern eines Transporters. Ein Transferierer hatte seine Geräte so eingestellt, daß sie auf der halben Strecke zwischen New York City und Washington, D. C, der frequentiertesten Reiseroute, steckenbleiben würde – direkt in dem hin und her rasendem Verkehrsfluß, bis sich ihr Körper auflöste. Nach den Berechnungen der Mathematiker würde das innerhalb von vierzehn Stunden der Fall sein. Als die letzten Justierungen fast beendet waren, schnappte sich Saul einen Stuhl und setzte sich damit in die entfernteste Ecke des Raumes. Aber hier sah er nur öde, kahle Wände und fest verschlossene Türen, und er begriff, daß er, ob er wollte oder nicht, ein Teil dessen war, was hier vor sich ging. Er steckte mittendrin – und konnte nicht mehr heraus. Michelle gab ihm einen Lagebericht. »In zehn Minuten sollten wir soweit sein.« »Ich hoffe nur, du hast deinen Spaß.« Er kippte den Stuhl an die Wand und hakte die Füße hinter die hölzernen Beine. Dann sprach er seine Hauptbefürchtung aus. »Du weißt ja, daß dieses Mädchen ein paar verdammt gefährliche Fähigkeiten hat. Sind sich deine Theoretiker wirklich absolut sicher, daß sie den Reisenden, die sie dort drinnen passieren werden, nicht schaden kann?« Michelle wischte seine Befürchtungen mit einer beiläufigen Handbewegung beiseite. »Das haben wir gleich als erstes überprüft. Mit negativem Ergebnis. In dieser Hinsicht erwarten wir nicht die geringste Beeinträchtigung. Sie wird für die Passagiere kein größeres Hindernis darstellen als ein geringfügiger Spannungsabfall. Die, die mit ihr kollidieren, werden vielleicht zur Seite geschleudert, aber sie werden im
gleichen Augenblick in der nächstgelegenen Sammelstation rematerialisieren.« »Ich hoffe, du hast recht. Es wäre schrecklich, wenn es da drinnen zu einer gewaltigen Verkehrsstockung käme. Oder zu Schlimmerem. Wenn ganze Gruppen von Monstern in den Empfängern Gestalt annähmen.« »Das ist absolut unmöglich. Wir haben die ganze Sache wiederholt mit unser großen IBM-Anlage simuliert. Es ist nicht einmal die Spur eines Problems aufgetaucht. Du brauchst dir über diese Dinge keine Sorgen zu machen.« Die Techniker signalisierten, daß alles bereit war. Michelle nickte. Der Transferierer betätigte die Sendetaste, und im gleichen Augenblick war Galina verschwunden. Sofort wurde sie als elektronischer Blip auf einem speziellen KursdiagrammMonitor sichtbar. Innerhalb weniger Sekunden verharrte der Blip, mitten zwischen New York City und Washington. Als die Fehlfunktionsindikatoren eine Störung aufzeichneten, schalteten sich sofort die Sicherheitskreise ein. Aber der Transferierer kümmerte sich nicht darum und übermittelte statt dessen den an der betreffenden Route liegenden Terminals eine Nicht beachten-Botschaft. Die Arbeit war getan. Sie konnten sich nur noch hinsetzen, Kaffee trinken und darauf warten, daß sich Galina auflöste. Der erste Schub von Reisenden, der sie streifte, bestand aus einer Gruppe von Nonnen, die auf einer Pilgerfahrt nach Lourdes, Frankreich, waren. Dann eine Zweitliga-Baseballmanschaft, die zu einem Spiel um den Juniorencup unterwegs war. Dann eine sechsköpfige Familie auf dem Weg zu ihrem Urlaubsort. Dann ein Berufsspieler, unterwegs nach Las Vegas.
Dann ein verurteilter Mörder auf dem Weg zu seiner Todeszelle. Während einer Zeitspanne von dreizehn Stunden und siebenundvierzig Minuten folgten ihnen achtundzwanzigtausend andere. Bis schließlich der elektronische Impuls, der Galina Rosmanov darstellte, flackerte und erlosch. »Ich möchte Ihnen allen danken«, wandte sich Michelle an ihre Techniker. »Mit der nächsten Gehaltsabrechnung werden Sie einen großzügigen Bonus erhalten. Wie Sie ja wissen, erfordert diese Art der Dienstpflicht eine vorbeugende, geringfügige Gedächtnislöschung. Wenn Sie also bitte die medizinische Abteilung aufsuchen wollen. Dort wird Ihnen eine entsprechende Droge verabreicht werden. Das ganze wird Sie kaum mehr als einige Stunden in Anspruch nehmen.« Nachdem die Techniker gegangen waren, drehte sich Michelle zu Saul um. »Für dich gibt es keine künstliche Amnesie. Ich will, daß du dich immer hieran erinnerst. Daß du aus erster Hand weißt, wie man sich nach einer solch schrecklichen Entscheidung fühlt. Daß du begreifst, nicht mehr länger der reine, unbefleckte Wiedererwecker zu sein, der tapfere Streiter für Menschlichkeit und Freiheit. Du bist nun einer von uns. Ein Henker. Jemand, der andere aus dem Weg schafft, damit die Welt als Ganzes weiterexistieren kann.« »Sicher. Damit sie so weiterexistieren kann, wie wir sie uns vorstellen. Eine Frage bleibt jedoch: Sind unsere Ideale wirklich besser als die Galina Rosmanovs?« »Dessen werden wir uns wohl nie sicher sein können, nicht wahr, Saul? – Dessen werden wir uns wohl nie sicher sein können.«
XXXII
Später an diesem Tag verschwand Schwester Maria Therese auf rätselhafte Weise aus ihrem Hotelzimmer, um sich einige Augenblicke später vor dem Vordereingang der Kathedrale von Lourdes wiederzufinden. Wendal Freitas konnte den spielentscheidenden Punkt für seine Mannschaft gewinnen, weil seltsamerweise jeder der Gegenspieler den Baseball sofort wie eine heiße Kartoffel fallenließ. Joe Garrett, in den Fünfzigern, untersetzt, langsam eine Glatze bekommend, Ehemann und Vater von vier Kindern, beging in nur vier Stunden mit nicht weniger als fünf Frauen und drei Männern Ehebruch. Aus irgendeinem rätselhaften Grund konnte niemand von ihnen seinen Annäherungsversuchen widerstehen. Bob ›Boston Beans‹ Hegarty gewann beim Poker in Vegas fast eine halbe Million Dollar. Einer seiner Mitspieler bemerkte einem Zuschauer gegenüber, daß es so wäre, als spiele man gegen jemanden, der Gedanken lesen könnte. Gary Allen Nicholson entkam aus seiner Todeszelle und hinterließ zwei tote Wärter. Seltsam war, daß man ihnen äußerlich keine Verletzungen ansehen konnte. Dennoch waren sie offenbar erdrosselt worden. Und das war nur der Anfang.